Die Konstruktion der ,Anderen‘: Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris 3447119063, 9783447119061

Sidonius Apollinaris war Politiker, Bischof, Dichter und Mitglied einer selbstbewussten gallo-romischen Aristokratie. Er

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German Pages 451 [466] Year 2022

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Titelseiten
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Terminologie
1.3 Alteritäten und Identitäten
1.3.1 Von der Philosophie in die Geschichtswissenschaft: Alteritäten im Wandel
1.3.2 Tradition
1.3.3 Alteritäten, Identitäten und Traditionen als Verflechtung
1.4 Diskursanalyse als Methodik
1.5 Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten
1.5.1 Abgrenzung durch Sprache und Bildung
1.5.2 Typisch barbarisch?
1.5.3 Klimatische- und landschaftliche Verortung der ,Barbaren‘
1.5.4 Edle Barbaren?
1.5.5 Römische Barbaren und barbarische Römer?
1.5.6 Christentum, Häretiker, Barbaren
1.5.7 Identitäten und Alteritäten im antiken Barbarendiskurs
2. Gallien im 5. Jahrhundert
2.1 Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen
2.2 Gallo-römische Briefautoren als lebensweltliche Gemeinschaft
3. Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien
3.1 Sidonius als das ,Selbst‘ der Briefe
3.1.1 Jugend und Ausbildung
3.1.2 Familie und aristokratische Pflichterfüllung
3.1.3 Leben im Dienste Roms
3.1.4 Sidonius nach seiner conversio
3.2 Die Briefe
3.2.1 Inhalt und Aufbau
3.2.2 Die Datierung
3.3 Die Identifikationsstrategien
4. Die ,Anderen῾in den Briefen des Sidonius
4.1 Die Briefempfänger als erste Alteritätsgruppe
4.2 Die ,anderen Anderen‘ als zweite Alteritätsgruppe
5. Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius
5.1 Stereotypisierung von Barbaren
5.1.1 Differenzierung durch Sprache und Bildung
5.1.2 Erscheinung und Aussehen
5.1.3 Verhalten und Charakter
5.1.4 Zwischenfazit zur Stereotypisierung
5.2 Obscuritas in den Briefen
5.2.1 Verschleierte Hinweise auf das Zeitgeschehen
5.2.2 Landschaftsdiskurse als Instrument der Abgrenzung
5.2.3 Zwischenfazit zu obscuritas und Alterität in den Briefen
5.3 Häresie und Arianismus
5.3.1 Häretiker und Arianer in den Briefen des Sidonius
5.3.2 Zwischenfazit zur Darstellung von Häretikern und Arianern
6. Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘
6.1 Sidonius’ Porträt Theoderichs II.
6.1.1 Theoderich II. in Sidonius’ Brief an Agricola
6.1.2 Visigoten und ihr Anführer Theoderich II. in den Carmina
6.1.3 Fazit zu Theoderich II.
6.2 Die Darstellung Eurichs
6.2.1 Epistel 7,6
6.2.2 Die Briefe an Leo (epist. 4,22,2 und 8,3,3)
6.2.3 Epistel 8,9
6.2.4 Fazit zu Eurich
6.3 Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7
6.3.1 Epistel 5,6 und 5,7
6.4 Riothamus in Epistel 3,9
6.5 Arbogast (epist. 4,17)
6.6 Syagrius
6.6.1 Epistel 5,5
6.6.2 Epistel 8,8
6.6.3 Fazit zu Syagrius
6.7 Seronatus
6.7.1 Epistel 2,1
6.7.2 Epistel 5,13
6.7.3 Fazit zu Seronatus
7. Schlussbetrachtung
7.1 Das, Selbst‘ und der ,Andere‘
7.2 Intentionen hinter Sidonius’ Barbarendiskursen: Hypothesen und Annahmen
7.3 Sidonius und seine Briefe
7.4 Zusammenfassung und Ausblick
Verzeichnisse
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Traditionskonzept von Aleida Assmann auf Sidonius Apollinaris übertragen
Abb. 2: Wichtige Städte im spätantiken Gallien (moderne Namensgebung)
Abb. 3: ,Andere‘ in den Briefen
Abb. 4: Lac d’Aydat und Blick auf den See mit Ortschaft
Abb. 5: Die Stadt Bazas als Mittelpunkt eines 90 km Radius
Abb. 6: ‚Lebenswelten‘ und ‚Anderswelten‘ des Sidonius in Epistel 7,6
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Kategorien und Klassifizierung zur Darstellung von Barbaren
Tab. 2: Kleidung als Topos
Tab. 3: Parallelen in den Briefen 3,2 und 3,3
Tab. 4: Anspielung auf verfeindete Parteien
Tab. 5: Parallele zwischen epist. 3,4 und 7,11
Tab. 6: Vergleich der physiognomischen Schilderungen Theoderichs II. und Germanicus’
Tab. 7: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung Theoderichs II. und Eurichs
Tab. 8: Gemeinsamkeiten der Briefe 4,17 und 2,10
Tab. 9: Vergleich des Verhaltens von Seronatus mit den Denunzianten in Sidon. epist. 5,7
Abkürzungsverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register
Orts- und Personenregister
Stellenregister
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Die Konstruktion der ,Anderen‘: Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris
 3447119063, 9783447119061

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Veronika Egetenmeyr

Die Konstruktion der ,Anderen‘ Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 165

Harrassowitz Verlag

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 165

2022

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

Veronika Egetenmeyr

Die Konstruktion der ,Anderen‘ Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris

2022

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen.

Bei diesem Werk handelt es sich um die überarbeitete Version der Dissertation, die im Juli 2018 unter demselben Titel an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereicht und am 26. November 2018 verteidigt wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the internet at https://dnb.de/.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter https://www.harrassowitz-verlag.de/ © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany ISSN 1613-5628 eISSN 2701-8091 ISBN 978-3-447-11906-1 eISBN 978-3-447-39320-1

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

Nos tamen rectam comite arte proram, nil tumescentes veriti procellas, sistimus portu … Sidon. epist. 9,16,3, Vers 17–19

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1. 1.1 1.2 1.3

1.4 1.5

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alteritäten und Identitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Von der Philosophie in die Geschichtswissenschaft: Alteritäten im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Alteritäten, Identitäten und Traditionen als Verflechtung. . . . . . . . . . Diskursanalyse als Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Abgrenzung durch Sprache und Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Typisch barbarisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Klimatische- und landschaftliche Verortung der ,Barbaren‘. . . . . . . . 1.5.4 Edle Barbaren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5 Römische Barbaren und barbarische Römer?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.6 Christentum, Häretiker, Barbaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.7 Identitäten und Alteritäten im antiken Barbarendiskurs . . . . . . . . . . .

1 4 5 10

11 21 25 27



30 35 37 40 42 43 44 47

2. 2.1 2.2

Gallien im 5. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen. . . . . . . . . 60 Gallo-römische Briefautoren als lebensweltliche Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . 75

3. 3.1

Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien . . . . . . Sidonius als das ,Selbst‘ der Briefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Jugend und Ausbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Familie und aristokratische Pflichterfüllung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Leben im Dienste Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Sidonius nach seiner conversio. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Briefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Inhalt und Aufbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Identifikationsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.2

3.3

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1



79 84 85 89 94 99 110 112 118 120

VIII

Inhalt

4. 4.1 4.2

Die ,Anderen῾ in den Briefen des Sidonius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die Briefempfänger als erste Alteritätsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Die ,anderen Anderen‘ als zweite Alteritätsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

5. 5.1

Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius. . . . . . . . . . . . . . . . Stereotypisierung von Barbaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Differenzierung durch Sprache und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Erscheinung und Aussehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Verhalten und Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Zwischenfazit zur Stereotypisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obscuritas in den Briefen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Verschleierte Hinweise auf das Zeitgeschehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Landschaftsdiskurse als Instrument der Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zwischenfazit zu obscuritas und Alterität in den Briefen. . . . . . . . . . . . Häresie und Arianismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Häretiker und Arianer in den Briefen des Sidonius. . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Zwischenfazit zur Darstellung von Häretikern und Arianern. . . . . . .



137 140 141 155 164 187 188 192 225 264 266 268 277

Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sidonius’ Porträt Theoderichs II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Theoderich II. in Sidonius’ Brief an Agricola. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Visigoten und ihr Anführer Theoderich II. in den Carmina. . . . . . . . 6.1.3 Fazit zu Theoderich II.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung Eurichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Epistel 7,6. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Briefe an Leo (epist. 4,22,2 und 8,3,3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Epistel 8,9. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Fazit zu Eurich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Epistel 5,6 und 5,7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Riothamus in Epistel 3,9. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbogast (epist. 4,17). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syagrius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Epistel 5,5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Epistel 8,8. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.3 Fazit zu Syagrius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seronatus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.1 Epistel 2,1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Epistel 5,13. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Fazit zu Seronatus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



279 280 281 296 305 307 308 319 321 327 329 330 336 341 346 347 351 353 353 354 362 365

5.2

5.3

6. 6.1

6.2

6.3 6.4 6.5 6.6

6.7

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

IX

Inhalt

7. 7.1 7.2 7.3 7.4

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das, Selbst‘ und der ,Andere‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intentionen hinter Sidonius’ Barbarendiskursen: Hypothesen und Annahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sidonius und seine Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Verzeichnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367 374 376 378 380

381 381 381 381 383 392

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Orts- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Stellenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

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Danksagung Sidonius Apollinaris gehört zweifellos zu den faszinierendsten Persönlichkeiten des 5.  Jahrhunderts. Nicht nur, weil er in einer politisch schwierigen Zeit lebte, sondern primär, weil seine facettenreichen Briefe von einem Menschen Zeugnis geben, der sich meisterlich an die verschiedensten Situationen anpassen konnte. Die Wandelbarkeit des Sidonius spiegelt sich in der Vielseitigkeit seines literarischen Schaffens, in welchem ,Barbaren‘ einen wichtigen Platz einnehmen. Insbesondere die Frage, wie Sidonius seine vielschichtigen und komplexen Barbarendarstellungen gestaltet hat und welche Rolle diese in seinen Briefen einnehmen, hat mich nicht mehr losgelassen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner Studie zu Sidonius Apollinaris und ,seinen‘ Barbaren und gründet auf meiner an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingereichten Dissertationsschrift, die ich für die Publikation überarbeitet habe. An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die meine Begeisterung für Sidonius über all die Jahre unterstützt und maßgeblich zum Gelingen sowie Abschluss der Arbeit beigetragen haben. Der erste Dank gilt meinen Betreuern und Mentoren. Das Interesse am Barbarenbild des Sidonius entwickelte sich bereits während meines Studiums in Heidelberg und wurde früh von Prof. Dr. Gabriele Wesch-Klein gefördert, die mir bis heute unterstützend und beratend zur Seite steht. Prof. Dr. Josef Wiesehöfer war so freundlich, die Arbeit im Rahmen meiner Promotion an der Kieler Graduiertenschule Human Development in Landscapes (GS HDL) zu begleiten. Für seine wissenschaftliche Unterstützung und umfassende Betreuung während der gesamten Bearbeitungsphase, besonders aber für die offenen Gespräche möchte ich ihm herzlich danken. Ebenfalls im Rahmen der Graduiertenschule hat Prof. Dr. Annette Haug die Arbeit mitbetreut und mich insbesondere bei der Erarbeitung des theoretischen Rahmengerüstes zum kritischen Weiterdenken angeregt. Ihr möchte ich für die offenen Gesprächen und Debatten ebenso danken. Es sei an dieser Stelle Filippo Carlà-Uhink gedankt, der meine Arbeit aus Exeter und Heidelberg mitbetreut und mich durch seine kritischen Reflexionen immer wieder zum Umdenken angeregt hat. Prof. Dr. Hilmar Klinkott, PD Dr. Susanne Rudnig-Zelt sowie Prof. Dr. Roland Steinacher haben dankenswerterweise die Aufgabe übernommen, als Teil des Prüfungskomitees zu fungieren, und mir gute Ratschläge und Hinweise für die Veröffentlichung gegeben. Ein weiterer Dank gilt dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dessen Kurzzeitstipendium für Recherchen am Ausonius Institut de Recherche Antiquité et Moyen Âge in Bordeaux maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. An dieser Stelle möchte ich mich stellvertretend für das Ausonius-Institut bei Prof. Jean-Pierre Bost und Dr. Karin Sion-Jenkis für die Einladung nach Bordeaux und ihre Unterstützung bedanken. Der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik möchte ich für die Verleihung des Reisestipendiums des Deutschen Archäologischen Instituts danken,

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XII

Danksagung

das ich trotz Corona-Pandemie nutzen konnte, um meine Kenntnisse der antiken Mittelmeerwelt maßgeblich zu erweitern. Im Laufe der dreieinhalbjährigen Forschungsarbeit in Kiel habe ich von unzähligen Seiten Hilfen und Ratschläge erhalten, sodass es unmöglich erscheint, hier allen Akteuren gerecht zu werden. Bedanken möchte ich mich bei meinen Kolleg:Innen am Kieler Institut für Klassische Altertumskunde und besonders bei den Teilnehmenden des Doktorandenkolloquiums von Prof. Dr. Klinkott, in dessen Rahmen ich wertvolle Ratschläge und Hinweise für die Arbeit erhielt. Ferner möchte ich meinen Kommiliton:Innen an der Graduiertenschule danken: Es war eine sehr schöne Zeit mit großartigen Kolleg:Innen, die zu Freund:Innen wurden. Ein besonderer Dank gilt meinen Kolleg:Innen, mit denen ich mich über die Sidoniusforschung, über die Spätantike oder über Barbaren austauschen konnte. Prof. Dr. Jan Willem Drijvers, Dr. Michael Hanaghan, Dr. James Harland, Dr. Hendrik Hess, Prof. Dr. Hilmar Klinkott, Prof. Dr. Michael Kulikowski, Prof. Dr. Sigrid Mratschek, Prof. Dr. Walter Pohl, Jakob Riemenschneider M. A., Dr. Philipp von Rummel, Prof. Dr. Roland Steinacher, Dr. Joop van Waarden, Dr. Jeroen Wijnendaele und Dr. Michael Zerjadtke führten mit mir kontroverse Diskussionen, luden mich zu Konferenzen oder Vorträgen ein, regten mich zum Um- und Weiterdenken an und gewährten mir Einblick in unpublizierte Arbeiten. Insbesondere der mit Prof. Dr. Josef Wiesehöfer, Prof. Dr. Annette Haug und Prof. Dr. Filippo Carlà-Uhink gemeinsam gestaltete Workshop zu Otherness in Late Antiquity (https://othernesskiel.wordpress.com/program/) war mir eine große Freude und überaus gewinnbringend für meine eigene Forschungsarbeit. Daher möchte ich mich nicht nur bei meinen Mitorganisatoren für ihre Unterstützung bedanken, sondern auch bei den Teilnehmenden für die vielen spannenden Diskussionen zu Alterität in der Spätantike. Die Arbeit wurde zu verschiedenen Zeiten und Stadien von verschiedenen Freund:Innen und Kolleg:Innen gegengelesen und kommentiert. Mein Dank gebührt Dr. Mareike Ahlers, Denise Brandt M. Ed., Dr. Clara Drummer, PD Dr. Susanne Froehlich, Dr. Elisabeth Günther, Dr. Anja Krieger, Jonas Langer B. A., Dr. Patrick Leiske, Dr. Julia Menne, Dr. Tabea Meurer, PD Dr. Markus Sehlmeyer und Prof. Dr. Gabriele Wesch-Klein. Dr. Clara Drummer unterstütze mich ferner bei Kartierungsarbeiten. Darüber hinaus möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Kai Ruffing und Herrn Prof. Dr. Robert Rollinger sowie den Herausgebern von Philippika – Altertumswissenschaftliche Abhandlungen für die Aufnahme in die Reihe bedanken. Den Gutachtenden bin ich für die kritische Lektüre meiner Arbeit, deren Hinweise den Gesamttext abgerundet haben, mit großem Dank verbunden. Für die reibungslose und hervorragende Zusammenarbeit sei Herrn Stephan Specht und seinem Team des Harrassowitz Verlages gedankt, insbesondere Frau Ulrike Melzow für das finale Lektorat und die redaktionelle Betreuung auf dem Weg vom Manuskript zum Buch. Für den finanziellen Zuschuss zur Drucklegung der Publikation danke ich dem Deutschen Archäologischen Institut sowie dem Cluster of Excellence ROOTS – Social, Environmental, and Cultural Connectivity in Past Societies.

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Danksagung

XIII

Schließlich möchte ich meinem Lebensgefährten Jonathan Ethier danken, der sich selbst mehr als nur einmal zurückgestellt hat, um mich zu unterstützen. Selbst mitten in der Nacht hörte er zu, wenn ich einen Gedankenblitz für die Arbeit hatte, korrigierte zahlreiche englischsprachige Vorträge und wurde nie müde, meinen langen Reden über Sidonius zuzuhören, um mich am Ende durch kluge Einwände zum Weiterdenken anzuregen. Mein letzter Dank gilt meiner Familie und insbesondere meinen Eltern, die mich durch die ganze Studienzeit hinweg unterstützt haben. Sie haben mir immer den Rücken gestärkt, daher ist ihnen dieses Buch gewidmet.

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1. Einleitung […] barbaros vitas, quia mali putentur; ego, etiamsi boni […] 1 […] du meidest Barbaren, weil sie für schlecht gehalten werden; ich meide sie, selbst wenn sie für gut gehalten werden […] Gaius Sollius Modestius Apollinaris galt lange Zeit als „Barbarenhasser“. Seine im 5. Jahrhundert verfassten Briefe seien als Beweis für seine Abneigung gegenüber ,Barbaren‘ zu interpretieren. 2 Der Bischof der civitas Arvernorum (heute Clermont-Ferrand) schien der jahrhundertealten Tradition der lateinischen Literatur Folge zu leisten, ,Barbaren‘ 3 als unterlegene Feinde Roms zu sehen. Dabei war es lange Zeit communis opinio, dass es sich bei den Barbaren in den Briefen des Sidonius um ,Germanen‘ handle, die im Laufe der ,Völkerwanderung‘ in das Römische Reich eingefallen wären, Städte geplündert und zerstört sowie sich dann in den gallischen Provinzen niedergelassen hätten. Spätestens mit dem Einzug sozialwissenschaftlicher Theorien im Rahmen der Cultural Studies in die Alte Geschichte wird deutlich, dass diese Ansicht als überholt angesehen werden muss. 4 Die Beziehungen zwischen Römern und Barbaren waren vielschichtiger, als es auf den ersten Blick erscheint. 5 Dies trifft besonders dann zu, wenn nicht der kulturelle Kontakt, sondern persönliche Sichtweisen und Darstellungen aus der Antike in das Zentrum der Untersuchung rücken, wie es bei der vorliegenden Studie der Fall ist. Die Perzeption der Barbaren unterscheidet sich von Autor zu Autor und bietet ein äußerst vielfältiges Bild. Daher lassen sich Barbarenbilder nur an konkreten Beispielen fassen und analysieren. Solch ein konkretes Beispiel findet sich mit Sidonius Apollinaris im Kreise der gallorömisch-senatorischen Aristokratie. 1 Sidon. epist. 7,14,10. Sämtliche Briefe des Sidonius’ werden nach der Edition von Christian Lüthjohann zitiert. Neuere Editionen und abweichende Lesearten wurden berücksichtigt sowie in den Fußnoten vermerkt. Für das einfachere Verständnis wird den Quellenzitaten jeweils direkt eine Übersetzung beigefügt. Diese beruhen entweder auf existierenden Übersetzungen, die gegebenenfalls leicht überarbeitet wurden, oder stammen von mir selbst. 2 Köhler 1995, 55; van Acker 1965, 128; Chadwick 1955, 321. In dieser Arbeit wird der gängigen deutschen Bezeichnung „Sidonius Apollinaris“ gefolgt oder einzig „Sidonius“ verwendet. Zum vollständigen Namen: siehe Kapitel 3.1.1. 3 Im Folgenden wird auf eine Hervorhebung des Barbarenbegriffes und seiner Ableitungen für einen ungestörten Lesefluss verzichtet. 4 Die neuste Revision dieses Narrativs wurde von Mischa Meier in Geschichte der Völkerwanderung vorgelegt (Meier 32020), speziell zu Gallien 545–648. 5 Siehe als frühen Vertreter beispielsweise Lund 1990. Dieser vertritt die Hypothese, dass Caesar die Germanen erfunden habe (83–99), und geht davon aus, dass das Bild von Germanen in den Quellen fiktiv sei und auf Stereotypen beruhe (28).

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2

Einleitung

Seine ablehnende Haltung, wie sie sich im obigen Zitat manifestiert, scheint perfekt in die Meistererzählung von wandernden ,Völkern‘, Invasionen und einem niedergehenden Römischen Reich, die zur Zeit der Aufklärung konstruiert wurde, zu passen. 6 Auf dem ersten Blick offenbart sich die Sichtweise des Sidonius als eine Geschichte, in der sich mali und boni gegenüberstehen, und es erscheint eindeutig, dass Barbaren zu den mali gehören. Die Guten sind insbesondere Mitglieder der römischen beziehungsweise gallo-römischen Senatsaristokratie, wie es auch Sidonius war. Doch schon die meisten Mitglieder der nachfolgenden Generation gallo-römischer Senatoren hatte das Antlitz der urbs aeterna nicht mehr mit ihren eigenen Augen gesehen. Eine neue gesellschaftliche Elite hatte sich formiert: eine Elite von boni, die von den vermeintlichen ,Anderen‘ 7, die doch eigentlich zu den mali gehörten, geprägt war, wenn der Tradition des Barbarendiskurses in der lateinischen Literatur gefolgt wird. Was also meint Sidonius mit seiner Aussage, dass er jegliche Art von Barbaren meide? Wer oder was sind nach seiner Auffassung Barbaren und wie stellt er Barbaren in seinen Briefen dar? Um diesen Fragen in systematischer Weise nachzugehen, müssen die 146 von Sidonius verfassten und überlieferten Briefe in Bezug auf Barbarendarstellungen analysiert und interpretiert werden. Dabei gilt es, zwischen dem antiken Barbarendiskurs und der Sichtweise auf Barbaren als historische Akteure in der modernen Geschichtswissenschaft zu unterscheiden. Letztere folgt häufig dem in den Quellen überlieferten Bild von Barbaren als Feinde Roms, die als wild, gesetzlos und unzivilisiert perzipiert werden. Zwischen der Faszination vom edlen Wilden, der mit der Natur in Einklang steht, und der Abneigung vor Menschen, die aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht mit den römischen Vorstellungen von Tugend, Moral und Zivilisation in Einklang zu bringen waren, wurden Barbaren in der lateinischen Literatur vorwiegend als Gegenbild zum Römischen konstruiert, das dem Barbarischen in allen Bereichen überlegen war. Dieses konstruierte Barbarenbild hat sich lange Zeit in der modernen Geschichtswissenschaft gehalten und ist selbst in rezenten Publikationen zu finden. 8 Erst langsam wird das negative Bild, das mit dem Begriff barbarus einhergeht, revidiert und der traditionelle Diskurs dekonstruiert. 9 6 Als prominentester Vertreter, der bis heute die Geschichtsschreibung der Spätantike beeinflusst und bereits selbst zu ihrem Gegenstand wurde, ist Edward Gibbon zu nennen. In sechs Bänden beschreibt er die Ausgangslage des Römischen Reiches und dessen schrittweisen Untergang (siehe Gibbon 2013, insb. 148–150). Auf einen Überblick der Forschungsgeschichte zur Spätantike wird verzichtet. Stellvertretend sei verweisen auf: Meier 32020, 15–123; Humphries 2017, 14–23; Wood 2016; Halsall 2014; Wood 2013a, 287–329; Brown 2011; Wijnendaele 2011; Markel 2008; Marrou 1977; Brown 1971; Jones 1964. 7 Es wird immer dann von der deutschen Rechtschreibung abgewichen und ‚andere‘ großgeschrieben, wenn von den ,Anderen‘ als Ausdruck von Alterität die Rede ist. 8 Zum antiken Barbarenbild: siehe Exkurskapitel 1.5. Beispiele von modernen Darstellungen, die diesem Diskurs folgen, sind u.  a. Grygiel 2018, insb. 12–47 (politisch aufgeladen); Goldsworthy 2010; Heather 2009; Ward-Perkins 2005; Borst 1990, 19–31. Kritisch hierzu: Amory 1997, 489–554 und Pohl 2005, 14, der von einer „römischen Brille“ spricht, durch die wir blicken. 9 Wichtige Vertreter hierfür sind u. a. Guy Halsall (z. B. Halsall 2014; 2007) und Philipp von Rummel (z. B. von Rummel 2013; 2007). Siehe ferner: Friedrich/ Harland 2021; Egetenmeyr 2021a; 2019; Dumézil 2016.

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Einleitung

3

Da Sidonius zwischen mali und boni bei den Barbaren unterscheidet, scheint es selbst für alteingesessene Senatoren nicht eindeutig gewesen zu sein, wie eine Person einzuordnen war und wer im 5. Jahrhundert als Barbar betrachtet wurde. 10 Ferner stellt sich die Frage, wieso Autoren wie Sidonius an ihrer Darstellungsweise von Barbaren festgehalten haben, obwohl ihnen bewusst gewesen sein muss, wie sehr sich die Welt und damit die ,römischen Barbaren‘ verändert hatten. Es liegt die Vermutung nahe, dass Barbaren als Inbegriff des Unbekannten, als ,Andere‘ von Autoren wie Sidonius instrumentalisiert und konstruiert wurden, um sich ihrer eigenen Identitäten, ihrer eigenen Persönlichkeiten, bewusst zu werden. Allein die in diesen Sätzen beinhaltete Terminologie zeigt erste Schwierigkeiten für die Untersuchung des Sidonius’schen Barbarenbildes. Denn Begriffe wie ,Andere‘ oder ‚Barbaren‘ beinhalten neben ihrer alltäglichen Bedeutung im Sprachgebrauch komplexere Konzepte und verbergen eine Fülle von Methoden und Definitionen. Gerade dann, wenn schriftliche und/oder archäologische Quellen an ihre Grenzen stoßen, lohnt es sich, unter Zuhilfenahme theoretischer Konzepte Verhaltensmuster und Verhaltensanalogien zu analysieren, um so durch eine kulturwissenschaftliche Perspektive einen Einblick in die Lebens- und Denkweise bestimmter Personen, in diesem Fall des Sidonius und der gallo-römischen Aristokratie, zu erhalten. Es liegt daher nahe, Studien zum Barbarenbild in einem theoretischen Rahmen von Alteritäten und Identitäten zu verorten, die mittels eines diskursanalytischen Verfahrens interpretiert werden. 11 Um die Traditionen in den Barbarendiskursen des Sidonius zu verstehen, wird interessierten Lesern ein kurzer Exkurs zu antiken Barbarenbildern geboten (Kapitel 1.5). Bevor die verschiedenen Barbarenbilder, die Sidonius Apollinaris zeichnet, analysiert werden können, müssen zunächst die lebensweltlichen Grundlagen des Autors nachgezeichnet werden: Gallien im 5. Jahrhundert sowie die gemeinschaftsbildenden Faktoren der gallorömischen Aristokratie (Kapitel 2). Ohne diesen Schritt bleibt es unmöglich, Abgrenzungsfaktoren zu erkennen und zu interpretieren. Es folgt eine Betrachtung der Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius, die eng mit der lebensweltlichen Entwicklung des Autors in Zusammenhang zu bringen ist und daher lediglich in Anbetracht seines zeitlichen und persönlichen Hintergrundes erfolgen kann. Daher wird in einem ersten Schritt auf die Vita und die Briefe des Sidonius eingegangen, um Veränderungen seiner Perzeption hinterfragen und beurteilen zu können (Kapitel 3). Vor diesem Hintergrund werden erste Erkenntnisse zu seinen Identifikations- und somit Abgrenzungsstrategien vorgestellt (Kapitel 3.3 bzw. Kapitel 4). In Kapitel 5 wird eine Analyse der Sidoniusbriefe vorgenommen, um zu erörtern, wie dieser Barbaren wahrnimmt, darstellt und welche Kategorien zur Differenzierung von Römern und Barbaren Anwendung finden. Diese folgen literarischen Traditionen und werden als stereotype Barbarendiskurse erachtet. 12 Im Anschluss werden die Briefe dahingehend untersucht, inwiefern sich die Beschreibung 10 Siehe Mathisen 2020, 49. 11 Siehe Kapitel 1.3. 12 Vgl. Bhabha 1994, 54 f.: „discourse of stereotypes“; 66: „stereotypical discourse“. Solche diskursiven Konstruktionen bezeichnet er „processes of subjectification“. Für die Ausbildung dieser Kategorien sei auf den Exkurs im Kapitel 1.5 (Tabelle 1) verwiesen.

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4

Einleitung

von Individuen von der eines Kollektivs unterscheiden und welche Bedeutung dies für das Selbstverständnis des Sidonius hat (Kapitel 6). In einer abschließenden Interpretation werden die Ergebnisse zusammengefasst (Kapitel 7).

1.1

Fragestellung

Obwohl die Sidoniusforschung momentan Konjunktur hat, wie die enorme Zahl der neusten Publikationen beweist, 13 ist eine systematische Untersuchung seiner Sichtweise auf und die Darstellung von Barbaren noch immer ein Forschungsdesiderat, zu dessen Behebung vorliegende Arbeit ihren Beitrag leisten soll. Der Fokus dieser Arbeit wird auf der diskursiven Darstellung der Barbaren in den Briefen des Sidonius Apollinaris liegen. Ich gehe daher der Frage nach, wie Barbaren von Sidonius wahrgenommen und beschrieben wurden, insbesondere vor dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und landschaftlichen Veränderungen des 5. Jahrhunderts. Die lebensweltliche Gemeinschaft des Sidonius bildet in meinem Vorgehen den Interpretationsrahmen dieser Publikation. 14 Die Briefe der lokalen Aristokratie stellen eine der wichtigsten Quellengattungen dieser Zeit dar. Durch sie werden Individuen fassbar und es ergeben sich sowohl Einblicke in das öffentliche als auch in das private aristokratische Leben. 15 Obwohl ihre Angehörigen eine schwere Zeit durchlebten, schafften sie es, neue Wege der Aufrechterhaltung ihres römischen Lebensideals zu finden. 16 Sie bildeten eine eigene gallische Identität aus, übernahmen kirchliche Ämter und widmeten sich der Verbreitung der klassisch-römischen Bildung. 17 Diese bot nicht nur die Möglichkeit, die eigene romanitas zu erhalten, sondern diente zudem der Abgrenzung gegenüber ,Anderen‘. 18 Ein Teil ihres Selbstverständnisses war das Verfassen von Briefen, wodurch sie sich in die Tradition eines Ciceros und anderer Autoren stellten. Dabei folgten die Briefautoren bestimmten Regeln, was den Aufbau und die Sprache der Briefe betrafen, sodass am Ende oft ein kleines Kunstwerk entstand. Sidonius war einer dieser Briefautoren und hat neben seinen Briefen auch Gedichte verfasst, Lobreden auf drei römische Kaiser gehalten und einen Panegyrikus auf einen barbarischen Herrscher komponiert. Als Bischof hat er sich aktiv für seine patria, die Auvergne, eingesetzt und mit allen Mitteln versucht, seine römischen Ideale, trotz des administrativen Rückzugs Roms aus Gallien, aufrechtzuerhalten und weiterzuvermitteln. Von Sidonius stammen die meisten der aus dem Gallien des 5. Jahrhunderts überlieferten Briefe. Obwohl der Abfassungszeitraum nicht bestimmt werden kann, waren sie bereits zu 13 14 15 16 17 18

Ein nach Jahren sortierter Überblick findet sich auf https://sidonapol.org/; siehe ferner Kapitel 3. Siehe dazu insb. Kapitel 2. Chadwick 1955. Drinkwater 2013, 62. Zur aristokratischen Identität: siehe Salzman 2002, 19–68. Eigler 2013, 402; Halsall 2007, 257.

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Terminologie

5

seiner eigenen Zeit im Umlauf und wurden gelesen, rezipiert sowie kopiert. Sie gewähren uns einen Einblick in die geistige Landschaft ihres Verfassers und in seine Wahrnehmung der Welt samt ihren Akteuren. Er berichtet über Intrigen, bischöflichen Aufgaben und Wahlen, den aristokratischen Lebensstil sowie über sein eigenes und jene Leben von – seiner Meinung nach – herausragenden Persönlichkeiten. Durch die Übermittlung von Empfehlungs- und Freundschaftsschreiben gibt er Aufschluss über das Klientel- und Freundschaftswesen seiner Zeit. Seine Briefe spiegeln die Veränderungen der Aristokratie zu einer christlichen Elite wider und zeigen die Veränderungen, die seiner Region widerfahren waren, auf. Er verfasste Briefe um seiner selbst willen; es war Teil des aristokratischen Lebens und er rang um die Anerkennung seiner Gefolgsleute sowie der Nachwelt. Bei der Konstruktion seiner Barbarendiskurse entwirft er ein differenziertes Bild von diesen ‒  je nachdem, ob er ein Individuum oder eine Gruppe beschreibt. Dies fordert dazu auf, seine Wahrnehmung von ,Anderen‘ zu überdenken. Zum einen sind Barbaren in einigen Briefen selbst das Narrativ, indem er zum Beispiel über Theoderich II. oder Eurich berichtet. Andererseits sind sie Teil des Erzählhintergrundes oder werden als rhetorisches Instrument eingesetzt, um die Leser zu beeinflussen. Es kann sogar gesagt werden, dass Sidonius diese bewusst manipulieren wollte. Daraus ergeben sich folgende Fragen, die im Mittelpunkt stehen: – Wie stellt Sidonius Barbaren in seinen Briefen dar? – Welche Intention verfolgt Sidonius mit seinen Barbarendiskursen? – Inwiefern können anhand seiner Wahrnehmung von Barbaren Aussagen über seine Selbstwahrnehmung getroffen werden? Um diese Punkte aus einer neuen Perspektive zu betrachten, wird ein theoretisches Rahmenkonzept, das auf Alteritätsstudien und Traditionskonzepten beruht, angewandt, um ein tieferes Verständnis für Abgrenzungsprozesse und Konstruktionen von Identitäten zu ermöglichen (vgl. Kapitel 1.3). Ich vertrete die Annahme, dass Traditionen in beiden Prozessen grundlegend an deren Entstehung, Verlauf und Entwicklung beteiligt sind.

1.2

Terminologie

Zunächst sei auf terminologische Probleme und Erklärungen, die für diese Arbeit relevant sind, eingegangen: 1. Die Begriffe ,Volk‘, ,Völkerwanderung‘ sowie ,Germanen/germanisch‘ werden nach Möglichkeit vermieden und wenn, dann nur im Sinne der Quellen genutzt. 19 19 Zur Frage nach der Verwendung ,Germanen/germanisch‘ sei auf die in York abgehaltene Konferenz Interrogating the Germanic verwiesen; Friedrich/Harland 2021; siehe weiterhin: Wolfram 2018, 17 f.; Curta 2007; Jarnut 2004; Pohl 2004.

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6

Einleitung

Es sollte v. a. deshalb nicht von ,Germanen‘ gesprochen werden, weil durch diese Bezeichnung fälschlicherweise eine kollektive Identität einer Gemeinschaft suggeriert wird, die so nie existent war. Ferner wird der allgemeinen Erkenntnis zugestimmt, dass archäologische Befunde und historische Beschreibungen nicht zwangsläufig Gruppierungen/Kulturen zugeordnet werden können. Die Autorin ist sich der Problematik, die sich hinter dem Term ‚Ethnie/ethnisch‘ verbirgt, bewusst. 20 Die Kombination von innenpolitischen Machtkämpfen, Usurpationen sowie dem Aufstieg von ,Warlords‘ und außenpolitischen Bedrohungen durch kriegerische Verbände zeichnet das moderne Bild der Spätantike. 21 Insbesondere der Westen habe unter der ,Völkerwanderung‘ gelitten und sei, wie Claudia Schindler schreibt, im 5. Jahrhundert unter dem „Ansturm der Völkerwanderung“ zerbrochen. 22 Obwohl die Ansicht, dass während dieser Zeit immer mehr ,Barbaren‘ als gewalttätige Invasoren über die Grenzen eines hilflosen Imperiums drängten, von der Mehrheit heutiger Historiker und besonders von Archäologen abgelehnt wird, wird dieses Bild noch immer vermittelt. 23 Dabei ist der Begriff ,Völkerwanderung‘ nicht dem antiken Quellenmaterial entnommen, sondern eine

20 Siehe Kulikowski 2011; Swift 2006, 97 f.; Fehr 2008, 98, 102; Brather 2004, 7 f. Einen Überblick zur Forschungsgeschichte und Entwicklung des Begriffes der Ethnizität findet sich bei Feischmidt 2007. Für den Gebrauch in dieser Arbeit wird der Definition von Kohl 1998, 270–271 gefolgt, der unter Ethnie „eine  […] Menschengruppe mit gleicher Kultur, gleicher Sprache, Glauben an eine gleiche Abstammung und ausgeprägtem ,Wir-Bewusstsein‘“ versteht. Auch wenn diese Definition nicht ohne Kritik bleibt – Wie wird Kultur definiert? Kann eine Gemeinschaft nicht auch ohne gleiche Abstammung entstehen? – wird Karl-Heinz Kohl Recht gegeben, dass eine solche Definition den Vorteil hat, dass die politische Organisation oder Größe der Gruppe außer Acht gelassen werden. Guy Halsall (2007, 38–41) kommt zu dem Schluss, dass Ethnizität eine ideelle Ebene hat und durch die mentale Differenz einer ,In-Group‘ zu einer ,Out-Group‘ definiert werden kann. Dabei sei Ethnizität ein performativer Akt, der über simple „Identität“, die mehrere Ebenen habe, hinausgeht. Ich stimme dieser Aussage uneingeschränkt zu. Ferner folge ich der Argumentation von Philipp von Rummel, dass Ethnizitäten in gleicherweise „Vorstellungen“ als auch „real agierenden Einheiten“ seien (von Rummel 2010, 55.). 21 Zu den ,Warlords‘ siehe u. a.: Jäger 2017, 70–72, 184–189; Wijnendaele 2016, bes. 186–191; Liebeschuetz 2015, 66–82. 22 Schindler 2009, 1. 23 So z. B. wenn Mratschek 2008b, 366 von den „Scharen der Völkerwanderung“ spricht. Dies soll jedoch nicht ihre Forschung an sich kritisieren, sondern aufzeigen, wie gefährlich solche Aussagen sein können, zumal diese leider unreflektiert von einer breiten Öffentlichkeit übernommen werden können. Denn obwohl Mratschek 2008a in einem Aufsatz über Literatur und Tradition selbst erkennt, dass die eschatologischen Diskurse in den Quellen die Ansicht der modernen Forschung bezüglich des Dekadenzdenkens beeinflusst haben, schafft sie es nicht, sich von dieser Wahrnehmung zu lösen. Ähnlich ist dies bei Gosserez 2010, 127 zu beobachten, die für den historischen Hintergrund ihrer Abhandlung von den „hordes Germanique qui détruisaient tout sur leur passage“ berichtet. Zu den eschatologischen Diskursen und der Apokalypsevorstellung der Schriften jener Zeit: siehe stellvertretend Kitchen 2013, bes. 659; Wieser 2013, bes. 681. Kritisch zur ,Völkerwanderung‘ in der heutigen Zeit: Steinacher 2017a.

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Terminologie

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Konstruktion der frühen Neuzeit. 24 Heute wird in der Wissenschaft versucht, das traditionelle Bild der ,Völkerwanderung‘ in einem neuen Licht zu sehen, wozu auch das Meiden dieses Begriffes beiträgt, der in dieser Arbeit, die sich dieser Forschungstradition anschließt, nicht benutzt wird. 25 2. Es wird darauf hingewiesen, dass die synonyme Verwendung oder gar Gleichsetzung von ,Germanen‘ und ,Barbaren‘ in dieser Arbeit abgelehnt wird. 26 Der Begriff ,Barbar‘ wird als Kategorie verstanden, die zur Klassifizierung und Charakterisierung auf Menschen übertragen wurde, um sich selbst und seine lebensweltlichen Gemeinschaften von Fremden und ,Anderen‘ abzugrenzen. Die Frage, ob die Bezeichnungen ,Germanen‘ und ,Barbaren‘ verwendet werden sollten oder nicht, ist eine anhaltende Forschungskontroverse. 27 Hierzu schrieb Walter Pohl, dass ethnische Begriffe eine Last von Emotionen und Vorurteilen tragen und dazu neigen würden, irreführende Ideen zu evozieren. Seiner Meinung nach sollten sie aus diesem Grund vermieden werden. 28 In dieser Debatte wird meist nicht bedacht, dass in diesem Fall auch Bezeichnungen wie ,Römer‘ oder ,Griechen‘ zu vermeiden wären, da sie ebenso als ethnische Begrifflichkeiten zu erachten sind. 29 In dieser Arbeit werden die begrifflichen Kategorien ,römisch‘ und ,barbarisch‘ verwendet, da sie als Werkzeug des Historikers gesehen werden, um Sachverhalte zu erklären und darzustellen. In dem Bewusstsein, dass antike Autoren durch ihre Terminologie ein spezifisches Konstrukt geschaffen haben, wird vorgeschlagen, barbarus und seine Ableitungen in der heutigen Forschung nicht zu meiden, sondern sich auf ihre Nutzung und Entwicklung in zeitgenössischen Quellen zu konzentrieren. Die vorliegende Arbeit richtet ihr Augenmerk auf die Adaption und Verwendung des Begriffes in den Briefen des Sidonius, um seine subjektive Abgrenzung von ,Anderen‘ zu erfassen. Es wird gezeigt werden, dass eine ,reale‘ Bestimmung von Barbaren nicht nur schwierig, sondern fast gänzlich unmöglich ist, weshalb diese Arbeit nicht das Ziel hat, eine ,Realität‘ der Barbarenbilder zu untersuchen. 30 3. Die Begriffe ‚Lebenswelten‘/‚Anderswelten‘ werden verwendet, um die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften zum Ausdruck zu bringen, ohne dass wir 24 Mit der Entwicklung des Begriffes haben sich ausführlicher Steinacher 2017b; Donecker 2012; Quiroga 2011, 37–39 und Springer 2006, 509–510 auseinandergesetzt. 25 Vgl. Heil 2016, 232: „Es zeigt sich, dass sowohl der Begriff als auch das Konzept einer ,Völkerwanderung‘ forschungsgeschichtlich belastet sind und überdies durch Forschungen der letzten Jahrzehnte in Frage gestellt wurde: Das, was die Bezeichnung ,Völkerwanderung‘ suggeriert, hat es so nicht gegeben. Es war eine lange Phase der Wandlungen und Umbrüche mit vielen Rachen, die schließlich Roms Zentralmacht zusammenbrechen ließ.“ Vgl. Steinacher 2009, 265. Einen Überblick über die Forschung zur ,Völkerwanderung‘ bieten: Halsall 2014, 515–519; Wood 2013a, 1–18; Fehr/von Rummel 2011, 7–19; Pohl 2005, 15–23; Goffart 2006, 13–22; 1989, bes. 87–103. 26 Beispielsweise Fischer/Lind 2017, 107, passim; Fascione 2016, 457; Heitz 2009, 27–65; Le Guillou 2001, 146; Scheibelreiter 1999, passim; Kaufmann 1995, 79; Sivan 1983, 98, passim. 27 Als locus classicus gilt: Jarnut 2004; vgl. für die Literaturwissenschaft: Haubrichs 2011, 28 Anm. 60. 28 Pohl 1998a, 15. 29 Zu ,ethnisch‘ als multiplem Konstrukt siehe: Halsall 2007, 42. 30 Vgl. Berndt 2007, 27.

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Einleitung

bis ins Detail erforschen können, welche Gemeinsamkeiten zur Formierung einer kollektiven Identität zu Grunde liegen. Deshalb wird dem Begriff der ,Lebenswelten‘ respektive ,Anderswelten‘ zur mentalen Abgrenzung und Verortung von ,Anderen‘ der Vorrang vor Pierre Bourdieus habitus oder Tonio Hölschers ,Gegenwelt‘ gegeben. Das Konzept der ,Lebenswelt‘ wird ausführlicher im Kapitel 1.3.1 behandelt. 4. Das Konzept von romanitas – das als Begriff in römischen Zeugnissen äußerst selten in Erscheinung tritt 31 – ist ebenso als Diskurs zu verstehen, der die unterschiedlichen ,Lebenswelten‘ und dadurch die unterschiedlichen Identitäten der römischen Gesellschaft, die als multiethnisch zu begreifen ist, in sich vereint. 32 Ausgehend von Aleida Assmanns Definition von kollektiven Identitäten und Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses schlage ich vor, dass romanitas verschiedene Merkmale einer gemeinsamen Identität vereint, die auf Sprache (Latein und Griechisch), Traditionen (amicitia, paideia, Lebensweise allgemein), Verhalten (civilitas, humanitas und clementia), Erscheinungsbild (beispielsweise durch Kleidung) und Religion (seit dem Aufkommen des Christentums das Nizänische Glaubensbekenntnis) beruht. Romanitas ist kein feststehender Begriff und kein statisches Konzept, sondern muss für jeden Autor neu interpretiert werden. Romanitas als begrifflicher Ausdruck für die Zugehörigkeit zu römischen Lebenswelten bietet für uns heute die Möglichkeit, ohne ethnische Zuschreibung auszudrücken, wie ein Mensch wie Sidonius sich selbst wahrnahm und wie er sich von ,Anderen‘ aufgrund seiner romanitas abgrenzte. Trotz aller begrifflicher Problematik erscheint er als geeignetes Instrument, um die Mentalität von Personen, die sich mit den lebensweltlichen Vorstellungen des Römischen Reiches identifizierten, zu erörtern und zu definieren. 5. Fremder/Anderer: Bei der Lektüre sozialwissenschaftlicher Literatur zum Thema ‚Fremdheit‘ hat sich herauskristallisiert, dass für die vorliegende Arbeit eine Abgrenzung zwischen ‚fremd‘ und ‚anders‘ vorgenommen werden muss. 33 Zusätzlich muss zwischen einer kollektiven und individuellen Ebene, in Bezug auf die 31 Tertullian bietet in seinem Werk De Pallio den ersten wörtlichen Beleg für diese Terminologie in einem antiken lateinischen Text (Tert. De Pallio 4,1). Er erklärt, dass er den Mantel des Philosophen der Toga vorziehen würde, die er als Inbegriff der romanitas verachtet. Unabhängig davon ist die Idee der romanitas tief in der klassischen Literatur und der römischen Ideologie verwurzelt und keine Erfindung dieses Autors. Der Begriff – auch wenn er von Tertullian pejorativ verwendet wurde – gewann in der modernen Forschung schnell an Bedeutung, um eine Art römische Identität zu beschreiben. So bspw.: Pohl 2018; Pollheimer 2014; Mattiangeli 2010; Edwards 2006; Adams 2003; Andrews 2000; Revell 1999. 32 Vgl. Halsall 2007, 54. 33 Für die Diskussion über ,Andere‘, Fremde oder anderweitige Lösungen siehe: Müller-Funk 2016, 15–34; Hölscher 2000a, 9–8, bes. 11–13; Schäfer/Schlöder 1994, 71–72. Leider werden die Begriffe ,Fremde‘ und ,Andere‘ oft synonym verwendet, wie z. B. in den Schriften von Kienlin 2015; Schriewer 2008; Nieswand/Vogel 2000. Grundlegend zu Fremdheit siehe: Waldenfels 1997–1999, Bd. 1, 89; Simmel 1992, 764.

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Terminologie

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Wahrnehmung von Fremden oder ,Anderen‘, unterschieden werden. Dabei ist zu hinterfragen, ob generell ganze Gemeinschaften als fremd deklariert werden können, wenn doch seit Jahrhunderten über diese berichtet wird. Wann endet das ,Fremdsein‘ und wann beginnt das ,Anderssein‘? 34 Zur Definition von Fremdheit, wie sie in dieser Arbeit aufgefasst und verwendet wird, ist Folgendes festzuhalten: ,Fremdsein‘ wird mit ,Unbekanntsein‘ gleichgesetzt. Da die hier vorliegende Studie sich mit einem Individuum und dessen Wahrnehmung beschäftigt, wird dieser individuellen Ebene Vorrang gegeben. Demnach ist zuerst jeder Nicht-Römer, mit dem Sidonius oder andere Personen aus der gallo-römischen Aristokratie keinen persönlichen Kontakt hatten, ein Fremder, weil er ihnen unbekannt war. Auf das Kollektiv übertragen nimmt die Diskussion um Fremdheit neue Ausmaße an. Gemeinschaften sind sich dann fremd, wenn andere kulturelle Hintergründe (z. B. Sprache, Kleidung, Tradition, Verhalten) vorliegen. Daher wird der Begriff des Fremden immer dann angewandt, wenn Sidonius allgemein über andere Gemeinschaften, wie z.  B. Goten oder Franken, oder unspezifisch über die ,Barbaren‘ schreibt. Dies gilt ebenso, wenn aus römischer Sicht gesprochen wird (,wir Römer‘ gegen die ,Barbaren‘). Es wird ebenfalls der Fremdheit den Nicht-Römern den Vorrang gegeben, da es sich aus römischer Sicht um kulturelle ,Andere‘ mit einer anderen Sprache und anderen Traditionen handelt, die für die römische Gemeinschaft unbekannt sind und daher als fremd aufgefasst werden. Ein ,Anderer‘ ist jeder außerhalb des ,Selbst‘, des eigenen ,Ichs‘, der eigenen Gemeinschaft. Dabei bleibt die Frage ganz ungeachtet, ob der ,Andere‘ auch ein Fremder ist. Auf die gallischen Briefautoren übertragen wird Alterität für jeden Nicht-Römer verwendet, mit dem sie Umgang oder Erfahrungen hatten und mit dem sie folglich in irgendeiner Form in Kontakt standen. Da diese Untersuchung einzig auf die Darstellung und Wahrnehmung von Barbaren eingeht, wird die ,Andersheit‘ aller anderen Gruppierungen (z. B. Frauen, Nichtaristokraten oder Sklaven) in dieser Arbeit außer Acht gelassen. 6. Gallo-römische Aristokratie als Begriff und Konstrukt ist in den letzten Jahren erneut in den Blick der Forschung geraten, weil der Begriff eine Homogenität suggeriert, die es so nicht gab. Zuletzt haben sich im deutschsprachigen Raum Tabea Meurer und Hendrik Hess der Konstruktion der gallo-römischen Oberschichten zugewandt. Tabea Meurer untersucht, wie soziale Akteure Vergangenheitsbezüge wie Spielsteine einsetzen können, um ihre Zugehörigkeit zur Elite zu unterstreichen; 35 Hendrik Hess hat sich mit der Selbstwahrnehmung der gallorömischen Oberschichten befasst, indem er ihre Kommunikation analysiert und sie in einem historischen Diskursraum verortet hat. 36 Bei beiden Arbeiten wird deutlich, dass die gallo-römischen Akteure am Übergang von der Spätantike zum 34 Vgl. Assmann 1996, 78: „Der Fremde aber hört mit wachsender Kenntnis auf, fremd zu sein, und wird zum ,Anderen‘ im Sinne der kooperativen oder kompetitiven Partnerschaft.“ 35 Meurer 2019; vgl. Egetenmeyr 2020. 36 Hess 2019.

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Einleitung

Frühmittelalter heterogener waren als vielleicht je zuvor und gerade deshalb umso mehr Gemeinschaftlichkeit – ob nun über Vergangenheitsbezüge oder Kommunikationsmittel – konstruieren mussten. Die Problematik, diese imaginierte Gemeinschaft als Aristokratie, Oberschicht oder Elite zu bezeichnen, bleibt bestehen. Die Begriffe ‚Oberschicht‘ und ‚Elite‘ bieten sich aufgrund ihrer Breite dann an, wenn die gesellschaftliche Zugehörigkeit einer Person nicht mehr ableitbar ist und aus den Quellen lediglich geschlossen werden kann, dass seine/ihre gesellschaftliche Stellung höher als die der „normalen“ Bevölkerung (beispielsweise Handwerker oder Bauern) gewesen sein muss. In dieser Arbeit wird am Begriff der gallo-römischen Aristokratie festgehalten und der Annahme von Michele R. Salzman, dass deren Mitglieder eine gemeinsame „mentalité“, eine gemeinsame Statuskultur haben, gefolgt. 37 Gerade diese „mentalité“, die den Rangniedrigsten vom Ranghöchsten im ordo senatorius verbindet, lässt eine Ansprache als „Aristokratie“ zu. Ferner kann diese Argumentation auf das spätantike Gallien übertragen und somit die Ansprache als „gallo-römische Aristokraten“ gerechtfertigt werden, die auf gemeinsamen Statusdiskursen beruht. 38 Dies wird in Kapitel 2 dargestellt. Nichtsdestotrotz bin ich mir der Heterogenität der gallo-römischen Aristokratie bewusst, die nicht nur langsam ihre „mentalité“ wandelte, wie Hendrik Hess aufzeigt, 39 sondern auch Raum für neue Mitglieder bot, insofern diese ihre Spielsteine richtig einzusetzen wussten, wie Tabea Meurer überzeugend darlegt. 40 Während Sidonius der senatorischen Aristokratie angehört, wurde es im 5. Jahrhundert immer schwieriger, den traditionellen Karriereweg des cursus honorum einzuschlagen und eine senatorische Karriere im römischen Staat aufzunehmen. Im Zusammenspiel mit neuen nicht-römischen Akteuren in Gallia wurden im 5. Jahrhundert die Weichen für die Formierung neuer Eliten gestellt.

1.3

Alteritäten und Identitäten

Um aufzuziegen, wie Alteritäten und Identitäten in dieser Arbeit rationalisiert werden, sollen nach der Vorstellung der wichtigsten Etappen der Forschungsgeschichte die theoretischen Aspekte vorgestellt werden, 41 die meines Erachtens bedeutsam sind, um die Konstruktion von ,Anderen‘ bei Sidonius Apollinaris zu verstehen. Dabei folge ich insbesondere 37 38 39 40 41

Salzman 2002, 4; 2000, 347. Vgl. Meurer 2019, 35; Salzman 2002, 4. Hess 2019, 180–183. Meurer 2019, 356–357. Für einen Überblick zum Thema Fremdheit, Alterität und ,Otherness‘ sei daher stellvertretend auf die einführenden Werke von Bachmann-Medick 2017; Müller-Funk 2016; Aydın 2009, die Sammelbände von Flatscher 2010 und Eßbach 2000 sowie auf folgende Arbeiten verwiesen: Brons 2015, 73–77; Stichweh 2010, 9–22; Palacios 2009, 27–35; Staszak 2009; Hellmann 1998. Insbesondere für die deutsche Geschichtswissenschaft siehe: Becker/Mohr 2012, 1–58; Gehrke 2010; Barth 2008;

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Alteritäten und Identitäten

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der Annahme, dass Barbarenbilder in seinen Briefen als konstruierte Diskurse begriffen werden müssen und mit Hilfe eines diskursanalytischen Verfahren interpretiert werden können. Sie sind eine literarische Manifestation der Gedankenwelt des Sidonius und zeichnen ein Bild, wie er andere wahrgenommen und in seinen Briefen dargestellt hat. 1.3.1 Von der Philosophie in die Geschichtswissenschaft: Alteritäten im Wandel Die Fragen, wer wir sind, was uns charakterisiert und von ,Anderen‘ unterscheidet, sind im Innersten des menschlichen Denkens und Fühlens verankert. Bereits im 18. Jahrhundert hat Georg W. F. Hegel (1770–1831) in seiner Phänomenologie des Geistes darüber reflektiert, wie Selbstwahrnehmung mit der Konstruktion von Alterität zusammenhängt. 42 Dies kann für die moderne Wissenschaft als Beginn der Wahrnehmungsforschung des ,Selbst‘ und des ,Anderen‘ gesehen werden, da von diesem Zeitpunkt an Gelehrte verschiedenster Fachrichtung fragten, inwiefern die Wahrnehmung von ,Anderen‘ ein essenzieller Bestandteil davon sei, wie wir uns selbst wahrnehmen und beschreiben. 43 Unweigerlich wird der ,Andere‘ auf Grundlage dessen verortet, was uns vertraut erscheint, und folglich in einer Juxtaposition zum Selbst gedacht. Demzufolge ist der ,Andere‘ anders als das ,Selbst‘. 44 Jean-Paul Sartre hat sich in seinem Werk L’ être et le néant, 45 das während der deutschen Besatzung in Paris entstanden war, intensiv mit dem ,Selbst‘ beschäftigt. Er unterscheidet zwei Arten des ,Selbst‘: 1. „être pour soi“; 2. „être en soi“. Während sich bei der ersten

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Eßbach 2000; Jauss 1979. Zur Bedeutung in der Geschichtswissenschaft allgemein siehe: Jordanova 2000, bes. 245–250. Hegel 2011, 114–128. Hier sei besonders auf die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts verwiesen, die auf der Phänomenologie von Georg W. F. Hegel, Edmund Husserl und Martin Heidegger aufbaute. Während im Folgenden in aller Kürze auf Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas eingegangen wird, sollten zumindest Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jaques Derrida genannt werden. Da diese jedoch vorwiegend für ihre methodologischen Errungenschaften in der Geschichtswissenschaft – d.  h. Diskursanalyse und Dekonstruktion – bedeutend sind, werden sie an dieser Stelle hintenangestellt. Auch die Ansichten von Simone de Beauvoir müssen für eine frühe philosophische Auseinandersetzung mit Alterität berücksichtigt werden. Im Rahmen der Einleitung ihres Werkes Le deuxième sexe stellt sie für den Leser die rhetorische Frage, was eine Frau sei, und kommt zu dem Schluss, dass Frauen den Gegensatz zum Mann bilden, also das ,Andere‘ seien. Diese Folgerung leitet sie von der Grundannahme ab, dass sich jede Gemeinschaft durch den ,Anderen‘, der vor Augen geführt wird, definiert. Zur Geschichte der französischen Philosophie siehe: Descombes 1993. Für die deutschsprachige Forschung sind für die Alteritätsforschung besonders Georg Simmel (Simmel 1992), Bernhard Waldenfels (Waldenfels 1997–1999) und Alfred Schütz (Schütz 2020) hervorzuheben.  Vgl. Treanor 2006, 4. De Beauvoir 1949, 17 f.: „[…] l’altérité est une catégorie fondamentale de la pensée humaine. Aucune collectivité ne se définit jamais comme une sans immédiatement poser l’Autre en face de soi.“ Vgl. Sartre 1980. Sartre verankert sein Werk zum einen in der Ontologie Martin Heideggers, andererseits in der Phänomenologie Edmund Husserls, die er methodisch miteinander verbindet. Aber

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Einleitung

Form, „für sich sein“, das ,Selbst‘ seiner Existenz und Freiheit bewusst ist, ist es sich bei der zweiten Form, „an sich sein“, dessen nicht bewusst. Dadurch unterscheide sich das menschliche ,Selbst‘ von Tieren oder Objekten. 46 In seinem Werk will Jean-Paul Sartre der Frage nachgehen, wie diese beiden Formen des ,Selbst‘ zusammenpassen. Wichtig für diese Arbeit ist der dritte Teil des Werkes, in dem Sartre die Beziehung zwischen dem ,Selbst‘ und dem ,Anderen‘ untersucht: „être pour autrui“ – „für andere sein“. Er geht davon aus, dass sich das ,Selbst‘ über ,Andere‘ definiert. Dabei wird das ,Selbst‘ gleichzeitig zum Objekt für den ,Anderen‘. 47 Der Gedanke, dass das ,Selbst‘ sich durch den Blick auf den ,Anderen‘ definiert, bildet die Grundlage für viele Alteritätsstudien. 48 Dabei wurde dieser Ansatz in der Philosophie das erste Mal von Emmanuel Levinas grundlegend hinterfragt, der zwischen dem ,Selbst‘ und dem ,Anderen‘ eine asymmetrische Beziehung sieht, in der die Transzendenz im ,Anderen‘ liegt. In anderen Worten: Der ,Andere‘ soll mit seiner Andersartigkeit akzeptiert und nicht mit Hilfe von Kategorien analysiert und eingeordnet werden. 49 In Levinas̓ Annahme, dass Ethik die erste Philosophie sein solle, appelliert er an das ,Selbst‘, dem ,Anderen‘ in seiner Andersheit zu begegnen und diese zu respektieren. Ergo braucht in der Annahme Emmanuel Levinas das ‚Selbst‘ den ‚Anderen‘ nicht, um seine Identitäten zu verhandeln. 50 Das Problem bei dieser Theorie liegt meines Erachtens beim Menschen selbst, da es keine Garantie gibt und geben kann, dass der Mensch sich ethisch korrekt verhält. Dennoch darf diese Option, ,Andere‘ zu respektieren und zu akzeptieren, in der Untersuchung von Alteritäten nicht ausgeschlossen werden. 51 In ähnlicher Weise, wie Emmanuel Levinas Alterität für die Philosophie neu überdacht hat, kam es seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Neuevaluierung von Fragen nach Identität, Ethnizität, Alterität und Nationenbildung. Ausschlaggebend hierfür waren die Erfahrungen des 2. Weltkrieges und des Missbrauchs der ,Rassenlehre‘, um die Vertreibungen und gesellschaftliche Exklusion von Menschen zu rechtfertigen.

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auch eine Auseinandersetzung mit Georg W. F. Hegels Dialektik bleibt nicht außen vor (siehe Sartre 1980, 271–291). Sartre 1980, 29–33, insb. 33. Sartre 1980, 259–471, insb. 260: „Or autrui est le médiateur indispensable entre moi et moi-même: j’ai honte de moi tel que j’apparais à autrui. Et, par l’apparition même d’autrui, je suis mis en mesure de porter un jugement sur moi-même comme sur un objet, car c’est comme objet que j’apparais à autrui. […] Je reconnais que je suis comme autrui me voit.“ Beispielsweise Broom 2014; Vergin 2013; Baberowski 2008; Hastings/Manning 2004; Said 2003; Hölscher 2000a; Todorova 1997 oder gar der gesamte Freiburger Sonderforschungsbereich 541 Alteritäten und Identitäten. Die Teilprojekte A 6 Konstitution und Konstruktion von Identität und Alterität in der römischen Literatur der Republik, insbesondere der Tragödie unter Leitung von Eckard Lefèvre, B 1 Römisch-imperiale und regionale Identitäten und ihr Wechselspiel im östlichen Imperium Romanum unter Leitung von Hans-Joachim Gehrke und Eckhard Wirbelauer sowie C 4 Ethnische Einheiten im frühgeschichtlichen Europa. Archäologische Forschung und ihre politische Instrumentalisierung unter der Leitung von Heiko Steuer möchte ich besonders hervorheben. Levinas 1965, 29. Levinas 1965, 30; vgl. Treanor 2006, 5, 14. Vgl. hierzu: Gruen2011, 1–5.

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Alteritäten und Identitäten

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Aber nicht nur im Bereich der Geschichtswissenschaften, sondern auch in anderen Bereich der Kultur- und Humanwissenschaften wurde hinterfragt, was Identitäten sind und inwiefern ,Andere‘ in den Selbstwahrnehmungsprozessen des ,Selbst‘ involviert sind. 52 Mit Beginn des Postmodernismus und der Abkehr von der Suche nach großen Narrativen wurde einerseits der Blick für Mikrohistorie gestärkt, andererseits erkannt, dass geschichtliche Erkenntnis mehrere Möglichkeiten, mehrere Perspektiven hat. Diese Erkenntnis hat konkrete Auswirkungen auf die Alteritätsforschung, weil die ,Anderen‘ in unserem Denken einen zentralen Platz haben und jegliche Abkehr davon nicht in die Strukturen der etablierten Narrative passe, wie Brian Treanor konstatiert. 53 Unser Leben und Denken wurde von solchen Grand Narratives strukturiert und kategorisiert. Ihre Auflösung zwingt uns, nicht nur unsere eigenen Identitäten zu hinterfragen, sondern auch unsere Denkweise als Historiker kritisch zu beleuchten. In der postmodernen Geschichtswissenschaft führte die intensivierte Auseinandersetzung mit Identitäten und Alteritäten zur Erkenntnis, dass die ,Anderen‘ als Konstruktion verstanden wurden, die von einem sich als überlegen darstellenden ,Selbst‘ zur Selbstbestärkung genutzt wurde. 54 Eine Erkenntnis, an der postkoloniale Studien maßgeblich beteiligt waren und als deren Beginn bis heute das Werk Orientalism von Edward Said gilt. 55 Obgleich Orientalism stark kritisiert wurde und wird, 56 ist es dennoch das einflussreichste Werk in Bezug auf literarische Wahrnehmung und Darstellung von ,Anderen‘, die Edward Said als konstruiert, ja sogar imaginiert erachtet. 57 Im Diskurs wird ein Bild des Orients geschaffen, das je nach Autor befremdlich, exotisch oder abschreckend wirkt und der Realität fern ist. Edward Said erkannte, dass der Orient im Diskursraum der westlichen Welt genutzt wird, um sich als dem Orient in sämtlichen Bereichen als überlegen darzustellen. 58 Er folgert, dass die europäische Kultur an Stärke und Identität gewonnen habe, indem sie sich bewusst gegen den Orient als „underground self“ absetze. 59 Mit seinem Werk möchte er diesen Diskurs auseinandernehmen. Trotz aller Kritik am Werk Saids sind drei Aspekte für die vorliegende Studie von Bedeutung: 1. das imaginierte Bild 52 Als Beispiele für psychologische Studien sind zu nennen: Gillespie 2007; Raible 1998; Schäfer/ Schlöder 1994. Für die sozialwissenschaftliche Forschung steht stellvertretend: Stichweh 2010; Freeman 2009; Nieswand/Vogel 2000; Simmel 1992. Für anthropologische/ethnologische Forschung zur Alterität ist empfehlenswert: Leistle 2017; Maranhao 1998. Ferner hat Baumann 2004 anthropologische Grammatiken zu Identität und Alterität entwickelt. 53 Treanor 2006, 2: „Grand Narratives will not tolerate otherness; their motto is ‚a place for everything and everything in its place.‘“ 54 Siehe bspw.: Gehrke 2010, 363. 55 Als Vorläufer ist der französische Psychiater Frantz Fanon zu erwähnen. Er wirbt in seinem Buch Les damnés de la terre (Fanon 1999 [erschienen 1961]) für eine Revolution gegen den Kolonialismus, kritisiert Nationalismus und Imperialismus, untersucht deren Auswirkungen auf die Psychologie der kolonisierten Bevölkerung (basierend auf seiner Untersuchung Peau noire, masques blancs [1954]) und ruft zum Aufstand gegen die Kolonialmächte auf, siehe: Loomba 22005, 120–128. 56 Zum Beispiel Chibber 2019; Bhabha 1994, 71–75; Clifford 1988, 256–276. 57 Said 2003, 5, 20 f. 58 Said 2003, 23, 6. 59 Said 2003, 3.

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Einleitung

des ,Anderen‘, das stereotypisiert ist; 2. das Begreifen der literarischen Darstellung von ,Anderen‘ als Diskurse; 3. der Gedanke, dass die Autoren des Diskurses sich als überlegen wahrnehmen. Bei genauerer Betrachtung von Sidonius Apollinaris’ Werken können wir diese in seiner Darstellung von Barbaren wiederfinden. Aus diesen Gründen wird sich die Studie auch methodologisch an Edward Said anlehnen. 60 Während Edward Said seinen Fokus auf die diskursive Dichotomie von Orient und Okzident legt, appelliert Gayatri C. Spivak an das ,Selbst‘. Mit ihrem Beispiel von „disempowered“ Frauen in Indien und der Tradition von Sati 61 – der Witwenverbrennung – argumentiert sie, dass subalterne Menschen das Produkt von Kolonialmächten seien und daher ohne Geschichte und eigene Stimme existieren. 62 Menschen, die sie als subaltern definiert, werden meist von einem politischen Repräsentanten vertreten. Dies habe zur Folge, dass solche subalternen Gruppen (wie beispielsweise Frauen oder Arbeiter in vormals kolonisierten Ländern) in der Art erscheinen, als ob sie als Kollektiv oder geeintes politisches Subjekt sprechen. Dies trage zum dominanten Diskurs des ,Selbst‘ bei, wohingegen die wirklichen Menschen „ohne Stimme“ blieben. 63 Gayatri C. Spivak treibt die postkolonialen Studien in der Art voran, dass entgegen Edward Said, der den westlichen Diskurs untersucht, die subalternen Identitäten eine Stimme erhalten sollen. Während sich also bei Edward Said die philosophischen Ansätze Hegels und Sartres widerspiegeln, lehnt sich Gayatri C. Spivak mehr an die Ethik von Emmanuel Levinas an und zeigt die Entwicklung, die postmodern-postkoloniale Alteritätsstudien und damit verbunden das ,Andere‘ durchgemacht haben. Ihre Methodik fundiert maßgeblich auf Dekonstruktion im Sinne von Jaques Derrida. 64 Es stellt sich nun die Frage, ob Barbaren in Sidonius’ Werk als subaltern betrachtet und bezeichnet werden können. Dabei ist zunächst aus althistorischer Sicht die Problematik 60 Obgleich er nicht zu den postkolonialen Forschern zählt, möchte ich an dieser Stelle auf den bulgarischen Soziologen Tzvetan Todorov zu sprechen kommen, der, ohne einen postkolonialen Ansatz zu verfolgen, eine Abhandlung über Alterität auf Grundlage der Eroberung Amerikas verfasst hat siehe: Todorov 1982. 61 Sati bezeichnet eine Form der Witwenverbrennung, die u. a. in Indien eine wichtige gesellschaftliche Tradition war, um als Frau öffentlich die Treue und Loyalität gegenüber dem Ehemann zu zeigen und die Diodor bereits für die Zeit Alexanders des Großen belegt (D. S. 19,32–36). Nachdem der verstorbene Ehemann verbrannt worden war, konnten sich die Frauen dazu entscheiden, die Witwenverbrennung zu zelebrieren. Sie folgten ihren Männern und waren mit ihnen im Tod vereint: Fisch 1998, 216–220, siehe speziell seine Auseinandersetzung mit der Witwenverbrennung bei Diodor: 223–224. 62 Spivak 2013, 83, 101, 103. 63 Spivak 2013, 104: „The subaltern cannot speak.“ 64 Derrida 1967. In seinem Werk De la grammatologie hat Jaques Derrida das erste Mal den Begriff der Dekonstruktion von Martin Heidegger übernommen und auf Ferdinand de Saussure angewandt. Im Laufe seiner Werke hat sich die Definition von Dekonstruktion immer weiterentwickelt. Dennoch kann festgehalten werden, dass Derridas Hauptanliegen die Auflösung von Machtverhältnissen ist, die sich durch Sprache manifestiert haben. Durch die Dekonstruktion von Texten, wobei ,Text‘ bei Derrida sehr weit gefasst ist und auch Gegenstände miteinbeziehen kann, werden Annahmen und Widersprüchlichkeiten ans Licht gebracht. Vgl. Grondin 1999, 5.

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Alteritäten und Identitäten

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zu betonen, dass Gayatri C. Spivak ihre Beispiele und Argumentation auf das moderne Indien zurückführt und die Menschen, die als subaltern definiert werden können, zwar keine Stimme haben, dennoch Teil der indischen Gemeinschaft sind. Anders als Edward Said, welcher der literarischen Konstruktion der ,Anderen‘ nachgeht, befasst sich Spivak mit der Dekonstruktion kolonialistischer Machteinflüsse und den Perspektiven auf Praktiken und Menschen innerhalb einer kolonisierten Gesellschaft. Es geht ihr um Dekolonisation, während Edward Said lediglich den postkolonialen Diskurs offenlegt. Sind nun Barbaren als Teil der römischen Welt zu betrachten oder sind sie im Sinne von Edward Said die ,Anderen‘, die eine gegensätzliche Entität zum Römischen Reich bilden? In dieser Arbeit werden beide Hypothesen miteinander verbunden. Einerseits gehe ich davon aus, dass sich Barbaren als ,Andere‘ in den Diskursen des Sidonius Apollinaris als Gegenbild seiner eigenen Identitäten lesen lassen, andererseits ist nicht zu negieren, dass ehemals ,Andere‘ im 5. Jahrhundert integraler Bestandteil der römischen Welt waren. 65 Somit ist eine strikte kulturelle Trennung von ,römisch‘ und ,barbarisch‘ erstens unmöglich und zweitens nicht angebracht. Wie kann nun aber diese scheinbare Dichotomie des „Gegenbildes“ umgangen werden? Die Ansätze von Edward Said und Gayatri C. Spivak wurden von Homi K. Bhabha kritisiert und weiterentwickelt, der in seinem Werk The Location of Culture, das eine Sammlung seiner wichtigsten Schriften darstellt, für eine Auflösung der scheinbaren Dichotomie von Orient und Okzident argumentiert, da es Ost und West als Entitäten so nicht gebe. 66 Ein Gedanke, der sich sehr gut auf unser ,Römer-und-Barbaren-Problem‘ übertragen lässt. Denn obgleich noch argumentiert werden kann, dass das Römische Reich aufgrund seiner rechtlichen Verankerung spätestens seit der Constitutio Antoniana (212 n. Chr.) eine Einheit bildete, 67 gibt es doch keinesfalls ,die Barbaren‘ als ethnische oder kulturelle Entität. Daher lohnt sich eine kurze Auseinandersetzung mit Homi K. Bhabha und seinem Verständnis von Kulturen sowie ihren diskursiven sozialen Konstruktionen. 68 Sein Verständnis von Hybridität (d. h. weder das eine noch das andere), 69 hat innerhalb postkolonialer Studien bis heute am meisten Einfluss, ist aber auch stark diskutiert. 70 In seinem Hybriditätskonzept nehmen die Kolonisierten kulturelle Elemente der Kolonisten an, um durch diese Mimikry Widerstand gegen die Kolonisation zu leisten. 71 Für ihn sind koloniale Identitäten – ob nun die der Kolonisten oder die der Kolonisierten – im ständigen Wandel und im ständigen Verhandeln. Der Prozess der Hybridisierung ist für ihn wichtiger als Hybridität selbst. 72 Das stetige Neuverhandeln 65 Hierbei ist bspw. an die Bedeutung von nicht-römischen Heermeistern in der Spätantike zu denken. 66 Bhabha 1994, passim. Eine empfehlenswerte Einführung zu Homi K. Bhabha und seinem Werk bietet: Huddart 2006. 67 Selbst dieses Argument ist im 5. Jahrhundert durch die Desintegration des Reiches und die steigende politische Bedeutung nicht-römischer Akteure zu entkräftigen. 68 Bhabha 1994, 32. 69 Bhabha 1994, 33, 36. 70 Loomba 22005, 148. 71 Bhabha 1994, 60, 86, 102. 72 Vgl. Huddart 2006, 4–6.

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Einleitung

von kulturellen Identitäten bezeichnet Bhabha als kulturelle Differenz, die er im ‚Dritten Raum‘ verortet. 73 Diesen Raum durchqueren die aufeinandertreffenden Kulturen und können das ihnen Fremde übersetzen und verständlich machen, wodurch es zu kulturellen Verhandlungen kommt. 74 Erst wenn sich Kulturen im ‚Dritten Raum‘ begegnen, können nationalistisches Ansinnen und Grundideen von „Leitkulturen“ überkommen werden. Obgleich die Idee des ‚Dritten Raumes‘ durchaus ihre Reize hat, erscheint es doch problematisch, dass Homi K. Bhabha zwar einerseits davon ausgeht, dass Kulturen sich ständig wandeln und daher keine Kultur als „rein“ wahrgenommen werden kann, gleichzeitig aber das Zusammentreffen zweier Kulturen im ‚Dritten Raum‘ beschreibt, als ob diese den Zwischenraum in statischer Weise betreten würden, selbst wenn sie schon vorher Veränderungen durchlaufen haben. 75 Gleichzeitig impliziert diese Theorie, dass es lediglich im ‚Dritten Raum‘ und im Angesicht anderer Kulturen zu Veränderungen, begründet durch Verhandlungen und Übersetzungen des Fremden, kommen kann, und sie negiert somit die Möglichkeit der Veränderungen aus sich selbst heraus. Wenn Kulturen sich in einem ständigen Wandel befinden, bräuchte es nicht zwangsläufig einen ‚Dritten Raum‘, in dem Kulturen sich offen begegnen und im Angesicht des ,Anderen‘ die eigene Identität neu verhandeln. Dennoch wird Homi K. Bhabha sowie neusten Erkenntnissen bezüglich kollektiver Identitäten zugestimmt, dass diese sich in einem ständigen Veränderungsprozess befinden und niemals „rein“ sind. 76 Die angeblich römische Kultur ist ein sehr gutes Beispiel, um zu demonstrieren, dass man, wenn überhaupt, von römischen Kulturen im Plural sprechen muss. Denn selbst die Mythen, die sich um die Gründung Roms und die Ausbreitung eines Römertums ranken, sind mit anderen kulturellen Einflüssen, wie beispielsweise kleinasiatischer, etruskischer, latinischer, hellenischer oder gar gallischer Art, verwoben und zeigen einmal mehr, dass ‚das Römertum‘ nie in einer ,reinen‘ Form existent war, sondern das Resultat andauernder und wechselnder Kontakte von sich unterscheidenden Gruppierungen ist. Über Jahrhunderte hinweg hat sich daraus eine Gemeinschaft formiert, die auf einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Ritualen 73 Er lehnt kulturelle Diversität ab, da er in dieser Begrifflichkeit eine radikale Trennung von Kulturen sieht, vgl. Bhabha 1994, 34. Kulturelle Differenz versteht er als einen Prozess, der Aussagen über und von Kultur Bedeutung zuschreiben kann. Dadurch werden Unterschiedlichkeiten sozial konstruiert. 74 Bhabha 1994, 36 f. 75 Vgl. Bhabha 1994, 35 f.: „Cultures are never unitary in themselves, nor simply dualistic in the relation of Self to Other. Siehe ferner S. 37: „It is only when we understand that all cultural statements and systems are constructed in this contradictory and ambivalent space of enunciation [Anm.: gemeint ist der ‚Dritte Raum‘], that we begin to understand why hierarchical claims to the inherent originality or ‚purity‘ of cultures are untenable, even before we resort to empirical historical instances to demonstrate their hybridity.“ Anders interpretiert dies Huddart 2006, 4. 76 Siehe: Halsall 2011, 25. Halsall stellt fest, dass keine spätantike Gruppierung an sich monolithisch war. Dieser Gedanke bezüglich der Beschaffenheit kollektiver Identitäten wurde von Todorov 2008, 86 folgendermaßen formuliert: „Il n’existe pas des cultures pures et des cultures mélangées; toutes les cultures sont mixtes (ou „hybrides“, ou „métissées“). Les contacts entre groupes humains remontent aux origines de l’espèce, et ils laissent toujours des traces sur la manière dont les membres de chaque groupe communiquent entre eux.“

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Alteritäten und Identitäten

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und Sitten, einer gemeinsamen Rechtsprechung und einer gemeinsamen Politik beruht und die wir als ‚das Römische Reich‘ bezeichnen. An dieser Stelle soll der Blick auf die Untersuchung von Alterität in den Altertumswissenschaften gelenkt werden. Tatsächlich hat sich die Gegenüberstellung von Alteritäten und Identitäten in der althistorischen Forschung etabliert, um die nicht einfachen Beziehungen zwischen Römern und Barbaren besser zu verstehen. Im Bereich der klas­ sischen Altertumswissenschaften entstanden in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die ersten Arbeiten, welche im postmodernen Sinn die Barbaren als Konstruktion betrachten. Die erste Arbeit, welche diese Kategorisierung anwandte, war die Monographie von François Hartog Le Miroir d’Hérodote. Essai sur la répresentation de l’autre, der die Historien von Herodot, insbesondere seine logoi, als Spiegel dessen eigener Gesellschaft interpretiert, was die ,Anderen‘ als Konstruktion des Autors entlarve, die Hartog als „rhetorique d’alterité“ bezeichnet. 77 Edith Hall untersucht in ihrer 1989 erschienen Monographie, wie Barbaren erfunden wurden, um ein griechisches Selbstverständnis zu stärken. 78 In ähnlicher Weise argumentierte 1993 Paul Cartledge in seinem Werk The Greeks. A Portrait of Self and Others, das von Hans-Joachim Gehrke sogar als „eines der geistreichsten Bücher zur Thematik von Eigenem und Fremden“ bezeichnet worden ist. 79 Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein Aufschwung von Alteritätsstudien im weitesten Sinne innerhalb der Altertumswissenschaften zu verzeichnen, der sich in drei größere Bereiche einteilen lässt: 1. das allgemeine Feld von Römern/Griechen und Barbaren, 80 2. die Darstellung und Präsentation des Orients 81 sowie 3. die Beschäftigung mit dem Judentum und seinen Alteritäten. 82 In all diesen Werken ist der Einfluss von Edward Said unbestreitbar. Ein diskursanalytisches Verfahren scheint sich durchgesetzt zu haben, um die römische/griechische Sicht zu begreifen. Während Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha den ,realen Anderen‘, den Kolonisierten, eine Stimme geben wollen, sind wir in der Antike damit konfrontiert, dass sich kaum Schriftzeugnisse der ,Anderen‘ erhalten haben. Dabei sind mit ,Anderen‘ in diesem Fall sowohl Nicht-Römer als auch gesellschaftliche ,Andere‘ wie Frauen oder Sklaven gemeint. Speziell in den Barbarenstudien liegt das Forschungsinteresse darin, zu verstehen, warum Barbaren so beschrieben und dargestellt wurden, wie es griechische und römische Autoren getan haben, und zu mutmaßen, warum sich dies so ereignet hat. Für die Antike muss daher die Frage gestellt werden, wie mit diesem Dualismus Römer/ 77 78 79 80

Hartog 1991, insb. 225. Gehrke 2010, 362; Hall 1989. Gehrke 2010, 362; Cartledge 22002. Mit einbezogen sind spezielle Studien zu den,Germanen‘. Stellvertretend sei auf Ferris 2000; Geary 1999; Schmidt 1999; Chauvot 1998; Braund 1997; Hall 1997; Dench 1995; Lissarrague 1995 und Lund 1990 verwiesen. 81 Mit einbezogen sind spezielle Studien zu ,den‘ Persern, siehe bspw.: Gehrke 2000; Hutzfeldt 1999; Miller 1997. 82 Gemeint ist einerseits das Judentum als Alteritätserfahrung, andererseits die Konstruktion von ,Anderen‘ durch das Judentum, siehe stellvertretend: Schäfer 1997; Stanley 1997; Silberstein/Cohn 1994, passim; Feldman 1993.

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Einleitung

Griechen und Barbaren umzugehen ist, insbesondere wenn römisch-barbarische Beziehungen untersucht werden. Denn sowohl in den bildlichen Darstellungen von ,Anderen‘ als auch in den schriftlichen Zeugnissen haben wir meist nur eine Stimme, um die Terminolgie Gayatri Spivaks aufzugreifen: die römische. 83 Die römischen Zeugnisse können als Diskurse einer sich als dominierend begreifenden Zivilisation verstanden werden, die den unterlegenen Nicht-Römern ihre Werte, Vorstellungen und Kultur aufdrängt. Das Römische Reich wird in diesen Diskursen als roma aeterna und als imperium sine fine präsentiert, das die Aufgabe hat, über andere Menschen zu herrschen. 84 Ian Ferris erkannte daher richtig, dass die Konstruktion einer künstlichen Identität für verschiedene Barbaren zu unterschiedlichen Zeiten in Wahrheit einen Akt römischer Selbstidentifikation darstellt. 85 Die Gefahr bei der Untersuchung römisch-barbarischer Beziehungen liegt darin, diesen Diskursen zu folgen und die Barbaren als die unterlegenen ,Anderen‘ außerhalb des Römischen Reiches hinzunehmen. Dies bedeutet nicht, dass deren diskursive Darstellung in den Quellen negiert werden würde, sondern betont vielmehr die Relevanz eingehender Diskursanalysen, die zum Hintergrund und Verständnis dieser Darstellung beitragen können. Maijastina Kahlos hielt treffenderweise fest: „[…] otherness is a concept anchored in time and in place, depending on the position of the perceiver.“ 86 Bei aller Kritik darf nicht verschwiegen werden, dass es sehr wohl Ansätze gibt, die ,Anderen‘ und ihre ,Kulturen‘ neu zu verorten. Aus archäologischer Sicht wurde in Freiburg i. Br. im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 541 Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität (1997–2003) hinterfragt, ob die Nachweisbarkeit von ethnischen Gruppierungen im archäologischen Befund möglich ist. 87 Tonio Hölscher verortet die ,Anderen‘ in der Antike in ,Gegenwelten‘ und plädiert dafür, Identitäten und Alteritäten als multiple Konzepte zu sehen und daher ausschließlich im Plural zu verwenden. 88 Doch insbesondere der Begriff ‚Gegenwelt‘ lädt dazu ein, eine Dichotomie zu konstruieren, die es so nicht gab. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn der Begriff der ‚Gegenwelt‘ auf die vermeintliche ,Welt der Barbaren‘ angewandt wird, die meines Erachtens als Konstruktion und Diskurs begriffen werden muss. Daher wird der Ansatz der ‚Gegenwelten‘ in dieser Arbeit nicht aufgegriffen. 83 Kulikowski 2006, 347: „The ‚barbarians’ are accessible to us only through the prism of an interpretatio romana […].“ 84 Verg. Aen. 1,279; 6,853; vgl. Dauge 1981, 35. 85 Ferris 2000, 178. 86 Kahlos 2011a, 2. Vgl. Humphries 2017, 9–10, der in seinem Artikel Late Antiquity and World History sehr deutlich herausarbeitet, dass die westliche Geschichtsforschung stark vom antiken tradierten Bild mit Rom als Zentrum der Welt beeinflusst ist, obgleich der bewusste Abgrenzungsprozess und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl auch mit den Bewohnern des Römischen Reiches als ,Andere‘ stattfand. 87 Zum Freiburger Sonderforschungsbereich: Das von Heiko Steuer geleitete Teilprojekt trug den Titel Ethnische Einheiten im frühgeschichtlichen Europa. Archäologische Forschung und ihre politische Instrumentalisierung. In dessen Rahmen legte auch Sebastian Brather seine Habilitationsschrift zur ethnischen Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologie vor (Brather 2004). 88 Hölscher 2000a, 12.

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Alteritäten und Identitäten

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Seit der Wende zum Millennium ist die Anzahl der Werke, die sich kritisch mit Fragen bezüglich Identitäten und Alteritäten beschäftigen und durchaus dem Feld der Alteritätsstudien zugehörig sind, vehement angestiegen. Neben den bereits genannten Kategorien, Barbaren, Orient und Judentum, sind nun vermehrt Studien zu Frauen, Sklaven und anderen Minderheiten entstanden. 89 Spätestens mit dem Werk von Erich S. Gruen scheint die Altertumswissenschaft gänzlich in der Postmoderne angekommen zu sein. In Rethinking the Other in Antiquity baut Gruen die Grenze, die zwischen dem ,Selbst‘ und dem ,Anderen‘ liegt, ab, um das ,Selbst‘ nicht mehr als überlegene und ausgrenzende Seite wahrzunehmen. 90 Der Diskurs, wie er seit Edward Said in der Forschung etabliert war, ist demnach überkommen. Gruen möchte aufzeigen, dass wir den Diskurs über ,Andere‘ weitaus nuancierter betrachten müssen, als es in der Vergangenheit geschehen ist. 91 Auch in rezent erschienener Literatur ist die Aktualität des weiten Themenfeldes von Alteritäten sichtbar. So hat beispielsweise Richard Broom in seiner Dissertation zu Approaches to Community and Otherness in the Late Merovingian and Early Carolingian Periods 92 Benedict Andersons Konzept von imaginierten Gemeinschaften 93 mit ‚Otherness‘-Konzepten verbunden, um die Gemeinschaftsbildung am Übergang vom 7. zum 8. Jahrhundert zu erklären. Weitere Beispiele wären die diskursanalytische Untersuchung zum antiken Perserbild der Römer von Fuad Alidoust Natio molestissima 94, die kleinere Untersuchung zu Venantius Fortunatus von Erica Buchberger 95 oder der Sammelband Persianism von Rolf Strootman und Miguel J. Versluys, dessen Titel, wenn auch nicht von den Herausgebern so propagiert, doch stark in der Tradition von Edward Said zu sehen ist. 96 Allerdings wird der Einfluss postkolonialer Denker in der Hinsicht bedeutend, dass mehr und mehr versucht wird, die westlich-imperialistische Sicht auf die Antike abzulegen und durch neue Perspektiven einen frischen Blick auf diese und ihre ,Anderen‘ zu erhalten. 97 Ferner scheint die altertumswissenschaftliche Forschung dahin89 90 91 92 93 94 95 96

Beispielsweise Lenski 2019; Andrade 2013; Cooper 2013; Bradley 2009; Isaac 2004. Gruen 2011a, passim, insb. 1f. Gruen 2011a, 3, 156. Broom 2014. Vgl. Anderson 22016. Alidoust 2020. Buchberger 2016. Strootman/Versluys 2017, insb. 9, 18. Die beiden Herausgeber beziehen sich vielmehr auf den Rahmen der Imagologie. Ein aus der Komparatistik stammendes Konzept, dass aus Alteritätstheorien und ‚Otherness‘-Studien hervorging. Methodisch wird ein diskursanalytisches Verfahren angewandt, um die literarischen Beschreibungen von ,Anderen‘, die auf existierenden Stereotypen und Vorurteilen beruhen, zu analysieren und so deren Entstehung nachzuvollziehen. Eine Übersicht zur Geschichte und Methode der Imagologie ist bei Leersen 2016; 2007, passim; Mikkonen 2008 sowie bei Beller 2007, passim, insb. 7–8 zu finden. Meines Erachtens ist Imagologie eine spezifischere Form der Diskursanalyse und daher nicht als neue Methode zu bewerten. Jedoch rückt sie den Fokus literarischer Analysen nicht nur auf die Decodierung von nationalen Stereotypen und Vorurteilen, sondern auch auf die Frage nach deren Hintergründen. 97 Beispielsweise Strootman/Versluys 2017; Gruen 2011a. Ferner sei Monographie von H. Sonnabend Fremde und Fremdsein in der Antike zu verweisen (Sonnabend 2021).

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Einleitung

gehend einen Konsens gefunden zu haben, dass Kulturen nicht als rein und statisch zu erachten sind sowie Identitäten und Alteritäten sich stetig wandeln. Was lässt sich nun an dieser Stelle zusammenfassen? Die Auseinandersetzung zwischen dem ,Selbst‘ und dem ,Anderen‘ hat ihren Ursprung in der Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und hat sich von dort auf andere Fachbereiche übertragen. Für die Geschichtswissenschaft sind die Cultural Studies als Wendepunkt in der Alteritätsforschung zu begreifen, der mit den Postcolonial Studies unter Edward Said, Gayatri C.  Spivak und Homi K.  Bhabha noch verstärkt wurde. In den deutschen Altertumswissenschaften lässt sich dieser Wandel seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nachvollziehen und rezente Publikationen wie Mischa Meiers Werk zur ‚Völkerwanderung‘ verdeutlichen, dass die großen Meistererzählungen der Vergangenheit angehören. 98 Genau an diesem Punkt wird sich vorliegende Arbeit verorten. Aus phänomenologischer Sicht annehmend, dass jedes ‚Ich‘ sich mit Hilfe des ,Anderen‘ seines ,Selbst‘ bewusst wird und der ,Andere‘ anders als das eigene ,Selbst‘ ist, wird angenommen, dass Identitäten und Selbstbilder durch den Umgang mit ,Anderen‘ verhandelt werden. Dabei werden beide Konzepte als fließend und sich verändernd aufgefasst und damit ihre Singularität und Statik negiert. Werden die Gedanken zur Ethik Emmanuel Levinas’ mit postkolonialen Theorien zur Konstruktion von Identitäten verbunden, hat das ,Selbst‘ mehrere Möglichkeiten, dem ,Anderen‘ zu begegnen. Von Ablehnung über Respekt bis hin zur Aneignung bestimmter Elemente des ‚Anderen‘ verortet das ,Selbst‘ nicht nur den ,Anderen‘, sondern auch sich selbst. Mit Hilfe eines diskursanalytischen Verfahrens können, der Idee von Erich Gruen folgend, divergierende und nuancierte Wahrnehmungen des ,Anderen‘, die sowohl zu Ablehnung als auch Annahme des ,Anderen‘ führen, herausgearbeitet werden. Alteritäten sind somit das Ergebnis mehrerer unterschiedlicher Prozesse, die mit dem englischen Begriff ‚othering‘ beschrieben werden, durch die sich das ,Selbst‘ bewusst von ,Anderen‘ abgrenzt. Dazu trägt sowohl die eigene Erfahrung als auch das Wissen der Gemeinschaften bei, denen das ,Selbst‘ angehört und die hier als ‚Lebenswelten‘ verstanden werden. Der auf Edmund Husserl zurückgehende Begriff der ,Lebenswelt‘ definiert sich nach Niklas Luhmann für den Beobachter als polykontextuale Lebenswelt, deren Grenzen das Unbekannte und Unvertraute darstellen. Dabei ist zu betonen, dass es sich um eine Grenze zwischen vertraut und unvertraut handelt und nicht um eine Grenze bis zum Unvertrauten. 99 Eine Grenze zwischen zwei Parteien lässt Kontakt und Beeinflussung im ,Dazwischen‘ zu, obwohl sich beide Parteien der Differenz bewusst sind. Eine Grenze hin zu etwas oder zu jemandem ist jedoch als absolute Abgrenzung zu verstehen, bei der kein Kontakt erwünscht wird. Auf das Luhmann’sche Konzept der ‚Lebenswelt‘ übertragen bedeutet dies, dass es „in dieser Welt immer auch möglich [ist,] ins Unvertraute überzuwechseln“. Einen Teil des Vertrauten bilden Rituale und Verbote. In diesem Kontext sind ferner Traditionen einzuordnen, die in ,vertrauter‘ Art und Weise vollzogen und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Das Individuum ist als Subjekt innerhalb seiner ‚Lebenswelten‘ zu sehen. Es handelt 98 Meier 32020. 99 Luhmann 1986, 182–184.

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Alteritäten und Identitäten

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aktiv und kommuniziert mit anderen Individuen innerhalb desselben Raumes. Es existiert nicht die eine ‚Lebenswelt‘, sondern vom Standpunkt des Betrachters gesehen, dem ,Subjekt‘ (= dem ,Selbst‘), mehrere ‚Lebenswelten‘, die als Teil des Ganzen, der Welt, anzusehen sind. Diese Abgrenzungsprozesse führen gleichzeitig zu einer Reflexion der eigenen Person sowie der eigenen Lebenswelten, die durch diese Reflexion konstruiert werden. Die ‚Lebenswelten‘ der ,Anderen‘ werden zur Verdeutlichung als ,Anderswelten‘ bezeichnet. Folglich schlage ich vor, Identitäten durch die Untersuchung von Alteritäten und somit durch die Untersuchung von Selbstwahrnehmung zu erforschen. Identitäten werden in dieser Arbeit als Konstruktionen des ,Selbst‘ erachtet, auf individueller sowie auf kollektiver Ebene, um sich selbst in der Welt zu verorten und seinem Dasein Sinn zuzuschreiben. Es wird davon ausgegangen, dass sich jedes ,Selbst‘ mehrere Identitäten zuschreiben kann und es diese stets neu verhandelt. Dabei kann die Erfahrung mit dem ,Anderen‘ ebenso wie Erfahrungen mit sich ,selbst‘ zu Neuverhandlungen führen. Identitäten werden in den ‚Lebenswelten‘ des ,Selbst‘ verortet. Dabei werden Traditionen eine bedeutende Rolle – sowohl bei der Perzeption von ,Anderen‘, als auch bei der Eigenwahrnehmung – zugesprochen und aus diesem Grund die hier vorgestellten Theorien von Alterität, Identität und Tradition als Verflechtung interpretiert. Besonders in der Literatur können traditionelle Stereotype und traditionelles Verhalten bewusst instrumentalisiert werden, um eine gemeinsame ,Identität‘ in Abgrenzung zu den Charakteristika der ,Anderen‘ zu erzeugen, und dadurch Alterität konstruieren. 100 1.3.2 Tradition Der Begriff ,Tradition‘ gehört zu unserem täglichen Sprachgebrauch. Bei näherer Betrachtung ist er jedoch kompliziert zu definieren. 101 Max Weber betrachtete Tradition als ungeschriebenes Gesetz, dem Menschen gehorchen und das dadurch zu einer sozialen Handlung wird. Wenn sie von einer ganzen Gruppe durchgeführt wird, erhalten traditionelle Handlungen Bedeutung und führen zur Bildung einer Gemeinschaft. Max Weber war der Meinung, dass sich eine Gruppe durch diese „Vergemeinschaftung“ bewusst

100 Pandey 2004, 158; Crang 1998, 59. 101 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert spielte Tradition in den Gedanken von Philosophen und Geisteswissenschaftlern eine bedeutende Rolle. Jedoch können nicht alle Ideen und Konzepte an dieser Stelle genannt werden. Einen sehr guten Forschungsüberblick mit philosophischer Perspektive bietet Karsten Dittmann Tradition und Verfahren (Dittmann 2004). Ebenfalls grundlegend ist der kurze Überblick in Aleida Assmanns Werk Zeit und Tradition (Assmann 1999, 67–156). Als englischsprachige Monographie ist das Werk von Sanford Budick The Western Theory of Tradition (Budick 2000) sowie Stephen Pricketts Modernity and the Reinvention of Tradition (Prickett 2012), das einen historischen Überblick über die Verwendung des Begriffes von der Antike bis ins 20. Jahrhundert bietet, zu empfehlen. Als Überblick zu verschiedenen Traditionsforschungen müssen zudem die Aufsätze von James Alexander A Systematic Theory of Tradition (Alexander 2016), Yaacov Yadgar Tradition (Yadgar 2013) und Mark Bevir On Tradition (Bevir 2000) erwähnt werden.

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Einleitung

von anderen Gruppen abgrenzt und Unterscheidungsgrenzen erzeugt werden. 102 Edward Shils entwickelte Max Webers Gedanken weiter und definierte Tradition als „anything which is transmitted or handed down from the past to the present. It makes no statement about what is handed down or in what particular combination or whether it is a physical object or a cultural construction; it says nothing about how long it has been handed down or in what manner, whether orally or in written form.“ 103 Er erkannte, dass solche Übertragungen, die das traditum ständig verändern, zentral für den Begriff sind. Dennoch war für Edward Shils die Identität einer Gruppe durch das Festhalten an bestimmten Traditionen geprägt. 104 Die Verbindung von Identitäten und Traditionen erarbeiteten auch Eric Hobsbawm und Terence Ranger in ihrem nur zwei Jahre nach Edward Shils veröffentlichten Sammelband The Invention of Tradition heraus. In diesem widmeten sie sich ganz dem Entstehungsprozess von Traditionen, mit dem sie die Lücke bei Edward Shils, für dessen Forschung dieser Aspekt keine Rolle spielte, schließen konnten. 105 In der Einleitung des Bandes verfolgt Eric Hobsbawm die Hypothese, dass Traditionen, die als alt erscheinen, tatsächlich oftmals erfunden und recht jung sind. 106 Obwohl er drei Arten von erfundenen Traditionen unterschied, erkannte er einen gemeinsamen Zweck hinter ihnen: Stabilität sowie Struktur in Zeiten des Wandels zu schaffen und die Identität einer Gemeinschaft zu formen. 107 Tradition steht also in engem Zusammenhang mit Identität. Dieser Gedanke lässt sich ebenfalls anhand der Arbeit von Aleida Assmann aufgreifen. Sie interpretiert Tradition als Paradigma des kulturellen Gedächtnisses, das identitätsstiftend wirkt. 108 Indem sie zwischen „retrospektiven“ 109 und „emphatischen“ 110 Formen unterscheidet, ist Tradition für Assmann ein aktiv initiierter Akt der trans-zeitlichen Kommunikation (Abb. 1). Demzufolge ist für Aleida Assmann Tradition v. a. eines: eine Kommunikation durch Raum und Zeit, die aktiv initiiert und intendiert ist. Ebenso wie Edward Shils betont sie besonders die Rolle des Gedächtnisses für den Tradierungsprozess, spricht aber zusätzlich Autorität in diesem Prozess eine wichtige Bedeutung zu, besonders dann, wenn es

102 Weber 1922, 12, 19, 22, 117, 124, 130. 103 Shils 1981, 12; vgl. 16: „Tradition is whatever is persistent or recurrent through transmission, regardless of the substance and institutional setting.“ 104 Shils 1981, 12 f., 163–167. 105 Hobsbawm/Ranger 2012. 106 Hobsbawm 2012, 1: „‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past.“ Vgl. Prickett 2012, 19: „An ‚invented tradition‘ is like Frankenstein’s monster – an imitation of true organic life composed of stolen dead parts.“ 107 Hobsbawm 2012, 1–3, 7–9. 108 Assmann 1999, 88–90. 109 Assmann 1999, 63. 110 Assmann 1999, 63 f.

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Alteritäten und Identitäten

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Vertikale Kommunikation

moderne Beobachter: erkennen Parallelen und intertextuelle Bezüge (z.B. zu Plinius d. Jüngeren oder Symmachus)

historische Handlungssperson wie Sidonius Apollinaris übermittelt aktiv Traditionen an nachfolgende Generationen

erschafft eine gemeinsame Identität

Abb. 1: Traditionskonzept von Aleida Assmann auf Sidonius Apollinaris übertragen (© Autorin)

zu einer „Kanonbildung“ während der Überlieferung kommt. 111 Dennoch steht Erinnerung, insbesondere kulturelle Erinnerung, über der Autorität, da Traditionen ebenso wie Erinnerungen einen Bezug zur Vergangenheit herstellen, „indem sie etwas Vergangenem eine Präsenz in der Gegenwart schaffen.“ 112 Dadurch haben Traditionen Anteil an Identiätssicherung und Kultur, da Identität von Aleida Assman als Gedächtnisfunktion aufgefasst wird und Kultur „an die Konstruktion von Erinnerungsräumen gebunden“ ist. 113 Somit knüpft sie ihre Theorie an die Gedanken von Max Weber, Edward Shils und Eric Hobsbawm an, die Tradition ebenfalls als Teil von Identitätsbildung verstanden. Weiterhin stimmt sie Hobsbawms und Rangers These bezüglich erfundener Traditionen zu. Traditionen können konstruiert werden, sie können aus Gewohnheiten entstehen und von einem historischen Kontext in einen anderen übertragen werden. 114 Nach Aleida Assmann sind jedoch Veränderungen erforderlich, um ein Bewusstsein für Traditionen zu schaffen und sie zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit zu machen. 115 Es bleibt festzuhalten, dass sich hinter dem Begriff ,Tradition‘ ein komplexes Konzept verbirgt, das keineswegs einheitlich in der Forschung aufgefasst und verstanden wird. 111 Assmann 1999, 65, 131–136; Alexander 2016, 10, 14–17 beschreibt den „Kanon“ als eines von drei Distinktionsmerkmalen (neben Kontinuität und Kern) von Tradition. 112 Assmann 1999, 88. 113 Vgl. Assmann 2010, 122: „In all its aspects, human memory is related to time and identity.“ 114 Assmann 2010, 72, 89, 158; vgl. Murray 1927, 3. 115 Assmann 1999, 158.

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Einleitung

Es können jedoch gemeinsame Nenner ausgemacht werden, die helfen, Tradition als Konzept zu veranschaulichen. Aufgrund der hier vorgestellten Modelle wird Tradition in dieser Arbeit wie folgt aufgefasst: A: Tradition ist als dynamisches Konzept zu verstehen, dem ein aktiver und intendierter Kommunikationsprozess zugrunde liegt. 116 Damit folge ich Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen retrospektiven und emphatischen Traditionen. B: Traditionen können als tacit knowledge innerhalb einer Gemeinschaft 117 existent sein und somit als Richtlinie für Handlungen moralischer, sozialer sowie politischer Natur fungieren, wie es von Max Weber, Edward Shils und Eric Hobsbawm erkannt wurde. Dennoch brauchen sie neben einem Vermittler einen aktiven Empfänger, der durch kontinuierliche Handlungen und Taten wiederum selbst zu einer Mittelsperson werden kann. C: Das Überleben von Traditionen ist ein selektiver Prozess, worauf Edward Shils mehrfach in seinem Werk hingewiesen hat. Dabei ist es nicht von Relevanz, ob Traditionen historisch korrekt sind, da sie durch aktive und bewusste Wiederholung für ihre Anhänger an Bedeutung und somit an Wahrheit gewinnen. 118 D: Dies bedeutet, dass sich Traditionen im Laufe der Zeit nicht nur verändern, sondern sogar erfunden werden können, wie der Sammelband von Eric Hobsbawm und Terence Ranger deutlich vor Augen führt. Vor allem in Zeiten des Wandels oder der Bedrohung werden Traditionen zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit, durch die die eigene Identität – sei es das ,Wir‘ oder das ,Ich‘– bewusst wird. E: Traditionen stärken nicht nur den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, sondern dienen zugleich als Identifikationsmerkmal für das Individuum. Traditionen helfen, das ,Selbst‘ zu identifizieren und zu konstruieren, und tragen zur Abgrenzung von ,Anderen‘ bei. Insgesamt gesehen haben Traditionen aus zweierlei Perspektive Anteil am Wahrnehmungs- und Darstellungsprozess von ,Anderen‘. Zum einen, indem bereits existierende Wahrnehmungen und Verhaltensweisen gegenüber ,Anderen‘ überliefert werden, und zum anderen, indem sie zum Gemeinschaftsgefühl beitragen und so zu einer aktiven Differenzierung gegenüber ,Anderen‘ führen. 119 Ein solches Verständnis von Tradition lässt sich in den Briefen von Sidonius Apollinaris erkennen. Bei ihm fungiert Tradition 116 Diese Annahme basiert v. a. auf der Forschung von Aleida Assmann und Pascal Boyer. 117 Die Größenordnung der Gemeinschaft, also Familie, religiöse Gemeinde, ethnische Gruppierung, ist meines Erachtens dabei irrelevant, vgl. Heitzenrater 2002, 622; Lindstrom/White 1994, 5. 118 Zur Wahrheit von Traditionen siehe: Heitzenrater 2002, 633–637; Lightfoot 2001, 239; Boyer 1990, 79, 109. 119 Dabei widerspreche ich eindeutig Edward Shils, der die Ansicht vertritt, dass Ideen nicht als Tradition bezeichnet werden können. Besonders durch literarische Diskurse, die retrospektiv als traditionell erkannt werden können, eröffnet sich die Möglichkeit, traditionelle Ideen, Gedanken oder Auffassungen zu erkennen.

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Alteritäten und Identitäten

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als Werkzeug, um ,Andere‘ aus seinen ‚Lebenswelten‘ auszuschließen, wie noch zu zeigen sein wird. Dies äußert sich einerseits über das in den Briefen beschriebenen Verhalten, andererseits durch Topoi und Stereotype, die Sidonius in seiner Beschreibung der ,Anderen‘ verwendet. 1.3.3 Alteritäten, Identitäten und Traditionen als Verflechtung In diesem Punkt unterscheidet sich der Ansatz dieser Arbeit von bereits existierenden: die Verbindung von Identitäten und Alteritäten mit Traditionen. Die Stereotypisierung von ,Anderen‘ ist als ein Prozess zu sehen, der Fakten kaum Beachtung schenkt. 120 Dabei ist Bernd Schäfer und Bernd Schlöder zuzustimmen, dass Vorurteile und Stereotype der Verhaltensorientierung dienen. Dadurch bestimmen sie, wie ,Andere‘ wahrgenommen werden, und sie können somit das Verhalten ihnen gegenüber beeinflussen. 121 Ein Blick in die antike Literatur verrät, dass der Begriff des Barbaren durch die gesamte Antike weitertradiert wurde. Neue Darstellungen demonstrieren, dass sich viele mit Barbaren verbundene Stereotype bis in die heutige Zeit gehalten haben. 122 Neben dem Begriff haben sich bestimmte Bilder konstruiert, die ebenfalls weitertradiert wurden und sich langsam im kulturellen Gedächtnis der Menschen verankert haben, die Anteil an den römischen Lebenswelten hatten. 123 Folglich können die Barbarendiskurse als Tradition verstanden werden, die sowohl Einfluss auf die Darstellung von ,Anderen‘ als auch auf die Darstellung des ,Selbst‘ hat. Denn nicht nur Verhaltensmuster von Barbaren wurden über die Jahrhunderte hinweg überliefert, sondern auch Verhaltensmuster für Menschen, die Anteil an den römischen Gesellschaften haben wollten, die ein Teil der ‚In-Group‘ sein wollten. Diese Verhaltensmuster können im Sinne Pierre Bourdieus als habitus begriffen werden. In Anlehnung an Marcel Mauss verwendet Pierre Bourdieu den Begriff habitus, um verschiedene Körperhaltungen, je nach sozialem Milieu, zu analysieren. 124 Im Folgenden hat Bourdieu sich intensiv mit Erwin Panofskys mental habits, wodurch dieser architektonische Stilelemente erklärt, auseinandergesetzt und mit seinen Studien zur Körpertechnik verbunden. 125 Bourdieu möchte den strukturalistischen Determinismus vermeiden, ohne 120 Isaac 2004, 25: „But stereotypy is a process, which shows little concern for facts even when they are available.“ 121 Schäfer/Schlöder 1994, 81. 122 Zum antiken Barbarenbild siehe einführend: Losemann 2006; zum modernen stereotypisierten Barbarenbild sei auf mediale Konstruktionen wie Clash of Clans oder gar Game of Thrones verwiesen. 123 Zum Kulturellen Gedächtnis siehe: Assmann 2013. Als kollektives Gedächtnis werden die Gemeinsamkeiten von Gemeinschaften erachtet, deren sich die Mitglieder bewusst werden müssen, bevor es zur Bildung von kollektiven Identitäten kommen kann. Solche Gemeinsamkeiten können ein gemeinsamer Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum sein (siehe bes. ebd. 134–139). 124 Bourdieu 1972, insb. 180–182; Mauss 1934. 125 Panofsky 1957, insb. 21–27, 68. Eine Auseinandersetzung mit der Nutzung und Reinterpretation von Erwin Panofskys These durch Pierre Bourdieu findet sich bei Jurt 2010, 6–9.

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Einleitung

dem Individuum gänzliche Handlungsfreiheit einzugestehen. 126 Er ist folglich daran interessiert, wie Menschen gleichzeitig einen individuellen Handlungsspielraum haben und dabei doch gesellschaftlichen Normen und Regeln folgen. Diese Normen und Regeln halten eine Gesellschaft zusammen und tragen dazu bei, dass kollektive Identitäten konstruiert werden können. Sein habitus-Konzept sollte ein Ausweg aus diesem Dilemma von gesellschaftlichen Grenzen und individueller Freiheit bieten. Davon ausgehend hat er seine habitus-Theorie über die Jahre stetig erweitert, sodass seine Auffassung von sozialem Handeln (doxa), habitus und seine Feldtheorie als Einheit betrachtet werden müssen. 127 Der habitus bietet für Akteure Handlungs-, Wahrnehmungs- sowie Denkmuster innerhalb eines sozialen Raumes. 128 Der habitus ist für ihn ein System dauerhafter Dispositionen, die als „strukturierende Struktur“ fungieren, weil sie als strukturierte Strukturen vorgegeben sind. Sie sind ein gemeinschaftliches Produkt, das zweckmäßig angepasst werden kann. 129 Dadurch ist der habitus in der Vergangenheit verankert, bietet aber Verhaltensnormen für die Gegenwart, wodurch er als Regelhaftigkeit erscheint, ohne tatsächlich je normativen Ursprung zu haben und fixiert sein zu müssen. 130 Diese habituellen Strukturen und Normen sind jedoch nicht angeboren, sondern werden erworben und verinnerlicht, was Pierre Bourdieu Sozialisation nennt. 131 In anderen Worten: Die Art und Weise, wie wir sprechen, uns in alltäglichen Situationen verhalten, was wir als lustig oder abscheulich erachten, sind objektivierte gesellschaftliche Dispositionen, die wir entweder erfüllen oder von denen wir uns abwenden. Der habitus ist dafür verantwortlich, welche Neigungen und Handlungstendenzen wir aufgrund unserer Sozialisation haben. Obgleich Pierre Bourdieus Konzept des habitus und damit verbunden seine Feld- und Kapitaltheorie in spätantiken Studien fruchtbar angewendet wurden – zuletzt von Tabea Meurer und Hendrik Hess 132 – wird in dieser Arbeit einer Synthese von Alteritäten, Identitäten und Traditionen der Vorrang gegeben. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, den habitus 126 Bourdieu 1980, 70. 127 Vgl. Jenkins 2006, 40–64. Erste Ansätze bereits bei Bourdieu 1979, 112. 128 Zu Handlungsmustern bereits bei Bourdieu 1980, 87; 1979, 70. Eine erste Definition von habitus offenbart die Nähe zum Determinismus seines habitus-Konzeptes, obgleich er diesen überkommen wollte (Bourdieu 1979, 191): „Structure structurante, qui organise les pratiques et la perception des pratiques, l’habitus est aussi structure structurée: le principe de division en classes logiques qui organise la perception du monde social est lui-même le produit de l’incorporation de la division en classes sociales.“ 129 Bourdieu 1980, 88  f.: „Les conditionnements associés à une classe particulière de conditions d’existence produisent des habitus, systèmes de dispositions durable et transposables, structures structurées prédisposées à fonctionner comme structures structurantes, c’est-à-dire en tant que principes générateurs et organisateurs des pratiques et de représentations qui peuvent être objectivement adaptées à leur but sans supposer la visée consciente de fins et la maîtrise expresse des opérations nécessaires pour les atteindre, objectivement „réglées“ et „régulières“ sans être en rien le produit l’obéissance à des règles, et, étant tout cela, collectivement orchestrées sans être le produit de l’action organisatrice d’un chef d’orchestre.“ 130 Bourdieu 1980, 91; vgl. Jurt 2010, 10. 131 Zur Sozialisation siehe: Bourdieu 1980, 96. 132 Hess 2019; Meurer 2019.

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Diskursanalyse als Methodik

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von Sidonius zu rekonstruieren oder seine Verortung im sozialen Raum zu hinterfragen, sondern seiner Darstellung von Barbaren auf den Grund zu gehen, die als konstruierte Diskurse mit narratologischen Funktionen in seinem Werk verstanden werden. Sidonius präsentiert in seinen Briefen Ausschnitte aus seinem Leben, Verhaltensweisen und Normen seiner ‚In-Group‘ sowie Exempla für zukünftige Generationen, um so die eingangs erwähnten mali von den boni, das ,Selbst‘ von dem ,Anderen‘ zu unterscheiden. Seine Briefe sind sein persönliches Vermächtnis an die Nachwelt und geben Einblick in seine Wahrnehmung der Welt – dementsprechend auch Einblicke in seine persönlichen ‚Lebenswelten‘. Diese Arbeit geht den Ansätzen von Erich Gruen folgend davon aus, dass ein Dualismus von Römern/Griechen und Barbaren faktisch nicht vorhanden war und weder ,die eine römische‘ noch die ,andere barbarische‘ ‚Lebenswelt‘ existierte. Sowohl das Römische als auch das Barbarische beinhaltet mehrere ‚Lebenswelten‘, die, auf Traditionen beruhend und Traditionen erfindend, sich stetig weiterentwickeln und verändern. In gleicher Weise, wie es verschiedene Arten des Römerseins gibt, gibt es verschiedene Arten des ,Barbarischen‘. Dabei ist es ein Anliegen zu demonstrieren, dass Barbaren nicht immer nicht-römisch sein mussten. Der ,Andere‘ von heute kann Teil der Gemeinschaft von morgen sein; mit den Worten Roland Steinachers: „Barbaren [konnten] sehr schnell römisch werden.“ 133 Es bleibt anzumerken, dass diese Arbeit lediglich eine von vielen theoretischen Möglichkeiten darstellt, um Sidonius zu lesen. Dabei erschienen mir die hier vorgestellten Konzepte am meisten gewinnbringend, um das Bild der ,Anderen‘ in seinen Briefen zu verstehen und zu analysieren.

1.4 Diskursanalyse als Methodik Die oben eröffnete theoretische Perspektive erlaubt einen analytischen Blick auf die Darstellungen von ,Anderen‘ und ermöglicht es, im Sinne von Hayden Whites Metahistory zwischen den Zeilen zu lesen. Es folgt die Erkenntnis, dass historische Darstellungen stets als literarische Werke begriffen werden müssen, deren sprachliche Gestaltung literarischen Regeln folgt. 134 Für die vorliegende Analyse bedeutet dies konkret, dass einerseits eine Auseinandersetzung mit den gattungsspezifischen Merkmalen der Briefliteratur, andererseits mit der topischen Darstellung von Barbaren, auf die Sidonius zurückgegriffen haben könnte, erfolgen muss. Letzteres beruht auf der Erkenntnis von Hayden 133 Steinacher 2009, 267. Für spätantike Identitäten siehe: Esmonde Cleary 2013, 394: „… such identities were not fixed and immutable; they were changeable according to situation and utility.“ 134 White 1973, passim, insb. 1–43. Hayden White hat dies insbesondere für die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts analysiert und aufgrund seiner Erkenntnisse verschiedene literarische Kategorien (Romanze, Tragödie, Komödie und Satire) gebildet, denen er literarische Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie) zugeordnet hat. Zusammenfassend sei ferner verwiesen auf: White 1978, 51–80. Zum Einzug des „linguistic turn“ in die Geschichtswissenschaft siehe stellvertretend: Eley 2005; zur Bedeutung Whites für den „linguistic turn“ siehe 42.

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Einleitung

White, der an den Tiefenstrukturen von geschichtswissenschaftlichen Texten interessiert ist, die durch eine Analyse von Rhetorik und Topoi offenbart werden können. 135 Wird die Sprache als Instrument betrachtet, das gattungsspezifischen Regeln folgt, muss der objektive Charakter jeglicher literarischen Aktivität – d.  h. auch der Geschichtsschreibung – in Frage gestellt werden. Durch die sprachliche Form bekommt eine Darstellung Bedeutung, die jedoch für Produzent und Rezipient, je nach ihrem sozialen Kontext, divergierend sein kann. Folglich ist die soziale Einbettung von Autor und Leser ein wichtiger Faktor für die Konstruktion von Wirklichkeiten und der Zuschreibung von Bedeutungen, die sich als Diskurse begreifen und analysieren lassen. 136 Mit Michel Foucaults Werk L’archéologie du savoir ist die Diskursanalyse ein favorisiertes Instrument der Literatur- und Geschichtswissenschaften geworden, um die Grenzen des „Sagbaren“ innerhalb bestimmter Gesellschaften zu untersuchen und einen kulturhistorischen Einblick zu erhalten. 137 Denn für Foucault sind Diskurse mehr als nur Zeichen und sprachliche Manifestationen, sie sind für ihn Praktiken, die Wirklichkeiten erzeugen können. 138 In Diskursen spiegelt sich eine Anordnung von Beziehungen, die von einem sprechenden Subjekt in Relationen gesetzt werden und auf ihre Regelhaftigkeit analysiert werden können. 139 In unserem Fall ist das sprechende Subjekt Sidonius, das Objekt die Barbaren und ihre Darstellung die diskursive Praktik, die für Sidonius zur Wirklichkeit wird. Dabei liefert Foucault selbst keine Definition oder Methodik einer Diskursanalyse. Aus seinen Werken lässt sich ableiten, dass eine kritische Untersuchung von Diskursen dazu dient, verborgenes Wissen zu enthüllen, indem die Regelhaftigkeit, die Hierarchien, aber auch die Transformationen von diskursiven Praktiken in ihren gesellschaftlichen Kontexten ans Licht gebracht werden. 140 Das beinhaltet auch Wissen, das tief im Autor selbst verankert ist, ohne ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Dies wird in Foucaults früheren Ausführungen in Les mots et les choses deutlich, indem er für verschiedene Jahrhunderte darlegt, dass Wissenschaft immer nur den Definitionen folgt, die sie kennt. 141 Übertragen wir dies auf die römische Antike und auf unser Untersuchungsobjekt Sidonius, ist zu folgern, dass dieser, ob nun bewusst oder unbewusst, den Definitionen folgt, die er selbst erlernt hat und die ihm durch sein eigenes Wissen vertraut sind. 135 White 1978, 4–5, 81–100, insb. 82, 88. 136 Besonders Peter Berger und Thomas Luckmann haben in ihrer Monographie den Zusammenhang von Kenntnissen und Wissen einer Person mit Wirklichkeit zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit herausgearbeitet (Berger/Luckmann 1986). Dieser Meinung schließt sich auch der Mediävist Hans-Werner Goetz an, der dieses Wissen (ein Kompendium aus Erfahrungen, Vorstellungen und Einstellungen) als „Vorstellungswelt“ bezeichnet (Goetz 2003, 30). 137 Vgl. Landwehr 2008, 20–22. 138 Foucault 2008 [1969], 70 f.: „Certes, les discours sont faits de signes; mais ce qu’ils font, c’est plus que d’utiliser ces signes pour designer des choses. C’est ce plus, qui les rend irréductibles à la langue et à la parole. C’est ce ‚plus‘ qu’il faut faire apparaître et qu’il faut décrire.“ 139 Foucault 2008 [1969], 38. 140 Foucault 2018 [1969], 196–202. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Foucault dies analytisch für Diskurse innerhalb der Wissenschaften (bspw. Medizin oder Biologie) vorgelegt hat. 141 Foucault 1990 [1966].

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Diskursanalyse als Methodik

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Dementsprechend ist sein Barbarenbild als diskursive Darstellung zu erachten, die auf der Tradition der überlieferten Barbarendiskurse aufbaut. Mit Hilfe der historischen Diskursanalyse kann dieses im Text verborgene Wissen ans Licht gebracht und ein besseres Verständnis für das Barbarenbild des Autors entwickelt werden. Dabei steht nicht die Suche nach der Wahrheit im Vordergrund diskursanalytischer Untersuchungen, sondern die Suche nach dem Hintergrund der Darstellung. Warum trifft Sidonius bestimmte Aussagen zu Barbaren an bestimmten Stellen in seinen Briefen? Welcher Sinn verbirgt sich hinter seiner Barbarenbeschreibung? Weicht Sidonius von den tradierten Codierungen, die Michel Foucault als unbewusstes Wissen bezeichnet, ab? Während Foucault davon ausgeht, dass Traditionen nur einen geringen Anteil an der Konstruktion von Diskursen haben, vertrete ich die Auffassung, dass insbesondere in Barbarendiskursen Traditionen, die in der Art und Weise begründet sind, wie in der Antike ,Andere‘ wahrgenommen und das ,Selbst‘ formiert wurde, eine nicht zu unterschätzende Rolle zukommt. Dabei spielen Traditionen auf zweierlei Ebenen eine Rolle: einerseits in Bezug auf das sozial erlernte Verhalten des ,Selbst‘, inklusive überlieferter Vorurteile und Abneigungen gegenüber ,Anderen‘, andererseits durch literarische Traditionen, die von Autor zu Autor überliefert und weitergegeben wurden. Dies lässt sich dadurch demonstrieren, dass Sidonius auf die verschiedensten literarischen Traditionen zurückgreifen konnte, um sein eigenes, ganz persönliches Barbarenbild zu kreieren. Ferner bestimmten Traditionen nicht nur das Leben und Wirken des Sidonius, sondern auch, wie Sidonius seine eigenen Identitäten beschreibt. 142 Diese Erkenntnis führt zu einem weiteren wichtigen Aspekt von Foucaults Theorie. Er geht davon aus, dass Diskurse und Macht untrennbar miteinander verbunden seien und das Wissen hinter den Diskursen auf dem Gegensatz von Herrschaft und Unterwerfung beruhe. 143 Wenn nun Sidonius über Barbaren schreibt und dabei auf die literarischen Traditionen der griechisch-römischen Antike, bewusst und unbewusst, zurückgreift, kann er durch sein Wissen Überlegenheit und dadurch Macht demonstrieren. Genau aus diesem Grund gehe ich, anders als Foucault, davon aus, dass es sich bei Diskursen durchaus um bewusste Demonstrationen von Wissen handelt, die gezielt dafür eingesetzt werden können, um die Adressaten (seien es Lesende, Betrachtende oder Hörende) von bestimmten Ansichten zu überzeugen. Gerade in den Briefen des Sidonius wird deutlich, wie sich in den folgenden Kapiteln noch zeigen wird, dass dieser das von ihm konstruierte Barbarenbild bewusst einsetzt, um sich und seine Leser zu überzeugen, wer Teil seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ und wer Teil der ‚Anderswelten‘ ist. Alterität hat sich als Konzept in der Geschichtswissenschaft verankert, um Prozesse von Gruppenbildungen und Ausgrenzungen besser zu verstehen. Dabei ist insbesondere die historische Diskursanalyse eine geeignete Methodik der Geschichtswissenschaften, um Fragen nach Alteritäten und Identitäten nachzugehen. Diskurse von antiken Autoren können durch eine diskursanalytische Untersuchung dekonstruiert werden, um in Anschluss ihre Sichtweise besser verstehen zu können. Sidonius Apollinaris stellt aufgrund der hohen Anzahl und des sehr guten Überlieferungszustandes 142 Siehe Kapitel 3. 143 Foucault 1982.

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Einleitung

seiner Schreiben eine perfekte Fallstudie dar, um erstens dieser Hypothese nachzugehen und zweitens durch die Barbarendiskurse in seinen Briefen ein besseres Verständnis vom Autor und seinen ‚Lebenswelten‘ zu gewinnen. Einerseits, weil seine Briefe einen ganz besonderen Blick in die Alltagswelt seiner Person sowie seines gesellschaftlichen Kreises erlauben, andererseits, weil die hohe Anzahl der überlieferten Briefe 144 eine geeignete Quellengrundlage bietet, um weitere Rückschlüsse zur Gesellschaft in den gallischen Provinzen des 5. Jahrhunderts zu ziehen.

1.5

Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

Um die Barbarendiskurse des Sidonius beurteilen und analysieren zu können, muss zunächst deren Entwicklung nachgezeichnet werden. Obwohl Jahrhunderte alt, wird der Begriff des Barbaren noch immer verwendet, um eine Person oder eine Handlung als wild, bestialisch und von gesellschaftlichen Normen abweichend zu beschreiben. Dabei musste der Begriff in der Antike keinesfalls immer pejorativ benutzt werden, wie sich in der folgenden Darstellung zeigen wird. 145 Nicht bestreitbar ist jedoch, dass der Begriff in der Antike ein Ausdruck für Alteritäten darstellte. Ein Begriff, der dazu genutzt wurde, um etwas als ,anders‘ zu klassifizieren: Verhalten, Aussehen, Traditionen, Gesetze, Sprache oder gar einen oder mehrere Menschen. Um die Wahrnehmung von Barbaren in der Spätantike untersuchen zu können, müssen unsere modernen Vorstellungen überwunden werden.  Es muss eine eingehendere Beschäftigung mit der Verwendung und Entwicklung dieses Begriffes erfolgen. Auf die Frage, was ein Barbar ist, 146 kann keine allgemein zufriedenstellende Antwort für die gesamte Antike gegeben werden. Vielmehr handelt es sich um einen Begriff, der im Kontext der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Raumes untersucht werden muss. In der griechisch-römischen Antike 147 erscheint der Begriff „barbar-sprechend“ – also stammeln, bar-bar-Laute von sich gebend – das erste Mal in der Ilias von Homer. Im zweiten Gesang bezeichnet er die Gemeinschaft der Karer als βαρβαροφώνoi und drückt

144 Eine Liste sämtlicher 116 Handschriften, welche die Werke oder zumindest Fragmente von Sidonius enthalten, hat Dolveck 2020, 508–542 zusammengestellt. 145 Siehe hierzu auch die Einträge zu barbarus als Adjektiv und Nomen im TLL 2, „barbarus“, col. 1735–1743. 146 Als einführende Werke zur Perzeption von Barbaren sei auf die umfassenden Schriften von Émilienne Demougeot und Yves-Albert Dauge, auf die ausführliche Monographie von Alain Chauvot sowie ferner auf den Sammelband von Bruno Dumézil verwiesen (Dumézil 2016; Chauvot 1998; Dauge 1981; Demougeot 1979). 147 Für einen Überblick zur Erfindung von Barbaren in der griechischen Antike sei auf die folgenden Ausführungen verwiesen: Leroughe-Cohen 2016; Papadodēma 2013; Malitz 2001; Dihle 2004; Cartledge 22002; Hall 2002; 1989; Dörrie 1972; Jüthner 1923.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

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damit den grundlegenden Unterschied zu seinem eigenen Kulturkreis aus: die Sprache. 148 Tatsächlich bleibt die Sprache ein entscheidendes Merkmal bei der Differenzierung von Griechen, Römern und Barbaren, wie sich am Beispiel von Sidonius Apollinaris zeigen wird. Nach Homer ist der Begriff des Barbaren bei Herodot fassbar, der im Proömium seiner Historien ankündigt, über die Taten von Hellenen 149 und Barbaren zu berichten. 150 Obgleich sein Werk als der Beginn einer hellenisch-barbarischen Dichotomie gilt, offenbart sich Herodots Barbarenbild als heterogen und er hat Barbaren trotz ähnlicher Beschreibung nicht als Kollektiv verstanden. Barbaros war ein Begriff, den er subjektiv und flexibel eingesetzt hat, wobei verschiedene nicht-griechische Gemeinschaften dem Kontext seiner Narration entsprechend mehr oder weniger barbarisch in Erscheinung treten. Nichtsdestotrotz lassen sich bei Herodot diverse Kategorien festhalten, mit deren Hilfe er ,Andere‘ unterscheidet: Sprache, Erscheinung (Aussehen und Kleidungsstil), 151 Siedlungsform 152, Bräuche (Kriegssitten, 153 gesellschaftliche Bräuche, 154 Esskultur 155), Religion 156 sowie landschaftliche Verortung. 157 Trotz dieser Differenzierung von Hellenen und Barbaren erscheint es für die Letzteren möglich, das Barbarische zurückzulassen und Teil der hellenischen Gemeinschaft zu werden. Dass dabei Individuen trotz ‚barbarischer‘ Wurzeln als ‚edle Wilde‘ und ‚nicht-barbarisch‘ erscheinen können, zeigt Herodots Beschreibung von Anacharsis, der aus einem fürstlichen Geschlecht der Skythen 148 Hom. Il 2,867: Καρῶν […] βαρβαροφώνων. Tatsächlich hat dieser onomatopoetische Begriff indische und sumerische Wurzeln, siehe: Rugullis 1992, 21. Jensen 2018, 36 weist darauf hin, dass barbaros bereits auf Linear-B-Tafeln aus Pylos und Knossos nachweisbar sei: pa-pa-ro (beispielsweise Knossos-Tafeln 206 und 207, Pylos-Tafeln 643 und 719). Er vermutet, dass die Bedeutung von pa-pa-ro einem „Außenseiter“/„Fremden“ entspreche. Hall 2002, 111 f. gibt zu bedenken, dass die Karer, die im Südwesten Kleinasiens zu verorten sind, nicht sonderlich „fremd“ erschienen, weshalb sie βαρβαροφώνος als kaum Griechisch-sprechend oder schlecht Griechisch-sprechend interpretiert; eine Ansicht, die auf Strabons Geographica (14,2,28) zurückgeht. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass das Distinktionsmerkmal der Sprache zu einem grundlegenden Element wurde, um ,Andere‘ zu charakterisieren und abzugrenzen. 149 Die erste Verwendung findet sich auf einer Inschrift, wohl aus dem 6. Jahrhundert  v.  Chr. aus Olympia (IGA 112). Zur Inschrift und deren problematische Datierung siehe: Hölkeskamp 1999, 100 Anm. 21. Zum Hellenenbegriff siehe ferner: Hall 2002, bes. 125–154, 189–220. 150 Hdt. 1, Proöm.: τὰ μὲν Ἕλλησι τὰ δὲ βαρβάροισι. Zum Barbarenbild in Herodots Werk siehe: Papadodēma 2013, 89–134; Gruen 2011b, 67–80; Cartledge 22002; Hartog 1991, 53–77; Bichler 1988. 151 Hdt. 4,103–113. 152 Hdt. 4,11; 4,19; 4,127. 153 Hdt. 4,64 f. 154 Diese breit angelegte Kategorie umfasst das skythische Verständnis von Heldentum, Gastfreundschaft, Trinksitten, Wahrsagerei und damit zusammenhängend Urteilsfindungen, Grabbrauch (primär des Königs) sowie gesellschaftliche Struktur vom König zum Sklaven, siehe: Hdt. 4,65–82 155 Hdt. 4,2. Die Skythen werden als „Milchtrinker“ vorgestellt, die, um die kostbare Milch zu schützen, sogar die Sklaven blenden, die im Aufbereitungsprozess involviert sind. Ferner geht Herodot auf die Essgewohnheiten der verschiedenen skythischen Gemeinschaften ein: Hdt. 4,17. 156 Hdt. 4,59–63. 157 Dies zeigt sich sehr deutlich im skythischen Logos des vierten Buches der Historien: Hdt. 4,4–82, insb. 59–82.

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Einleitung

stammte und von Herodot nie als „Barbar“ bezeichnet wird. 158 Der Blick auf Herodot ist nicht nur als Ursprung eines Alteritätsdiskurses von Barbaren wichtig, sondern spiegelt sich, wie ich in Kapitel 5 und 6 aufzeigen werde, in ähnlicher Weise im Barbarenbild des Sidonius Apollinaris. Im Folgenden möchte ich aus Platzgründen lediglich die Ergebnisse meiner Quellenstudien zum Barbarenbild im antiken Griechenland zusammenfassen. Werden die Anfänge und Entwicklung der Barbarendiskurse in den griechischen Quellen vor der Jahrhundertwende betrachtet, ist Folgendes festzuhalten: Von einer sprachlichen Differenzierung ausgehend schwankte das Bild von Barbaren besonders bis zu den Anfängen des 5. Jahrhunderts zwischen Bewunderung und Ablehnung, was die ersten Stereotypisierungen zur Folge hatte. 159 Spätestens mit dem Sieg in den Perserkriegen und einem gesteigerten athenischen Selbstbewusstsein wurden ,andere‘ Menschen in literarischen Werken bewusst ab- und ausgegrenzt. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, ob die ,Anderen‘ Barbaren, Hellenen oder ungebildete Bürger Athens waren. Besonders deutlich wurde dies mit dem Autochthonie-Gedanken Athens im 4. Jahrhundert, obgleich dieser bereits von Zeitgenossen kritisiert wurde. 160 Die Barbaren trugen zum Selbstbild und zum Selbstbewusstsein der Hellenen bei und wurden im öffentlichen Diskurs – auf literarischer, politischer sowie bildlicher Ebene – als Menschen niederer Art dargestellt. Der Barbarendiskurs entwickelte sich immer mehr als Instrument, um ,Andere‘ als Gegensatz zur eigenen Gemeinschaft darzustellen – als Gegensatz der ‚Anderswelten‘ zu den eigenen ‚Lebenswelten‘. Die auf die griechische Klassik zurückgehenden Kategorien zur Darstellung von Barbaren (siehe Tab. 1), haben sich nicht nur in der griechischen Antike, wenn auch durch die Feldzüge Alexanders des Großen und der Verbreitung der hellenischen 158 Hdt. 4,46, 4,76. Zu Anacharsis siehe: Schubert 2010; 2012, insb. 59; Hartog 1991, Kap. 3. 159 Vgl. Hall 1989, 102. Stereotype sind Codes, durch die Wahrnehmungen organisiert werden und jeder Mensch ist in seiner Wahrnehmung, seinem Verhalten und seiner Mentalität von seiner Zeit und seiner Umgebung geprägt. 160 So bspw. im Dialog „Menéxenos“, der von Platon verfasst wurde. In dieser Parodie erläutert Sokrates seinem Schüler Menéxenos die rhetorische Manipulation von Politikern. Hierfür greift Sokrates u. a. auf die Perserkriege und die kriegerische Überlegenheit der Hellenen über die Barbaren, d. h. über die Perser, zurück. Die natürliche Überlegenheit der Athener bringt Platon über landschaftliche Vorbedingungen, die in Attika am vorzüglichsten seien, zum Ausdruck und stellt diese den Gegenden gegenüber, wo wilde Tiere hausten. Während Athen die Grundbedingungen für Zivilisation von den Göttern erhalten habe, blieben die Gebiete der Barbaren von Wildheit geprägt. Die natürliche Vormachtstellung Athens lässt Platon Sokrates mit „reinem Blut“ rechtfertigen: Pl. Mx 236d–Pl. Mx. 245d. Obgleich der Dialog eine gesellschaftskritische Parodie ist und daher nicht die „Realität“ darstellt, muss Platon damit die Grundgedanken seiner Zeit aufgefasst und literarisch verarbeitet haben. Unklar ist, inwieweit Platons Dialog in Zusammenhang mit dem Panegyrikos des Isokrates auf Athen steht, indem er Athen allen anderen Städten als überlegen lobt: Isoc. 4,15– 23. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass Isokrates die Rede nicht selbst vorgetragen, sie aber zu diesem Anlass veröffentlicht habe, siehe: Hall 2002. Tatsächlich ist sich die Forschung bis heute uneins, in welcher Relation beide Reden (der Panegyrikos und die Rede des Sokrates im Dialog mit Menéxenos) zueinanderstehen: Ist Isokrates’ Rede eine Reaktion auf Platons Dialog? Oder Platons Dialog eine direkte Reaktion auf den Panegyrikos? Zur Autochthonie Athens siehe: Kennedy 2016, 13–14, 15–19; Schmidt-Hofner 2016a, 145–147; Hall 2002, 204; Wilke 1996, 238–241.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

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Gedankenwelt in veränderter Form, erhalten, sondern wurden von römischer Seite adaptiert und transformiert. Dafür spricht die breite Rezeption des Barbarenbildes, das spätestens an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert v. Chr. als Diskurs begriffen werden kann. Es bleibt anzumerken, dass diese Unterteilung ein methodisches Hilfskonstrukt dieser Arbeit darstellt, um literarische Diskurse offenzulegen. Dies bedeutet keinesfalls, dass antike Barbarenbilder einer festen Kategorie zugeordnet werden können. Wie sich besonders in den Kapiteln 5 und 6 bei Sidonius zeigen wird, können sich Darstellungen von Barbaren innerhalb eines zusammengehörigen Textes überschneiden, da antike Autoren vielschichtige Bilder mit multiplen Bedeutungen konstruiert haben. Tab. 1: Kategorien und Klassifizierung zur Darstellung von Barbaren Kategorien in der griechischen Literatur zur Einteilung in drei Typen zur Konstruktion Darstellung von Barbaren 161 von Barbarenbildern Sprache und Bildung Aussehen und Erscheinung Verhalten und Charakter (Charaktereigenschaften, gesellschaftliches Zusammenleben, Esskultur, Sitten und Bräuche inkl. Religion)

Stereotypisierte Alteritätsmerkmale

Esskultur Religion Landschaftliche und klimatische Verortung

Klima- und Landschaftsverortung von Barbaren

Bewunderung von Barbaren als ,edle Wilde‘

Edle Barbaren

Ebenso wie es Jahrhunderte dauerte, bis eine hellenische Gemeinschaft für uns in der Literatur greifbar wird und wir zentrale Merkmale eines ,Griechentums‘ aus heutiger Sicht erkennen können, dauerte es einige Jahrhunderte, bis sich eine Gesellschaft formierte, die sich selbst und die aus heutiger Sicht als „römisch“ bezeichnet werden kann. Ebenso wie sich Hellenen aus diversen ethnē konstruiert haben, indem gemeinschaftsstiftende Faktoren wie Sprache, panhellenische Spiele und Kulte sowie Ursprungsmythen erschaffen wurden, sind auch Römer keineswegs als ethnische Einheit definierbar, sondern ein Konglomerat regionaler Gemeinschaften, die erst politisch zusammenwachsen mussten und für die sich die Stadt Rom, deren Gründung im Dunkeln liegt, als politisches und kulturelles Zentrum etabliert hat. 162 161 Hall 1989, 117–159 benennt als stereotypische Kategorien Sprache, Verhalten, Ethnographie, Religion und Politik. Der politische Aspekt wird in dieser Arbeit dem Verhalten zugeordnet. 162 Vgl. Currie 2004, 3. Die gemeinschaftsstiftenden Faktoren können – neben askriptiven Faktoren (wie Geschlecht oder Sprache) – zweierlei Art sein: Zum einen können sie von der Gemeinschaft erzeugt werde, wie es bei Traditionen der Fall ist, zum anderen können sie sich durch das Zusammentreffen mit ,Anderen‘ als identitätsstiftende Gemeinsamkeiten offenbaren.

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Einleitung

Ich möchte daher die Entwicklung des römischen Barbarendiskurses in seinen Anfängen in aller Kürze zusammenfassen. 163 Die Bevölkerung in Latium musste zunächst selbst zu einer Einheit zusammenwachsen, da der römische Stadtstaat sich auf unterschiedliche ethnische Gruppierungen gründete, deren Oberschicht schon bald nach mehr Einfluss in Italia strebte. 164 Mit der fortschreitenden Expansion nach Unteritalien und der Einnahme der griechischen Kolonien ist eine vermehrte Übernahme von hellenischem Gedankengut sichtbar, das sich insbesondere in der Literatur äußert. Der kulturelle Kontakt mit der hellenischen Kultur hat zu einer Reflexion des römischen ‚Selbst‘ geführt, die selbst in Ciceros Schriften im 1. Jahrhundert  v.  Chr. noch sichtbar ist. 165 Gleichsam sich Rom seines ,barbarischen‘ Ursprunges bewusst war, hat der politische Aufstieg des Stadtstaates zu einer Großmacht zu einem gesteigerten Selbstbewusstsein beigetragen, um sich nun selbst auf die Seite der Nicht-Barbaren zu stellen. 166 Barbaren waren zunächst Fremde, dann die ,Anderen‘. ,Andere‘, die durch die Auseinandersetzung mit den Galliern und Karthagern greifbar wurden und sich in Rückgriff auf Merkmale des griechischen Barbarendiskurses darstellen ließen. 167 In diesem Kontext kam es zur Entstehung des Begriffes barbarus und seiner erster Ableitungen, obwohl dieser nur spärlich in den frühen Zeugnissen nachweisbar ist. Im Folgenden möchte ich an ausgewählten stichprobenartigen Beispielen die Stereotypisierung von Barbaren durch Sprache, Bildung, Aussehen und Verhalten darlegen. Elke Ohnacker hält in ihrer Abhandlung zur spätantiken und frühmittelalterlichen Entwicklung des Barbarenbegriffes fest, dass gerade die diskursive Untersuchung von Gesellschaftsstrukturen und Verhalten demonstrieren könne, wie weit Wahrnehmungsund Klassifizierungsmuster antiker Autoren übereinstimmen, und daher von Topoi 163 Dies beinhaltete auch die Latinisierung von βάρβαρος zu barbarus. Für einen Überblick der republikanischen römischen Sichtweise auf Barbaren und Hellenen wird auf die Arbeit von Dench 1995 verwiesen, hier 68–72. 164 Hor. epist. 2,1,156–157: Graecia capta ferum victorem cepit et artes / intulit agresti Latio […]. .„Als Griechenland bezwungen war, eroberte es den rohen Sieger und brachte die Künste ins bäuerliche Latium […].“; siehe Jüthen 1923, 64. 165 Cic. rep. 1,58. 166 Cic. fin. 2,49. Für die Entwicklung des antiken Barbarendiskurses ist relevant, dass Cicero einerseits eine Dreiteilung der Welt vornimmt und somit sowohl die Hellenen-Barbaren-als auch eine Römer-Barbaren-Dichotomie aufbricht. Gleichzeitig verwendet er barbaria als Ableitung von barbarus, um nicht auf Menschen direkt, sondern auf deren Lebensraum hinzuweisen. Allerdings ist das literarische barbaria nicht mit dem späteren Begriff barbaricum gleichzusetzen; siehe hierzu: Kulikowski 2017, passim. 167 Immer wieder betonen die Quellen die angebliche Treulosigkeit der Karthager, die Verträge brechen und denen nicht zu trauen sei; siehe bspw.: Liv. 21,4,9; 30,30,27; Cic. off. 1,38,4; Hor. carm. 3,5,33; 4,4,49. In Anbetracht der politischen Lage und der für die Römer wichtigen Frage der Kriegsschuld ist dies nicht verwunderlich; siehe: Gruen 2011a, 115 f.; Heftner 2007, 360–369 mit weiteren Literaturhinweisen. Die Treulosigkeit barbarischer gentes stellt auch im 5. Jahrhundert noch ein beliebtes Merkmal dar, um deren Alterität zu den römischen Lebenswelten auszudrücken; siehe bspw.: Oros. hist. 7,38,1. Orosius stellt den magister utriusque militiae Stilicho negativ dar, in dem er auf seine nicht-römische Herkunft hinweist. Stilicho gehöre einer besonders treulosen gens an und habe die anderen barbarischen gentes gegen Rom aufgewiegelt.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

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gesprochen werden könne. 168 Typische Vorurteile gegenüber Barbaren, die in der klassischen Literatur sichtbar sind, sind deren physische Stärke, deren moralische und intellektuelle Schwäche sowie Wildheit. Sie waren ungebildet, unzivilisiert und gesetzlos und wurden eher als Tiere denn als Menschen beschrieben. 169 Diese Stereotype dienten hauptsächlich dazu, einen Kontrast zur römisch-zivilisierten Welt zu schaffen. Allerdings entsprechen Stereotype keiner wahrheitsgetreuen Darstellung: Sie dienen bestimmten Zwecken und reflektieren die Weltanschauungen derjenigen, die sie ins Leben gerufen und angewandt haben. 170 Sie verdeutlichen auf ihre Weise jedoch sehr eindringlich die zweidimensionale römische Weltanschauung von ,Wir gegen die Anderen‘, ,Gut gegen Böse‘, ,Römer gegen Barbaren‘. 1.5.1

Abgrenzung durch Sprache und Bildung

Der grundlegendste Topos, der zur Beschreibung von Barbaren in der römischen Literatur verwendet wird, ist derjenige der unterschiedlichen Sprache. Angesichts der Entwicklungsgeschichte des Begriffes stellt dies keine Überraschung dar. 171 Dabei waren die subjektiven Sichtweisen dieser Abgrenzungsart durchaus bewusst, wie an den Beispielen zu sehen ist, in denen Latein als ,barbarische‘ Sprache bezeichnet wird. Es scheint, dass der Begriff des Barbaren nach wie vor als beschreibende Kategorie benutzt wurde, um Zugehörigkeiten in beide Richtungen abzugrenzen oder vielmehr zuzuschreiben. Die homerische Abgrenzung im Sinne von „unverständlich Sprechen“ blieb durch die gesamte Antike hindurch mit dem Barbarenbegriff verhaftet, um Menschen zu kennzeichnen, die ,anders‘ waren. Betrachten wir die Abgrenzung von nicht-römischen ,Anderen‘ aufgrund ihrer Sprache, fällt auf, dass dieser Diskurs eine ganz eigene Entwicklung durchlief. Mit der Formierung von gemeinsamen römischen Lebenswelten und der Übernahme hellenischer Einflüsse musste auch die lateinische Sprache zunächst ihren Standpunkt als zivilisierte Sprache neben Griechisch behaupten. Zusammen mit dem gewachsenen römischen Selbstbewusstsein, wuchs die Ansicht, dass die lateinische Sprache barbarischen Sprachen überlegen sei, wobei selbst die Masse der Bevölkerung als ,Andere‘ wahrgenommen wurde. Die römischen Grammatiker kreierten sogar einen eigenen Begriff, den Barbarismus, um auf ein fehlerhaftes oder schlechtes Latein zur verweisen. 172 Obgleich Cicero in seiner Anklage gegen Verres als Kennzeichen von Barbaren deren Sprache und ethnische Zugehörigkeit benannte und Vergil in der Aeneis festhielt, dass nationes aufgrund 168 Ohnacker 2003, 47: Darunter fasst Elke Ohnacker all das zusammen, was ich als stereotypisierte Alteritätsmerkmale beschreibe. Siehe ferner: Méry 2016, 33; Woolf 2011a, 57 f. Nach Liza Méry findet sich insb. bei Plinius’ Naturgeschichte sowie Tacitus’ Germania ein reiches „réservoir“ an rekurrierenden Motiven zur Beschreibung von Barbaren. 169 Beispielsweise bei Velleius Paterculus, der Barbaren nachsagt, dass sie außer Stimme und Körper nichts Menschliches an sich haben: Vell. 2,117,3. 170 Woolf 2011b, 260. 171 Borst 1990, 20. 172 Quint. inst. 1,5,6–8, vgl. Cic. Rhet. Her. 4,12.

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Einleitung

von Sprache und Kleidung unterschieden werden können, 173 ist festzustellen, dass die sprachliche Unterscheidung in den ethnographischen Diskursen Caesars, Tacitus’ oder Ammianus Marcellinus’ selten zu finden ist. 174 Dafür tritt spätestens ab dem 3. Jahrhundert – vielleicht als Konsequenz der Bürgerrechtsverleihung im Jahre 212 n.  Chr. und der innerrömischen Konflikte – noch mehr als zuvor das Bedürfnis senatorischer Aristokraten auf, sich aufgrund ihrer Sprache und vorzüglichen Bildung von ,Anderen‘ zu unterscheiden. 175 Aurelius Victor beklagt, dass nach dem Ende der severischen Dynastie boni wie mali, nobiles und ignobiles, v. a. aber viele Barbaren die Herrschaft des Römischen Reiches übernommen haben und sich vielmehr untereinander bekriegten, als gegen externi zu kämpfen. Das Schlimmste dabei sei, dass Menschen Ämter an sich gerissen hätten, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun, weil ihnen die notwendige Bildung dafür gefehlt habe. 176 Bei der Abgrenzung durch Bildung schien nicht die ethnische oder rechtliche Zugehörigkeit von Bedeutung gewesen zu sein, sondern allein das Bildungsniveau hat über die gesellschaftliche Zugehörigkeit und Akzeptanz senatorischer Aristokraten entschieden. 177 Mit zunehmendem Aufstieg nicht-römischer Akteure über den Militärdienst in die illustren Ränge der senatorischen Aristokratie schien diese Abgrenzung noch wichtiger zu werden, wie wir bei Sidonius Apollinaris sehen werden. 178 Essenziell wurde insbesondere nicht nur die Fähigkeit, Latein und Griechisch zu sprechen, sondern die Sprachkorrektheit gelangte in den Mittelpunkt der gebildeten Aristokratie. Dadurch erhielt Bildung zugleich eine prominente Rolle in den Ein- und Ausgrenzungsprozessen senatorischer Aristokraten und deren Lebenswelten, da Bildung mit zunehmender Desintegration des Römischen Reiches immer wichtiger wurde. 173 Verg. Aen. 8,722–723: incedunt victae longo ordine gentes,  / quam variae linguis, habitu tam vestis et armis.  / […] „In langen Reihen ziehen die besiegten gentes ein, so wie sie unterschiedliche Sprachen sprechen, so tragen sie unterschiedliche Kleidung und Waffen.“ Vgl. Cic. Verr. 2,4,112: […] nam tam barbari lingua et natione […] „weder so barbarisch durch Sprache und ethnische Zugehörigkeit […]“. 174 Ohnacker 2003, 48 vermutet, dass die Schriftlosigkeit nicht-römischer Gemeinschaften in der Kaiserzeit weniger thematisiert wurde beziehungsweise weniger ins Gewicht fiel als in der Spätantike. Ihrer Meinung nach wurde der Gegensatz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit erst dann ein zentraler Punkt im Alteritätsdiskurs, als die barbarische Bedrohung als existenzbedrohend wahrgenommen worden sei. Dies habe eine explizitere Abgrenzung notwendig gemacht. Dabei kann ihr nur zu Teilen zugestimmt werden. Wie die obigen Beispiele belegen, nahm Sprache in antiken Alteritätsdiskursen immer eine wichtige Rolle ein. Die ,Anderen‘, die durch Sprache abgegrenzt und ausgegrenzt wurden, mussten sich eben nicht zwangsläufig außerhalb des Römischen Reiches befinden und es musste sich ebenso nicht zwangsläufig um ,Barbaren‘ handeln. Innerhalb der römischen Gesellschaft, insbesondere innerhalb der senatorischen Aristokratie, wurde die Zugehörigkeit zur Innengruppe über die Abgrenzung von ,Anderen‘ verhandelt. 175 Siehe Amm. 21,10,8; 2,12,25. Zum Aufstieg barbarischer Beamter und zur Bedeutung von Bildung siehe: Vergin 2013, 31; Brown 1992, 36–70; zum Prozess des „Römisch Werdens“ siehe: Mathisen 2013a. 176 Aur. Vict. Caes. 24, 9–11. Sehlmeyer 2009, 78 geht davon aus, dass Aurelius Victor sich hier primär auf die Herkunft der Kaiser bezieht. 177 Siehe hierzu Kapitel 2.1 „Gallo-römische Aristokraten: mentalité und Statuskennzeichen“. 178 Vgl. von Rummel 2007, 28.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

1.5.2

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Typisch barbarisch?

Obgleich antike Literaten von Beginn an unterschiedliche ethnē, gentes und nationes unterscheiden, 179 fällt auf, dass diese in Bezug auf ihre Lebensweise, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihre Essgewohnheiten oder religiösen Sitten starke Parallelen und Ähnlichkeiten von Herodot bis in die Spätantike vorweisen. Ralph Mathisen hat daher festgehalten, dass Römer Barbaren nicht mit einem speziellen Erscheinungsbild erfasst, sondern sie als kollektives Erscheinungsbild konstruiert haben. 180 Wie Tacitus im vierten Kapitel seiner Germania beschreibt, seien die Germanen ein reines ,Volk‘, das sich nie mit anderen gentes vermischt habe. Daher sahen alle Germanen gleich aus. 181 Wird Tacitus gefolgt, haben alle Germanen blaue Augen, die gleichzeitig deren Wildheit widerspiegeln. Sie besitzen rote Haare und einen Körperbau, der für den Krieg geschaffen ist. Für Ackerbau würden sich Germanen nicht eignen, da sie hierfür nicht die notwendige Ausdauer haben. 182 Wenn nun der Gallienexkurs in Ammianus’ Res Gestae betrachtet wird, können die Parallelen in der Darstellung nicht übersehen werden. 183 Wie die Germanen bei Tacitus sehen Ammianus’ Gallier (fast) alle gleich aus, haben blonde/rotblonde Haare und ihre Wildheit ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie sind ebenso kriegerischer Natur und ungewöhnlich überheblich. Solche Stereotype enden nicht bei den Galliern, sondern werden von Ammianus Marcellinus, wie Wiebke Vergin sehr deutlich aufzeigen konnte, auf die verschiedensten gentes übertragen. 184 Warum nun gerade sein Exkurs über Gallien Aufmerksamkeit verdient, liegt an der Tatsache, dass Ammianus Marcellinus im 4. Jahrhundert lebte und sein Geschichtswerk verfasste. Dabei überrascht es, dass er die Bewohner Galliens in ihrer literarischen Darstellung so wenig verändert hat. 185 Hätte die Integration ins Römische Reich nicht zu differenzierteren und weniger stereotypen Bildern in Ammianus̓ Werk 179 So findet sich in der Ilias des Homer bereits ein Katalog trojanischer „ethnē“ (Hom. Il. 2). Der spätantike Historiker Orosius referiert am Anfang seines Werkes die Geographie der bekannten Welt und listet beispielsweise für Indien 44  (Oros. hist. 1,2,15) oder für Syria 12 verschiedene gentes (Oros. hist. 1,2,23) auf, ohne diese jedoch namentlich zu nennen. Dennoch darf nicht der Eindruck entstehen, dass sich in den Bezeichnungen der externae gentes im Römischen Reich durch die gesamte Antike hindurch nichts verändert hätte. Die unterschiedlichen gentes, mit denen es das Römische Reich zu tun hatte, veränderten sich stetig: angefangen bei den Latinern bis hin zu den poströmischen regna; vgl. Steinacher 2017c, 27–30; Vergin 2013, 51 f. Was sich hingegen kaum verändert hat, waren die literarischen Darstellungen von ,Anderen‘. 180 Mathisen 2011, 17. 181 Tac. Germ. 1,4. 182 Siehe Lund 1990, 50 f. mit weiteren Quellenangaben. 183 Amm. 15,12,1. 184 Vergin 2013, 45–85, wobei erneut auffällt, dass die Wildheit und nomadischen Züge von Barbaren immer weiter zunehmen, je weiter sich dem Rand der Welt angenähert wird. 185 Woolf 2011b, 255 stellt die Frage, warum römische Autoren sich so wenig bemühten, ihre Berichte über Barbaren zu berichtigen /zu erneuern, obwohl sowohl sie als auch ihre Leser wussten, wie sehr sich die Dinge doch verändert hatten. Vgl. hierzu: Isaac 2011, 240, 258, der festhält, dass die Beschreibung von Barbaren in anachronistischer Weise erfolgte, nämlich in Form einer Darstellung wie zum Zeitpunkt der ersten Begegnung mit dem Römischen Reich.

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Einleitung

führen müssen? Die in der Literatur geschaffenen Barbarenbilder sind in erster Linie als Letzteres zu betrachten: als Bilder. Die ethnographischen Diskurse, die Beschreibung von Lebensweisen und von Aussehen dienten primär dazu, mentale Bilder in der Gedankenwelt des Lesers zu erzeugen. Bilder, die ein gebildeter Leser wiederum mit bereits Gelesenem in seiner Erinnerung verknüpfen konnte, weshalb die Beschreibungen von Barbaren traditionellen Mustern folgte und als wiederkehrende Diskurse begriffen werden können. 186 Diese Bilder hatten die primäre Funktion vor dem Spiegelbild des ,Anderen‘, römische ‚Lebenswelten‘ zu konstruieren und einen Gemeinsinn zu erzeugen, der mit dem modernen Sammelbegriff der romanitas zusammengefasst wird. Diesen Diskursen eine Realität zuzuschreiben oder gar ein historisches Zeugnis von ,Germanen‘ oder anderen gentes darin zu lesen, erscheint meines Erachtens als eine unlösbare Aufgabe. 187 Gerade die vermehrte Integration und Ansiedlung nicht-römischer Menschen, die in der Spätantike eine Unterscheidung von ,Barbaren‘ und ,Römern‘ auf Grundlage des äußeren Erscheinungsbildes nicht mehr zuließen, wurden die traditionellen Barbarenbilder in der Literatur weitergezeichnet. In Zeiten politischer Unruhen und Schwierigkeiten war der Rückgriff auf traditionelle Barbarendiskurse eine Möglichkeit, eine eigene römische Identität zu erzeugen und zu schützen. 188 Das weitverbreitetste Verhaltensmerkmal von Barbaren ist deren Wildheit: feritas. Diese unkontrollierbare Charaktereigenschaft äußert sich in den römischen Diskursen durch ein Verhalten, dass sich antike Autoren nicht erklären konnten. 189 Ein Verhalten, dass ihrer Ansicht nach gegensätzlich zur römisch zivilisierten Welt ist und daher als ,anders‘, als barbarisch dargestellt wird. 190 Den Barbaren fehle es schlichtweg, so Cicero, an humanitas. 191 Da Ammianus Marcellinus meines Erachtens eine Schlüsselfunktion für die Tradierung des antiken Barbarendiskurses in die Spätantike zukommt, möchte ich im Folgenden kurz auf seinen Hunnenexkurs eingehen. 192 Insbesondere ihre feritas wird von Ammianus als das schlimmste Existierende bezeichnet, bevor er das Erscheinungsbild der Hunnen beschreibt, die alle – es überrascht nicht – gleich aussehen. Das Erscheinungsbild der Hunnen gleicht sich ihrer übermenschlichen feritas an, da er dieses als missgestaltet (deformis) und Bestien ähnlich (bestiae) bezeichnet. 193 An dieser Stelle 186 Für den Gedanken, dass Barbarendarstellungen mentale Bilder erzeugen sollen, siehe: Kircher 2010. 187 Vgl. Lund 1990, 33. Hartog 1991 kommt für die ethnographischen Exkurse bei Herodot zu dieser Annahme. 188 Von Rummel 2007, 66  f. Dabei ist Philipp von Rummel zuzustimmen, der erkannte, dass dies Beschreibung von Barbaren in der Literatur keine Zukunftsvision war, sondern vielmehr ein Rückgriff auf Althergebrachtes. 189 Speyer/Opelt 2001, 838 bieten eine umfangreiche Sammlung an Belegstellen. 190 Méry 2016, 33 f. 191 Cic. div. 2,80. Weitere Beispiele sind: Liv. 28,22–23; insb. 28,23,2.3; Caes. BG 7,4,3–10; Amm. 31,5,3; 31,7,8–9; 31,9,1–5; 31, 15,2–4; Vict. Vit. 1,1,3; siehe: Lund 1990, 16 f. 192 Vergin 2013, 111. Zur Geschichte der Hunnen siehe: Rosen 2016; Stickler 2007. Ferner sei der Aufsatz von Collander 2008, 71–81 über die Hunnen als ‚Others‘ in spätantiken Quellen empfohlen. 193 Amm. 31,2,2.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

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können wir auf die Verbindung von Aussehen, Verhaltenscharakteristiken und Lebensart mit barbarisch wahrgenommenen gentes in der lateinischen Literatur hinweisen, die dem Leser den Gegensatz zur römisch-zivilisierten Lebensweisen aufzeigen. Es soll oft deren Überlegenheit ausdrücken. Der Hunnenexkurs des Ammianus Marcellinus’ eignet sich besonders hervorragend, um die Stereotypisierung von Barbaren, die sich bereits seit Jahrhunderten als Tradition gefestigt hatte, aufzuzeigen. 194 Dieser beginnt damit, dass Ammianus den Ursprung der Hunnen in einem landschaftlich wilden Gebiet einordnet und sich diese Wildheit durch die gesamte Darstellung als Kernmotiv fortsetzt. Es folgen Ausführungen zu ihrem Aussehen, 195 zu Essgewohnheiten 196 und Behausungen, 197 zu ihrem Kleidungsstil, zur Bedeutung ihrer Pferde und ihrer Kriegstechniken, 198 zu Lebensgewohnheiten wie zu ihren charakterlichen Schwächen. 199 Ammianus schließt sich in seiner Beschreibung der Hunnen den ethnographischen Exkursen vorheriger Geschichtsschreiber seit Herodot an und kommt zur Schlussfolgerung, dass ihnen nicht vertraut werden könne. Sie seien unzuverlässig und in ihren Emotionen unkontrollierbar. Wie wilde Tiere könnten sie Falsch von Richtig nicht unterscheiden und folgten weder einer Religion noch einem Aberglauben. Sie seien gierig, unbeständig und schnell wütend. 200 In diesem Hunnenexkurs finden sich viele Merkmale wieder, die durch die gesamte Antike hindurch verwendet wurden, um ,Andere‘ als Barbaren darzustellen. Mischa Meier merkt an, dass nahezu jede Aussage Ammianus’ auf Vorbildern aus der antiken Ethnographie beruhe. 201 Dabei warnen sowohl er als auch Philipp von Rummel, dass nicht alle Aussagen, die in der antiken Literatur gefunden werden können, ignoriert werden dürfen. 202 Es muss vielmehr zwischen den Zeilen gelesen werden, um intertextuelle Bezüge und literarische Traditionen zu erkennen und abweichende Informationen festzustellen. Durch die bewusste Abgrenzung von Barbaren mit Hilfe von Vorurteilen, die bereits griechische Autoren festgehalten hatten, könne das wachsende Römische Reich durch den bewussten Barbarendiskurs – sei es im Bild oder literarischen Programm – eine eigene kollektive Identität, nämlich romanitas, konstruieren. 203 Doch diese war, wie von Rummel bereits festgehalten hat, eher Idealbild als Realität und ist daher für den Wissenschaftler nahezu unmöglich zu greifen. 204 194 Amm. 31,2,1–31,2,11. Zum Hunnenexkurs siehe u. a.: Meier 32020, 53–55; Vergin 2013, 259–267; von Rummel 2007, 113–116; Ohnacker 2003, 85–86; Richter 1974, 343–377. 195 Siehe hierzu sowie zur Kleidungsfrage von Rummel 2007, 114 f. 196 Amm. 31,2,3. 197 Amm. 31,2,4. 198 Amm. 31,2,8–9. 199 Amm. 31,2,10. 200 Amm. 31,2,11. Ich möchte vorwegnehmen, dass Sidon. epist. 7,14,4 ebenfalls die Unterscheidung von Menschen und Tieren durch die Fähigkeit, Falsch und Richtig unterscheiden zu können, vornimmt. 201 Meier 32020, 54. Insbesondere die Parallelen zur anonymen Schrift Über Luft, Wasser und Gegenden (Hp. Aër. 17) sind meines Erachtens hervorzuheben. 202 Meier 32020, 55; von Rummel 2007, 116. 203 Halsall 2014, 525; Woolf 2011b, 260; von Rummel 2007, 65; Mathisen 2006, 34f. 204 Von Rummel 2013, 367; vgl. Pohl 1998b, 22; Dauge 1981, 7 f.

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40 1.5.3

Einleitung

Klimatische- und landschaftliche Verortung der ,Barbaren‘

Am Beispiel des Hunnenexkurses des Ammianus Marcellinus, der den eisigen Ozean als landschaftlichen Spiegel für die feritas der Hunnen nutzt, kann erkannt werden, dass antike Autoren eine genaue geistige Vorstellung von der Geographie ihrer Welt hatten. Dies war bereits bei Herodot ersichtlich geworden. Als Regel gilt, je näher Menschen am Rand der bekannten Welt wohnen, desto barbarischer sind sie. Da für Ammianus Marcellinus die Hunnen genau dort verortet wurden, wundert es nicht, dass sie in der Wahrnehmung desselben auch am wildesten von allen gentes sein müssen. Sichtbar wird dies in seiner kurz darauffolgenden Beschreibung der Alanen, die zwar den Hunnen ähnlich waren, sich aber bei allem etwas mäßiger verhielten. 205 Zur antiken Klimatheorie sei in Erinnerung gerufen, dass diese ihren Ursprung in der anonymen Schrift Über Luft, Wasser und Gegenden gefunden hatte, 206 dann durch Herodot in der griechischen Ethnographie Einklang fand und über Poseidonius sowie Vitruv Eingang in die römische Wahrnehmung der Welt erhielt. Der unbekannte Autor stellt eine Verbindung zwischen der geographischen Lage und den daraus folgenden klimatischen Verhältnissen, in denen Menschen lebten, mit deren Aussehen und Gebären her. Dabei unterteilt er die Welt in zwei Arten von Bewohnern: Asiaten und Europäern (τῇ Ἀσίῃ καὶ τῇ Εὐρώπῃ). Der Einfluss des Klimas hat seiner Ansicht nach sogar Auswirkungen auf die Verfasstheit und somit Zivilisiertheit einer Gemeinschaft. 207 Insbesondere in Asien sei aufgrund der Trockenheit und der Hitze eine Neigung zur Despotie sichtbar. Aristoteles baut auf diesen Grundlagen auf, verschärft die Europa-Asien-Dichotomie und erklärt, dass die Hellenen in der Mitte lebten und daher ausschließlich die positiven Eigenschaften von Europäern und Asiaten in sich vereinigten. 208 Poseidonius, auf den wiederum Vitruv seine Abhandlung stützt, erklärt – mit Übernahme der klimatheoretischen Überlegungen und der Verschiebung des römischen Barbarenbildes – Rom zum Mittelpunkt des Erdkreises. 209 Die Bewohner des Nordens beschreibt Vitruv mit einer hohen Statur, einem hellen Teint, rötlichen Haare und blauen Augen. 210 Eine Beschreibung, die uns an die Germanen Tacitus’ oder die Gallier Ammianus’ erinnert. Die Vorstellung zu den klimatischen Grundbedingungen hat sich bis in die Spätantike übertragen, wobei sich die Wildheit der Barbaren auf ihre jeweilige Umgebung abgefärbt hat. So beschreibt Tacitus in seiner Germania das Land der Germanen, welches aus schaurigen Wäldern und Sümpfen besteht, als widerwärtig. 211 Die geographischen ‚Lebenswelten‘ dienten den antiken Autoren ferner als narratives Instrument der Abgrenzung, um die 205 Amm. 31,2,21; vgl. Vergin 2013, 269. 206 Die anonyme Schrift wird entweder Hippokrates oder einem Nahestehendem aus dem Kreis des Hippokrates zugeschrieben wird, siehe: Oesterle 1979, 327. 207 Hp. Aër. 12; 16. Das Werk wurde als Handreichung für Ärzte geschrieben, um diese auf den Zusammenhang der menschlichen Physis mit der Umgebung aufzuklären; siehe: Hp. Aër. 1. 208 Arist. Pol. 7,7 1327 b 21. 209 Vitr. 6,1,11. 210 Vitr. 6,1,3. 211 Tac. Germ. 5,1–3.

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Exkurs: Der antike Barbarendiskurs zwischen Identitäten und Alteritäten

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Gegensätzlichkeit der zivilisierten Welt – geprägt von Sesshaftigkeit, Ackerbau und – zur unzivilisierten Welt – unbebaute und wirtschaftlich nicht genutzter Raum – darzustellen. 212 Im Jahr 212  n.  Chr. erließ der römische Kaiser Caracalla eine Constitutio, die allen freien Bürgern des Römischen Reiches das Bürgerrecht verlieh und somit zu Römern machte. 213 Während vorher in der lateinischen Literatur der Begriff barbaria seitens der Römer geschaffen wurde, um Barbaren auch landschaftlich zu verorten, 214 entstand im 3. Jahrhundert eine neue Bezeichnung, mit der der Eindruck einer physischen Trennung von Römern und Barbaren manifestiert wurde: barbaricum. 215 Der mentalen Abgrenzung zum ,Anderen‘ wurde eine geographische Trennung beigefügt. Das barbaricum war als Gegensatz zum Imperium Romanum entstanden. Dieser Begriff stellt – trotz kritischer Forschungsansätze der letzten Jahre – noch immer eine Grenze zwischen der zivilisierten römischen Welt und dem barbaricum, wo die ‚Germanen‘ leben, durch ‚den‘ Limes auf. Antike Quellen vermitteln die Annahme, dass Barbaren im barbaricum lebten  – auf der anderen Seite des Limes, außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches – und es erschien daher als ein Leichtes, zu definieren, wer als römisch und wer als barbarisch zu gelten habe. 216 Historiker wie Michael Kulikowski, Alain Chauvot oder Hugh Elton bewiesen jedoch, dass dieses Verständnis der römischen Grenzen zu einfach ist, besonders für die Spätantike. 217 Gleichfalls ist es unbestreitbar, dass, obwohl das Römische Reich aktiv physische Grenzen wie den Limes erschaffen hatte, diese doch keine fixe Demarkationslinie zwischen Römern und Barbaren darstellten. 218 Die Unterscheidung muss vielmehr als eine mentale Abgrenzung interpretiert werden; es ist eine Konstruktion, die auf jahrhundertealten Traditionen, die von Vorurteilen und Stereotypen erzeugt wurden, zurückgeht. Das Bild eines brutalen Wilden ohne Bildung oder Gesetze wurde durch die 212 Vgl. Ohnacker 2003, 48. 213 Kulikowksi 2017, 27; Mathisen 2006, 192–195. 214 Dabei muss unterstrichen werden, dass barbaria überall sein konnte! Es ist vielmehr als „Ort von Barbaren“ zu verstehen, der sich überall befinden konnte, wenn wir die Anmerkungen von Kulikowski 2017, 27 und Brodersen 2015, 37 zusammenfassen. 215 Tatsächlich ist der Begriff barbaricum zunächst inschriftlich belegt, bevor er für die Literatur übernommen wurde, z. B. AE 1991, 01378 = AE 2011, 01142 = ZPE-87–137 oder CIL 13, 08274 = SFGKoeln 00012 = AE 1889, 00065 = AE 1953, 00273; vgl. Kulikowski 2017, 28. Zu barbarus und seinen Ableitungen siehe: Dauge 1981, 46 f. 216 Zum Beispiel Hist. Aug. Hadr. 12,6: Per ea tempora et alias frequenter in plurimis locis, in quibus barbari non fluminibus sed limitibus dividuntur, stipitibus magnis in modum muralis saepis funditus iactis atque conexis barbaros separavit. „In dieser Zeit und auch bei vielen anderen Gelegenheiten trennte Hadrian die Barbaren in vielen Regionen, in denen sie nicht durch Flüsse, sondern durch künstliche Trassen (limites) aufgehalten wurden, mit hohen Pfählen ab, die tief in den Boden gerammt und wie eine Mauer miteinander verbunden waren.“ Siehe: Traina 2013, 160 f.; Chauvot 1998, 467 f.; Elton 1996a, 126–128. 217 Kulikowski 2005; Chauvot 1998, 10; Elton 1996a, bes. 126, siehe ferner: Méry 2016, 25, 29. 218 Des Weiteren ist eine Grenze immer als Raum zu erachten, in dem Austausch und Handel stattfinden. Daher kann behauptet werden, Grenzen existieren dazu, überschritten zu werden, siehe hierzu: von Rummel 2007, 66.

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ganze römische Antike hindurch vermittelt und trennt noch in der Spätantike die zivilisierte von der barbarischen Welt. 219 Dabei war das Barbarenbild keinesfalls homogen, sondern war in den Texten der Autoren differenziert und konnte von den Literaten je nach Intention des jeweiligen Werkes situativ und kontextbedingt eingesetzt werden. 1.5.4 Edle Barbaren? Obgleich die bisherigen Beispiele Barbaren als Gegenpart zum Römischen vorgestellt und diese in ‚Anderswelten‘ verortet haben, ist im römischen Alteritätsdiskurs der Barbar nicht immer Angehöriger einer unterlegenen Kultur, sondern kann durchaus virtus besitzen und als positives Gegenbild zur römischen Dekadenz idealisiert werden. 220 Selbst für den mächtigen Feind Roms in republikanischer Zeit, Hannibal, fanden Livius, Polybius oder C. Nepos bewundernde Worte. 221 Caesar beschreibt die Belger von allen Galliern als am tapfersten 222 und Horaz lobt die Tugendhaftigkeit und Ehre von nichtrömischen Verbänden, die somit alles andere als ,barbarisch‘ erscheinen. 223 Dabei ist sein Lob auf die im Naturzustand lebenden unverdorbenen Menschen ein Spiegelbild römischer Dekadenz und steht im Zeitgeschehen der augusteischen Sittengesetzgebung. 224 Der ,Andere‘ bleibt zwar in diesem Diskurs nach wie vor das Gegenüber zum ,Selbst‘, dient aber nicht zur selbstüberheblichen Abgrenzung, sondern zur (moralischen) Selbstreflexion. Salvian von Marseille, der in seinem Werk De Gubernatione Dei die Zerstörung und Überfälle durch Barbaren als Bestrafung Gottes sieht, kann dennoch etwas Positives in den Barbaren sehen, die sich zumindest innerhalb einer gens untereinander lieben, während sich die Römer gegenseitigen Schaden zufügen. 225 In gleicher Art wie sich die negativ-stereotypische Darstellung von Barbaren als literarische Tradition in der Antike etabliert hat, tradiert sich die Beschreibung barbarischer Tugendhaftigkeit als Spiegelbild eigener gesellschaftlicher Verfehlungen in der Literatur. Verbinden wir dies mit unserem theoretischem Rahmengerüst, gelangen wir zu folgender Annahme: Antike Autoren greifen traditionelle Barbarendiskurse auf, um die ,Anderen‘ in ihren Werken als narratives Instrument einzusetzen. Durch dieses kommen 219 Siehe Dauge 1981, 424–440 und Speyer/Opelt 2001, 838–843 für stereotype Merkmale und weiterführende Quellenbelege. 220 Méry 2016, 37; Ohnacker 2003, 47; Jones 1971, 377. 221 Zum Beispiel: Liv. 21,4,4–8; Plb. 2,36,3; 3,81,10–12; 9,22,1; Nep. Hann. 23,1,1; 23,13,1. Zu positiven Karthagerdarstellungen siehe: Waldherr 2000, 205–210; zu Hannibal siehe: Barceló 2004; Schmitt 1991; Christ 1968. Zu den Feldherrenbüchern von C. Nepos ist derzeit eine Dissertation von Denise Brandt an der Universität zu Kiel in Bearbeitung. 222 Caes. BG 1,1,3. 223 Hor. carm. 3,24. 224 Méry 2016, 38. In ähnlicher Weise sind auch die positiven Darstellungen von Tacitus in seiner Germania zu betrachten. Tacitus prangert durch das Abbild des ,Anderen‘, dessen Verhalten als moralisch unverdorben und edel dargestellt wird, seine zeitgenösse Gesellschaft an. 225 Salv. gub. 15,4.

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die eigenen lebensweltlichen Erfahrungen literarisch zum Ausdruck. Die ,Anderen‘ haben als Gegenbild zum ,Selbst‘ einerseits affirmative Funktionen, um die Wir-Identitäten (wie beispielsweise romanitas als Wir-Identität in römischen ‚Lebenswelten‘) zu konstruieren, oder reflektierende Eigenschaften, um die eigenen Verhaltensweisen beziehungsweise die eigene ‚In-Group‘ zu kritisieren. In beiden Fällen sind die ,Anderen‘ vom ,Selbst‘ abgegrenzt, aber nur im ersten Fall gänzlich ausgegrenzt. Diese Ambivalenzen zwischen bestialischen Wilden und edlen Barbaren sind bis zu Herodot zurückführbar. 226 Das situative Verhandeln individueller Identitäten und deren Zuordnung in Innen- oder Außengruppe soll daher als Nächstes betrachtet werden. 1.5.5

Römische Barbaren und barbarische Römer?

Wie bereits im theoretischen Gerüst dargelegt wurde, bleiben in literarischen Alteritätsdiskursen die ,Anderen‘ ohne Stimme. Trotzdem gibt es wenige Quellen und Berichte, die es uns erlauben, die römische Brille abzulegen und eine andere für die ‚Lebenswelten‘ der ,Anderen‘ aufzusetzen. 227 Die situative Konstruktion des Barbarischen wird besonders in den Tristia des Ovid deutlich, der unter Kaiser Augustus nach Tomis am Schwarzen Meer in die Verbannung geschickt wurde. 228 Während seiner Reise beschreibt er, wie er barbarische Länder passierte, wo Menschen rauben, morden und Kriege führen. 229 Am Ziel angekommen muss er feststellen, dass nun er der ,Barbar‘ sei. 230 Das römische Bewusstsein, selbst als ,Anderer‘ wahrgenommen und dargestellt zu werden, zeigt die Vielschichtigkeit des antiken Barbarendiskurses. Römische Autoren wandten sich meist den externae gentes zu, mit denen das Römische Reich in Kontakt getreten war. 231 Die ,Anderen‘ mussten also keine fremden, unbekannten Menschen sein, sondern sie waren in Kontakt mit den römischen ‚Lebenswelten‘ und beide Welten haben sich überlagert. Obgleich der literarische Diskurs die ,barbarischen Anderen‘ deutlich von den römischen ‚Lebenswelten‘ abzutrennen scheint, war die Realität von kulturellen Kontakten und Austausch geprägt, die es uns nicht erlaubt, Römer und Barbaren geographisch und kulturell so voneinander zu trennen, wie es einige antiken Quellen suggerieren. Selbst im Quellenbefund kann bei sorgfältiger Lektüre auf ,römische Barbaren‘ gestoßen werden, die zwar per Rechtsstatus Mitglied römischer ‚Lebenswelten‘ waren, aber aufgrund ihres Verhaltens oder Aussehens außerhalb der gemeinschaftlichen römischen ‚In-Group‘ agierten. Dies offenbaren 226 Bichler 1988, 123–125. 227 Vgl. Pohl 2005, 42. In der römischen Literatur bspw.: Liv. 21,44,5–7; Sall. hist. 4,69,5; Tac. Agr. 30, 6–7. 228 Zu Ovid und seinem Werk sei das unlängst erschienene Handbuch von Melanie Möller empfohlen: Möller 2021. 229 Ov. trist. 1,2,31–34. 230 Ov. trist. 5,10,37: barbarus hoc ego sum […]. „Hier bin ich ein Barbar […].“; zur ironischen Verkehrung des Barbarenbegriffes bei Ovid: Rubel 2016, 28– 31. 231 Steinacher 2017c, 20 f.

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uns beispielsweise die Gerichtsreden des Cicero. Sowohl in seiner Rede gegen Verres als auch in seinen Ausführungen gegen Markus Antonius wird deutlich, dass ,anders‘ nicht mit ,barbarisch‘ gleichzusetzen ist. Der Bruch mit den Traditionen der Vorfahren, dem mos maiorum, und dem damit einhergehenden Verhalten entgegen römischer Sitten wird von Cicero ebenso als barbarisch betrachtet wie mangelnde Sprachkenntnisse. 232 Diese Inversion des ,Barbarischen‘ wird uns auch im 5. Jahrhundert bei Sidonius Apollinaris begegnen. Es ist eine Zeit, in der römische und nicht-römische ‚Lebenswelten‘ mehr denn je ineinander übergreifen und in der sich langsam eine neue Gesellschaft mit neuen Eliten formiert. Festzuhalten ist daher, dass ,Barbaren‘ als Werkzeug zur römischen Selbstidentifikation geschaffen wurden und ein Konstrukt der römischen Ideologie sind. 233 Die Verwendung von barbarus samt seinen Ableitungen ist demnach nicht nur eine Vokabel für spezielle Gruppierungen, Individuen oder gar Objekte, sondern als ideeller Gegensatz zum ,Selbst‘ zu sehen. 1.5.6 Christentum, Häretiker, Barbaren Die Wandelbarkeit des Barbarenbegriffes ist vielschichtig, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. In der Spätantike wird der Begriff nicht nur synonym für ,Feind‘ (hostis) verwendet, 234 sondern kann in spätantiken Quellen auch anstelle von ,Soldat‘ (miles) in Erscheinung treten. 235 Eine weitere Bedeutungsebene erfuhr der Begriff mit der Ausbreitung des Christentums, dessen Anerkennung und schließlich dessen Status als Staatsreligion. Dabei erscheint es nicht verwunderlich, dass zunächst die Christen selbst als Barbaren bezeichnet und ihnen Gottlosigkeit und misanthropia vorgeworfen wurden. 236 In den stereotypen Barbarendiskursen gehörten die Abgrenzung von ,Anderen‘ durch deren religiöse Bräuche und Sitten fest in den Kriterienkatalog ethnographischer Exkurse. Insbesondere Bräuche, die mit den pagan-römischen Vorstellungen nicht in Einklang gebracht werden konnten, wurden unmenschlich und barbarisch dargestellt. 237 Mit dem Aufkommen des Christentums als neue Religion in der antiken Welt wundert es nicht, dass dessen Anhänger zunächst von der klassisch-paganen Welt als Barbaren bezeichnet wurden. So berichtet Eusebius vom 4. Jahrhundert an rückblickend, dass Origenes (185– 254 n.  Chr.) zum ,barbarischen Götterkult‘ konvertiert sei. 238 Allerdings scheinen die 232 Cic. Verr. 2,2,40: Neque tam barbari lingua et natione illi, quam tu natura et moribus […]. „Weder in ihrer Sprache noch in ihrem Menschenschlag, sind diese so barbarisch, wie du es bist in Charakter und Benehmen.“; vgl. Cic. Phil. 3,15: […] quam barbarus, quam rudis! „[…] wie barbarisch, wie dumm!“ 233 von Rummel 2007, 66; Ferris 2000, 17–18; Dauge 1981, 400. 234 Zum Beispiel Veg. mil. 1,15,20; vgl. Rugullis 1992, 45; Wood 2011, 40. 235 Steinacher 2016, 17; vgl. Ohnacker 2003, 76 f. 236 Jüthner 1923, 87–90. 237 Darunter zählen z. B. Menschenopfer, vgl. bei Tac. Germ. 9,1. 238 Eus. h. e. 6,19,7.

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frühen Kirchenväter die Bezeichnung ‚barbarisch‘ nicht als Beleidigung hinzunehmen, sondern bekennen sich selbst zu ihrer ‚babarischen Philosophie‘, die sie verbreiten. 239 Der pejorative Begriff ,barbarisch‘ wird bewusst aufgegriffen und seine Bedeutung in eine positive Eigenschaft gedreht. Die frühen Kirchenväter definieren sich als ,Andere‘, die der wahren Philosophie folgen und daher ,weise Barbaren‘ sind. Spätestens mit der Anerkennung des Christentums als religio licita unter Konstantin dem Großen und der Erklärung zur Staatsreligion unter Theodosius wandelt sich dieses Bild. 240 Ähnlich wie aus barbarischen Römern eine zivilisierte Identität konstruiert werden muss, wandelt sich das ,barbarische Christentum‘ zur anerkannten und zivilisierten Religion. Insbesondere im Rahmen der spätantiken inner-christlichen Auseinandersetzungen und Glaubensdispute werden Andersgläubige im literarischen Diskurs deutlich abgegrenzt und dadurch zu einer christlichen ‚In-Group‘, die nach dem nizänischen Bekenntnis agiert, formiert. 241 Diese Innengruppe ,katholischer‘ Christen erklärt nun ihrerseits alle andere Bekenntnisse als häretisch. Dies ist insbesondere mit dem Wandel der senatorischen Aristokratien im Römischen Reich zu erklären, die sich mehr und mehr dem Christentum zugewandt haben. 242 Zu den traditionellen Barbarendiskursen kam eine neue Komponente hinzu: haeresis und paganus wurden zu Synonymen für barbarus. 243 Dennoch scheint es, dass mit der fortschreitenden Desintegration des Römischen Reiches und damit einhergehend mehr und mehr nicht-römische militärische Verbände, die nun ‚innerhalb‘ des Römischen Reiches agierten, die stereotypisierte Darstellung von Barbaren einen Aufschwung erlebe. Gleichzeitig vermischen sich in der Literatur traditionelle Barbarenbilder mit den Abgrenzungsmechanismen von Häretikern und Heiden. Als Beispiel eignet sich das siebenbändige Geschichtswerk des Orosius, mit dem er an Augustinus’ Gottesstaat anknüpfe. 244 Von seinen eigenen Zeiterfahrungen traumatisiert, deutet er die Geschehnisse seiner Zeit als Strafe Gottes. 245 In der Darstellung einer Geographie seiner Welt orientiert sich Orosius an den traditionellen ethnographischen Barbarendiskursen, 246 den Schrecken seiner Zeit folgend (insbesondere der Plünderung Roms 410 n. Chr. durch gotische Verbände) begreift er Barbaren als Feinde und verwendet zu deren Beschreibung stereotypisches Vokabular. 247 An Augustinus angelehnt, bindet er die römische 239 Siehe hier z. B.: Tat. or. 42,1; Clem. Al. Strom 2,2,5. Zu Tatian sei auf den Sammelband von Nesselrath 2016, der Text und Übersetzung der Rede an die Griechen enthält, verwiesen; zu Clemens von Alexandria, siehe: Osborn 2005. 240 Zum „Mailänder Edikt“, siehe: Schmidt-Hofner 2016b; zum frühen Christentum, siehe die sozialhistorische Studie von Leppin 2018; zur historischen Entwicklung, siehe: Pfeilschifter 2014, 47–120. 241 Zum christlichen Disput, siehe: Brennecke 2014, 1–18; Pfeilschifter 2014, 62–74; für die christliche Transformation von romanitas, siehe: Hen 2018, 67. 242 Hen 2018, 64. 243 Siehe van Acker 1965, 137–140. 244 Oros. hist. 1, Prolog. 245 Zum Barbarenbild von Orosius, siehe: Wood 2011, 40 f.; Ohnacker 2003, 119–129. 246 Oros. hist. 1,2. 247 Beispielsweise Oros. hist. 1,4,2. Ferner nutzt er Adjektive wie terribilis (Oros. hist. 3,6,1; 4,1,6) oder ferox (Oros. hist. 3,14,10), um barbarisches Verhalten zu beschreiben.

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Geschichte in die biblische Geschichtsschreibung ein, wodurch vergangene und rezente Kriege sowie Niederlagen zu von Gott auferlegten Prüfungen werden. 248 Nicht-römischen Anführer scheint Orosius zu akzeptieren, so lange sie Christen sind; der Glaube als Alteritätsmerkmal wird für ihn wichtiger als ethnische Zuschreibungen. Diese kommen dann zum Einsatz, wenn der heidnische Aspekt noch verstärkt werden soll. 249 Wie dieses Beispiel zeigt, können wir in Orosius’ Werken traditionelle Topoi ebenso wie die für das 4. und 5. Jahrhundert immer wichtiger werdende Gleichsetzung von Barbaren und Heiden/ Häretiker nachvollziehen. Ferner habe ich bereits angedeutet, dass Orosius biblische und weltliche Geschichte in einen narrativen Strang vereint, um den eigenen zeitlichen Erfahrungen Sinn zuzuschreiben. 250 Die politischen und sozialen Irritationen, die sich durch das Zusammenleben mit Nicht-Römern, die noch dazu einem anderen Glaubensbekenntnis zugetan waren, ergaben, wurden von manchen christlichen Schriftstellern als Strafe Gottes gedeutet. Insbesondere Berichte, die von kriegerischen Auseinandersetzungen erzählen oder die Plünderungen Roms thematisieren, sind von apokalyptischem Gedankengut durchzogen. 251 Der christliche Alteritätsdiskurs demonstriert ein nuanciertes Barbarenbild, das aufgrund seiner Vielschichtigkeit schwer fassbar ist. Das selektive Beispiel von Orosius gibt kein umfassendes Bild spätantiker Barbarendiskurse, was an dieser Stelle auch nicht notwendig ist. 252 Es erfüllt in diesem Kapitel den Zweck, die multiplen Bedeutungen, die der Begriff in der christlichen Spätantike trägt, aufzuzeigen und verschiedene Optionen darzulegen, wie spätantike-christliche Identitäten verhandelt wurden. Dabei kann das Barbarenbild sowohl als Strafe Gottes fungieren, als auch Häretiker und Heiden als potenzielle Katholiken aufzeigen: Häretisch war keine Zuschreibung auf Dauer. Ähnlich wie im augusteischen Rom der Gedanke bestand, die ,Anderen‘ dem Römischen Reich 248 Vgl. Ohnacker 2003, 122 f. 249 Beispielsweise Oros. hist. 7,37,8–9: […] duo tunc Gothorum populi cum duobus potentissimis regibus suis per Romanas provincias bacchabantur: quorum unus Christianus propiorque Romano et […] alius paganus barbarus et vere Scytha […]. „[…] daraufhin wüteten zwei gotische Verbände, die von zwei sehr fähigen reges angeführt wurden durch die römischen Provinzen: von denen war einer ein Christ und im Wesen ein Römer und der andere war heidnisch, barbarisch und ein wahrhaftiger Skythe.“ Dass Alarich dem arianischen Bekenntnis folgt, verschweigt Orosius vermutlich bewusst, um den Gegensatz christlich –  heidnisch zu verstärken. Vgl. Wood 2011, 40, der die Annahme vertritt, dass Orosius mit dieser Aussage Stilicho mit Radagaisus vergleicht. Unklar bleibt bei dieser Interpretation, warum Stilicho in einer ekstatischen Raserei (bacchari) durch das Römische Reich ziehen sollte. 250 Vgl. Becher/Hess 2021, 9–23; siehe ferner: Brown 2014, 434. 251 Ein weiteres Beispiel ist Salv. gub. 1,4,17, der in dieser Weise die Plünderung Triers 406 n. Chr. deutet. 252 Siehe Wood 2011, 42. Ian Wood beschreibt das Barbarenbild Salvians als „unique“. Obgleich ich Wood zustimme, dass Salvian von Marseille sehr eigentümlich ist und sein Barbarenbild ebenso wie seine Perzeption von romanitas nicht ausgiebig erforscht sind, finden sich auch in Salvians Werk typische Barbarenbilder mit ethnischer, kultureller sowie moralischer Ebene, die ihn weniger eigentümlich erscheinen lassen, als es der erste Blick vermuten lässt.

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einzuverleiben oder auszulöschen, ist bei den christlichen Literaten der Bekehrungsanspruch und Verbreitungsanspruch des katholischen Glaubens über den Erdkreis erkennbar. 253 1.5.7

Identitäten und Alteritäten im antiken Barbarendiskurs

In der Einleitung wurde die Hypothese formuliert, dass Barbaren in der antiken Literatur instrumentalisiert wurden, um eigene Identitäten und Zugehörigkeiten zu verhandeln, was mit diesem kleinen Abriss durchaus bestätigt wurde. Folgen wir diesen theoretischen Annahmen, können wir nachstehende Rückschlüsse ziehen: Erich S. Gruen ist in seinem Postulat zuzustimmen, dass wir antike Zuschreibungen von Alteritäten nuancierter und differenzierter betrachten müssen, wobei uns die Annahmen von Edward Said, Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha helfen können. Insbesondere in stereotypisierten Barbarendiskursen treten die barbarischen ,Anderen‘ als Gegensatz einer zivilisierten hellenischen oder römischen Kultur auf. Es handelt sich um eine Antithese von humanitas und immanitas, wobei Barbaren nicht immer externae gentes sein müssen, sondern als ursprüngliche Mitglieder einer Gemeinschaft auftreten können, die durch ein fehlerhaftes Verhalten – oder allgemeiner, durch ein Verhalten, das den gemeinschaftlichen Faktoren der ‚In-Group‘ nicht entspricht – ausgegrenzt werden. In diesem Alteritätsdiskurs wird das ,Selbst‘ als überlegen und dominant repräsentiert (Edward Said) und bleibt ohne Stimme (Gayatri Spivak). Wie die Entwicklung des antiken Barbarendiskurses gezeigt hat, befinden sich Menschen und ihre ‚Lebenswelten‘ in einem stetigen Wandel (Homi K. Bhabha). Aus Barbaren wurden Römer, aus barbarischen Christen eine Staatsreligion und aus barbarischen gentes christliche regna, die sich als Nachfolgereiche Roms begriffen. 254 In diesen Prozessen erscheinen Barbaren als ‚Hilfsmittel‘, um sich der eigenen Identitäten bewusst zu werden. Dabei hatten Hellenen und Römer mehrere Optionen, wie sie ,Anderen‘ begegneten (Emmanuel Levinas). Diese Optionen spiegeln sich im antiken Quellenbefund sowie in der politisch-kulturellen Geschichte der Hellenen – Römern – ‚Anderen‘ wider. Eingangs habe ich postuliert, dass Traditionen einen bedeutenden Faktor in den antiken Alteritätsprozessen einnahmen, da sie Beispiele für und Rückgriffe auf die eigenen Lebenssituationen ermöglichten. Insbesondere literarische Traditionen sind aus der Retrospektive für uns greifbar und diskursanalytisch untersuchbar. Allerdings gehe ich davon aus, dass diese literarischen Traditionen nicht ,nur‘ Literatur waren, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die lebensweltlichen Perzeptionen eines Autors reflektieren. Dies muss von Einzelfall zu Einfall untersucht werden, wie beispielsweise an den Briefen des Sidonius Apollinaris. Zusammenfassend ist festzustellen, dass viele der antiken Quellen eine klare Distinktion zwischen der zivilisierten Welt und der barbarischen Welt

253 Zum Beispiel Aug. civ. 17,19; Hier. epist. 60,4; Alc. Avit. epist. 42,11 (= Peiper 46). 254 Siehe Collins 2008.

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zeichnen. 255 Barbaren und barbarisch sind vielmehr als ein ideeller Gegensatz zum ,Selbst‘ zu sehen. In der Antike ist ein ‚Barbar‘ immer ein ,Anderer‘, aber ein ‚Anderer‘ ist nicht immer ein ,Barbar‘.

255 Gehrke 2000, 88: „Kurzum, es ist ein klares und eindeutiges Bild vom Wir und dem Anderen, eine Dichotomie globalen Ausmaßes, die uns die Griechen hinterlassen haben und die wir tiefsinnig und liebevoll ausgebaut haben.“

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2. Gallien im 5. Jahrhundert Hac tempestate valde miserabilis rei publicae status apparuit, cum ne una quidem sit absque barbaro cultore provincia et infanda Arrianorum haeresis, quae se nationibus barbaris miscuit, catholicae nomen toto orbe infusa praesumat. 1 Durch diesen Sturm ist der äußerst miserable Zustand des Staates offensichtlich geworden, weil nicht einmal mehr eine einzige Provinz ohne barbarischen Bewohner existiert und der verhasste Irrglaube der Arianer, der sich unter den barbarischen Scharen verbreitet hatte, sich den katholischen Namen anmaßt, nachdem er sich über die ganze Welt ergossen hat. So lauten die Worte eines anonymen gallischen Chronisten, der im Jahr 452 die Situation in Gallien 2 beschreibt. Für ihn ist der Zustand des Staates beklagenswert, ausgelöst durch 1 Chron. Gall. chron. I 138. Zur Gallischen Chronik von 452, siehe: Kötter/Scardino 2017, 3–176, hier bes. 172 f. 2 Mit Gallien oder Gallia ist spezifisch das Gebiet der dioecesis Galliarum und dioecesis Viennensis gemeint und nicht die gallische Präfektur, die Hispanien und Britannien einschließen würde. Für einen ausführlichen historischen Überblick zu Gallien in dieser Zeit sei stellvertretend auf die Monographie von Delaplace 2015 sowie auf die Sammelbände von Mathisen/Shanzer 2001; Drinkwater/Elton 1992; Diefenbach/Müller 2013 verwiesen. Ferner bietet der Ausstellungskatalog, der von Waurick (1980) herausgegeben wurde, einen ersten Überblick. Die Frage nach „Collapse“ oder „Decline“ am Beispiel Galliens steht im Aufsatz von Svante Fischer und Lennart Lind im Fokus: Fischer/Lind 2017, 105–124. Einen Schwerpunkt auf Aquitanien legen die Monographien von Bouet 2015 und Rouche 1979. Mit der Auvergne, speziell auf Grundlage der Werke des Sidonius, hat sich Prévot 1999, 68–80 beschäftigt. Als erste, die sich außerhalb von Überblicksdarstellungen spezifischer mit Gallien beschäftigte, muss Émilienne Demougeot erwähnt werden. In ihrer Dissertationsschrift De l’unité à la division de l’Empire romain, von den eigenen Kriegserfahrungen beeinflusst, nimmt sie eine deutlich pessimistische Sicht auf ,die Germanen‘ und deren Invasion in Gallien ein (Demougeot 1951). Ferner muss ihrer zweibändigen Darstellung mit dem Titel La Formation de l’Europe et les Invasions Barbares, die als Synthese ihrer Forschung anzusehen ist, Beachtung geschenkt werden. Besonders im zweiten Band, indem u.  a. die Geschehnisse des 5. Jahrhunderts referiert werden, rücken die gallischen Provinzen im Rahmen der Rheinüberquerung sowie der visigotischen Herrschaft in Gallien erneut in den Mittelpunkt ihrer Studie (Demougeot 1979, 121–149, 464–481). Zu Recht behauptet Christine Delaplace, dass die Anzahl der Forschungsarbeiten zu Gallien im Rahmen des steigenden Interesses zu nicht-römischen gentes seit den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zugenommen habe, wobei diese vorwiegend englischsprachig geprägt gewesen seien (stellvertretend siehe: Whittaker 1994; Mathisen 1993; 1991; Elton 1992; Sivan 1983; Goffart 1980). Doch auch die deutschsprachigen Forschungsarbeiten erlebten in Bezug auf Gallien einen kleinen Höhepunkt. So beispielsweise die Arbeiten von Eugen Ewig, dessen gesammelte Schriften zu einem Sammelband mit dem Titel Eugen Ewig. Spätantikes und fränkisches Gallien von seinem Schüler Hartmut Astma (Astma 1976) herausgegeben wurde.

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Gallien im 5. Jahrhundert

Abb. 2: Wichtige Städte im spätantiken Gallien (moderne Namensgebung) (© Autorin)

den „Sturm von Barbaren“, die nun die Provinzen des Reiches besiedeln und noch dazu dem arianischen Glauben angehören, was für den Chronisten als Häresie aufgefasst wird (Abb. 2). Im Hintergrund schwingt die sicherlich übertriebene Angst mit, der Arianismus könne die katholische Kirche umschließen. Besonders in Gallien, das in der Forschung als „Knotenpunkt“ im 5. Jahrhundert bezeichnet wird, ist die Teilung beziehungsweise Zerstückelung des Reiches deutlich. 3 Die zu dieser Zeit geborene Bevölkerung hat das Gebiet nie als politische Einheit gekannt und hat stets in Ungewissheit darüber gelebt, wer als Nächstes die Macht in der Provinz ergreifen würde. 4 Obgleich den jüngeren Ansätzen der Forschung, das 5. Jahrhundert als Zeit der Umgestaltung sowie Veränderung und nicht als Untergangs- und Katastrophenzeitalter zu betrachten, gefolgt wird, kann nicht bestritten werden, dass sich die militärische Ferner sind die Arbeiten von Martin Heinzelmann zur gallischen Prosopographie oder Bischofsherrschaft in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden (Heinzelmann 1983; 1976) sowie die Dissertation von Peter Gassmann (Gassmann 1977) zum Episkopat in Gallien zu nennen. Die Abhandlung zum senatorischen Adel in Gallien von Karl Friedrich Stroheker (Stroheker 1970) ist bis heute eine grundlegende Arbeit zur Erforschung der gallischen Aristokratie. 3 Banniard 1992, 413. 4 Périn/Kazanski 2011, 299; Gualandri 2000, 105; Chadwick 1955, 13; zur politischen Einheit: Harries 1994, 1; Mathisen 1993, IX.

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Situation speziell im Westen des Römischen Reiches zugespitzt hatte. 5 Im Jahr 406/407 kam es zu einem Ereignis, das heute als ‚Rheinübergang‘ oder als ‚Invasion über den Rhein‘ bekannt ist. 6 Wie diverse Quellen berichten, überquerten Verbände von Vandalen, Alanen und Sueben am letzten Tag des Jahres 406 bei Mainz den Rhein und breiteten sich dann in Gallien und Hispanien aus. Über die genauen Hintergründe schweigen die Quellen jedoch. 7 Für Orientius von Auch scheint die Welt zugrunde zu gehen und ganz Gallien in Flammen zu stehen: 8 lassa senescentem respectant omnia finem | et iam postremo volvitur hora die […] per vicos, villas, per rura et compita et omnes pagos, totis inde vel inde viis, mors dolor excidium incendia luctus: uno fumavit Gallia tota rogo. 9 Alles erwartet müde das alternde Ende / und schon läuft die Stunde des letzten Tages ab […] durch die Dörfer, die Gehöfte, durch das Land, die Kreuzungen und durch alle Gaue hinweg, auf allen Wegen von hier oder von dort, fanden sich Tod, Schmerz, Zerstörung, Elend, Feuer und Klagen: Ganz Gallia qualmte wie auf einem einzigen Scheiterhaufen. In der Darstellung des Orientius hat die letzte Stunde für die Menschen in Gallien geschlagen und die einzige Hoffnung auf Erlösung findet sich im Jenseits. Wie nah das Ende der Welt sei, beschreibt auch Eucherius von Lyon. Um Erlösung im Jenseits 5 Einen Überblick auf aktueller Forschungsgrundlage bietet Steinacher 2016, 31–98, jedoch mit einem Schwerpunkt auf der vandalischen Geschichte. Einen Fokus auf die gotisch-römischen Verhältnisse findet sich bei Delaplace 2015, 45–281; Kulikowski 2007, 100–177. Unlängst hat Christian Stadermann die Darstellung der Goten in narrativen Quellen im spätantiken und frühmittelalterlichen Gallien studiert und seine Ergebnisse als Monographie vorgelegt (2017). Wichtige Einsichten zur gotischen Geschichte bietet auch Hans-Ulrich Wiemer in seiner Biographie über Theoderich den Großen: Wiemer 2018, 61–98. Noch immer als Standardwerk zur gotischen Geschichte ist Wolfram 1979a zu betrachten. 6 Steinacher 2016, 51–52 weist auf die Ungenauigkeit der Quellen bezüglich der Datierung des ‚Rheinüberganges‘ hin, für die auch der letzte Tag des Jahres 405 angenommen werden könnte. Er selbst spricht sich für den 31. Dezember 406 aus. Zu einem anderen Entschluss kommt Delaplace 2015, 131, die aufgrund der Zeugnisse des Prosper von Aquitanien und einem Brief des Hieronymus den Übergang auf den 31. Dezember 405 n. Chr. datiert und sich somit Kulikowski 2000, 327 anschließt. 7 Hier. epist. 123; 125; Orient. comm. 2,161–172; Zos. 6,3,1. Zum ‚Rheinübergang‘ und zur Quellenlage, siehe: Steinacher 2016, 49–52; Pohl 2005, 74  f.; vgl. Brown 2014, 387 f. Interessant ist Peter Browns Annahme, dass die Gruppierungen sich nicht nach Süden „durchgekämpft“ hätten, sondern sie dort waren, weil Konstantin (III.) sie dort brauchte. Für ihre Dienste wurden sie nach Brown mit der Erlaubnis zu plündern bezahlt, wie es in Bürgerkriegen üblich gewesen sei. Weitere Quellenbeispiele, die die zeitgenössische Wahrnehmung des Ereignisses belegen, finden sich bei Courcelle 1964, 79–90. 8 Siehe hierzu: McLynn 2009. Neil McLynn hat die Signifikanz der literarisch poetischen Darstellungen wie die des Orientius von Auch relativiert und deren poetischen Wert hervorgehoben. 9 Orient. comm. 2,163–184.

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zu erfahren, sei allerdings ein Leben in Askese und Abgeschiedenheit nötig, wie er es in einem Brief an seinen Verwandten Valerian beschreibt. 10 Friedrich Prinz betrachtet in den 1960er Jahren Lerinum als Rückzugsort gallischer Aristokraten und Ralph Mathisen legt dar, dass sie sich in der Zurückgezogenheit des Klosters ihren aristokratischen Interessen wie den literarischen Studien widmen konnten. 11 Die Hintergründe solcher Narrative bilden die apokalyptischen Darstellungen zeitgenössischer Autoren wie diejenigen des anonymen gallischen Chronisten von 454, des Hieronymus, des Orientius von Auch oder des Eucherius von Lyon. Doch die Bilder, die diese vom nahenden Weltuntergang zeichnen, sind poetischer Natur und dürfen nicht wörtlich verstanden werden. 12 Allerdings darf auch nicht negiert werden, dass das 5. Jahrhundert für die gallischen Provinzen als ein chaotisches bezeichnet werden kann. Während dessen schritt die Desintegration des westlichen Römischen Reiches immer weiter fort. Der römische Heermeister Stilicho 13 war von der Rheingrenze wegbeordert worden, um in Italien gegen plündernde gotische Verbände unter Alarich vorzugehen. 14 Die Verteidigung des Rheines wurde fränkischen und alemannischen Verbänden überlassen, die als foederati in dieser Grenzregion fungierten. 15 Die Einfälle um die Jahreswende 406/407 waren nicht die einzigen Ereignisse, die die gallischen Provinzen trafen. 10 Eucher. epist. ad Val. 714B; 722C–D; 724C–725C. Für Eucherius konkret bedeutete dies den Rückzug in die Klostermauern von Lérins. Obgleich er ein Leben als Einsiedler wählte, wurde er um 434 n. Chr. zum Bischof von Lyon gewählt. Er stand in brieflichem Austausch mit Paulinus von Nola, Claudianus Mamertus, Johannes Cassianus, Hilarius von Arles und Sidonius Apollinaris, vgl. Greschat 2007, 322–324. Zum literarischen Zirkel von Lérins, siehe: Mathisen 1981, 104–106. Eine intensive Auseinandersetzung mit Eucherius’ De contemptu mundi findet sich bei Courcelle 1968. Einen Vergleich mit Erasmus’ Abhandlung Contemptus mundi bietet Rummel 1983. 11 Mathisen 1989, 85–92; Prinz 1965, 56. 12 Insbesondere der Einfluss der Vier-Reiche-Lehre aus dem Buch Daniel ist nicht zu unterschätzen; vgl. Dan. 2,7. 13 Bleckmann 1997, 561. Wolfram 2005, 56: Stilicho war der Sohn eines Vandalen und einer Römerin, der im Umfeld des theodosianischen Hauses aufgewachsen war. Als magister militum unter Theodosius I. kämpfte er in der Schlacht am Frigidus 394 n. Chr. Herwig Wolfram bezeichnete ihn als „vollkommen integriert“. Für Stilicho siehe: PLRE II, 1033. 14 Die Arbeit hat nicht zum Ziel, eine umfassende Geschichte der Goten, Burgunder oder Franken zu referieren, sondern wird lediglich auf wichtige Eckdaten eingehen, die für das Verständnis der Arbeit als relevant erscheinen. Aufgrund der Fülle der Literatur, die sich mit der ausführlichen Darstellung einzelner gentes beschäftigen, werden an dieser Stelle stellvertretend folgende Werke genannt: Goten: Delaplace 2015; Teillet 22011; Wolfram 2018; 2005, 198–254; 1979a; Kazanski 1992; Rouche 1979; Burgunder: Escher 2005; Kaiser 2004; Perrin 1968; Vandalen: Steinacher 2016; Modéran 2014; Vössing 2014; Franken: Becher 2011; Fehr 2010; Nonn 2010; Périn/Feffer 1987. Einen kurzen Überblick zu einzelnen Gruppierungen bietet beispielsweise Mitchell 2009, 191–225. Mischa Meier zeichnet in seiner Geschichte der Völkerwanderung (Meier 32020) nicht mehr die angeblichen Wanderungsbewegungen einzelner gentes nach, sondern untersucht das Transformationsgeschehen nach regionalen Gesichtspunkten. 15 Steinacher 2016, 50 f. vermutet, dass es sich bei den Rheininvasoren, die er als „polyethnischer Heerhaufen“ bezeichnet, um Angehörige des römischen Militärs gehandelt haben muss, die mit dessen Strukturen vertraut gewesen wären. Zu Föderaten und deren Funktion im militärischen Heeresverband, siehe: Scharf 2001, 69–90.

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Innerhalb kurzer Zeit wurden in der Britannia drei Usurpatoren vom Heer ausgerufen, was die Unruhen im römischen Heer sowie den Machtfaktor des Militärs zu dieser Zeit unterstrich. 16 Kon­stantin (III.), der zuletzt ernannte Usurpator (407 n. Chr.), setzte mit seinen Truppen nach Gallien über und konnte bald die gesamte Präfektur Gallia unter seine Herrschaft bringen. 17 Obwohl dies den Fokus Kaiser Honorius’ und seines Heermeisters Stilicho auf den Usurpator in Gallia lenkte, war die Situation in Italia dringlicher. 18 Es war erneut ein erbitterter Bürgerkrieg im westlichen Teil des Römischen Reiches entbrannt, während dessen Verlauf Honorius seinen eigenen Feldherrn Stilicho (408 n. Chr.) ermorden ließ, was wiederum zum Abfall nicht-römischer Soldaten führte, die sich den Truppen Alarichs anschlossen. 19 Alarich, der Anführer einer kriegerischen Gruppierung, die in den Quellen seit dem 6. Jahrhundert als Vesegothas 20 bezeichnet wird, sah sich für seine Föderatendienste nicht 16 Zunächst wurde Marcus, der zu diesem Zeitpunkt vermutlich comes Britanniarum war, zum Herrscher ausgerufen. Bereits nach wenigen Monaten aber wurde er wieder gestürzt und durch Gratian ersetzt. Bereits vier Monate später wurde Konstantin (III.) in Britannien zum Kaiser ausgerufen. Diese Vorgänge sind bei Olymp. fr. 13,1–2 sowie Zos. 6,2,2–3,1 überliefert. Zu Marcus siehe: PLRE II, 719 f. unter Marcus 2. Zu Gratian siehe: PLRE II, 518 f. unter Gratianus 3. Zum spätantiken Heer ist nach wie vor Lee 2007 sowie Le Bohec 2006 zu empfehlen; grundlegend ist ferner: Elton 1996b. Mit den Urspuationen in der Spätantike hat sich Joachim Szidat eingehend beschäftigt: Szidat 2010, bes. 205–256, 341–356. 17 Zur Herrschaft Konstantins (III.) in Gallia siehe: Meier 32020, 377–384; Delaplace 2015, 132–135; Drinkwater 1998, 271–287; Demougeot 1988, 171–214. Zu Konstantin (III.) siehe: PLRE II,316f. unter Fl. Claudius Constantinus 21. Sidonius Apollinaris erwähnt ihn in epist. 9,1. 18 An dieser Stelle kann nicht ausführlicher auf die Bürgerkriege zu Beginn des 5. Jahrhunderts eingegangen werden. Ein erster Überblick speziell zur gallischen Situation findet sich in den Artikeln von Wijnendaele 2018; Bleckmann 1997 und Drinkwater 1998, dessen Einschätzung zu den Ereignissen um Konstantin (III.) den Lesern nicht vorenthalten werden sollte: „The story is anyway very complex; and its reconstruction is made difficult by scarce sources. As a result, modern accounts are hard to follow […].“ Speziell mit der Rolle der gotischen Anführer in den Bürgerkriegen befasste sich Delaplace 2015, 99–162. 19 Dieses Ereignis ist mit dem überraschenden Tod von Arcadius 408 n. Chr. in Zusammenhang zubringen. Dessen Sohn, Theodosius II. (408–450 n.  Chr.), noch ein Kind, folgt ihm auf den Thron nach. Der Kaiserhof im Westen des Römischen Reiches war auf den mächtig gewordenen Stilicho als Gegengewicht zum oströmischen Kaiserhof nicht mehr angewiesen. Honorius war nun der senior Augustus. Zum Sturz des Stilicho siehe: Börm 2013, 49–51; Delaplace 2015, 139; Wolfram 2018, 216. 20 Beispielsweise Jord. Get. Iord. Get. 30; 33; 35–48; 56; 58. Procop. Vand. 1,2. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Nomenklatur ,Westgoten‘ um einen anachronistischen Begriff handelt, der sich jedoch in Deutschland umgangs- sowie forschungssprachlich eingebürgert hat. Richtiger wäre es den Quellen zufolge, erst von terwingischen Goten, dann von den Visigoten zu sprechen, siehe hierzu: Heather 1991, 331–333 sowie Wolfram 1979a, 30–36 mit zahlreichen Quellenbelegen. Obwohl sich der Begriff ,Westgoten‘ in der Forschung etabliert hat, wird in dieser Arbeit der Bezeichung ,Visigoten‘ Vorrang gegeben. Sidonius selbst verwendet gothi als Bezeichnung, weshalb auch der Begriff ,Goten‘ allgemein für die in Gallien und Spanien siedelnde Gemeinschaft verwendet wird. Zur Frage, ob Alarich ein dux oder rex war, sei auf Delaplace 2015, 102–110 verwiesen. Delaplace legt dar, dass die Bezeichnung rex, die seit dem 5. Jahrhundert gebräuchlich wird, um nichtrömische Anführer zu benennen, eine römische Titulatur sei und nichts darauf hindeute, dass

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genügend entlohnt. Aus diesem Grund kam es zwischen ihm und den römischen Heermeistern zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. 21 Die Quellen berichten, dass Alarich nicht nur Aquileia und Mailand belagert haben soll, sondern ab dem Jahr 401 plündernd durch Italien zog. Diese Plünderungen fanden ihren Höhepunkt im Jahr 410, als er mit seinen Gefolgsleuten selbst vor Rom nicht haltmachte. 22 Die Plünderung Roms erschien zeitgenössischen Autoren wie das Ende der Welt: Postquam uero clarissimum terrarum omnium lumen exstinctum est, immo Romani imperii truncatum caput et […] in una urbe totus orbis interiit […]. 23 Nachdem jedoch das allerhellste Licht des ganzen Erdkreises ausgelöscht worden war, war in der Tat das Haupt (der Mittelpunkt) des Römischen Reiches abgeschlagen worden, und […] zusammen mit einer Stadt ist die ganze Welt untergegangen. Ganz so dramatisch, wie von Hieronymus dargestellt, kam es nicht. 24 Dennoch ist nicht abzustreiten, dass in dieser Zeit nicht-römische Gruppierungen ihren Weg in das

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diese Bezeichnung bei den Visigoten bekannt gewesen wäre (siehe 109). Ferner kann sie anhand eingehender Quellenanalysen belegen, dass Alarich wohl nicht vor dem Jahr 401 zum Anführer der Visigoten gewählt worden war und dieser in den Quellen bis zum 6. Jahrhundert vorwiegend als dux bezeichnet wurde. Erst im 6. Jahrhundert verwendet die gotische Geschichtsschreibung für Alarich systematisch die Titulatur rex (ebd. 110), siehe ferner: Zerjadtke 2019, 79 f., der für die Bezeichnung Alarichs’ als dux Claudian und Cassiodor als einzige Quellen benennt. Für Michael Zerjadtke steht dies in einem Zusammenhang mit der militärischen Führungsposition, die Alarich einnahm. Dies begründe der Autor damit, dass Alarich im Zuge der Eroberung Roms die „herausgehobene Stellung“ eines rex nicht zustände. Er weist ferner darauf hin, dass Alarich zweimal den Rang eines magister militum erhielt. Die Auseinandersetzung von Alarich und seiner Gefolgschaft mit dem Römischen Reich begann bereits 378 n. Chr. mit den thrakischen Gotenkriegen unter Valens, in denen die gotischen Verbände noch von Fritigern angeführt wurden. Herwig Wolfram bezeichnet dieses Jahr aus Beginn der 40-jährigen westgotischen Wanderung (Wolfram 2005, 94). Einen noch immer lesenswerten Überblick bis zur Plünderung Roms, der mit zahlreichen Quellen illustriert wurde, bietet Courcelle 1964, 31–56. Einen Überblick bieten ferner Meier 32020, 183–223; Wolfram 2018, 198–220. Grundlegend ist ferner Delaplace 2015, insb. 99–150. Wieser 2013, 672. Mit der Plünderung Roms haben sich Mischa Meier und Steffen Patzold im Rahmen einer Monographie (Meier/Patzold 2008) sowie im Jahr 2010 die Teilnehmer einer interdisziplinären Fachtagung, deren Beiträge in dem von Johannes Lipps, Carlos Machado und Philipp von Rummel herausgegeben Sammelband (Lipps u. a. 2013) veröffentlicht worden sind, befasst. Hier. in Ezech. 75,3. Vgl. Courcelle 1964, 245, der jedoch die Verbesserung der Beziehung darauf zurückführt, dass Alarich bei der Plünderung Roms Kirchen verschont und damit der römischen Welt gezeigt habe, dass sie anpassungsfähig wären: „En l’espace de sept ans, pendant lesquels la situation politique paraît s’améliorer, cette active propagande obtient son effet; on ne craint plus ni la fin du monde, ni la fin de l’Empire chrétien. Un grand espoir est né: les invasions n’auront d‘autre résultat que la conversion et l’assimilation des Barbares […].“

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Römische Reich gesucht und gefunden haben, was nicht immer friedvoll vonstattengegangen sein kann: An den römischen Grenzen und später auch innerhalb dieser, formierten sich als gentes organisierte Heere (exercitus), die ihren Platz am römischen Tisch nicht nur durch Einladung oder Integration, sondern auch durch schlichte militärische Gewalt bekamen. 25 Dabei bestärkten das militärische Vorgehen und die gemeinsamen Ziele die Konstruktion einer gemeinsamen ‚Lebenswelt‘, die über soziale Interaktion und Kommunikation zur Bildung von Identitäten geführt hat. Den ,elitären Anführern‘ wird dabei von Roland Steinacher und Walter Pohl eine tragende Rolle zugeschrieben. 26 Das Verhältnis zwischen den gotischen Anführern und dem westlichen Kaiserhaus verbesserte sich in den kommenden acht Jahren. Ob dies an der vermeintlich geraubten Galla Placidia lag, der Schwester des Kaisers Honorius, die mit Athaulf, dem Nachfolger Alarichs, verheiratet wurde, oder ob dies dem zeitgleichen Bürgerkrieg geschuldet war, ist letzten Endes nicht von großer Relevanz. 27 Was zählte, war das Ergebnis. Acht Jahre nach der Plünderung Roms und nachdem Galla Placidia 28 von Vallia, dem Nachfolger Athaulfs, zurückgegeben worden war, kam es zu Verträgen mit dem römischen Heermeister Constantius. Dadurch wurden die Goten schließlich offiziell in Gallien sesshaft und konnten aus heutiger Sicht das ,Tolosanische Königreich‘ gründen. 29 Die Annahme, dass es sich zu diesem Zeitpunkt bereits um ein Königreich gehandelt habe, ist den zeitgenössischen 25 Steinacher 2009, 273. 26 Steinacher 2009, 273; Pohl 1998b, 70. 27 In Gallien war zu dieser Zeit der gallo-römische Aristokrat Jovinus zum Kaiser ausgerufen worden, der von burgundischen und alanischen Truppen unterstützt worden war. Visigotische Verbände unter Athaulf gingen jedoch erfolgreich gegen den Usurpator vor, der sich 413 in Hispanien aufhielt. 28 Galla Placidia wurde daraufhin mit dem Feldherrn Constantius verheiratet. Zu ihrer Person siehe: Mareike Tonisch, Galla Placidia. Magisterarbeit an der Universität Heidelberg (unpubl.) sowie die Biographie von Sivan 2011. 29 Isid. Goth. 23 chron. II. Mitchell 2009, 204; Wolfram 1979a, 207  f. Heather 1991, 224 ist der Meinung, dass mit dem Vertrag von 418 die Goten die Anerkennug ihrer Unabhängigkeit in Gallien erwirkt haben. Delaplace 2013, 35‒41 vertritt die Meinung, dass es sich bei den Verträgen von 418 nicht um einen foedus, sondern lediglich um eine „statut d’auxiliaires“ gehandelt habe (ebenso in Delaplace 2015, 186). In ihrer Monographie von 2015 verdeutlicht sie diese These durch ihre Vermutung, dass selbst der spätere foedus von 439 eine Erneuerung der Verträge aus dem Jahr 416 sei (siehe 193 f.). Die Zuteilung von Land in den Jahren 418/419 wäre eine militärische Einigung gewesen (siehe 177–179). Die Visigoten wären demzufolge als militärische Einheiten zur Unterstützung der römischen Armee in Gallien angesiedelt worden. Esmonde Cleary 2013, 358 spricht sich für die Gewährung von hospitalitas für die Visigoten im Jahr 419 aus; Schwarcz 2001a, 15–18 datiert die Ansiedlung ebenfalls auf das Jahr 419 n. Chr. Hagith Sivan bezeichnete die Visigoten als „watch dogs“ in Aquitania (Sivan 1983, 18) und weist darauf hin, dass keine einzige Quelle, welche die Niederlassungen der Goten im Jahr 418 n. Chr. – an dieser Stelle sei es erlaubt 419 n. Chr. zu ergänzen – direkt bezeugt, überlebt habe (siehe 88).

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Quellen geschuldet, die von reges Gothorum berichten. 30 Jedoch handelt es sich bei dem rex-Begriff um eine römische Bezeichnung, die allgemein auf nicht-römische Anführer, die als Föderaten mit ihren Truppen für Rom kämpften, angewandt wurde. 31 Auf welcher Rechtsgrundlage sämtliche Ansiedlungen erfolgten, ist immer noch Diskussionsgegenstand der Forschung, wobei die Annahme von Christine Delaplace, dass die Betreffenden den Föderatenstatus erhielten, mir am plausibelsten erscheint. 32 Dies bedeutet keinesfalls, 30 Zum Beispiel Sidon. epist. 7,6,4; Hyd. chron. 166; 173. 31 In der Forschung herrscht diesbezüglich eine intensive Diskussion, deren bisheriger Lösungsansatz darin besteht, die föderatischen Anführer als ,Warlords‘ eines Gefolges zu bezeichnen und somit das Problem eines fingierten Königtumes zu umgehen. Nicht verleugnet werden kann jedoch, dass das Amt des ,Warlords‘ zu einer monarchischen Position innerhalb eines spezifischen Machtgefüges transformierte, weshalb besonders die Mittelalterforschung den Begriff des ,Warlords‘ ablehnt. Michael Kulikowski schlägt vor, die visigotischen bzw. burgundischen Machthaber als Art römischer „Klientelherrscher“ zu betrachten (Kulikowski 2013, 81–83). Diesem Ansatz wird in dieser Arbeit den Vorzug gegeben, da er gut auf Visigoten anwendbar erscheint, die zwar im Namen Roms handelten, aber trotzdem versuchten, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Christine Delaplace hingegen sieht die nicht-römischen Gruppierungen als autonom an, mit denen das Römisch Reich zwar Verträge abschloss, die aber dennoch stets ihre eigenen Interessen durchsetzten und als eigenständige Gemeinschaften agierten (Delaplace 2015, 65). Ihr wird jedoch in der Hinsicht gefolgt, dass der Begriff rex nicht automatisch mit einem regnum gleichzusetzen ist. Denn die Bezeichnung regnum im Sinne eines (König-)Reiches für die Ansiedlung visigotischer Verbände in Aquitanien wird von zeitgenössischen Autoren vermieden. Folglich schließe ich mich der Auffassung von Delaplace an, dass das Tolosanische Reich ab 418 n. Chr. als eine moderne Konstruktion anzusehen ist. Ich stimme jedoch Kulikowski zu, dass die gotischen Anführer als eine Art „Klientelherrscher“ betrachtet werden sollten, die zumindest anfänglich neben den eigenen Interessen auch die Interessen des Imperium Romanum vertraten und zur militärischen Absicherung von Grenzregionen, wie den gallischen Provinzen, beitrugen, wie es beispielsweise bei der Schlacht auf den Katalunischen Feldern (451 n. Chr.) der Fall war. Lediglich ab 477 n. Chr., der Anerkennung Eurichs durch Odoaker, könne es gerechtfertigt werden, von einem Tolosanischen Reich zu sprechen (Delaplace 2015, 167). Zusammenfassend sei festgehalten: Während zu Beginn der Ansiedlungen in den gallischen Provinzen die gotischen Anführer als „Klientelherrscher“ Roms betrachtet werden können, hat sich deren Herrschaftsverständnis mit fortschreitender Desintegration der gallischen Provinzen vom Römischen Reich verändert. Besonders unter der Führung Eurichs kann beobachtet werden, dass dieser von Rom unabhängig agierte und so langsam eine autonome Herrschaft aufbaute. 32 Delaplace 2013, passim. Zu den Ansiedlungen sind noch immer Bachrach 1969 und Thompson 1956 zu konsultieren; weiter auch Sivan 1983, 43–87. Mit der Ansiedlung hat sich v. a. der kanadische Historiker Walter Goffart beschäftigt, der seit seiner Monographie von 1980, bes. 103‒126 immer wieder neue Bücher und Aufsätze zu dieser Thematik verfasst hat, wie zum Beispiel: Goffart 2013, bes. 48‒55; 2006, bes. 119‒186; vgl. Schwarcz 2001b, 266‒268: Der Autor vertritt ähnlich wie Goffart 2013 und 2006 die Meinung, dass die Ansiedlungen nach dem hospitalitas-Prinzip erfolgten und die Visigoten als angesiedelte „römische“ Soldaten betrachtet wurden, die für ihre Dienste Bezahlung und Land erhielten. Eine Besprechung und Kritik dieser Hypothese findet sich bei Wickham 2005, 84–87. Durliat 1988 ist der Ansicht, dass die Ansiedlungen nicht auf Grundlage von Landzuweisungen, sondern Steuerbeteiligung erfolgt. Heather 2008, 29 weißt richtig darauf hin, dass die Ansiedlungen keinesfalls „smoothly“ erfolgten, da es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Römischen Reich und den Barbaren kam. Diese Auffassung vertritt auch Ward-Perkins 2005, 5‒10. Weiterhin sei zu den Ansiedlungen von Visigoten und Burgundern auf Krieger 1992, 29‒118 verwiesen. Die Probleme bei der Interpretation

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dass die wohl hauptsächlich kriegerischen Verbände keinen Anteil am weiteren Verlauf politischer Aktionen genommen hätten, wie Herwig Wolfram darstellt. So kam es beispielsweise nach dem Tod des römischen Kaisers Honorius und den damit verbundenen innenpolitischen Streitigkeiten um die Macht zu Problemen, welche die visigotischen Verbände, nun unter Führung Theoderids, bis vor Arles trieben, wo sie von Aëtius mit Hilfe hunnischer Söldner aufgehalten wurden. 33 Im Jahre 439 n. Chr. kam es wohl zu weiteren Verträgen, die der Prätorianerpräfekt Avitus in die Wege geleitet hatte und die durch die Heirat von Aëtius mit einer Tochter Theoderids bekräftigt wurden. 34 Die römische Staatsführung, die vorher noch auf hunnische Hilfstruppen zurückgegriffen hatte, um Theoderid und sein Gefolge unter Kontrolle zu halten, erkannte nun Attila, den Anführer der hunnischen Verbände, als die größere Gefahr an. Avitus, der nach dem Urteil des Sidonius über gute Beziehungen zur gotischen Führungselite verfügte, gemahnte die Goten an ihre Föderatenpflicht, um gemeinsam unter Aëtius gegen Attila ins Feld zu ziehen. 35 In der ,Völkerschlacht‘ bei den Katalaunischen Feldern (451 n. Chr.) fiel Theoderid und sein ältester Sohn Thorismund folgte ihm in der Herrschaft nach, bis er von seinem Bruder Theoderich II. (453 n. Chr.) ermordet wurde. 36 Neben den Visigoten siedelten Burgunder und Franken auf gallischem Boden und auch diese kämpften unter Aëtius vereint gegen Attila und seine Truppen. Die Ansiedlungen nicht-römischer Gruppierungen hatten den Quellen zufolge große Auswirkungen auf das Alltagsleben in Gallien. 37 Besonders betroffen war die gallorömische Aristokratie, für die es immer schwerer wurde, den Kontakt zu Italien zu halten oder ihren normalen Lebensgewohnheiten nachzugehen. 38 Im Jahre 454/455 n. Chr. kam es zu einem folgenreichen Ereignis: Der weströmische Heermeister Aëtius wurde durch den weströmischen Kaiser Valentinian III. ermordet, was nicht nur zu Unruhen im römischen Heer führte, sondern auch den Aufstand einiger Föderaten nach sich zog. 39 Obwohl die aufständischen Barbaren von Sidonius Apollinaris in seinem Panegyrikus

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der gotischen Ansiedlungen in Gallien sieht Kulikowski 2001, 26, 28 in der Unzulänglichkeit der Quellen, die weder die genauen Motive noch rechtliche Grundlagen benennen. Einen Überblick zur Forschungsdebatte der gotischen Ansieldung in Aquitanien findet sich – allerdings unter Auslassung von Delaplace 2013 – bei Stadermann 2017, 14 (Anm. 8). Delaplace 2015, 185–193; Courcelle 1964, 145. Delaplace 2015, 193–196; Delaplace 2013, 35‒41. Wolfram 1979b; 1979a, 211-215. Greg. Tur. HF 2,7; vgl. Meier 32020, 453–461; Delaplace 2015, 204–210; Díaz 2010, 199; Stevens 1933, 22. Hier. epist. 123,15; Orient. comm. 2,163–184. Mathisen 1993, 25, 29, 35; 1992, 228; vgl. Halsall 2007, 258. Dennoch war es Aristokraten möglich, nach Rom zu reisen und dort Ämter zu übernehmen – allerdings waren die Chancen hierfür rar geworden. Seit der Herrschaft des Honorius übernahmen Mitglieder der italischen Senatsaristokratie mehr und mehr die höchsten Ämter in der Zentraladministration. Zur italischen Aristokratie siehe: Wagner 2021 . Zum historischen Hintergrund, speziell für Aëtius, sei auf Heather 2008, 5‒14 verwiesen. Ferner bietet Henning in einem Kapitel (1999, 16–27) einen Blick auf Die Katastrophe von 454/5, inklusive der Plünderung Roms 455 durch vandalische Krieger (siehe 21). Siehe ferner: Meier 32020, 473–475.

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auf Avitus katalogartig gelistet werden, muss aufgrund der Quellengattung die Objektivität und Akkuratesse des Kataloges in Zweifel gezogen werden, dessen wilde Darstellung der Föderaten den Helden des Panegyrikus, Avitus, in ein glanzvolles Licht rückt, da es ihm zu verdanken gewesen sei, dass die Barbaren sich beruhigt hätten: 40 […] Aetium Placidus mactavit semivir amens. / vixque tuo impositum capiti diadema, Petroni: / ilico barbaries, nec non sibi capta videri / Roma Getis tellusque suo cessura furori.  […] quin et Aremoricus piratam Saxona tractus  […]  / Francus Germanum primum Belgamque secundum / sternebat, Rhenumque ferox, Alamanne, bibebas / Romani ripis et utroque superbus in agro / vel civis vel victor eras […]. 41 Placidius, der wahnsinnige Entmannte, schlachtete Aëtius. Und bald darauf war das Diadem auf dein Haupt gesetzt worden, Petronius! Sofort kamen Barbaren, und auch die Goten glaubten von sich, Rom bereits eingenommen zu haben, und dass die Erde unter ihrer Raserei zurückweichen wird. […]  sogar der Landstrich Aremorica erwartete den sächsischen Piraten […]. Der Franke warf die Germania Prima und die Belgica Secunda nieder, und der wilde Alamanne trank vom römischen Ufer den Rhein, und in beiden Gebieten wirst du der höchste sein, teils als Bürger, teils als Sieger […]. Als nach dem Tod Valentinians III., des letzten weströmischen Kaisers theodosianischen Geschlechts, und der darauffolgenden kurzen Herrschaft des Petronius Maximus im Mai 455 ein Machtvakuum entstand, war dies der Moment, in dem gallische Aristokraten vermutlich mit Hilfe der Visigoten einen aus ihren Kreisen zum Kaiser des weströmischen Reiches kürten. 42 Mit Avitus als Kaiser sollte jedoch keine gallische Unabhängigkeit erreicht, sondern vielmehr das gesamte westliche Imperium gerettet werden. 43 Nachdem Avitus 456 n. Chr. Flavius Rikimer 44 zum magister militum praesentalis berufen hatte, wurde er selbst noch im gleichen Jahr gestürzt, womit vorerst Rikimer als Heermeister des Westens die Geschicke in die Hand nahm. Es kam schrittweise zu einer immer stärker 40 Siehe hierzu: Kulikowski 2008, 337  f. Zur Charakterisierung des Avitus im Panegyrikus siehe: Hanaghan 2017, 265–268. Der Panegyrikus wird ferner in Kapitel 6.1.2 besprochen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass sich eine ähnliche Auflistung in einem Brief des Hieronymus an die Witwe Geruchia findet. Mischa Meier (32020, 377 f.) legt dar, dass die Auflistung vielmehr literarische Funktion hat, da der Brief die Witwe von einer Heirat abhalten wollte und die Barbareneinfälle hierfür als Argument dienen, sich mehr auf das Seelenheil denn als auf eine Ehre zu konzentrieren. In ähnlicher Weise muss auf die Auflistung barbarischer gentes im AvitusPanegyrikus des Sidonius interpretiert werden. Diese haben narratologische Funktion und dienen nicht der Wiedergabe von historischen Ereignissen. Zu Barbarenkatalogen siehe: Mathisen 2011. 41 Sidon. carm 7,358–375; zur ruhmreichen Darstellung des Avitus siehe die Verse 388–402. 42 Heil 2011, 9 f.; vgl. Díaz 2010, 200. 43 Drinkwater 2013, 63 f. In diesem Artikel diskutiert der Autor ausführlich die Möglichkeiten eines gallischen Sonderweges im 5. Jahrhundert. Zur Herrschaft des Avitus siehe: Mathisen 1985; 1979. 44 PLRE II, 942–945; Heinzelmann 1983, 681 unter Richomeres 3.

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werdenden Entfremdung zwischen gallischen Aristokraten und der römischen Stadtaristokratie, die nicht wieder beseitigt werden konnte. 45 Gleichzeitig wurde es in Gallien immer deutlicher, dass sich die Niederlassungen von Burgundern und Goten zu eigenständigen Machtzentren entwickelten und Roms Einfluss schwand. 46 Nach Avitus’ Tod besetzten beispielsweise die Burgunder die heutige Stadt Lyon. Uta Heil vermutet, dass dies unter Zustimmung der lokalen Aristokratie sowie der visigotischen Verbände im heutigen Toulouse erfolgte, und interpretiert es als Reaktion auf die Ermordung des gallo-römischen Kaisers Avitus. 47 Trotz der Rückschläge für Burgunder und Visigoten unter der Herrschaft des Kaisers Maiorian änderte sich die Lage erneut mit dessen Tod im Jahr 461. Unter Maiorians Nachfolger, Libius Severus, der als Marionette Rikimers zu betrachten ist, wurde Narbonne an die in Gallien siedelnden Goten abgetreten. 48 Bezüglich der Föderatenverträge kam es zwischen Kaiser Anthemius und dem visigotischen Anführer Eurich wohl um 467  n.  Chr. zu Problemen, die jedoch in den Hintergrund rückten, als Anthemius von seinem Heermeister Rikimer in einer bürgerkriegsartigen Auseinandersetzung im Jahr 472 ermordet wurde. 49 Dies zeigt, dass die nicht-römischen Verbände auf gallischem Boden je nach politischer Lage agierten und Schwachpunkte nutzten, um den eigenen Einflussbereich auszudehnen. Dies änderte sich auch nicht im Verlauf der Jahre 472 bis 476, als Julius Nepos vom Osten als Kaiser im Westen eingesetzt worden war und dann selbst von seinem Heermeister Orestes 475 n. Chr. entmachtet wurde. Dieser erhob wiederum seinen eigenen Sohn, Romulus Augustulus zum Kaiser, der 476 n. Chr. von Odoaker abgesetzt wurde. 50 Dieser bemühte sich um die Anerkennung durch Kaiser Zenon, der Odoaker zwar als patricius ansprach, aber dennoch darauf verwies, dass Julius Nepos noch lebte und somit der Westen noch einen legitimen Kaiser hätte. 51 Letzten Endes fiel Ravenna (493 n. Chr.) an die Ostgoten unter Theoderich, der im Auftrag Konstantinopels in Italia herrschte.

45 Labuske 1997, 109; Henning 1999, 213. Zur Entfremdung siehe: Mathisen 1979, 165–171. Unlängst konnte Tabea L. Meurer 2019 (insb. 160–163) in Bezug auf eine historische Fundierung Gemeinsamkeiten von Mitgliedern dieser beiden Oberschichten beleuchten, wobei sie vor Allgemeinerungen warnt. 46 Sivan 1983, 216; Elton 1992, 175 f.; Harries 1996, 31; Krüger 2002, 17. Mitchell 2009, 203 betont, dass obwohl es sich seiner Ansicht nach um eigenständige Königreiche handelte, deren Legitimation, neben ihrer politischen und militärischen Autorität, noch immer vom römischen Kaiser abhängig war. So waren die nicht-römischen Herrscher stets um die Anerkennung durch das Römische Reich bemüht. Daher rührt es wohl, dass sie ihre „Königreiche“ mit „Roman methods and tools“ regierten. 47 Heil 2011, 11. 48 Hyd. chron. 211. Zu Libius Severus siehe: Meier 32020, 473–475; Henning 1999, 84–90, 151–154. 49 Zu den möglichen Datierungen für den Beginn des Konfliktes sei auf den Aufsatz von Gillet 1999 verwiesen. 50 Heil 2011, 13–16. 51 Malch. frg. 14. Julius Nepos wurde 480 n. Chr. getötet. Einen Abriss der Ereignisse mit kritischer Diskussion, ob und inwiefern Odoaker von Zenon anerkannt worden war, findet sich bei Wiemer 2018, 163–172.

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Noch im Jahr 475 war es zu weiteren Verträgen zwischen dem römischen Kaiser Julius Nepos und den Visigoten unter Eurich gekommen. Dennoch scheint es, als ob die gallischen Provinzen spätestens seit der Herrschaft des Romulus Augustulus sich selbst beziehungsweise den dort ansässigen militärischen Gruppierungen überlassen worden waren. Nach dem Sieg fränkischer Truppen über das gotische Heer in der Schlacht bei Vouillé (507  n.  Chr.) übernahmen fränkische Verbände die militärische Vormachtstellung in Gallien. 52 Die dargestellte Perspektive auf die gallische Geschichte wird hauptsächlich von den gallo-römischen Aristokraten eingenommen und durch deren Zeugnisse tradiert. Es ist ihre Wahrnehmung, ihre erlebte Realität, ihr subjektives Empfinden, das sich in den Quellen widergespiegelt. Selbst die Chroniken dieser Zeit sind als subjektive Zeugnisse zu betrachten, die mit bestimmten Intentionen verfasst worden sind. 53 Die Gallische Chronik berichtet, wie oben gezeigt, von einem Sturm, der über Gallien hinwegfegt. Autoren wie Sidonius Apollinaris, Ruricius von Limoges oder Avitus von Vienne berichten von den Stürmen ihrer Zeit, die angeblich ihre Heimat in Unruhe versetzen und die römische Bildung gefährden. 54 Für Gallien lässt sich festhalten, dass der kulturelle Kontakt der gallo-römischen Elite mit den von ihnen so bezeichneten Barbaren Spuren in ihrer geistigen Landschaft hinterlassen hat, die uns in ihren literarischen Werken begegnen.

2.1 Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen qui genus? unde domo? 55 Von welchem Geschlecht seid ihr? Wo seid ihr zuhause? Die Frage nach Geschlecht und Herkunft, die ihren Ursprung in Homers Odyssee haben, in der Nestor dem Sohn des Odysseus, Telemachos, diese Frage stellt, 56 wird von Vergil in der Aeneis aufgegriffen. In seinen Versen adressiert Pallas, Sohn des Königs Euander, die Frage an Aeneas. In beiden Fällen folgt ein herzlicher Empfang der unbekannten Person durch den Fragesteller, nachdem die Zugehörigkeit zur gleichen ‚In-Group‘

52 Zum Herrschaftskonzept der Franken als „organischer Anschluss ans römische Erbe“ sei auf Becher 2009, passim (Zitat: 188) verwiesen. 53 Zu den gallischen Chroniken siehe: Kötter/Scardino 2017, 3–11, 25–40, 179–196; Muhlberger 1990. Eine Quellendiskussion für das 5., 6. und 7. Jahrhundert, die sich mit dem weströmischen Reich auseinandersetzen, findet sich bei Delaplace 2015, 36–42. 54 Sidon. epist. 8,2; Rur. epist. 2,13,1; Alc. Avit. epist. 33,1 f. (= 37 Peiper). 55 Verg. Aen 8,114. 56 Vgl. Hom. Od. 3,71.

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zufriedenstellend geklärt wurde. 57 Die Abstammung und Zugehörigkeit zu einer aristokratischen Familie war auch im spätantiken Gallien noch von Relevanz, wie die wörtliche Übernahme des Vergil-Zitates durch Sidonius, Avitus oder Gregor von Tours beweist. 58 Folglich war eine gute Herkunft grundlegend für die Zugehörigkeit zur Aristokratie. 59 Dabei wird nach Michele R. Salzman eine Person in der Spätantike als Aristokrat definiert, die Mitglied des senatorischen Standes war, indem sie mindestens den niedersten Rang der clarissimi, entweder durch ein staatliches Amt oder aber durch Geburt, erlangt hatte. 60 Des Weiteren bedeutet nach Ansicht von Michele R. Salzman Aristokrat sein:

57 Allerdings muss darauf verwiesen werden, dass in den homerischen Versen der Telemachieszene Nestor die Gäste zuerst zu einem Opfermahl für Poseidon einlädt und erst im Anschluss fragt, wer die Fremden sind und woher sie kommen (Hom. Od. 3,30–74). Nachdem dies zufriedenstellend geklärt wurde und Telemachos sich als Sohn des Odysseus zu erkennen gab, wird er freundlich im Palast aufgenommen (ebd. 346–476). 58 Wörtlich zitiert bei Sidon. epist. 1,11,5; ferner zu finden bspw. bei Alc. Avit. carm. 4,90 oder bei Greg. Tur. HF 4,46; siehe: Mathisen 1993, 9; Pohl im Druck: „The senatorial aristocracy did not define itself by common blood […], but by its ‚good‘ and noble origin, a family that was known and had demonstrated its status.“ Für einen umfassenden Überblick zur gallo-römischen Aristokratie sei erneut auf Näf 1995; Mathisen 1993; Stroheker 1970 verwiesen. Näf bietet auf den Seiten 296–302 eine umfassende thematisch sortierte Literaturübersicht. Wickham 2005, 169–203 diskutiert die Entwicklung der gallischen Aristokratie(n) vom 5. bis ins 7. Jahrhundert, indem er nicht nur Entwicklungen zwischen Süd- und Nordgallien unterscheidet, sondern nach Kategorien (z. B. Verwandtschaft, Landbesitz, Bischofswürde, Militär) gliedert. Ferner müssen die Werke von Roux 2014 unpubl. 26–35; Lobato 2010; Jones 2009, bes. 74–128; Frey 2003; Harries 1996; van Dam 1985; Claude 1971 bei Untersuchungen zu gallo-römischen Aristokraten berücksichtigt werden. Jüngst boten Hess 2019, 12–19 und Meurer 2019, 29–35 im Rahmen ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit den gallo-römischen Oberschichten einen Forschungsüberblick zur gallo-römischen Aristokratie. 59 Zur weströmischen Senatsaristokratie in der Spätantike sind insb. folgende Werke zu empfehlen: Rollé Ditzler 2020; Hächler 2019; Machado 2019; Salzman 2002; Henning 1999; Schlinkert 1996; Näf 1995; Schäfer 1991; Chastagnol 1982; Löhken 1982; Matthews 1975; Arnheim 1972. Jüngst hat Wagner 2021 eine Abhandlung zur stadtrömischen Senatsaristokratie vorgelegt und darin den Forschungsstand zur weströmischen Senatsaristokratie ausführlich – wenn auch mit Blick auf Auslassungen und Mängel – zusammengetragen (Wagner 2021, 5–15). 60 Salzman 2000, 347. Ausführlicher: Salzman 2002, 19–69; vgl. die Definition von Schlinkert 1996, 234 f. sowie Näf 1995, 8–11, 276 f. Nach Michele R. Salzman konnte der Rang eines clarissimus sowohl an Söhne und Enkel als auch an Töchter weitervererbt werden. Barnish 1988, 121 hingegen geht von einer Vererbung bis zu drei Generationen in der männlichen Nachkommenschaft aus. Für einen Überblick sei weiterhin auf Mathisen 1993, 9–13 verwiesen. Mit den Veränderungen des ordo senatorius von der Kaiserzeit zur Spätantike hat sich Hächler 2019 eingehend beschäftigt. Er legt mit seiner Arbeit eine ausführliche prosopographische Untersuchung des Senatorenstandes des 3. Jahrhunderts dar, den er in drei Teilgruppen einteilt: 1. Patrizier, 2. nicht-Patrizier mit konsularen Ämtern, 3. nicht-Patrizier ohne konsularen Ämter (S. 21–28). Er betont, dass diese Unterteilung aus seinen prosopographischen Studien für die Zeit der Soldatenkaiser hervorgeht und räumt ein, dass eine Zuweisung einzelner Personen zu einer bestimmten Teilgruppe nicht immer erfolgen kann. Auf Grundlage seiner Unterteilungen untersucht Hächler Kontinuitäten und Brüche gegenüber der Kaiserzeit. Er spricht sich dezidiert dagegen aus, dem Senatorenstand im 3.  Jahrundert eine

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To come from the right family, to live in an appropriately distinguished fashion, to acquire public office and honors to exercise influence on behalf of friends, family and clients, these were some of the trappings that showed that one was truly honored, truly aristocrat. 61 Die Gemeinsamkeiten römischer Aristokraten, (gute) Abstammung und Familie, öffentliche Anerkennung, Ämter und Status, ein spezieller Lebensstil begründet auf Reichtum und Freundschaftsbeziehungen, beruhen auf Traditionen, die über Generationen hinweg weitergegeben wurden. Salzman bezeichnet diese Gemeinsamkeiten als gemeinsame „mentalité“. Diese einende Mentalität konstruiert einerseits ein ‚Wir-Gefühl‘, andererseits bildet sie die Grenzen der aristokratischer Lebenswelten, um ,Andere‘ aus- und abzugrenzen. Es ist Salzman daher zuzustimmen, dass die gallo-römische Aristokratie eine eigene Statuskultur entwickelt hat 62, die als Schlüssel zur Zugehörigkeit der ‚In-Group‘ funktionierte, wie Tabea  L. Meurer am Beispiel der Vergangenheitsdiskurse demon­ strieren konnte. 63 Wie bereits Ammianus Marcellinus beschreibt 64, war ein Aristokrat vom ersten Moment nach dem Aufstehen bis zum zu Bettgehen damit beschäftigt, seinen Status zu erhalten, diesen zu zeigen und Anerkennung zu verdienen; Anerkennung, die sogar über den Tod hinausreichen sollte, wie Symmachus seinen Vater in einer euologischen Aufzählung über einen vorbildhaften Aristokraten berichten lässt. 65 Dieses Streben nach Anerkennung ist ebenfalls bei sogenannten homines novi wie Cassiodor sichtbar, der seine Briefsammlung veröffentlichte, um zum einen die Bitten seiner Freunde zu befriedigen, zum anderen aber, um selbst Unsterblichkeit zu erlangen, was er hinter Bescheidenheitsfloskeln zu verbergen versucht. 66 Auch wenn es sich hierbei wohl um Rhetorik

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Krise oder einen Niedergang zu konstatieren. Dennoch seien die militärischen Beschränkungen durch das edictum Gallieni nicht negierbar (S. 230). Salzman 2000, 348, vgl. Mathisen 1993, 11, der als Kategorien eine gute Abstammung, Reichtum und Besitz, soziale Beziehungen, einen guten Charakter und klassische Bildung nennt. Ähnlich: Rebenich 2008, 154. Salzman 2002, 4, 19 f. Meurer 2019, 116–163. Amm. 28,4,6–27 Diese Stellen im Werk des Ammianus Marcellinus können, obwohl als satirischer Tadel formuliert, dennoch zur Definition eines Aristokraten herangezogen werden, da sämtliche Aspekte (Besitz, öffentliches Auftreten, Bildung und Freizeit) angesprochen werden. Symm. epist. 1,2,5. Er benennt potestas und nobilitas, Reichtum und Würden, als Grundlagen, die zu einem bleibenden Ansehen verhelfen. Vgl. Salzman 2000, 350 f. Cassiod. var. Praefatio 1.14: dicta mea […] in unum corpus redigere suadebant, ut ventura posteritas et laborum meorum molestias, quas pro generalitatis commodo sustinebam, et sinceris conscientiae inemptam dinosceret actionem.  […]  „Sie haben mich überzeugt, mein Gesagtes in einem Werk zu ordnen, damit zukünftige Generationen sowohl die Mühen meiner Arbeiten, welche ich für das Wohl der Allgemeinheit auf mich genommen habe, als auch die Taten meines ehrlich erworbenen Gewissens, kennen können.“; 14: […] ita quae dixi de praeteritis conveniunt et futuris, quia non de personis, sed de ipsis locis quae apta videbantur explicui. „[…] das, was ich über Vergangenes gesagt

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zur Rechtfertigung seines Werkes handelt, kann die aristokratische „mentalité“ nicht geleugnet werden. 67 Neben Status und Akzeptanz anderer Aristokraten gehörten Reichtum, eine angesehene Familie sowie Bildung zum Kanon der Dinge, die ein Aristokrat vorweisen musste. Bildung konnte sogar andere Defizite, wie eine fehlende Abstammung ausgleichen, wie das Beispiel des Ausonius für die Spätantike zeigt und ein Cicero bereits am Ende der Republik bewiesen hat. Sam J. B. Barnish geht sogar so weit anzunehmen, dass es Bildung allein war, die die obere Klasse zu einer Einheit formte. 68 Im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts wurden diese Kriterien durch das Bekenntnis zum Christentum, dem 1. Konzil von Nicäa folgend, erweitert. So berichtet Constantius von Lyon in der Vita des Germanus, dass dieser zwar aufgrund seiner Geburt über nobilitas verfügt habe, aber er aufgrund seiner Religion sogar noch edler gewesen sei: natalibus nobilis, religione nobilior („edel durch Geburt, aber noch edler durch den Glauben“). 69 Der christliche Glaube wurde als Teil des aristokratischen Lebens verstanden und in dessen Traditionen eingebunden, wie es in den Briefen des Sidonius ersichtlich werden wird. 70 Eine aristokratische Lebensweise bedeutete, im Verlauf des 5. Jahrhunderts mehr und mehr eine christliche Lebensweise einzunehmen, was nicht nur eine Veränderung der aristokratischen „mentalité“ aufzeigt, sondern eine weitere Möglichkeit darstellt, um ,Andere‘ entweder abzugrenzen und sie in die Innengruppe zu integrieren. Obgleich nun Kategorien vorgestellt wurden, die als charakteristisch für römische Aristokraten betrachtet werden, ist ein caveat angebracht. Bereits John Matthews hat in den 1970er Jahren die Pluralität römischer Aristokraten hervorgehoben und sich gegen die bis dahin vorherrschende Meinung gestellt, dass es eine einzige römische Aristokratie gebe. Vielmehr muss innerhalb dieser Klasse differenziert werden. 71 Aus diesem Grund dürfen Kategorien, wie von Michele R. Salzman vorgeschlagen, nicht als starre und harte Kriterien zur Erfassung von Aristokratie betrachtet werden, dienen aber meines Erachtens

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habe, wird sich auch für die Zukunft ziemen, weil ich nichts über einzelne Personen, sondern über Stellungen, welche angemessen erschienen, an für sich dargelegt habe.“ Barnish 2010, xiv; Abram 1994, 9. Salzman 2000, 354; Barnish 1988, 123. Unlängst erfolgte eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Bildung für Integrations- oder Exklusionsprozsse im spätantiken Gallia auf der von Tabea L. Meurer und Veronika Egetenmeyr organisierten Konferenz „Gallia docta? Bildung (begrenzen) im spätantiken Gallien“, die vom 17.–20. März 2021 am Alfried Wissenschaftskolleg in Greifswald duchgeführt wurde; siehe Goldmann/Stähle 2021. Constantivs vita Germ. 22; vgl. Hier. epist. 108,1,1: nobilis genere, sed multo nobilior sanctitate. „Edel durch Abstammung, aber um vieles noch edler durch Heiligkeit.“; vgl. Salzman 2000, 358; Mathisen 1993, 90; Sivan 1983, 186. Vgl. Hess 2019, 99. Anders sieht dies Gerth 2013, 157, der im Christentum nur eine geringe Ursache für die Umwälzungen in Gallien dieser Zeit sieht, da dieses im „öffentlichen Leben und in der Diskussion bei Sidonius keine große Rolle“ gespielt habe. Leider vergisst Matthias Gerth, dass die Briefe des Sidonius a) eine sehr subjektive Quelle sind, die keineswegs Rückschlüsse auf die Denkweise einer ganzen Bevölkerung erlaubt, und b) allein durch den bischöflichen Stand des Sidonius selbst sehr wohl das Christentum/ein christliches Leben thematisieren. Hierfür hat sich auch Jones 2009, 33 ausgesprochen.

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dennoch als brauchbare Hilfskonstrukte, um im literarischen Diskurs einende Elemente einer gemeinschaftlichen Denkweise zu erkennen. Unlängst konnte Tabea Meurer die Wichtigkeit historischer Vergangenheitsbezüge als verbindendes Element aristokratischer Gemeinschaften nachweisen und dadurch die Kriterienkataloge von Michele R. Salzman und Ralph W. Mathisen ergänzen. 72 Es gilt aufgrund semantischer Verschiebungen und unterschiedlichen Verwendungen von Amtsbezeichnungen oder Bezeichnungen, die als Statuskennzeichen dienten, von Autor zu Autor zu entschlüsseln, wie er sein persönliches Umfeld und seine aristokratische Gemeinschaft definierte. 73 Denn auf die Terminologie in den Quellen ist in der Spätantike aufgrund semantischer Transformationen vom 4. bis 6. Jahrhundert von Begriffen wie clarissimi, spectabiles, illustres, senatores (Standeszuschreibungen, die den ordo definieren) oder nobiles, boni oder optimi (Statuszuschreibungen, die die soziale Stellung definieren) kein Verlass mehr. 74 Vielmehr erweckt es den Anschein, dass sich unterschiedliche aristokratische Kreise gebildet hatten, die in den Quellen aufgrund gemeinschaftlicher Denkmuster in Bezug auf Herkunft, Abstammung, Bildung, Besitz oder Religion (re- )konstruiert werden können. 75 Insbesondere der Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion brachte weitere soziale Zugehörigkeitsoptionen mit sich, die ebenso in Standeszuschreibung (ordo clericalis) und Statuszuschreibungen (zum  Beispiel beatus oder religiosus) unterschieden werden können. 76 Dabei wurden aristokratische Standes- und Statuszugehörigkeiten auf die christlichen übertragen. Aristokratische und christliche Lebenswelten wurden so in Einklang miteinander gebracht. 77 Obwohl – trotz der vielfältigen Veränderungen senatorischer Aristokraten – von einer gemeinsame „mentalité“ auch in der Spätantike ausgegangen werden kann, muss aufgrund der gestiegenen Anzahl der Mitglieder der römischen Senatsaristokratie sowie der politischen Transformationen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert angenommen werden, dass es zu einer lokalen Differenzierung von Aristokraten kam, die sich in ihrer jeweiligen Region als gesellschaftliche Elite empfanden. Als Ergebnis einer solchen Differenzierung kann die gallo-römische Aristokratie gesehen werden, die sich mehr und mehr von ihrem italischen Pendant distanzierte. 78 Dabei darf keinesfalls angenommen werden, dass gallo-römische Aristokraten eine homogene Gemeinschaft darstellten, sondern es 72 Meurer 2019, 39 f.; vgl. Salzman 2000, 348; Mathisen 1993, 11. 73 Vgl. Mathisen 2020, 33–38 für die Welt des Sidonius Apollinaris. 74 Mathisen 1993, 10; vgl. Schlinkert 1996, 53, der eine Unterscheidung zwischen sozialem Status (dignitas, honor, gradus) und Zugehörigkeit zu einem ordo dignitatum vornimmt. Vgl. Mathisen 2020, 33. 75 Vgl. Salzman 2002, 23 f. 76 Mathisen 2020, 35–37. Wie unterschiedlich christliche Statuskonzeptionen verhandelt werden können, legt Meurer 2019, 144–160 an den Beispielen von Paulinus von Nola und Paulinus von Pella dar. 77 Siehe Salzman 2000, 348; Salzman 2002, 200–218; siehe als Beispiel die Beschreibung von Simplicius in Sidon. epist. 7,9,16–22. 78 Kulikowski 2013, 79. Zur Entstehung und Entwicklung gallo-römischer Aristokratien siehe: Woolf 1998, 47, 162–168.

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muss unterstrichen werden, dass Statussymbole, Lebensstil und Traditionen, die eine einende „mentalité“ formierten, stetig neu verhandelt wurden. Dies steht in Einklang mit der Annahme von Michele R. Salzman, dass nicht nur verschiedene Möglichkeiten existierten, die unterste rechtlich verbindende Stufe des Clarissimats zu erreichen (beispielsweise durch militärische Würden oder durch politische Ämter), sondern auch soziale Faktoren für die Zugehörigkeiten zu den verschiedenen elitären Gruppen, die in der Spätantike existierten, ausschlaggebend waren. Es wird ihr zugestimmt, dass sich die Aristokratien jeweils selbst definierten. 79 Die aristokratischen ‚Lebenswelten‘ in Gallia befanden sich in einem stetigen Wandel. Als Gallien im 4.  Jahrhundert eine bedeutende Stellung innerhalb des Römischen Reiches einnahm und dort Kaiser nicht nur erhoben wurden, sondern auch residierten, standen gallo-römische Aristokraten ihren italischen Kollegen in der Möglichkeit, Amt und Würde zu erlangen, in nichts nach. 80 Dies änderte sich im ausgehenden 4. und im Verlauf des 5. Jahrhunderts. Michael Kulikowski führt dies auf eine Vermischung diverser sozialer und politischer Veränderungen zurück, die Ende des 4.  Jahrhunderts durch den Bürgerkrieg der 380er Jahre und die Aufgabe der Kaiserresidenzen begonnen habe. 81 Harald Bruckert geht ebenfalls davon aus, dass sich bereits im 4. Jahrhundert eine neue Elite in Gallien formierte, die eine spezifische „gallische Identität“ entwickelt habe, die seines Erachtens besonders im 5. Jahrhundert in Erscheinung trat. 82 Allerdings führt er die Bildung dieser gallisch-aristokratischen Identität auf die Trierer Residenz und die Kaisernähe zurück, die jedoch im 5. Jahrhundert aufgeben wurde. 83 Folgt man Bruckerts Argument, stellt sich die Frage, ob sich diese spezielle Identität nicht zusammen mit der Aufgabe der gallischen Residenzen hätte rückbilden müssen. Daher wird die Vermutung von Kulikowski als wahrscheinlicher erachtet: Die gallischen Aristokraten waren sich des sichtbaren Rückzugs Roms (eben durch die Aufgabe der Kaiserresidenzen in Trier und Vienne) bewusst und sahen sich daher selbst verpflichtet, die Ideologie eines Römischen Reiches, besonders vor dem Hintergrund nicht-römischer Ansiedlungen in Gallien, aufrechtzuerhalten. Weiterhin galt es, ihre eigenen Interessen als elitäre Gemeinschaft gegen die Usurpatoren durchzusetzen. Diese eigenen Interessen traten schon früher im Verlauf der Geschichte zum Vorschein. Meiner Auffassung nach begann die Ausbildung

79 Salzman 2002, 23. Zur Terminologie von Aristokratie, Elite und Oberschicht siehe: Salzman 2002, 10 f. Vgl. Hess 2019, 6; Meurer 2019, 35. 80 Beachte Szidat 2015, 131 zu den Besonderheiten Galliens im 4. Jahrhundert: „[…] it had an imperial residence, a praetorian prefect, a large part of the field army, and the resources for supplementing or conscripting troops. […] it significance in the western empire was in no way inferior to that of Italy.” 81 Kulikowski 2013, 79; siehe ferner: Halsall 2007, 187. Dieser Vorwurf findet sich auch in den Quellen, wie im Maiorian-Panegyrikus des Sidonius (carm. 5, 351–369), wieder. Dort klagt Sidonius die Kaiser der theodosianischen Dynastie an, Gallien vernachlässigt zu haben. 82 Bruckert 2012, 48. 83 Dem widerspricht auch Szidat 2015, 128. Er geht davon aus, dass die gallische Elite unter den Usurpationen gelitten habe und daher ihre Handlungen ihren eigenen Interessen diene. Erst in der Mitte des 4. Jahrhunderts wäre eine „real ruling class“ in Gallien sichtbar.

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einer eigenen gallo-römischen Identität nicht im 4. und 5. Jahrhundert, sondern spätestens im 3. Jahrhundert während des Gallischen Sonderreiches. 84 Die gallo-römischen Aristokraten hatten, bedingt durch die Geschichte des Gebiets Gallia (Eroberung durch C. Iulius Caesar, Gründung des Gallischen Sonderreiches und barbarische Ansiedlungen), eine distinktive Vergangenheit. 85 Diese erzeugte ein Gemeinschaftsgefühl, ein gemeinsames ‚kulturelles Gedächtnis‘, und trug so zur Ausbildung einer gallo-römischen Identität bei. 86 Insbesondere gallo-römische Aristokraten erschufen über eine lange Zeit eigene ‚Lebenswelten‘, in der sich verschiedene Akteure je nach Rang und Status bewegen konnten. John F. Drinkwater stellt die Frage in den Raum, warum die gallo-römischen Aristokraten kein eigenes Nachfolgereich gegründet und sich nicht gegen die Invasoren zur Wehr gesetzt hätten. 87 Seines Erachtens seien die Grundlagen hierfür vorhanden gewesen. Dabei argumentiert er vorwiegend mit den Schriften des Sidonius Apollinaris, der vom Widerstand berichten würde. Allerdings ist dies eine einseitige Lektüre des Bischofs von Clermont, da dessen Briefe viele Facetten und einen breiten Interpretationsraum bieten, wie sich noch zeigen wird. Am Ende erkennt Drinkwater selbst, warum es nicht zu einem gallo-römischen Nachfolgereich kam: Die Bewohner Galliens wären sich der Veränderungen, die sich nach und nach ereigneten, sowie deren Konsequenzen nicht bewusst gewesen. Weiterhin ist zu ergänzen, dass, entgegen Drinkwater, die Möglichkeiten zur Unabhängigkeit spätestens mit dem Auftreten nicht-römischer ,Warlords‘ auf gallischem Boden, die ihre eigene Macht ausbauen wollte, beendet war. Warum hätte die lokale Elite römische Föderaten bekämpfen wollen, wo sie doch ein gemeinsames Ziel hatten, nämlich den Schutz der Provinzen als Teil des Römischen Reiches? Erst als sich am Ende des 5. Jahrhunderts die Umstände änderten und sich die ,Warlords‘ gegenseitig bekämpften, muss den Bewohnern Gallias klar geworden sein, dass auf das Römische 84 Zur Besonderheit der Bewohner Galliens siehe: Hist. Aug. quatt. tyr. 7,1: […] fuit Gallus, ex gente hominum inquietissima et avida semper vel faciendi principis vel imperii […] „[…] er war ein Gallier, aus einem Geschlecht sehr unruhiger Menschen, die zugleich immer entweder gierig waren entweder den Prinzeps zu ernennen oder ein Reich zu schaffen […]; vgl. Mathisen 1993, 18; Drinkwater 1989; Rouche 1979, 448. Vgl. weiterhin: Drinkwater 2013, 62, der behauptet, dass Gallien in der Geschichte des Römischen Reiches schon immer eine besondere Stellung eingenommen habe – von der Eroberung Caesars bis in das 5. Jahrhundert hinein. Als Belege für die Spätantike nennt der Autor v. a. das Gallische Sonderreich im 3. Jahrhundert, Trier als legitimen Herrschaftssitz und einen eigenen Prätorianer-Präfekten im 4. Jahrhundert sowie die Etablierung des Rates der sieben Provinzen (concilium Galliarum) in Arles im 5. Jahrhundert. Zum Prozess der Römischwerdung Galliens ist Woolf 1998 heranzuziehen. Er legt dar, dass im 1. Jahrhundert n.  Chr. durch diesen Prozess die Kategorie und Zuschreibung „Gallo“ für die Bewohner der gallischen Provinzen an Bedeutung gewann (Woolf 1998, 242). 85 Siehe Woolf 1998; Woolf 1996, 361. 86 Vgl. Stroheker 1970, 2  f. Demnach haben die Mitglieder der gallo-römischen Aristokratie eine kollektive Identität, wie sie Aleida Assmann definiert. Diese äußert sich in Diskursformationen, die auf gemeinsame Symbole baisert und die Grundlage zur Teilhabe an der Gemeinschaft bilden (Assmann 1994). 87 Drinkwater 2013, 60, 63–70.

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Reich kein Verlass mehr war, und es wohl ratsam war, durch eine Kooperation mit den neuen Machthabern die römische Ideologie aufrechtzuerhalten. Dieses Bestreben ist in den Nachfolgereichen deutlich zu erkennen und kommt besonders in der Herrschaft von Karl dem Großen zum Ausdruck. Einigkeit herrscht darüber, dass sich im 5.  Jahrhundert die politische Situation in Gallien und mit ihr die lebensweltlichen Grundlagen gallo-römischer Aristokraten veränderten. Ralph  W. Mathisen vermutet, dass sich gallische Aristokraten von der römischen Verwaltung vernachlässigt gefühlt haben und aus diesem Grund revoltierten, was zu den Usurpationen von Konstantin (III.) und Jovinus geführt habe. 88 Im Jahr 417 wurde ein jährliches Treffen gallischer Aristokraten im heutigen Arles, das concilium Galliarum, einberufen, das die Selbstadministration der lokalen Aristokratie förderte. Gleichzeitig führte die Ansiedlung nicht-römischer Gruppierungen in Teilen Galliens zu einer Beschneidung der Ländereien, was besonders die lokale Elite betraf, beziehungsweise zu einer Unterstellung diverser Gebiete in den Befugnisbereich der foederati. Ralph W. Mathisen fasst dies folgendermaßen zusammen: „The Gallic feeling of rejection surely contributed to the sense of Gallic regional identity that one encounters in the fifth century.“ 89 Die Ansiedlung dieser Gruppen und der daraus entstehenden Entwicklung zu eigenständigen Königreichen, bedingt durch den Rückzug der römischen Verwaltung in Gallien, förderten den Weg der gallo-römischen Aristokraten in die Selbstbestimmung. 90 Mit den administrativen Veränderungen befasst sich Marie Roux im Rahmen ihrer Dissertation ausführlich und kann aufzeigen, dass römische Ämter und Institutionen, beispielsweise im Bereich der Rechtsprechung, noch bis in das 6. Jahrhundert in Gallien, wenn auch in transformierter Form, existent waren. 91 Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass es zu einer schrittweisen Entfernung nicht nur von Italia an sich, sondern auch von den italischen Aristokraten kam. Aus der Retrospektive betrachtet, ist nicht zu negieren, dass die Eliten Galliens, senatorisch-aristokratischer oder gar nicht-römischer Herkunft, einen Sonderweg beschritten und neue Wege der Anerkennung, des Einflusses und des Statuserhaltens suchten. Ein Aspekt, der für die Aristokraten senatorischer Abstammung wichtig wird, ist ein Leben in Amt und Würde im Rahmen der Kirche. Dabei übernahmen sie vielfach auch Bischofsämter. 92 Was die Ausbreitung des Christentums angeht, bildet die gallo-römische Aristokratie ein ergiebiges Forschungsfeld, das sehr früh die Aufmerksamkeit von Historikern auf sich zog. Martin Heinzelmann war einer der Ersten, der sich ganz spezifisch mit der Verbindung zwischen Episkopat und Aristokratie beschäftigte und die Ansicht vertrat, dass die gallischen Aristokraten so weiterhin Einfluss hätten ausüben können.

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Mathisen 1993, 18 f. Mathisen 1993, 20. Vgl. Mathisen 1994, 203 f. Roux 2014 unpubl. 519–641; vgl. Roux 2019, 230. Mathisen 1993, 25, 90. Es erscheint wichtig, an dieser Stelle das „vielfach“ hervorzuheben, dass keinesfalls als „ausschließlich“ verstanden werden kann. Vgl. Patzold 2014; Diefenbach 2013.

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Gallien im 5. Jahrhundert

Allerdings wird sein Konzept der „Bischofsherrschaft“ heute kritisch betrachtet. 93 Insbesondere Steffen Patzold unterstreicht, dass die These der „Bischofsherrschaft“ zu unreflektiert von der neueren Forschung übernommen wurde, und tritt für eine differenzierte Betrachtung des gesellschaftlichen Hintergrundes der Bischöfe ein. Steffen Diefenbach steht dem Begriff der „Bischofsherrschaft“ ebenfalls kritisch gegenüber und unterstreicht, dass nicht von einer „Monopolisierung“ des Bischofamtes gesprochen werden sollte. 94 Parallel zur Ausbreitung des Christentums kam es zu einem Wachstum bischöflicher Aufgaben und Pflichten und somit zu einem Anwachsen bischöflicher Autorität sowie zur Ausbildung einer bischöflichen Identität. 95 Nachdem gegen Ende des 5. Jahrhunderts die senatorischen Würden innerhalb der römischen Reichsgewalt in der Regel unerreichbar geworden waren, bot der Episkopat eine Möglichkeit für Aristokraten, öffentliches Ansehen zu erlangen und ihren Status aufrechtzuerhalten. 96 So wurde das Bischofsamt in Gallien ein attraktives Amt für Mitglieder der lokalen Aristokratie. 97 Dies wurde besonders durch die Gründung des Klosters Lérins gefördert, welches die Verbindung zwischen Kirchenämtern und lokaler Elite in Südgallien förderte. 98 Gleichzeitig veränderte sich die Wahrnehmung des Bischofes in dieser Zeit kontinuierlich, bis letztlich sichtbare habituelle Umprägungen am Ende des 5.  Jahrhunderts einsetzten, durch 93 Heinzelmann 1976. Vgl. Rapp 2000, 393 f. Zeitgleich mit Martin Heinzelmann, jedoch 1977 veröffentlicht, widmet sich ebenfalls Peter Gassmann in seiner Dissertation dem Episkopat in Gallien. Gassmann 1977 stellte den Gesamtbereich des Lebens- und Aufgabenbereiches der Bischöfe bis ins beginnende 6. Jahrhundert dar. 94 Diefenbach 2013, 98–100, 121 f.; Patzold 2014, 182 f., 192 f. 95 Devries 2009, 27; Rapp 2000, 382, 393. Sivan 1983, 190: „The aristocrat-turned-bishop of late fifth century Gaul is a unique phenomenon in the history of those times.“ 96 Sidon. epist. 9,14,2; Wickham 2005, 159; Sivan 1983, 188. Näf 1995, 86 weist auf die Probleme hin, die bei einem Wechsel vom weltlichen Würdenträger zum Bischof existent waren, und unterstreicht, dass, obwohl eine große Anzahl an Senatoren als Bischöfe bekannt sind, eine senatorische Abstammung „keine Bedingung für eine kirchliche Laufbahn“ gewesen sei. Raga 2009, 172 weist darauf hin, dass trotz bischöflicher Karriere die gallo-römischen Aristokraten weiterhin an gesellschaftlichen Aktivitäten ihrem Rang entsprechend teilnahmen, um Würde und Ansehen zu erhalten. Allerdings seien die Gewohnheiten – speziell die Essgewohnheiten – der Religiosität angepasst und so ihre romanitas transformiert worden. 97 Brandt 2014, 104; Heinzelmann 1976, 234. Rapp 2000, 385: „[…]  it was not so much the spiritual qualifications of a candidate as his social background that became decisive factor in making episcopal appointments.“ Diefenbach 2013, 97–99 weist zurecht darauf hin, dass mit der älteren Forschung, die von einer „Bischofsherrschaft“ sprach und davon ausging, dass hauptsächlich die Aristokratie Zugriff auf dieses Amt hatte, vorsichtig umgegangen werden muss. Weder waren Bischöfe die einzige Autorität in einer civitas noch war das Bischofsamt ein militärisches Amt. Weiterhin geht Diefenbach wie bereits Mathisen 1993 davon aus, dass neben der Bischofswürde noch andere Möglichkeiten im 5. Jahrhundert existierten, um aristokratischen Status und Ansehen zu erhalten (dem entgegen siehe: van Dam 1985, 141). Ähnliche Punkte werden von Patzold 2014 kritisiert (bes. 112). 98 Diefenbach 2013, 107. Aber nicht nur für Bischöfe, sondern auch für das monastische Leben von Aristokraten an sich. Siehe hierzu: Mathisen 1994, passim. Honoratus, Bischof von Arles und Gründer Lérins, entstammte seinerseits aus einer senatorischen Familie; siehe Heinzelmann 1983, 626 unter Honoratus 2.

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Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen

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die Askese und humilitas zu kollektiven klerikalen Merkmalen wurden. 99 Im Bischofsamt vereinten sich Askese und politische Bedeutung als zivile Führungskraft mit dem sozialen Status, den römische Aristokraten hatten. 100 Das wird in den Heiligenviten des 5. und 6. Jahrhunderts deutlich, deren Löwenanteil die Bischofsviten ausmachen. 101 Steffen Diefenbach geht davon aus, dass die Heiligenverehrung und die Hagiographie eine Möglichkeit für bischöfliche Amtsträger darstellten, Autorität auszuüben und zu präsentieren, da sie für die Heiligenverehrung und Reliquien verantwortlich waren. 102 Des Weiteren wurden die aristokratischen Ansichten bezüglich Bildung in die Kirche und speziell in die Klöster eingebunden. Eine aristokratische Lebensweise wurde in Einklang mit einem christlichen Leben, sogar mit einem Leben als Bischof und in einer Klostergemeinschaft gebracht. 103 Die Übernahme geistlicher Ämter und eine conversio zu einer christlichen Lebensweise bot eine Möglichkeit, aristokratische Lebensweise und romanitas-Vorstellungen aufrechtzuerhalten und neu zu interpretieren. 104 Gallorömische Aristokraten fanden durch die Übernahme kirchlicher Ämter neue Wege, ihre lebensweltlichen Lebensideale zu verhandeln, die sie den veränderten Umständen in den gallischen Provinzen anpassten. Dadurch erhielten sie nicht nur Traditionen, sondern trugen zur Entstehung neuer Traditionen, wie beispielsweise einer kirchlichen Karriere von Aristokraten, bei. Gleichzeitig führte diese schrittweise Veränderung ihres Verhaltens und ihrer „mentalité“ sowohl zu Veränderungen ihrer eigenen als auch zur Ausbildung

99 Diefenbach 2013, 121–123. 100 Devries 2009, 45; Mathisen 1994, 204–206. 101 Als Beispiel sei hier auf die Vita des Germanus von Auxerre, geschrieben von Constantius von Lyon, verwiesen (Constantivs vita Germ.); Näf 1995, 87 weist auf den Leserkreis der Viten hin, die wohl für die gesellschaftliche Oberschicht verfasst worden waren. 102 Diefenbach 2013, 117, 123, 135. Siehe auch van Dam 1985, 208–209. 103 Eigler 2013, 402: Die Übernahme von kirchlichen Ämtern bezeichnet der Autor als „Umorientierung der Elite“. Dem entgegen siehe Näf 1995, 86: „Wie noch genauer zu zeigen ist, lehnten es die Kirchenschriftsteller im allgemeinen [sic] ab, Elemente senatorischer Lebensweise und senatorischen Standesbewusstseins, welche in christliche Lebensweise hätten integriert werden können, aufzunehmen oder sogar zu empfehlen.“ Er schließt jedoch nicht aus, dass christliche Laien, exakt diese Tendenzen aufzeigen würden. Meines Erachtens besteht hier ein Problem der Quellendefinition. Vor dem Hintergrund der Briefliteratur des 5. Jahrhunderts, die größtenteils von Bischöfen verfasst worden ist, muss Beat Näf widersprochen werden. Wie bereits Mathisen 1994 anhand vieler Quellenbelege demonstrierte, brachte zumindest in Gallien die Aristokratie sehr wohl ihre Wertvorstellungen und Ideologien in die Lebensweise als kirchlicher Würdenträger oder als Mönch ein. An dieser Stelle soll jedoch nicht bestritten werden, dass sich die Kirche mit all ihren Ämtern in einer Entwicklungs- und ,Findungs‘zeit befand und es daher nicht verwunderlich ist, in den früheren Schriften der Kirchenväter, auf gegensätzliche Meinungen zu stoßen. Es muss wiederholt unterstrichen werden, dass die Zugehörigkeit zur Aristokratie keine notwendige Voraussetzung zur Übernahme kirchlicher Ämter war. 104 Wood 1980, 120–123; Mathisen 1994, 219: „Laymen could act like monks, monks like laymen. Monks could become bishops, and bishops could act like monks. And all were equally appropriate occupations for aristocrats.“ Speziell der Identität der Bischöfe in Gallien vom 4.–8. Jahrhundert hat sich DeVries 2009 in ihrer Dissertation gewidmet.

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Gallien im 5. Jahrhundert

neuer ‚Lebenswelten‘, durch die sie ihre ganz eigene romanitas erhielten und sich dadurch von ,Anderen‘ abgrenzen konnte. Eine ähnliche Entwicklung ist im Bereich der literarischen Tätigkeit der gallo-römischen Aristokraten sichtbar. Nachdem Studien zur gallischen Literatur- und Bildungsgeschichte lange Zeit vernachlässigt worden waren, wurde in den letzten 15 Jahren ein Fokus auf die Erforschung der literarischen Landschaft der Spätantike gelegt, sowohl in allgemeiner Hinsicht 105 als auch speziell zur Literatur Galliens. 106 Ralph W. Mathisen publizierte bereits im Jahr 1981 einen Aufsatz zu „Literary Circles“ in Gallien. Ulrich Eigler konnte diese gesellschaftlichen Verbindungen in seinem Aufsatz zu Gallien als Literaturlandschaft ebenfalls nachweisen. Vor allem für die epistolographische Forschung bietet das spätantike Gallien einen reichen Fundplatz, begründet durch die regelmäßige und aktive Korrespondenz unter den gallo-römischen Aristokraten, die es erlaubt, einen Einblick in das Alltagsleben zu erhalten. 107 Ulrich Eigler arbeitet in seinem Aufsatz über Gallien als Literaturlandschaft heraus, dass die im spätantiken Gallien entstandenen Werke einen besonderen Lokalpatriotismus aufweisen, welchen er als „bewussten Provinzialismus“ charakterisiert. Bereits Michel Rouche sprach sich Ende der 1970er Jahre für ein lokales, regionales Bewusstsein in Aquitanien aus, das seines Erachtens nach während des 5. Jahrhunderts zum Vorschein gekommen sei. 108 In der Tat ist dieser Lokalpatriotismus in den Werken des Sidonius zu erkennen, besonders, wenn er die Auvergne – genauer Clermont – als sein patria bezeichnet. 109 Nach John F. Drinkwater spiegelte sich die gallische Identität v. a. in der engen Verbundenheit zur eigenen civitas wider, was in eigenständigen civitas actiones, beispielsweise der Verteidigung Clermonts gegen die Visigoten, enden konnte. 110  Generell erschien Bildung im Römischen Reich als notwendige Voraussetzung, um höhere Ämter zu erreichen – sei es im Staatswesen oder in der Kirche – und um somit Teil der aristokratischen Elite zu sein. 111 Die Bedeutung literarischer Kenntnisse für den cursus honorum wurde gesetzlich, beispielsweise im Codex Theodosianus, festgehalten: 105 John 2018; Blaudeau/van Nuffelen 2015; van Hoof/van Nuffelen 2014; Camastra 2012; Eigler 2003. 106 Schwitter 2015; Eigler 2013; Gerth 2013; Gillet 2012; Everschor 2007. Zur christlichen Literatur in Gallien sei auf HLL 6.2, 632–635 verwiesen. 107 Wolff 2012; Heil 2011; Overwien 2009b; Zittel 2009; Zelzer/Zelzer 2002; Mathisen 1999. 108 Eigler 2013, 400; Rouche 1979, 446. 109 Zum Beispiel Sidon. epist. 3,1. Generell fällt eine Häufung des Wortes patria im dritten Buch der Briefe auf. Zum Thema patria bei Sidonius siehe: Bonjour 1980. 110 Drinkwater 2013, 60; Mathisen 1993, 17–20, 105; 1981, 95  f.; Waurick 1980, 224. Zur civitasVerbundenheit vgl. Sivonen 2006, 68. 111 Gerth 2013, 1, 225; Kleinschmidt 2013, 2; Näf 1995, 2, 6; Stroheker 1970, 29. Hier. epist. 125,6,1: Audio religiosam habere te matrem, multorum annorum viduam, quae aluit, quae erudivit infantem et post studia Galliarum, quae vel florentissima sunt, misit Romam non parcens sumptibus et absentiam filii spe sustinens futurorum […] „Ich höre, dass du eine religiöse Mutter hast, eine Witwe seit vielen Jahren, welche dich als Kind genährt, unterrichtet und dich später, nach deinen Studien bei gallischen Lehrern, welche auch ausgezeichnet sind, nach Rom geschickt hat. Dabei schonte sie keine Kosten und ertrug die Abwesenheit des Sohnes in der Hoffnung für dessen Zukunft […].“;

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Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen

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in decuriarum ordine insigni […] nequaquam aliquis locum primi ordinis adipiscatur nisi is, quem constiterit studiorum liberalium usu adque exercitatione pollere et ita esse litteris expolitum, ut citra offensam vitii ex eodem verba procedant: […]. 112 In der Reihe des Dekurionenstandes soll indessen nicht irgendeiner den Platz des ersten Standes erreichen außer demjenigen, über den bekannt ist, dass er durch Anwendung und Gewandtheit der freien Künste fähig ist und der so für das Schreiben ausgebildet ist, damit von ihm noch vor dem Ärgernis eines Fehlers Worte ausgehen mögen. Beat Näf geht davon aus, dass, bedingt durch den „Druck der Barbaren und die Auflösung der römischen Zentralgewalt“, die Bildungseinrichtungen in Gallien in eine Krise gerieten. 113 Die einzigen Quellenbelege, die hierfür herangezogen werden können, wären die zahlreichen Hinweise bezüglich der Besorgnis um Bildung und Ausbildung im Generellen bei Autoren wie Sidonius oder Ruricius. 114 Die pessimistische Sichtweise, dass die Disintegration des Römischen Reiches in Gallien zu einem Niedergang der Bildungskultur führte, wurde und wird von der Forschung in den letzten Jahren revidiert. 115 So hat bereits Ralph W. Mathisen in den 1990er Jahren davor gewarnt, die Berichte gallorömischer Autoren über einen Bildungszerfall „at face value“ zu interpretieren, und darauf verwiesen, dass gallische Autoren im 5. Jahrhundert mehr literarische Werke als zu einem anderen Zeitpunkt ihrer Geschichte produziert haben. 116 Bildung hatte nicht nur eine integrative Funktionen, sondern trug immens zu einem Gemeinschaftsgefühl gallorömischer Aristokraten bei, die sich aufgrund ihrer Bildung als überlegen erachteten und dadurch Menschen, die über keine Bildung oder nicht das richtige Maß an Bildung verfügten, von ihrer Gemeinschaft ausschlossen. Besonders die Erhaltung römischer paideia muss ein zentrales Anliegen gewesen sein, da Bildung und lateinische Sprache einen zentralen Diskurs in der spätantiken Literatur bilden. 117 Sidonius schreibt in einem seiner Briefe sogar, dass Bildung das einzig verbliebene Merkmal für nobilitas sein wird:

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In diesem Brief wird deutlich, dass Bildung die Türen zu Ämtern im Staatsdienst öffnen und somit zur Aufrechterhaltung des Ansehens einer Familie beitragen sollten. Cod. Theod. 14,1,1. Näf 1995, 118; ebenso: Stroheker 1970, 66. Beispielsweise Sidon. epist. 2,10,1; 5,9,4; Rur. epist. 1,5,3. Siehe Dusil/Schwedler/Schwitter 2017, 10; Eigler 2003. Mathisen 1993, 105–107. Erst unlängst erfolgte eine Auseinandersetzung mit Bildung und Schulen im spätantiken Gallien im Rahmen einer im Jahr 2018 abgeschlossenen Dissertation von Alison John: Learning and Power in Late Antique Gaul. Education in Times of Transition. Zum paideia-Begriff und dessen Bedeutungen siehe u. a.: Elsner 2013; van Hoof 2013; Marrou 1948; Jaeger 1934–1947. Gemeinhardt (2019a, 19 f.; 2019b, 453) steht dem paideia-Begriff kritisch gegenüber und tritt für den Gebrauch von Bildung ein, den er für die Vormoderne definiert.

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Gallien im 5. Jahrhundert

[…] in medio sic gentis invictae, quod tamen alienae, natalium vetustorum signa retinebunt: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. […] inmitten eines so unbesiegbaren wie gleichwohl fremden Volkes, werden sie [Anm.: kommende Generationen] die Zeichen ihrer alten Abstammung aufrechterhalten: denn nachdem schon die Stufen der Würden abgeschafft worden sind, durch die man gewohnt war, den Geringsten vom Höchsten zu unterscheiden, wird zukünftig literarisches Wissen der einzige Nachweis für nobilitas sein. 118 Um den literarischen Standard zu halten, organisierten sich die gallo-römischen Aristokraten in literarischen Kreisen, in denen sie Literatur austauschten, während sie gleichzeitig selbst literarisch aktiv waren (die Manuskripte zirkulierten zur gegenseitigen Kritik). 119 Ein vir litteratus zu sein, bedeutete folglich nicht nur, des Lesens und Schreibens mächtig zu sein, sondern auch im klassischen Sinn, die Fähigkeit zu besitzen, über Literatur zu reflektieren, diese zu interpretieren und selbst literarisch aktiv zu sein, wie es beispielsweise Sueton, der wiederum Cornelius Nepos zitiert, beschreibt: Cornelius quoque Nepos libello quo distinguit litteratum ab erudito, litteratos quidem vulgo appellari ait eos qui aliquid diligenter et acute scienterque possint aut dicere aut scribere, ceterum proprie sic appellandos poetarum interpretes […]. 120 Auch Cornelius Nepos hat in einem kleinen Büchlein litteratus von eruditus unterschieden; er behauptete, dass im allgemeinen diese als litterati bezeichnet werden, die fähig sind, über ein beliebiges Thema sowohl scharfsinning und kundig zu sprechen als auch zu schreiben; außerdem sagte er, dass die so zu Benennenden allein die Interpreten der Dichter seien […].

118 Sidon. epist. 8,2,2. Dieses Zitat von Sidonius findet sich auch bei Karl  F. Stroheker (1970, 84) wieder: „Nachdem das Imperium aus Gallien verdrängt und der gallischen Aristokratie der Weg in den Reichsdienst verschlossen war, gab es für den senatorischen Adligen nur noch die Möglichkeit, sich durch seine Bildung vor der Masse auszuzeichnen.“ Oliver Overwien (2009b, 97) weist darauf hin, dass signa in diesem Zusammenhang auf militärische Feldzeichen anspiele, um den Empfänger, Johannes, zu einem „Bildungssoldaten“ zu erziehen. Meurer 2019, 253 stimmt der militärischen Bedeutungsebene von signa zu, lehnt aber eine Interpretation des Briefes als Rekrutierungsschreiben an den Empfänger, um „Bildungssoldat“ im Kampf gegen Eurich zu werden, ab, was nur unterstrichen werden kann. Obgleich das Schreiben durchaus als Mahnung und Aufruf zur Erhaltung von Bildung und damit Status zu sehen ist, führt die Interpretation von Overwien zu weit. 119 Zum  Beispiel für literarische Kritik: Rur. epist. 1,4; zum Bücheraustausch siehe bspw.: Sidon. epist. 5,15; Rur. epist. 1,6; 1,8; Alc. Avit. epist. 48,9 (= 51 Peiper). Ausführlicher mit den literarischen Kreisen und Gallien als Literaturlandschaft haben sich Eigler 2013 und Mathisen 1981 beschäftigt. 120 Suet. gramm. 4,1.

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Gallo-römische Aristokraten: „mentalité“ und Statuskennzeichen

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Fähigkeiten, die nur derjenige erlangen konnte, der genügend ,Muße‘ hatte, sein Leben lang zu lernen. 121 Selbst im Codex Theodosianus wurde die Kenntnis von Literatur, die Sprachkunst, als omnium virtutum maxima – als höchste Tugend – bezeichnet. 122 In der gallischen Literaturlandschaft stechen zwei Gattungen besonders heraus: die Dichtkunst und die Epistolographie. Wie sehr diese beiden Genres miteinander verbunden sind, zeigt die Einbindung von kleineren Gedichten und Epigrammen innerhalb von Briefen. Da in dieser Arbeit die Briefe des Sidonius im Zentrum der Untersuchung stehen, sei kurz zusammengefasst, weshalb die Epistolographie im spätantiken Gallien so bedeutend ist. In der Zeit zwischen 420 und 520  n.  Chr. haben sich die gallisch-römischen Aristokraten besonders der Epistolographie zugewandt, weshalb diese im 5. Jahrhundert in Gallien eine Art Blüte erlebte. 123 So existieren aus diesem Zeitraum 475  Briefe von 45  verschiedenen Autoren. Die bedeutendsten von ihnen hatten hohe kirchliche Ämter inne, wie zum Beispiel die Bischofswürde. Daher werden sowohl Privat- als auch Geschäftsbriefe als Teil ihrer Korrespondenzen gefunden. 124 Nach Sigrid Mratschek wurde das Briefschreiben eine „Überlebensstrategie“ der gallo-römischen Aristokratie, die „Oasen für romanitas“ schuf sowie zur Aufrechterhaltung von Freundschaften beitrug, die ihrerseits Zeichen einer Klassensolidarität gewesen sei. 125 Hagith Sivan sieht im Akt des Briefschreibens eher eine Bestärkung literarischer Kultur, was daran sichtbar sei, dass es nicht Ziel der Verfasser gewesen sei, sich mit „schweren Angelegenheiten“ zu befassen, sondern schlicht und ergreifend die Briefkultur am Leben zu erhalten. 126 Bianca-Jeanette Schröder hingegen sieht die Aufrechterhaltung von amicitia als primären Grund, weshalb Aristokraten wie Symmachus, Sidonius, Ruricius und Ennodius Briefe verfasst hätten. 127 Matthias Gerth vertritt die Auffassung, dass, obwohl in den Briefen die „Welt des gallischen Adels im fünften Jahrhundert lebendig“ wird,

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Gemeinhardt 2007, 58 f. Cod. Theod. 9,1,1. Eigler 2013, 400; Abram 1994, 5; Wood 1992, 9. Wood 1992, 9; Mathisen 1981, 95  f.; Chadwick 1955, 14  f.; siehe: Percival 1997, 280: „Letters, whether written by emperors and state officials, by bishops and fathers of the Church, or by private individuals, form a major part of the written material available to us for the study of the later Roman Empire. For many periods, and for many aspects of life, they are our primary (and sometimes our only) source.“; vgl. Cic. Flacc. 16,37, der zwischen litterae publiae und privatae unterscheidet; bei Aur. Vict. Caes. 27,1 wird zwischen negotiales und familiares unterschieden. Durch die bedeutende Rolle der Kirche war es möglich, dass die Literatur der Spätantike weitertradiert wurde. 125 Mratschek 2017, 309; vgl. Ebbeler 2007, 301: „Participation in letter exchange […] was an essential means by which aristocratic Romans advertised and negotiated social status domi et foris.“ Vgl. Ricciardi 2012, 280: „Il faut encore considérer la valeur que les auteurs de l’Antiquité tardive attribuaient au recueil de lettres, comme instrument capable de témoigner, dans le présent et dans le futur, du rôle qu’ils jouaient au sein de la collectivité.“ Siehe ferner van Waarden 2010, der seinen Kommentar zum siebten Briefbuch des Sidonius mit dem Untertitel Writing to Survive zierte. 126 Sivan 1983, 128: „Their aim was not to deal with weighty matters but to keep letters alive. “; vgl. Peter 1901, 11. 127 Schröder 2007, 151.

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Gallien im 5. Jahrhundert

sie keine Rückschlüsse auf „lebensweltliche Probleme“ erlaubten. 128 Obwohl ihm darin zuzustimmen ist, dass diese Briefe nicht als Quelle für historische Fakten gelesen werden können, sind sie dennoch und sogar primär Zeugnis der Wahrnehmung, Zeugnis der Mentalität ihrer Verfasser. 129 Gerth definiert nicht, was er unter „lebensweltlich“ und spezifischer unter „lebensweltliche Probleme“ versteht. Davon ausgehend, ohne auf das noch folgende Kapitel vorgreifen zu wollen, dass der Begriff ‚Lebenswelt‘ auf eine konstruierte Gemeinschaft mit einer gemeinsame „mentalité“ verweist, wie es bei der gallorömischen Aristokratie der Fall ist, wird seiner Annahme hiermit widersprochen. Sollte Gerth unter ‚Lebenswelt‘ die reale Umgebung des Sidonius samt der in ihr lebenden Menschen verstehen, muss umso mehr widersprochen werden, da die Problematiken in Gallien sehr wohl in den Briefen thematisiert werden. Insbesondere im Vergleich zu zeitgenössischen Briefen und anderen Quellen lassen sich sehr wohl Rückschlüsse auf diese „lebensweltlichen Probleme“ gewinnen. 130 Zusammenfassend ist zum Umgang mit antiken Briefen als historische Quelle Folgendes festzuhalten: In erster Linie war das Verfassen von Briefen eine literarische Beschäftigung, die Briefautoren die Möglichkeit bot, ihrer eigenen Identität Ausdruck zu verleihen. 131 Daher sind spätantike Briefe als Kunstwerke zu betrachten, in denen die Persönlichkeit des Verfassers zum Ausdruck kommt. Der Brief ist folglich ein Spiegel der Seele, 132 eine Möglichkeit, seinen eigenen Identitäten Ausdruck zu verleihen, sie aber auch zugunsten der imitatio zu verschleiern, wie es bei Sidonius sichtbar ist. Bei der Interpretation von Briefen sind aus diesem Grund die Fragen nach Intention und Gestaltung vor der Frage nach deren ,Realität‘ vorrangig zu berücksichtigen. 133 Mit ,Realität‘ ist einerseits das 128 Gerth 2013, 159. 129 Dies spiegelt sich ebenfalls in der Erkenntnis von Gibson 2012, 66  f. wider. Bei einer antiken Briefsammlungen stand die chronologische Abfolge in ihrer originalen Anordnung, d. h. vor der modernen Überarbeitung und Herausgabe in Editionen, im Hintergrund und sie wurden eher nach Adressat oder inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet. 130 In gewisser Weise widerspricht sich Matthias Gerth sogar selbst, ob dem Eingeständnis, dass Briefe durchaus einen „Einblick in das Funktionieren der gallischen Oberschicht und die Themen, die dort von Belang waren“ bieten, und kommt zum Schluss, dass Bildung und Literatur eine zentrale Rolle für die aristokratische Identität eingenommen hätten. Aufgrund der fehlenden terminologischen Definition im Werk von Matthias Gerth kann leider nur spekuliert werden, warum er Bildung und Identität nicht als Teil „lebensweltlicher Probleme“ versteht. 131 Vgl. Müller/Retsch/Schenk 2020, 7. 132 Demetr. Eloc. 227: σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχῆς γράφει τὴν ἐπιστολήν. καὶ ἔστι μὲν καὶ ἐξ ἄλλου λόγου παντὸς ἰδεῖν τὸ ἦθος τοῦ γράφοντος, ἐξ οὐδενὸς δὲ οὕτως, ὡς ἐπιστολῆς. „Denn nahezu jeder beschreibt ein Abbild der eigenen Seele in einem Brief. Zwar ist es möglich, dass man auch aus allen anderen Schriften den Charakter des Schreibers erkennt, aber aus keiner in einer solchen Weise wie aus Briefen.“; vgl. Ebbeler 2007, 322; Müller 1980, passim; Thraede 1970, 23; Peter 1901, 6–9. 133 Ein zentrales Anliegen der epistolographischen Forschung war die Frage nach der Realität oder Fiktionalität eines Briefes. Eine Unterscheidung zwischen dem Brief als einem privaten Schreiben und einer Epistel, die für einen größeren Leserkreis bestimmt gewesen sei, hat Adolf Deissmann vorgenommen. Ein Brief ist für ihn „echt“, während er eine Epistel als „künstlich“ und als literarisches Kunstwerk einstuft (Deissmann 1923, 118, 194–196). Einen Überblick dieser Entwicklung

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tatsächliche Verschicken eines Schreibens gemeint, andererseits die historische ,Realität‘ des Inhaltes. Aus diesem Grund darf die Datierung antiker Briefe, besonders wenn diese als Teil von Sammlungen bearbeitet wurden und öffentlich zirkulierten, nicht das primäre Interesse bei der Analyse sein. Ebenso wie für einzelne Briefe den Fragen nach Motivation, literarischer Ausgestaltung und Selbstdarstellung des Autors nachgegangen werden muss, gilt es auch, Briefsammlungen hinsichtlich des Leserkreises, der Intention der Zusammenstellung und der Anordnung der einzelnen Briefe zu analysieren. 134 Für deren Untersuchung ist es unerlässlich, die Person, d. h. den Autor, in seinen zeitlichen und räumlichen Kontext zu verorten.

2.2 Gallo-römische Briefautoren als lebensweltliche Gemeinschaft Im Folgenden sollen die theoretischen Gedanken zu Alterität, Tradition und Identität auf die Briefliteratur des 5. Jahrhunderts übertragen werden. Es wird der Argumentation gefolgt, dass in den Briefen Tradition in Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Barbaren, dem Konzept Assmanns folgend, interpretiert werden kann: 1.,  indem auf Intertextualität geachtet wird und so traditionelle Schreibverhalten erkannt werden können und 2., indem davon ausgegangen wird, dass Autoren aktive Vermittler sind. Dies bedeutet, sie als literarisch tätige Personen zu sehen, die Traditionen und Sichtweisen bewusst und unbewusst an spätere Generationen weitergegeben haben. Vor dem Hintergrund kultureller Diversität und lokaler Konflikte sowie des prägnanten Wandels des römischen Westens bezüglich Herrschaft und Verwaltung fühlte sich die gallo-römische Aristokratie gezwungen, das aufrechtzuerhalten, was ihrer Meinung nach das Herzstück römischer Identität war: mos maiorum und paideia. Daher sind das richtige Verhalten von römischen Aristokraten sowie deren adäquate Ausbildung zentrale Themen in deren Korrespondenzen. Durch wiederkehrende Referenzen, bestimmte literarische Gestaltungsformen und ,Insider-Knowledge‘ grenzen sich die Briefautoren gegen ,Andere‘ ab und schließen diese förmlich aus ihrem Kreis aus. Die Briefautoren können als das ,Selbst‘ in den Briefen definiert werden. Sie sind die Sprecher, um Gayatri Spivaks’ Terminologie aufzugreifen, und entscheiden, wer als ‚anders‘ definiert wird und wer sowohl zur Innengruppe als auch zu ihrer ‚Lebenswelt‘ gehört. Hierzu zählen im weitesten Sinn alle Angehörigen der gallo-römischen Aristokratie, unabhängig von ihren Ämtern. Diese Innengruppe, die aus Briefautoren besteht, präsentiert das zweite ,Selbst‘ in den Briefen. Innerhalb dieses Autorenzirkels wird ebenfalls eine Parallele zwischen ihrem öffentlichen Leben als Würdenträger und ihrer literarischen Beschäftigung

findet sich bei Rosenmeyer 2001, 5–12 und jüngst Schenk 2021, 22–25. In dieser Arbeit werden Brief und Epistel als Synonyme verwendet, um die Lesefreundlichkeit zu erleichtern. 134 Trapp 2003, 3; Zelzer/Zelzer 2002, 401 f.; z. B. bei der Briefsammlung des Plinius, Symmachus, Hieronymus oder Sidonius.

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erkannt, wie dies zum Beispiel in den Viten von Sidonius, Ruricius oder Avitus sichtbar ist. 135 Diese Innengruppe war eine homogen zusammengesetzte Gruppe von viri litterati, die sich selbst in literarischen Kreisen organisiert hatte. 136 Sie formten eine gemeinsame ‚Lebenswelt‘ und dadurch ein gemeinsames Identitätsgefühl, wodurch sie sich bewusst von anderen abgrenzten und diese auch ausgrenzten. Immer wieder thematisieren die gallischen Briefautoren die Bedeutung von Bildung und deren Alleinstellungsmerkmal, wie beispielsweise Ruricius in einem Brief an den Redner und Lehrer seines Sohnes Hesperius: […] utique in tanta rerum confusione amitterent nobilitatem, si indicem non haberent. 137 […] gewiss würden sie in den überaus großen Wirren der Zeit die nobilitas verlieren, wenn sie kein Beispiel hätten. Der Hintergund des Briefes ist die Bitte des Verfassers an Hesperius, dessen Söhne (im Text als Edelsteine bezeichnet) zu unterrichten, da nur dieser weiß, wie diese gemäß den aristokratischen Eigenheiten geformt werden können. Ruricius befürchtet, sie würden ohne das Vorbild und Wirken des Hesperius ihre nobilitas verlieren, bedingt durch die schwierigen Zeiten, in denen sie leben. Die Besorgnis des Ruricius bestärkt die bereits vorgestellte Aussage des Sidonius in einem Brief an Johannes (epist. 8,8), die zeigt, dass für diese Kreise literarisches Wissen als einziger Marker für nobilitas, der in dieser Zeit noch erhalten war, galt. 138 Wie wichtig dieses literarische Wissen selbst Ende des 5. Jahrhunderts noch war, zu einer Zeit, als Burgunder, Franken und Visigoten um die Herrschaft in Gallien kämpften, beweist ein Zwist zwischen Avitus und Viventiolus. Avitus ist zu Gehör gekommen, dass Viventiolus ihn bezichtigte, einen Barbarismus begangen zu haben, ob der falschen Aussprache von pótitur statt potîtur, und bezieht dazu in einem Brief Stellung, der absichtlich ironisch komponiert wurde. Jedoch werden trotz aller Ironie zwei Dinge deutlich: 1. Ein Aristokrat bemüht sich sein Leben lang, sich weiterzubilden; 139 2. Der Ungebildetheit bezichtigt zu werden, war eine ernstzunehmende Anklage, die nicht 135 Kleinschmidt 2013, 3; Stroheker 1970, 84. Alle drei Autoren entstammten der gallo-römischen Aristokratie, waren Bischöfe und literarisch aktiv. 136 So gehörten bspw. Sidonius und Ruricius einem solchen gemeinsamen Zirkel an, wie die gegenseitigen Briefe belegen. Aber Ruricius stand nicht nur mit Sidonius in Kontakt, sondern hatte auch enge familiäre und freundschaftliche Beziehungen, wie das Epithalamium des Sidonius zu Ruricius’ Hochzeit zeigt. Sidon. carm. 11; siehe für Kommentar und Übersetzung: Filosini 2014. 137 Rur. epist. 1,3,5 f. 138 Sidon. epist. 8,2,2. 139 Alc. Avit. epist. 54,1 (= 57 Peiper): […] fateor istud potuisse contingere, praesertim mihi, cui, si qua in annis viridioribus fuerunt studia litterarum, omnia fert aetas. „[…] Ich gestehe ein, dass dieses hätte geschehen können; besonders mir, dem, selbst das was, an literarischen Studien in jugendlichen Jahren vorhanden war, alles das Alter plündert.“

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Gallo-römische Briefautoren als lebensweltliche Gemeinschaft

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einfach ignoriert werden konnte. Umso mehr versucht Avitus in diesem Schreiben durch intertextuelle Verweise und phonetische Diskussionen seinen Bildungsgrad zu demonstrieren. 140 Neben der Erhaltung und Ausübung von Bildung und literarischen Studien werden in ihren Briefen gleichzeitig Bemühungen deutlich, diese Bildungstraditionen an nachkommende Generationen weiterzugeben. 141 So sorgt sich beispielsweise Ruricius um die schulischen Fortschritte einer seiner Söhne und fordert von Hesperius diesbezüglich Informationen, da er als Vater noch keine Neuigkeiten erhalten habe. 142 Zusammenfassend ist zu folgern, dass die Briefautoren sich über ihre Sprache (Latein) und ihre Bildung identifizierten und dies folglich als Abgrenzungsmarker gegenüber ,Anderen‘, wie den sogenannten Barbaren, gesehen werden muss. Gemäß Ralph W. Mathisen gab das literarische Wissen den ,Römern‘ ein Überlegenheitsgefühl gegenüber ,Anderen‘. 143 Diese These lässt sich mit den Briefen des Sidonius unterstützen; denn in einem Brief an Arbogast schreibt er, dass gebildete Männer den ungebildeten in der Art überlegen seien, wie Menschen sich von Tieren unterschieden. […] si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines, tanto anteferri rusticis institutos. 144 […] wenn du mit regelmäßiger Lektüre fortfährst, wirst du Tag für Tag erfahren, dass so wie Menschen die Tiere übertreffen, die Gebildeten vorzüglicher sind als die Ungebildeten. Weiterhin wird das gute bzw. richtige aristokratische Verhalten in den Briefen zur Sprache gebracht. Ein Anzeichen dafür, dass die gallo-römischen Aristokraten ein starkes Interesse daran hatten, die „mentalité“ ihrer gemeinsamen ‚Lebenswelt‘ an nachkommende Generationen weiterzugeben. 145 Das beweist beispielsweise der sorgenvolle Brief des Ruricius an seinen Sohn Constantius, der sich entgegen aristokratischer Tradition lieber der Musik als den Gebeten hingibt und daher vom Vater ob seines Verhaltens ermahnt werden muss, er möge doch den Eltern anstatt den Gesängen Aufmerksamkeit

140 Alc. Avit. epist. 54 (= 57 Peiper). 141 Siehe hierfür die Dissertation von Gerth 2013, 160–171, in der er ein Kapitel der Erziehung von Sidonius’ Sohn Apollinaris widmet. 142 Rur. epist. 1,5,3. 143 Mathisen 1997b, 147. Wood 1980, 41 betont, dass eine standesgemäße Abstammung ohne Bildung nichts wert gewesen wäre. 144 Sidon. epist. 4,17,2. Dieser Brief wird in Kapitel 6.5 noch eingehend behandelt. 145 Beispielsweise Sidon. epist. 5,11,3. In diesem Brief an den Aristokraten Potentinus, in welchem das Verhalten des Adressaten als vorbildhaft beschrieben wird, drückt Sidonius am Ende des Schreibens die Hoffnung aus, dass sein eigener Sohn dem Vorbild des Potentinus folgen möge. Vgl. Rur. epist. 2,24: Ruricius fordert seinen Sohn Constantius auf, sein Verhalten zu ändern und auf seine Eltern zu hören.

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Gallien im 5. Jahrhundert

schenken. 146 Durch ihre literarische Beschäftigung setzen sich die Briefautoren bewusst von anderen ab und schaffen ihre eigene Identität, die sie als typisch römisch empfinden. 147 Durch ständige Wiederholung ihrer Handlungen und bestimmter Inhalte in ihren Briefe überzeugten sie sich selbst, dass ihr Tun und ihr Verhalten im Einklang mit romanitas standen, von der sie ausgingen, dass sie traditionell sei.

146 Rur. epist. 2,24. 147 Wood 1980, 41.

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3. Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien Gaius Sollius Modestius Apollinaris wurde aufgrund seiner überlieferten Gedichte und Briefe früh von Altertumswissenschaftlern beachtet, wenn auch nicht gewürdigt: 1 Wer an den alten Formen festhält wie Sidonius Apollinaris […] verfällt unrettbar der Öde des Inhaltes und dem Schwulst. 2 So lautet die Einschätzung von Eduard Norden am Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Handbuch zur römischen Literatur. Während Sidonius Apollinaris im Mittelalter als lateinischer Autor geachtet, rezipiert und selbst im 17. Jahrhundert noch gelesen und verbreitet wurde, wurde er seit dem 18. Jahrhundert sprachlich und inhaltlich geschmäht, weshalb eine rege Erforschung seines Wirkens sowie seiner Werke erst mit dem 21. Jahrhundert einsetzt. 3 Dennoch faszinierte Sidonius schon früh einzelne Wissenschaftler, da seine Werke Einblicke in das tägliche Leben der Menschen in Gallien ermöglichen und von seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen berichten, was auf diese Art und Weise einzigartig ist. 4 Es verwundert nicht, dass im 19. Jahrhundert, quasi zeitgleich mit der Erforschung des Unterganges des Römischen Reiches, eine Beschäftigung mit seinen Werken begann und im deutschsprachigen Raum die ersten kritischen Editionen von Christian Lüthjohann und Paul Mohr entstanden. Während es keinen Zweifel an der historischen Relevanz des Werkes gab, wie Joop van Waarden feststellte, 5 fielen aus literarischer Sicht die Urteile eher abweisend aus. 6 Erste positive Evaluierungen von Sidonius’ Werk in sprachwissenschaftlicher Hinsicht wurden maßgeblich durch Isabella Gualandri in ihrer Arbeit Furtiva lectio (1979) vorgenommen. 7 1 Um die Arbeit in ihrer Fragestellung und Herangehensweise zu positionieren, wird zunächst ein kurzer Forschungsüberblick zu Sidonius gegeben. Einen ausführlichen Forschungsstand bieten die Ausführungen von Condorelli 2020 und Giannotti 2020 im Sidonius Companion. 2 Norden 1954, 130. 3 Van Waarden 2013, 4. 4 Siehe Reydellet 1981, 48: „L’œuvre de Sidoine Apollinaire est la seule qui offre une épaisseur suffisante, non pas en nombre de pages, mais comme témoignage d’une expérience individuelle.“ 5 Van Waarden 2013, 5; Lüthjohann 1887; Mohr 1895. Frühere Editionen der Briefe wurden bereits im 16./17. Jahrhundert von den französischen Humanisten Elie Vinet und Jean Savaron angefertigt, siehe hierzu: Amherdt 2013, 25, der auf den nachfolgenden Seiten (25–27) die französische Editionsgeschichte der Texte rezipiert. 6 Beispielsweise Peter 1901, 153: „[…] äußerste Geschmacklosigkeit … mit Prunk […] überladen, die Wortstellung verrenkt.“ 7 Gualandri 1979.

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Aus Großbritannien stammt die erste vollständige moderne Übersetzung der Briefe, die von O. M. Dalton angefertigt wurde und der einige Jahre später (1936) eine Übersetzung der gesamten Werke von W. B. Anderson folgte. 14 Jahre später erschien eine französische Auflage der Gedichte des Sidonius und im Jahr 1970 eine französische Übersetzung der Briefe, die beide durch André Loyen nach langer Arbeitszeit veröffentlicht wurden. 8 Dieser hatte mit viel Mühe versucht, eine Chronologie der Briefe aufzustellen, weshalb noch heute in der Wissenschaft auf die kritischen Editionen von ihm und auch von W. B. Anderson zurückgegriffen wird. 9 In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts folgten weitere Übersetzungen, wie die von Joan Bellés ins Catalanische und von Helga Köhler, die zunächst das erste Buch übersetzte und kommentierte, bevor erst 2014 die erste deutsche Komplettausgabe der Briefe in Übersetzung folgte. 10 Die neueste Übersetzung der Briefe (ins Italienische) hat Patrizia Mascoli im Jahr 2021 vorgelegt. 11 Im Jahr 1933 erschien die erste englischsprachige Biographie über Sidonius (Sidonius Apollinaris and His Age von Courtenay  E. Stevens), die bis heute in der Forschung als grundlegend gilt. 12 Erst im Jahr 1994 folgte eine weitere Auseinandersetzung mit dem Leben des gallo-römischen Aristokraten und Bischofes, die von Jill Harries verfasst wurde und die das Leben des Sidonius mit dem Fall des Römischen Reiches in Verbindung bringt. 13 Generell erlebte die Sidonius-Forschung am Ende des 20. Jahrhunderts einen Aufschwung, der sich bis heute stetig steigert. Maßgeblich beigetragen haben dazu die weiteren Arbeiten von Harries, die sich mit sozialwissenschaftlichen Fragen wie den Grenzen von romanitas oder der Rolle von Barbaren in Sidonius befasste, 14 sowie die Werke von Ralph W. Mathisen, der nicht nur erste prosopographische Studien vorlegte, sondern auch die Gesellschaft des Sidonius in den Blick nahm. 15 Silvia Condorelli weist in ihrem Aufsatz über die Forschungsgeschichte zu Sidonius von 1982 bis ins Jahr 2002 darauf hin, dass dieser oft auf unterschiedliche Weise untersucht wurde: zum Teil aus editionswissenschaftlichem und biographischem Interesse, wegen der Erforschung des historischen und sozialen Kontextes oder aufgrund philologischer Aspekte wie seiner Sprache und dem Gebrauch der Metrik, zum Teil aus Interesse an der vielfältigen Persönlichkeit des Sidonius als Literat oder als Bischof. 16 Vor dem Hintergrund 8 Dalton 1915; Anderson 1936/1965; Loyen 1960/1970, Bd. 2: Dieser hatte zuvor unter dem Titel Sidoine Apollinaire et l’Esprit Précieux en Gaule aux Dernier Jours de l’Empire – ebenfalls eine Biographie – über Sidonius veröffentlicht (Loyen 1943). An dieser Stelle muss erneut auf Amherdt 2013, 27 verwiesen werden, der erste französische Übersetzungen bereits für das 18. Jahrhundert benennt. 9 Mascoli 2021, 12. An dieser Stelle sei bereits auf das Problem der Datierung der Sidonius-Briefe hingewiesen, das unter Kapitel 3.2.2 ausführlicher zur Sprache kommt. 10 Bellés 1997–1999; Köhler 1995. 11 Mascoli 2021. Eine vollständige Auflistung sämtlicher Übersetzungen der Briefe und Gedichte findet sich auf https://sidonapol.org/translations/ (15. Mai 2022). 12 Kaufmann 1995, 35 f.; Stevens 1933. 13 Harries 1994. Ihre Arbeit trägt den Titel: Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome. 14 Harries 1996; 1994. 15 Mathisen 1997b; 1981; 1991. 16 Condorelli 2003, 140.

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des „cultural turn“ wurde in den letzten 30  Jahren neben der sprachwissenschaftlichen Perspektive auch der sozialhistorische Blick auf den spätantiken Aristokraten und Bischof gestärkt. So wurde seltener versucht, seine Texte als Quelle für die Rekonstruktion von Geschichte des 5. Jahrhunderts in Gallien heranzuziehen 17, sondern sozialgeschichtlichen Fragen in den Briefen den Vorrang gegeben. Als Beispiel seien Joop van Waarden (Episcopal Self-Presentations), Jerzy Styka (Cursus honorum im spätantiken Gallien im Lichte der Briefe Sidonius Apollinaris und Römische Schule in der Spätantike), Sigrid Mratschek (Identitätsbildung aus der Vergangenheit sowie The Silence of the Muses) oder die Werke von Ralph W. Mathisen (z. B. Roman Aristocrats in Barbarian Gaul) genannt. 18 Seit 2011 wurde, beginnend mit der Konferenz Sidonius Apollinaris for the 21st Century, ein internationales Forschungsprojekt zu Sidonius Apollinaris geschaffen (SAxxi-Projekt), das sich zum Ziel gesetzt hat, seine Briefe und Gedichte neu zu kommentieren. 19 Persönlich der Sidoniusforschung verschrieben hat sich der Niederländer Joop van Waarden, der eigens eine Homepage zu Sidonius kreiert hat und dort nicht nur eine laufend aktualisierte Bibliographie zum Autor führt, sondern die Sidoniusforscher miteinander vernetzt und über neue Projekte informiert. 20 Ein Ergebnis dieser Vernetzung und Kooperation ist zweifelsohne der im Jahr 2020 erschienene [The] Edinburgh Companion to Sidonius Apollinaris. Dieser Companion bietet eine wichtige Forschungsgrundlage zu den lebensweltlichen Hintergründen des Sidonius und beinhaltet einen aktuellen Forschungsstand zu Fragen bezüglich seiner Komposition, Überlieferung, Edition und seines Werkes. 21 Im Zuge der neueren Forschungen zu Sidonius ist auch ein erneutes Interesse an der Briefsammlung selbst festzustellen. 22 So widmen sich immer mehr Abschlussarbeiten der Kommentierung und Interpretation seines Werkes 23 und auch die Frage nach der Datierbarkeit seiner Briefe wurde in den letzten Jahren von Ralph W. Mathisen, Roy 17 Delaplace 2015; 2012; Wolff 2012a; Overwien 2009b; Le Guillou 2001. Besonders Christine Delaplace setzt sich kritisch mit Sidonius als Quelle für die Ereignisgeschichte des 5. Jahrhunderts auseinander: Delaplace 2015, 231–256. 18 Van Waarden 2013; 2011a; Styka 2011; Mathisen 1993. Mratschek 2008b (Vergangenheitsbezüge); 2020a (Musen). 19 Mehr zum SAxxi-Projekt: https://sidonapol.org/saxxi/ (15. Mai 2022). 20 https://sidonapol.org/ (15. Mai 2022). Es sei erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Joop van Waarden dadurch erheblich zur Popularität des Sidonius in unserer Zeit beiträgt. Besonders in den letzten zwei Jahren entsteht der Eindruck, dass kein Monat vergeht, in dem Sidonius nicht Thema eines Vortrages oder eines Artikels ist, wie auf der bereits erwähnten Homepage von Joop van Waarden nachvollzogen werden kann. So überrascht es auch nicht, dass die Sidoniusforschung mittlerweile einen eigenen Newsletter hat, der über Veröffentlichungen, Vorträge oder rezeptionsgeschichtliche Beiträge informiert. 21 Kelly/van Waarden 2020. 22 Mratschek 2017; van Waarden/Kelly 2013. 23 Giannotti 2016; Giulietti 2014; van Waarden 2010; Amherdt 2001. Folgende Kommentare sind momentan in Arbeit: Giulia Marolla bereitet einen Kommentar für das fünfte Buch der Briefe vor, Willum Westenholz kommentiert derzeit das sechste Buch, während Marco Onorato an Buch 8 arbeitet und Silvia Condorelli sich mit Buch 9 auseinandersetzt. Judith Hindermann hat die Arbeiten an einem Kommentar zu Buch 2 abgeschlossen.

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Gibson und Gavin Kelly neu aufbereitet. 24 Weniger die Frage nach der Datierbarkeit der Briefe, sondern nach den verschiedenen Temporalitäten und deren „Manipulation“ durch Sidonius standen im Fokus der Doktorarbeit von Michael Hanaghan. 25 Erst im Jahr 2021 wurden mit einem Sammelband von Marco Onorato und Anita Di Stefano (Lo specchio del modello. Orizzonti intertestuali e Fortleben di Sidonio Apollinare) neue Studien zu Intertextualität und Fortleben des Sidonius vorgelegt. 26 Aufgrund des guten Überlieferungszustandes der Briefe und der Einbettung von Sidonius in einen literarischen Zirkel ging die Forschung schon früh der Frage nach, ob er als Repräsentant der gallo-römischen senatorischen Elite betrachtet werden kann. 27 Raphael Schwitter untersucht diesbezüglich die metaphorische Sprache des Sidonius, während sich Matthias Gerth mit den Bildungsvorstellungen von des Autors beschäftigt. 28 Alison John hat in ihrer Dissertation zur Schulausbildung im spätantiken Gallien geforscht und in einem anschließenden Projekt die Griechischkenntnisse von Aristokraten wie Sidonius unter die Lupe genommen. 29 Mit dem Selbstverständnis der gallo-römischen Aristokratie haben sich jüngst zwei Arbeiten beschäftigt: Tabea L. Meurer fragt in ihrer Dissertation Vergangenes Verhandeln nach gemeinsamen Vergangenheitsbezügen der italischen und gallo-römischen senatorischen Elite und setzt sich mit der Bedeutung von Geschichte in den Werken des Sidonius auseinander. 30 Hendrik Hess hingegen legte mit seiner Studie eine Untersuchung über den Wandel und die Neuformierung der gallo-römischen Oberschicht, von Sidonius bis Gregor von Tours, vor, die unseren Autor mit Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne vergleicht. 31 In all diesen Arbeiten wurde die Bedeutung von Bildung als Abgrenzungsmarker gallo-römischer Aristokraten hervorgehoben, was auch diese Arbeit bestätigen wird. Dieser Band reiht sich in den dargestellten Aufschwung der Sidoniusforschung ein. Da ich mich jedoch mit dem ,Barbarenbild‘ des Sidonius und der Frage nach den Auswirkungen auf die Identitäten desselben auseinandersetze, müssen einige Worte zu Sidonius und der ‚Barbarenforschung‘ angeführt werden: Schon früh begannen Wissenschaftler, sich mit Sidoniusʼ Verhältnis zu ,Barbaren‘ zu beschäftigen, wie z. B. Hagith Sivan (Sidonius Apollinaris, Theoderic II, and Gothic-Roman Politics from Avitus to Anthemius) oder Jill Harries in ihrem Aufsatz über Sidonius, Rom und die Barbaren. 32 Neben Untersuchungen, die sich speziell auf Sidonius beschränkten, 24 Kelly 2020; Gibson 2013b; Mathisen 2013b. 25 Hanaghan 2019, 89. Zur Erzählzeit in den Briefen: 58–90. 26 Onorato/Di Stefano 2020. Besonders der zweite Teil des Sammelbandes, der sich mit Sidonius’ Einfluss auf Autoren des 6. bis 15. Jahrhunderts fokussiert, stellt ein Novum der Forschung dar. 27 Zu literarischen Zirkeln in Gallien: Eigler 2013; Mathisen 1981. Zu Sidonius als Vertreter der gallorömischen Aristokratie: Frey 2003; Percival 1997; Näf 1995; Mathisen 1993. 28 Schwitter 2015, passim; Gerth 2013, 160–223. 29 John 2020, 846–864; John 2018 unpubl. 30 Meurer 2019, insb. 164–253. 31 Hess 2019, 27–117. 32 Harries 1992; Sivan 1989. Siehe weiterhin Fo 1999 Sidonio nelle mani di Eurico als Beispiel für eine direkte Beschäftigung mit Sidonius und den barbarisch-römischen Beziehungen.

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wurden die Beziehungen der gesamten gallischen Aristokratie zur Barbarenwelt genauer betrachtet. Als Beispiel seien die Dissertation von Britta Everschor (Die Beziehungen zwischen Römern und Barbaren auf Grundlage der Briefliteratur des 4. und 5. Jahrhunderts) sowie Audrey Becker (Les relations diplomatiques romano-barbares en Occident au Ve siècle) erwähnt. 33 Im Rahmen seiner Studien hat sich Frank M. Kaufmann eingehender mit ,Germanen‘ in den Werken des Sidonius beschäftigt, ebenso wie Matthias Gerth im Rahmen seiner Abhandlung die ,ungebildeten Barbaren‘ und Sidonius thematisiert hat. 34 Selbst in oben erwähnten Werken wie beispielsweise von Raphael Schwitter, Hendrik Hess oder Tabea Meurer bleiben Barbaren nicht unerwähnt. Weiterhin gilt es auf die zahlreichen Artikel aufmerksam zu machen, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. 35 Zeitgleich mit vorliegender Arbeit entstand die 2018 eingereichte Dissertation von Sara Fascione, die sich unter dem Titel Gli ‚altri‘ al potere mit Barbaren in den Briefen des Sidonius beschäftigte, welche sich in einflussreichen Positionen befanden. Fascione richtet ihren Blick primär auf einzelne ‚barbarische‘ Persönlichkeiten und deren Ausübung von Macht in den gallischen Provinzen. 36 Ebenso wie die ,Anderen‘ von der Forschung beachtet wurden, stand auch der Autor selbst im Interesse der Wissenschaft. Dabei sind weniger die biographischen Ansätze gemeint, sondern Sidonius’ eigene Selbstverortung und Selbstpräsentation in seinen Werken. Diesbezügliche Untersuchungen wurden vorgelegt von Thomas Kitchen, der Sidonius’ Identität untersucht, Joachim Küppers, der sich den autobiographischen Aspekten in den Briefen widmet, oder Walter Pohl, der sich mit der Identität von Sidonius beschäftigt. 37 Bis heute existiert keine Synthese über die Betrachtung und Analyse der Darstellung von Barbaren in den Werken. Es fehlt an Monographien, die speziell das Barbarenbild in seinen Werken analysieren und interpretieren. Vorliegende Arbeit möchte zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen, um durch Sidonius’ Blick auf die ,Anderen‘, ihn selbst besser fassen zu können. Ferner hat sich die Barbarenforschung vor dem Hintergrund der „cultural turns“ in den Geschichtswissenschaften nachhaltig verändert und es bedarf mehr Vorsicht im Umgang mit der Gleichsetzung von ,Germanen‘ und Barbaren.

33 Becker 2013; Everschor 2007. Weiterhin sei auf die zahlreichen Artikel verwiesen, wie beispielsweise die 2020 von Giulia Marolla vorgelegte Untersuchung zu den Veränderungen gallo-römischer Aristokraten aufgrund der burgundischen und visigotischen Ansiedlungen (Marolla 2020). Eine Beschäftigung mit der Darstellung der Visigoten und Burgundern erfolgte 2014 im Rahmen einer Magisterarbeit an der Universität Heidelberg von der Autorin selbst. 34 Gerth 2013, 211–218; Kaufmann 1995, 79–219. Ferner fand das Barbarenbild des Sidonius auch in folgenden Abhandlungen Beachtung: Le Guillou 2001, 145–148; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xxxxix– xlii; Fischer 1948, 132–144. 35 In Auswahl: Egetenmeyr 2021; 2019; Fascione 2019; Harland 2019; Becht-Jördens 2017; Montone 2015; Furbetta 2014/2015; Jiménez 2011; Wood 2011; Gosserez 2010; Overwien 2009b; Raga 2009; Smolak 2008; Mathisen 2006; 1997a; Goltz 2002; Giannotti 2000; Gualandri 2000; Fo 1999; Harries 1992. 36 Fascione 2019. 37 Pohl im Druck; van Waarden 2020a; Kitchen 2010; Küppers 2005.

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Sidonius als das ,Selbst‘ der Briefe

Da das Leben des Sidonius weitestgehend auf Grundlage seiner eigenen Briefe überliefert worden ist, muss davon ausgegangen werden, dass er ein bestimmtes Bild seiner selbst kreiert hat. 38 Dies bedeutet nicht, dass sämtliche Aussagen in Zweifel zu ziehen sind, sondern, dass der Lesende ein spezielles Bild der Persönlichkeit des Autors vermittelt bekommt, welches der Autor bewusst weitergeben wollte. Eine Darstellung soll helfen, jenes von Sidonius erschaffene Selbstbild zu dekonstrukieren, um im Anschluss seiner Identitätsbildung näher zu kommen. Dabei wird dem im Kapitel 1 erarbeiteten Ergebnis gefolgt, dass Identität als ein konstanter Entwicklungprozess zu verstehen ist, der an der Grenze zwischen Vertraut (Traditionen) und Unvertraut (Alterität) vollzogen wird. Sidonius stand in seinem Leben zwischen Tradition und Innovation und lebte im Spagat zwischen Vertrautem und Unvertrautem. Welche Konsequenzen hatte dies auf seine Selbstwahrnehmung? Sah sich Sidonius als Römer, als Arverner, als Gallo-Römer oder als Politiker, Bischof oder Literat? Oder bildete all dies zusammen seine ganz eigene Identität? Wer war Sidonius? 39

38 Vgl. Schröder 2007, 153 f. Sie arbeitet u. a. heraus, dass Briefe eine soziale Funktion im Rahmen von Selbstpräsentation und Selbstidentifikation hatten. Eine ähnliche Ansicht vertritt Françoise Prévot, die die Konstruktion der Briefsammlung, mit Inhalten, aber auch bewussten Auslassungen eng an der Konstruktion des Selbstbildes von Sidonius analysiert und interpretiert. Die Briefsammlung biete einen Einblick die Personalität des Autors (Prévot 2013, passim, insb. Abschnitt 1). In van Waarden 2020a, 14 f. findet sich eine Übersicht von weiteren Quellen, die Informationen über den auvergnischen Bischof bieten. Neben dem Epitaph des Sidonius, das 1991 im Museum in ClermontFerrand identifiziert wurde und darüber hinaus in zwei verschiedenen Manuskripten überliefert ist, sind insbesondere die Briefe des Ruricius von Limoges und Avitus von Vienne zu berücksichten, die Sidonius oder seinen Sohn erwähnen (z. B. Rur. epist. 1,8; 1,9; 1,16; 2,26; 2,27; Alc. Avit. epist. 48 [= 51 Peiper]; 49 [=52 Peiper]). Gregor von Tours widmet dem arvernischen Bischof vier Kapitel in seinem Geschichtswerk, die eine kurze Zusammenfassung von dessen Leben, Wirken und Tod darstellen. Dass Sidonius ein wichtiger Akteur seiner Zeit war, beweist Claudianus Mamertus, der sein Werk De statu animae eben diesem gewidmet hat. Joop van Waarden weist ferner darauf hin, dass Gennadius in seinem Werk De viris illustribus, eine Fortführung der gleichnamigen Schrift von Hieronymus, Sidonius nenne (Kapitel 92). Tina Chronopoulos merkt jedoch an, dass dieses Kapitel erstens lediglich in vier Handschriften überliefert sei, von denen zwei (aus dem 7. und 13. Jahrhundert) eine starke Abhängigkeit aufzeigen, und die verbleibenden zwei anderen Handschriften aus dem 15. Jahrhundert stammen. Zweitens folge die biographische Skizze des Sidonius nicht der üblichen Manier, in der Gennadius seine viri illustres präsentiere (Chronopoulos 2010, 242). Dies würde bedeuten, dass der Text von einem späteren Kopisten verändert worden wäre und keine zeitgenössische Quelle darstelle. Für Sidonius’ Leben bleiben seine Briefe als einzige zeitgenössische Quelle übrig, wenn von den kurzen Verweisen bei Ruricius und Avitus abgesehen wird. 39 Pohl im Druck beginnt seine Untersuchung über die Identität des Sidonius mit der Hypothese, dass dieser sich grundlegend als „römisch“ betrachtete, dass dies jedoch nicht das Ergebnis einer solchen Studie, sondern ihr Beginn sein muss: „[…] saying that Sidonius was ‚Roman‘ does not say much. How he was Roman is already more interesting.“

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3.1.1 Jugend und Ausbildung Gaius Sollius Apollinaris Sidonius 40 wurde um 430/433 im heutigen Lyon geboren. 41 Sein ungefähres Geburtsjahr kann aufgrund einer Bemerkung seiner selbst in einem seiner Briefe berechnet werden, aber eine exakte Datierung muss offenbleiben. 42 Der Tag seiner Geburt steht hingegen fest (5. November), denn er wird von Sidonius in einem Gedicht an seinen Schwager Ecdicius beiläufig erwähnt. 43 Als Sohn einer wohlhabenden gallo-römischen Aristokratenfamilie wurde er die ersten Jahre seines Lebens zu Hause unterrichtet und besuchte vermutlich anschließend die Grammatikschule in seiner Vaterstadt, wo er erste Erfahrungen mit dem christlichen Glauben machte. 44 Ein Blick auf die Ausbildung des Sidonius ist nicht uninteressant, wenn der Annahme Ulrich Eiglers gefolgt wird. Nach dieser bleibe „die ,eingebrannte‘ sprachliche Erfahrung des Grammatikunterrichts“ für den privaten Umgang mit den antiken Schriften grundlegend und liefere zudem die Basis für eine spätere Kommunikation, wie im Falle des Sidonius für die epistulae. 45 Weiterhin entwickelte sich Bildung 40 Germain 1840, 180 weist auf die Problematik des Namens hin, da unterschiedliche Namen in verschiedenen Quellen für Sidonius belegt sind, die jedoch nie alle auf einmal verwendet werden: Gaius, Sollius, Modestus, Apollinaris und Sidonius. Siehe hierzu weiterhin: van Waarden 2010, 4 f. 41 An dieser Stelle wird auf den tabellarischen Lebenslauf, der in van Waarden 2010, 5–7 zu finden ist und einen groben Überblick über das Leben des Autors bietet, hingewiesen. In seinem Beitrag von 2020 hat Joop van Waarden seinen Lesern eine Zusammenfassung gesicherter Daten aus dem Leben des Sidonius zusammengestellt: van Waarden 2020a, 26. In diese Auflistung hat er allerdings auch die Veröffentlichung einzelner Briefbücher, basierend auf den Studien von Mathisen 2013b und Kelly 2020, aufgenommen. 42 Sidon. epist. 8,6,5. Sidonius beschreibt, dass er als adulescens den Amtsantritt des Astyrius (PLRE II, 174 unter Fl. Astyrius; vgl. Heinzelmann1983, 562 s. u. Fl. Astyrius 1) erlebt habe, als sein Vater im Amt des praefectus praetorio den Vorsitz auf dem Tribunal der gallischen Provinzen führte. Vgl. van Waarden 2011b, 100; Küppers 2005, 251; Amherdt 2001, 11; Stevens 1933, 1. Kitchen 2010, 53 versucht, jedoch ohne weitere Begründung, das Geburtsjahr auf 431/432 einzuschränken. 43 Sidon. carm. 20,1: Natalis noster Nonas instare Novembres  / admonet […]. „Mein Geburtstag erinnert mich, dass die Nonen des Novembers bevorstehen […].“; Stevens 1933, 1; vgl. Delhey 1993, 1 Anm. 2, der das Problem der Übersetzung von Natalis aufgrund einer möglichen Personifizierung anspricht. Ich vertrete die Ansicht, dass Sidonius seinen Geburtstag meinte. 44 Für einen Überblick zur spätantiken Bildung sei auf Schwitter 2015, 80–125; Watts 2012, passim; Sehlmeyer 2009, 115–159; Gemeinhardt 2007, passim; Brown 1992, 35–70; Eigler 2003, 113–129; Irmscher 1992, passim; Kaster 1988 verwiesen; ferner der von Peter Gemeinhardt publizierte Sammelband Was ist Bildung in der Vormoderne, in dem er selbst eine (Re-)Definition von Bildung für Antike und Mittelalter vorschlägt (Gemeinhardt 2019c). Mit der Bildung des Sidonius haben sich speziell Gerth 2013, 157–189; Styka 2008, passim und Horváth 2000, passim beschäftigt. 45 Eigler 2003, 251; Harries 1994, 39 f. Stevens 1933, 3 führt als früheste Ausbildung das Alphabet und moralische Regeln an. Er vermutet, dass Sidonius, wie von Paulinus von Pella (euch. 72–74) für die gallische Jugend überliefert, mit sechs Jahren, kurz nach Vollendung des fünften Lebensjahres (lustrum), die schulische Ausbildung begann; Styka 2008, 157 argumentiert, dass es ungewiss ist, ob Sidonius in den ersten Jahren in einer öffentliche Schule seine „Grundausbildung” erhalten hätte oder ob er einen Privatlehrer besaß. Bei der christlichen Ausbildung dieser Zeit war die Lektüre der Heiligen Schrift – obgleich nicht als stilistisches Vorbild (vgl. Eigler 2003, 126) – neben anderen

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als grundlegendes Distinktionsmerkmal, um sich von ,Anderen‘ zu unterscheiden. Im Grammatikunterricht, mit dem die schulische Laufbahn für gewöhnlich begann, wurden nicht nur berühmte Klassiker wie Homer, Menander, Ausonius, Horaz, Vergil oder Terenz gelesen, sondern auch Historiker wie Sallust oder die Schriften Ciceros. 46 Durch diese Ausbildung konnte sich Sidonius sehr früh ein breites Wissen aneignen, welches er Zeit seines Lebens stetig erweiterte. Zu vermuten ist, dass Sidonius in dieser frühen Lebensphase v. a. durch Eucherius, dem Bischof von Lyon, der laut Jill Harries dem geistigen Leben dort vorstand, beeinflusst wurde. Courtenay E. Stevens jedoch streitet einen christlichen Einfluss auf die Ausbildungsphase vehement ab. 47 Harries hingegen führt in ihrer Arbeit drei Aspekte an, weshalb Eucherius so bedeutend gewesen sei: „noble and episcopal connections, literary talent, and a strong base on which to build“. 48 Wenn der spätere Verlauf von Sidonius’ Leben betrachtet wird, wird eine Parallele zum Lyoner Bischof ersichtlich. Stevens berücksichtigt zudem nicht, dass es sehr wohl einen Anhaltspunkt in Sidonius’ Werken gibt, der einen Bezug zur Christlichkeit erkennen lässt: Für die Renovierung der Kathedrale (St. Johannes) in Lyon wurde Sidonius von Eucherius’ Nachfolger gebeten, eine Inschrift zu verfassen, die von ihm selbst in einem Brief an Hesperius rezitiert wird. 49 Dies lässt darauf schließen, dass zwischen der christlichen Präsenz in Lyon und der Persönlichkeitsbildung des Sidonius schon früh eine Verbindung herrschte, da Sidonius der Ausbildung wegen die Stadt in jungen Jahren verlassen hatte. Weiterhin demonstriert der Brief, dass Sidonius aufgrund seines literarischen

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klerikalen Autoren wie Augustinus, Hieronymus oder Ambrosius allgegenwärtig. Zur christlichen Bildung in der Spätantike siehe: Sehlmeyer 2009, 133–136; Gemeinhardt 2007, insb. 165–306; zur christlichen Bildung in Gallien siehe: John 2021, passim; 2020; Eigler 2013, 407–412; Greschat 2007, passim; Heinzelmann 1976, 194–199. Abzuwarten bleibt die Publikation von Alison John (John 2018) sowie die publizierten Ergebnisse der Tagung Gallia Docta – Learning and Its Limitations in Late Antique Gaul, in der auch Sidonius einen breiten Platz einnahm. Harries 1994, 39. Harries 1994, 39 f. Stevens 1933, 5: „There is no hint in Sidonius’ work, that he received any religious instruction at all.“ Harries 1994, 40: Zu hinterfragen bleiben die Quellen, welcher sich Jill Harries in Bezug auf Eucherius bedient hat. Sidon. epist. 2,10,3 f. Sidonius beschreibt sowohl die Gestaltung als auch die Wirkung der Kathedrale auf den Betrachter. Bei dieser Beschreibung sind v. a. die Wortspielereien wie Paronomasien, Alliterationen und Oxymora zu beachten, welche er benutzt, um die Schönheit der Kirche mit Worten zu veranschaulichen, z. B.: sol sic sollicitatur; pedes atque eques. Es fällt bereits hier auf, dass Sidonius gerne Hyperbata und Parallelismen verwendet, wie z. B.: huic est porticus; hinc agger sonat, hinc Arar resultat. Van Waarden 2011b, bes. 100‒108, passim arbeitet in seinem Aufsatz heraus, dass die christliche Haltung des Sidonius nicht nur in den Carmina, sondern auch in den Episteln zum Ausdruck kommt. Styka 2008, 158 bekräftigt zwar, wie im Text bereits erwähnt, eine christliche Grundbildung des Sidonius, merkt aber ebenfalls an, dass für dessen Werke die Kenntnis christlicher Autoren keinen Ausschlag gehabt habe, im Gegensatz zu den traditionellen Schriften. Dieser Aussage ist bedingt zuzustimmen. Es ist unbestritten, dass der klassische Einfluss in den Werken des Sidonius überwiegt. Dennoch ist spätestens nach der conversio ein christlicher Einfluss in den Werken nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Styka 2008, 159 selbst gibt als Beispiel das Dankgedicht Carm. 16 an Faustus an, das biblische Themen beinhaltet.

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Talentes von seinem christlichen Umfeld geschätzt wurde. Denn die Abfassung der Inschrift in metrischer Form zeugt von seinen literarischen Fähigkeiten. Er verbrachte seine Jugend in einer Stadt, in welcher sich gallo-römische Aristokraten bemühten, den „Stolz der Vergangenheit“ wiederzuerlangen und dadurch unbewusst eine neue christliche Identität zu bilden. 50 Seine Familie und damit er selbst waren von diesem Prozess nicht ausgeschlossen, sondern maßgeblich daran beteiligt. Besonders der Grammatikunterricht war als Grundlage für die Ausbildung eines Aristokraten von Bedeutung und wurde deshalb von Ágnes T. Horváth als die wichtigste Stufe der Schulbildung bezeichnet. 51 Durch diese Ausbildung konnte sich Sidonius sehr früh ein breites Wissen aneignen, das er Zeit seines Lebens stetig erweiterte. Im Anschluss an die Grammatikschule absolvierte er höchstwahrscheinlich im heutigen Arles eine rhetorische Ausbildung, wie es in höheren römischen Familien üblich war. 52 In der Spätantike war die ars rhetorica noch immer sehr hoch angesehen und nicht aus der klassischen Ausbildung eines jungen Aristokraten wegzudenken, wobei neben der Redekunst die Philosophie nicht vernachlässigt werden durfte. Unterrichtet wurde Sidonius gemeinsam mit anderen Aristokraten, gemäß den Grundlagen eines Sokrates, Platons und Aristoteles, durch den Lehrer Eusebius. Besonders Probus, ein weiterer Schüler, hat auf Sidonius einen bleibenden Eindruck hinterlassen. 53 Ihm widmete Sidonius den ersten Brief des vierten Buches und gesteht dort ein, dass Probus allen anderen in sämtlichen Bereichen überlegen war. 54 Dieser Abschnitt des Briefes wurde von Jerzy Styka ausführlich analysiert. Er hat herausgearbeitet, dass Sidonius hier zwölf Bereiche der Schulbildung anspricht, die durch Parallelismen aufgezählt und durch beigestellte Adjektive näher charakterisiert werden. So wird die Lehre über die Heldendichtung zum Beispiel als arduus (mühevoll/schwierig) bezeichnet. 55 Diese Art der rhetorischen Aufzählung hatte sich Sidonius von Symmachus angeeignet, der dieses Stilmittel in einem Brief an seinen Vater verwendet, um die Vorzüge der literarischen Tätigkeit zum Ausdruck zu bringen. 56 50 51 52 53

Harries 1994, 46. Horváth 2000, 152. Styka 2008, 160; Amherdt 2001, 11; Harries 1994, 47; Stevens 1933, 4 f. Sidon. epist. 4,1,3. Es bleibt selbsterklärend, dass Sidonius das Lob auf Probus nutzt, um dem Leser seinen eigenen hohen Bildungsstand zu vermitteln. Sidonius beschreibt in seinen Briefen die Diszi­plinen, die unter dem Gesamtbegriff „Philosophie“, nach den Grundlagen von Claudianus Mamertus’ De statu animae, verstanden wurden. Diese sind nach Sidon. epist. 5,2,1: Grammatik, Redekunst, Arithmetik, Geometrie, Musik, Dialektik, Astrologie, Architektur und Metrik; vgl. Stevens 1933, 7. Horváth 2000, 158 weist darauf hin, dass Sidonius zwar einzelne Philosophen mit Namen nenne, jedoch deren Werke in seinen Briefen nicht näher analysiere. Zur Rolle des Probus siehe: Styka 2008, 161, 170; zu Probus siehe; PLRE II, unter Probus 4, 910. 54 Sidon. epist. 4,1,2. Amherdt 2001, 68 sieht die stilistisch ausgearbeitete Aufzählung als Hinweis für die Intention des Sidonius, Bildung und Kultur zu verteidigen. 55 Styka 2008, 161‒170. 56 Symm. epist. 1,3,2: quidquid in poetis lepidum, apud oratores grave, in annalibus fidele, inter grammaticos eruditum fuit, solus hausisti, iustus heres veterum litterarum. „Was auch immer bei den Poeten anmutig, bei den Rednern würdevoll, in den Annalen glaubhaft und bei den Grammatikern gelehrt

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Die Aufnahme christlicher Autoren sowie der Bibel selbst in den Bildungskanon komplementierten die pagane Bildung. 57 Durch die christliche Lebenswelt wurden nicht nur alte Gepflogenheiten wie die Ausbildung in Kindes- und Jugendalter aufrechterhalten, sondern neue Traditionen, christliche Literarität, Bildung und Lebensweise geschaffen, wie Sidonius’ Weg zum Erwachsenenalter vor Augen führt. 58 Rossana Barcellona verdeutlicht, dass er seine klassische Ausbildung mehr als nur verinnerlicht habe, sondern das klassische Erbe erhalten und bewahren möchte. Das Christentum sieht sie dazu weder als Gegensatz noch als eine Barriere. 59 Ich schließe mich ihrem Urteil an und halte fest, dass Sidonius auf Grundlage seiner Ausbildung und stetigen Weiterbildung beide ‚Lebenswelten‘, die der klassischen Bildung sowie der christlichen Literarität, miteinander verwob und daher einzelne seiner Briefe auch nicht als „rein weltlich“ oder „rein christlich“ eingestuft werden können und auch nicht sollten! Die Bildung des Sidonius umfasste beide Aspekte und war Teil seiner Persönlichkeiten. Als Fazit zur Ausbildung des Sidonius ist festzuhalten, dass er „zu einer Zeit unterrichtet wurde, als die intellektuellen Zentren in Südgallien noch gut funktionierten“. 60 Er gilt als einer der am besten ausgebildeten Aristokraten seiner Zeit. In welchem Jahr seine Ausbildung abgeschlossen war beziehungsweise er die Schule verließ, muss aufgrund ungenügender Hinweise in seinen Werken Spekulation bleiben. 61

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war; du hast alles eingesogen, du, der wahre Erbe der alten Literatur.“ Die parallele Aufzählung in abwechselnder Verwendung von Ablativ und Akkusativ hat Sidonius jedoch nicht nachgeahmt. Wohl aber die gegensätzliche Bedeutung der Adjektive, da er lepidus und arduus gegenüberstellt, was der Verwendung von lepidus und gravus in der Aufzählung des Symmachus entspricht. Horváth 2000, 153 f., 161. Des Weiteren lobt Sidonius Probus, der durch Gottes Hilfe in der Lage war, die Jugend zu unterrichten; Sidon. epist. 4,1,2: […] sub ope Christi te docere posse, me discere […]. „Durch Christi Werk warst du in der Lage zu unterrichten, ich um zu lernen […].“ Barcellona 2015, 286. Styka 2008, 175; Horváth 2000, 162, bezeichnet ihn sogar als „the most educated man of his age“. Harries 1994, 52 vermutet, dass die Ausbildung zwischen den Jahren 449 und 452 abgeschlossen gewesen wäre. Stevens 1933, 19. Hier gilt es auf einige chronologische Ungereimtheiten aufmerksam zu machen, die auffallen, wenn die Arbeiten von Courtenay E. Stevens und Jill Harries vergleichend betrachtet werden: Während Courtenay E. Stevens keine Jahreszahl nennt, sondern einfach schreibt, dass Sidonius mit 16 Jahren seine rhetorische Ausbildung begonnen hätte, erfolgt diese ohne Nennung eines spezifischen Alters bei Jill Harries schon im Jahre 440. Dies bedeutet, dass Sidonius zu diesem Zeitpunkt gerade einmal acht oder neun Jahre alt war, da Jill Harries von den Geburtsjahren 431 oder 432 ausgeht. Nach Stevens’ Chronologie wäre Sidonius erst 448 nach Arles gekommen. Da er seine zahlreichen Unterrichtsfächer in den Briefen benennt, ist es unwahrscheinlich, dass die letzte Ausbildungsphase lediglich ein Jahr gedauert hat. Aber auch ein Beginn der rhetorischen Ausbildung im Kindesalter halte ich für unwahrscheinlich, da dafür gewisse Grundkenntnisse vonnöten waren. Hier ist eher der älteren Arbeit von Courtenay E. Stevens den Vorzug zu geben, der verdeutlicht, dass weder die Ausbildungsorte noch die exakten Ausbildungszeiträume bekannt sind und ferner nicht durch autobiographische Angaben erschlossen werden können. Es bleibt demnach Spekulation, wann und wo Sidonius unterrichtet wurde. Ebenso ist die Angabe von Harries, dass Sidoniusʼ Ausbildung im Jahr 499 geendet habe, nicht belegbar. Sie untermauert dies indirekt mit der Eheschließung des Sidonius, die wohl kurz nach dem Konsulatsantritt des Astyrius erfolgt sein soll, aber ebenfalls nicht exakt chronologisch im Lebenslauf des gallo-römischen

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3.1.2 Familie und aristokratische Pflichterfüllung Sidonius’ Familie war in den alten römischen Traditionen tief verwurzelt. Bereits sein Urgroßvater hatte Ende des 4. Jahrhunderts ein höheres Amt im Reichsdienst inne und auch sein Großvater Apollinaris glänzte mit Ämtern. 62 Dieser wurde unter dem Usurpator Konstantin (III.) im Jahr 408 praefectus praetorio Galliarum und nahm als Erster in der Familie die christliche Religion an. 63 Da das Grab des Großvaters geschändet wurde, oblag es Sidonius als nächstem Verwandten, es zu restaurieren. Dabei verfasste er für seinen Großvater ein Epitaph, in dem er dessen besondere Hingabe an das Vaterland würdigte. Gleichzeitig veranschaulicht das Epitaph die Verbundenheit seines Verfassers zu Traditionen, deren Einhaltung er als Verpflichtung gegenüber seiner Familie, seinen Vorfahren und seinem Stand sah. 64 Serum post patruos patremque carmen / haud indignus avo nepos dicavi, / ne fors tempore postumo, viator, / ignorans reverentiam sepulti / [5] tellurem tereres inaggeratam. / praefectus iacet hic Apollinaris / post praetoria recta Galliarum / maerentis patriae sinu receptus, / consultissimus utilissimusque / [10] ruris militiae forique cultor,  / exemploque aliis periculoso / liber sub dominantibus tyrannis. / haec sed maxima dignitas probatur, / quod frontem cruce, membra fonte purgans / [15] primus de numero patrum suorum / sacris sacrilegis renuntiavit. / hoc primum est decus, haec superba virtus, / spe praecedere quos honore iungas / quique hic sunt titulis pares parentes, / hos illic meritis supervenire. 65 Spät, als Vater und Onkel längst gestorben, / widmete dies Gedicht ich, ein Enkel, nicht unwürdig / des Großvaters, dass einst du, Wandrer, nicht die / Ehrfurcht vor dem Verstorbenen vergessend / trittst mit Füßen die Erde seines Hügels. / Hier ruht sanft der Präfekt Apollinaris. / Gallien hat er regiert, danach empfing ihn / trauernd in ihrem Schoß der Heimat Erde. / Trefflich ratend, von großem Nutzen allen, / diente er tüchtig im Feld, dem Staat, der Öffentlichkeit. / Beispiel war er, für andere zu gefährlich, / frei auch unter der Herrschaft von Tyrannen. / Doch war dies seiner Würde höchstes Zeugnis: / weil Stirn er reinigt und Leib mit Kreuz und Wasser / und als erster von seinen Vätern schwor er / ab den gottlosen

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Aristokraten einzuordnen ist. Courtenay E. Stevens hingegen gibt zu bedenken, dass Sidonius spätestens mit 20 Jahren seine schulische Ausbildung beendet hat, da dieses Alter gesetzlich von Valentinian festgelegt worden war; siehe: Cod. Theod. 14,9,1. Sidon. epist. 1,3,1; Kaufmann 1995, 43. Mit der Familie väterlicherseits haben sich v. a. Mascoli 2010 und Zittel 2009, 180–186 beschäftigt. Zur Karriere des Großvaters siehe: Mascoli 2010, 12. Zur Rolle des Großvaters unter Konstantin (III.) sowie vermutlich unter Jovinus siehe: van Waarden 2020a, 19. Drinkwater 1998, 288 vermutet, dass er nach der fehlgeschlagenen Revolte des Jovinus zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde, da dieses Schicksal auch andere Angehörige der Nobilität getroffen habe. Belegbar ist diese Vermutung jedoch nicht. Mascoli 2010, 1, 14, 17; Zittel 2009, 180 f.; Kaufmann 1995, 43; Harries 1994, 26. Sidon. epist. 3,12,5, V 1–20.

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Opferbräuchen. / Höchste Zierde ist dies und stolze Leistung: / gleich an Ehren, doch stärker in der Hoffnung, / selbst die Väter, die hier von gleichem Range, / dort an geistlichem Lohn zu übertreffen. 66 Die ersten fünf Verse des Epitaphs sind als Einleitung zu verstehen und begründen erstens, warum Sidonius dieses verfasste, und zweitens, wieso dieser das Grab überhaupt restauriert hat. Gleich zu Beginn erfährt der Leser, dass dies serum (zu spät) geschehen ist. Zudem wird deutlich, dass Sidonius nach seinem Vater und den patrui, die in diesem Zusammenhang nur seine Onkel sein können, an der Reihe ist, das Epitaph zu setzen, was der Sitte der laudatio gentilis entspricht. 67 Sidonius’ Vater oder dessen Brüder müssen für den Verstorbenen früher einmal ein Epitaph haben anfertigen lassen, das wohl zusammen mit dem Grab zerstört worden war. Wann Sidonius diesen Zustand bemerkt hat, ist nicht bekannt. Neben den Alliterationen, welche die Einleitung des Epitaphs beginnen und abschließen, fällt die Verwendung temporaler Wendungen wie serum, post, tempus und postumus auf. Sie zeigen, dass sich Sidonius nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt, sondern sich ebenso um die mögliche Zukunft, hier wörtlich als fors, als unbekanntes Schicksal repräsentiert, gesorgt hat. Damit stellt er sich, nach der Theorie von Aleida Assmann, als Traditionsträger zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das impliziert des Weiteren die Aufforderung an einen unbekannten Reisenden, das Grab nicht zu übersehen und zu betreten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist in der zweiten Zeile die Passage haud indignus avo nepos: zugleich Hyperbaton und Litotes. Hier stellt sich Sidonius selbst als den Enkel dar, der gegenüber dem Großvater beziehungsweise ebenso wie der Großvater besonders würdig ist, und somit das Recht hat, dieses Epitaph zu setzen. Er identifiziert sich somit zum einen als Erbe seiner aristokratischen Abstammung, und zum anderen verdeutlicht er, dass er dieses Erbe erfolgreich angenommen hat, indem er öffentliches Ansehen erreicht hat. 68 Das Verdienst seines Großvaters für Gallien und den Staat war so groß, dass das Vaterland um den consultissimus und utilissimus Präfekten trauert. 69 Gallien hat in der Darstellung des Sidonius nicht irgendeinen Aristokraten verloren, sondern, wie die Superlative zeigen, seinen besten und nützlichsten Ratgeber, der das 66 Übersetzung verändert nach Köhler 2014, 90. 67 Die Alliteration post patruos patremque ist gleichzeitig eine Ellipse, da Sidonius ausdrücken möchte, dass diese Vorfahren, zumindest der Vater, bereits verstorben waren. Die Pflicht der laudatio gentilis würde nach römischer Sitte auf den ältesten Sohn der Familie übergehen. Dass der Vater des Sidonius diese Aufgabe nicht übernommen hat, spricht für die Ellipse in Zeile  1, da die Schändung des Grabes zu einem Zeitpunkt geschehen sein muss, an welchem Sidoniusʼ Vater bereits selbst verschieden war. Da die patrui in der Zeit zwischen dem Großvater und Sidonius gelebt haben müssen und der Vater extra erwähnt wird, kann mit Sicherheit angenommen werden, dass es sich um die Onkel des Sidonius handeln muss. Ob auch diese bereits verstorben waren, muss spekuliert werden. Sidonius war entweder tatsächlich der nächste, noch lebende Verwandte oder er fühlte sich von allen Verwandten seinem Großvater am engsten verbunden. Zur Frage, wer die Onkel väterlicherseits waren, siehe: Mathisen 2020, 58–59. Zur laudatio gentilis vgl.: Heinzelmann 1976, 51. 68 Siehe Salzman 2000, 351, 353 zum öffentlichen Ansehen als zentrales Anliegen der aristokratischen „mentalité“. 69 Heinzelmann 1976, 52: Der Autor sieht dies als typischen Bestandteil einer laudatio an.

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Land sogar von der Herrschaft des Tyrannen befreit hatte und für den die Pflichterfüllung gegenüber Gallien und dem Staat im Mittelpunkt stand, was durch die gesperrte Stellung der Antithese von rus und forum ausgedrückt wird. 70 Für die Familiengeschichte war der Großvater des Sidonius eine bedeutende Figur, da er der Erste in der Familie war, der erkannt hatte, dass er sich auf dem ‚falschen‘ Weg befand und zum Christentum konvertierte: primus […] sacris sacrilegis renuntiavit. 71 Somit hatte der Großvater indirekt den Grundstein für Sidonius’ spätere Karriere als Bischof gelegt, da er die Zugehörigkeit der Familie zur christlichen Glaubensgemeinschaft bestimmte. In den letzten Zeilen des Epitaphs, für das sich Sidonius am Ende des Briefes entschuldigt, da es ungenügend sei, hebt er hervor, dass die Taufe die größte Tat seines Großvaters gewesen sei. 72 Zusammenfassend wird festgestellt, dass die Übernahme der väterlichen Pflicht durch Sidonius eine tiefe Verbundenheit mit seinem Großvater und damit mit seiner gesamten Familie beinhaltet. Sidonius schloss sich darüber hinaus dem mos maiorum an, indem er nicht nur das Grab seines Großvaters restaurierte, sondern indem er selbst das öffentliche Verbrechen beendete und die Täter bestrafte. 73 Er wurde demnach vollkommen der Rolle als römischer, familientreuer Aristokrat gerecht. Die memoria der Vorfahren war Sidonius sehr wichtig. Diemut Zittel geht so weit, dass er die Verbundenheit und Solidarität innerhalb einer Familie als einen „Pfeiler“ sieht, „der das Überleben der gallo-römischen Gesellschaft sicherte“. 74 Es festigte deren lebensweltlichen Gemeinsamkeiten und trug so zur Schaffung, Veränderung, aber auch Erhaltung einer eigenen gallo-römisch-aristokratischen Identität bei. Ebenso wie der Großvater machte der Vater des Sidonius Karriere im Staatswesen. Unter Kaiser Honorius war dieser, dessen Name in keinem Brief überliefert wird, tribunus et notarius. In den Jahren 448/449 erreichte er unter Valentinian III. das Amt des praefectus praetorio Galliarum, wie Sidonius in seinen Briefen berichtet. 75 Er konnte die Position seines Vaters nutzen, um schon früh bei wichtigen politischen Ereignissen, wie zum Beispiel einem Konsulatsantritt, dabei zu sein. 76 Diese Erfahrungen, zusammen mit der schulischen Ausbildung, bereiteten den jungen Aristokraten auf die eigene Ämterlaufbahn vor. 77 Nicht nur von außen wurde die Erwartung an Sidonius herangetragen, 70 Sidonius spielt hier auf die Usurpation von Konstantin (III.) im Jahr 407 n. Chr. an. Bei dieser war sein Großvater als praefectus praetorio beteiligt, siehe: Harries 1994, 27 f.; Stroheker 1970, 45. 71 Zu beachten ist hier die Paronomasie sacris sacrilegis, die Sidonius verwendet, um dem Ereignis mehr Gewicht zu geben. 72 Sidon. epist. 3,12,5 f. Sidonius geht in der Würdigung seines Großvaters wie in seiner eigenen Selbstwürdigung sogar noch weiter, indem er ihn metaphorisch auf eine Stufe mit Achill beziehungsweise Hector stellt und sich selbst mit Alexander dem Großen und Caesar vergleicht. Mascoli 2010, 14 ist der Meinung, dass neben der Hingabe an das Vaterland die Rolle des Großvaters bei der Christianisierung der Familie eine besondere Stellung einnimmt. 73 Sidon. epist. 3,12,2. 74 Zittel 2009, 188. 75 Sidon. epist. 5,9,2; 8,6,5; Mascoli 2010, 20; Mathisen 1981, 97. 76 Sidon. epist. 8,6,5. 77 Zittel 2009, 180.

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einen derartigen Weg einzuschlagen, sondern auch er selbst strebte nach einer Karriere nach klassisch-römischem Verständnis; sah es sogar als sein Geburtsrecht an, wie er in der Einleitung seiner Epistel an Filimatius begründet, den er dazu ermuntert, erneut ein öffentliches Amt zu übernehmen: 78 […]  cur adipiscendae dignitati hereditariae curis pervigilibus incumbam; cui pater socer, avus proavus praefecturis urbanis praetorianisque, magisteriis Palatinis militaribusque micuerunt. 79 […] weil ich mich immer durch wachsame Bemühungen anstrenge, den geerbten Rang zu erreichen, in dem der Vater, Schwiegervater, Großvater und Urgroßvater als Stadt- und Prätorianerpräfekten, als höchste Hof- und Militärbeamte geglänzt haben. Helga Köhler hat in ihrem Kommentar herausgearbeitet, dass das zentrale Anliegen des Schreibens die Vermittlung von dignitas am Beispiel von drei Aristokraten – von Sidonius selbst, Gaudentius und dem Empfänger Filimatius – war. 80 Der Brief mahnt nicht nur, dass es Geburtsrecht und -pflicht sei, Rang und Würden im römischen Staatsdienst zu erlangen, sondern dass persönliche dignitas hierfür als Schlüssel zu erachten sei. An dem Beispiel seiner eigenen Person verdeutlicht Sidonius, dass das Streben nach dignitas nie aufhöre und eine Anstrengung sei, der Tag und Nacht nachgegangen werden müsse. Der Brief zeugt davon, wie Sidonius seine Leser gedanklich manipuliert. 81 Durch sein eigenes Beispiel beginnt er den Brief mit dem Verweis auf die Tradition der Aristokratie und die damit verbundene Pflichterfüllung, die das ganze Leben einnahm. Das Beispiel des Gaudentius 82 zeigt die Aufstiegsmöglichkeiten, die ein Aristokrat durch stetiges Streben nach dignitas erreichen konnte, gleichzeitig versteckt sich in diesem Beispiel eine Ermahnung an die Leser, die von Sidonius zu Beginn als so gewichtig dargestellten Traditionen zu bewahren. Denn im weiteren Verlauf beklagt er die „gähnende Interesselosigkeit“ junger Aristokraten bezüglich der Übernahme staatlicher Ämter und manipuliert Leser und Adressat dahingehend, nicht selbst Teil dieser Anklage werden

78 Sivonen 2006, 61 stellt die persönlichen Ambitionen in den Vordergrund: „There seems to have been another important motive, namely personal ambition – personal in a sense that it was directed more towards fellow aristocrats than towards the ancestors, family, or protégés.“ Zu Filimatius siehe: PLRE II, 877 unter Philomathius; vgl. Heinzelmann 1983, 669 unter Philomathius sowie zur Leseart Philomatio bei Wilamowitz: Köhler 1995, 166. 79 Sidon. epist. 1,3,1; Rousseau 1976, 361; vgl. Mathisen 1993, 20. 80 Köhler 1995, 165 f.; Kommentar zum Brief 1,3 an Filimatus 165–175. 81 Vgl. van Waarden 2010, 19: „Making the most of the classical past, he manipulates the present and the future.“ 82 PLRE II, 495 unter Gaudentivus 8; vgl. Heinzelmann 1983, 613 unter Gaudentius 2.

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zu wollen. 83 Sidonius nutzt den Verweis auf aristokratische Traditionen als rhetorische Überzeugungsstrategie, 84 damit der Adressat und wohl der Leser nicht zögern, selbst dem Streben nach dignitas und einem Leben im Staatsdienst nachzueifern und somit diesen wichtigen Bestandteil der aristokratischen „mentalité“ am Leben zu erhalten. 85 Verwandtschaftliche Beziehungen mütterlicherseits zu den Aviti sowie die Heirat mit Papianilla, der Tochter des Eparchius Avitus, sollten Sidonius den Einstieg in die Karriere erleichtern. 86 Courtenay E. Stevens sieht die Vermählung mit der Tochter des Avitus als ersten Schritt des Sidonius auf die politische Bühne. 87 Avitus war zu dieser Zeit unter Valentinian III. und Aëtius, der eigentlich die Regierungsgeschäfte in den Händen hielt, praefectus praetorio in Gallien und durch diplomatische Beziehungen zu visigotischen Heerführern, die Aëtius im Kampf gegen Attila unterstützt hatten, ein Freund des visigotischen Königshauses unter Theoderich I. geworden. Dadurch unterhielt er eine vertrauliche Beziehung zu Theoderich II., der den Thron nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders Thorismund übernommen hatte. 88 Wird den Quellen geglaubt, sah Theoderich II. im Jahr 455 n. Chr., mit dem Tod des Petronius Maximus, seine Chance zu intervenieren. Er ermutigte Avitus, den Purpur anzunehmen, und begleitete ihn nach Ugernum (heute Beaucaire), wo ihn Mitglieder der gallischen Aristokratie zum Kaiser wählten. Schon wenige Tage später wurde er im heutigen Arles vom Heer zum Kaiser 83 Sidon. epist. 1,3,2. Sidonius spricht hier das Beispiel des Gaudentius an, der es vom Tribun zum Vikar gebracht hat und damit als Vorbild für andere fungiert, die kein Interesse an politischer Teilhabe zeigen und daher auch nicht aufsteigen. 84 Zur Definition von Überzeugungsstrategie wird Chaniotis u. a. 2009, 3 gefolgt: „ ,Überzeugungsstrategie‘ wird hier verstanden als der bewußte, intentionale und planvolle Einsatz sprachlicher und nicht-sprachlicher Mittel, der darauf abzielt, den Kommunikationspartner durch den Abbau von antizipiertem Widerstand zu gewissen Einstellungen zu bewegen, zur Ausführung konkreter Handlungen zu veranlassen oder seine Zustimmung zu entsprechenden Handlungen zu erhalten. […] Als planmäßig konzipierte Steuerung von Kommunikationsprozessen kann die Überzeugungstrategie auf eine nachhaltige Beeinflussung der Adressaten abzielen.“ 85 Diese Überzeugungsstrategie ist weiterhin in Sidon. epist. 1,6 an Eutropius sichtbar, der ebenfalls von Sidonius ermuntert wird, ein Amt im Staatsdienst zu übernehmen, da es sich für seinen Stand gehören würde. 86 Greg. Tur. HF 2,21; Amherdt 2001, 11; Köhler 1995, 3; Harries 1994, 31. Heinzelmann 1976, 51 beschreibt, dass nur wenige Familien die Führungsschicht im Gallien des 5. Jahrhunderts ausmachten und die Aviti sowie Sidonius’ Familie dazugehörten. Mascoli 2010, 22 vermutet, dass die Mutter des Sidonius die Schwester von Avitus gewesen sein könnte und er damit seine Cousine geheiratet hat. Papianilla selbst ist ebenfalls unter den Adressaten der veröffentlichten Briefe zu finden, was ihr eine besondere Bedeutung, zumal sie weiblich ist, im Leben des Sidonius zugesteht, vgl. Sidon. epist. 5,16. Mit dem Eheleben von Sidonius und Papianilla setzte sich Patrizia Mascoli in einem Artikel auseinander. Ihre Erkenntnis, dass wir über Zuneigungen der Ehepartner in den Briefen des Sidonius nichts erfahren und die Ehe wirtschaftliche sowie soziale Gründe hatte, überrascht nicht (Mascoli 2016, insb. 194 f., 198 f.). Siehe PLRE II, 830 unter Papianilla 2; vgl. Heinzelmann 1983, 662 unter Papianilla 2. 87 Stevens 1933, 19: „Sidonius becomes an actor on the stage of world history.“ 88 Avitus war als Lehrer des Theoderich II. tätig gewesen, lehrte ihn römisches Recht und brachte ihm die Werke Vergils näher; vgl. Sidon. carm. 7, 495‒499. Zum Tod Theoderichs I.: Greg. Tur. Franc. 2, 7; vgl. Isid. Goth. 30 chron. II sowie Prosp. chron. I 1371.

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ausgerufen. 89 Sidonius war nun nicht mehr nur Schwiegersohn eines wichtigen gallischen Aristokraten, sondern auch des römischen Kaisers, was ihm neue gesellschaftlich und politische Möglichkeiten verschafft hat. 90 3.1.3 Leben im Dienste Roms Der Beginn des Konsulates des Avitus im Jahr 456 kann als Durchbruch für Sidonius gesehen werden. In Rom war es Tradition, zum Konsulatsantritt eines neuen Herrschers eine Lobrede auf diesen zu halten. Avitus machte sich das literarische Talent seines Schwiegersohnes zunutze und so fiel die Ehre, einen Panegyrikus zu verfassen und vorzutragen, Sidonius zu. Er war so erfolgreich, dass der Senat ihm zu Ehren eine bronzene Statue auf dem Forum aufstellen ließ. 91 Ob Sidonius auch ein offizielles Amt von seinem Schwiegervater erhielt, ist in der Forschung umstritten und bis heute nicht nachvollziehbar, da er selbst darüber schweigt. 92 Zu diesem Zeitpunkt war gewiss noch nicht voraussehbar, dass sein Schwiegervater bereits im Sommer desselben Jahres wieder gestürzt werden sollte. Avitus wurde vom Senat nicht unterstützt und im Osten als Usurpator angesehen. Er musste schließlich, in Placentia besiegt, abdanken. Obwohl er sich als Bischof in das Privatleben zurückzog, war er seines Lebens nicht mehr sicher und verstarb

89 Hyd. chron. 163; vgl. Sidon. carm. 7, 577‒579; siehe: Overwien 2009a, 247; Reydellet 1981, 50; Wolfram 1979a, 216; Stevens 1933, 23; vgl. van Waarden 2011b, 100; Harries 1994, 554; Reydellet 1981, 50: „Avitus était une créature du roi des Visigots Théoderic II.“ Die Visigoten waren eindeutig zu einem Machtfaktor im römischen Westreich geworden. Dennoch bleibt Spekulation, ob die Erhebung des Avitus auf Initiative der Aristokratie oder des Theoderich II. erfolgte. Zur Deutung der historischen Ereignisse durch eine detaillierte Analyse des von Sidonius verfassten Panegyrikus auf Avitus (carm. 7) sei auf Michael Kulikowski verwiesen, der zum einen davon ausgeht, dass die Notwendigkeit der Intervention durch Avitus bei der gotischen Bedrohung von Sidonius erfunden worden war (S. 351), zum anderen darauf hinweist, dass wir aufgrund der Quellenlage die historischen Rahmenbedingungen zur Zeit der Kaisererhebung des Avitus nicht rekonstruieren können (Kulikowski 2008, 347–352). 90 Jiménez 2011, 165; Harries 1994, 25; Stevens 1933, 29. 91 Gillet 2012, 276; Amherdt 2001, 12; Le Guillou 2001, 43; Kaufmann 1995, 46 f. Stevens 1933, 33 bezeichnet den Panegyrikus in vielen Bereichen als das beste Gedicht des Sidonius. Sidon. epist. 9,16,3: […]  / Cum meis poni statuam perennem / Nerva Traianus titulis videret, / inter auctores utriusque fixam  / bybliothecae […] „[…]  / Dass Nerva Traianus die ewigwährende Statue mit meiner Inschrift sehen könnte, die zwischen den beiden Erbauern der Bibliothek aufgestellt worden ist.“; vgl. Sidon. carm. 8,8: […] / Vlpia quod rutilat porticus aere meo / […]. „[…] / Weil die Säulenhalle des Trajans durch meine Bronzestatue rötlich schimmert […].“ Zur Interpretation des Panegyrikus auf Avitus (Sidon. carm. 7) siehe ferner: Hanaghan 2017, passim; Schindler 2009, 182‒198; Günther 1982, 664‒656. 92 Mathisen 1979, 169.

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unter ungeklärten Umständen auf dem Weg nach Clermont. 93 Sidonius kehrte zunächst in seine Heimat zurück, wo die Ablehnung des neuen Kaisers Maiorian so weit ging, dass sich gallische Aristokraten mit den Visigoten und Burgundern zusammenschlossen, um gegen den vom Kaiser ernannten magister militum per Gallias, Aegidius, ins Feld zu ziehen. Die sogenannte coniuratio Marcelliana endete 458 n. Chr. mit der Belagerung von Lyon durch Aegidius, als sich die Stadt geschlagen geben musste. Sidonius selbst schweigt über diese Ereignisse. 94 Es wird angenommen, dass Sidonius erkannte, dass es sinnvoller war, sich dem neuen Kaiser gegenüber versöhnlich zu zeigen. Aus diesem Grund dichtete er für die Ankunft von Maiorian in Lyon eine Lobrede auf diesen. 95 Zum Dank dafür wurde er zum comes ernannt. Aber auch Maiorian wurde bereits vier Jahre später von Rikimer gestürzt, was Sidonius’ Karriere einige Jahre pausieren ließ. 96 Vom römischen Machtspiel desillusioniert, kehrte er in die heimatliche Auvergne zurück und hielt sich aller Wahrscheinlichkeit nach die nächsten Jahre auf seinem Landgut Avitacum, vermutlich das heutige Aydat, auf, wo er sich besonders seinen literarischen Studien widmete. 97 Es ist anzunehmen, dass er den gängigen aristokratischen Beschäftigungen, allen voran dem Ziel der Weiterbildung nachging. Er las, schrieb, diskutierte mit Freunden und beschäftigte sich eventuell in dieser Phase immer mehr mit dem christlichen Glauben. 98 In dieser Zeit wurde, so Jill Harries, der Grundstein für seine Ernennung zum Bischof gelegt. Nach Norbert Delhey nutzte Sidonius die Zeit, um mehrere Bekannte in Mittel- und Südgallien zu besuchen, so zum Beispiel Pontius Leontius. 99 93 Harries 1994, 79 f.; Henning 1999, 122 führt als weiteren Grund für das Scheitern des Avitus als römischer Kaiser die Zusammensetzung von dessen comitatus an, der hauptsächlich aus Visigoten und gallischen Senatoren bestand, weswegen sich die stadtrömische Aristokratie übergangen fühlte. 94 Rousseau 2000, 252; Mathisen 1991, 168‒173; Delhey 1993, 3. 95 Sidon. carm. 5. 96 Siehe Wolfram 1979a, 217‒219: Herwig Wolfram beschreibt die Situation im Reich als chaotisch, da Römer gegen Römer gekämpft und wahllos Bündnisse mit „den Barbaren“ geschlossen hätte. Seiner Ansicht nach nutzte Theoderich II. die Gelegenheit, um das Tolosanische Reich auszubauen. Dieser nahm 462 Narbonne sowie 464 – nach dem Tod des römischen Feldherrn Aegidius – die römischen Gebiete an der Loire ein. 97 Amherdt 2001, 13; Le Guillou 2001, 52; Kaufmann 1995, 53; Rousseau 1976, 373; Chadwick 1955, 300; Stevens 1933, 94; Anmerkung zum Landgut: Eigentlich stammte das Landgut aus dem Familienbesitz seiner Frau, nach seinem Schwiegervater Avitacum benannt. Die ausführliche Beschreibung von Avitacum durch Sidonius in Carmina 22 sollte den Bezug zur romanitas herstellen und präsentiert gleichzeitig eine Imitation des „klassischen Lebens der Vorfahren“, siehe: Frey 2003, 186, 190. 98 Einen Beleg hierfür gibt es jedoch nicht, da Sidonius über die Umstände und den Zeitpunkt seiner conversio schweigt. 99 Harries 1994, 103; Delhey 1993, 6; Le Guillou 2001, 55. Pontius Leontius war ein aquitanischer Senator mit dem Rang eines vir illustribus; über den Aufenthalt bei Leontius vgl. Sidon. carm. 12. Erneut muss darauf hingewiesen werden, dass der Zeitpunkt des Besuches bei Pontius Leontius Spekulation bleiben muss. Der Abfassungszeitraum des Gedichtes ist unbekannt und müsste darüber hinaus nicht zwangsläufig mit dem Besuchsdatum korrelieren. Es kann ebenso aus der Erinnerung heraus – also Jahre später – entstanden sein oder gar auf Hörensagen beruhen, was

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Während Sidonius in gallischer Zurückgezogenheit lebte, herrschte in Rom Libius Severus, den Courtenay E. Stevens als „Phantomherrscher“ bezeichnet, da kein einziger Entschluss von diesem selbst belegt ist. 100 Ein Jahr, nachdem Severus verstorben war (456  n.  Chr.), wurde Theoderich II. von seinem Bruder Eurich ermordet 101 und nach vandalischen Feldzügen in Italien ernannte der amtierende Kaiser im Osten, Leo, im April 467 n. Chr. Anthemius zum Augustus. Zu diesem Zeitpunkt berichtet Sidonius von sich selbst als Teil einer gallischen Gesandtschaft, die nach Rom geschickt worden war. 102 Während die Gesandtschaft in Rom auf ihre Audienz wartete, überredete ihn ein gewisser Basilius, ein Freund des Sidonius, einen Panegyrikus auf den neuen Herrscher zu verfassen. 103 Sidonius ließ sich gerne überzeugen, und am 1. Januar 468 durfte er beim Konsulatsantritt des Anthemius seine Lobeshymne vortragen. 104 Daraufhin wurde er nicht nur zum praefectus urbi ernannt, sondern darüber hinaus mit dem Rang eines patricius geehrt. Die Tatsache, dass er diese Ernennung nicht seiner literarischen Fähigkeit allein zuschreibt, sondern sie als Werk Christi sieht, könnte darauf hinweisen, dass Sidonius zu diesem Zeitpunkt bereits von der christlichen Lehre affiziert worden war. 105 Allerdings sei hier auf die Problematik hingewiesen, dass der Abfassungszeitraum nicht mit dem Erzählzeitraum eines Briefes übereinstimmen muss. Besonders diese Briefpassage – speziell der günstige Zeitpunkt für einen Panegyrikus (stili occasione) – hinterlässt den Eindruck, dass er von einem zurückblickenden Mann, also als er bereits Bischof war, verfasst worden ist. Hierfür würde auch der Ausdruck sub ope Christi sprechen. Dies bedeutet, dass göttliche Verweise nicht zwangsläufig auf einen Zeitpunkt schließen lassen, an dem Sidonius dem christlichen Glauben öffentlich folgte. Es bräuchte eine eingehendere Analyse der Verwendung christlicher Topoi und Referenzen in den Briefen, um gegebenenfalls ein Muster oder gar eine Funktion erkennen zu können und um dadurch eventuell Rückschlüsse erhalten zu können, ob diese Referenzen Hinweise auf einen Überarbeitungszeitpunkt einzelner Briefe vor der conversio oder am Ende des Lebens des Sidonius liefern können.

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nach Auffassung der Autorin am unwahrscheinlichsten ist, da regelmäßige Besuche unter Aristokraten und somit eine gegenseitige Kenntnis der Wohnsituation nicht unüblich war. Stevens 1933, 88. Isid. Goth. 34 chron. II. Cassiod. chron. 158,1283; Stevens 1933, 88‒94. Zu Libius Severus: Heather 2008, 24; Henning 1999, 251‒254; zur Reise des Sidonius: Stoehr-Monjou 2009, 209. Sidon. epist. 1,5: Der Brief stellt eine Art Reisebericht des Sidonius dar. Allerdings verschweigt er den Grund, warum die Gesandtschaft überhaupt die Reise auf sich nahm. Lediglich ihr Scheitern ist bekannt. In diesem Brief kommt auch eine gewisse Religiosität des Sidonius zum Ausdruck, der während der Reise an Fieber erkrankt war und dessen Leiden plötzlich geheilt wurden, als er vor den Mauern der Kirche St. Peter und Paul niederkniete; Sidon. epist. 1,5,9. Sidon. epist. 1,9,6. Günther 1982, 657; Sidon. carm. 2. Sidon. epist. 1,9,6.8: [6] … ut me praefectum faceret senatui suo. […] [6] „… dass er [der Konsul] mich zum Präfekt seines Senates machte.“; [8] […] igitur cum ad praefecturam sub ope Christi stili occasione pervenerim […] [8] „[…] daher, weil ich durch Christi Werk und durch die Gelegenheit der Sprache zur Präfektur gelangt bin[…]“; vgl. Küppers 2005, 253.

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Ein entscheidender Wendepunkt trat wohl 468/469 n. Chr. in Sidonius’ Leben ein: Er legte alle politischen Ämter nieder und trat erst wieder nach 470 n. Chr. als Bischof der civitas Arvernorum in Erscheinung. Die Forschung scheint sich einig zu sein, dass sein Rückzug aus dem öffentlichen Leben mit der Verurteilung des Arvandus, der des Hochverrats bezichtigt wurde, in Zusammenhang stehe. Als Prätorianerpräfekt per Gallias habe Arvandus mit Eurich konspiriert und soll in einem Brief die Visigoten gegen den römischen Kaiser aufgewiegelt und aufgefordert haben, die Loire zu überschreiten, damit diese die Kontrolle über Gallien gewinnen. 106 Als amtierender Präfekt in Rom wäre es die Aufgabe des Sidonius gewesen, den Prozess durchzuführen. Hätte sich Sidonius dieser Aufgabe entziehen wollen, wäre ihm nichts anderes als ein Rücktritt übriggeblieben. Daher spekuliert Helga Köhler zurecht, dass der politische Rücktritt in Zusammenhang mit dem Arvandus-Prozess stehe. 107 Wie schwierig diese Entscheidung für Sidonius gewesen sein muss, deutet er in epist. 1,7 an: Angit me casus Arvandi nec dissimulo quin angat. […] amicus homini fui supra quam morum eius facilitas varietasque patiebantur. testatur hoc propter ipsum nuper mihi invidia conflata, cuius me paulo incautiorem flamma detorruit. [2] Sed quod in amicitia steti, mihi debui. 108 Mich beklemmt der Fall des Arvandus; ich will nicht verheimlichen, dass er mich sogar beunruhigt. […] Ich war ein Freund dieses Mannes; vielmehr als es die Leichtfertigkeit und der Wankelmut seines Charakters gestatteten. Dies wird durch die üble Nachrede bezeugt, die kürzlich seinetwegen gegen mich geschürt worden war und deren Flamme mich, der ich ein wenig unbesonnen war, verbrannt hat. Aber ich schuldete es mir, hinter dieser Freundschaft zu stehen. Sidonius beschreibt seine Gefühlslage als beklemmt, bekümmert und sogar beunruhigt. Er hatte jeglichen Grund für diese Gefühle: Er legte just zu diesem Zeitpunkt sein Amt als Stadtpräfekt nieder, nachdem er endlich und trotz vieler Unwegsamkeit die höchste Leiter des cursus honorum errungen hatte, als ein Freund und Mitglied der gallo-römischen Aristokratie des Hochverrates angeklagt wurde. Michael Kulikowski vermutet sogar, dass die Mehrheit gallo-römischer Aristokraten im Stillen die politische Haltung

106 Kulikowski 2020, 210; 2013, 87; Hanaghan 2019, 6; Meurer 2019, 169; Delaplace 2015, 241–246; Le Guillou 2001, 60; Prévot 1999, 63; Gotoh 1997, 40 f.; Harries 1996, 38; 1994, 158–166; 1992, 302; Köhler 1995, 4; Mathisen 1993, 83 f.; Stevens 1933, 104. Der Prozess ist durch Sidon. epist. 1,7,5‒13 sowie durch Cassiod. chron. 158,1287 überliefert. Cassiodor weist darauf hin, dass Arvandus selbst nach der Kaiserwürde strebte, was aufgrund fehlender Quellen nicht bewiesen werden kann. Paulus Diaconus verwechselt in seiner Darstellung den Namen Arvandus mit Servandus: Paul. Diac. hist. rom. 15,2 (vgl. hierzu: Delaplace 2015, 243). 107 Köhler 1995, 4. Zur selben Ansicht gelangt auch Delapace 2015, 244. 108 Sidon. epist. 1,7,1 f. Zur Interpretation dieses Briefes als kontingentes Ereignis im Leben des Sidonius siehe: Egetenmeyr 2021b, 128–130.

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des Arvandus geteilt haben. 109 Auf Grundlage der vorliegenden Quellen –  Sidonius und Cassiodor  – ist dies nicht zu beweisen. Dennoch lohnt der Gedanke, fortgeführt zu werden. War Sidonius in einer Zwickmühle, weil er sich zwischen Rom und Gallien entscheiden musste? Hätte er den Prozess geführt und Arvandus nicht verurteilt, hätte er zwar Treue zu seiner Innengruppe gallo-römischer Aristokraten bewiesen, aber wäre womöglich von den senatorischen Aristokraten der Italia als Verräter gesehen worden und vielleicht sogar beim Kaiser in Ungnade gefallen. In anderen Worten: Zu einem Freispruch des Arvandus wäre es nie gekommen. Mit seinem Rücktritt hat Sidonius im wörtlichen Sinne versucht sich ‚aus der Affäre zu ziehen‘, ohne selbst auf die Anklagebank, weder die des Kaisers noch die der gallo-römischen Aristokraten, zu gelangen. Denn es scheint, dass der Prozess seines Freundes zu Nachreden gegen Sidonius geführt hat, an denen er sich „verbrannt hatte“. Wohl aus der Retrospektive schreibend, und wissend, wie der Prozess verlaufen ist, manipuliert Sidonius die Erzählzeit der Epistel und fokussiert das aristokratische Freundschaftsideal, um sein eigenes Verhalten zu erklären. 110 Sidonius betrachtet die Aufrechterhaltung von Freundschaft als aristokratische Pflicht, was er immer wieder in seinen Briefen verdeutlich. In epist. 1,7 spricht er offen an, dass dies seine Schuldigkeit sei (mihi debui; später in epist. 1,7,3 amico debetur), dem Freund treuzubleiben. Alles andere sei ,barbarisch‘: me et Auxanium, praestantissimum virum, tractatus iste non latuit, qui Arvandi amicitias quoquo genere incursas inter ipsius adversa vitare perfidum barbarum ignavum computabamus. 111 Mir und Auxanius, einem sehr vortrefflichen Mann, blieb diese Verhandlung nicht verborgen, aber die Freundschaft mit Arvandus, durch welche Art und Weise sie auch immer entstanden war, unter diesen unmittelbaren Widrigkeiten zu meiden, erschien uns als verräterisch, als barbarisch und als feige. Interessant ist das Spiel mit einem barbarischen Stereotyp, mit dem Sidonius die ,Andersartigkeit‘ im Verhalten zum Ausdruck bringt und damit verdeutlicht, dass dies nicht die Verhaltensart seiner ‚In-Group‘ war. Daher behandelt der Brief zwar ein politisches 109 Dies lässt sich mit der Interpretation von Delaplace 2015, 242 f. zusammenbringen, die vermutet, dass Sidonius weniger empört über Arvandus’ politisches Verhalten gewesen wäre als vielmehr darüber, dass dieser sich hat erwischen lassen, wodurch auch sein Freundeskreis – u. a. eben Sidonius – in Schwierigkeiten gekommen sei. Wird den Gedanken von Christine Delaplace und Michael Kulikowski gefolgt, könnte spekuliert werden, dass Sidonius insgeheim mit dem Vorhaben seines Freundes sympathisiert haben könnte. Zu beweisen ist dies jedoch nicht. 110 Zur Manipulation von Zeit in diesem Schreiben siehe: Hanaghan 2019, 60 f., 63–66; zur Bedeutung von Freundschaft, speziell in diesem Fall, siehe: Mathisen 1993, 14. Delaplace 2015, 242 urteilt zurecht, dass es sich bei Arvandus, Sidonius und Vincentius, der Empfänger des Schreibens, um Mitglieder eines Freundeskreises gehandelt haben muss, die sich durch gemeinsame Interessen, gleiches Sozialverhalten und gleiche politisches Gesinnung definiert haben. 111 Sidon. epist. 1,7,6.

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Thema und einen Wendepunkt im Leben des Sidonius, trägt aber eine deutliche Botschaft bezüglich der Bedeutung von Freundschaft in aristokratischen Kreisen. Gleichzeitig beteuert Sidonius, er habe seinem Freund nicht mehr helfen können, da dieser bereits in der Vergangenheit die Weichen für sein Unglück gelegt habe. 112 Am Ende des Briefes bleibt der Leser im Dunkeln, was wirklich während des Arvandus-Prozesses geschehen ist und welche Rolle Sidonius in diesem Prozess einnahm oder nicht einnahm. Courtenay E. Stevens nimmt sogar an, dass Sidonius bereits außer Amt war, als Arvandus angeklagt und dessen aufgrund zahlreicher Bitten von Freunden in Verbannung umgewandelt wurde. War Sidonius einer der Freunde, die für ein milderes Urteil eintraten? Die Nähe zum Kaiser hätte er sicherlich aufgrund seines Amtes gehabt. Ob aber dies auch möglich gewesen wäre, wenn Sidonius vor Prozessbeginn die Stadt verlassen hätte, wie Courtenay E. Stevens vermutet, ist zu bezweifeln. 113 Leider können wir nur eine Aussage über Sidonius’ Rolle im Arvandus-Prozess und seine Amtsaufgabe mit Sicherheit treffen: Wir wissen nicht, warum seine Karriere endete, weil Sidonius selbst darüber schweigt. 114  3.1.4 Sidonius nach seiner conversio Aufgrund der politischen Wirren dieses Jahrhunderts und des damit in Zusammenhang stehenden Verlustes an Staatlichkeit traten immer mehr gallo-römische Aristokraten in den geistlichen Stand ein, um als Bischöfe und Kleriker öffentlichen Einfluss auszuüben. Dadurch wurde neben ihrer klassischen Bildung auch ihr römisch-aristokratischer Lebensstil auf die Kirche und deren Institutionen übertragen und so eine neue Form des Episkopats geschaffen. 115 Die Bischofsämter hatten neben ihrer kirchlichen Rolle auch politische Bedeutung, weshalb die Amtsträger säkulare sowie klerikale Eigenschaften

112 Sidon. epist. 1,7,2. 113 Stevens 1933, 103‒105, 107. Leider nennt Courtenay E. Stevens keine Quellen, die diese Aussage belegen. Sivonen 2006, 63 legt dar, dass der Status und das Ansehen für einen römischen Aristokraten das Wichtigste waren. Zu vermuten wäre, dass Sidonius dieses Ansehen nicht verlieren wollte und sich daher früh genug aus Rom zurückzog, bevor die Arvandus-Affäre ihn sein Ansehen, v. a. in der Heimat, gekostet hätte. 114 Van Waarden 2011b, 100; vgl. Mratschek 2013, 253. 115 Siehe Kapitel 2; Diefenbach 2013, 92; Amherdt 2001, 17; Labuske 1997, 110; Waurick 1980, 224. Der Verlust von Staatlichkeit wurde von Alföldy 31984, 174 als „Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft“ bezeichnet.

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verinnerlichten. 116 Sidonius selbst bezeugt in seinen Briefen immer wieder Überlappungen und Verbindungen klerikaler und aristokratischer ‚Lebenswelten‘. 117 Nach dem Arvandus-Prozess kehrte Sidonius nach Gallien zurück und wurde wohl zwischen 470 und 472 n. Chr. zum Bischof von Clermont gewählt. Bezüglich des Wahlzeitpunktes besteht bis heute Uneinigkeit, da über die einzelnen Bischofswahlen in Gallien sehr wenig bekannt ist. 118 Da Sidonius jedoch bereits 470 n. Chr. bei der Bischofswahl in Bourges als Berater tätig war, kann gefolgert werden, dass er zu dieser Zeit bereits ein geistliches Amt innehatte. Er selbst verschweigt den Zeitpunkt und den genauen Ablauf seiner eigenen Wahl. 119 Für Jill Harries wird er mit dieser Ernennung zu einer einzigartigen Gestalt: […] he was the only Gaul known to have moved from holding one of the highest secular offices to the episcopate. 120 Durch seine Wahl zum Bischof konnte er sowohl seiner aristokratischen Abstammung Ehre erweisen als auch die Stadt, die er liebte, durch seinen Einfluss unterstützen. Ausschlaggebende Faktoren zum Wahlerfolg des Sidonius dürften dessen Abstammung, sein hoher Rang innerhalb des römischen Staatsgefüges sowie seine Ausbildung und damit verbunden die Kenntnisse wichtiger Autoren wie Faustus und Mamertus gewesen sein. 121 War die Wahl eine Reaktion auf sein politisches Versagen im Sinne einer erneuten Chance, wie Jill Harries spekuliert? 122 Hierbei wäre zu fragen, ob die politische Karriere des Sidonius zu einer Zeit innerer Zerrissenheit des Reiches wirklich als politisches Versagen gedeutet werden kann oder ob nicht eher der Tatsache Anerkennung gezollt 116 Van Nuffelen/Leemans 2011, 2‒4; Rapp 2005, 195, 264; Köhler 1995, 4; Harries 1994, 170; Mathisen 1993, 93. Overwien 2009, 260 sieht den Widerstand gegen die Visigoten als politische Aufgabe. Diese Interpretation der Sidoniusbriefe geht meines Erachtens etwas zu weit. Der Widerstand des Sidonius gegen die ,Anderen‘ in seiner patria geht vielmehr aus seinem Bedürfnis hervor, seine ‚Lebenswelten‘ zu erhalten und sein Verständnis von romanitas an nachfolgende Aristokraten zu tradieren. Er leistet demnach nicht Widerstand, weil er ein Bischof war und es als seine klerikale Pflicht sah, sondern er versucht gegen die von ihm empfundene alteritas in Gallia vorzugehen. Das Bischofsamt stellt für ihn eine Möglichkeit dar, seine lebensweltlichen Erfahrungen, Traditionen und Ansichten zu erhalten, und er selbst bezeugt die weltliche und kirchliche Bedeutung dieses Amtes in einem Brief an Bischof Perpetuus, den er wegen der Bischofswahl in Bourges im Jahr 470 n. Chr. verfasst hat (epist. 7,9,16): […] ita utrique parti vel actu vel professione respondet, ut et respublica in eo quod admiretur et ecclesia possit invenire quod diligat. „[…] er wird durch sein Verhalten und seinen Werdegang den Ansprüchen beider so sehr gerecht, dass der Staat ihn ihm finden kann, was er bewundert und die Kirche das in ihm, was sie liebt.“ 117 Zum Beispiel: Sidon. epist. 7,9. 118 Siehe hierzu: van Waarden 2010, 247–250. 119 Van Nuffelen/Leemans 2011, 5; van Waarden 2011a, 555; Henke 2007, 216; Prévot 1999, 71; Gotoh 1997, 40; Küppers 1995, 254; Delhey 1993, 4; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xxii Anm. 4, xv. 120 Harries 1994, 179. 121 Le Guillou 2001, 242; Kaufmann 1995, 59; Harries 1994, 179. 122 Harries 1994, 15, 176. Brown 2014, 405 sieht die Übernahme eines Bischofsamtes als „Herabstufung“ des Sidonius und stimmt mit Jill Harries überein.

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werden sollte, dass sich Sidonius unter den verschiedensten Herrschern profilieren und sich immer wieder ins politische Rampenlicht stellen konnte. Aufgrund des Inhaltes der Briefe folgert Rainer Henke, dass hinter der conversio des Sidonius weniger religiöse Absichten stehen, da christliche Themen in den Briefen „nur eine Nebenrolle“ spielen, was Frank Kaufmann jedoch vollkommen anders sieht und die Briefe und ihren neuen christlichen Topos als Beweis für den Lebenswandel des Sidonius wertet. 123 Ágnes Horváth untersucht den Einfluss patristischer Literatur und der Bibellektüre in den Werken des Sidonius und kam zu dem Schluss, dass seine christliche Ausbildung wohl hinter den Forderungen seiner eigenen Zeit zurückgestanden habe, er aber auch nicht aus spirituellen, sondern aus politischen Gründen Bischof geworden sei. Sie sieht dies jedoch nicht als Kontroverse, sondern betont, dass in seinem literarischen Schaffen kein Konflikt zwischen christlicher und antiker klassischer Literatur sichtbar sei. 124 David Amherdt sowie Joachim Küppers sehen in der Wahl des Sidonius zum Bischof politische Gründe: Sidonius glaubt vielmehr, angesichts des weitgehenden Zerfalls staatlicher Ordnung und Gewalt nur als Bischof überhaupt noch etwas politisch für seine Heimat tun zu können. 125 Oliver Overwien stimmt dem zu und sieht in der Übernahme des Bischofsamtes einen Ersatz für eine politische Karriere, da die Bischöfe zu dieser Zeit auch weltliche Aufgaben (Rechtsprechung, Instandhaltung der Infrastruktur, militärische Verteidigung usw.) zu erfüllen hatten und damit in gewisser Weise eine Art Konkurrenz zu den Beamten, die von den Visigoten nach 475 n. Chr. eingesetzt worden waren, darstellten. 126 Die These, dass der Bischof für die Organisation des Widerstandes zuständig war, wird durch Françoise Prévot unterstützt, die der Ansicht ist, dass die auvergnische Bevölkerung von der visigotischen Gefahr wusste und aus Motivation heraus ihre Bischöfe wählte. 127 Diese Aussage steht in engem Zusammenhang mit der Forschungskontroverse, ob Sidonius den militärischen Widerstand der civitas Arvernorum aktiv geleitet habe oder nicht, auf die ich noch im Anschluss zu sprechen komme. Martin Heinzelmann beschäftigt sich in seinem Werk über die Bischofsherrschaft in Gallien ausführlicher mit der conversio und resümiert, dass sich diese als Tradition etabliert hat. Demnach bedeute eine conversio nicht die Aufgabe des weltlichen Lebens, sondern vielmehr eine Integration der christlichen Lehren in das Landleben eines römischen Aristokraten, der, wie z. B. Seneca, auf diese Art und Weise „seine Seele“ finden 123 Henke 2008, 170; Kaufmann 1995, 54. 124 Horváth 2000, 162, bes. 151: „Christ and the gods of Olympus got on well together in the works of Sidonius.“ 125 Küppers 2005, 254; Amherdt 2001, 13 f. Ein politischer Grund wäre z. B. die einsetzende Invasion der Visigoten unter Eurich. 126 Overwien 2009a, 260; vgl. Diefenbach 2013, 96; Le Guillou 2001, 238. 127 Prévot 1999, 71.

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mochte. Weiterhin könne diese conversio erst nach einem an Ehren reichen Leben erfolgen, wie es auch Sidonius beschreibt: [1] Si veteris comilitii, si deinceps innovatae per dies gratiae bene in praesentiarum fides vestra reminiscitur, profecto intellegitis ut vos ad dignitatum sic nos ad desideriorum culmina ascendere. […] [3] igitur, quod loco primore fieri par est, agimus gratias uberes Christo, qui statum celsitudinis tuae ut hactenus parentum nobilitate decorabat, ita iam nunc titulorum parilitate fastigat; […]. 128 Wenn eure Treue jetzt noch die Erinnerung an unsere alte Dienstzeit 129 und unsere täglich erneuerte Freundschaft bewahrt, dann versteht ihr vollkommen, dass wir, ebenso wie ihr den Gipfel der Ämterlaufbahn errungen habt, auch den Gipfel unserer Wünsche erreicht haben. Folglich, was an erster Stelle getan werden muss, danken wir Christus reichlich, dass er euren hohen Standesstatus nicht nur durch die nobilitas eurer Vorfahren ausgezeichnet hat, sondern ihn nun auch durch die Gleichheit der Würdentitel erhöht; […]. Das Gegenwärtige (gratia innovata und praesentia) wird von dem Alten (vetus comilitium) und der Erinnerung umgeben. Beide Männer, Sidonius und Eutropius (der Empfänger dieses Briefes), haben den Höhepunkt ihres öffentlichen Lebens erreicht, was der Autor durch einen Parallelismus (parentum nobilitate decorabat – titulorum parilitate fastigat) zum Ausdruck bringt. Nach der Hypothese von Heinzelmann bedeutet dies, dass nun der perfekte Zeitpunkt für eine conversio eingetreten ist. Auch Sidonius bestätigt das, indem er schreibt, dass es an der Zeit sei, Christus zu danken, da er für die Höhe des Standes und für dessen Grundlage, nämlich den Rang der Vorfahren, verantwortlich ist. Weiterhin wird sogar der eigene Stand von Gott erhöht. Hiermit wird die Ernennung zu einem geistlichen Amt, vermutlich der Bischofswürde, gemeint sein. 130 Die langsame Formierung dieser bischöflichen ‚Lebenswelt‘ beschäftigte Sidonius, der versuchte, seine eigenen Identitäten als gallo-römischer Aristokrat und Politiker einzubringen, und doch stets unsicher war, was sich für einen Bischof gebührte und was nicht. David Amherdt unterstützt die These Heinzelmanns, da auch er im Episkopat des Sidonius die effektivste Art sieht, für dessen alte Ideale und aristokratischen Ideen einzutreten. Diese komme in den Inhalten zum Ausdruck, die weniger den christlichen Glauben abhandeln, als vielmehr als eine Verteidigung der römischen Kultur und Sprache seien. 131 Wie sehr Sidonius römischer Aristokrat geblieben war, zeigt seine Auffassung vom Widerstand gegen die Ausbreitung der visigotischen Macht. Wie genau sich der

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Sidon. epist. 3,6,1.3. Rapp 2005, 195; Heinzelmann 1976, 204. Comilitium meint im eigentlichen Sinne Kriegsgemeinschaft; vgl. Mascoli 2021, 135. Heinzelmann 1976, 204. Amherdt 2001, 17‒19; Gotoh 1997, 45.

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Widerstand des Sidonius vorgestellt werden kann, muss Spekulation bleiben. 132 Dies liegt in der Tatsache begründet, dass über die visigotischen Expansionsbemühungen an sich nichts Genaueres festgehalten werden kann. Es kann vermutet werden, dass Eurich als Anführer der visigotischen Gemeinschaft die innenpolitische Zerrissenheit des weströmischen Reiches nutzte, um seine eigene Machtposition zu stärken, und vor kriegerischen Auseinandersetzungen nicht zurückschreckte. Wenn Sidonius geglaubt werden kann, hatte Eurich das foedus mit dem Imperium gebrochen und wollte ein visigotisches Königreich in Gallien erschaffen, das vollständig autonom und losgelöst von Rom agieren sollte. 133 Der erste Schritt hierfür war die Besetzung der Auvergne, die noch immer der Oberhoheit des Imperiums unterlag, was Eurich im Jahr 471 durch einen Sieg über die römischen Truppen gelang. 134 Die Situation der civitas der Arverner war nicht eindeutig. Sidonius als ihr Bischof stellt sich selbst als verantwortlich für die militärische Verteidigung der Stadt dar, mit der er seinen Neffen Ecdicius beauftragte: proinde moras tuas citus explica et quicquid illud est, quod te retentat, incide. te exspectat palpitantium civium extrema libertas. quicquid sperandum, quicquid desperandum est, fieri te medio, te praesule placet. si nullae a republica vires, nulla praesidia, si nullae, quantum rumor est, Anthemii principis opes, statuit te auctore nobilitas seu patriam dimittere seu capillos. vale. 135 Daher kläre schnell deine Aufschübe und was auch immer es ist, das dich zurückhält, beseitige es! Auf dich hofft das letzte bisschen Freiheit der sterbenden Bürger. 136 Was auch immer gehofft werden kann, was auch immer verloren ist, wird mit dir in der Mitte bewirkt werden, wird mit dir als Anführer für gut befunden. Wenn keine 132 Es bleibt die Frage, ob Sidonius selbst zu den Waffen gegriffen oder die militärische Verteidigung der Stadt ganz Ecdicius überlassen hat. Laury Sarti bspw. stellt zwar heraus, dass Ecdicius aus privaten Mitteln ein Heer zur Verteidigung organisiert habe, weist aber dennoch darauf hin, dass Sidonius als Bischof in die Verteidigung involviert war (Sarti 2013, 31 f.). Warum sie sich doch dafür entschied, die Briefe in der Art zu interpretieren, dass Sidonius selbst ein militärisches Kommando übernahm, bleibt offen (Sarti 2013, 91). Zur Frage, ob Ecdicius als ein lokaler Anführer, der sich durch militärisches Geschick hervorgetan hat, darstellt, siehe: Drinkwater 2013, 65; Wood 2000, 507; Harries 1994, 229. 133 Sidon. epist. 3,1,5; Overwien 2009a, 247; Harries 1994, 222; Wolfram 1979a, 223. 134 Kaufmann 1995, 173; Stevens 1933, 92 f.; Iord. Get. 45,238: Euricus ergo, Vesegotharum rex, crebram mutationem Romanorum principum cernens Gallias suo iure nisus est occupare. […] Eurichus vero rex Vesegotharum Arevernam Galliae civitatem occupavit Anthemio principe iam defuncto. „Folglich war Eurich, der König der Visigoten, weil er die häufigen Wechsel der römischen Kaiser wahrnahm, bestrebt, Gallien unter seine Herrschaft zu bringen. […] In der Tat war Kaiser Anthemius schon tot, als Eurich, der König der Visigoten, die civitas der Arverner in Gallien überfiel.“ Die Wichtigkeit, die Sidonius dieser Aussage beimaß, wird durch die Verwendung des Partikels vero unterstrichen (siehe hierzu: Risselada 2013, 278). Kulikowski 2001, 36: Der Autor sieht bereits in der Ansiedlung von 418 n. Chr. die Grundlage für ein unabhängiges gotisches Königreich. 135 Sidon. epist. 2,1,4. 136 Vgl. TLL 164 f. unter palpito: zucken als Anzeichnen eines nahen Todes.

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Soldaten vom Staat geschickt werden, kein Schutz zu erwarten ist und wenn, wie es gemunkelt wird, die Macht des Kaisers Anthemius erloschen sein sollte, dann hat die Nobilität entschieden unter deiner Führung entweder ihre patria oder ihr Haupthaar 137 zu verlieren. Leb wohl. Diese Stelle ist als Hilferuf des Sidonius aufzufassen. Die Situation ist seiner Darstellung nach nahezu aussichtslos und es wird deutlich, dass Clermont von Anthemius keine Hilfe mehr zu erwarten hat. Der Parallelismus mit den beiden Gerundia quicquid sperandum, quicquid desperandum verdeutlicht diese Ausweglosigkeit. Die Bürger sind bereit, alles zu gewinnen oder alles zu verlieren. Doch sie brauchen dafür einen geeigneten Anführer, von dem sie glauben, ihn in Ecdicius gefunden zu haben. 138 Die genaue Rekonstruktion der Kriegsjahre zwischen 472 und 475 n. Chr. ist nicht einfach und muss größtenteils über Bemerkungen aus den Briefen des Sidonius sowie weiterer Chronisten erschlossen werden. Eine exakte Schilderung der Ereignisse ist nicht überliefert. 139 Clermont, eine der wichtigsten Städte im Widerstand gegen die Goten, wurde wohl zwischen den Jahren 472 und 474 n. Chr. immer wieder von Visigoten attackiert, wobei erste Angriffe auf die Stadt bereits 471 n. Chr. anzunehmen sind. 140 Da die Auvergne und Clermont durch ihre günstige topographische Lage (am Zentralmassiv mit direkter Verbindung ins burgundische Lyon) eine „natürliche Bastion“ in Bezug auf das gotische Vordringen bildeten, ist es nicht verwunderlich, dass Eurich so verbissen

137 Siehe Mascoli 2021, 99 Anm. 5; Köhler 2014, 41 Anm. 4; Prévot 1999, 70; Mathisen 1993, 89; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 44 Anm. 6; Anderson 1936/1965, 416 Anm. 1. Gemeint sei das Scheren der Haare beim Übertritt in den geistlichen Stand. Meines Erachtens ist es jedoch fraglich, ob Sidonius hier wirklich, wie von Köhler und Prévot vermutet, darauf anspielt, dass alle Mitglieder der Aristokratie in den geistlichen Stand übertreten würden, sollte die Auvergne verloren werden. Vielmehr könnte es als Hinweis verstanden werden, dass Sidonius im Falle einer Niederlage nur Tod oder Gefangenschaft als Optionen für höherrangige Bürger in Betracht zieht. Somit wären die geschorenen Haare eine Anspielung auf den Sklavenstand oder Demütigung als Strafe durch die Sieger, wie bspw.in der Hl. Schrift überliefert 2 Sam 10,1–5. Vgl. Vict. Vit. 2,9 zur „Skalpierung“ als Strafe durch die Vandalen; siehe auch: von Rummel 2007, 188. 138 Sidon. epist. 3,3,7. Ecdicius hat laut Sidonius aus seinen privaten Mitteln ein Heer zusammengestellt, von dem Loyen 1960/1970, Bd. 2, xix vermutet, dass es auch aus burgundischen Truppen bestand. Zur Rolle des Ecdicius siehe: Giannotti 2000, 162–165. Die Autorin hat in diesem Aufsatz den Brief als einen Panegyrikus auf Ecdicius interpretiert. 139 Le Guillou 2001, 67. Delaplace 2012, 278: Die Autorin vertritt die Meinung, dass die bislang in der Forschung gebrauchte Terminologie von der Belagerung Clermonts und die Terminologie des Widerstandes nicht verwendet werden sollte. Anstelle von Belagerung bevorzugt Christine Delaplace das Wort „Blockade“. Einen Versuch, die Ereignisse der Kriegsjahre chronologisch zu ordnen, haben u. a. unternommen: Harries 1994, 221‒242; van Waarden 2010, 12–14; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xviii‒xxi; Stevens 1933 (Appendix E); zur möglichen „Belagerung“ Clermonts siehe: Delaplace 2012, passim; Kaufmann 1995, 170‒214; Rouche 1979, 41 f.; Stroheker 1937, 67‒78. 140 Sidon. epist. 7,5,3.Chadwick 1955, 300; Henning 1999, 226: Zu dieser Zeit brach in Italien der Bürgerkrieg zwischen Anthemius und Rikimer aus und die in Gallien stationierten römischen Truppen wurden abgezogen.

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versuchte, die Stadt einzunehmen. 141 Ein nicht unbedeutender Faktor bei der Verteidigung Clermonts war die burgundische Unterstützung in den ersten Jahren der Belagerung und deren Seitenwechsel im Jahr 474 nach einer Brüskierung durch Nepos. 142 Ist dies eine mögliche Erklärung für das negative Bild, welches uns Sidonius über die Burgunder während dieser Belagerungszeit überliefert? Sidonius war als Bischof der Stadt die zentrale Figur des Widerstandes und konnte daher einen Verrat an seiner civitas sicherlich nicht leicht verzeihen. 143 Im Jahr 475  n.  Chr. war es schließlich so weit: Der römische Kaiser Julius Nepos leitete die Friedensverhandlungen mit den Visigoten ein. Clermont wurde in den Augen des Sidonius geopfert und den Visigoten vertraglich zugesprochen. 144 Sidonius war sich bewusst, dass der Friedensvertrag für die Auvergne und somit auch für Clermont sowie ihn selbst weitreichende Folgen haben würde. 145 Er konnte die Übergabe der Stadt nur schwer verkraften und gab den vier Bischöfen, welche die Friedensverhandlungen im Namen des Kaisers geführt hatten, die Schuld an dem Verlust. 146 Sidonius vergleicht Clermont mit Troja, das ebenfalls durch List und Verrat eingenommen werden konnte. Obwohl die Stadt von ihren eigenen Männern verteidigt worden sei und die Goten nicht in der Lage gewesen seien, die Mauer zu durchbrechen, habe die Stadt nun die Sklaverei zu erwarten, wie er schreibt. Nichtsdestotrotz lobt Sidonius die Männer, welche die Stadt so tapfer verteidigt haben, die nicht für ihren eigenen Ruhm kämpften, sondern für den Staat, und deshalb auch nicht davor zurückschreckten, Verräter wie Seronatus dem Gesetz auszuliefern. 147 Sidonius verdeutlicht hier die Aufrichtigkeit und die Loyalität der Bevölkerung gegenüber Rom, indem er die zentralen Worte amore rei publicae verwendet, die schon Cicero in seinen Catilinarischen Reden gebraucht hatte, um den Senatoren die Aufopferungsbereitschaft des Ritterstandes zu verdeutlichen. 148 Sidonius hat versucht, ähnlich wie Cicero für Rom, zum Retter des römischen Staates in der Auvergne zu werden; die ciceronischen Ritter sind in diesem Fall die kämpfenden Bürger von Clermont. Umso mehr ist er verletzt, dass sein eigenes und das Verdienst der arvernischen Männer nun mit Unterwerfung herabgewürdigt werden soll. 141 Henning 1999, 227. 142 Vgl. Sidon. epist. 5,6,2; Henning 1999, 232; Labuske 1997, 111; Kaufmann 1995, 39; Wolfram 1979a, 222; Loyen 1970, xviii‒xxi. Der burgundische König Chilperich war sogar als magister militum für die römische Sache tätig; Wolff 2012a, 48, 50. Harries 1992, 305: Die Autorin arbeitet heraus, dass die Burgunder nicht nur aufgrund ihrer Föderatenpflicht Clermont beistanden, sondern die Stadt ein letztes Bollwerk vor Lyon war, das als Nächstes von den Visigoten bedroht werden würde. Dies verdeutlicht die fortgeschrittene Desintegration Galliens im Römischen Reich. 143 Overwien 2009a, 93; Kaufmann 1995, 59; Köhler 1995, 5; Prévot 1999, 68; Henke 2007, 216; van Waarden 2011a, 555. 144 Amherdt 2001, 14; Wolfram 1979a, 226; Stroheker 1970, 82; Henning 1999, 306‒311, bes. 310; Vita Epiphanii 91: his dictis inito etiam pactionis vinculo, verendus pontifex vale dicto discessit. „Durch diese Worte hatte zugleich die Bindung des Vertrages begonnen, und der ehrwürdige Bischof [Anm.:gemeint ist Epiphanius] ging weg, nachdem er sich verabschiedet hatte.“ 145 Sidon. epist. 7,7,6. 146 Sidon. epist. 7,7,2‒5. 147 Anspielung auf die Kollaboration des Seronatus mit den Visigoten; siehe Henning 1999, 306. 148 Cic. Catil. 4,15: … de amore rei publicae certent.

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Eine Unterwerfung, die in seinen Augen dem Verrat des Seronatus gleichkommt. Er wirft den Bischöfen vor, dass sie nicht gut genug verhandelt haben und zu sehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht gewesen seien. Diese Aussage steht zudem im Gegensatz zur Aufopferungsbereitschaft des Sidonius und der arvernischen Bürgern. Beinahe verzweifelt erfolgt sein Aufruf, den Frieden zu brechen, und er betont, dass er und die Bürger Clermonts bereit seien, alles zu ertragen, und dass sie wieder kämpfen würden. Gleichzeitig sieht er jedoch den Verrat als erwiesen an, wenn die Bischöfe den Vertrag nicht brechen. Er geht sogar noch weiter und bezeichnet ihn als ,barbarischen Verrat‘, wodurch die Bischöfe in der Ansicht des Sidonius zu ,Anderen‘ werden. Gleichzeitig spannt er noch einmal den Bogen zum Verrat des Seronatus, der seine eigenen Brüder, die gallo-römischen Aristokraten, an die Visigoten ausgeliefert hat. 149 Gregor von Tours beschreibt die Zeit der gotischen Invasion als eine Zeit der Christenverfolgung, in der die Geistlichen entweder inhaftiert, verbannt oder exekutiert wurden. 150 Die Übergabe Clermonts an die Visigoten endete für Sidonius in der Verbannung nach Livia, in der Nähe von Carcassonne, und der teilweisen Abgabe seines Besitzes. 151 Bei Sidonius selbst scheint die Verbannung eher mit seiner Person in Zusammenhang zu stehen als mit einer Christenverfolgung unter Eurich. 152 Er schreibt, dass sein Exil unter Vorwand einer Aufgabe erfolgt sei, es aber in Wirklichkeit erzwungen war und er den Status eines Proskribierten erhalten habe: […] nam per officii imaginem vel, quod est verius, necessitatem solo patrio exactus, hoc relegatus variis quaquaversum fragoribus quia patior hic incommoda peregrini, illic damna proscripti. 153 […] denn durch den Anschein einer Aufgabe oder was wahrscheinlicher ist, durch Zwang von der heimatlichen Erde vertrieben und hierher verbannt, schwächen mich jedes Mal wechselnde Anfälle von Melancholie: Hier muss ich die Unbequemlichkeiten eines Fremdlings hinnehmen, dort die Vermögensverluste eines Proskribierten. 154 149 Harries 1992, 298. Die Autorin gibt ebenfalls eine kurze Interpretation der Textstelle und hebt den Verrat unter Römern hervor. 150 Greg. Tur. HF 2,25: Huius temporis et Euarix rex Gothorum, excidens Hispanum limitem, gravem in Galliis super christianis intulit persecutionem. Truncabat passim perversitate suae non consentientis, clericus carceribus subegebat, sacerdotis vero alius dabat exilio, alius gladio trucidabat. „[…]. In dieser Zeit begann auch Eurich, der König der Goten, während er die spanische Grenze verwüstete, in Gallien eine schwere Verfolgung der Christen. Überall verstümmelte er die, die mit seiner Verkehrtheit nicht einer Meinung waren, einen Kleriker warf er in den Kerker, doch er gewährte dem einen Priester Exil, den anderen tötete er durch das Schwert. […]“; vgl. Wolfram 1979b, 165. 151 Overwien 2009b, 93; Fo 1999, 23; Chadwick 1955, 300. 152 In der Tat ist sich die Forschung ob der Ausmaße der „Christenverfolgung“ unter Eurich uneins. 153 Sidon. epist. 9,3,3; Sidon. epist. 4,10,1: […] postquam me soli patrii finibus eliminatum peregrinationis adversa fregerunt. „[…] nachdem mich, der ich vom Boden des Vaterlandes ausgeschlossen bin, die Widrigkeiten in der Fremde entmutigen.“ 154 Übersetzung leicht verändert nach Köhler 2014, 290.

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Wie Jill Harries herausgearbeitet hat – ihrer Theorie hat Atsuko Gotoh zugestimmt –, hat Eurich keinen Vorwand nötig, um Sidonius zu verbannen. Vielmehr sei Sidonius eine konkrete Aufgabe zugewiesen und ihm somit nach deren Vollzug auch eine Möglichkeit zur Rückkehr gewährt worden. 155 Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Sidonius’ Situation bei Weitem nicht so aussichtslos erscheint, wie er selbst den Leser glauben machen möchte. Hier könnte eine Parallele zu Ovid gesehen werden, der seinen Verbannungszustand bewusst in den Tristia und den Epistulae ex Ponto beklagt. 156 Die Verbannung des Sidonius komplett zu hinterfragen, ist hierbei jedoch nicht angebracht. Eurich wollte mit Sicherheit seine Gegner für eine gewisse Zeit außer Landes wissen, um seine neu gewonnene Herrschaft sichern zu können. Die Tatsache, dass ihm dies besser ohne Sidonius als Unruheherd in der Region gelingen würde, erscheint nachvollziehbar. Dennoch sollte nicht unterschätzt werden, dass sich Eurich der Popularität des Sidonius in der Auvergne bewusst war und er ihm deshalb von Beginn an eine Möglichkeit auf Rückkehr bot. Sidonius musste zwei Jahre im Exil verweilen, bevor er auf Fürsprache seines Freundes Leo nach Clermont zurückkehren durfte. 157 Über seine Zeit dort wissen wir nur sehr wenig, da er darüber wenig schreibt. Sidonius teilt Leo mit, dass er nicht fähig sei, literarisch tätig zu sein, da ihn verschiedene Aufgaben von seinen Pflichten abhielten. 158 Von welcher Art diese Aufgaben sind, bleibt unbekannt. 159 Während dieser Zeit verfiel Sidonius in eine seelische Krise und in seiner Korrespondenz greift er auf antike Metaphern zurück, um seine aussichtslose Situation zu schildern. So vergleicht er sich einmal mit einem Fisch im Netz, ein anderes Mal sieht er sich als Meliboeus und greift auf Vergil zurück. 160 Leo, der am visigotischen Hof als Berater tätig war, erreichte die Nachricht von der Rückkehr des Sidonius. Eurich war inzwischen der mächtigste Herrscher Galliens geworden und, um überhaupt erst eine Audienz beim Herrscher zu erhalten, musste Sidonius zwei Monate lang warten. Sidonius hat diese Machtverlagerung wohl 155 Gotoh 1997, 42; Harries 1994, 175. 156 Gaertner 2007, 156, 172; z.  B. Ov. trist. 1,1,39‒42: carmina proveniunt animo deducta sereno; / nubila sunt subitis pectora nostra malis. / carmina secessum scribentis et otia quaerunt; / me mare, me venti, me fera iactat hiems. „Gedichte entstehen durch ein fröhliches Gemüt / meine Seele ist betrübt vom unerwartetem Übel. / Dichtung erfordert Abgeschiedenheit und Muße beim Schreiben; / mich werfen das Meer, Winde und harte Winter umher.“ 157 Zu Leo siehe PLRE II, 662 f. unter Leo 5; Heinzelmann 1983, 635 unter Leo 2. 158 Sidon. epist. 8,3,1. 159 Fo 1999, 23. 160 Henke 2008, 166; Colton 2000, 12; Prévot 1999, 75; Sidon. epist 8,9,2: nosti enim probe laetitiam poetarum, quorum sic ingenia maeroribus ut pisciculi retibus amiciuntur; et si quid asperum aut triste, non statim sese poetica teneritudo a vinculo incursi angoris elaqueat; […] „Du kennst nämlich die richtige Fruchtbarkeit der Dichter, wenn deren Verstand von Trauer so eingehüllt ist, wie Fische in Netzen eingefangen sind; und wenn dieser etwas Derbes oder Trauriges erlebt, dann kann sich die Zartheit des Dichters nicht sofort aus den Schlingen der hineingeratenen Angst befreien […].“; Sidon. epist. 8,9,5, V 58–59: qui, dum nil mereor precesque frustra / impendo, Meliboeus esse coepi. „Während ich nichts bekomme und ich die Gebete vergeblich spreche, beginne ich Meliboeus zu sein.“

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erkannt und akzeptiert. Wie sonst kann ein sogenannter Panegyrikus auf Eurich erklärt werden? 161 Courtenay E. Stevens legt dar, wie schwer es für Sidonius gewesen sein muss, den Wandel der Zeit anzunehmen. Immerhin hatte er 40 Jahre lang an die Macht und das Fortbestehen des Römischen Reiches geglaubt. Nun war Gallien aus seiner Sicht einem Barbaren überlassen worden. Sidonius vertraute nicht länger auf die alte, vergangene Welt, sondern auf die Zukunft. Auf seinen Bischofssitz nach Clermont zurückgekehrt, widmete er sich schließlich der Veröffentlichung seiner Werke. 162 Joop van Waarden sieht in der ausgewählten Publikation seiner Briefe eine bewusste Provokation, die zum Erhalt der gallo-römischen Ideale und des Katholizismus beitragen soll. 163 Helga Köhler kommt in ihrer Arbeit zu dem Ergebnis, dass die von Sidonius nach 475 n. Chr. verfassten Briefe Ausdruck seiner Abneigung gegenüber den Barbaren seien. 164 Doch die Figur des gallorömischen Aristokraten und Bischofes ist sehr viel komplexer, als angenommen wird, und seine Denkweise ist nur schwer nachvollziehbar. Vor allem Oliver Overwien hinterfragt, ob sich Sidonius wirklich mit der Situation unter Eurich abgefunden oder ob er sich nicht doch weiterhin durch seine literarische Tätigkeit der gotischen Herrschaft widersetzt hat. 165 Hierzu gibt es in der Forschung verschiedene Auffassungen – von einer Anpassung des Sidonius (z.  B.  Stevens, Prévot) bis hin zu einem erneuten Widerstand (Overwien, Zelzer). 166 Sicher ist, dass Sidonius einer der letzten Repräsentanten der römischen Kultur und gleichzeitig ein christlicher Bischof mit hohen Idealen war. 167 Über den Bischof Sidonius berichtet uns hauptsächlich Gregor von Tours, der ihn als einen redegewandten Bischof von höchster Heiligkeit beschreibt, der selbst ohne Buch, allein aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten einen Gottesdienst verrichten konnte. 168 Bei der Sichtweise 161 Wolff 2012, 45; Fo 1999, 23; Iord. Get. 57, 244: Quod Eurichus grato suscipiens animo, totas Spanias Galliasque sibi iam iure proprio tenens, simul quoque et Burgunzones subegit Arelatoque degens nono decimo anno regni sui vita privatus est. „Dies hat Eurich frohen Gemütes aufgenommen, weil er bereits ganz Spanien und Gallien rechtens in seinem Besitz hält und er zudem gleichzeitig die Burgunder unterjocht und während er in Arles verweilte, wurde er im neunzehnten Jahr seiner Herrschaft seines Lebens beraubt.“; Stevens 1933, 164; Kaufmann 1995, 62; Stroheker 1970, 85; Sidon. epist. 9, 9; der Panegyrikus wird noch ausführlicher behandelt werden. 162 Sidon. epist. 4,22,4: at nostra longe condicio dispar, quibus dolori peregrinatio nova nec usui lectio vetus, tum religio professioni est, humilitas appetitui, mediocritas obscuritati, nec in praesentibus rei tantum, quantum in futuris spei locatum […]. „Aber unser Zustand ist bei weitem verschieden; für mich ist der unerwartete Aufenthalt in der Fremde schmerzlich und auch der gewohnte Lesestoff existiert nicht; zudem ist die Glaubenslehre mein Beruf, ist Demut mein Verlangen, der Mittelweg meine Unbekanntheit und nicht so sehr auf die gegenwärtigen Zeiten ist mein Interesse gerichtet, sondern meine Hoffnung liegt mehr in der Zukunft.“; Stevens 1933, 164; Harries 1994, 242. 163 Van Waarden 2011a, 559. 164 Köhler 1995, 55. Hier muss erneut auf die Problematik der Datierbarkeit der Briefe hingewiesen werden. Es kann definitiv kein möglicher Gesinnungswandel des Sidonius mit einem konkreten Datum, auf den Briefen basierend, in Zusammenhang gebracht werden. 165 Overwien 2009a, 248. 166 Van Waarden 2011a, 560 f.; Overwien 2009b, 94; Prévot 1999, 75; Stevens 1933, 166. 167 Chadwick 1955, 297. Zum Verhältnis des Sidonius zur asketischen Bewegung von Lérins sei auf die Einführung von van Waarden 2016, 1–31 in seinem Kommentar verweisen. 168 Greg. Tur. HF 2,22.

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Gregors darf aber nicht vergessen werden, dass dieser selbst der senatorischen Aristokratie aus Clermont entstammte und daher nicht schlecht über den ehemaligen Bischof, der seine Vaterstadt zu verteidigen versucht hatte, sprechen würde. Das Todesjahr des Sidonius wurde lange zwischen 480 (terminus post quem) und 490 (terminus ante quem) angenommen. 169 Allerdings deuten Hinweise aus seinem Epitaph auf 479 n. Chr. hin. 170 Er wurde nach seinem Tod als Heiliger verehrt. Den Tod des Sidonius beschreibt Gregor von Tours folgendermaßen: Factum est autem post haec, ut accedente febre aegrotare coepisset. Qui rogat suos, ut eum in ecclesiam ferrent. Cumque ibidem inlatus fuisset, conveniebant ad eum multitudo virorum ac mulierum simulque etiam et infantium plangentium atque dicentium: ‚Cur nos deseres, pastor bone, vel cui nos quasi orphanos derelinquis? Numquid erit nobis post transitum tuum vita? Numquid erit postmodum, qui nos sapientiae sale sic condiat aut ad dominici nominis timorem talis prudentiae ratione redarguat?‘ Haec et his similia populis cum magno fletu dicentibus, tandem sacerdos, Spiritu in se sancto influente, respondit: ‚Nolite timere, o populi, ecce! frater meus Aprunculus vivit, et ipse erit sacerdos vester.‘ 171 Aber daraufhin ereignete es sich, dass er [Anm.: Sidonius] an einem Fieber erkrankt war. Er befahl den seinen, ihn in die Kirche zu tragen. Und während er hineingetragen wurde, versammelte sich um ihn herum eine große Schar an Männern, Frauen und Kindern, die weinend fragten: ‚Warum verlässt du uns guter Hirte? Bei wem wirst du uns, gewissermaßen Waisenkinder, zurücklassen? Denn wie können wir nach deinem Tod leben? Wird es jemanden geben, der uns das Salz der Weisheit verabreicht oder wer wird uns die Furcht vor dem Namen des Herrn mit ebensolcher Einsicht einflößt wie du?‘ Dieses und Ähnliches fragte das Volk mit großem Flehen und vom Heiligen Geist bewegt, erwiderte er: ‚Fürchtet euch nicht, oh ihr Menschen! Mein Bruder Aprunculus lebt, und er wird euer Priester werden.‘ Die Schilderung Gregors erinnert sehr stark an biblische Tradition. Die Männer, Frauen und Kinder, die klagen, beklagten auch Jesus von Nazareth auf dem Weg zum Kreuz. Im Gegensatz dazu steht jedoch der Ausdruck nolite timere, der an die Verkündigung der Geburt Jesu durch die Engel auf dem Feld erinnert. 172 In diesem Falle wäre die neue Hoffnung des Volkes Aprunculus, den Sidonius in seinen letzten Atemzügen zum Nachfolger bestimmt. Natürlich ist dies eine extreme Lesevariante der Todesbeschreibung des Sidonius, die vielmehr hervorstellt, wie wichtig es für spätere Bischöfe war, Vorbilder zu schaffen und eine lebensweltliche Gemeinschaft zu konstruieren. Sidonius Apollinaris

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Kaufmann 1995, 63; Köhler 1995, 6. Furbetta 2015, 251–253. Greg. Tur. HF 2,23. Vgl. Lk. 2,10: καὶ εἶπεν αὐτοῖς ὁ ἄγγελος·μὴ φοβεῖσθε […].

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wurde nach seinem Tod als Heiliger verehrt. Wundertaten von ihm selbst sind keine bekannt, aber die Hand Gottes schützte ihn vor einem Mordkomplott. 173 Wer war nun Sidonius wirklich? Ein römischer Aristokrat und ,Barbarenfeind‘ oder ein gallischer Bischof, der ums Überleben seiner romanitas kämpfte? Es ist nicht leicht, ein Fazit über das Leben des Sidonius zu ziehen. Thomas Kitchen sieht ihn in verschiedenen Rollen und sagt ihm eine „troubled identity“ nach. Seiner Meinung nach schrieb Sidonius das, was seine Lesenden wollten, und aus diesem Grund sei es unmöglich, seine wahren Gefühle zu rekonstruieren. 174 Ich vertrete die Annahme, dass Sidonius tief im Innersten stets ein römischer Aristokrat blieb, der seine Ämter v. a. dazu nutzte, um im Angesicht der visigotischen Bevölkerung römische Traditionen zu erhalten. Die Annahme wird durch das Epitaph des Sidonius untermauert, das in einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert überliefert ist und das 1991 in Clermont wiederentdeckt wurde. 175 Es präsentiert Sidonius nicht als Bischof, sondern spricht ihm die typischen Eigenschaften eines römischen Aristokraten zu: illustris tituli, potens honore, rector militiae, forique iudex. 176 Am Ende bleibt festzuhalten, dass die Biographie des Sidonius dessen Wandelbarkeit und Verwandlungsfähigkeit in verschiedenen Situationen bezeugt. Er selbst sah sich ganz in der Tradition antiker Schriftsteller. Möglicherweise kann in Sidonius gegen Ende seines Lebens Züge eines Ovids wiedergefunden werden, dessen ganzes Leben einer einzigen Metamorphose gleicht.

3.2 Die Briefe nam moris est eloquentibus viris ingeniorum facultatem negotiorum probare difficultatibus et illic stilum peritum quasi quendam fecundi pectoris vomerem figere, ubi materiae sterilis argumentum velut arida caespitis macri glaeba ieiunat. 177 Denn es ist eine Angewohnheit unter sprachlich begabten Männern, deren Fähigkeit zum Schreiben durch schwierige Aufträge zu beweisen und dort den Griffel zu führen, als ob dieser geradezu eine Pflugschar des ergiebigen Verstandes wäre, wo der Inhalt eines unfruchtbaren Themas wie eine trockene Scholle des mageren Erdbodens Durst leidet.

173 Siehe Greg. Tur. HF 2,23. 174 Kitchen 2010, 53‒55. 175 Mit dem Epitaph hat sich kurz nach der Wiederentdeckung Prévot 1999, 77–80; 1993, passim; auseinandergesetzt. Siehe weiterhin: Condorelli 2013, passim. Einen Vergleich zwischen Sphragis und Epitaph nimmt Meurer 2019, 169 f. vor. Das Epitaph befindet sich heute im Musée Bargoin in Clermont-Ferrand. 176 Lüthjohann 1887, vi (MGH AA 8); siehe: Becht-Jördens 2017, 144; Heinzelmann 1976, 63, 97 f. Stevens 1933, 166 äußert eher Kritik am Epitaph aufgrund der zeitlichen Distanz. 177 Sidon. epist. 8,10,2.

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Die Briefe

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Durch diese Stelle innerhalb der Briefsammlung 178 wird den modernen Lesenden bewusst, dass Sidonius sich selbst keine leichte Aufgabe aufgebürdet hat. Dies verdeutlicht der metaphorische Vergleich von literarischer Tätigkeit mit dem Pflügen eines ausgedörrten Stück Bodens, wofür dem Literaten allein seine ausgeprägte Fantasie ( fecundum pectoris) zur Verfügung steht. Sidonius fühlt sich dem Kreis dieser redegewandten Männer zugehörig und will daher sein Talent zur Schau stellen. Sowohl Leben als auch Werk des Sidonius sind eng mit den Ereignissen der damaligen Zeit verbunden. Die 24 Carmina und 147  Episteln berichten von den Geschehnissen jener Zeit und den Auswirkungen auf das Leben des Autors. Joachim Küppers sieht im Übertritt in den klerikalen Stand, den er als Zäsur im Leben des Sidonius beschreibt, auch eine Zäsur in seinem literarischen Schaffen, da Sidonius sich von da an ausschließlich der Epistolographie zuwendet. 179 Als Bischof soll er ebenfalls missae verfasst haben, die für die heutigen Lesenden verloren sind. Insbesondere für die Erforschung der geistlichen Persönlichkeit des Sidonius wäre dieses Werk wertvoll gewesen. 180 Da Sidonius selbst im ersten Brief der Sammlung schreibt, einem Symmachus, Plinius und Cicero nachzueifern, besteht Einigkeit, dass die Briefe in deren Tradition geschrieben und publiziert wurden. Die für die öffentliche Zirkulation gedachten Briefe wurden von ihm selbst ausgewählt und überarbeitet. 181 Aktuell hat sich Roy Gibson eingehend mit Plinius’ Einfluss auf Sidonius beschäftigt und festgestellt, dass die Gemeinsamkeiten mehr auf dem äußeren Gerüst als auf der Sprache oder der Gestaltung der Briefe selbst beruhen. 182 In der Tat können in den Werken nicht nur eine Einflussrichtung, sondern mehrere antike Strömungen wahrgenommen werden. Das ist zum einen mit der aristokratischen Schulbildung des Sidonius zu erklären, zum anderen mit seiner Absicht, dem Verfall der klassischen Kultur entgegenzuwirken. 183 Ebenso wie sich Sidonius im Laufe seines Lebens wandelte und verschiedene Persönlichkeiten in seinen Briefen konstruiert werden, passt er seinen Stil und seine Sprache an die unterschiedlichsten Thematiken

178 Zur Überlieferungsgeschichte der Sidoniusbriefe sei auf Dolveck 2020 verwiesen. 179 Küppers 2005, 252. Mratschek 2013, 252 vertritt ebenfalls die Ansicht von Joachim Küppers. 180 Van Waarden 2011b, 99; Amherdt 2001, 22. Weitere Werke, auf die Sidonius selbst in seinen Briefen anspielt, die jedoch nicht überliefert sind, stellen eine Bearbeitung der Vita Apollonii des Philostratus (siehe Sidon. epist. 8,3,1) sowie satirische Arbeiten (siehe Sidon. epist. 1,1,4) dar; vgl. Kaufmann 1995, 66. Zu den verlorenen Werken des Sidonius siehe: Mascoli 2021, 30–33. 181 Sidon. epist. 1,1 f.; Mratschek 2017, 309; Harries 1992, 299; Loyen 1960/1970, Bd. 2, vii; Cameron 1965, 296. Zum Einfluss von Plinius und Symmachus: Gibson 2013a, 333; Camastra 2012, 171; Henke 2007, 216. Overwien 2009b, 93 findet v. a. durch die Anekdoten eine Parallele zu Plinius. Peter 1901, 153 glaubt zu erkennen, dass die Briefe bis Buch 8 v. a. an Plinius orientiert sind, dann aber der Einfluss zugunsten des Symmachus zunimmt, während „Spuren des Fronto“ eher selten erkennbar sind. Mit loci similes hat sich v. a. Fernández López 1994, 269‒274 beschäftigt. 182 Gibson 2020, 389–391; 2013a, 336 f. Zur sprachlichen Ähnlichkeit mit und Abgrenzung gegenüber Plinius siehe: Wolff 2020, 406 f. 183 Vgl. Loyen 1943, 10. Er geht ebenfalls davon aus, dass Sidonius aufgrund seiner Schulbildung die antiken Stile bewunderte; Amherdt 2001, 24.

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der Briefe an. 184 Daher variieren die Briefe in ihrer Länge je nach Thematik von Buch zu Buch, wobei Sidonius selbst schreibt, dass er einen Kompromiss eingegangen sei: Je weniger Briefe er in einem Buch arrangiert habe, desto länger seien die einzelnen Briefe darin. 185 Der Bischof Sidonius unterscheidet sich vom römischen Beamten und Sidonius als Vater oder Freund verwendet eine andere Sprache oder Ausdrucksweise als als Vorgesetzter oder Gegner. 186 Es galt als eine hohe Ehre, als Adressat in eine Briefsammlung aufgenommen zu werden, was folglich auch auf die Empfänger der Sidoniusbriefe zutrifft. Dieser verfasste seine Schreiben in erster Linie für seine literarischen Kreise, in denen sie zuerst zirkulierten. 187 Somit waren sie primär an Mitglieder seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ gerichtet. Die Betrachtung der Sprache und des sozialen Hintergrundes der Empfänger verdeutlicht jedoch, dass die Briefe zweierlei Adressaten hatten. Zum Ersten wurden sie für gallische Aristokraten verfasst, um die römische Sprache und Kultur aufrechtzuerhalten, 188 zum Zweiten kann der spätere Leser als sekundärer Adressat in Erwägung gezogen werden, den Sidonius durch die bewusste Publikation ansprach. Sidonius schlägt mit seinen Schreiben eine Brücke von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft, um so seinen Lesern Verhaltensbeispiele, Traditionen und Pflichten vermitteln zu können, während er selbst seine eigenen Taten rückblickend rechtfertigt und durch eine Veröffentlichung sicher gehen möchte, dass sein Andenken bewahrt werden wird. 189 3.2.1 Inhalt und Aufbau Das folgende Unterkapitel bietet einen Überblick zu den Inhalten und dem Aufbau der einzelnen Briefe, die in neun Büchern veröffentlicht wurden, und diskutiert im

184 Als Überblick bezüglich Sprache und Stil sei auf Risselada 2013, 273–301 sowie auf die Kommentare von Giannotti 2016, 46–60; Giulietti 2014, 18–20 (nur sporadisch); van Waarden 2010, 52–66; Amherdt 2001, 47–56 und Köhler 1995, 18–25 verwiesen. Das 2020 erschienene Edinburgh Companion to Sidonius Apollinaris (Kelly/van Waarden 2020) widmet sich in einer ganzen Sektion der Sprache und dem Stil des Sidonius (395–473). 185 Sidon. epist. 7,18,1; siehe: Gibson 2020, 375; van Waarden 2010, 33. 186 Dies kann mit Joop van Waardens Erkenntnissen zur Nutzung von „you and I“ (ego, nos, tu, vos) je nach relativer Distanz zwischen Versender/Verfasser und Empfänger/Thema gestützt werden, siehe: van Waarden 2020b, bes. 420. 187 Furbetta 2013, 65; Küppers 2005, 257 f.; Amherdt 2001, 31; Mathisen 1981, 107. 188 Everschor 2007, 209; Amherdt 2001, 16, 24, 40; Köhler 1995, 10; Stroheker 1970, 59. Loyen 1943, 65‒92 teilte die Adressaten in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe entstammte der Auvergne, die zweite stammte aus Narbonne und die dritte aus Bordeaux. Van Waarden 2010, 8 sieht in Sidonius’ Briefen eine gewisse Melancholie, die zwar stets präsent sei, aber nie die Oberhand gewinne. Diese Melancholie verdeutliche die Gefahr, in der sich die römische Kultur und das Latein befänden; vgl. Amherdt 2001, 55: „Sidoine encourage surtout ses amis à défendre la langue et la culture latines, dont il constate amèrement la décadance.“ 189 Vgl. Köhler 2014, xxiii, die von einer „moralischen Erziehung“ der Leser spricht.

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Die Briefe

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Anschluss die Intention(en) des Autors zur Abfassung und Veröffentlichung. 190 Aus den Widmungsbriefen des ersten Abschnittes der Bücher 1 und 7 ist zu schließen, dass Sidonius seine Sammlung mit dem siebten Buch für abgeschlossen hielt. Sie war ganz Constantius gewidmet, dem Freund, der, Sidonius zufolge, um die Veröffentlichung gebeten hatte. 191 Das Anfügen zweier weiterer Bücher auf die Zahl  9 ist nach dem Vorbild des jüngeren Plinius geschehen, wobei das neunte Buch Firminius gewidmet ist. 192 Am Ende des ersten, siebten, achten und neunten Buches finden sich abschließende Briefe, die auf separate Veröffentlichungen hindeuten können. 193 Sidonius schrieb seine Briefe in allen Genera, die der antiken Epistolographie bekannt waren: Widmungsbriefe, literarische Begleitbriefe, belehrende oder ermahnende Briefe sowie erzählende/beschreibende Briefe, darunter Dank-, Trost- und Empfehlungsschreiben sowie Gratulationsbriefe. 194 Wie Plinius beschränkt sich Sidonius bei der Abfassung seiner Briefe auf ein Thema per Schreiben und verfasst sie in der typischen Manier des antiken Briefgenus. 195 Dies bedeutet konkret, dass die Briefe mit Sidonius […] suo salutem beginnen und mit vale schließen. Einzig die Schreiben an Bischöfe beginnen mit Sidonius domino papae […] salutem und enden mit memor nostri esse dignare, domine papa, 196 worin Michaela und Klaus Zelzer eine Anspielung auf die Korrespondenz des Ambrosius sehen. 197 Es könnte sich aber auch schlichtweg um das übliche 190 Unlängst hat Michael Hanaghan einen Katalog zu Inhalt und Adressaten der einzelnen Briefe im Rahmen seines Werkes Reading Sidonius’ Epistles vorgelegt: Hanaghan 2019, 192–199. 191 Widmungsbriefe an ihn: Sidon. epist. 1,1; 7,18; 8,16; Mratschek 2017, 311 f.; Gibson 2013b; 217 f.; Köhler 1995, 8; Kaufmann 1995, 66; Peter 1901, 150. Zu Constantius siehe: PLRE II, 320 unter Constantivs 10; vgl. Giannotti 2016, 122 sowie Heinzelmann 1983, 587 unter Constantius 2. 192 Sidon. epist. 9,1,1; Cameron 1965, 297; Loyen 1960/1970, Bd. 2, x; Peter 1901, 150. Gibson 2013a, 355 gibt zu bedenken, dass Plinius sowie Ambrosius und Symmachus ein zehntes Buch veröffentlicht haben und sich auch Sidonius diese Option offen hielt. Da er allerdings die Absetzung des letzten römischen Kaisers miterlebt hatte, gab es laut Gibson keinen Herrscher mehr, für den er schreiben konnte. Dieser Gedankengang ist nicht von der Hand zu weisen, wobei unbedingt die Intention der Briefe des Sidonius hinterfragt werden sollte. Hat er für oder über einen römischen Kaiser geschrieben? Oder eher über das Römische Reich im Westen allgemein? Oder standen doch die Aristokratie und die Auvergne im Mittelpunkt? Sidonius gibt uns zur Beantwortung dieser Frage keine Lösung. 193 Sidon. epist 1,11; 7,18; 8,16; 9,16; vgl. Gibson 2013a, 350–354; Mratschek 2017, 310. 194 Siehe Sidon. epist. 7,18,2; Giulietti 2014, 14; Küppers 2005, 259; van Waarden 2010, 33; Everschor 2007, 359; Zelzer/Zelzer 2002, 404. 195 Sidon. epist. 7,18,4; Everschor 2007, 218; Zelzer/Zelzer 2002, 404. Prévot 2013, 2 erachtet die Briefe des Sidonius als Kunstbriefe, mit denen er Plinius nachahmt. Gibson 2020, 377 spricht ebenso an, dass Plinius jeden Brief auf ein Thema beschränke, weil dieser für einen größeren Leserkreis geschrieben und die öffentliche Zirkulation seiner Briefe geplant habe. Es ist Gibson zuzustimmen, diese Beobachtung auf Sidonius zu übertragen. 196 Beispielsweise Sidon. epist. 7,2; 7,8; 9,4. Seltener verwendet er die Ansprache pastori (Sidon. epist. 5,20), sacerdoti (epist. 5,21), abbati (epist. 7,16), fratri (epist. 7,17). Dabei ist auffallend, dass die abweichende Ansprache jeweils in zwei aufeinanderfolgenden Briefen auftritt und somit die Empfänger beziehungsweise deren Stellung innerhalb der klerikalen Hierarchie hervorgehoben werden. 197 Zelzer/Zelzer 2002, 404; Amherdt 2001, 34.

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Formular Bischöfen gegenüber handeln. Den Aufbau der Briefe hat ‪María Concepción López Fernández näher betrachtet und die äußere Form in vier Teile untergliedert: 1. (die salutatio – die Anrede) die captatio, die zur Vorbereitung dient und die Aufmerksamkeit des Empfängers und Lesers wecken sollte; 2. die narratio, die das eigentliche Thema des Schreibens behandelt; 3. die petitio, die entweder eine Frage, ein Ratschlag oder eine Aufforderung an den Empfänger ist; 4. die conclusio, die eine kurze Reflexion des Geschriebenen beinhaltet. 198 Dies entspricht somit dem klassischen Aufbau eines Briefes. Joop van Waarden kritisiert dieses Schema eindringlich, da er die Meinung vertritt, dass die Briefe des Sidonius vielmehr einzeln für sich betrachten werden müssen, wenn man „Sidoniusʼ Flexibilität Gerechtigkeit erweisen möchte“. 199 Bei der Interpretation einzelner Briefe in dieser Arbeit wird der Annahme Joop van Waardens gefolgt, aber es werden die gängigen Begrifflichkeiten zur Struktur eines Briefes verwendet. Es sollen kurz die Thematiken der einzelnen Bücher umrissen werden, 200 da der Annahme von Roy Gibson gefolgt wird, dass die einzelnen Bücher der Sidonius’schen Briefsammlung als geschlossene Einheiten betrachtet und gelesen werden sollten. 201 Das erste Buch besteht aus elf Briefen und bezieht sich ausschließlich auf Ereignisse, die mit der politischen Karriere des Sidonius in Zusammenhang zu bringen sind. 202 Obwohl die Briefe, wie Joachim Küppers feststellt, alle unterschiedliche Adressaten haben, zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind beziehungsweise unterschiedliche Erzählzeiten aufweisen, haben sie seines Erachtens nach alle ein thematisches Ziel: das Bekenntnis zur dignitas der Aristokratie und das Leben im Staatsdienst zum Wohle Roms. Er interpretiert das erste Buch der Sammlung als „politisches Testament“ des Sidonius und als autobiographisches Dokument. 203 Françoise Prévot schlägt vor, dass das erste und zweite Buch der Sammlung als Diptychon verstanden werden sollten. 204 Das zweite Buch befasst sich im Gegensatz zum ersten eher mit dem Privatleben der gallo-römischen Aristokratie und einem Leben in Muße. 205 Es verbindet landschaftliche und moralische Charakteristiken von romanitas. 206 Obgleich die Bücher 1 und 2 als negotium und otium verstanden und interpretiert werden können, würde ich davon absehen, das zweite Buch als reines 198 Fernández López 1994, 27‒29 sowie 231; vgl. Amherdt 2001, 33 f. Der Autor übernimmt das von López Fernández vorgeschlagene System in vereinfachter Weise. 199 Van Waarden 2010, 37. 200 Einen guten Überblick über den Inhalt der Briefsammlung bieten Mratschek 2017, 309–313 und Giannotti 2016, 27–31. Der Inhalt der einzelnen Briefbücher unter besonderer Berücksichtigung von Parallelen zur Briefsammlung des Plinius findet sich bei Gibson 2013b, 206 f. Im SidoniusCompanion fasst Roy Gibson die Inhalte der einzelnen Bücher ebenfalls zusammen: Gibson 2020, 378–383. 201 Gibson 2013b, 195. 202 Besonders mit seiner Gesandtschaft nach Rom im Jahr 467; siehe hierzu: van Waarden 2010, 38; Köhler 1995, 17; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xi. 203 Küppers 2005, 269, 277. 204 Prévot 2013, 3. 205 Giannotti 2016, 28; van Waarden 2010, 38. 206 So findet sich in diesem Buch die Beschreibung des Landgutes Avitacum sowie das zügellose Verhalten eines Seronatus als Negativbeispiel für andere Aristokraten.

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otium-Buch zu analysieren. Zusammen bilden die beiden Bücher die Grundlage für die lebensweltlichen Aspekte, für die Sidonius eintritt und die er als bezeichnend für seine Innengruppe wahrnimmt. Die Bücher legen die Grundlage dafür dar, wofür in seinen Augen gekämpft und was für die Nachwelt überliefert werden soll. Dies kommt dann direkt im dritten Buch zur Sprache. Im dritten Buch tritt Sidonius erstmals als Bischof der arvernischen Bevölkerung auf und verbindet weltliche und kirchliche Ideale zu einer neuen, sich in der Entstehung befindenden ‚Lebenswelt‘. 207 Es ist geprägt von den Erzählungen der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Visigoten sowie deren Angriffen auf Clermont. 208 Im vierten Buch, das zugleich das längste Buch der Sammlung darstellt, befindet sich der einzige von 147  Briefen, der nicht von Sidonius verfasst, sondern an Sidonius gerichtet ist; er stammt von Claudianus Mamertus. 209 David Amherdt weist darauf hin, dass es Briefe vor und nach der conversio beinhaltet; er hat die Thematiken des Buches, indem er dem Schema von López Fernández folgt, in fünf Kategorien eingeteilt. 210 Besonders Schreiben über den Erhalt der Freundschaft durch Briefkommunikation treten darin thematisch in Erscheinung. Filomena Giannotti interpretiert das Buch als Widmung an die Literatur allgemein. 211 Ob Freundschaft oder Literatur, die Länge des Buches spricht dafür, dass Sidonius die Thematik dieses Werkes, das die Mitte der Sammlung darstellt, besonders am Herzen lag. 212 Gleichzeitig berichtet Sidonius in diesem Buch von seinem Exil und seinen Schwierigkeiten in der Fremde, was ihn dazu veranlasste, Hoffnung in der Zukunft und nicht Ruhm in der Geschichtsschreibung zu suchen. 213 Dass er in seinem literarischen Schaffen nicht nach Ruhm strebe, darf als Bescheidenheitsfloskel des Sidonius verstanden werden, da es tief im aristokratischen Denken verankert war, zu Lebzeiten und nach dem Tod Ansehen und Ruhm zu erlangen. 214 Im vierten Buch vereinigt Sidonius aristokratische Statuskennzeichen und Ideale mit klerikalen Verhaltensweisen. 215 Der Übertritt in den geistlichen Stand wird ebenso wie der Erhalt von Freundschaften und literarischer Tätigkeit thematisiert. Das vierte Buch nimmt meines Erachtens einen zentralen Platz in der Sammlung ein. Es bezeugt die Verschmelzung aristokratischer und geistlicher ‚Lebenswelten‘ und zeichnet die Formierung neuer gesellschaftlicher Eliten, wie beispielsweise des visigotischen Hofes 216 oder der militärischen 207 Für den Inhalt des dritten Buches und die Gestaltung der darin enthaltenen Briefe sei auf den Kommentar von Giannotti 2016 verwiesen. 208 Giannotti 2016, 28. 209 Sidon. epist. 4,2. 210 Amherdt 2001, 23; die Kategorien finden sich auf den Seiten 35–42. Die Grundlage hierfür ist bei Fernández López 1994, 29–31 zu finden. 211 Giannotti 2016, 28. 212 Dies trifft auch dann zu, wenn Sidonius in der Tat lediglich acht Bücher veröffentlichen wollte und das neunte Buch schließlich nachgereicht hätte. 213 Vgl. Sidon. epist. 4,22,4. 214 Vgl. Kapitel 2.1; Symm. epist. 1,2,5. 215 Siehe bspw. Sidon. epist. 4,1 an Probus für aristokratische Statuskennzeichen und Sidon. epist. 4,3 für eine klerikale „mentalité“, die durch das Lob auf Claudianus Mamertus sichtbar wird. 216 Siehe Sidon. epist. 4,8,4.

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Persönlichkeiten wie Arbogast, 217 nach. Roy Gibson schließt seine Beobachtungen zur Briefsammlung allgemein, aber insbesondere im Rahmen seiner Vorstellung des vierten Buches folgendermaßen ab: „His goal was nothing less than the survival of romanitas.“ Das fünfte Buch besticht hingegen durch die variatio seiner Inhalte sowie – mit wenigen Ausnahmen (Brief 5,3; 5,7; 5,10 und 5,17) – durch die Kürze der Briefe. Ähnlich wie bereits das vierte Buch verbindet es aristokratische mit klerikalen ‚Lebenswelten‘ und enthält Empfehlungs-, Gratulations- und Bittschreiben sowie den einzigen Brief der Sammlung, den Sidonius an seine Frau gerichtet hat. 218 Die Briefe des sechsten Buches sind ausschließlich an Bischöfe adressiert und befassen sich aus diesem Grund auch mehr mit Ereignissen aus den kirchlichen ‚Lebenswelten‘. Es widmet sich vor diesem Hintergrund auch der Alterität der visigotischen Bevölkerung. 219 Im siebten Buch der Sammlung, in dem die ersten elf Briefe wiederum ausschließlich an Bischöfe adressiert sind, konnte Joop van Waarden vier Hauptthemen unterscheiden: den Kampf um die Auvergne; die Notwendigkeit, Werte und Einfluss der Aristokratie zu erhalten; die Rettung von romanitas sowie den Gegensatz zwischen Katholizismus und Arianismus und die pastorale Sorge für die Gemeinde. 220 Dem gegenüber wendet sich das achte Buch erneut dem aristokratischen Leben und der Aufrechterhaltung des hohen Bildungsideals zu. Daher sind die Adressaten weniger Bischöfe als Aristokraten. 221 Im letzten Buch der Sammlung, das Firminius gewidmet ist und von Roy Gibson als „Hoffnungsschimmer“ des Sidonius interpretiert wird, da es mit dem „Standhaften“ sowie der Aussicht auf Frühling endet, steht das literarische Vermächtnis des Sidonius im Vordergrund. 222 Obwohl sich die Briefe auf den ersten Blick voneinander unterscheiden, behandeln sie doch alle denselben Topos: die romanitas ihres Autors und die der gallo-römischen Aristokratie. 223 Sie weisen sowohl apologetische als auch autobiographische Züge auf,

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Siehe Sidon. epist. 4,17. Sidon. epist. 5,16; siehe Mratschek 2017, 311. Giannotti 2016, 29. Van Waarden 2010,41. Die einzelnen Briefinhalte werden von Joop van Waarden auf den anschließenden Seiten, 41–44, besprochen. 221 Giannotti 2016, 30. 222 Gibson 2013b, 218 f. In diesem Zusammenhang sei auf die Sphragis (epist. 9,17) verwiesen, die Tabea Meurer, primär aufbauend auf den Erkenntnissen von Egelhaaf-Gaiser 2010, als „kulturelles Kapital“ des Sidonius interpretiert, das ihm ermöglichte, die verschiedenen Rollen, die er in seinem Leben eingenommen habe, nachzuzeichnen und „gegenüber einem erweiterten Adressatenkreis zu rechtfertigen“; siehe Meurer 2019, 170 f.; vgl. Egelhaaf-Gaiser 2010, 290 f. Letztere bezeichnet das Briefsiegel als „Polyphonie“, in der Sidonius verschiedene antike Autoren harmonisiert, aber die Stimme von Horaz am deutlichsten hervortrete, da er für einen Epochenwechsel stehe, wie Sidonius es für seine eigene Zeit erlebte. 223 Eine detaillierte thematische Auflistung mit Beispielen findet sich bei Giulietti 2014, 15 f. (Aristokratie, Kirche, Architektur, Barbaren, Reisen, Städte, Literatur usw.). Allerdings ist ihre Aussage, dass es sich bei der Briefsammlung um ein „prezioso documento storico“ handeln würde (16), mit Vorsicht zu betrachten.

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Die Briefe

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weshalb eine Intention der gesamten Sammlung schwer zu fassen ist.  224 Waren die Briefe demnach biographisches Vermächtnis des Sidonius oder eine Rechtfertigung seiner politischen Taten? Oder gar beides? Frank M. Kaufmann sieht als Intention, für die „Triebkraft zur Feder zu greifen“, das „Streben nach literarischem Ruhm“. Diese Auffassung wird von der Annahme Michaela und Klaus Zelzers über Briefe „als Deckmantel, um der Nachwelt all das zu hinterlassen, was ihm am Herzen lag“, unterstützt. 225 Françoise Prévot vertritt die Ansicht, dass die Briefe mehr den römischen Aristokraten als die eigentliche Persönlichkeit des Sidonius darstellten und sich generell mehr mit der Reichsaristokratie als mit der Auvergne befassten. 226 Dieser Aussage kann aus zweierlei Gründen nicht zugestimmt werden. Zum einen, weil die Werke des Sidonius sich generell mit mehr als der Aristokratie und dem Römischen Reich allein beschäftigen, zum anderen, weil die Briefe eine Fülle von Informationen über politische Ereignisse sowie gesellschaftliche Konventionen, einschließlich der Diskussion um ein religiöses Leben, beinhalten 227 Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, dass bereits in der Antike Briefe als „Spiegel der Seele“ angesehen wurden. 228 In Konsequenz ist es unbestreitbar, dass sie Ausdruck der Persönlichkeiten ihres Verfassers, im vorliegenden Fall des Sidonius, sind. Zweifellos ist die Intention des Sidonius zwischen all diesen Annahmen zu suchen. Einzig über das, was Sidonius nicht schreiben wollte, sind wir durch einen Kommentar seiner selbst exakt informiert: […] et ego non historiam sed epistulam efficere curavi. 229 […] und ich habe dafür gesorgt, nicht Geschichtsschreibung, sondern einen Brief hervorzubringen. Mit dieser Anmerkung grenzt sich Sidonius bewusst von der Geschichtsschreibung ab, schließt die Geschichte als Lehrbeispiel aber aus seinem Werk nicht aus. 230 Er fordert 224 Küppers 2005, 255  f. Für die Rechtfertigungstheorie sprechen sich Le Guillou 2001, 23 und Harries 1992, 299 aus. 225 Kaufmann 1995, 69; Zelzer/Zelzer 2002, 404. 226 Prévot 1999, 63. 227 Das Christentum spielt eine nicht unbedeutende Rolle im Werk des Sidonius, wie Bodart 2010, passim und López Kindler 2003, passim nachweisen konnten. Loyen 1960/1970, Bd. 2, viii sieht in den Briefen die Veränderungen zur Zeit des Sidonius; vgl. Wolff 2012a, 43. 228 Demetr. Eloc. 227: σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχῆς γράφει τὴν ἐπιστολήν. καὶ ἔστι μὲν καὶ ἐξ ἄλλου λόγου παντὸς ἰδεῖν τὸ ἦθος τοῦ γράφοντος, ἐξ οὐδενὸς δὲ οὕτως, ὡς ἐπιστολῆς. „Denn nahezu jeder beschreibt ein Abbild der eigenen Seele in einem Brief. Zwar ist es möglich, dass man auch aus allen anderen Schriften den Charakter des Schreibers erkennt, aber aus keiner in einer solchen Weise wie aus Briefen.“ Vgl. Müller 1980, der seinem Aufsatz den Titel Der Brief als Spiegel der Seele gab. Weiterhin sei auf folgende Werke verwiesen: Thraede 1970, 23; Ebbeler 2007, 322: „Correspondents constructed ‚faces‘ for themselves and each other, whose particularities varied over the course of a correspondence.“ 229 Sidon. epist. 1,2,10. 230 Mratschek 2017, 310; Wolff 2012a, 44, 47.

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seine Leser durch sprachliche und inhaltliche Rückgriffe zu einer Beschäftigung mit der Vergangenheit auf, wodurch diese für die Gegenwart und Zukunft an Bedeutung gewinnt. Dadurch erzeugt er das Bild gemeinsamer Traditionen und trägt zu einem kollektiven Gedächtnis seiner aristokratischen Gefährten bei. 3.2.2 Die Datierung In Zusammenhang mit der Frage der Datierung der einzelnen Bücher besteht ebenso eine Problematik mit der Datierung der einzelnen Briefe selbst, da Abfassungs-, Erzähl- und Publikationszeitraum voneinander differieren. 231 Weiterhin sind die Briefe in Sidonius’ Werk nicht chronologisch angeordnet, sondern wurden vom Autor selbst für die Zirkulation überarbeitet. 232 Die Überarbeitung wird als Unsicherheit des Sidonius interpretiert, der unter der gotischen Herrschaft nicht mehr in der Lage gewesen sei, seine Meinung frei zu äußern. Auch eine Parallele zu Plinius, der seine Briefe ebenfalls überarbeitet hat, wird in Betracht gezogen. 233 Es wird Gereon Becht-Jördens beigepflichtet, der die Überarbeitung der Briefe als eine Deutung der Ereignisse und des eigenen Lebens „post festum“ interpretiert. 234 Sowohl für die Datierung der Sammlung auch als für die Datierung der einzelnen Epistel wird in der Forschung noch immer den Vorschlägen von André Loyen gefolgt. 235 Raphael W. Mathisen hält fest, dass die Frage nach der Datierung der Schreiben eine moderne Obsession sei. Ich vertrete ebenfalls die Meinung, dass diese Frage für Sidonius nicht von Belang gewesen sein kann, da dieser sich bewusst gegen eine chronologische Ordnung seiner Briefsammlung entschieden hat. 236 Eine ähnliche Ansicht vertritt bereits Helga Köhler in ihrem Kommentar zum ersten Briefbuch, nämlich, dass: 231 Mit den verschiedenen Zeiten in den Sidoniusbriefen beschäftigt sich Michael Hanaghan (Hanaghan 2019, 58–90). 232 Mathisen 2013b, 221; Prévot 2013, 2; Le Guillou 2001, 23; Chadwick 1955, 308; ferner siehe: van Waarden 2010, 44, der sich trotz aller Problematik für die zeitliche Einbettung des „first lifes“ der Briefe, d. h. der Briefe vor der Revision, einsetzt. 233 Gibson 2013a, 334; Le Guillou 2001, 23; Mathisen 1979, 168. 234 Becht-Jördens 2017, 140. Es sei folgendes Zitat von ihm wiedergegeben: „Es handelt sich demnach keineswegs nur um eine rhetorisch-stilistische Überarbeitung, sondern um eine Neufassung mit anderem Adressaten, nämlich dem Leser, und grundsätzlich veränderter Intention und Perspektive, nämlich aus der Rückschau auf das bereits historisch gewordene Ereignis, nicht mehr um politische Einflußnahme, sondern ausschließlich um Darstellung des eigenen rückhaltlosen und vorbildlichen Einsatzes für die Verteidigung des Vaterlandes zur Selbstrechtfertigung und vor allem, wie noch gezeigt werden wird, um eine geschichtsphilosophische Deutung des Geschehens sub specie aeternitatis.“ 235 Diese werden von Furbetta 2013, 24–27 zusammengefasst, die sich generell mit der Datierungsproblematik (23–32) beschäftigt. Den Datierungen von André Loyen steht richtigerweise besonders Delaplace 2015, 40 kritisch gegenüber. 236 Vgl. Zelzer 1995, 549: „Aufzugeben sind daher die Versuche exakter Datierungen der einzelnen Briefe; …“ Allerdings weist Mathisen 2013b, 232 darauf hin, dass manche Briefe des Sidonius, wenn auch nicht datierbar, in einem relativen chronologischen Abhängigkeitsverhältnis

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[…] das Abfassungsdatum für das Verständnis des Briefes nicht mehr entscheidend sein kann, nachdem der Verfasser selbst durch Archivierung, Auswahl, Überarbeitung und Anordnung unter verschiedenen Gesichtspunkten die Chronologie missachtet und oft sogar unkenntlich gemacht hat. 237 In diesem Zusammenhang ist die Diskussion um den Kunstbrief zu erwähnen, die der Frage nachgeht, ob die Briefe real verschickt oder nur fiktiv abgefasst wurden. Die bewusste Auswahl und Korrektur der einzelnen Schreiben könnte in der Tat als Beleg für die Einordnung als Kunstbriefe sprechen. 238 Für Sidonius wäre es, wie schon erwähnt, zu gefährlich gewesen, einige seiner Schriften wörtlich zu veröffentlichen, weshalb davon auszugehen ist, dass er diese entschärft hat. 239 Allerdings ist es problematisch, die Briefe des Sidonius in diese Kategorie einzuordnen. Es kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob nicht doch das eine oder andere Exemplar im Originalton veröffentlicht wurde und inwieweit Sidonius in das Originalschreiben eingegriffen hat. Wie im Kapitel 2.2 vorgestellt, galten Briefe in aristokratischen Kreisen als Kunstwerke, die stets rhetorisch ausgearbeitet waren, weshalb nachträgliche Veränderungen schwer nachzuvollziehen sind. Den Briefen darf nicht jegliche Authentizität abgesprochen werden, da selbst nach einer Korrektur noch immer Sidonius als Verfasser mit seiner Gedankenwelt zu erkennen ist. Fraglos bleibt, dass der Konstruktionsgehalt des Inhaltes sowie die intentionelle Überarbeitung für eine bewusste Überlieferung von Bildern bei einer Untersuchung der Briefe zu berücksichtigen sind. Vermutlich veröffentlichte Sidonius frühestens nach seiner endgültigen Rückkehr nach Gallien das erste Buch der Briefsammlung. 240 Es berichtet von den Ereignissen, die während seiner politischen Laufbahn geschehen sind. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Sidonius bei der Veröffentlichung des ersten Buches noch kein Bischof war. 241 Zu beweisen ist diese Hypothese jedoch nicht. Dagegen lässt sich einwenden, dass

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zueinander stehen würden, und nennt als Beispiel u. a. die Briefe 7,6 und 7,7 sowie 5,6, und 5,7. Andererseits finden sich Briefe, die denselben Erzählhintergrund haben (bspw. die kriegerische Auseinandersetzung mit Visigoten), über die ganze Sammlung verstreut. Ganz gegensätzlich argumentiert Prévot 2013, 2 (Online-Version), die den zeitlichen Umständen der Verbreitung, die für die einzelnen Bücher unterschiedlich waren, eine größere Rolle in der Konstruktion der Briefe und somit des Bildnisses des Autors zuschreibt. Denn Sidonius habe sich im Laufe der Zeit entwickelt: „Étant donné l’échelonnement de la publication, les circonstances dans lesquelles les différents livres ont été diffusés étaient différentes et la démarche de Sidoine a évolué au fil du temps.“ Als Konsequenz argumentiert sie für ein chronologisches Vorgehen bei der Untersuchung seiner Briefe. Diese Vorgehensweise wurde auch von Meurer 2019, 177–248 angewandt. Le Guillou 2001, 23; Köhler 1995, 9. Wolff 2012a, 44; Gioanni 2004, 515; Amherdt 2001, 40; Prévot 1999, 63; Percival 1997, 280; Loyen 1960/1970, Bd. 2, viii. So spricht sich jüngst auch Hanaghan 2019, 14 dafür aus, dass sämtliche Briefe des Sidonius zu einem gewissen Grad als fiktional zu betrachten seien. Wobei nach Ansicht von Oliver Overwien die Ironie und der Sarkasmus mancher Briefe erhalten blieb: Overwien 2009a, bes. 261. Loyen 1960/1970, Bd. 2, x. Küppers 2005, 254.

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Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien

das erste Buch der Briefe ebenso zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht worden sein könnte und nicht zwingend mit dem Zeitraum der Aufgabe seiner politischen Würden in Zusammenhang gebracht werden muss. 242 Es ist davon auszugehen, dass spätestens 477 n. Chr. mit Ende des Exils die ersten sieben Bücher veröffentlicht worden sind. Ob dies gemeinsam oder aber in verschiedenen Abschnitten geschah, kann heute nur spekuliert werden. Im Jahr 482 sind wohl spätestens die letzten beiden Bücher erschienen. 243

3.3

Die Identifikationsstrategien

Die Persönlichkeiten des Sidonius zu begreifen, erscheint als ein aussichtsloses Unterfangen, da er je nach Situation, Zeit, Personenkreis und Adressat eine ganz eigene Identität zu konstruieren scheint. Es kommt erschwerend hinzu, dass durch die Überarbeitung der Briefe der ,reale‘ Sidonius nie vollkommen zutage treten wird. Durch die Lektüre seiner Briefe können wir lediglich die Persönlichkeiten erfahren, die er zum Zeitpunkt der Überarbeitung bewusst für seine Leser konstruiert hat. 244 Die Schilderung seiner Vita führt vor Augen, dass sich in Sidonius mehrere ,Lebenswelten‘ überschneiden und er sich mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten (als Familienmitglied und später Vater, als Politiker, als Bischof oder als Literat) darstellt, die in ihrer Gesamtheit unter der aristokratischen „mentalité“ vereinigt werden. Durch die Verwendung lebensweltlicher Identifikationsmarker grenzt sich Sidonius situationsbedingt, teils bewusst, aber wohl durchaus auch unbewusst, von ,Anderen‘ ab. Da in dieser Arbeit der Barbarendiskurs im 242 Mathisen 2013b, 225  f. weist auf Ungereimtheiten, die Sidonius selbst anmerkte, hin. So habe dieser in Epistel 1 berichtet, dass Constantius lange Zeit nachfragen musste, bevor Sidonius seine Briefe veröffentlichte, schreibt aber im siebten Buch, dass er Briefe sehr schnell und mehr oder minder durch Zufall ausgewählt habe (Sidon. epist. 1,1,1; 7,18,1). Letzteres ist jedoch als Bescheidenheitstopos des Autors zu sehen und kann nicht als Beweis für die Annahme Mathisens dienen. 243 Mascoli 2021, 13; Küppers 2005, 254; Fernández López 1994, 24; Chadwick 1955, 308. Einen genaueren Datierungsversuch hat Loyen 1960/1970, Bd. 2, x, xxiv unternommen: 1. Buch kurz vor 469; Bücher 2‒7 um 477; 8. Buch um 479 und das 9. Buch gegen 482. André Loyen orientiert sich für die Datierungen der Bücher 8 und 9 an Personen (Buch 8: Lampridius, der 479 gestorben ist und dessen Tod beschrieben wird [Sidon. epist. 8,11]) oder an Zeitpunkten (Erwähnung einer Periode von 12 Jahren seit dem ersten Brief [Sidon. epist. 9,12,1  f.] und damit verbunden die Annahme, dass Sidonius 469 die Veröffentlichung vorbereitete und die Briefe eventuell 470 veröffentlichte, demzufolge im Jahr 482). 244 Siehe Harries 1994, 19. Mratschek 2013, 250 verweist auf die widersprüchliche Persönlichkeit des Sidonius sowie auf eine Forschungslücke, dem ,Selbst‘ des Sidonius aufgrund seiner kodifizierten Kommunikation auf die Spur zu kommen. Die Bedeutung von Erinnerung, die Anknüpfung an klassische Autoren sowie die Erweiterung des traditionellen Lektürekanons um christliche Autoren legt Ulrike Egelhaaf-Gaiser in ihrer Interpretation der Sphragis (epist. 9,16) vor und zeichnet darin verschiedene Identifikationsstrategien des Sidonius nach. Sie arbeitet in ihrer Untersuchung inbesondere die Rolle von Horaz als Identitifikationsfigur für Sidonius heraus (Egelhaaf-Gaiser 2010, bes. 264, 291).

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Vordergrund steht, sollen wenige Beispiele genügen, um zu zeigen, wie Sidonius anhand dieser lebensweltlichen Abgrenzungen seine eigenen Persönlichkeiten kreiert und einordnet. 245 Sidonius entspricht voll und ganz der angesprochenen Signifikanz von paideia und definiert sich und seinen Stand vorwiegend über Bildung. 246 Wie bereits in seiner Vita ersichtlich wird, kommentiert er nicht nur immer wieder seine eigene Ausbildung oder verwendet Verweise auf eine gemeinsame oder gleichwertige Ausbildung als Argument, um den Adressat emotional durch das aktive in Erinnerung rufen einer gemeinschaftlichen Erfahrung für seine Bitten oder Forderungen gehörig zu machen. 247 Gleichzeitig werden ,Andere‘ (auch Aristokraten) über das Bildungsmerkmal definiert, da es nach Sidonius immer weniger Männer gab, die Bildung (und somit auch die Rhetoriklehrer) in Ehren hielten. 248 Bildung ist in den seinen Augen ausschlaggebend für die Frage, wer einen Anspruch hat, in seine elitäre Gemeinschaft von viri litterati integriert zu werden. Doch die emotionale Konstruktion einer kollektiven Identität in den Sidoniusbriefen geht über einen gemeinsamen Bildungshorizont hinaus und umschließt weitere wichtige Bestandteile zur Zugehörigkeit der gallo-römischen Aristokratie: Abstammung und Herkunft sowie Vermögen. 249 Die Verweise auf Abstammung und Vermögen haben den grundlegenden Zweck, auf die Zugehörigkeit zur aristokratischen Lebenswelt hinzuweisen und dadurch ,Andere‘ auszuschließen. Die Verwendung dieser Referenzen ist, ähnlich wie beim Bildungsdiskurs, vom Inhalt des Briefes abhängig. Sidonius nutzt sie beispielsweise, um dem Leser des Briefes deutlich vor Augen zu führen, dass Verfasser und Adressat den gleichen sozialen Hintergrund haben und gegenüber ,Anderen‘ auf der gleichen Seite stehen. 250 Dadurch setzt er den Empfänger des Briefes unter Druck, seiner Aufforderung oder Bitte nachzukommen. Als Beispiel soll der Brief an Aquilinus (epist. 5,9) dienen, in welchem Sidonius den Empfänger auffordert, seine Kinder im aristokratischen Sinne zu erziehen und zur Freundschaft zu denjenigen desselben Standes zu ermutigen. Dieses Schreiben bietet ein exzellentes Exempel für die aristokratische „mentalité“ in den Briefen. Gleichzeitig demonstriert es die rhetorische Konstruktion einer Aufforderung, die durch emotionale Rückgriffe auf Vorfahren und gemeinsame Erfahrungen nicht ignoriert werden kann. 245 Es sei auf das ausführliche Kapitel zur Selbstdarstellung des Sidonius in Hanaghan 2019, 18–57 verwiesen, der das Selbstbild von Sidonius zwischen Tradition und Innovation einordnet. Aktuell hat sich Walter Pohl aus historischer Sicht mit den Identifikationsstrategien des Sidonius befasst (Pohl im Druck). 246 Beispielsweise Sidon. epist. 1,9,1; 5,10,1. 247 Beispiele finden sich in Sidon. epist. 3,1,1; 3,6,1; 4,1,1; 5,9,3. 248 Sidon. epist. 5,10,4: […] quia pauci studia nunc honorant, simul et naturali vitio fixum est radicatumque pectoribus humanis, ut qui non intellegunt artes non mirentur artifices. „[…] weil nur noch wenige Männer die Studien ehren, und gleichzeitig ist es durch einen natürlichen Fehler, der in der menschlichen Seele Wurzeln geschlagen hat, unabänderlich, dass derjenige, der die Künste nicht begreift, auch die Künstler nicht bewundern kann.“ 249 Beispielsweise Sidon. epist. 1,6,2; 8,7,1. 250 Zum Beispiel in Sidon. epist. 1,6,2; 2,4,1; 3,1,1; 3,2,3; 3,6,3; 4,4,1; 5,5,1; 8,7,1–3.

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Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien

In der captatio des Briefes drückt Sidonius seine Freude über die gemeinsame Freundschaft aus, nicht jedoch, ohne den Empfänger des Briefes eingehend zu loben; dieser sei ein Mann, der alle Tugenden perfekt ausübe (vir omnium virtutum capacissime). 251 Eine Freundschaft unter Aristokraten war berechnend und wohl bedacht, wie Sidonius im weiteren Verlauf schreibt. Ihm zufolge ist eine Freundschaft umso tiefer, je mehr verbindende Elemente ihr zu eigen sind. Ein solches Element bildet die Abstammung der beiden Aristokraten: avitum est quod reposco („es ist angestammt, was ich einfordere“). Als Zeugen, dass die Forderung des Sidonius durch Abstammung begründet wird, nennt er seinen eigenen Großvater sowie den Großvater des Empfängers, die beide durch Ausbildung, Karriere und Überzeugungen miteinander verbunden waren. 252 Als Nächstes sind die Väter ein Beweis dafür, dass auch sie, d. h. Sidonius und Aquilinus, durch gemeinschaftliche Erfahrung die Freundschaft ihrer Väter fortgeführt haben. 253 An dritter Stelle verweist Sidonius auf Aquilinus und sich selbst: Es habe der Ordnung entsprochen, die Familienbande in ihrer Generation aufrechtzuerhalten. So greift er in einer Ringkomposition das Thema der captatio auf, indem er neben dem ,Erbe‘ weitere Gründe für ihre Freundschaft angibt, und somit die narratio des Briefes beendet: ad hoc in similem familiaritatem praeter hereditariam praerogativam multifaria opportunitate compellimur; aetas utrique non minus iuncta quam patria; unus nos exercuit ludus, magister instituit; una nos laetitia dissolvit, severitas cohercuit, disciplina formavit. 254 Überdies werden wir zu einer ähnlichen Freundschaft durch einen günstigen Umstand in vielen Bereichen – abgesehen von der günstigen Erbschaft – getrieben: das Alter verbindet uns beide nicht weniger, als es die Heimat tut; ein und dasselbe Spiel trieb uns um, ein und derselbe Lehrer unterrichtete uns, dieselbe Fröhlichkeit befreite uns, die Ernsthaftigkeit hat uns zusammengebracht und dieselbe Disziplin hat uns geformt. Erst am Schluss eröffnet sich dem Leser die Forderung, die Sidonius dem Empfänger des Briefes stellt: Er möchte ihre Söhne so erziehen, dass sie einander ebenfalls freundschaftlich angetan seien. Damit das Gegenüber diese Bitte erfüllt, verweist er auf die Definition von Freundschaft: eine gleiche Gesinnung zu haben. Weiterhin wird die Rechtmäßigkeit

251 Sidon. epist 5,9,1. Zu emotionalen Überzeugungsstrategien in den Briefen des Sidonius siehe: Egetenmeyr 2022. Giulietti 2014, 208 verweist auf die intertextuellen Bezüge, die die ersten Worte dieses Briefes zu Symm. epist. 3,14,1 und 3,43,1 aufweisen. 252 Sidon. epist 5,9,1: […]  quos laudabili familiaritate coniunxerat litterarum dignitatum, periculorum conscientiarum similitudo […]. „[…] welche die Gleichartigkeit der Bildung, der Ämter, der Gefahren und des Gewissens in vorbildhafter Freundschaft verbunden hatte […].“ 253 Sidon. epist. 5,9,2. 254 Sidon. epist. 5,9,3.

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der Forderung durch einen erneuten Hinweis auf die Großväter, die zugleich Namensvettern der Söhne des Sidonius und Aquilinus sind, unterstrichen. 255 Dieser Brief verdeutlicht mehrere Annahmen, wie sie im theoretischen Teil dieser Arbeit formuliert wurden. Sidonius verwendet den Verweis auf Tradition, um eine gemeinschaftliche Identität nicht nur zu kreieren, sondern diese aktiv am Leben zu erhalten und seinerseits an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Dabei wird sogar der Erhalt einer freundschaftlichen Beziehung zwischen zwei aristokratischen Familien als Pflicht gegenüber den Vorfahren gesehen und als Tradition anerkannt. Gleichzeitig präsentiert Sidonius mögliche Identifikationsmarker, die Verfasser und Empfänger miteinander verbinden und somit eine freundschaftliche Verbindung ermöglichen. In seiner Darstellung ist eine Freundschaft mit einer Person außerhalb dieser lebensweltlichen Gemeinsamkeiten unmöglich. 256 Dabei definiert Sidonius seine Vorstellung von Freundschaft in diesem Brief sehr exakt: das Gleiche wollen und nicht wollen (diligentes idem velle nolle). 257 Des Weiteren zeugt dieser Brief von Charakteristika, die bei der Betrachtung der Sidoniusbiographie bereits Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben. Sidonius ist die Pflichterfüllung gegenüber Familie und Freunden, aber auch gegenüber dem Staat und der Kirche äußerst wichtig. 258 Über Abstammung und Vermögen, v. a. aber über den Grad an Bildung, den eine Person besitzt, grenzt er sich entweder ab oder akzeptiert diese als ihm ebenbürtig. 255 Giuliettii 2014, 218 interpretiert den Briefschluss als persönliches Anliegen des Sidonius, familiäre Verbindungen zwischen aristokratischen Familien zu wahren. Obgleich ich diese Interpretation nicht ausschließen möchte, wird diese Leseart dem Schreiben in meinen Augen nicht gerecht. Sidonius konstruiert hier vom Anschreiben bis zur Abschiedsformel die Grundsätze aristokratischer Lebenswelten in Gallien und bietet zukünftigen Lesern eine ‚Anleitung‘, wie und mit wem Freundschaften zu pflegen seien. Einen ähnlichen Fall ist bei Ruricius (Rur. epist. 1,12) an einen Aristokraten Namens Celsus zu finden, der womöglich sogar dessen Bruder war. Ähnlich wie Sidonius kreiert Ruricius hier einen ‚Gemeinplatz‘, um dadurch auf die lebensweltlichen Gemeinsamkeiten hinzuweisen: […] ut dilectio, quae nobis a parentibus relicta, a magistro tradita, vitae communione firmata est, secundis elimetur, adversis nulla penitus turbinum procella frangatur. „[…] damit die Liebe, die uns von unseren Eltern hinterlassen, von unserem Lehrer weitergegeben und von einem gemeinschaftlichen Leben bestärkt worden war, in günstigen Zeiten ausgefeilt werden soll und bei Widrigkeiten nicht durch ein einziges Unwetter des Wirbelsturms gänzlich zerbrochen werden soll.“ 256 Über die Auswahl eines Freundes siehe ferner Sidon. epist. 5,11,1: namque ut sodalis tibi devinctior fierem, iudicavi. est enim consuetudinis meae, ut eligam ante, post diligam. „Denn, um mich mit dir der Freundschaft ganz ergeben zu können, habe ich dich beurteilt; denn es ist nämlich meine Gewohnheit, dass ich zuerst auswähle und erst dann liebe.“ 257 Diese Definition von Freundschaft findet sich zudem in Sidon. epist. 5,3,2. 258 Siehe ferner Sidon. epist. 1,6 an Eutropius, einen jungen Aristokraten, der von Sidonius aufgefordert wird, ein Amt im Staatsdienst zu übernehmen. Dieses wäre gegenüber den Vorfahren als Pflicht anzusehen und würde zudem zur Persönlichkeitsbildung beitragen. Denn ein Aristokrat hätte sich ebensosehr um die Kultivierung seiner Persönlichkeit wie um die Kultivierung seines Landgutes zu kümmern (Sidon. epist. 1,6,3: num minus est tuorum natalium viro personam suam excolere quam villam?).

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Wie in Kapitel 2.2 angesprochen, wird das Verhalten eines Aristokraten – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht – in seinen Briefen immer wieder thematisiert, um seiner Leserschaft exempla bieten zu können. 259 Dabei umschließt der Begriff ,Verhalten‘ u. a. die Erscheinung, Kleidung, Sprache, Bildung, den Umgang mit anderen Menschen, die Freizeitbeschäftigung und Pflichterfüllung sowie die Essgewohnheiten eines Aristokraten. 260 Die Sitten der Vorfahren, der mos maiorum, gelten als grundlegendes Muster, um das Verhalten einer Person zu be- und verurteilen. Es bildet folglich eine weitere Kategorie, durch welche Sidonius ,Andere‘ bewusst von seinen ‚Lebenswelten‘ ausgrenzt und von seiner Persönlichkeit abgrenzt. Als Beispiel soll ein Brief an Sidonius’ Sohn Apollinaris angeführt werden, in dem er ein Verhalten eines Aristokraten beschreibt, das Apollinaris als Negativbeispiel dienen soll. 261 Sidonius beginnt sein Schreiben mit einem Lob. Er sei stolz, dass Apollinaris Feingefühl bezüglich seines gesellschaftlichen Umganges beweise und sich nicht mit unsittlichen Menschen abgebe. Dieses Lob nimmt er zum Anlass, um seinen Sohn vor einer ganz bestimmten Person, einem Aristokraten namens Gnatho 262, zu warnen. In der narratio werden zuerst die negativen Eigenschaften Gnathos den eigentlichen aristokratischen Eigenschaften antithetisch gegenübergestellt (Paragraph 2), bevor dann in den Paragraphen 3 und 4, teils in satirischer Weise, lediglich sein schlechtes Verhalten als Gast, bei Tisch oder in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Dieses erreicht einen vorläufigen Höhepunkt, indem Sidonius behauptet, dass Gnatho in keiner Weise über öffentliches Ansehen verfüge und von niemandem geschätzt werde. Nachdem die Beschreibung seines Verhaltens abgeschlossen war, wendet sich Sidonius dessen abscheulichem Äußeren zu (Paragraphen 5–9), das er als hässlicher und formloser als ein Leichnam auf einem Scheiterhaufen beschreibt. 263 Nicht ein Körperteil des Gnatho –  kranke Augen, riesige eitrige Ohren, große Nase, stinkender Mund, faulende Zähne, fettes bärtiges Gesicht, kurzer Hals, hässliche Schultern, kraftlose Arme, von Gicht befallene Hände, stinkende Achseln, weibliche Brüste, runzlige und dazu unnütze Geschlechtsteile, ein Rücken ohne Rückgrat, 259 Dabei bietet Sidonius vorwiegend Verhaltensbeispiele – positive wie negative – von Mitgliedern einer Elite, sei es von der gallo-römischen Senats- oder Militäraristokratie oder sei es von Mitgliedern nicht-römischer Eliten. Ähnlich argumentiert auch Hanaghan 2019, 91. 260 Zur Abgrenzung durch Essensgewohnheiten siehe: Raga 2009, 168–173. 261 Sidon. epist. 3,13. Für eine Interpretation des Briefes sei Gerth 2013, 164–166 zu beachten. Er weist darauf hin, dass es sich bei diesem Brief um den längsten der gesamten Sammlung handle (164). 262 Ein gallo-römischer Aristokrat namens Gnatho ist prosopographisch nicht überliefert. Es ist anzunehmen, dass Sidonius diese Figur als Negativbeispiel erfunden hat. Der Name Gnatho ist vom griechischen γνάθος abgeleitet und wird bereits von Aristophanes in seiner Komödie Die Wespen (Ar. V. 5, 370; γνάθου δοῦλος) im Sinne eines gierigen Mannes verwendet. Des Weiteren erscheint er das erste Mal bei Terenz in seiner Komödie Eunuchus. Der Charakter des Gnatho wird in dieser Komödie als „Parasit“ vorgestellt und trägt sogar den Beinamen parasitus. Es ist anzunehmen, dass Sidonius, von den Komödien inspiriert, seine eigene Figur des Gnatho konstruiert hat. Die Tatsache, dass es sich um einen fiktiven Charakter handelt, schadet dem Argument, der Konstruktion einer gemeinsamen lebensweltlichen Identität durch bewusste Abgrenzung von ,Anderen‘, nicht. 263 Sidon. epist. 3,13,5.

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krumme Schenkel, schwache Kniekehlen, Unterschenkel und Knöchel bis hin zu den kleinen Zehen, große Füße – wird geschont. Sidonius beendet seine Beschreibung jedoch damit, dass, obwohl der Körper des Gnatho schon genügend verabscheuungswürdig sei, dessen Reden noch viel abscheulicher seien. 264 Abschließend beschreibt Sidonius Gnatho als eine Person, die keine Geheimnisse für sich behalten könne und diese sogar benutze, um seine Freunde zu verraten (Paragraph 10). Der Brief endet mit einer Bestärkung des Sidonius gegenüber seinem Sohn, dass dieser ganz im Sinne des Vaters handle, wenn er von Männern wie Gnatho Abstand nehme. Bei genauerer Betrachtung des Briefes fällt auf, dass Sidonius in seiner Personenbeschreibung in genau umgekehrter Reihenfolge vorgeht, wie er es normalerweise bei einer positiven Beschreibung einer Person macht: 1. allgemeines Lob, 2. standesgemäßes Aussehen, 3. gutes Verhalten und aufrichtiger Charakter. Bei Gnatho hingegen verdeutlicht Sidonius in einer antithetischen Aufzählung zu Beginn seiner Beschreibung, weswegen Gnatho keinesfalls als gleichwertig und somit keinesfalls als Teil der ‚Lebenswelten‘ des Sidonius gesehen werden kann: […] loquax ipse nec dicax ridiculusque nec laetus arrogansque nec constans curiosusque nec perspicax atque indecenter affectato lepore plus rusticus; tempora praesentia colens, praeterita carpens, futura fastidiens […]. 265 […] er selbst ist geschwätzig, nicht geistreich, er ist lächerlich, aber nicht witzig, er ist arrogant aber nicht beständig, er ist neugierig aber nicht scharfsinnig und durch seine unpassende Freundlichkeit, die er vorheuchelt, auch besonders unbeholfen; er verehrt die Gegenwart, kritisiert die Vergangenheit und verschmäht die Zukunft. Diese Aufzählung beinhaltet die grundlegenden Merkmale, über die ein Aristokrat verfügen soll: Redegewandtheit; ein frohes Gemüt, das anderen Freude bringt; Bescheidenheit, Beständigkeit und Feingefühl. Gleichzeitig verdeutlich die Aufzählung die Bedeutung eines vertikalen Traditionsbewusstseins, wie in Kapitel 1.3.2 definiert wurde. Für Sidonius, der immer wieder betont, wie wichtig es ist, sich um die nachkommenden Generationen zu kümmern, ist ein solches Verhalten inakzeptabel. Die Andersartigkeit des Gnatho wird durch diese Aufzählung dem Leser deutlich vor Augen geführt. Folglich reicht eine negative Beschreibung einer Person bezüglich ihres Aussehens und Verhaltens aus, um diese ganz bewusst zu einem ,Anderen‘ zu machen. Die Figur des Gnatho verdeutlicht, dass, obwohl Sidonius diesen rein faktisch als Mitglied der gallo-römischen Senatsaristokratie vorstellt, diese Zugehörigkeit allein nicht genügt, um jemanden als Teil seiner Gemeinschaft zu akzeptieren. Genau diese Erkenntnis möchte er seinem Sohn mit auf den Weg geben. Nicht nur Apollinaris soll sich gemäß seinem aristokratischen Stand verhalten, sondern er soll dem Beispiel seines Vaters folgen und seine Freunde mit Bedacht auswählen. 264 Sidon. epist. 3,13,9. 265 Sidon. epist. 3,13,2.

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Nach welchen Kriterien dies erfolgen soll, beschreibt Sidonius in seiner Epistel 5,11, die er an Potentinus adressiert hat. Zu Beginn des Briefes berichtet er von der großen Zuneigung, die er für den Adressaten hegt und den er ganz bewusst als Freund erwählt hat, nachdem er diesen eingehend beurteilt hatte. 266 Im Hauptteil werden die Kriterien dieser Beurteilung aufgeführt, die Potentinus sehr gut erfüllt. Am Ende äußert Sidonius den Wunsch, dass sein eigener Sohn dem Beispiel des Potentinus folge. 267 Die Eigenschaften, über die Potentinus verfügt, sollen genauer betrachtet werden: veneror in actionibus tuis, quod multa bono cuique imitabilia geris. colis ut qui sollertissime; aedificas ut qui dispositissime; venaris ut qui efficacissime; pascis ut qui exactissime; iocaris ut qui facetissime; iudicas ut qui aequissime; suades ut qui sincerissime; commoveris ut qui tardissime; placaris ut qui celerrime; redamas ut qui fidelissime. 268 Ich verehre Deine Taten, weil Du vieles in einer Weise ausführst, wie es für jeden guten Mann zum Vorbild dienen kann. Du bewirtschaftest Dein Land mit dem größten Geschick, Du läßt nach den klügsten Entwürfen bauen, Du jagst mit dem größten Erfolg, Du bewirtest in der vollkommensten Weise, Du scherzt mit äußerster Leichtigkeit, Du urteilst mit äußerster Gerechtigkeit, Du erteilst Rat mit aufrichtigster Ehrlichkeit; besonders langsam bist Du daran, in Zorn zu geraten, besonders schnell beim Versöhnen und ganz besonders treu, wenn es gilt, Liebe zu erwidern. 269 Diese Aufzählung beschreibt die Fähigkeiten, die ein Aristokrat nach Ansicht des Sidonius besitzen sollte, um als Teil der eigenen Gemeinschaft wahrgenommen und nicht, wie das Beispiel des Gnatho veranschaulichte, ausgeschlossen zu werden. Potentinus verfügt nicht nur über alle diese Eigenschaften, die dem mos maiorum zugerechnet werden können, sondern übt diese in jeglicher Hinsicht äußerst beispielhaft und mit größtem Erfolg aus, worauf die Superlative in der parallel konstruierten Aufzählung (ut qui  + Superlativ) hinweisen. Es erscheint Sidonius unnötig, die literarische Bildung, über die Potentinus als Angehöriger der gallo-römischen Aristokratie verfügt hat, extra anzuführen. Diese ist durch das vorbildhafte Verhalten sowie die Fähigkeit, angemessen zu scherzen, impliziert. Die aufgeführten Beispiele haben veranschaulicht, wie Sidonius Bildung, Pflichterfüllung und traditionelles Verhalten, dem mos mairoum entsprechend, verwendet, um in seinen Briefen eine kollektive Gemeinschaft zu konstruieren, von der ,Andere‘ bewusst exkludiert werden. Mit dem Übertritt in den geistlichen Stand eines Bischofes hat er große Teile seiner Identifikationsstrategie der aristokratischen ‚Lebenswelten‘ auf die 266 Sidon. epist. 5,11,1, siehe den Kommentar von Giulietti 2014, 237–243 267 Sidon. epist. 5,11,3: haec omnia exempla vivendi iam hinc ab annis puberibus meus Apollinaris si sequitur, gaudeo […] „Wenn mein Apollinaris schon von jungen Jahren an all diesen Beispielen für das Leben folgen würde, dann freue ich mich […].“ 268 Sidon. epist. 5,11,2. 269 Übersetzung verändert nach Köhler 2014, 163.

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‚Lebenswelten‘ der Kirche übertragen. 270 Er bewundert beispielsweise Bischof Faustus für seine Beredsamkeit und sein Pflichtbewusstsein, die sich mit der Zeit nicht verändert haben. 271 Dennoch geht er davon aus, dass es sich bei bischöflicher und aristokratischer Lebensweise um zwei getrennte ‚Lebenswelten‘ handelt. 272 Sidonius bietet in seinem Brief 7,9 an Bischof Perpetuus eine Beschreibung eines gewissen Simplicius. 273 Diese Beschreibung entstand während einer Rede, die Sidonius wohl gehalten hat, als in Bourges die Wahl eines neuen Bischofes bevorstand. Mit dieser Rede wollte er das Wahlkomitee überzeugen, dass Simplicius der richtige Kandidat für das Amt sei. Daher sollte erwähnt werden, dass der Charakter und die Erscheinung des Simplicius des Anlasses wegen angepasst wurden, um die Kriterien für das Bischofsamt zu erfüllen, die in der Beschreibung des Sidonius denen eines Aristokraten sehr ähneln. benedictus Simplicius, hactenus vestri iamque abhinc nostri, modo per vos deus annuat, habendus ordinis comes, ita utrique parti vel actu vel professione respondet, ut et respublica in eo quod admiretur et ecclesia possit invenire quod diligat. 274 Der gesegnete Simplicius, der bisher Euren Stand einnimmt, aber schon bald, wenn Gott durch euch zustimmen möge, Mitglied unseres Standes sein wird, wird durch sein Handeln wie durch sein öffentliches Bekenntnis derart beiden Seiten gerecht, so dass der Staat in diesem das finden kann, was er bewundert, und die Kirche das, was sie liebt. Die Beschreibung des Simplicius beginnt mit einer Referenz auf das öffentliche Ansehen, das dieser als Mitglied der Aristokratie bereits erreicht hat und das ihm auch die Liebe und das Ansehen der Kirche einbringen wird – so die Überzeugung des Sidonius. Bei der Betrachtung des Textes fällt auf, dass hier zwei ‚Lebenswelten‘ unterschieden werden und dies deutlich durch die Verwendung der Pronomina vester und noster ausgedrückt wird. Sie werden konkret als res publica – ‚Lebenswelt‘ des Staates und somit der Aristokratie – und als ecclesia –‚Lebenswelt‘ der Kirche und somit der Bischöfe – benannt. Sidonius beschreibt sich selbst in diesem Brief der ‚Lebenswelt‘ der Bischöfe zugehörig. Der erste Eindruck könnte sein, dass er mit der Übernahme des Bischofsamtes die aristokratische Lebenswelt zurückgelassen hat. Da diese jedoch eine große Rolle in der gesamten Briefsammlung einnimmt und die meisten Briefe von Sidonius als Bischof überarbeitet wurden, erscheint dies nicht plausibel. Die aristokratische „mentalité“ ist in der 270 Vgl. Brown 2014, 404. 271 Sidon. epist. 9,3,1: Servat consuetudinem suam tam facundia vestra quam pietas […]. „Eure Beredsamkeit und euer Pflichtbewusstsein sind beide ihrer Art treu geblieben […].“ Zum Verhältnis von Sidonius zu Faustus von Riez siehe: Santelia 2012, 40–46. 272 Beispielsweise Sidon. epist. 4,9,2–4. 273 Sidon. epist. 7,9,16–22. 274 Sidon. epist. 7,9,16.

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Briefsammlung omnipräsent. Seine eigene Zurechnung zur kirchlichen ‚Lebenswelt‘ in diesem Schreiben hat mehrere Gründe: 1. ein bischöflicher Würdenträger als Adressat, 2. eine kirchliche Angelegenheit als Inhalt (Wahl eines neuen Bischofes), 3. Sidonius eigene Position bei der Bischofswahl. Mit dem Fortfahren der Lektüre erscheint Simplicius als perfekter Kandidat für das Bischofsamt, und genau in dieser Schilderung beginnt die klare Differenzierung zwischen vester und noster, zwischen Aristokratie und Episkopat, die Sidonius eingangs postuliert hatte, zu verschwimmen: si natalibus servanda reverentia est, quia et hos non omittendos evangelista monstravit […]: parentes ipsius aut cathedris aut tribunalibus praesederunt. inlustris in utraque conversatione prosapia aut episcopis floruit aut praefectis: ita semper huiusce maioribus aut humanum aut divinum dictare ius usui fuit. 275 Wenn die Abstammung berücksichtigt werden soll, weil selbst der Evangelist gezeigt hat, dass diese nicht aufgegeben werden dürfen  […]: Die Vorfahren von diesem [Anm.: Simplicius] führten den Vorsitz entweder auf dem Bischofssitz oder auf dem Tribunal. Die in beiden Lebenswelten bekannte Familie stand in hohem Ansehen entweder durch Bischöfe oder durch Präfekten; sodass dessen Vorfahren immer entweder das menschliche oder das göttliche Recht ausübten. Sidonius fährt mit der Abstammung des Kandidaten –  einem wichtigen aristokratischen Merkmal – fort, bei der er herausstellt, dass sich unter den Vorfahren des Simplicius sowohl Bischöfe als auch Präfekten befinden. Aus diesem Grund sei die Familie des Simplicius nicht nur als anerkannt, sondern auch als äußerst geschätzt zu betrachten. Neben dem bereits erwähnten Merkmal der Abstammung aus einer aristokratischen Familie wird im gleichen Satz noch ein weiterer aristokratischer Identifikationsmarker genannt: das öffentliche Ansehen der Familienmitglieder, das diese im vorgestellten Fall sogar in beiden ‚Lebenswelten‘ – in der res publica und in der ecclesia – erworben haben. In den Paragraphen 18 bis 19 beschreibt Sidonius den hohen Status des Kandidaten, der unter seinesgleichen doch an erster Stelle stehe, und verbindet dies mit der Bildung und dem Wissen des Simplicius, der literarisch als äußerst begabt erscheint. Sidonius fährt mit dem Hinweis auf die Gastfreundschaft des vorgestellten Kandidaten fort und geht auf dessen Fähigkeiten als Anführer von Gesandtschaften ein. Nicht wissend, dass es sich um die Vorstellung eines Bischofskandidaten handelt, könnte Sidonius in dieser narratio ebenso gut einen jungen Aristokraten beschreiben, den er für ein Amt im Staatsdienst vorschlägt. Die notwendigen Eigenschaften, über die ein Aristokrat verfügen muss, um Karriere im Staatsdienst zu machen, sind nach Sidonius’ Ansicht auch notwendig, um die Bischofswürde zu erlangen. Erst am Ende des 19. Paragraphen verweist Sidonius auf die Eignung des Simplicius aufgrund seiner christlichen Gelehrtheit: 275 Sidon. epist. 7,9,17.

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si ambigitur quo magistro rudimentis fidei fuerit imbutus: ut proverbialiter loquar, domi habuit unde disceret. 276 Wenn gezweifelt werden sollte, durch welchen Lehrer er in der frühen Ausbildung des Glaubens erfüllt worden ist, dann will ich sprichwörtlich sagen: Er hatte zu Hause ein Vorbild, von dem er lernte. Den Reichtum, welchen Simplicius als Aristokrat besitzt, verwendet er in einem christlich-euergetischen Sinn für die Errichtung einer Kirche und als Zeichen seiner Dankbarkeit gegenüber Gott. 277 Sidonius beschließt seinen Bericht, der als Enkomion auf Simplicius anzusehen ist, mit einer Zusammenfassung von Eigenschaften, die für beide ‚Lebenswelten‘ von fundamentaler Bedeutung seien: vir est namque, ni fallor, totius popularitatis alienus; gratiam non captat omnium sed bonorum, non indiscreta familiaritate vilescens sed examinata sodalitate pretiosus et a bono viratu aemulis suis magis prodesse cupiens quam placere, severis patribus comparandus, qui iuvenum filiorum non tam cogitant vota quam commoda; in adversis constans in dubiis fidus in prosperis modestus, in habitu simplex in sermone communis, in contubernio aequalis in consilio praecellens; amicitias probatas enixe expetit, constanter retinet, perenniter servat; inimicitias indictas honeste exercet, tarde credit, celeriter deponit; maxime ambiendus, quia minime ambitiosus, non studet suscipere sacerdotium, sed mereri. 278 Er ist nämlich ein solcher Mann, wenn ich mich nicht täusche, dem Popularität gänzlich fremd ist; der nicht nach der Freundschaft von allen strebt, sondern nur nach der von guten Männern, durch indiskrete Vertrautheit erscheint er nicht als wertlos, sondern durch abwägen von Kameradschaft erscheint er als kostbar und er wünscht durch sein gutes männliches Betragen seinen Nacheiferern mehr zu nützen als zu gefallen, worin er mit den strengen Vätern vergleichbar ist, die nicht so sehr auf die Wünsche ihrer jungen Söhne eingehen, als mehr auf das Dienliche. Bei Widrigkeiten wankt er nicht, bei Zweifeln ist er zuverlässig, bei glücklichen Umständen ist er bescheiden, in seinem Aussehen ist er unauffällig und beim Gespräch ist er umgänglich, in Gesellschaft ist er ein Gefährte, im Rat zeichnet er sich aus; er versucht inständig, geachtete Freundschaften zu erreichen, hält an diesen beständig fest und dient ihnen immerwährend; auferlegte Feindschaften handhabt er ehrenhaft, indem er spät daran glaubt und sie schnell niederlegt. Am meisten wird er umworben, weil er am wenigsten ehrgeizig ist, denn er eifert nicht danach, das Priesteramt zu empfangen, sondern es zu verdienen. 276 Sidon. epist 7,9,19; für das Sprichwort siehe: von Wyß 1889, 33 sowie Ainsworth u. a. 1818 unter EXC: „he had a good example at home, Domi habuit unde disceret“. 277 Sidon. epist. 7,9,21. 278 Sidon. epist. 7,9,22.

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Sidonius Apollinaris: Leben, Werk und Identifikationsstrategien

Die Charakteristiken lassen erneut eine gemeinsame Mentalität erkennen: Anerkennung durch andere Aristokraten (aber nur durch die guten!), bedachte Auswahl von Freunden sowie constantia, modestia, simplicitas und communitas. All dies vereint Simplicius, der andere Aristokraten als gleichgestellt behandelt und doch in der Versammlung heraussticht, in seiner Person. Sidonius vergleicht ihn sogar mit einer Vaterfigur für andere Aristokraten seines Standes und betont erneut die Loyalität seines Kandidaten, der nicht um Status oder Ämter bittet, sondern jemand sei, der sie verdienen möchte. Auch dieser letzte Paragraph könnte außerhalb der bischöflichen ‚Lebenswelt‘ in einem Empfehlungsschreiben für einen Aristokraten, der sich für ein politisches Amt bewirbt, gefunden werden. Aufgrund dieses Briefes erscheint es, als ob für Sidonius die Grenzen zwischen aristokratischen und bischöflichen ‚Lebenswelten‘ fließend sind und er die aristokratische „mentalité“ sogar auf den Episkopat überträgt. Auf Grundlage dieser Beispiele soll für die Selbstwahrnehmung des Autors folgendes festgehalten werden: Im historischen Zusammenhang erscheint es, dass die ‚Lebenswelten‘ von Aristokraten und Bischöfen eng miteinander verknüpft sind, wobei nicht abgestritten wird, dass dies nur ein (!) Faktor bei der Entstehung des frühmittelalterlichen Episkopats war. Es ist jedoch ein Beispiel, dass unter einer ‚Lebenswelt‘ kein statischer Raum zu verstehen ist, der die Entwicklung von Menschen abgrenzt und keine Entwicklungen, Transformationen oder Auflösung zulässt. Im Gegenteil: Es muss noch einmal ganz deutlich darauf hingewiesen werden, dass sich jede ‚Lebenswelt‘ in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess befindet und sich durchaus mit anderen ‚Lebenswelten‘ zusammenschließen oder gar in ihnen aufgehen kann. In diesem Prozess befinden sich die ‚Lebenswelten‘ des Sidonius als Aristokrat und Bischof, die während seines Lebens zu einer neuen, gemeinsamen ‚Lebenswelt‘ verschmolzen sind. Sidonius behauptet, dass es eine strikte Trennung zwischen der einen und der anderen ‚Lebenswelt‘, dass es eine strikte Trennung zwischen dem ,Wir‘ und den ,Anderen‘ gebe. Allerdings lassen sich in seinen Briefen Spuren des Aristokraten im Bischof, Spuren des Bischofs im Aristokraten und in beiden Persönlichkeiten Spuren der ‚Lebenswelt‘ eines römischen Bürgers finden. Sigrid Mratschek nimmt an, dass sich Sidonius in eine von ihm selbst konstruierte Illusion seiner eigenen ‚Lebenswelt‘ zurückgezogen habe. In dieser Arbeit wird die Annahme vertreten, dass Sidonius nicht in eine imaginierte Lebenswelt entschwand, sondern aktiv bemüht war, seine Idee von romanitas aufrechtzuerhalten. Er hat das ihm Vertraute, die Tradition der aristokratischen Lebens- und Denkweise, auf neue Situationen und Aufgaben, mit denen er im Laufe seines Lebens konfrontiert wurde, übertragen und dadurch auch seine Auffassung von romanitas, deren Ideal sämtliche Lebensbereiche umfasst, immer wieder neu konstruiert. Durch die gezielten Wiederholungen in den Briefen überzeugte er sich selbst und überzeugt zum Teil noch heute seine Leserschaft, dass seine Taten und Werte als ,traditionell römisch‘ angesehen werden können. 279 Gleichzeitig verwendet er 279 Vgl. Brown 2014, 404: „Yet it was part of the literary genius of Sidonius that the ensured that his ‚Rome‘ – the Rome of a hyper-Roman, who viewed the world through narrow slits – has become to a large extent our Rome. For Sidonius presented what remained of the empire as a model society that was worthy of unquestioning loyalty.“ Zur bewussten Wiederholung von Handlungsmustern

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Die Identifikationsstrategien

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sie als emotionales Druckmittel, um nicht nur den Empfänger ob seiner Entscheidung zu beeinflussen, sondern um v. a. seine Leserschaft dadurch unbewusst auf seine Seite zu bringen. Dabei bleibt das Erscheinungsbild des Sidonius bezüglich dieser romanitas konstant. Diese Annahmen werden im Folgenden im Hinblick auf die Darstellung von barbarischen ,Anderen‘ untersucht werden.

in den Briefen sei als Beispiel die Referenz und Nutzung bekannter Autoren zu nennen, vgl. Mratschek 2008b, 369: „Das Lesen der Klassiker stiftete als Akt wiederholter Vergegenwärtigung der Vergangenheit kulturelle Identität […]“ Zur heutigen Leserschaft siehe: Becht-Jördens 2017, 126, 140; Harries 1994, 11.

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4. Die ,Anderen‘ in den Briefen des Sidonius Eine Stolperfalle bei Forschungsarbeiten zu Alterität in der Antike ist die primordiale Annahme, dass ,die Barbaren‘ (damit sind in der Forschungsliteratur meist ethnische Verbände wie Goten, Burgunder oder Sachsen angesprochen) automatisch ,die Anderen‘ seien. Wie im ersten Kapitel dargelegt, gibt es mehr als nur eine Form von Alterität, die zudem nicht statisch ist. Aus diesem Grund ist in der spätantiken Briefliteratur mehr als nur ein ,Anderer‘ nachweisbar. Speziell in den Briefen des Sidonius können im Groben drei Arten von Alterität unterschieden werden: die Empfänger, ,andere Andere‘ und ,barbarische Andere‘ (Abb. 3). Letzte werden im anschließenden Kapitel 5 besprochen.

4.1 Die Briefempfänger als erste Alteritätsgruppe Die wichtigsten ,Anderen‘, die im Zusammenhang mit der Briefliteratur zu nennen sind, stellen die Empfänger der Briefe beziehungsweise deren Leserschaft dar. Da, wie dargelegt, die Briefe innerhalb bestimmter aristokratischer Kreise verschickt worden waren, tritt die Figur des Empfängers als individueller ,Anderer‘, der auf gleicher Augenhöhe des ,Selbst‘ stehen kann, in Erscheinung. Hierzu sei auf die im Kapitel 1 gewonnene Feststellung verwiesen, dass Personen, obgleich sich deren ‚Lebenswelten‘ überschneiden und sie sogar eine kollektive Identität zu teilen scheinen, differieren und dadurch ,anders‘ sind. Es zeigt sich zudem, dass Alterität nicht zwingend von einem dominanten ,Selbst‘ in Bezug auf dessen Stellung innerhalb einer Gruppe ausgehen muss und das Gegenüber auch dann ein ,Anderer‘ ist, wenn er mit dem ,Selbst‘ Gemeinsamkeiten teilt. Zur Erläuterung sei ein Beispiel aus der Briefsammlung zitiert: Sidonius schreibt an einen Aristokraten Namens Probus. 1 Sowohl Autor als auch Empfänger des Briefes sind männlichen Geschlechts, was eine erste Gemeinsamkeit darstellt. Zu Beginn erfährt der Leser, dass Probus in die Familie des Sidonius eingeheiratet hat und sie somit auch verwandtschaftlich eng verbunden sind (soror mihi quae uxor tibi). Weiterhin schreibt er, dass Probus und er selbst die gleiche Art von Ausbildung genossen hätten, was eine dritte Gemeinsamkeit darstellt (secundus nobis animorum nexus accessit de studiorum parilitate). Über das Band der Freundschaft sind Verfasser und Adressat zusätzlich verbunden (amicitiae iura inconcussa custodias), um deren Erhalt der Adressat den Empfänger am Ende des Briefes bittet. 2 Sidonius und Probus leben in sich weitgehend überschneidenden 1 Sidon. epist. 4,1. Zu Probus siehe: PLRE II, 910 unter Probvs 4; vgl. Heinzelmann 1983, 674 unter Probus 2. 2 Sidon. epist. 4,1,5. Amherdt 2001, 67 sieht diesen Brief als „plaidoyer pour la culture“.

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Die ,Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Abb. 3: ,Andere‘ in den Briefen (© Autorin)

‚Lebenswelten‘, sie sind einzig durch die geographische Lage ihrer Wohnsitze getrennt. 3 Inwieweit sich Sidonius von Probus auf einer persönlichen Ebene unterscheidet, ist aus heutiger Sicht nicht rekonstruierbar, da Sidonius eben nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellt. 4 Der ,Andere‘ tritt im Alltag als direktes Gegenüber in Erscheinung, mit dem kommuniziert werden kann, sei es schriftlich oder mündlich. Für die Empfänger der Sidoniusbriefe gilt das Prinzip der Egalität, d. h., dass der Empfänger eines Briefes zu einer mit dem Autor gemeinsamen ‚Lebenwelt‘ gehört haben muss. Dabei ist es bedeutungslos, ob diese Person innerhalb der gemeinsamen ‚Lebenswelt‘ der gleichen hierarchischen Ebene wie der Autor angehört (z. B. Alters- oder politische Hierarchie) oder eine Frau ist. 5 Gegenüber einer Außengruppe von Adressat und Empfänger, sei es eine Person außerhalb ihrer ‚Lebenswelt‘ oder gar der moderne Leser, werden beide zur selben Gemeinschaft gehörig und damit als gleichwertig angesehen. Ein weiterer ,Anderer‘, der durch die Briefe angesprochen wird, ist somit der Leser. Auch dieser hat mindest eine Gemeinsamkeit mit dem Verfasser: die Fähigkeit zu lesen. Ich halte fest: Der ,Andere‘ ist nicht als absolut zu sehen und es existieren verschiedene Stufen und Möglichkeiten von Alterität. 3 Sidon. epist. 4,1,5. 4 Vgl. Alc. Avit. epist. 48 (= 51 Peiper). Dieser betont seine Verbundenheit zu Apollinaris, dem Sohn des Sidonius, aufgrund ihrer gegenseitigen Sympathie, ihrer familiären Verbindung sowie ihres aristokratischen Ranges. 5 Sidon. epist 5,16. Dieser Brief ist an Papianilla, der Ehefrau des Sidonius, adressiert. Zu Papianilla siehe: PLRE II, 830 unter Papianilla 2; vgl. Heinzelmann 1983, 662 unter Papianilla 2. Mit Rur. epist. 2,15 ist ein Schreiben an die Witwe Ceraunia, die wohl die Gattin von Namatius, der ebenfalls in der Sammlung des Ruricius als Adressat vertreten ist, überliefert. Zu Ceraunia siehe: Heinzelmann 1983, 578. Für die Repräsentation von Frauen in den Briefen des Sidonius Apollinaris sei auf die Dissertation von MacDonald 2000, 58–107 verwiesen. Das „Egalitätsargument“ an sich ist ferner auf die Briesammlungen des Ruricius und Avitus übertragbar. Anzumerken ist jedoch, dass weibliche Adressatinnen in den Briefen des Avitus nicht überliefert sind, siehe hierzu: Wood 1980, 67.

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Die ,anderen Anderen‘ als zweite Alteritätsgruppe

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4.2 Die ,anderen Anderen‘ als zweite Alteritätsgruppe Unter dieser Bezeichnung sind alle diejenigen Personen in den Briefen zu verstehen, die den Autor umgeben, aber nicht Teil seiner persönlichen ‚Lebenswelten‘ sind, wie Juden, Sklaven, Diener, Mitbewohner der Stadt oder Gemeindemitglieder eines Bischofes. 6 So bezeichnet Sidonius in einem Brief an Eleutherius das Judentum als Irrglauben und gesteht ein, dass jeder seiner Anhänger als verloren gelte: Iudaeum praesens charta commendat, non quod mihi placeat error, per quem pereunt involuti […]. 7 Dieses vorliegende Schreiben empfiehlt einen Juden, nicht weil mir dieser Irrglaube gefällt, durch den die in diesen Eingehüllten zugrunde gehen, sondern […]. In einem Brief an den Bischof Basilius spricht Sidonius über seine eigene bischöfliche Gemeinde und vergleicht sie in einer Metapher mit einer Schafherde, die hilflos einem Wolf (mit der Wolfsmetapher ist Eurich gemeint) ausgeliefert ist. 8 Diese gerade vorgestellten ,Anderen‘ können als der Aristokratie ,unterlegen‘ gelten, da auch sie – ähnlich wie Barbaren – der aristokratischen „mentalité“ nicht entsprechen. 9 Solche Erwähnungen finden sich schließlich gegenüber Stadtbewohnern oder Bewohnern der gallischen Provinzen im Allgemeinen. Es sind Gruppen von Menschen, über die wir aus den Briefen so gut wie nichts Detailliertes erfahren, die lediglich erwähnt werden. 10 Diese Gruppe von ,Anderen‘ ist es, die Historiker zweifeln lässt, wie romanisiert, wie römisch Gallien im 5. Jahrhundert wirklich war. 11 In den Briefen stellt sich lediglich die Perspektive 6 Beispielsweise Sidon. epist. 6,5: cuius clientem puerosque commendo […] „Ich empfehle euch dessen Klienten und Sklaven […].“; vgl. Raga 2009, 172. Diesen ,Anderen‘ in den Briefen des Sidonius hat sich ferner Kaufmann 1995, 236–259 gewidmet. Bereits Dauge 1981, 383 listet neben den nationes exterae, ,interne Andere‘, wie die Masse des Volkes, Sklaven oder soziale Gruppierungen, denen Zivilisation fremd wäre und sie daher deren Werte gefährden würden, auf. 7 Sidon. epist. 6,11,1. Avitus referiert ebenfalls in ähnlicher Weise auf Juden (Alc. Avitus epist. 27,9 [= 30 Peiper]): Ecce quibus testimoniis velint nolint haeretici ipsi Iudaeorum in perditione confines de filii divinitate vincuntur […]. „Siehe, durch diese Zeugnisse werden selbst die Häretiker ob sie wollen oder nicht im ewigen Verderben die Nachbarn der Juden durch Gottes Sohn besiegt […].“ Über den Bischof Eleutherius, an den Sidonius sein Schreiben adressiert, ist nichts bekannt. 8 Sidon. epist. 7,6,2  f. Vgl. Alc. Avit. epist. 26,5 (=  29 Peiper): In augmento namque ovium crescit custodia pastoralis. „Denn je größer die Herde, desto schärfer die Wachsamkeit des Hirten.“ (Übersetzung Heil 2011, 63). Zu Basilius siehe: Heinzelmann 1983, 570. 9 Von Sidonius lediglich als turba (Sidon. epist. 7,1,6), vulgus (Sidon. epist. 4,7,2) oder populus (Sidon. epist. 5,17,3) bezeichnet. 10 Vgl. Le Guillou 2001, 148, der die Auffassung vertritt, dass das „normale Volk“ von Sidonius komplett ignoriert werden würde. Natürlich widmet der Autor dieser Gruppe von ,Anderen‘ keine ausschweifenden Diskurse, wie er es z. B. gegenüber Barbaren tut, dennoch besitzt auch diese Gruppe Menschen in den Briefen eine narrative Funktion. 11 Sarti 2013, 370.

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Die ,Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

des sprechenden ,Selbst‘, der aristokratischen Briefautoren dar, die in ihrer Gesamtheit nur einen sehr kleinen Teil der gallischen Gesamtbevölkerung dieser Zeit darstellen. Auch Individuen, die dem Verfasser und/oder dem Adressaten vertraut sind, können als ,Andere‘ in den Briefen thematisiert werden. In einem Brief an Censorius, den Bischof von Auxerre, berichtet Sidonius über einen Diakon mit seiner Familie, der aufgrund gotischer Ansiedlungen aus seinem Haus flüchten musste. 12 Dieser hatte sich nun im Zuständigkeitsbereich des Censorius auf kirchlichem Grund angesiedelt und bittet mit der brieflichen Unterstützung des Sidonius, seine Ernte ohne Abgaben an den Bischof einholen zu dürfen. 13 Dieser Brief thematisiert besonders zwei Bereiche: Fremdheit und Gleichheit, folglich also Alterität und Identität. Sidonius stellt den Diakon, dessen Namen er nicht nennt, als einen Fremden in Not (advena ieiunus), der Hunger leidet, vor. 14 Die Anonymität des Bittstellers unterstreicht dessen Fremdheit. Doch ist diese Person ein ,Anderer‘? Es fällt auf, dass Sidonius nicht die Bezeichnungen peregrinus oder externus verwendet, die auch für Barbaren verwendet werden können, sondern ihn als advena, das mit „Ankömmling“ übersetzt werden kann, bezeichnet. 15 Schon bald erkennt der Leser, dass, selbst wenn der anonyme Diakon verbindende Charakteristika aufzeigt, er nicht einfach nur ein Fremder ist, sondern er durch „den Sturm der gotischen Plünderung“ zu einem Fremden wurde. Durch die Vorstellung dieses Mannes anhand seines Schicksals, das die gesamte Familie betrifft, gewinnt Sidonius den Leser für sein Anliegen. Weiterhin erwähnt er ganz beiläufig im ersten Satz des Briefes den priesterlichen Stand des Ankömmlings, wodurch eine verbindende Basis durch die Kirche geschaffen wird. 16 Der Faktor der Teilhabe an der gemeinsamen kirchlichen ‚Lebenswelt‘ bildet im folgenden Briefverlauf, der Censorius überzeugen soll, der Bitte nachzukommen, das Fundament. Denn der Diakon wird schließlich als domesticus bezeichnet. Er hat somit seine Fremdheit abgelegt und wird nun durch seinen Glauben ( fides) als Zugehöriger gesehen. Der Appell an den Glauben und die gemeinsame Christlichkeit wird als Überzeugungsstrategie des Sidonius verstanden, um Censorius’ Zustimmung zu erwirken. Diese Beispiele demonstrieren, dass Sidonius verschiedene Stufen von Alterität in seinen Briefen thematisiert und so zwischen ,Fremden‘ als Zuwanderer und ,Fremden‘ als feindliche Bedrohung unterscheidet. Dabei erscheinen gemeinschaftliche Faktoren, wie in diesem Beispiel die Zugehörigkeit zum Klerus, als ausschlaggebend für die Wahrnehmung und in Folge dessen für die Darstellung einer Person.

12 Sidon. epist. 6,10,1: hic cum familia sua depraedationis Gothicae turbinem vitans in territorium vestrum delatus est ipso, ut sic dixerim, pondere fugae […] „Dieser ist zusammen mit seiner Familie, um den Sturm des gotischen Raubzuges zu meiden, in Euer Gebiet getrieben worden; gewissermaßen direkt durch die Last der Flucht […].“ 13 Sidon. epist. 6,10,1. 14 Sidon. epist. 6,10,1. 15 Siehe TLL, Bd. 1, 827–829 unter advena. 16 Sidon. epist. 6,10,1: Gerulum litterarum levitici ordinis honestat officium. „Den Träger des Briefes ehrt das Amt des priesterlichen Standes.“

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5. Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius In diesem Kapitel wird ausführlich auf die dritte Alteritätsgruppe in den Sidoniusbriefen, die ,barbarischen Anderen‘, eingegangen. Wie bereits Frank Kaufmann und Matthias Gerth beobachten, verwendet Sidonius den Begriff barbarus in seinen Briefen nur selten. 1 Gerth kann den Begriff und seine Ableitungen 26 Mal nachweisen und folgert daraus, dass Barbaren aufgrund der geringen Verwendung des Begriffes im Vergleich mit der Gesamtanzahl der Briefe keine gewichtige Rolle in denselben gespielt hätten. 2 Diese Annahme führte zu der Idee, unter Zuhilfenahme von automatischer Zeichenerkennung, die Verwendung des Begriffes ,römisch‘ und seinen Ableitungen in den Briefen zu prüfen, wobei dieses sogar lediglich 19 Mal nachgewiesen werden kann. Wird nun dem Gedankengang Gerths gefolgt, würde dies bedeuten, dass das Römertum beziehungsweise romanitas oder der römische Staat ebenfalls keine bedeutende Rolle in den Briefen des Sidonius eingenommen hätten. Sidonius selbst bezeichnet sich an keiner Stelle seiner Briefe explizit als Römer. 3 Allein die Anzahl eines verwendeten Terminus kann und darf nicht auf Inhalte oder auf Gewichtungen des Inhaltes schließen lassen. Denn obgleich Sidonius sich selbst nie als Römer, sondern stets als Arverner bezeichnet, sieht er doch in Rom den Mittelpunkt der Welt (vertex mundi) und bezeichnet es als patria libertatis: […] si tamen senatorii seminis homo, qui cotidie trabeatis proavorum imaginibus ingeritur, iuste dicere potest semet peregrinatum, si semel et in iuventa viderit domicilium legum, gymnasium litterarum, curiam dignitatum, verticem mundi, patriam libertatis, in qua unica totius orbis civitate soli barbari et servi peregrinantur. 4 […] als ob dennoch ein Mann senatorischen Geschlechts, der täglich mit einer Trabea bekleidet mit den Bildern der Vorfahren konfrontiert wird, mit Recht behaupten könne, dass er umhergereist sei, falls er einmal auch in seiner Jugend die Stätte der Gesetze, das Gymnasium der Literatur, die Kurie der Senatoren, den Mittelpunkt der Welt, die Vaterstadt der Freiheit, in der als einzige Stadt auf der ganzen Welt einzig Barbaren und Sklaven Fremde sind, gesehen hat. Einzig Sklaven und Barbaren bleiben außerhalb dieser Gemeinschaft und werden, selbst wenn sie innerhalb Roms – und gemeint ist damit das Römische Reich in seiner 1 2 3 4

Gerth 2013, 212; Kaufmann 1995, 168. Gerth 2013, 212 Anm. 482. Kaufmann 1995, 105. Sidon. epist. 1,6,2.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Gesamtheit – leben, als Fremde angesehen. 5 Sidonius grenzt sie in seiner Darstellung aus und macht sie bewusst zu ,Anderen‘. Es muss überlegt werden, weshalb Sidonius den Begriff barbari offensichtlich so wenig verwendet. Kaufmann stellt in seiner Arbeit fest, dass Sidonius eher einzelne gentes (wie Visigoten, Burgunder und Sachsen) als barbarische Gruppierungen an sich behandelt. Dies ist seines Erachtens nach der Tatsache geschuldet, dass Sidonius diejenigen gentes ausführlicher beschreibt, mit denen er persönlich vertraut war. 6 Dieser Beobachtung ist zuzustimmen, denn tatsächlich fällt auf, dass Sidonius Visigoten und Burgunder von allen nicht-römischen Gruppierungen, die auf gallischem Boden anzutreffen sind, am häufigsten in den Briefen thematisiert. Frank Kaufmann geht davon aus, dass Barbaren und ,Germanen‘ gleichzusetzen seien: Da die Germanen die vermutlich einzigen Barbaren waren, die Sidonius von Angesicht kannte, werden die Termini Barbaren und Germanen synonym verwandt. 7  Davon ausgehend, dass ,die Germanen‘ als Kollektiv nicht existiert haben – nicht umsonst bezeichnete Patrick Geary das ,Germanentum‘ als größte Erfindung Roms – muss Kaufmann in diesem Punkt widersprochen werden. 8 Barbaren sind, wie noch gezeigt werden wird, in Sidonius’ Werk nicht unbedingt und v. a. nicht ausschließlich mit ,Germanen‘ gleichzusetzen. Sidonius verwendet lediglich zweimal den Begriff Germani oder dessen Ableitungen. 9 Womöglich war er sich bewusst, dass ,die Barbaren‘ ebenso wie ,die Germanen‘ als kollektive, d. h. als fest definierte und geschlossene Gemeinschaften nicht existierten, sondern er es mit verschiedenen dynamischen ethnischen Gruppierungen zu tun hatte. 10

5 Verwiesen sei an dieser Stelle auf Näf 1995, 138, der für Sidonius herausarbeitet, dass für ihn die Unfreien, Barbaren und Bagauden die von der Gesellschaft ausgeschlossenen Gruppierungen bilden würden. Diese Aufzählung kann, von einer Sidonius’schen ‚Lebenswelt‘ ausgehend, in der Herkunft und Bildung die entscheidenden Zugehörigkeitsfaktoren bilden, ohne Weiteres, wie sich zeigen wird, um Juden, Häretiker, teilweise Frauen sowie sogar die allgemeine Bevölkerung ergänzt werden (vgl. Kapitel 4.2). 6 Kaufmann 1995, 271. 7 Kaufmann 1995, 79. Vgl. Harries 1996, 44, die sich dafür ausspricht, Abstand davon zu nehmen, die ,germanischen Könige‘ und ihre Gefolgschaft einfach als Barbaren zu kategorisieren. Diese Haltung wird zwar auch von Heitz 2009, 26 postuliert, der jedoch im weiteren Verlauf seiner Arbeit die „Nordvölker“ dennoch mit Barbaren gleichsetzt. 8 Geary 1988, vi: „The Germanic world was perhaps the greatest and most enduring creation of Roman political and military genius.“ Ferner Kulikowski 2021, 29. 9 Sidon. epist. 5,5,1; 5,5,3 in Zusammenhang mit der Sprache der Burgunder. In Sidon. epist 5,7,7 wird die Lugdunensis als Teil der germanischen Provinzen angesprochen. In beiden Fällen wird der Begriff jedoch nicht verwendet, um eine gens als ,germanisch‘ zu bezeichnen; siehe ferner: Egetenmeyr 2021a. 10 Siehe Egetenmeyr 2021a, 148 f.; vgl. Rummel 2010, 55; Halsall 2007, 55.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

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Vornehmlich in den Gedichten des Sidonius haben als Barbaren charakterisierte nichtrömische Gruppierungen eine besondere Stellung inne. 11 Sie treten als Gegenpart zur römischen Bevölkerung in Erscheinung. Er präsentiert sie dem Leser als fremde, feindliche Barbaren und thematisiert sie in jedem der drei Kaiserpanegyriken. So im Panegyrikus auf Avitus, in dem Roma Iupiter bittet, ihr Leiden durch einen fähigen Kaiser zu lindern, und im Herrscherlob auf Maiorian, der das Reich (und hier besonders Nordafrika) an erster Stelle vor den Vandalen retten soll. 12 Anthemius wird ebenfalls im Panegyrikus aufgefordert, Rikimer zu unterstützen, um die Barbaren zu besiegen. 13 Barbaren bieten den narrativen Hintergrund und Gegenpart zum Kaiser, der durch den jeweiligen Panegyrikus gelobt werden soll. 14 In den Episteln beschreibt Sidonius vorwiegend einzelne, nicht-römische Verbände (primär Visigoten und Burgunder), die er teils explizit als Barbaren bezeichnet und somit seine Wahrnehmung ihnen gegenüber ausdrückt. 15 Sidonius nimmt für ihn fremde Gruppierungen als Barbaren wahr und belegt sie mit traditionellen Stereotypen. Aber darüber hinaus präsentiert er in seinen Briefen auch Individuen, denen er trotz nicht-römischer Herkunft positive Charaktereigenschaften zugesteht. 16 Wie passt diese Wahrnehmung von Barbaren zusammen? Wann verwendet Sidonius diese Kategorie beziehungsweise deren traditionelle Darstellung mit Stereotypen, um damit Fremde und ,Andere‘ in seinen Briefen abzubilden? Bei einem ersten Lesen der Briefe fällt auf, dass nicht-römische Gruppierungen erst ab dem dritten Buch zunehmend in einem negativen Licht erscheinen, und im siebten Buch kann die zu Beginn dieser Arbeit zitierte Aussage gefunden werden: […] barbaros vitas, quia mali putentur; ego, etiamsi boni. 17 Wie hat Sidonius diesen Satz gemeint? Wie in 11 Loyen 1960/1970, Bd. 2, xxxxix. 12 Sidon. carm. 7,114‒118; 2,377‒386; siehe Kulikowski 2008, passim; Kaufmann 1995, 86‒100; Reydellet 1981, 50 f. 13 Zum Barbarenbild in den Sidonius’schen Panegyriken siehe: Watson 1998, 188–191, 196; Kaufmann 1995, 117–123, 140 f., 153–156; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xxxix. 14 Wood 2011, 42. 15 Damit folgt Sidonius der Tradition, Gentilnamen als Ausdruck von Alterität zu verwenden, siehe hierzu: Dauge 1981, 396 f. 16 Über Stereotypisierungen in den Gedichten siehe bspw.: Sidon. carm. 7,363. Sidonius vergleicht die Goten mit räuberischen Wölfen (raptores forte lupi). Zusammenfassend für den Avitus-Panegyrikus fällt auf, dass, obwohl Avitus mit den Visigoten einen Vertrag geschlossen hat, diese mit Adjektiven aus der Wortfamilie der Wildheit und des Zorns beschrieben werden ( feroci getae, geticas iras, getis furori, siehe: Sidon. carm. 7,392; 7,548; 7,362). In seiner Lobrede auf Maiorian, ist es nun an diesem, den in Fellen gekleideten Goten Gesetze aufzuerlegen (Sidon. carm. 5,562 f.: … qui dictat modo iura Getis, sub iudice vestro / pellitus ravum praeconem suscipit hostis […]. Zu einzelnen nicht-römischen Gruppierungen in den Briefen: Gerth 2013, 218; Gualandri 2000, 107; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xxxix–xlii; Chadwick 1955, 306. Kaufmann 1995, 106  f. führt dies darauf zurück, dass Sidonius diese Gruppierungen am besten aus eigener Erfahrung kannte. Er bietet auch einen kurzen Überblick über die Franken und Sachsen bei Sidonius (151‒168). Loyen 1960/1970, Bd.  2, xl fällt als Pauschalurteil über die Darstellung der Burgunder und Visigoten bei Sidonius: „Sidoine ne les a jamais aimés.“ 17 Sidon. epist. 7,14,10.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

seiner Vita deutlich wurde, identifiziert sich Sidonius stark mit römischen Werten, und das Gedankengut der aristokratischen „mentalité“ ist in seinen Werken omnipräsent. Nach André Loyen wurde seine Aversion gegenüber Barbaren durch seine große Hingebung zur antiken Kultur verstärkt. 18 Wie bereits zu Beginn der Arbeit betont wurde, ist sich die heutige Forschung einig, kein solches Pauschalurteil über Sidonius’ Wahrnehmung bezüglich Barbaren fällen zu können. Jedoch ist André Loyen aus heutiger Sicht hinsichtlich seiner Verbundenheit mit der römischen Kultur zuzustimmen. Ferner erscheint es nur mit diesem Wissen über die schon fast als symbiotisch zu bezeichnende Beziehung zwischen romanitas und Sidonius möglich, seine Darstellung und Wahrnehmung von Barbaren zu untersuchen. Für diesen Zweck werden kategorisch und der Anordnung im Briefkorpus folgend ausgewählte Passagen ausführlich betrachtet. Im Verlauf der Forschungsarbeiten zu Sidonius und seiner Darstellung von Barbaren konnte ich unterschiedliche Kategorien bilden, mit denen Sidonius vermeintlich barbarische Gruppierungen in den Quellen beschreibt. Unterschieden wird zwischen stereotypisierten Darstellungen, die Bezüge zu einem tradierten Barbarendiskurs erkennen lassen (vgl. den Exkurs in Kapitel 1.5), und indirekten Verweisen auf politische Unruhen, die mit Barbaren in Verbindung stehen können. Weiterhin stellt sich die Frage, inwieweit der Begriff der Häresie verwendet wird, um Barbaren zu beschreiben, und inwieweit er den Barbarenbegriff in Sidonius’ Briefen eventuell ablöst.

5.1

Stereotypisierung von Barbaren À l’instar des Grecs, les Romains, ont mis en scène et instrumentlisé la figure du barbare comme incarnation de l’altérité radicale et irréductible. 19

So die Worte von Liza Méry im Sammelwerk von Bruno Dumézil über die Barbaren. Antike Autoren griffen auf ähnliche Indikatoren zurück, um die barbarische Natur von ,Anderen‘ darzustellen. 20 Diese Stereotype können in der gallischen Briefliteratur des 5.  Jahrhunderts nachgewiesen werden. In den Briefen des Sidonius werden bei der Nennung von barbarischen Fremden regelmäßig die Termini feriae, bestiae und animalia oder Adjektive der Wortfamilie ferox verwendet. Er benutzt demnach bereits existierende Klischees für Barbaren, wenn er deren Erscheinung und Verhalten beschreibt. 21 Dabei folgt Sidonius in den Grundlagen dem Schema Ciceros, der Barbaren von Römern durch Stammeszugehörigkeit (natio), Sprache (lingua), Charakter (natura) und Gebräuche (mores) differenziert. 22 Im Folgenden soll Sidonius’ Differenzierung in seinen Briefen 18 19 20 21 22

Loyen 1960/1970, Bd. 2, xlii. Méry 2016, 33. Méry 2016, 33; Woolf 2011b, 260. Le Guillou 2001, 145; Loyen 1960/1970, Bd. 2, ix. Cic. Verr. 2,4,112.

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Stereotypisierung von Barbaren

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zwischen sich selbst und seiner Innengruppe – der gallo-römischen Aristokratie – sowie unbekannten, fremden Menschen, die in den Briefen als ,barbarisches Kollektiv‘ in Erscheinung treten, untersucht werden. 5.1.1 Differenzierung durch Sprache und Bildung sed tantum distant Romana et barbara, quantum quadrupes abiuncta est bipedi vel muta loquenti […]. 23 Aber Römisches und Barbarisches unterscheiden sich so voneinander, wie man Tiere von Menschen und Sprachlose von Sprechenden trennen muss […]. So definiert Prudentius in seinem Gedicht Contra Symmachum im ausgehenden 4. Jahrhundert die Unterschiede zwischen Römern und Barbaren. Sprache scheint dabei das herausragende Merkmal zu sein, durch das sich nicht nur Menschen von Tieren, sondern auch Römer von Barbaren abgrenzen. 24 Gleichzeitig werden Barbaren selbst durch diesen Vergleich auf die Stufe von Tieren gestellt, da sie nicht in der Lage sind, Latein zu sprechen, und sich somit durch Sprachlosigkeit auszeichnen. Sidonius folgt diesem ursprünglichen Barbarendiskurs der sprachlichen Differenzierung in seinen Briefen, um seine eigene Persönlichkeit sowie die Gemeinschaft seines literarischen Kreises von Barbaren zu unterscheiden. 25 Seine Briefe erwecken den Anschein, dass er die lateinische Sprache und Kultur gegenüber Fremden und Anderen verteidigen und am Leben erhalten wolle. 26 So thematisiert er den Sprachverfall seiner Zeit, wie es in einem Brief an Hesperius 27 zum Ausdruck kommt: Amo in te quod litteras amas et usquequaque praeconiis cumulatissimis excolere contendo tantae diligentiae generositatem, per quam nobis non solum initia tua verum etiam studia nostra commendas. nam cum videmus in huiusmodi disciplinam iuniorum ingenia succrescere, propter quam nos quoque subduximus ferulae manum, copiosissimum fructum nostri laboris adipiscimur. illud appone, quod tantum increbruit multitudo desidiosorum, ut, nisi vel paucissimi quique meram linguae Latiaris proprietatem de trivialium barbarismorum robigine vindicaveritis, eam brevi abolitam

23 Prud. c. Symm. 2,816 f. 24 Siehe ferner Verg. Aen. 8,722, der zur Unterscheidung von verschiedenen gentes neben Kleidung ebenfalls Sprache als Distinktionsmerkmal benennt. Barbaren als Tiere finden sich bei z. B. in Vell. 2,117,3; Iord. Get. 24,122. 25 Overwien 2009a, 261; Le Guillou 2001, 145. 26 Stoehr-Monjou 2009, 209. 27 Zu Hesperius siehe: PLRE II, 552 unter Hesperivs 2; vgl. Heinzelmann 1983, 623 unter Hesperius 3. Hesperius war ein Redner sowie Dichter und findet sich als Lehrer im Adressatenkreis des Ruricius: Rur. epist. 1,3; 1,4; 1,5.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

defleamus interemptamque; sic omnes nobilium sermonum purpurae per incuriam vulgi decolorabuntur. 28 Ich schätze an dir, dass du die Sprache liebst, und in jeder Hinsicht bestehe ich durch vollendete Verherrlichung darauf, dass dieser Edelmut mit größter Sorgfalt gepflegt werden muss, durch den du uns nicht nur deine ersten Lehrsätze, sondern auch unsere Bemühungen angenehm machst. Denn wenn wir in derartigem Unterricht sehen können, wie der Verstand der jungen Menschen wächst, derentwegen sogar wir die Hand unter den Ruten weggezogen haben, dann erhalten wir die fülligste Frucht unserer Mühen. Bedenke jenes, dass, weil die Masse der Müßiggänger so weit angewachsen ist, wenn nicht ihr oder die wenigen, welche die lateinische Sprache in ihrer reinen Art von der Fäulnis der gewöhnlichen Barbarismen erretten würdet, wir diese, nachdem sie verdrängt und beseitigt worden ist, schon bald beweinen müssen; so vollständig wird der gesamte Purpur der edlen Sprache durch die Sorglosigkeit der breiten Masse verfärbt werden. Wie der Leser in der captatio benevolentiae erfährt, war Hesperius ein Grammatiklehrer. Er wird von Sidonius für den Erhalt der Reinheit der lateinischen Sprache, womit wohl das Unterrichten gemeint sein wird, gelobt. Er beschreibt, wie die lateinische Sprache immer mehr von Barbarismen überschwemmt wird und gar der Verdrängung verfällt, da die breite Masse der Bevölkerung zu sorglos damit umgeht. Gäbe es nicht Menschen wie Hesperius, würde die lateinische Sprache schon bald in Vergessenheit geraten. Sidonius stellt in dieser Passage deutlich zwei konträre ‚Lebenswelten‘ dar: 1. eine, deren Teilhaber über die Fähigkeit Latein zu sprechen – wobei nicht nur die Fähigkeit an sich, sondern explizit der Grad der Fähigkeit ,reines‘ Latein zu sprechen betont wird – ein gemeinschaftsbildendes Merkmal schaffen; 2. eine, deren Teilhaber durch die Vernachlässigung beziehungsweise Nichtbeherrschung der lateinischen Sprache abgegrenzt werden. Alteritäten und Identitäten werden in diesem Beispiel durch das Wissen um Latein definiert. 29 Sidonius stellt die wenigen, welche die lateinische Sprache in ihrer Reinheit beherrschen, der Masse der Sorglosen, die sich dazu noch im Wachstum befindet, antithetisch (multitudo – paucissimi) gegenüber. Die Verwendung des Superlativs paucissimi ist damit zu erklären, dass die Anzahl derer, die die Sprache von der Fäulnis der Barbarismen retten können, in Sidonius’ Augen äußerst gering ist. Er verdeutlicht dadurch die potenzielle Gefahr eines Sterbens der lateinischen Sprache, das seiner Meinung nach schon in Kürze (brevi) erfolgen könne. Er sieht sich selbst, zusammen mit Hesperius, auf der Seite der paucissimi und erzeugt durch die Verwendung der ersten Person Plural ein verbindendes Gemeinschaftsgefühl, das ganz bewusst das Bild ,wir gegen die anderen‘ evoziert. Dieses wird weiterhin durch die anekdotische Anspielung auf den eigenen Unterricht und das

28 Sidon. epist. 2,10,1. 29 Vgl. Sivan 1983, 129, die annimmt, dass sich die gallischen Aristokraten neben Barbaren von der armen Bevölkerung abgrenzen, die „vulgäres Latein“ sprachen. Siehe ferner: Kleinschmidt 2013, 5.

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Wegziehen der Hand unter der Rute bestärkt. 30 Er spricht den Adressaten des Briefes sowie die Leser auf einer emotionalen Ebene an und erzeugt damit ein Gemeinschaftsgefühl. Dabei ist das wir wichtig. Jeder, der nicht zum Erhalt der Sprache beiträgt, ist in Sidonius’ Augen ein ,Anderer‘, sogar ein feindlicher ,Anderer‘, der zur Vernichtung eines sehr wichtigen Identifikationsmarkers des Sidonius beiträgt. Die ,Anderen‘ sind dabei keine spezifische Gruppe und werden lediglich als multitudo sowie in der Sentenz als vulgus präsentiert. 31 Dem gebildeten Leser offenbart sich diese Masse aus zwei Gründen als Barbaren: 1. Die Differenzierung von ,Barbarentum‘ und ,Zivilisation‘ geht in ihrem Ursprung auf die sprachlichen Fähigkeiten zurück. 32 2. Die Verwendung des Nomens barbarismus benennt direkt die drohende Gefahr für die Reinheit der Sprache und impliziert weiterhin, von wem diese Gefahr ausgeht – von Barbaren. Hier wird deutlich, dass Barbaren nicht automatisch mit Visigoten, Burgundern oder anderen nicht-römischen Gruppierungen gleichgesetzt werden können. Die Masse der Bevölkerung kann aufgrund fehlender Bildung und unsachgemäßer Verwendung der Sprache von Sidonius als barbarisch wahrgenommen werden – auch wenn sie Angehörige der Aristokratie sein sollten. Die Gefahr des möglichen Verschwindens der lateinischen Sprache und damit eines Identifikationsmerkmals der gallo-römischen Aristokratie wird in der Sentenz von Sidonius unterstrichen, indem die Masse – Barbaren – den Purpur der edlen Sprache entfärbt. Sie verstärkt somit sein Argument der bevorstehenden Gefahr, diese zu verlieren. 33 Wenn bedacht wird, dass Sidonius an einer weiteren Stelle seiner Briefsammlung purpuratus als Antithese zu pellitus verwendet 34, kann der Hinweis nicht übersehen werden, dass sich nicht-römische Gruppierungen innerhalb der von Sidonius angesprochenen Masse befinden, die er für die Verunreinigung der Sprache verantwortlich macht. Ein weiteres Beispiel für die Konstruktion von Alterität durch Sprache findet sich in einem Schreiben des Sidonius an seinen Schwager Ecdicius. 35 Da dieses bezüglich des Verhaltens von Barbaren noch eingehender untersucht werden soll, wird im Folgenden lediglich kurz auf den Aspekt der Sprache eingegangen. Denn in diesem Schreiben, mit dem Sidonius Ecdicius angeblich zur Rückkehr in die Auvergne überreden möchte, beschreibt er ausführlich dessen Ruhmestaten. 36

30 Wörtlich aus Iuv. 1,15. 31 Dementgegen Schwitter 2015, 233, der vermutet, dass Sidonius die aristokratische Jugend ansprechen würde. 32 Siehe Kapitel 1.5.1. 33 Schwitter 2015, 232 verdeutlicht, dass Sidonius nicht vom Verfall des Lateins an sich spricht, sondern von der Angst, das gehobene Latein der Bildungselite könnte durch Barbarismen verloren gehen. 34 Siehe in diesem Zusammenhang mit dem purpurnen Mantel als Statussymbol eines römischen Herrschers Sidon. epist. 7,9,19. 35 Für Ecdicius siehe; PLRE II, 383 unter Ecdicius 3; vgl. Heinzelmann 1983, 594 unter Ecdicius 2. Ecdicius war der Sohn von Avitus und Bruder von Sidonius’ Frau Papianilla. 36 Sidon. epist. 3,3. Der Anlass des Briefes findet sich am Ende des Schreibens: Sidon. epist. 3,3,9. Eine Interpretation hat Giannotti 2000, passim als Aufsatz veröffentlicht.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Die captatio des Briefes zeigt auf, wie Ecdicius von der gesamten Gemeinschaft geliebt wurde und sogar die Zeit bis zu seiner Geburt von allen gezählt worden sei. 37 Die Betonung der dilectio immane der arvernischen Bevölkerung für Ecdicius hat einen ganz bestimmten Zweck, wie Sidonius selbst zugibt. Sie solle caritas und incitamentum – Zuneigung und Triebfeder – als Emotionen hervorrufen, um die Leser zu überzeugen. 38 Dabei ist von zwei Lesern auszugehen: Auf den ersten Blick spricht Sidonius den Leser in der Person des Ecdicius an, damit dieser als Empfänger des Briefes, von der Zuneigung seiner Landsleute angespornt, in die Heimat zurückkehre. Auf den zweiten Blick wendet er sich an den zeitgenössischen und späteren Leser der Briefsammlung, der vom Charakter und den Leistungen des Ecdicius als arvernischem Helden überzeugt werden soll. Sidonius erinnert an die Kindheit des Empfängers in der Auvergne, an die Wiesen, auf denen er gespielt, die Flüsse, in denen er geschwommen und die Wälder, in denen er gejagt hat. Er referiert dabei die Kindheit und die Jugend eines gallo-römischen Aristokraten, wie er sie selbst genossen haben dürfte, um auf sein Hauptargument, das die Einleitung beschließt, zu sprechen zu kommen. Dieses leitet er, im Gegensatz zu den Aufzählungen der Kindheit, die parallel mit omitto begonnen worden sind, mit mitto ein und hebt somit eine Veränderung des folgenden Argumentes hervor, obwohl Sidonius beinahe beiläufig am Ende der Aufzählung die literarische Ausbildung des Ecdicius erwähnt, für die von überall her die Menschen zusammengekommen seien: mitto istic ob gratiam pueritiae tuae undique gentium confluxisse studia litterarum tuaeque personae quondam debitum, quod sermonis Celtici squamam depositura nobilitas nunc oratorio stilo, nunc etiam Camenalibus 39 modis imbuebatur. 40 Ich werde nicht daran erinnern, dass es aufgrund deines Knabenalters dein Haus war, in dem sich gebildete Menschen von überall her trafen, und dass es deinem persönlichen Wirken zu verdanken war, dass die Nobilität, nachdem sich von der Rauheit der keltischen Sprache befreit hatte, sich mal in den Stil der Rhetorik und mal sogar in die Regeln der Poesie einführen ließ. Ecdicius ist es also zu verdanken, dass die Sprache der gallo-römischen Aristokratie in der Auvergne perfektioniert wurde. Bis heute ist umstritten, was Sidonius genau mit dieser Aussage gemeint hat. Vor dem Hintergrund der Frage nach der Konstruktion von Alterität gilt es, in dieser Passage besonders auf eine Eigenheit hinzuweisen: die Verwendung von gentium (gens) für Menschen, die zu Ecdicius kommen und sich im zweiten Teil des 37 Sidon. epist. 3,3,1. 38 Sidon. epist. 3,3,2: omitto illa communia quidem sed quae non mediocria caritatis incitamenta sunt […]. „Ich lasse unerwähnt, dass jene Dinge zwar allgemein bekannt sind, aber diese keine unbedeutenden Triebfedern der Zuneigung sind […].“ 39 Camena war eine weissagende Quellengöttin, die mit der griechischen Mοũσα gleichgesetzt wurde, siehe hierzu: TLL II, 116, lin. 59–118, lin. 18; Lemma: Camēnae. 40 Sidon. epist. 3,3,2. Für eine Analyse mit weiteren Referenzen sei auf Giannotti 2016, 138–141 ver­ wiesen.

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Satzes als Nobilität entlarven. Erst durch Ecdicius hat die gallo-römische Aristokratie der Auvergne es geschafft, die barbarische Sprache der Kelten abzulegen, und erst jetzt wird dem Leser die Bedeutung von gentes offensichtlich. Der Begriff dient der Konstruktion und der Verdeutlichung von Alterität. Wie Barbaren haben Menschen gleicher Abstammung, d. h. ebenfalls von aristokratischem Geblüt, die literarische Bildung des Ecdicius gebraucht, um die raue keltische Sprache abzulegen. Dabei verwendet Sidonius squama (Schuppe, Schuppenpanzer) bildlich, um den ,Häutungsprozess‘ darzustellen. Erst nachdem dies erfolgreich geschehen war und sie in der Lage waren, selbst literarisch aktiv zu sein, gelangten diese Mitglieder der gallo-römischen Aristokratie auf die gleiche Ebene wie Ecdicius und Sidonius. Durch die Verwendung einer keltischen Sprache beziehungsweise durch die Verfärbung des Lateins durch Keltizismen wurden Aristokraten zu ,Anderen‘. Sidonius fasst dies selbst zu Beginn des dritten Absatzes seines Schreibens noch einmal zusammen: illud in te affectum principaliter universitatis accendit, quod quos olim Latinos fieri exegeras barbaros deinceps esse vetuisti. 41 Jenes hat hauptsächlich die allgemeine Zuneigung dir gegenüber entzündet, weil du diejenigen, von denen du einst verlangt hattest, Lateiner zu werden, derzeit daran gehindert hast, Barbaren zu sein. Ecdicius war es mit Hilfe der lateinischen Sprache gelungen, die im Text als gentes bezeichneten Aristokraten von ihrer barbarischen Seite zu befreien und sie zu Römern zu machen. Inwiefern diese Darstellung der Realität entsprach und ob es in der Auvergne sogar unter der Elite tatsächlich die Tendenz gab, die keltische Sprache zu verwenden, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 42 Die Kenntnis des Lateins entscheidet auch in diesem Szenario, wer von Sidonius als Teil der gemeinsamen ‚Lebenswelt‘ empfunden und wer als ,Anderer‘ gesehen wird. 43 Ecdicius hat es schon als Knabe mit Barbaren aufgenommen. Dies war eine perfekt konstruierte Einleitung des Sidonius für einen Brief, der im folgenden Verlauf die kriegerische Auseinandersetzung von Ecdicius mit den Visigoten beschreibt und somit Alterität als zentrales Thema aufweist. Ebenso wie Sprache zu einem Abgrenzungsmarker von Sidonius in seinen Briefen eingesetzt wird, um sich selbst und die gallo-römische Aristokratie von ,Anderen‘ zu unterscheiden, verwendet er Sprache als gemeinschaftliches Merkmal, um eine kollektive Identität der gallo-römischen Aristokratie zu suggerieren, wie es gleichermaßen in diesen beiden Beispielen deutlich wurde. 44 Sidonius lobt einzelne Aristokraten für ihre vorbild-

41 Sidon. epist. 3,3,3. 42 Giannotti 2016, 138–141. Vielmehr sei auf van Dam 1985, 15 verwiesen, der diesbezüglich weitere Literatur nennt. 43 Sivan 1983, 129. 44 Vgl. Overwien 2009a, 263.

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haften sprachlichen Fertigkeiten und mahnt, wenn diese in Vergessenheit geraten. 45 Dabei charakterisiert er die lateinische Sprache in einem Brief an Placidius als glanzvoll und besonders; er lobt die schriftstellerischen Fähigkeiten des Claudianus Mamertus. 46 Nicht einfach Latein, sondern das gehobene literarische Latein ist ein identitätsstiftender Marker für die aristokratische ‚Lebenswelt‘ des Sidonius. Er erfüllt somit im traditionellen Gebrauch seine Funktion zur Ab- und Ausgrenzung von ,Anderen‘, von Barbaren, deren Unfähigkeit richtig zu sprechen mit dem Begriff des Barbarismus belegt wurde. 47 Die Beherrschung der Sprache blieb für Sidonius „ein entscheidendes Kennzeichen für die Zugehörigkeit“ zur gallo-römischen Aristokratie. 48 Neben der Grundlage der Sprache wird dieses Unterscheidungsmerkmal auf Bildung im Allgemeinen ausgeweitet. 49 Hierfür ist noch einmal die Epistel 8,2,2 an Johannes zu zitieren: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. 50 Denn nachdem schon die Stufen der Würden abgeschafft worden sind, durch die man gewohnt war, den Geringsten vom Besten zu unterscheiden, wird zukünftig literarisches Wissen der einzige Nachweis für nobilitas sein. Diese Aussage ist als eine der Kernaussagen in Sidonius’ Briefen zu erachten. Sie besagt, dass Bildung als einziges Unterscheidungsmerkmal der Aristokratie noch vorhanden war, um sich von ,Anderen‘ abzuheben. Dies bedeutet in erster Linie nicht nur die Unterscheidung zwischen Aristokratie und Barbaren, sondern auch die Möglichkeit zu erkennen, wer zu den boni gehört und wer vom Kreis der Elite auszuschließen sei. Dieses Denken ist auch in den Briefen des Ruricius zu erkennen. Dieser schreibt: Et idcirco me magis finitimum vobis esse congaudeo, quia non ex toto malus est, qui bonis iungitur. 51 Und deshalb freue ich mich sehr, euch nahezustehen, weil derjenige nicht ganz schlecht sein kann, der mit den Guten verbunden ist.

45 Beispiele für vorbildhafte Sprache: Sidon. epist. 3,14,2; 4,3,1; 4,3,3; 4,10,2; 4,17,1; 5,10,4; 7,2,1; 8,10,1; 8,11,5; 9,7,4; 9,12,1. Beispiele von Ermahnungen: Sidon. epist. 4,17,2; 5,5,3. 46 Sidon. epist. 3,14,2 an Placidus; Sidon. epist. 4,3,4 über Claudianus Mamertus. 47 Vgl. Sivan 1983, 124: „… barbarism became a synonym of a crude, colloquial language.“ 48 Sivan 1983, 125. Schipp 2014, 147 f.: „Die Beherrschung der Sprache ist ein entscheidendes Kennzeichen für die Zugehörigkeit zu einer Kultur. […] vor allem die Angehörigen der gallo-römischen Oberschicht grenzten sich aufgrund ihrer Sprache und Bildung von den ungebildeten Barbaren ab.“ 49 Zur Bedeutung von Bildung für gallo-römische Aristokraten siehe: Kapitel 2.2 und 3.1. 50 Sidon. epist. 8,2,2. 51 Rur. epist. 1,12,2.

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Ruricius drückt in dieser spielerischen Gegenüberstellung von malus und bonus mehr aus als die Antithese ,böse und gut‘. Die boni stehen bei ihm für die elitäre Gruppe der Aristokratie. Bereits Quintilian definiert, dass lediglich ein vir bonus auch ein orator perfectus sein könne. 52 Status und Bildung gehörten für die römische Aristokratie im moralischen, ethischen sowie im rechtlichen Sinn zusammen. Es war für einen Aristokraten wichtig, zu den boni oder optimi zu gehören und sich dadurch von ,Anderen‘ zu unterscheiden. Aus diesem Grund wird Sidonius in seinen Briefen nicht müde, die Bedeutung von Bildung zu referieren und vorbildhafte Aristokraten und Bischöfe ob deren exzellenter Bildung zu loben. Er wollte durch kontinuierliche Wiederholung sicherstellen, dass Bildung als Teil aristokratischer Traditionen der Nachwelt überliefert wird. Joop van Waarden stellt fest, dass Begriffe wie philosophia, philosophus und philosophari häufig in den Briefen in Erscheinung treten, was für die Bedeutung von Wissen und Bildung spricht. 53 Bildung, einschließlich der Beherrschung von Latein, präsentiert das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Angehörigen seiner ‚Lebenswelten‘ und einem ,Anderen‘, in letzter Konsequenz einem Barbaren. In einem Schreiben an Probus, in dem er um den Erhalt der Freundschaft bittet, spielt Sidonius das Gedankenspiel, was geschehen würde, wenn ein Philosoph Barbaren Bildung bringen würde. 54 Dieser Brief, der oben bereits zur Sprache kam, lobt die herausragenden Fähigkeiten des Adressaten, der in allen Bildungsbereichen von ungeheurer Begabung war. Nicht nur Latein, sondern auch Griechisch konnte Probus so gut sprechen, dass er seinen Lehrer Eusebius in philosophische Streitgespräche verwickeln konnte. 55 Probus scheint der Inbegriff eines philosophus zu sein. Sidonius lässt uns im folgenden Abschnitt an seinem Experiment teilhaben: at qualium, deus bone, quamque pretiosorum, quae si quis deportaret philosophaturus aut ad paludicolas Sygambros aut ad Caucasigenas Alanos aut ad equimulgas Gelonos, bestialium rigidarumque nationum corda cornea fibraeque glaciales procul dubio emollirentur egelidarentur neque illorum ferociam stoliditatemque, quae secundum beluas ineptit brutescit accenditur, rideremus contemneremus pertimesceremus. 56 Ach, großer Gott, wie beschaffen jede einzelne der Kostbarkeiten war, welche, wenn sie irgendein Philosophierender entweder zu den sumpfbewohnenden Sygamb­ rern oder zu den kaukasischen Alanen oder zu den pferdemelkenden Gelonen mitführen würde, dann ohne Zweifel die harten Herzen und eisigen Eingeweide der unbeugsamen und wilden Sippen erweichen und mildern könnte. Und wir 52 Quint. inst. 2,15,33; vgl. Cic. de orat. 2,85. Für die Topik und Begriffsgeschichte des vir bonus-Ideals sei auf Robling 2000, passim verwiesen. 53 Van Waarden 2010, 17. 54 Sidon. epist. 4,1,4. Eine Zusammenfassung, strukturelle Gliederung und Analyse des Briefes findet sich bei Amherdt 2001, 66–68. 55 Sidon. epist. 4,1,3. Zur Philosophie im Werk des Sidonius sei auf Courcelle 1970 und Loyen 1943, 12–17 verwiesen. 56 Sidon. epist. 4,1,4.

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würden deren Wildheit und Dreistigkeit, die, aufgeregten wilden Tieren entsprechend, töricht und unvernünftig ist, nicht belachen, verachten und fürchten. Dieses Gedankenspiel, das Sidonius als rhetorische Frage formuliert, endet damit, dass am Ende die Innengruppe um Probus und Sidonius die für alle Barbaren stellvertretend genannten Gruppierungen nicht mehr verlachen oder fürchten müsste. Diese würden durch die erhaltenen Merkmale der Bildung und durch deren Kostbarkeiten verwandelt werden. Interessant in diesem Abschnitt ist die parallel konstruierte und stereotypisierte Darstellung von Sygambrern 57, Alanen 58 und Gelonen 59 als Barbaren, ohne den Begriff direkt verwenden zu müssen. 60 Zum einen wird geographisch ihre Herkunft außerhalb des Römischen Reiches, zum anderen, im Fall der Gelonen, deren Eigenart thematisiert, Pferde zu melken, was auf den Verzehr von Stutenmilch schließen lässt. Für den römisch gebildeten Leser wird durch die Art der Darstellung offensichtlich, dass an dieser Stelle Barbaren beschrieben werden. Eine Verwendung des Begriffes ‚Barbar‘ in diesem Abschnitt war nicht notwendig. Diese Stereotypisierung ist durch den Wandel hindurch, den diese Gruppierungen vollziehen würden, käme ein Philosoph zu ihnen, sichtbar. Sidonius beschreibt sie mit harten Herzen und eisigen Eingeweiden, was bedeutet, dass seines Erachtens nach Barbaren nicht fühlen und folglich auch nicht lieben können. Die Ähnlichkeiten dieser Menschen mit wilden Tieren werden sowohl indirekt über die Wortwahl (bestialium rigidarumque 61) als auch direkt über den Vergleich mit wilden Tieren (secundum beluas) aufgezeigt. 62 Der traditionellen Darstellung von Barbaren als Tieren wird hier von Sidonius Folge geleistet. 63 Aber das Bedeutendste an diesem Gedankenspiel ist das Ergebnis, dass in einem solchen Fall die Situation eine gänzlich andere wäre. Es ist das Zugeständnis der Möglichkeit, dass Barbaren durch Bildung ihre animalische Seite zurücklassen können. Ebenfalls im vierten Buch der Briefsammlung findet sich ein weiteres Beispiel für die mutmaßliche Ungebildetheit von Barbaren. Für seinen Freund Euodius verfasste Sidonius 57 Amherdt 2001, 85: Dies sind Bewohner rechts des Rheines, die seit Caesar (Caes. BG 4,16–19) bekannt sind. Sie werden ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. oft mit den Franken gleichgesetzt, siehe Zöllner 1970, 4 f. 58 Amherdt 2001, 85 f.: Dies sind nomadische Gruppierung am Norden des Kaspischen Meeres. Sie haben sich um 410 in Spanien angesiedelt, wo sie von visigotischen Föderaten vertrieben wurden und sich den Vandalen in Afrika angeschlossen haben. Siehe hierzu Steinacher 2016, 50–76 für einen historischen Überblick der Alanen ab der ‚Rheinüberquerung‘ bis zu den Kriegen in Spanien. Dumézil 2016, 144–147 bietet einen Überblick zum Lemma „Alains“. 59 Amherdt 2001, 86: Bei den Gelonen handelt es sich wohl um Skythen. Vgl. hierzu das Lemma bei Dumézil 2016, 1216–1220. Zum Milchverzehr der Skythen vgl. Hdt. 4,2; siehe Kapitel 1.5.2 60 Vgl. Amherdt 2001, 84. Das Bild der Barbaren in diesem Absatz sei rein literarisch. 61 Amherdt 2001, 87 weist darauf hin, dass das Adjektiv rigidus metaphorisch gebraucht in engem Zusammenhang zu Barbaren steht, was bei Hor. carm. 3,24,11 (rigidi Getae) sowie Ov. trist. 5,1,45–46 (Barbariem rigidos effugiamque Getas) nachgewiesen werden kann. 62 Sowie weiterhin durch die Anhäufung rhythmischer Effekte unterstrichen, wie Amherdt 2001, 84, 86 feststellt. 63 Siehe Kapitel 1.5.2.

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einen kleinen Vers, der auf eine silberne Schale kommen sollte. Diese war für Ragnahilda, der Frau des visigotischen Anführers Eurich, gedacht. 64 Der Brief beginnt mit einer überzogenen Melodramatik, die davon berichtet, dass Sidonius auf dem Weg zu seinem weit entfernten Landgut gewesen sei, als ihn der Briefbote erreicht habe. 65 Sidonius erklärt, er habe den ganzen Tross halten lassen, um den Brief zu beantworten, nicht ohne die Annehmlichkeiten zu beschreiben, die er und seine Reisegesellschaft des Schreibens wegen verspätet erreichen würden. 66 Dieses retardierende Moment, das in den folgenden Paragraphen fortgeführt wird, in denen er die Widrigkeiten darlegt, unter denen er das „Verslein“ komponieren musste, erfüllt zweierlei Funktion: Zum einen soll es den Leser auf die Aufopferungsbereitschaft des Sidonius aufmerksam machen, der der Bitte eines Freundes ohne Zögern nachkommt und dadurch seine Achtung gegenüber freundschaftlicher Pflichterfüllung zum Ausdruck bringt. Zum anderen stellt es eine versteckte Bescheidenheitsfloskel dar, um dem Leser vor Augen zu führen, dass die gedichteten Verse tatsächlich das Beste waren, was Sidonius unter diesen Umständen hat produzieren können. 67 In der narratio des Briefes rezipiert Sidonius für den Leser den Auftrag, den er von Euodius erhalten hat, spekuliert über die Empfängerin – Ragnahilda – und stellt Vermutungen an, wo und wie Euodius gedenke, das Epigramm anbringen zu lassen, nicht ohne selbst indirekte Vorschläge zu geben. 68 Sidonius beklagt sich gegenüber dem Adressaten, dass dieser dem Silberschmied mehr Zeit als dem Literaten gewährt habe und dadurch am Gedicht nicht habe gefeilt werden können – eine Thematik, die am Ende des Schreibens erneut aufgegriffen wird. 69 Es sei an dieser Stelle das Gedicht mit der Übersetzung von Helga Köhler wiedergegeben: Pistrigero quae concha vehit Tritone Cytheren / hac sibi conlata cedere non dubitet. / poscimus, inclina paulisper culmen erile / et munus parvum magna patrona cape / (5)  Euodiumque libens non aspernare clientem,  / quem faciens grandem tu quoque maior eris. / sic tibi, cui rex est genitor, socer atque maritus, / gnatus rex quoque sit 64 Sidon. epist. 4,8,5. An dieser Stelle sei auf die kürzlich erschienene, sehr detailreiche Interpretation von Gereon Becht-Jördens (Becht-Jördens 2017) sowie auf die ausführliche Zusammenfassung des Briefes bei Amherdt 2001, 223–228 verwiesen. Fascione 2019, 65 interpretiert die Darstellung Ragnahildas als Abbild der negativen Herrschaft Eurichs. Zu Euodius siehe: PLRE II, 421 f. unter Evodivs; Heinzelmann 1983 unter Evodius 2; Kaufmann 1995, 301; zu Ragnahilda siehe: PLRE II, 935; Heinzelmann 1983, 678; Amherdt 2001, 223. 65 Sidon. epist. 4,8,1. Die lange captatio des Briefes umfasst die Paragraphen 1 bis 4. Amherdt 2001, 224, 226: Er interpretiert, dass diese in der Tradition des Horaz stehen würde, speziell Hor. sat. 1–5. 66 Sidon. epist. 4,8,2. 67 Amherdt 2001, 225. 68 Sidon. epist. 4,8,5. 69 Sidon. epist. 4,8,5: […]  qui spatii plus praestitisti argentario quam poetae, cum procul dubio non te lateret intra officinam litteratorum carminis si quid incus metrica produxerit non minus forti et asprata lima poliri. „[…] weil Du dem Silberschmied mehr Zeit gewährt hast als dem Dichter; war es Dir doch zweifellos nicht verborgen, daß jedes Gedicht, das in der Werkstatt der Literaten auf dem Amboß des Metrums geschmiedet wurde, mit einer nicht weniger starken und rauen Feile geglättet werden muß.“ (Übersetzung Köhler 2014, 112).

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cum patre postque patrem. / felices lymphae, clausae quae luce metalli / (10) ora tamen dominae lucidiora fovent! / nam cum dignatur regina hinc tinguere vultus, / candor in argentum mittitur e facie. Nicht ist schöner als diese die Muschel, in welcher Cytheren führt übers Meer Triton, einst auf dem Rücken des Wals. Neige dein herrliches Haupt nur ein wenig, o Herrin, ich bitte, nimm dies kleine Geschenk, große Beschützerin, an. (5) Euodius, deinem Schützling, zeige dich huldvoll gewogen, machst du ihn groß, so wirst größer du selber noch sein. Möge, wie Vater, Schwieger und Gatte, dein Sohn einst als König teilen des Vaters Thron, später auch folgen ihm nach! Glücklich das Wasser, im glänzenden Leuchten des Silbers gefangen, (10) das unsrer Herrin Gesicht, heller noch leuchtend, erquickt. Wenn es der Königin damit beliebt, ihr Gesicht zu benetzen, fällt auf das Silber zurück von ihrem Antlitz ein Glanz. 70 Das von Sidonius komponierte Gedicht selbst sagt wenig über den Charakter oder die Persönlichkeit der Empfängerin aus. Es ist aber auch nicht, wie Gereon Becht-Jördens annimmt, lediglich auf die Erscheinung der Empfängerin gemünzt. 71 Mit Venus verglichen wird sie von Sidonius als große Beschützerin betitelt. Vor dem Hintergrund der Abneigung gegenüber dem visigotischen Anführer Eurich, der nach dem Tod Theoderichs II. die bestehenden Verträge mit dem römischen Kaiserhaus gebrochen und sich um eine gotische Expansion in Gallien bemüht hat, schreibt Sidonius im Epigramm dessen Frau die Rolle einer Beschützerin für die Bevölkerung und für die gallo-römische Aristokratie zu. Möglicherweise geschieht dies in der Hoffnung, dass ihr Verhalten sich positiv auf den Ehemann auswirken könne. Jedoch könnte Sidonius ebenso versucht haben, die Empfängerin mit dem Gedicht zu manipulieren, da er als Ansporn für die Unterstützung des Euodius vorgibt, dadurch das Ansehen seines Auftraggebers zu vergrößern. Die Unterstützung soll durch schmeichelnde Wünsche (der Sohn soll dem Vater als Anführer der Visigoten nachfolgen) sowie durch Bekundungen ihrer Schönheit erzielt werden, um so das Wohlwollen von Ragnahilda zu erlangen. 72 Allein der im Anschluss folgende Briefschluss lässt weitere Vermutungen zur Intention dieser Verse zu: Si tantum amore nostro teneris, ut scribere has nugas non erubescas, occule auctorem, de tua rectius parte securus. namque in foro tali sive Athenaeo plus charta vestra quam nostra scriptura laudabitur. 73 Wenn du mir so sehr zugeneigt bist, dass du dich nicht scheust, dieses Gedichtchen einzugravieren, dann verheimliche den Autor und sei über deinen aufrechten 70 Übersetzung Köhler 2014, 112 f. 71 Amherdt 2001, 227; Becht-Jördens 2017, 133. Bei dem Gedicht handelt es sich um ein elegisches Distichon in der Tradition von Claudian. 72 Amherdt 2001, 228. 73 Sidon. epist. 4,8,5.

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Teil ohne Sorge. Denn auf einem solchen Forum oder Athenäum wird mehr euer Schreibstoff als meine Aufschrift gelobt werden. Während das Briefende mit einer Bescheidenheitsfloskel des Sidonius beginnt, endet es mit einer versteckten Beleidigung des visigotischen Hofes in Toulouse, der sich hier hinter den Begriffen ‚Forum‘ und ‚Athenäum‘ verbirgt. 74 Sidonius bittet Euodius, ihn als Autor des Gedichtes zu verheimlichen. Augenscheinlich, weil sich Sidonius über das niedere Niveau seines Gedichtes, das er als nuga bezeichnet, schämt und der Freund es nur aufgrund ihrer großen Zuneigung zueinander auf der Silberschale anbringen lasse. In der Tat verbirgt sich hinter dieser petitio eine ernsthafte Beleidigung gegenüber dem visigotischen Königspaar sowie dem gesamten Hof. Sidonius hatte bereits im Paragraphen vor dem Gedicht eingeräumt, dass Euodius dem Schmied der Schale mehr Zeit als dem Poeten gegeben habe. Als ironische Bescheidenheitsfloskel getarnt, leitet Sidonius hier seine Beleidigung bereits ein. Denn in Toulouse finde sich nicht eine Person im Kreise Eurichs und Ragnahildas, die das Gedicht mehr schätze als den materiellen Wert der Schale. 75 Er wirft den Visigoten nicht nur Gier vor, sondern offenbart deren Ungebildetheit, da sie nicht fähig seien, das wertvolle Gut der Bildung, im Schreiben an Probus als Kostbarkeiten bezeichnet, zu ermessen. Dabei verwendet er für die Referenz auf den Hof in Toulouse traditionell römische Bildungsplätze, nämlich das Forum und das Athenäum, und verringert den eigentlichen materiellen Wert der Schale, indem er diese lediglich als charta (Beschreibstoff) bezeichnet. 76 Eine persönliche Beleidigung gegenüber Ragnahilda kann zwar durch das Briefende nicht negiert werden, sollte aber auch nicht postuliert werden. Sidonius richtet sein Gedicht an eine gesellschaftlich hochgestellte Frau, deren Funktion als Beschützerin und Mutter mit Schmeicheleien über ihre Schönheit abgerundet werden. Becht-Jördens geht davon aus, dass Sidonius sie als Barbarin bloßstellt, die dem Glanz des Silbers erliege und, von den „doppelbödigen Komplimenten“ geschmeichelt, „an der ihr gestellten Prüfung ihres Kunstverstandes und ihrer Tugend“ scheitere. 77 Es gibt jedoch keinen Grund, davon auszugehen, dass die Beleidigungen des Sidonius in erster Linie an Ragnahilda gerichtet waren. Es ist schwer zu entscheiden, ob Sidonius sie im Vergleich zu anderen Frauen negativer darstellt. 78 Vielmehr ist, besonders durch den Verweis auf Forum und Athenäum, davon auszugehen, dass Sidonius die visigotische Führungselite als solche angesprochen 74 Vgl. Kaufmann 1995, 125, der in diesem Briefschluss keine Beleidigung sieht. 75 So auch das Fazit von Anderson 1936/1965, Bd. 2, 95. 76 Amherdt 2001, 248 gibt zu bedenken, dass die Forschung relativ wenige Informationen über das Bildungsniveau am visigotischen Hof besitzen würde und daher eine Interpretation schwierig erscheint. Dem ist entgegenzusetzen, dass nicht die Realität in den Briefen im Vordergrund stand, sondern diese hinter literarischen Gemeinplätzen, Traditionen und Stereotypisierungen zurücktreten musste. 77 Becht-Jördens 2017, 133. 78 Sidonius hat bspw. nie die Bildung seiner eigenen Frau oder seiner Tochter thematisiert und im Schreiben an Bischof Pragmatius (Sidon. epist. 6,2) wird eine Frau in ihrer Funktion als Matrone gelobt. Gendergerechtigkeit kannte Sidonius nicht.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

hat. 79 Frank Kaufmann gibt zu bedenken, dass eine alternative Leseart des Briefes nicht völlig auszuschließen sei und Sidonius sich sorge, dass sein Gedichtlein dem hohen literarischen Anspruch des visigotischen Hofes nicht genüge. Durch die zentrale Stellung, die Sprache und Bildung in Sidonius’ Briefen als identitäts- und einheitsstiftende Zeichen der gallo-römischen Aristokratie einnehmen, und in Anbetracht der Tatsache, dass sie von Sidonius bewusst zur Abgrenzung gegenüber ,Anderen‘ im Allgemeinen, speziell jedoch auch gegenüber Barbaren 80 verwendet wurde, ist den alternativen Interpretationen von Frank Kaufmann zu widersprechen. 81 Erneut ist zu beachten, dass aus der Retrospektive nicht beurteilt werden kann, inwieweit der ursprüngliche Brief überarbeitet oder sogar ein neues Schreiben erfunden wurde, um diese Verse in die Briefsammlung aufzunehmen. Die Tatsache, dass dieses Schreiben und das Gedicht in dieser Form dem Leser präsentiert wurden, bedeutet, dass Sidonius dies genauso tradieren wollte, inklusive der verzögernden Einleitung über die schwierigen Umstände, die möglicherweise frei erfunden waren, um die Landschaft als narrativen Hintergrund dem Brief anzupassen. 82 Dieser Brief zeigt einmal mehr die Schwierigkeit, den allusiven Stil des Sidonius zu verstehen. Wird dieser Brief mit einer satirischen Bemerkung Sidonius’ über Ravenna, das er als Ort bezeichnet, in dem alles verdreht sei, verglichen, erscheint die Botschaft am Ende des Briefes an Euodius deutlicher: in qua palude indesinenter rerum omnium lege perversa muri cadunt aquae stant, turres fluunt 83 naves sedent, aegri deambulant medici iacent, algent balnea domicilia conflagrant, sitiunt vivi natant sepulti, vigilant fures dormiunt potestates, faenerantur clerici Syri psallunt, negotiatores militant, milites negotiantur, student pilae senes aleae iuvenes, armis eunuchi litteris foederati. 84

79 Becht-Jördens 2017, 136. 80 So bspw. in Sidon. epist. 5,5,3, in denen er den Burgundern Unbeweglichkeit sowohl im Körper als auch im Geist nachsagt. 81 Overwien 2009b, 96‒102 arbeitet heraus, wie wichtig Bildung war, um sich von den Goten zu unterscheiden, aber v. a. auch, um dadurch Widerstand zu leisten. 82 Dies bringt wiederum sein literarisches Können zum Vorschein. 83 Handschriftenfamilien L M P überliefern ventres fluunt. Für diese Passage sei eindringlich auf den Kommentar von Köhler 1995, 261–263 verwiesen. Helga Köhler spricht sich für die Leseart ventres, die sie in den „guten“ Handschriften LRNM nachgewiesen habe, aus Gründen der Peinlichkeit aus. Ihrer Meinung nach sei hier der medizinische Term für Durchfall von Sidonius gebraucht, um auf die ungesunde Gegend in Ravenna hinzuweisen. Türme würden ihrer Meinung nach keinen Sinn machen, da Bauwerke mit Mauern in dieser anarchischen Aufzählung bereits erwähnt worden sind (261). Allerdings macht, wenn Sidonius hier wirklich vom medizinischen Term des Durchfalls sprechen würde, die Stellung zwischen „Wassern“ und „Schiffen“ wenig Sinn, sondern würde eher direkt vor der Verkehrung von Kranken und Ärzten, Kalt und Heiß sowie Lebenden und Toten zu erwarten sein. 84 Sidon. epist. 1,8,2. Es wird der Lesung milites in den Hanschriften C, F und M gefolgt, die auch von Anderson präferiert wird.

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In diesem Sumpf sind die Gesetze aller Dinge unentwegt verdreht und Mauern fallen, Wasser stehen, Türme fließen, Schiffe sitzen fest, Kranke spazieren und Ärzte sind krank, Bäder sind kalt, Häuser verbrennen, die Lebenden dursten, die Toten schwimmen, Diebe sind wachsam, die Mächtigen schlafen, Kleriker vergeben Kredite und Syrer singen Psalmen, Kaufleute leisten Kriegsdienst, Soldaten verhandeln, 85 alte Männer widmen sich dem Ballspiel, junge Knaben dem Würfelspiel, Eunuchen den Waffen und Föderaten der Literatur. Dieses Asyndeton antithetischen Inhaltes endet als Höhepunkt der Verdrehung der Naturgesetze damit, dass Föderaten sich in Ravenna mit Literatur beschäftigen. Die Stellung am Ende der Aufzählung unterstreicht, wie sehr für Sidonius die Vorstellung von gebildeten Nicht-Römern, selbst wenn diese im römischen Dienst stehen, als Unmöglichkeit erscheint. Vor diesem Hintergrund bringt der Briefschluss an Euodius letzten Endes auf eine elegante Art und Weise noch einmal zum Ausdruck, dass die Visigoten eine ungebildete Gemeinschaft sind, die den Wert von Literatur nicht schätzen können, da dies Sidonius’ zufolge nicht ihrer Natur entspreche.  Ein letztes Beispiel für die Bezeichnung von und den Umgang mit ,Ungebildeten‘ stellt ein Schreiben an einen Aristokraten namens Philagrius dar, mit dem Sidonius keinen persönlichen Umgang hatte. 86 Daher begründet Sidonius den Anlass für das Schreiben gleich in den ersten Sätzen, wobei er nicht vergisst, den Adressaten lobend zu erwähnen. Er berichtet, dass bei einer Versammlung führender Männer die Sprache auf Philagrius gekommen sei und jeder der Anwesenden nur Gutes über dessen Persönlichkeit berichtet habe. Jedoch wurde das Gemüt des Sidonius erregt, als einige der Anwesenden, die Sidonius als „ungebildet“ bezeichnet, behaupteten, dass sie aufgrund der physischen Nähe Philagrius besser kennen würden als eine gebildete Person, die Philagrius nicht persönlich kenne. […] virum omnium litterarum vicinantibus rusticis quam institutis fieri remotioribus notiorem. 87 […] dass ein allseits gebildeter Mann den ungebildeten Nachbarn mehr vertraut sei als den entfernten Gebildeten.

85 Köhler 1995, 262 interpretiert die negotiatores als Mönche im Sinne von Soldaten Christi und im Gegensatz hierzu würden die eigentlichen Mönche Handel treiben. Würde jedoch ihrer Argumentation von ventres statt turres gefolgt werden, da Bauwerke bereits erwähnt waren, müssten diese konsequenterweise an dieser Stelle ebenfalls angebracht werden, da der geistliche Stand durch die vorher genannten Kleriker, die wuchernde Kredite anbieten, ebenfalls in der Aufzählung bereits berücksichtigt wurde, während die einfachen Soldaten noch fehlen. 86 Sidon. epist. 7,14. Zu Philagrius siehe: PLRE II, 873 f. unter Philagrivs 2; vgl. Heinzelmann 1983, 669 unter Philagrius 3. Er ist lediglich aus der Korrespondenz dieses Briefes bekannt. 87 Sidon. epist. 7,14,1. Der Brief wurde von van Waarden 2016, 121–167 kommentiert.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Sidonius erwiderte diesen, körperliche Nähe könne durch Vorstellungskraft und schriftlichen Austausch ersetzt werden. 88 Diese Erkenntnis teilt er in einem ausführlichen Schreiben, zum Teil wettkampfartiger Natur, 89 Philagrius mit. Für das Argument ist besonders der Übergang vom ersten zum zweiten Paragraphen, der der narratio des Briefes vorangestellt ist, bedeutsam. Sidonius unterscheidet in der Einleitung zwischen gebildeten und ungebildeten Menschen innerhalb der summi viri, folglich innerhalb der lokalen Führungsschicht. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass Sidonius die Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft nicht einfach durch Bildung, sondern durch herausragende Bildung definiert, die benötigt wird, um als vir litteratus oder institutus zu gelten. Kann dieses hohe Bildungsideal nicht erreicht werden, gehört diese Gruppe in den Augen des Sidonius zu den rustici sowie im schlimmsten Fall zu den barbari. 90 Jedoch wird nicht nur die Ungebildetheit an sich in dieser Epistel thematisiert, sondern auch das entsprechende Verhalten: […] et cum aliqui super hoc errore pervicaciter controversarentur (idiotarum siquidem est, sicut facile convinci, ita difficile compesci), constanter asserui […]. 91 […] und als diejenigen über diesen Irrtum stur Erörterungen anstellten (da dieses den Ungebildeten zu eigen ist, dass sie gleichsam so leicht zu widerlegen wie schwer zu bändigen sind), habe ich beständig erklärt […]. Die Annahme, eine Person durch physische Nähe besser zu kennen, obwohl jemand ihr geistig unterlegen ist, bezeichnet Sidonius als error und deren sture (pervicax) Erörterung sei ein typisches Verhalten von ungebildeten Menschen, die hier als idiotae bezeichnet werden. Der charakterlichen Sturheit der Ungebildeten stellt Sidonius weiterhin ein nicht akzeptables Verhalten bei. Denn in dem parallel konstruierten Einschub lässt Sidonius verlauten, dass ungebildete Menschen zwar leicht zu widerlegen, aber nur schwer zu bändigen (compescere) seien, was er der ruhigen und beständigen Art (constanter) seiner selbst direkt voranstellt, um den Unterschied zwischen einem vir litteratus und einem rusticus im aktiven Verhalten zu erläutern. Fassen wir zusammen: Durch die scientia litterarum grenzten sich Sidonius und seine ‚In-Group‘ von ,Anderen‘ ab. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese ,Anderen‘ der gleichen gesellschaftlichen Schicht, der breiten Volksmasse oder den nicht-römischen Bewohnern der Provinz angehörten. 92 Es gab Sidonius und seiner Gemeinschaft ein Gefühl kultu88 Sidon. epist. 7,14,2. 89 Dies ist besonders in den Absätzen 9 bis 12 zu finden. 90 Vgl. Sidon. epist. 4,17,2. Sidonius vertritt die Ansicht, dass das Idealbild des gallo-römischen Aristokraten durch die tägliche Lektüre gefestigt sein muss, da derjenige sich nur auf dieser Art von Ungebildeten unterscheiden könne. 91 Sidon. epist. 7,14,2. 92 Schwitter 2015, 84; Schipp 2014, 148; Eigler 2003, 120  f.; Sivan 1983, 129. Matthews 1989, 78: „[…]  the function of this culture was precisely to define and elite against the ordinary run of mankind.“; vgl. Brown 1992, 35. Zur Distinktion durch Bildung im spätantiken Gallien sei auf

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reller Überlegenheit, das durch die Darstellung der ,Anderen‘ in den Briefen als ungebildet nicht nur zum Vorschein kommt, sondern direkt angesprochen wird. 93 In der spätantiken Auffassung war der Mangel an Bildung nicht von der Vorstellung von Barbaren zu trennen. 94 Nichtsdestoweniger sind Stellen, in denen Sidonius Barbaren direkt als ungebildet bezeichnet, rar. Für Sidonius ist Bildung das letzte verbliebene Merkmal für einen Aristokraten, um einen Menschen einzuschätzen. Jedoch gibt es mehr als nur ein Merkmal, beispielsweise Verhalten und Erscheinung, um eine Person als Barbaren zu identifizieren. 5.1.2 Erscheinung und Aussehen Besonders dem äußeren Erscheinungsbild kommt bei der Abgrenzung zwischen ,Anderen‘ und der eigenen Gemeinschaft ein nicht zu unterschätzendes Gewicht zu. Das Erscheinungsbild wird in menschlichen Gesellschaften deshalb so hoch bewertet, da dieses als „Ausdrucksmittel von Identitäten und Alteritäten, von Ideen, Werten und Vorstellungssystemen, von Idealen und Aversionen“ zu betrachten ist und dadurch „politische, philosophische, religiöse, berufliche, ethnische und zahlreiche andere personale oder kollektive Zugehörigkeiten“ aufzeigt. 95 Der erste Eindruck einer Person, oftmals deren äußere Erscheinung, trägt maßgeblich dazu bei, ob diese Person als ,Anderer‘ wahrgenommen wird oder nicht. Direkt nach der sprachlichen Differenzierung zwischen Römer und Barbar ist im literarischen Diskurs deren Aussehen auffallend dominant. Die antiken Autoren scheinen darin übereinzustimmen, wie Barbaren rein äußerlich von einem Römer unterschieden werden können. 96 Dies ist in Sidonius’ wohl bekanntestem Brief an Agricola, seinen Schwager, ersichtlich. Sidonius berichtet über den visigotischen König Theoderich II., der (obwohl er selbst eher in zivilisierter Manier beschrieben wird) von einer Schar felltragender Männer umgeben ist: pellitorum turba satellitum ne absit. 97 Die felltragende Schar der Leibwächter ist immer anwesend und steht im Gegensatz zu Theoderich II., dessen Porträt im Brief mit seiner dignitas eingeleitet wird. Die visigotischen Wächter werden mit dem in der Literatur geläufigen habitus barbarus beschrieben und allein diese Indikation genügt, um dem Leser zu verdeutlichen, dass an dieser Stelle Barbaren beschrieben werden. 98 Denn die Fellbekleidung ist ein barbarisches Attribut, mit dessen Hilfe diese im literarischen

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die unlängst von Tabea Meurer und Veronika Egetenmeyr organisierte Konferenz Gallia Docta verwiesen (Goldmann/Stähle 2021). Becht-Jördens 2017, 134, 137; Everschor 2007, 209. Goltz 2002, 298. Von Rummel 2007, 1. D.S. 5,28–32; Amm. 31,2,2.3.5.6; Ennod. carm. 2,57–59. Ferner sei die Diskussion um Kleidung und Aussehen von Barbaren bei Liebeschuetz 2015, 151–164; von Rummel 2010; 2007, passim, bes. 97–196 (Diskussion der Schriftquellen) zu beachten. Sidon. epist. 1,2,4. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem sogenannten habitus barbarus sei auf Eger 2015, Liebeschuetz 2015 und von Rummel 2007 verwiesen.

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Diskurs traditionell dargestellt wurden. Beispielsweise überliefert Tacitus: gerunt ferarum pelles. – „Sie tragen die Felle von wilden Tieren.“ 99 Des Weiteren ist dieses Merkmal neben den Schriftquellen einer der wichtigsten Marker für den bildlichen Diskurs, um Barbaren eindeutig als ,Andere‘ zu klassifizieren. Dennoch unterstreicht Philipp von Rummel richtigerweise, dass sowohl im literarischen als auch im Bildprogramm der Kontext miteinbezogen werden muss, um aus den Fellträgern weitere Erkenntnisse zu gewinnen. 100 Es besteht, besonders im militärischen Kontext, durchaus die Möglichkeit, dass diese Bekleidungsstücke auch von römischer Seite genutzt wurden. 101 Um auf die Beschreibung in der Theoderichdarstellung zurückzukommen, kann kein voreiliges Urteil über die Charakterisierung der Leibgarde desselben durch Sidonius gefällt werden. Einserseits wurde aufgrund dieser Beschreibung versucht, den ganzen Brief als Satire auf den visigotischen Anführer darzustellen, 102 andererseits wurde die Stelle als neutrale Beschreibung der Leibgarde interpretiert, die nicht negativ auf Theoderich II. abfärben sollte. 103 Denn während lediglich ein Gefährte in Waffen neben Theoderich II. zu finden ist, muss die felltragende Schar vor der Tür warten, damit sie nicht stört: circumsistit sellam comes armiger; pellitorum turba satellitum ne absit, admittitur, ne obstrepat, eliminatur, sicque pro foribus immurmurat exclusa velis, inclusa cancellis. 104 Um die sella herum stehen bewaffnete comites; die felltragende Leibwache fehlt nicht und wurde, damit sie nicht stört, vor der Schwelle zugelassen. Auf diese Weise murren sie vor den Türen, durch einen Vorhang aus- und durch Schranken eingeschlossen. Hätte ein Bittsteller diese überhaupt zu Gesicht bekommen? Es bleibt die Frage, weshalb Sidonius die Leibgarde Theoderichs in die, wie sich noch in Kapitel 6.1 zeigen wird, sonst positive Darstellung einbezieht. Bei der Leibgarde handelt es sich um einen militärischen Kontext. Es werden Männer beschrieben, die einem nicht-römischen rex unterstellt sind. Obgleich die ‚Lebenswelt‘, der Theoderich II. eigentlich angehört, dargestellt wird, baut Sidonius literarisch eine Grenze zwischen dem nicht-römischen Anführer und seinen barbarischen Söldnern auf, die noch dazu ein schlechtes Verhalten – nämlich das Murren – an den Tag legen. 105

99 Tac. Germ. 17,2; bei Sidonius ferner zu finden in carm. 5,562 f.; 7,219; 7,349; 7,456; epist. 7,9,19. Siehe hierzu auch: Kapitel 1.5.2. 100 Von Rummel 2007, 205 f. Zu den pelliti auf spätantiken Bilddarstellungen siehe: von Rummel 2007, 199–206. 101 Amory 1997, 343. 102 Beispielsweise Kitchen 2010, 60. 103 Siehe hierzu stellvertretend: Stadermann 2017, 85; von Rummel 2007, 167; Kaufmann 1995, 116. 104 Sidon. epist. 1,2,4. 105 Köhler 2014, 6 übersetzt immurmurare als Rumoren der Leibwache vor der Tür, die aufgrund ihres störenden Lärmes dort zu finden wäre.

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Eine ähnliche Darstellung einer herausragenden Persönlichkeit, die von einer barbarisch erscheinenden Schar umgeben wird, findet sich in der an Domnicius gerichteten Epistel 4,20. 106 Für diesen beschreibt Sidonius ausführlich den Hochzeitszug eines nichtrömischen Aristokraten namens Sigismer, weil Domnicius sich so sehr für Waffen und bewaffnete Männer begeistere. 107 In diesem Brief wird die Ankunft des jungen Anführers Sigismer bei seinem Schwiegervater beschrieben. 108 In der Forschung wird angenommen, dass es sich bei diesem um einen Franken handle, der am burgundischen Königshof in Lyon angekommen sei. 109 Indes erwähnt Sidonius weder eine gentile Zugehörigkeit Sigismers, noch gibt er einen Hinweis auf die Person des zukünftigen Schwiegervaters, wohl weil er davon ausging, dass seine Leser den Kontext kannten. Es wird weiterhin vermutet, dass Sidonius das Geschehene mit eigenen Augen verfolgt habe, was weder bewiesen noch negiert werden kann. 110 An dieser Stelle wird auf den Teil der narratio eingegangen werden, der dem Gefolge Sigismers gewidmet ist und durch ein gegensätzliches autem eingeleitet wird: regulorum autem sociorumque comitantum forma et in pace terribilis; quorum pedes primi perone saetoso talos adusque vinciebantur; genua crura suraeque sine tegmine; praeter hoc vestis alta stricta versicolor vix appropinquans poplitibus exertis; manicae sola brachiorum principia velantes; viridantia saga limbis marginata puniceis; penduli ex umero gladii balteis supercurrentibus strinxerant clausa bullatis latera rhenonibus. 111 Aber die Erscheinung der jungen Anführer und ihrer sie begleitenden Gefährten war selbst im Frieden Furcht erregend; ihre Füße waren von den Zehen bis hin zum Knöchel von rohen borstigen Lederschuhen geschützt; Knie, Schienbeine und Waden waren ohne Bedeckung; darüber trugen sie bunte Gewänder, die hoch geschnürt waren und sich kaum der Kniekehle näherten, die sichtbar war; die Ärmel verhüllten allein die beginnenden Glieder der Arme; die Mäntel waren grün und mit purpurroten Säumen versehen; die Schwerter, die von der Schulter mit 106 Diese Lesung beruht auf den Textzeugen C und einem Vergleich mit 5,17,6, indem Domnicius von Sidonius als frater meus bezeichnet wird, dort allerdings mit der Lesung Domnitius in der Handschriftenfamilie C; siehe Mascoli 2021, 179; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 155. Die Handschriftenfamilien M und T überliefern für Epistel 4,20 Domnitius. Dieser Lesung folgt die Edition von Lüthjohann, der dann allerdings in epist. 5,17,6 „Domnicius“ liest. Zur Person des Domnicius siehe: Heinzelmann 1983, 592; vgl. PLRE II, 372. 107 Sidon. epist. 4,20,1: Tu cui frequenter arma et armatos inspicere iucundum est […]. Hiermit wird die captatio des Briefes eingeleitet. Diese wird von Amherdt 2001, 422 sogar als captatio benevolentiae klassifiziert. Diese fallen jedoch in der Regel bei Sidonius lobender aus und allein die Anmerkung, dass sich der Adressat so sehr für Waffen interessiere, ist nicht als Lob, sondern vielmehr als Feststellung zu sehen. 108 Von Rummel 2007, 172. Amherdt 2001, 423 weist auf die Parallelen zu Amm. 16,10,7 f. hin, wo eine Beschreibung von der Ankunft des Constantius II. in Rom zu finden ist. 109 Amherdt 2001, 422 f.; Harries 1996, 35; Kaufmann 1995, 159; ferner: Zöllner 1970, 241. 110 Von Rummel 2007, 172; Amherdt 2001, 421. 111 Sidon. epist. 4,20,2.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

einem Gürtel übergehängt waren, berührten die Flanken, die mit einem ledernen, mit Nägeln versehenen Gürtel umschlossen waren. Die Gruppe, die Sigismer umgab, wirkt selbst in Friedenszeiten noch schrecklich und wird von Sidonius mit barbarischen Stereotypen wie der Fellkleidung beschrieben. 112 Dabei waren die Extremitäten ihres Körpers unbekleidet, was Sidonius als erwähnenswert empfindet. Diese Beschreibung ähnelt sehr der Darstellung des visigotischen Ältestenrates im Panegyrikus auf Avitus, dessen Kleidung ebenfalls über dem Knie endete und der ebenfalls geschnürte Lederstiefel trug. 113 Frank Kaufmann sieht insbesondere eine Parallele zu carm. 5,243–245, da die Kleidung an beiden Stellen als vestis stricta und über den Knien endend beschrieben wird. Er sieht darin ferner einen Beleg, dass es sich bei Sigismer um einen Franken handeln müsse. 114 Lediglich der Teilstamm sei aufgrund kleinerer Widersprüche in den Gedichten unklar, wo Franken mal als mutig und mal als Feiglinge beschrieben würden. Kaufmann erklärt sich dies damit, dass Sidonius in carm. 5,223 die salischen Franken als flüchtenden Feind darstelle, während die Identität des Teilstammes in carm. 5,238–253 sowie in epist. 4,20,1–3 nicht erkennbar sei. 115 Allein der Vergleich der beiden Textstellen lässt kein Urteil über eine gentile Gruppenzugehörigkeit zu –  weder für Sigismer noch für die begleitenden Männer. Vielmehr lässt sich durch einen Vergleich von epist. 2,20,2 mit carm. 5,243–245 sowie carm. 7,454–457 zeigen, dass Sidonius die Kleidung nicht-römischer Gruppierungen als Topos einsetzt, um deren Andersartigkeit darzustellen. Tab. 2: Kleidung als Topos epist. 4,20,2

carm. 5,243–245

carm. 7,454–457

[…] perone saetoso talos adusque vinciebantur […]

/

[…] peronem pauper nodus suspendit equinum […]

[…] vestis alta stricta versicolor […]

[…] strictius assutae vestes […]

[…] squalent vestes […]

[…] poplitibus exertis […] 

[…] altato tegmine poples  […]

[…] poplite nudo […]

Die ähnliche Wortwahl und Beschreibung der Kleidung zeigt den traditionellen Diskurs, der je nach Intention der Botschaft mit negativen, neutralen oder positiven Attributen ausgestaltet werden konnte. Frank Kaufmann zieht als weitere Begründung seiner Argumentation die beschriebene Bewaffnung der Gruppe heran: 112 Zur Fußbekleidung der perones siehe Müller 2013, 498, die festhielt, dass ein pero zwar kein eleganter römischer Schuh sei, aber auch nicht spezifisch barbarisch eingestuft werden könne. 113 Sidon. carm. 7,454‒457. 114 Kaufmann 1995, 159. Diese Ansicht geht vermutlich auf Loyen 1960/1970, Bd. 2, xl zurück, der dieselbe Feststellung machte. 115 Kaufmann 1995, 159.

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Stereotypisierung von Barbaren

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eo quo comebantur ornatu muniebantur; lanceis uncatis securibusque missibilibus dextrae refertae clipeis laevam partem adumbrantibus, quorum lux in orbibus nivea, fulva in umbonibus ita censum prodebat ut studium. cuncta prorsus huiusmodi, ut in actione thalamorum non appareret minor Martis pompa quam Veneris. 116 Diese Ausrüstung schmückte und schützte sie zugleich. Lanzen mit Widerhaken und Wurfäxte lagen in ihren rechten Händen; ihre linken Hüften waren mit Schilden geschützt, deren Glanz –  silberweiß an den Rändern, goldgelb an den Schildbuckeln in der Mitte – sowohl den Reichtum als auch die Leidenschaft ihrer Träger verriet. Der ganze Eindruck war so, daß sich in dem Hochzeitsspiel nicht weniger das Gepränge des Mars als der Venus zeigte. 117 Die Waffen, die offensichtlich Teil einer Paradeausrüstung zu Repräsentationszwecken waren, werden von Kaufmann als Inventar fränkischer Gräber erkannt. Daraus folgert er, dass es sich bei der Gruppe im Schreiben an Domnicius um mittelrheinische Franken handele. 118 Ausführlich mit der Beschreibung der Waffen im Vergleich zum archäologischen Fundgut hat sich Philip von Rummel beschäftigt. 119 Obwohl er nach einem Abgleich der Lanzen und Wurfäxte deren fränkischen Ursprung als wahrscheinlich erachtet, müsse dennoch eine „fränkische Stammeszugehörigkeit Sigismers und seiner Leute“ als unsicher gelten, da eine Verbreitung der Grabfunde nur bedingt auf den tatsächlichen Nutzungsraum schließen lasse. 120 Jill Harries erkennt in der eingehenden Beschreibung der Bewaffnung einen verdeckten Hinweis auf die zahlreichen Plünderungen, die den Barbaren ihrer Meinung nach zu Reichtum verhalf. 121 Einen Beleg hierfür gibt es nicht, da Sidonius sich an keiner Stelle bezüglich der gens oder der gentes, die an diesem Zug beteiligt waren, äußert. Lediglich die stereotypisierte Beschreibung des Erscheinungsbildes, die jedoch aufs Notwendigste reduziert ist und durch die Charakterisierung terribilis eingeführt wird, gibt Hinweise darauf, dass Sidonius diese Menschen als Barbaren wahrgenommen hat. Aus dieser Annahme ergeben sich zwei Fragen: 1.  Hat Sidonius eine nähere Bezeichnung bezüglich möglicher Gruppenzugehörigkeiten weggelassen, da sie ihm als überflüssig erschien? 2. Wäre Sidonius durch das Erscheinungsbild allein gar nicht in der Lage gewesen, einen Goten von einem Franken, von einem Burgunder oder Sachsen zu unterscheiden? Außer Sigismer war dem Sidonius niemand in dieser Gruppierung bekannt. Sie waren alle Fremde. Selbst bei der Person des Sigismer muss offenbleiben, ob Sidonius wirklich persönlichen Kontakt zu diesem hatte oder lediglich aufgrund der dominanten Stellung und der aus der Masse herausstechenden äußeren 116 117 118 119 120

Sidon. epist. 4,20,3. Kaufmann 1995, 158. Kaufmann 1995, 159 f. Von Rummel 2007, 174–179. Von Rummel 2007, 179. Weiterhin ist Philipp von Rummel nicht überzeugt, dass die von Sidonius erwähnte lancae uncatae mit archäologischen Ango-Funden ohne Zweifel übereinstimmen würde. 121 Harries 1996, 36.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Erscheinung wusste, welcher der Fremden Sigismer war. An dieser Stelle sei unterstützend von Rummel zitiert, der sich im Zusammenhang der Darstellung von Goten im Avitus-Panegyrikus folgendermaßen äußert: Sidonius hat hier wieder ein literarisches Barbarenbild verwendet, mit dem er einen zivilisatorischen Unterschied zwischen Goten und Römern, unabhängig von dessen Realitätsnähe explizit deutlich zum Ausdruck bringen und Avitus entsprechend kontrastieren konnte. Das archäologische Bild im westgotischen-tolosanischen Siedlungsgebiet, das beim derzeitigen Forschungsstand keine eigenständige westgotische Sachkultur erkennen läßt, deutet darauf hin, daß sich ein zivilisatorisches Gefälle zwischen Goten und Römern, so es denn überhaupt bestanden hat, auf Ebenen abspielt, die archäologisch nicht nachvollziehbar sind. 122 In der Tat sollten literarische Beschreibungen, wie die des Sidonius, weniger auf deren ,Realitätsgehalt‘ untersucht werden, als vielmehr in ihrer Funktion für den Verfasser und Leser dieser Beschreibungen. Die Frage, ob Sidonius den Zug mit eigenen Augen gesehen hat oder seine Beschreibung als fiktiv zu erachten ist, ist für die Frage nach seiner Wahrnehmung und Darstellung von ,Anderen‘ nicht relevant. Für die Beschreibung hat Sidonius auf literarische Vorbilder zurückgegriffen, was die wiederkehrende Nutzung von äußeren Merkmalen in den Briefen und Gedichten unterstreicht. Die in diesem Brief beschriebenen Männer gehören alle dem militärischen Bereich, durch Bewaffnung und Bekleidung kenntlich gemacht, an. Die Parallelen in der Beschreibung des Aussehens in den Panegyrici auf Avitus und Maiorian lassen darauf schließen, dass Sidonius Angehörige der neuen militärischen Elite in Gallien beschreibt, die sich weitestgehend aus Föderaten zusammensetzte. Selbst die Art und Weise, wie deren Bekleidung (poplites exerti; vestes strictae, perones saetosi) und Bewaffnung, vom Schwertgürtel über die Lanze bis hin zum Schild, dargestellt wird, lässt nicht folgern, dass Sidonius sie als Barbaren wahrnahm. 123 Allein die Charakterisierung der Gefolgschaft als terribilis im Zusammenhang mit dem Hinweis zu Beginn des Briefes, dass Sigismer ritus atque cultus 124 entsprechend gekleidet war, sowie dem Wissen, dass Sidonius so bekleidete Menschen in den Panegyrici als Monster bezeichnete 125 beziehungsweise die Goten als Barbaren und Wölfe 126, lässt erkennen, dass Sidonius traditionellen literarischen Diskursen folgte, um Barbaren zu beschreiben. Besonders die Kleidung mit dem Fokus auf Fellen und Tierhäuten scheint für ihn ein Erkennungsmerkmal für Barbaren zu sein. Dies ist ferner in seinem Schreiben an Thaumastus (vermutlich ein Onkel des Sidonius) ersichtlich, indem er ihn über den Fortgang der Vorwürfe gegen seinen Bruder Apollinaris am burgundischen Herrscherhof 122 123 124 125 126

Von Rummel 2007, 169. Von Rummel 2007, 181. Sidon. epist. 4,20,1. Sidon. carm. 5,238. Sidon. carm. 7,361–363.

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unterrichtet. 127 Diese Vorwürfe basierten nach Sidonius auf intriganten Gerüchten, die durch eine barbarische Schar oder militärische Ruchlosigkeit in Umlauf gebracht worden seien. 128 Das barbarische Verhalten der Denunzianten beschreibt er sehr ausführlich. Dabei tritt u. a. ihre unpassende Kleidung bei verschiedenen Anlässen in Erscheinung: […] nam libenter incedunt armati ad epulas, albati ad exsequias, pelliti ad ecclesias, pullati ad nuptias, castorinati ad litanias. 129 […] denn freudig schreiten sie bewaffnet zu Mahlzeiten, weiß gekleidet zu Bestattungen, mit Fellen bekleidet in Kirchen, schwarz gekleidet zu Hochzeiten und mit Biberfellen bekleidet zu öffentlichen Anbetungen. Wieder wird die für Sidonius typische parallele Aneinanderreihung von Verstößen gegen die aristokratische Kleiderordnung gefunden. Die Unstimmigkeit des Erscheinungsbildes wird durch das einleitende Adverb libenter noch gesteigert. Denn nicht nur kleiden sich diese Menschen, die bereits im vorangestellten Brief in der Sammlung als Barbaren charakterisiert werden, falsch, sondern sie tun dies mit Freude, fast schon mit Stolz. Die richtige Kleidung für einen gallo-römischen Aristokraten wäre das entsprechende Gegenteil der hier beschriebenen. Besonders interessant ist in dieser Passage die erneut in Erscheinung tretende Fellbekleidung, die in dieser asyndetischen Aufzählung gleich zweimal zur Sprache kommt. Einmal benennt Sidonius schwarze und weiße Kleidung, mit der er sprachlich einen farblichen Kontrast schafft (albatus  – pellitus  – pullatus), wobei besonders die Alliteration von pellitus und pullatus eine Gleichsetzung der schwarzen Farbe mit den Fellen erzeugt. Gleichzeitig erzielt er einen Gegensatz zum Weißen, zur Reinheit der gallo-römischen Aristokratie, die von Barbaren beschmutzt wird. Den abschließenden Höhepunkt der Aufzählung stellen die Biberfelle dar, die von diesen Personen sogar zu Anbetungen (beispielsweise bei Prozessionen oder öffentlichen Litaneien) getragen wurden. Sidonius weist in der vorausgehenden Epistel 5,6 darauf hin, dass diese Gerüchte von Militärangehörigen oder Barbaren in Umlauf gebracht wurden. Allerdings waren Fellmäntel als Teil des spätantiken Heerwesens üblich und weit verbreitet. 130 Demzufolge könnten die Biberfelle Teil einer Uniform gewesen sein. Diese können sogar als Kleidungsstück für aristokratische Bischöfe nicht ausgeschlossen werden, da Ambrosius in seiner Abhandlung über die Würde der Priester kritisiert, dass Bischöfe eben diese aus Eitelkeitsgründen trügen. 131 Es scheint folglich, dass weniger die Kleidung 127 Sidon. epist. 5,7. Zu den Vorwürfen gegenüber Apollinaris, dem Onkel des Sidonius und Bruder des Thaumastus siehe: Sidon. 5,6. Zur Person des Thaumastus sei auf Heinzelmann 1983, 792 unter Thaumastus 1 sowie auf PLRE II, 1062 verwiesen; siehe ferner: Giulietti 2014, 109–111. 128 Sidon. epist. 5,6,1: timebat enim verebaturque, ne quam tibi calumniam turbo barbaricus aut militaris concinnaret improbitas. „Er fürchtete nämlich sehr, dass irgendein barbarischer Sturm oder die Unredlichkeit eines Militärs gegen dich eine Intrige stifte.“ 129 Sidon. epist. 5,7,4. 130 Von Rummel 2007, 153 f. 131 Ps. Ambr. dign. sacerd. 4.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

selbst einen Barbaren ausmacht, als vielmehr die Umstände, wann und wo diese getragen wird, auf ein barbarisches Verhalten schließen lassen. Dies deutet in erster Linie auf ein Verhalten entgegen aristokratischer Norm. Die letzte Referenz von Sidonius zu felltragenden Menschen findet sich im siebten Buch der Briefesammlung, in dem bereits vorgestellten Schreiben an Bischof Perpetuus bezüglich der Kandidatur des Simplicius als zukünftigem Bischof von Bourges. 132 Für das Bischofsamt in Gallien dieser Zeit schien diplomatisches Geschick gefragt gewesen zu sein, weshalb Sidonius in seiner Rede für Simplicius darauf hinweist, dass dieser bereits Erfahrungen als Teil von Gesandtschaften habe: si necessitas arripiendae legationis incubuit, non ille semel pro hac civitate stetit vel ante pellitos reges vel ante principes purpuratos. 133 Wenn es notwendig war, eine Gesandtschaft zu übernehmen, präsentierte er die Bürgerschaft öfters, teils vor felltragenden Anführern, teils vor purpurtragenden Herrschern. Die felltragenden Anführer stehen als chiastisches Oxymoron (pellitos reges  – principes purpuratos) in direktem Gegensatz zu den römischen Herrschern, die nach traditioneller Art in Purpur gekleidet waren. Durch diesen Gegensatz wird der Eindruck gestärkt, dass Sidonius die felltragenden Anführer als barbarisch wahrnimmt. Ein Eindruck, der durch den nachfolgenden Briefparagraphen belegt werden kann, in dem Sidonius von der Festsetzung des Simplicius in einem „barbarischen Gefängnis“ berichtet, aus welchem er mit der Hilfe Gottes entkommen konnte. 134 Dieser barbaricus carcer ist eine Komplementierung der pelliti reges, deren barbarische Charakterisierung damit direkt zur Sprache kommt. Diese kleine Phrase zeigt, dass Sidonius romanitas auch durch eine Gegenüberstellung von Kleidungsstilen konstruiert und inszeniert. Neben der Kleidung kommt er besonders in seiner Dichtung, auf Haare, Augen und Größe von Angehörigen nicht-römischer gentes zu sprechen, die er traditionsgemäß mit stereotypen Darstellungsmerkmalen für Barbaren belegt. So beschreibt er in dem sogenannten Panegyrikus auf Eurich (epist.  8,9 an Lampridius) die Sachsen als blauäugig und mit bis auf die Kopfhaut geschorenen Haaren, was ihnen zu einem größeren Antlitz verholfen habe. Ebenso wie die Sachsen seien auch die Sigambrer 135 geschoren, was jedoch 132 Sidon. epist. 7,9. Für den Inhalt des siebten Buches sei auf die Zusammenfassung im Kommentar von van Waarden 2010, 41–44 verwiesen. 133 Sidon. epist. 7,9,19. 134 Sidon. epist. 7,9,20: postremo iste est ille, carissimi, cui in tenebris ergastularibus constituto multipliciter obserata barbarici carceris divinitus claustra patuerunt. „Zuletzt ist er derjenige, ihr Geliebten, dem sich, als er in der Finsternis des Kerkers saß, die vielfach gesicherten Riegel eines Barbarengefängnisses durch göttliches Wirken auftaten.“ (Übersetzung nach Köhler 2014, 224); Rouche 1979, 40. 135 Mit dem sygambrischen Veteranen sei im Gedicht auf einen fränkischen Gefangenen verwiesen, siehe: Köhler 2014, 263.

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auf die kriegerische Niederlage zurückzuführen sei, da sie ihre Haare nun wieder wachsen ließen. Die Heruler hätten graue Augen und die Burgunder seien sieben Fuß groß: 136 istic Saxona caerulum videmus / assuetum ante salo solum timere; / cuius verticis extimas per oras / non contenta suos tenere morsus / (25) altat lammina marginem comarum, / et sic crinibus ad cutem recisis / decrescit caput additurque vultus. / hic tonso occipiti, senex Sygamber, / postquam victus es, elicis retrorsum / (30) cervicem ad veterem novos capillos. / hic glaucis Herulus genis vagatur, / imos Oceani colens recessus / algoso prope concolor profundo. / hic Burgundio septipes frequenter / (35) flexo poplite supplicat quietem. 137 Den blauäugigen Sachsen sieht man hier das Festland fürchten statt der vertrauten Salzflut; seines Haupthaares Grenze zieht das Scherblatt, nicht zufrieden damit, den Biß zu zügeln, (25)  immer weiter zurück; der Rand der Haare, die hinunter bis auf die Haut geschoren, macht ihm kleiner das Haupt, doch groß das Antlitz. Du, sygambrischer Greis, bist auch geschoren nach dem Sieg, doch es wächst das Haar dir wieder, (30) und den ältlichen Hals umwallt’s aufs Neue. Hier auch streift der Heruler, grau das Auge, der ganz draußen am Meer verborgen wohnend in der Farbe fast gleicht dem Gras der Tiefe. Hier beugt oft der Burgunder, sieben Fuß groß, Frieden bittend sein Knie, demütig flehend. 138 An dieser Stelle hat es der Leser mit einem anderen Genre, mit anderen Regeln und Gesetzen zu tun. Es ist unwahrscheinlich, dass Sidonius in der Tat auf dem Aussehen basierend einen Franken von einem Sachsen, von einem Burgunder oder Goten, ja, vermutlich noch nicht einmal von einem römischen Soldaten oder Bauern hätte unterscheiden können. 139 Er verwendet diese traditionellen Stereotypen, um mit ihnen das 136 Letzteres behauptet Sidonius auch in carm. 12,10 f. Zur Bedeutung der Augenfarbe von Sachsen und Herulern als Verbindungsmerkmal zur See siehe: Fascione 2019, 27–29. 137 Sidon. epist. 8,9,5, V 21–35. 138 Übersetzung nach Köhler 2014, 263 f. 139 Dem widerspricht Liebeschuetz 2015, 155, der bereits von Rummel 2007 (besonders hinsichtlich der Beobachtungen zu Fellträgern) kritisiert, das Offensichtliche zu ignorieren, das seiner Meinung nach die Schlussfolgerung sei: „[…] that if a man wore skin based clothing he was more likely to be a Goth than a Roman […].“ Es soll John H. W. G Liebeschuetz nicht vollständig widersprochen werden, da jedes Gerücht, jede Stereotypisierung auf einen Ursprung zurückzuführen ist. Dennoch stellt sich meines  Erachtens die Frage, wann und wo nach so langem kulturellen Kontakt und gegenseitiger Beeinflussung, die literarischen Diskurse anfangen und aufhören. Können wir wirklich sicher sein, dass sich die gallische Bevölkerung im 5. Jahrhundert aufgrund ihrer Kleidung in Römer und Nicht-Römer einteilen lassen würde? Speziell zu Sidonius folgert Liebeschuetz 2015, 158 nach einer Betrachtung von Sidon. epist. 1,2; 4,20; carm.  7 und  carm. 12 (156–158): „In neither case is he at all likely to have simply repeated literary stereotypes.“ Er drückt seine Bedenken aus (162–164), dass aufgrund des Assimilierungsgedankens der Barbaren die Forschung ihre Augen für die Erhaltung derer Traditionen und Identitäten, derer Unterschiedlichkeit gegenüber der römischen Bevölkerung wäre. Ich denke nicht, dass die Forschung

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Narrativ seiner Gedichte und Briefe auszuschmücken. Auffallend ist dabei, dass nicht das Aussehen oder die Erscheinung von Barbaren grundlegend thematisiert werden, sondern besonders der geschilderte Kontext miteinbezogen werden muss, um Erkenntnisse bezüglich seiner Wahrnehmung gewinnen zu können. 140 5.1.3 Verhalten und Charakter Nachdem das äußere Erscheinungsbild der Barbaren betrachtet wurde, folgt nun eine Analyse typischer bei Sidonius dargestellter Verhaltensformen und Charakteristika. Dabei soll das Verhalten von gentilen Gruppierungen, die Sidonius als barbarisch wahrnimmt und die er stereotypisiert (z. B. wild, verräterisch, gewalttätig), untersucht werden. Er bietet in seinem Schreiben an Vincentius, in dem er über den Fall des Arvandus berichtet, eine erste Definition barbarischen Verhaltens: me et Auxanium, praestantissimum virum, tractatus iste non latuit, qui Arvandi amicitias quoquo genere incursas inter ipsius adversa vitare perfidum barbarum ignavum computabamus. 141 Mir und Auxanius, einem sehr vortrefflichen Mann, blieb diese Verhandlung nicht verborgen, aber die Freundschaft mit Arvandus, durch welche Art und Weise auch immer diese entstanden war, unter diesen unmittelbaren Widrigkeiten zu meiden, erschien uns als verräterisch, als barbarisch und als feige. Die Adjektive, die Sidonius einem barbarischen Verhalten an die Seite stellt und dadurch definiert, sind perfidus und ignavus. Barbarisches Verhalten allgemein wird von ihm somit durch Verrat und Feigheit charakterisiert. Er erachtet es als barbarisch, eine Freundschaft aufzugeben, und postuliert dadurch indirekt, dass amicitia für ihn als eines der höchsten aristokratischen Güter anzusehen ist. Im Kontext dieses Schreibens rechtfertigt Sidonius sein eigenes Verhalten während des Arvandus-Prozesses und vermittelt seinen Lesern das Bild eines treuen Aristokraten, dem Freundschaft wichtiger als Politik ist, auch wenn er erkennt, dass das Verhalten des Freundes falsch ist, was Sidonius durch eine Erkrankung des Arvandus zu erklären versucht. Arvandus sei wahnsinnig und behaupte daher,

hierfür die Augen verschließt, und unterstreicht sogar die Annahme von Liebeschuetz, dass eigene Traditionen erhalten wurden. Allerdings gehe ich, wie im theoretischen Teil dargelegt, auch davon aus, dass Traditionen angepasst und neu erfunden werden können und dadurch auch nicht die eine ,Identität‘ existieren kann. Es wird auch nicht davon ausgegangen, dass ausschließlich nichtrömische Gruppierungen Kleidung, Essgewohnheiten oder Verhalten der römischen Bevölkerung übernommen habe; denn der kulturelle Kontakt zwischen zwei unterschiedlichen Gruppierungen ist eben keine Einbahnstraße. 140 Dem entgegen Köhler 1995, 141, die pellitus als Synonym für barbarus betrachtet. 141 Sidon. epist. 1,7,6.

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Sidonius sei seiner Vorfahren nicht würdig. 142 Sidonius nützt dies in geschickter Weise, um auf die Ämter seiner Vorfahren hinzuweisen und um ein Bild seiner selbst als Aristokrat zu konstruieren, der lediglich seinem Freund beisteht, ohne in dessen Schandtaten verwickelt zu sein. Er versucht, über indirekte Verweise den Leser zu überzeugen, dass er, Sidonius, alles andere als ein Barbar ist, da er von guter Abstammung sowie absolut loyal und mutig sei, denn die Freundschaft mit einem zum Tode Verurteilten kann durchaus als mutig bezeichnet werden. Doch wie müssen sich für Sidonius Fremde verhalten, um als Barbaren wahrgenommen zu werden? Den ersten Hinweis auf barbarisches Verhalten liefert Sidonius zeitgleich mit der Erwähnung ihrer Felltracht bei der Beschreibung von Theoderichs II. Leibwache: Diese muss, weil ihr Verhalten von Sidonius als störend erachtet wird, vor den Türen warten und murren. 143 Die nächsten Hinweise bringt er in einem Schreiben an Avitus 144, den er darum bittet, Clermont bei den Verhandlungen mit den Goten zu schützen. Es handelt sich um den ersten Brief des dritten Buches, der sowohl privater als auch politischer Natur ist und besonders die Stellung der Arverner während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Visigoten offenlegt. 145 Nach der salutatio referiert Sidonius in der captatio die lebensweltlichen Gemeinsamkeiten des Briefschreibers und des Adressaten, die sich von Kindheit an kannten und nicht nur miteinander verwandt, sondern auch freundschaftlich verbunden waren. 146 Während Sidonius in der narratio die Taten des Empfängers für Clermont, für das Sidonius sich in dieser Epistel bereits als Bischof beschreibt, auflistet, führt er dadurch den Leser auf eine listige Weise bereits emotional auf den eigentlichen Anlass des Briefes hin: die petitio. 147 Aufgrund seines ererbten Besitzes soll sich Avitus verpflichtet fühlen, die Stadt zu schützen. Welche Art von Schutz das ist, soll Avitus bei einem Besuch seines Gutes selbst herausfinden: […] si vestra crebro illud praesentia invisat, vel Gothis credite, qui saepenumero etiam Septimaniam suam fastidiunt vel refundunt, modo invidiosi huius anguli etiam desolata proprietate potiantur. 148

142 Sidon. epist. 1,7,7. 143 Sidon. epist. 1,2,4. Siehe hierzu auch: Kapitel 5.1.2. 144 Bei diesem Avitus handelt es sich nach Köhler 2014, 72 um einen gleichaltrigen Verwandten des Sidonius. Ausführlicher hierzu: Giannotti 2016, 109 f. 145 Giannotti 2016, 109  f. Zur gotischen Expansion in Südwestfrankreich siehe: Delaplace 2015, 250–256; Rouche 1979, 35–43; Wolfram 1979a, 186–195. Die Problematik der kriegerischen Auseinandersetzung um Clermont wurde bereits in Kapitel 3.1.4 angesprochen und wird an dieser Stelle nicht wiederholt. Erneut sei auf den hervorragenden Aufsatz von Delaplace 2012 sowie deren Darstellung in ihrer Monographie verwiesen. 146 Sidon. epist. 3,1,1 f. 147 Sidon. epist. 3,1,2  f. Gleichzeitig demonstriert dieser Brief das euergetische Verhalten der Aristokraten gegenüber der Kirche und die Verschmelzung vom aristokratischem und christlichem Lebensideal; vgl. Giannotti 2016, 110. 148 Sidon. epist. 3,1,4.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

[…] wenn du ihn häufig aufsuchst und anwesend bist, magst du besonders den Goten glauben, die oft sogar ihr eigenes Septimanien 149 verschmähen oder zurückgeben würden, wenn sie sich nur eines verlassenen Besitztums in unserer Ecke, auf die sie neidisch sind, bemächtigen könnten. Wenngleich Sidonius die Goten in diesem Abschnitt weder durch Aussehen noch durch pejorative Adjektive, die im Zusammenhang mit nicht-römischen Gruppierungen erwartet werden, charakterisiert, reicht der Hinweis auf invidia, um zu verdeutlichen, dass er ihr Verhalten verurteilt. 150 Er bezeichnet die Goten an dieser Stelle nicht als Barbaren oder gar als barbarisch, da dies dem Zweck des Briefes nicht gedient hätte. Er verwendet sie hier als Teil einer narrativen Überzeugungsstrategie. Avitus verhandelte mit den gotischen Föderaten im Auftrag des Staates und war daher in keiner Kriegsmission unterwegs. 151 Daher reicht für Sidonius eine schlechte Eigenschaft, nämlich der Neid, den Charakter der Föderaten, in das Gedächtnis zu rufen, der durch ihre bereits erfolgten Gebietsvorstöße ersichtlich wird: […] etsi illi veterum finium limitibus effractis omni vel virtute vel mole possessionis turbidae metas in Rhodanum Ligerimque proterminant […]. 152 […] auch wenn jene die alten Grenzwege durchbrochen haben und durch Kraft und Anstrengung die Grenzen ihres stürmischen Besitzes bis zur Rhône und bis zur Loire erweitern […]. Sidonius möchte, dass Avitus diesen Goten entgegensteht und weitere Gebietserweiterungen verweigert, während die Goten lernen sollen, dies zu akzeptieren. Sidonius hofft auf eine friedliche Lösung und verzichtet auf den sonst üblichen kriegspropagandistischen Diskurs gegenüber Barbaren. Nicht als wild oder gewalttätig werden sie beschrieben, stattdessen verwendet er den Inbegriff von romanitas für die Goten: virtus. Er spricht die Kriegsstärke der Goten an, für die diese berüchtigt und dadurch zu römischen Föderaten geworden sind. Trotz der Gefahr, die Sidonius in dieser Passage allein mit dem Adjektiv turbida evoziert, scheint ihr Nutzen für den römischen Staat größer zu sein als der Schaden, den ein Krieg mit ihnen hervorrufen könnte. In diesem Fall würde der Schaden die Stadt der Arverner betreffen, der Sidonius als Bischof voranstand. 149 Zur Diskussion, welche Gebiete in der Tat unter Septimanien gemeint sein könnten, siehe: Giannotti 2016, 119; Köhler 2014, 73; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 222. 150 Leider hat Filomena Giannotti in ihrem Kommentar zum dritten Buch der Briefe keinen Eintrag zur Bedeutung von invidus vorgenommen. Dieses kann, da Sidonius hier in der Funktion eines Bischofes schreibt, durchaus auch eine christliche Abgrenzung zu ,Anderen‘ einbeziehen. 151 Sidon. epist. 3,1,5: sed fas est praesule deo vobis inter eos et rempublicam mediis animo quietiora concipere […]. „Es ist aber Dein Recht und Deine Pflicht, unter Gottes Führung als Mittler zwischen ihnen und dem römischen Staat auf friedlichere Lösung zu sinnen […].“ (Übersetzung nach Köhler 2014, 74). 152 Sidon. epist. 3,1,5.

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Daher erinnert Sidonius indirekt daran, dass die Goten trotz Neid und Wirren über Kriegsvirtus verfügen. Es sollte ihnen aber nicht nachgegeben werden, vielmehr sollten sie aufhören, Forderungen zu stellen. Sidonius hat die Schilderung der Visigoten dem Narrativ des Briefes untergeordnet. Nicht die Gefahr, die von den Föderaten ausgeht, steht im Vordergrund des Briefes, sondern die Persönlichkeit des Adressaten, der durch diesen Brief geehrt werden soll und dessen Pflicht es war, Mittler zwischen den Goten und dem römischen Staat zu sein. Die Darstellung der Goten dient hier vorwiegend als politisches Hintergrundnarrativ des Briefes, um die Rückbesinnung auf römische Stärke mit der Aristokratie als Fundament in Erinnerung zu rufen. Die aristokratische ‚Lebenswelt‘ als Band muss genügen, damit Avitus die Bitte des Autors erhört und diese vor dem Leser gerechtfertigt wird. Mit den Goten als politischem Hintergrund wird mit dem ersten Brief des dritten Buches die Darstellung der arvernischen civitas im Spannungsfeld zu den Visigoten eingeleitet, die in den folgenden Briefen immer wieder aufgegriffen wird. Roy Gibson argumentiert sehr ausführlich dafür, dass im dritten Buch der Briefe Sidonius das erste Mal als Bischof spricht. 153 Hat sich dadurch seine Wahrnehmung der Barbaren verändert? Besonders ausführlich beschreibt Sidonius das Verhalten der Visigoten während der Kampfhandlungen um Clermont. In seinem Schreiben an Ecdicius, in dem er um dessen Rückkehr bittet, geht Sidonius auf die Folgen der militärischen Auseinandersetzung für Clermont ein. 154 Dabei berichtet er, dass Clermont von den Visigoten belagert worden sei, und beschreibt das Stadtbild mit halbeingefallenen Mauern, von denen die Bürger die Heldentaten des Ecdicius im Kampf beobachten konnten: 155 […] cum interiectis aequoribus in adversum perambulatis et vix duodeviginti equitum sodalitate comitatus aliquot milia Gothorum non minus die quam campo medio, quod difficile sit posteritas creditura, transisti. 156 […] Als du die dazwischen befindliche Ebene zum Feind hin durchquert hattest und mit kaum mehr als achtzehn berittenen Kameraden begleitet durch etliche tausend der Goten am helllichten Tag und inmitten des Schlachtfeldes hindurchgeritten bist; was die Nachwelt nur schwer glauben wird. Sidonius bezeichnet in dieser Passage die Goten als Feinde der arvernischen Bevölkerung und somit als Feinde des Römischen Reiches. Ihnen wird Ecdicius als Held, der von Kindheit an bereits alle Tugenden eines römischen Aristokraten verinnerlicht hatte, gegenübergestellt. Die Goten sind im Gegensatz hierzu nicht mehr nur die ,Anderen‘, sondern die wahren Gegner. Die Nennung der Zahlen ist als übertriebenes Narrativ zu verstehen, um die Taten des Ecdicius noch größer und heldenhafter erscheinen zu lassen. 153 154 155 156

Gibson 2013b, 199. Sidon. epist. 3,3. Sidon. epist. 3,3,3. Die halbverfallenen Mauern finden sich auch in epist. 3,2,1 (semirutis moenibus). Sidon. epist, 3,3,3. Greg. Tur. HF. 2,24 verringert die Anzahl der Reiter auf 10.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Der Unglaubwürdigkeit der Zahlen ist er sich bewusst, wie der Nachtrag bezüglich der zweifelnden Nachwelt einerseits bezeugt, andererseits seiner Aussage mehr Glaubwürdigkeit schenken sollte. 157 Im Anschluss beschreibt Sidonius das Kampfgeschehen, bei dem ebenfalls die Person des Ecdicius in den Mittelpunkt gerückt wird. Aufgrund seiner Person sei das gotische Heer wie erstarrt gewesen und ihre Anführer hätten aufgrund ihrer Bewunderung für Ecdicius vergessen, dass sie eigentlich zahlenmäßig überlegen waren. 158 So habe sich das ganze Heer der Goten auf den Rand einer Anhöhe zurückgezogen und sei nicht in der Lage gewesen, sich dem Kampf zu stellen: […] interea tu caesis quibusque optimis, quos novissimos agmini non ignavia sed audacia fecerat […]. 159 […] inzwischen hast du die Besten von ihnen getötet, die nicht aus Feigheit, sondern aus Kühnheit die Nachhut des Heeres gebildet hatten […]. Sidonius lenkt hier das Augenmerk auf den Mut der von Ecdicius getöteten Goten, da es für diesen nicht ruhmreich gewesen wäre, feige Feinde, die sich nicht dem Kampf stellten, zu töten. Obwohl sich der Großteil des gotischen Heeres auf dem Hügel verschanzte, schildert Sidonius eine für die römische Seite glorreiche Schlacht. Der siegreiche Ecdicius wurde freudig in der Stadt willkommen geheißen und der Lobpreis auf den Adressaten wird in den nächsten Zeilen noch vermehrt. 160 Denn Ecdicius habe mit dem Heer, das er aus eigenen Mitteln aufgestellt habe, mehrmals gegen die gotischen Feinde gekämpft und somit deren Plünderungszüge unterbunden. 161 Erst im folgenden Abschnitt kommt zum Ausdruck, wieso Sidonius diese als Barbaren wahrgenommen hat. Er beschreibt das Verhalten der gotischen Truppen nach den Auseinandersetzungen mit Ecdicius: 162 […] et tantum calamitatis adversae parti inopinatis certaminibus inflictum, ut occulere caesorum numerositatem consilio deformiore meditarentur. siquidem quos humari nox

157 Siehe Giannotti 2016, 142, die in diesem Nachtrag ein Formular von Plinius (paneg. 9: […] credentne posteri […]?) erkennt. 158 Sidon. epist. 3,2,4. 159 Sidon. epist. 3,3,4. 160 Sidon. epist. 3,3,5 f. 161 Sidon. epist. 3,3,7. 162 Welche Auseinandersetzung genau gemeint ist bzw. ob Sidonius einfach generell berichtet, geht aus dem Text nicht hervor.

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succincta prohibuerat decervicatis liquere cadaveribus, tamquam minoris indicii foret quam villis 163 agnosci crinitum dimisisse truncatum. 164 […] und dass du der gegnerischen Partei durch diese überraschenden Kämpfe so hohe Verluste zugefügt hast, dass sie sich einbildeten, die Vielzahl ihrer Toten durch eine sehr erniedrigende Täuschung zu verheimlichen. Nämlich diejenigen Leichen, die sie aufgrund der kurzen Nacht nicht beerdigen konnten, ließen sie mit abgeschlagenen Köpfen liegen, als ob das Zurücklassen eines verstümmelten Körpers ein weniger eindeutiges Indiz liefern würde als das Erkennungsmerkmal der zottigen langen Haare. 165 Sidonius beschreibt, dass die visigotischen Truppen ihre Gefallenen, die sie während der Nacht nicht begraben konnten, als enthauptete Körper zurückgelassen hatten. Der Hinweis auf die Kürze der Nacht (nox succincta) ist mit der angeblichen großen Anzahl (numerositas) der gefallenen Gegner in Zusammenhang zu bringen. Eine Nacht sei für die Bestattung aller nicht ausreichend gewesen. Durch diesen Hinweis wird erneut der Kriegsruhm des Ecdicius vermehrt. Anstelle der Bestattung heckten die Gegner den hässlichen Plan aus, ihre Verluste zu verbergen (occulere). Sidonius greift hier ein Verhalten auf, das er als unzivilisiert und hässlich wahrnimmt. 166 Mit dieser Darstellung vermehrt er nicht nur den schon beschriebenen Ruhm, sondern rechtfertigt Ecdicius’ Taten, da dieser seine Armee auf eigene Faust und aus privaten Mitteln zusammengestellt hatte. Sidonius möchte die Notwendigkeit dieser Aktionen bezeugen und dem Leser bewusst machen, dass Ecdicius im Interesse des römischen Staates handelte, als er gegen die Visigoten zu Felde zog. 167 Merkwürdig bleibt, wieso die visigotischen Truppen die eigenen Gefallenen enthauptet haben sollten. Quellenberichte über diese Sitte liegen nicht vor. 168 Da diese aus gotischer Sicht fehlen, kann nicht ausgeschlossen werden, vorausgesetzt Sidonius berichtet hier eine reale Kriegshandlung von visigotischen Verbänden, dass es 163 Hier wurde der Leseart der Handschriften CF und P der Vorrang vor Lüthjohanns’ quem nolles gegeben und der Argumentation von Giannotti 2016, 153 gefolgt. Der Begriff villus wird von Sidonius ebenfalls in carm. 23,427 sowie epist. 5,17,8 in Zusammenhang mit Barbaren verwendet. Dabei kann er als metaphorischer Hinweis, da eigentlich das zottige Fell eines Tieres damit beschrieben wird, für Barbaren interpretiert werden. Loyen 1960/1970, Bd. 2, 89 Anm. 13 weist auf die eindeutige Bedeutung von crinitus als designierten Begriff für Barbaren als Gegensatz zum Römischen hin. 164 Sidon. epist. 3,3,7. 165 Mascoli 2021, 132 und Loyen 1960/1970, Bd. 2, 89 verwenden in ihren Übersetzungen jeweils den Begriff ,Barbar‘, um auf die Bedeutungsebene von crinitus zu verweisen (siehe Anm. 161). Ich präferiere hier die Herangehensweise von Köhler 2014, 78, die den Barbarenbegriff in ihrer Übersetzung meidet. 166 Vgl. das unmenschliche Verhalten von Feinden im Krieg, wie bspw. dargestellt von Liv. 22,3 oder Caes. BG 7,4,3–10. 167 Sidon. epist. 3,3,7: […] privatis viribus publici exercitus […]. Diese Annahme vertritt auch Giannotti 2016. 168 Belege existieren lediglich zur Enthauptung von Gegnern.

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sich bei dieser Maßnahme um eine Notmaßnahme gehandelt haben könnte. Insbesondere dann, wenn weitere Begräbniszeremonien betrachtet werden, die Sidonius für römische Verhältnisse als abstoßend empfunden haben muss: qui postquam luce revoluta intellexerunt furtum ruinae suae crudeli vilitate patuisse, tum demum palam officiis exequialibus occupabantur, non magis cladem fraude quam fraudem festinatione celantes; sic tamen, quod nec ossa tumultuarii caespitis mole tumulabant, quibus nec elutis vestimenta nec vestitis sepulchra tribuebant, iuste sic mortuis talia iusta solventes. iacebant corpora undique locorum plaustris convecta rorantibus, quae, quoniam perculsis indesinenter incumberes, raptim succensis conclusa domiciliis culminum superlabentum rogalibus fragmentis funerabantur. 169 Erst als das Tageslicht hereinbrach und sie erkannten, dass ihre Niederlage nur die grausame List enthüllt hatte, mit der sie ihre Verluste verbergen wollten, widmeten sie sich offen den letzten Pflichten, wobei sie ihre Hinterhältigkeit durch die Eile nicht besser verbargen, als sie ihre Niederlage durch ihre Verschlagenheit verborgen hatten; sie taten dies so, dass sie die Leichen nicht einmal unter einem hastig zusammengeschobenen Erdhügel begruben, auch die Toten nicht wuschen und ihnen Kleider anlegten, oder wenn sie bekleidet waren, ihnen ein Grab zuteilten; wahrhaftig eine würdige letzte Ehren für Männer, die so gestorben waren. Die Toten wurden von allen Seiten auf bluttriefende Wagen gezerrt, und weil Du mit der Verfolgung der mutlos gewordenen Feinde keinen Augenblick nachließest, schlossen sie ihre Toten hastig in Wohnhäuser ein, die angezündet wurden, so dass sie unter den glühenden Scheiten der herabstürzenden Dächer begraben wurden. 170 Sidonius verwendet zu Beginn dieser Passage auffallend viele Begriffe, die aus dem Wortfeld des Betruges ( furtum, fraus, fraus) oder der Heimlichkeit ( festinatio, celare) stammen. Er betont, dass die Bestattungen am nächsten Tag in aller Eile geschahen, was er zusätzlich durch die Verwendung des Polyptoton fraude […] fraudem vor der Partizipform von celare hervorhebt, und er verweist auf die Hast sowohl am Anfang als auch am Ende des Paragraphen ( festinatio  […]  raptim). Mehr noch ist Sidonius darüber schockiert, dass die Gebeine der Toten nicht begraben wurden. Die Kleidung wurde weder gewaschen und, wenn die Toten keine Kleidung mehr am Leib trugen, mit diesen verhüllt wurden. Somit wurde seiner Auffassung nach den Toten gegenüber die letzte Ehre verweigert, was sein ironischer Nachschub iuste sic mortuis talia iusta solventes verdeutlicht. Diese ganze Episode ist von rhetorischen Lautmalereien (-mul, -mol, -mul; vesti-, vesti-) durchzogen, die das hastige Gewimmel, das einer Bestattung unwürdig ist, verbildlichen soll. 171 Dass besonders die letzte Ehrerweisung im römischen mos maiorum unverzichtbar ist,

169 Sidon. epist. 3,3,8. 170 Übersetzung nach Köhler 2014, 78. 171 Siehe Giannotti 2016, 154.

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wird durch die doppelte Verwendung von iustus deutlich. 172 Sidonius beschreibt in dieser Passage die eigene Tradition, die er von der der Fremden unterscheidet und als unsittlich verurteilt. Die Goten haben ihre Gefallenen einfach in einem Haus gesammelt, sie dort eingeschlossen und das Gebäude angezündet, so dass ihr Scheiterhaufen die Bruchstücke des schnell über ihnen eingefallenen Daches waren, unter denen sie verkohlten. 173 Was in der Realität eine Notbestattung zu Kriegszeiten war und bestimmt nicht die Alltagssituation widerspiegelt, wird von Sidonius zur erlebten Realität des Barbarentums. 174 Ohne den Begriff der Barbaren zu verwenden, gelingt es ihm durch bildhafte Beschreibung und durch die Charakterisierung des Verhaltens mit den Adjektiven deformis und crudelis, die barbarische Seite der visigotischen Soldaten darzustellen, die sogar an ihren eigenen Mitstreitern Verrat begehen. 175 Sie werden in dieser Passage als Gemeinschaft dargestellt, die betrügerisch, sittenlos und ohne Respekt vor den eigenen Toten handelt. Sidonius offenbart mit dieser Beschreibung „das ganze Ausmaß der Barbarei“, das besonders im Gegensatz zum vorbildhaften Verhalten des Ecdicius zum Ausdruck kommt. 176 Die Bedrängnis der Stadt Clermont bleibt auch Thema im vierten Brief des dritten Buches, einem Freundschaftsbrief an Felix, für den Sidonius eine metaphorische Sprache zur Beschreibung der Situation wählt. Zu Beginn bekennt Sidonius, dass er diesen Brief unter Angst (anxius) schrieb: sic aemulorum sibi in medio positi lacrimabilis praeda populorum, suspecti Burgundionibus, proximi Gothis, nec impugnantum ira nec propugnantum caremus invidia. 177 So ist unsere Lage als beweinenswerte Beute inmitten der Rivalen, weil wir die Burgunder mit Sorge betrachten und den Goten am nächsten sind; uns mangelt es weder am Zorn der Angreifer noch am Neid der Beschützer.

172 Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch Überlieferung F, welche als Lesevariante more statt mole angibt und somit die ungesittete Bestattung noch einmal mehr betont. 173 Handschriftenfamilien M und F bieten für superlabentum den Genitiv Plural superlabentium an, was aber als unwahrscheinlich erscheint, da, obwohl sich ein Genitiv für die Übersetzung anbietet, superlabentum in Kongruenz zu culminum steht. 174 Vgl. Ward-Perkins 2005, 23: Beschreibungen dieser Art seien als rhetorischer Effekt zu betrachten. 175 Vgl. die Verwendung von deformis in der Hunnendarstellung des Ammianus Marcellinus: Amm. 31,2,1 (Kapitel 1.5). Das Vorurteil, dass Barbaren nicht loyal, sondern betrügerisch wären, findet sich bei Amm. 18,2,18: ut sunt fluxiore fidei barbari. Es ist ein Vorurteil, das gegenüber Feinden Roms immerwieder eingesetzt wurde, um Kriege zu legitimieren, z.  B.  gegen die Karthager (vgl. Waldherr 2000, siehe hierzu auch: Kapitel 1.5.2). Isaac 2011, 249 fasst dies folgendermaßen zusammen: „Non Romans, it appears, have no character. When victorious they are over-confident, in defeat they become spineless. They have no self-control. They are all inherently disloyal and inconstant.“ 176 Kaufmann 1995, 128. Auch dabei knüpft Sidonius an literarische Vorbilder, die ein grausamens und für sie fremdes Verhalten beschreiben, durch das sich ,Barbaren‘ auszeichnen. Beispiele sind u. a. Livius, Caesar oder Ammianus Marcellinus (siehe hier: Kapitel 1.5.2). 177 Sidon. epist. 3,4,1.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Die Lage von Clermont, als beweinenswerte Beute präsentiert, wird von Sidonius als zwiespältig dargestellt. 178 Obwohl die Burgunder offensichtlich für die Bevölkerung –  eventuell sogar als Teil der Armee des Ecdicius – gegen die Goten kämpften, stellt Sidonius diese mit stereotypisierten Attributen, mit denen er Barbaren beschreibt, dar: Sie werden durch ihre invidia charakterisiert und aus diesem Grund könne ihnen nicht getraut werden. Sie sind ihm suspecti. Gründe, warum die Beschützer Clermont nicht mehr vertrauen, nennt Sidonius nicht. Jill Harries liest aus den Zeilen, dass das Verhältnis zwischen den Einwohnern von Clermont und den Burgundern nicht einfach war. Ihrer Meinung nach folgten die Burgunder lediglich ihren eigenen Interessen, um die Expansion Eurichs nach Osten hin einzuschränken. 179 An dieser Stelle werden die Goten als bewaffnet und vorwiegend durch ihren Zorn beschrieben, der sie auch im Panegyrikus auf Avitus maßgeblich charakterisiert. 180 Sidonius lässt den Leser erfahren, dass seine Stadt ein Hindernis im Expansionsbestreben der Goten darstelle, die schon viel zu nahegekommen seien. Durch die Darstellung von gotischen und burgundischen Truppen als Rivalen signalisiert Sidonius, dass aus seiner Wahrnehmung beide als Gegner Roms zu betrachten sind, da beide das Gleiche – die Vergrößerung ihres Einflussbereiches – im Sinn haben. Während im ersten Brief des dritten Buches das Verhalten der Goten noch von Neid, invidia, geleitet wurde, ist dieses Verhalten nun auf die Burgunder übertragen. Durch den metaphorischen Vergleich der Stadt der Arverner mit einer Beute, die lediglich darauf wartet, von der einen oder anderen Seite gerissen zu werden, verstärkt Sidonius seine Andeutung, dass dieses Verhalten als barbarisch zu charakterisieren sei. Denn wenn Clermont die Beute darstellt, müssen in der Konsequenz Goten und Burgunder die Raubtiere sein, die die Stadt umlauern. Im Zuge verschiedener Migrationsbewegungen waren die Besitzverhältnisse in Gallien undurchsichtig geworden. In der Darstellung des Sidonius hätten Barbaren, so seine Worte, widerrechtlich von Dingen Besitz ergriffen, was sich an seinem Brief an Hypatius ablesen lässt. 181 In diesem Schreiben bittet Sidonius im Namen des Donidius, einem vir spectabilis, um die Erlaubnis, einen Teil eines Landgutes zu kaufen, welches brach liegt. In der narratio des Briefes erfährt der Leser, dass Teile des betreffenden Gutes bereits vor der Ankunft der Barbaren verlassen waren (ante barbaros desolatam). 182 Dies ist als eine Anspielung auf den mutmaßlichen Besitz- beziehungsweise Landverlust der gallorömischen Aristokratie ob der Ansiedlungen von foederati in der Provinz zu lesen. Was auch immer mit dem Besitz geschehen ist – denn darüber wird der Leser in Unwissenheit gelassen –, soll nun durch einen neuen Besitzer aus patrizischem Geschlecht (domus patricia), ausgeglichen werden, was nach Meinung des Sidonius das einzig Richtige (iustus)

178 179 180 181

Kaufmann 1995, 146 Anm. 384. Harries 1994, 229. Sidon. carm. 7,426: Geticas … iras. Sidon. epist. 3,5. Zu Hypatius siehe PLRE, 577, über den jedoch leider nichts Weiteres bekannt ist. Vgl. Giannotti 2016, 164. 182 Sidon. epist. 3,5,2.

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sei. 183 Als Käufer bietet sich der oben genannte Donidius an, der als vir spectabilis direkt zu Beginn des Schreibens vorgestellt worden ist und dadurch als rechtmäßiger Käufer in Frage kommt. Erst danach erfährt man, dass es sich um den Familienbesitz des Donidius handelt, den er versucht zurückzukaufen, da er weggegeben und sogar „entfremdet worden war“ (alienata). Der Hinweis, dass Donidius weder nach fremden Gütern strebe noch habgierig (avaritia) sei, sondern aus Sittsamkeit (verecundia) handele, setzt ihn von den zu Beginn der narratio erwähnten Barbaren mit ihrer im vorherigen Schreiben erwähnten invidia ab. Der Rückkauf wird von Sidonius sogar als Notwendigkeit (necessitas) eines sittsamen Handelns – das bedeutet im Sinne des mos maiorum – beschrieben. Erneut stellt sich die Frage, warum Sidonius in diesem Bittgesuch auf Barbaren hinweist und wen er in diesem Kontext beschreibt. Filomena Giannotti sieht die Erwähnung als Datierungshinweis des Sidonius für das Schreiben. 184 Aufgrund der Position des Briefes innerhalb der Briefsammlung ist davon auszugehen, dass Sidonius die visigotischen Verbände unter Eurichs Führung anspricht, da Plünderungen unter Theoderich II. nicht von Sidonius überliefert werden. Der Verweis im Paragraphen 3 auf Donidius kann als Hinweis für die episkopalen Pflichten des Sidonius gesehen werden, der diesen Brief im Rahmen seiner bischöflichen Aufgaben geschrieben hat. Dies bedeutet wiederum, dass das Schreiben sicher nach dem Tod Theoderichs  II. (um 466) entstanden sein muss. 185 Eventuell kann die direkte Erwähnung von Barbaren im Zusammenhang mit Hinweisen auf die fremde Übernahme des Eigentums dahingehend interpretiert werden, dass das Landgut zwar nicht aufgrund von Barbaren aufgegeben worden ist, aber das verlassene Gut von diesen in Besitz genommen wurde. 186 Die räuberische Aktivität von Barbaren kommt auch in seinem einzigen Brief an den bretonischen Anführer Riothamus zur Sprache. 187 An diesen wendet sich Sidonius im Namen eines Schützlings und zugleich eines Überbringers des Schreibens. Der Schreiber beklagt sich, dass Bretonen seine Sklaven zunächst aufgehetzt und sie dann auch noch mit in deren Reich genommen hätten. Damit ist gemeint, dass die Sklaven zu den Bretonen geflohen seien. 188 Zu Beginn des Schreibens weist Sidonius darauf hin, dass ein solcher Anlass, der eine Kommunikation notwendig mache, wohl öfter gegeben sei. Er beginnt den Brief mit der Aussage, dass der Inhalt des Briefs bereits Gewohnheit sei. 189 Auseinandersetzungen zwischen Gallo-Römern und Bretonen ereigneten sich nach Sidonius

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Sidon. epist. 3,5,2. Giannotti 2016, 167. Vgl. Giannotti 2016, 164 f. Vgl. hierzu den Aufsatz von Jörg Kleemann Lebten Barbaren in römischen Villen? (Kleemann 2008), der diese Frage für Südwestungarn untersucht. 187 Sidon. epist. 3,9. 188 Sidon. epist. 3,9,2. Giannotti 2016, 195 weist darauf hin, dass zu dieser Zeit Sklaven im Allgemeinen einen Fluchtversuch in die gentilen Reiche, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, unternommen hätten. 189 Sidon. epist. 3,9,1: Servatur nostri consuetudo sermonis: nam […] „Es wird die Gewohnheit unseres Gesprächsstoffes erhalten: denn […].“

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

ständig (semper) und er sah es als seine Pflicht als Bischof an, darüber zu berichten. 190 Er hofft nun, dass der Kläger, für dessen Beschuldigung er zwar keinen Beweis hat, aber an dessen Darstellung der Ereignisse er wohl glaubt, eine faire Anhörung bekommt: […] si tamen inter argutos armatos tumultuosos, virtute numero contubernio contumaces, poterit ex aequo et bono solus inermis, abiectus rusticus, peregrinus pauper audiri. 191 […] wenn es denn unter geschwätzigen, bewaffneten, undisziplinierten, durch Kraft, Anzahl und Kameradschaft eigensinnigen Männern möglich sein wird, aus Recht und Billigkeit einen einzelnen unbewaffneten, niedrigen Bauern und armen Fremden anzuhören. Sidonius beschreibt die bretonischen Männer, die für das Vergehen angeklagt werden, mit ähnlichen Adjektiven, die er bei der Darstellung von Barbaren verwendet. So wird der Hochzeitszug des Sigismer anhand der Bewaffnung beschrieben, tumultus für das Verhalten der Visigoten nach der Auseinandersetzung mit Ecdicius verwendet und mit virtus nicht zum ersten Mal die kämpferischen Leistungen von nicht-römischen Gruppierungen geschildert. 192 Das Adjektiv argutus erinnert an die Leibgarde Theoderichs, die vor die Tür verbannt wurde. 193 Neu ist die Beschreibung des inneren Zusammenhaltes der Truppe, den Sidonius als contubernium, einem militärischen Begriff, um eine Zeltgemeinschaft, d. h. die Kameradschaft einer Truppe zu beschreiben, schildert. 194 Erneut fallen wie bei der Darstellung des habitus barbarus eindeutig militärischen Bezüge auf, mit denen Sidonius die ,Anderen‘ definiert. Der Ankläger stellt im Vergleich zu dieser Truppe den absoluten Gegensatz dar, was durch die Aufzählung von solus inermis, abiectus rusticus und peregrinus pauper, die antithetisch zur beschreibenden Aufzählung der Bretonen konstruiert ist, hervorgehoben wird. Der Ankläger ist weder bewaffnet, noch hat er Gefährten und gilt zudem bei den Bretonen als peregrinus und arm. 195 Durch diese Gegensätzlichkeit erzeugt Sidonius beim Leser Mitgefühl für den Einzelnen, der 190 191 192 193 194 195

Sidon. epist. 3,9,1. Sidon. epist. 3,9,2. Vgl. Sidon. epist. 3,3,8; 3,1,5; 4,20,2. Vgl. Sidon. epist. 1,2,4. Siehe TLL IV, 791. Hier wird Köhler 2014 widersprochen, die peregrinus dahingehend interpretiert, dass der Ankläger nicht über das römische Bürgerrecht verfüge. Da es sich um eine Person handelt, die zum einen dem Rechtsbereich eines Bischofes unterstand und zum anderen über Sklaven verfügte, ist davon auszugehen, dass dieser Person, obgleich sie von Sidonius als Bauer klassifiziert wurde, über das Bürgerrecht verfügte. Begründet durch den Kontext des Schreibens, der bewussten Erzeugung von Alteritäten bezüglich der Bretonen und des Anklägers sollte der schwere Stand dieser Person vor dem bretonischen Anführer Riothamus, der für die Taten seiner Soldaten verantwortlich war, als Fremder ausgedrückt werden. In diesem Zusammenhang ist auch dessen Schilderung als „arm“ zu sehen, die keineswegs eine realistische Angabe der materiellen Güter des Anklägers beinhaltet, sondern von rhetorischem Nutzen war. Vgl. diesbezüglich Giannotti 2016, 196.

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einer Gruppe barbarisch inszenierter Männer gegenübergestellt wird, um auf Gerechtigkeit zu hoffen. Die gezielte Abgrenzung von ,Anderen‘ wird erneut dazu eingesetzt, um das Gegenüber – sei es der ursprüngliche Empfänger, sei es der Leser – von seiner Sache zu überzeugen. Einen genauen Eindruck, was Sidonius unter barbarischem Verhalten versteht, ist in Epistel 5,7 an seinen Onkel Thaumastus erhalten. Wie bereits erwähnt, erfuhr der Leser im Schreiben zuvor, dass dessen Bruder Apollinaris von barbarischen Denunzianten beim burgundischen Anführer, dem magister militum Chilperich, des Verrates angeklagt worden war. Das Verhalten der Denunzianten wird von Sidonius in der Epistel durch die Feststellung eingeleitet, dass selbst die Barbaren im Vergleich mit ihnen milder erschien. 196 Im Anschluss beginnt er eine parallel strukturierte Aufzählung der verhaltenstypischen Merkmale solcher Menschen, die den Hauptteil der narratio ausmacht und sich über fünf Paragraphen hinzieht. 197 Sie verleumden, diffamieren, drohen und bringen andere um den Besitz. 198 Sie sind untätig, sprechen in Friedenszeiten von ihren kriegerischen Beuten, sind aber gleichzeitig feige und siegen lediglich beim Weintrinken. Sie sind korrupt und stets auf ihren eigenen Vorteil aus, auch wenn sie dabei anderen Schaden zufügen. 199 Sie sind von Neid zerfressen und zu jeder Gelegenheit falsch gekleidet. 200 Sidonius vergleicht sie stilistisch durch Antithesen in ihrem Verhalten, das so dem Verhalten seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ gegenübergestellt wird: in foro Scythae, in cubiculo viperae, in convivio scurrae, in exactionibus Harpyiae, in conlocutionibus statuae, in quaestionibus bestiae, in tractatibus cocleae, in contractibus trapezitae; ad intelligendum saxei, ad iudicandum lignei, ad suscensendum flammei, ad ignoscendum ferrei, ad amicitias pardi, ad facetias ursi, ad fallendum vulpes, ad superbiendum tauri, ad consumendum minotauri. 201 Auf dem Forum sind sie Skythen, im Schlafzimmer sind sie Schlangen, beim Gastmahl sind sie Schmarotzer, bei der Eintreibung von Abgaben sind sie Harpyien, bei Unterredungen sind sie Statuen, bei Befragungen sind sie Bestien, bei Verhandlungen sind sie Schnecken, bei Verträgen sind sie unredliche Geldwechsler; beim Begreifen sind sie versteinert, beim Urteilen hölzern, beim Zürnen entbrannt, beim Verzeihen eisern, bei Freundschaften sind sie Panther, beim Betragen Bären, beim Betrügen sind sie Füchse, beim Angeben Stiere und beim Vertilgen sind sie Minotauren.

196 Sidon. epist. 5,7,1. Stilistisch wurde die lange Aufzählung von Giulietti 2014, 127–129 untersucht. 197 Aus Platzgründen wird auf eine Wiedergabe der gesamten Abschnitte verzichtet und lediglich die wichtigsten Inhalte auf Deutsch paraphrasiert. 198 Sidon. epist. 5,7,1. 199 Sidon. epist. 5,7,2. 200 Siehe hierzu: Kapitel 5.1.2; Sidon. epist. 5,7,3. 201 Sidon. epist. 5,7,4.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Sidonius beginnt diese parallelen, asyndetischen Aufzählungen –  zuerst bezüglich des Umstandes, wo das Fehlverhalten stattfindet (in + Ablativ Singular), dann bezüglich der Art des Fehlverhaltens (ad + Gerundium; unterbrochen durch zweimaliges ad + Akkusativ Plural) – mit dem Vergleich zu Skythen und endet ihn mit dem Fabelwesen Minotaurus. Dazwischen werden sämtliche bekannte wilde (beispielsweise Panther und Bären) oder schleimige Tiere (beispielsweise Schnecken) aufgelistet, um Verhalten und Charakter zu verbildlichen. 202 Neben dieser Gleichsetzung mit Tieren bezeichnet er das Verhalten dieser Personen als kriecherisch, schmarotzerisch, bestialisch, unehrlich, launisch, stur und gerissen. Ihnen ist nicht zu trauen, da sie räuberisch wie Harpyien und tödlich wie Minotauren sind. 203 Nicht nur der direkte Hinweis auf Skythen, die in der antiken ethnographischen Tradition als Inbegriff für Barbaren stehen, 204 sondern auch der Vergleich mit wilden Tieren, der hier noch um gefährliche mythologische Wesen ergänzt wird, symbolisiert in rhetorischer Raffinesse das barbarische Verhalten von Menschen, deren Herkunft und Stand offenbleibt. Es ist anzunehmen, dass dieser Brief durch die ausführliche Darstellung von barbarischem Verhalten, die stilistisch detailliert ausgearbeitet wurde, 205 ein Paradebeispiel für ein standesgemäßes Verhalten für die Leserschaft des Sidonius bilden sollte. 206 Gleichzeitig ist es als Warnung an seine Gemeinschaft zu verstehen, solche Barbaren selbst innerhalb der eigenen ‚Lebenswelten‘ erkennen und diese so meiden zu können, wie es selbst von ihm durch rhetorische Fragen angedeutet wird: sed quid faciat unus, undique venenato vallatus interprete? quid, inquam, faciat, cui natura cum bonis, vita cum malis est? 207 Aber was kann einer allein machen, wenn er von allen Seiten von giftigen Beratern umgeben ist? Was, frage ich, kann einer machen, der das Wesen mit den boni, das Leben aber mit den mali gemein hat? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Das Schreiben hat den Anschein, es habe von Sidonius bei der Überarbeitung für die Veröffentlichung besondere Beachtung erfahren. Das barbarische Verhalten mancher Personenkreise scheint mit den Widrigkeiten der Zeit,

202 Vgl. Giulietti 2014, 167. 203 Sidonius fährt in Paragraph 5 mit dieser Art von Vergleichen fort, bezeichnet sie im Krieg feige und lediglich mutig im Frieden. Er vergleicht sie bei Geldangelegenheit mit zweifelhaften und verräterischen Figuren aus der griechischen Mythologie. Dies ist zugleich als Methode des Sidonius zu verstehen, um seine eigene kulturelle Bildung zur Schau zu stellen. 204 Giulietti 2014, 168 weist zudem auf die den Skythen nachgesagte Ignoranz bei Plu. Dem. 847 hin. 205 Eine sehr detaillierte Besprechung des gesamten Briefes sowie speziell dieses Paragraphen ist bei Giulietti 2014, 127–186, bes. 167–173 zu finden. 206 Nur wenige Briefe später, in Epistel 5,11, ist ein solches vorbildliches Verhalten, nämlich das des Potentinus, beschrieben. 207 Sidon. epist. 5,7,6.

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Stereotypisierung von Barbaren

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die er immer wieder anspricht, in Zusammenhang zu stehen. 208 Die hier beschriebenen Denunzianten erscheinen dem Leser als Barbaren, weil ihr Verhalten und Aussehen der traditionellen Stereotypisierung des römischen Barbarenbildes gemäß dargestellt wird. Die verräterische Natur von Barbaren, in dieser Epistel durch Schlangen und Füchse zum Ausdruck gebracht, wird von Sidonius in einem Brief an Bischof Eutropius, den er in der salutatio wie für Bischöfe üblich mit domino papae anspricht, verwendet, um das Schreiben einzuleiten: Postquam foedifragam gentem redisse in suas sedes comperi neque quicquam viantibus insidiarum parare, nefas credidi ulterius officiorum differre sermonem, […]. 209 Nachdem ich erfahren habe, daß sich die bündnisbrüchige gens wieder in ihre angestammten Gebiete zurückgezogen hat und nicht mehr den Reisenden auflauert, hielt ich es für Unrecht, meine schuldige Briefpflicht noch länger hinauszuschrieben […]. 210 Dieser Brief, dessen einzige Intention es war, die freundschaftliche Briefkommunikation aufrecht zu erhalten, wird mit dieser beleidigenden Bemerkung bezüglich der in Gallien ansässigen Föderaten eröffnet. Es scheint, dass Sidonius dem Empfänger schon länger nicht mehr geschrieben hatte, was im antiken Briefaustausch als Fehlverhalten anzusehen war. Generell sind im sechsten Buch vermehrt Bemerkungen zum Briefaustausch, Briefinhalt und der Frequenz des Schreibens zu finden. 211 Der Hinweis, dass erst jetzt die Wege wieder sicher waren und erneut Briefboten gesandt werden konnten, stellt eine indirekte Entschuldigung seitens des Sidonius dar. Der Verweis auf das vertragsbrüchige Verhalten der foederati erfolgt lediglich als Beiwerk. An dieser Stelle möchte Sidonius kein Beispiel für falsches Verhalten geben, die Leser von einer Sachlage überzeugen oder den Empfänger des Briefes heroisieren. Er verwendet den Verweis auf die foedifraga gens als Entschuldigung, eventuell sogar als willkommene Ausrede für seine Sprachlosigkeit. Weiterhin verweist er auf die Visigoten in der Rolle als vertragsbrüchige Föderaten. Dies zeigt sich in einem Brief an Bischof Censorius, in dem er sich für einen vertriebenen 208 Bereits in der darauffolgenden Epistel, Sidon. epist. 5,8,3 an Secundinus, erwähnt Sidonius beiläufig die Verfehlungen von Bischöfen als tyrannische Stadtbeherrscher, was er als Problematik seiner eigenen Zeit wahrnimmt. Einer gegenteiligen Ansicht, die als tyrannische Stadtbeherrscher burgundische Machthaber sieht (Mathisen 1993, 45), wird nicht gefolgt, da die historische Entwicklung der Bischöfe als tragende Personen in den Städten als Interpretationsgrundlage der Autorin als logischer erscheint. Im Brief 5,12,1 an Calminius weist Sidonius auf die Auseinandersetzungen von Fremden (terror alieni) in der Region hin, die das Alltagsleben erschweren würden. 209 Sidon. epist 6,6,1. Erneut verwendet er das seit den Punischen Kriegen genutzte Vorurteil der Vertragsbrüchigkeit des Gegners. 210 Übersetzung nach Köhler 2014, 187. 211 Es könnte somit als „Knigge“ für das spätantike Briefwesen in Gallien dienen. Referenzen zur Briefpraxis finden sich im sechsten Buch in epist. 6,3; 6,5–11. Von 12. Briefen des sechsten Buches erwähnen lediglich 4 keine Dinge, die mit dem Briefwesen in Verbindung zu bringen sind.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Geistlichen einsetzt, der vor gotischen Raubzügen flüchtete. Diese Raubzüge werden von Sidonius mit einem Sturm verglichen. 212 Selbst vor Kirchendienern machte dieser Sturm nicht Halt, was wohl für Sidonius besonders schlimm war und noch einmal mehr die barbarische Seite der Visigoten hervorhebt. In einem Brief an Bischof Patiens, in dem er sich für die Hilfe des Bischofes für die hungerleidende arvernische Bevölkerung bedankt, schildert Sidonius die Konsequenzen für die Region durch die gotischen Plünderungen. […] quod post Gothicam depopulationem, post segetes incendio absumptas peculiari sumptu inopiae communi per desolatas Gallias gratuita frumenta misisti […]. 213 […] dass ihr nach der völligen Plünderung der Goten, nachdem die Felder durch Brandstiftung zerstört worden waren, auf private Kosten gegen die allgemeine Not durch das verwüstete Gallien kostenloses Getreide geschickt habt. Die Visigoten sind nicht nur Fremde, sondern werden in der Darstellung des Sidonius eindeutig als feindliche ,Andere‘ wahrgenommen. Ihr kriegerisches Verhalten lässt die lokale Bevölkerung in Not zurück. Schmückende Adjektive erscheinen nicht mehr notwendig, um dem Leser zu signalisieren, dass er dieses Verhalten als barbarisch klassifiziert. Die militärische Auseinandersetzung mit den visigotischen Truppen leitet auch den ersten Brief des siebten Buches ein, der an Bischof Mamertus gerichtet ist, um ihn um Fürsprache für die Stadt Clermont zu bitten, da er im Besitz einer Reliquie des Lokalheiligen Clermonts, des Märtyrers Julian, ist: 214 Rumor est Gothos in Romanum solum castra movisse: huic semper irruptioni nos miseri Arverni ianua sumus. namque odiis inimicorum hinc peculiaria fomenta subministramus, quia, quod necdum terminos suos ab Oceano in Rhodanum Ligeris alveo limitaverunt, solam sub ope Christi moram de nostra tantum obice patiuntur. circumiectarum vero spatia tractumque regionum iam pridem regni minacis importuna devoravit impressio. 215 Es existiert das Gerücht, dass die Goten auf römischem Boden vorgerückt seien: Für dieses Eindringen sind immer wir unglücklichen Arverner die Pforte. Denn wir liefern dem Hass der Feinde daher besondere Anreize, weil sie, da sie noch nicht 212 Sidon. epist. 6,10,1. 213 Sidon. epist. 6,12,5. 214 Sidon. epist. 7,1,7. Wie so oft wird der eigentliche Anlass des Schreibens erst am Briefende offenbart. Ausführliche Hintergruninformationen zum Brief bietet van Waarden 2010, 69–84. Zu Mamertus siehe: Heinzelmann 1983, 585 unter Mamertus Claudianus; Mathisen 1982, 378 unter Mamertus; siehe ausführlicher: van Waarden 2010, 70–74 und Kaufmann 1995, 290–292, die beide weiterführende Literatur nennen. 215 Sidon. epist. 7,1,1.

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ihre Gebiete vom Ozean bis zur Rhône durch den Verlauf der Loire begrenzen konnten, die einzige Verzögerung durch uns als großem Hindernis Dank Gottes Hilfe ertragen müssen. Aber die umgebenden Räume, Landstriche und Regionen hat der rücksichtlose Angriff der drohenden Gewaltherrschaft schon längst geschluckt. Viel erfährt der Leser in diesem Brief nicht über die visigotischen Verbände, da Sidonius diese lediglich als Hintergrundinformation zur Einleitung erwähnt, um die Situation der arvernischen Bevölkerung zu dem Zeitpunkt zu beschreiben, als Mamertus ihr zu Hilfe kam. Dieser hat, wie Sidonius beschreibt, Bittgottesdienste für die Bevölkerung eingeführt, welche die Moral der Bewohner Clermonts gestärkt haben. 216 Allein durch seine Anwesenheit sei ferner ein ausgebrochenes Feuer zurückgewichen. Mamertus habe die Bewohner, sowohl die Menge der armen Menschen, als auch die bedeutenden Bewohner der Stadt, im Glauben bestärkt und die bereits Geflüchteten zur Rückkehr bewegen können. 217 Da sich Mamertus in Vienne befindet, bittet Sidonius im Namen der arvernischen Bevölkerung um das Zusenden von Gebetsabschriften. 218 Die Beschreibung der Wundertaten des Mamertus sowie die Erinnerung sollen dem Leser die Verpflichtung zeigen, die Mamertus gegenüber der Stadt bereits eingegangen ist, daher könne er die Bitte unmöglich ablehnen. Die Goten werden in diesem Schreiben weniger als Barbaren, sondern rein funktional als gemeinsamer Feind dargestellt, dessen Hass zu fürchten (odium inimicus) und der bereits immer wieder (semper) in die Region eingefallen ist. Das Verhalten der Goten wird als bedrohlich (minax) geschildert, besonders für die civitas der Arverner, die dem Feind bei seinem Vorstoß im Weg steht. Die eingehende Schilderung, die Parallelen zu Epistel 3,1,5, was die Expansionsbestrebungen der Goten anbelangt, aufweist, dient nicht der Darstellung der ‚Anderen‘, sondern der eigenen Situation, die beim Leser Mitleid und Verständnis erzeugen soll, um der Bitte des Sidonius nachzukommen beziehungsweise aus der Retrospektive nachzuvollziehen können. 219 Der feindliche ‚Andere‘ dient als narrativer Einstieg, um die Situation des ‚Selbst‘ zu erklären. Eben diese Intention findet sich in Epistel 7,5 an Bischof Agroecius, der von Sidonius über die Situation in Bourges und die anstehende Bischofswahl informiert und zum Kommen gebeten wird. 220 Sidonius berichtet in diesem Brief über Spannungen zwischen den Bewohnern der aquitanischen Provinzen, welche die Bischofswahl erschwerten. Darüber hinaus sei Clermont, aufgrund der Kriegshandlungen, die letzte auf römischer Seite verbliebene Stadt der Aquitania Prima, weshalb nicht genügend Bischofe anwesend seien, um den Bischofsstuhl in Bourges neu zu besetzen. 221 216 217 218 219 220 221

Sidon. epist. 7,1,2 f. Zu den rogationes siehe: van Waarden 2010, 77–79. Sidon. epist. 7,1,6. Sidon. epist. 7,1,6 f. Vgl. van Waarden 2010, 84: Der Beginn des Briefes erzeugt Drama und bittet um Sympathie. Sidon. epist. 7,5. Hintergrundinformationen finden sich bei van Waarden 2010, 244–251. Sidon. epist. 7,5,3. Siehe Kapitel 5.2.1.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Während im siebten Buch primär kirchliche Angelegenheiten im Vordergrund stehen, was sich im Adressatenkreis widerspiegelt, richtet sich der Fokus des achten Buches erneut auf die gallo-römische Aristokratie und das richtige Verhalten. Ausführlich und bildreich bringt Sidonius in einem Schreiben an Leo, der in visigotischen Diensten steht, zum Ausdruck, was ein unakzeptables Verhalten sei. 222 Das Antwortschreiben an Leo war ein Begleitschreiben zur Vita des Apollonius von Tyana 223, die vom Empfänger von Sidonius erbeten worden war. Sidonius entschuldigt sich in diesem Schreiben für das exemplar turbida sowie für die Verspätung. 224 Der Grund hierfür war sein Exil, das die Erzählzeit eines Teiles des Briefes darstellt. Es war durch die Hilfe Leos beendet worden: nam dum me tenuit inclusum mora moenium Livianorum, cuius incommodi finem post opem Christi tibi debeo, non valebat curis animus aeger saltim saltuatim tradenda percurrere, nunc per nocturna suspiria, nunc per diurna officia districtus. 225 Denn während mich die Zeit in den Mauern Livias eingeschlossen hielt, wobei ich das Ende dieses unerfreulichen Umstandes, neben der Hilfe Christi, dir verdanke, war mein durch Sorgen leidender Verstand nicht kräftig genug, um wenigstens zeitweise das Anvertraute zu erfüllen; bald war er des Nachts durch Seufzer gequält, bald bei Tage durch Pflichten. Sidonius erschien es unmöglich, während seines Exils literarisch aktiv zu sein. Welche Pflichten ihm tagsüber auferlegt wurden, verschweigt er. Als einen weiteren Grund für seine Schreibblockade erwähnt er das Verhalten von zwei alten Gotinnen: ad hoc, et cum me defetigatum ab excubiis ad devorsorium crepusculascens hora revocaverat, vix dabatur luminibus inflexis parvula quies; nam fragor ilico, quem movebant vicinantes impluvio cubiculi mei duae quaepiam Getides anus, quibus nil umquam litigiosius bibacius vomacius erit. 226 Überdies wurde, auch wenn mich erschöpft vom Wachehalten die Stunde der Dämmerung in meinen Schlupfwinkel zurückgebracht hatte, meinen Augen kaum eine kleine Erholung gewährt; denn dort herrschte ein Lärm, welchen irgend zwei alte Gotenweiber, die in der Nähe meiner Kammer im Hof waren, veranstalteten; es wird niemals eine zänkischere, trunksüchtigere und zum Erbrechen geneigtere Person als diese beiden existieren.

222 Sidon. epist. 8,3. 223 Siehe Köhler 2014, 246. van Waarden 2010, 9 vermutet, dass es sich um eine Übersetzung der Vita und nicht um eine Kopie gehandelt habe. 224 Sidon. epist. 8,3,1. 225 Sidon. epist. 8,3,1. 226 Sidon. epist. 8,3,2.

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Erst als Sidonius wieder zu Hause war, sei er in der Lage gewesen, die von Leo gewünschte Vita zu beenden. 227 Eine literarische Beschäftigung war im Exil inmitten barbarischen Verhaltens nicht möglich gewesen. Dieser Eindruck wird durch eine Bemerkung im neunten Buch bestärkt. Sidonius behauptet, um zu erklären, warum er während seines Exils keinen Brief geschrieben habe, dass dies einem moralischen Barbarismus gleichgekommen wäre. 228 Die Beschreibung der zänkischen, betrunkenen und sich erbrechenden Gotinnen vermittelt den Gegensatz zum gebildeten Aristokraten, der unter solchen Umständen, die zusammen mit dem Exil seine geistige Betrübnis erklären, seiner literarischen Beschäftigung nicht nachgehen kann. Es ist anzunehmen, dass Sidonius hier übertreibt, um in den Spuren Ovids sein Exil zu dramatisieren. 229 Die ihn umgebene Unzivilisiertheit übertrug sich auf seine literarischen Fähigkeiten. Denn die von ihm im Exil angefangene Vita beschreibt Sidonius, ebenfalls mit einer dreiteiligen adjektivischen Aufzählung wie für die Eigenarten der Gotinnen, als inpolitus, semicrudus und musteus. Der Diskurs über das Verhalten der alten Gotinnen präsentiert eine andere ‚Lebenswelt‘, in der sich Sidonius nicht nur nicht wohlfühlte, sondern die ihm als barbarisch erschien. Im Folgenden fordert er Leo, der angeblich ein Nachfahre Frontos ist, auf, für eine Weile mit der Komposition der Reden für Eurich aufzuhören, der die Herzen der überseeischen gentes in Furcht versetze und Verträge mit Barbaren schließe. 230 Leo solle sich von den Lasten des Hofes befreien und in Muße über das Leben des Philosophen Apollonius lesen. 231 Es seien zwei Bemerkungen hierzu erlaubt: 1. Obwohl Sidonius das Verhalten der Gotinnen als unzivilisiert und somit barbarisch beschreibt und diese Implikation dem antiken Leser bewusst war, scheint er nun den visigotischen König, dessen Name unerwähnt bleibt, nicht als Barbaren zu klassifizieren. Die Barbaren sind in dieser Schilderung dem Leser unbekannte gentes, die lediglich als transmarini näher lokalisiert werden und mit denen Eurich Verträge geschlossen habe. 232 Es ist zu überlegen, ob Sidonius hier bewusst auf eine barbarische Schilderung des visigotischen Königs verzichtet und diese lediglich durch Hinweise zur Sprache bringt. 2. Leo soll sich für die Lektüre vom visigotischen Hof zurückziehen. Die vorherige Schilderung des Sidonius, unter gotischer Präsenz nicht aktiv sein zu können, lässt sich auf diese Aufforderung übertragen. Es kann davon ausgegangen werden, dass er überzeugt ist, dass Leo sein volles Potenzial 227 Die Rückkehr auf gallischen Boden stellt die zweite Erzählzeit des Briefes dar, in welcher der Brief verfasst und verschickt worden sei und in die auch die Ermahnung an Leo, sich ganz der Lektüre zu widmen, fällt. 228 Sidon. epist. 9,3,3: […]  porro autem quidam barbarismus est morum sermo iucundus et animus afflictus. „[…] ferner aber wären ein angenehmes Gespräch und ein betrübter Geist eine Art Barbarismus der Moral.“ 229 Auch dieser war im Exil von Feinden umgeben: Ov. Pont. 1,2,13: […] hostibus in mediisinterque pericula versor  […]. „[…] ich befinde mich in mitten von Feinden und Gefahren […].“ 230 Sidon. epist. 8,3,3. 231 Sidon. epist. 8,3,4. 232 Vgl. Köhler 2014, 247, die über vandalische oder fränkische Gebiete spekuliert. Dauge 1981, 398 sieht die Verwendung von Adjektiven wie bspw. transmarinus, ultimus ignotus als Ausdruck der Distanz des ,Anderen‘ zum ,Selbst‘.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

nur in Muße und abseits von Fremden ausschöpfen kann. 233 Die pejorative Schilderung von zwei Gotinnen greift die Darstellung von Eurich und seinem Gefolge insofern nicht an, als dass Sidonius zwei alte Frauen, die ihm fremd sind, beschreibt. Sie verhalten sich entgegen dem gewohnten Verhalten von Frauen, d. h. entgegen dem Verhalten einer römischen matrona. Unklar bleibt daher, ob hier in der Tat die gotische gens, durch die Frauen repräsentiert, in ihrer Gesamtheit negativ dargestellt wird oder ob Sidonius sich tatsächlich einzig über die betrunkenen Frauen beschwert. Sind die visigotischen ‚Lebenswelten‘ in diesem Diskurs das ,Andere‘ oder die Frauen? Oder beides? Wenngleich nicht belegbar, wird der Vermutung gefolgt, dass Sidonius die Episoden über seinen Aufenthalt in Livia bewusst konstruiert, um den Leser von seiner schwierigen Situation zu überzeugen und dadurch indirekt auf die Alterität der neuen Machthaber in der Auvergne hinzuweisen. Nach der Darstellung der als ungebildeten, schrecklich anzusehenden, neidvollen Gruppierung, die furchterregend und verräterisch ist, Raubzüge unternimmt und die lokale Bevölkerung aushungert und leiden lässt, erscheint die sittenlose Darstellung in Friedenszeiten, die sogar die Frauen einschließt, als letztes Glied einer Kette. Die für Sidonius fremden Angehörigen dieser Gruppierung werden von ihm mit den Mitteln traditioneller Barbarendiskurse geschildert. Ähnlich werden Sachsen in seinem Schreiben an Namatius, der gebräuchlichen Darstellung gemäß, als Piraten und mit Bezügen zum Meer geschildert. 234 Bei Namatius muss es sich um einen gallo-römischen Aristokraten handeln, da er mit Sidonius einige Gemeinsamkeiten aufweist. Die captatio des Briefes leitet das Thema ein, welches am Ende durch eine Ringkomposition wieder aufgegriffen wird. Sie behandelt die konkurrierende Beschäftigung von militärischen Aufgaben und literarischen Studien, die sich wie bei Caesar die Waage halten sollen. 235 Die narratio ist zweigeteilt: Die erste narratio beschäftigt sich mit Sidonius’ Bericht über Nicetius als Vorbild für aristokratische Gelehrsamkeit. 236 Mit einer Episode über das mangelnde Jagdtalent des Namatius leitet er die zweite narratio ein. 237 Sie berichtet von einem Boten, der mit neuen Informationen über Namatius eingetroffen sei, und erklärt, weshalb Sidonius die übliche Länge eines Briefes überschreite: 233 Die Vita des Apollonius, dessen Charakter im vorletzten Absatz des Briefes als Beispiel für ein gutes Verhalten geschildert wird, soll Leo für sein eigenes Leben inspirieren (Sidon. epist. 8,3,5). Einen ähnlichen Interpretationsansatz biete Overwien 2009b, 98 f. Er sieht den Brief als Beispiel für einen falschen Umgang mit Bildung und sieht die Philosophenvita als exemplum für Leo, der sich aus „Eurichs Gefängnis“ befreien solle. 234 Sidon. epist. 8, 6,13–15. Diese Darstellung findet sich ferner in Sidon. carm. 7,369–371. Eine erste Erwähnung der Sachsen findet sich im Werk des Claudius Ptolemaeus: Ptol. geog. 2,11,16. Die Verbindung mit dem Meer und der Piraterie findet sich beispielsweise bei: Pacatus rhetor Paneg. Theodosia Augusto 5,2 (= XII Paneg. Lat. 93); Vita Bibiani 7; Oros. hist. 7,32,10 sowie Isid. orig. 9,2,100. 235 Sidon. epist. 8,6,1. 236 Sidon. epist. 8,6,2–10. 237 Sidon. epist. 8,6,11 f. Die zwei unterschiedlichen Inhalte können als Hinweis interpretiert werden, dass Sidonius für seine Veröffentlichung ursprünglich zwei Briefe an Namatius zu einem kunstvoll gestalteten Brief überarbeitet hat.

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sed ecce dum iam epistulam, quae diu garrit, claudere optarem, subitus a Santonis nuntius; cum quo dum tui obtentu aliquid horarum sermocinanter extrahimus, constanter asseveravit nuper vos classicum in classe cecinisse atque inter officia nunc nautae, modo militis litoribus Oceani curvis inerrare contra Saxonum pandos myoparones, quorum quot remiges videris, totidem te cernere putes archipiratas: ita simul omnes imperant parent, docent discunt latrocinari. unde nunc etiam ut quam plurimum caveas, causa successit maxuma monendi. 238 Doch während ich schon den Brief, der zu lange daher plappert, schließen möchte, ist da plötzlich ein Bote aus Saintes; mit diesem verbrachten wir, uns über dich unterhaltend, einige Stunden; er versicherte beständig, dass du kürzlich der Flotte das Trompetensignal gegeben hättest und bald den Pflichten eines Seemannes, bald eines Soldaten vor der kurvigen Küste des Ozeans gegen die eingebogenen Kaperschiffe der Sachsen umherschweiftest und du hättest ebenso viele von deren Ruderknechten gesehen, wie du glaubtest Piratenkapitäne zu erkennen: Sie befehlen während sie gehorchen, sie lehren während sie lernen, um gleichzeitig zu räubern. Daher ist nun auch ein gewichtiger Grund des Mahnens angeschlossen, damit du dich deswegen am meisten hüten sollst! Dem Boten zufolge patrouilliert Namatius, der das Amt eines militärischen Anführers ausübt, mit einer Flotte wegen der vor der Küste lauernden Kaperschiffe der Sachsen. Die Gefahr, die von der speziellen Bauart der sächsischen Kaperschiffe ausgeht, wird ebenfalls von Isidor erwähnt und beruht somit auf Hörensagen. 239 Die landschaftlichen Merkmale der kurvigen und somit schwierig im Blick zu haltenden Küsten verbergen einen weiteren Hinweis auf die Gefahr, der sich Namatius in seiner Funktion als Soldat aussetzt. Es ist zu vermuten, dass dieser es nicht gewohnt ist, als Offizier einer Flotte zu dienen, da sonst Sidonius nicht extra erwähnt hätte, dass er nun beiden Aufgaben gerecht werden muss. Für gallo-römische Aristokraten wie Namatius und Sidonius erscheinen alle Sachsen gleich und können gleicherweise Ruderknecht oder Anführer (archipirata) sein, was durch ein explikatives Asyndeton (imperare parere docere discere) 240, das die Gleichzeitigkeit der Handlungen – sie befehlen, während sie gehorchen, und sie scheinen zu unterrichten, während sie lernen – zum Ausdruck bringt. Der Infinitiv latrocinari beendet nicht nur die Aufzählung, sondern bringt ihr Verhalten auf den Punkt: Sie 238 Sidon. epist. 8,6,13. 239 Isid. Goth. 19 chron. II. Das bedeutet, dass weder der Bote noch Sidonius die Schiffe in Realität gesehen haben müssen, sondern es ein in der Literatur gebräuchlicher Topos zu sein scheint, um die Sachsen als Piraten zu kennzeichnen. Dem entgegen Flierman 2017, 46, der davon ausgeht, dass Sidonius „first- and second hand experience“ mit Sachsen gehabt hätte, was schlicht und ergreifend nicht belegbar ist. 240 Sidonius formt neben der Sinneinheit auch lautmalerisch (-perare, parere) die ersten beiden Glieder der Aufzählung ebenso zu einer Einheit: „Sie befehlen und gehorchen“, während der sinnliche Zusammenhang der nächsten beiden Glieder durch die Alliteration (docere discere) – „sie lehren und lernen gleichzeitig“ – verstärkt wird.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

sind Räuber. Aus der Retrospektive kann somit ein Bogen zum bereits beschriebenen Verhalten von Barbaren gespannt werden, denen nicht zu trauen ist. Hierbei muss an die gotischen Plünderungen, an das Beschwerdeschreiben an Riothamus oder an die Treulosigkeit der Burgunder gedacht werden. Sidonius gliedert die hier beschriebenen Sachsen in diesen Verhaltenskatalog ein. Er steigert sogar die Beschreibung der Sachsen gegenüber anderen nicht-römischen Gruppierungen: hostis est omni hoste truculentior. inprovisus aggreditur praevisus elabitur; spernit obiectos sternit incautos; si sequatur, intercipit, si fugiat, evadit. ad hoc exercent illos naufragia, non terrent. est eis quaedam cum discriminibus pelagi non notitia solum, sed familiaritas. nam quoniam ipsa si qua tempestas est huc securos efficit occupandos, huc prospici vetat occupaturos, in medio fluctuum scopulorumque confragosorum spe superventus laeti periclitantur. 241 Dieser Feind ist wilder als alle anderen Feinde. Unvermutet überfällt er; ist es vorausgesehen worden, entwischt er; er entfernt sich von mutwilligen Gegnern und er vernichtet die Unvorsichtigen, falls er verfolgt, fängt er ab; falls er flieht, entkommt er. Darüber hinaus üben sie jegliche Arten von Schiffbruch und fürchten sie nicht. Sie pflegen nicht nur eine Art von Bekanntschaft mit den Gefahren des Meeres, sondern eine Art Freundschaft. Denn sogar, wenn irgendein Sturm losbricht, der bald die in Sicherheit Versteckten zu Tage bringt, bald die Blicke der zu Überfallenden verhindert, wagen sie sich in der Hoffnung auf einen Überfall fröhlich mitten in die Wogen und die rauen Felsklippen. Sidonius offenbart, warum Namatius vorsichtig sein soll, da seiner Meinung nach die Sachsen „wilder/grimmiger“ als andere Feinde sind. Unklar bleibt, ob Sidonius hier vom gemeinschaftlichen Feindbild der römischen Welt oder speziell einem gemeinsamen Feindbild der gallo-römischen Aristokratie spricht. In beiden Fällen kann durch das gesteigerte Adjektiv trux, das er bereits an anderen Stellen zur Charakterisierung von Barbaren verwendet, darauf geschlossen werden, dass er die Sachsen aufgrund ihres Verhaltens als Barbaren wahrnimmt. Erneut muss der Begriff selbst nicht verwendet werden, um dies dem Leser zu vermitteln. Um zu begründen, warum die Sachsen „wilder“ als anderen Barbaren sind, verwendet Sidonius erneut eine Aufzählungstechnik, die in einer Dreigliedrigkeit mit je antithetischen Inhalten ihr Verhalten beschreibt. 242 Dabei bringen die Antithesen (inprovisus praevisus, objecti incauti, sequi fugere) zum Ausdruck, dass ihr Verhalten dem der römischen Lebenswelten sowohl im Bereich des römischen Militärs als auch der gallo-römischen Aristokratie entgegensteht. Ferner beschreibt Sidonius ihr 241 Sidon. epist. 8,6,14. 242 Dabei ist das erste Glied parallel aufgebaut, mit einem PPP, dem ein Deponens folgt, während im zweiten Glied die konjugierte Verbform dem Akkusativobjekt vorgestellt ist und das dritte Glied aus zwei potenziellen Fällen konstruiert wird, deren Ausgang, im Falle eines Eintretens, jedoch real ist.

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Stereotypisierung von Barbaren

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inniges Verhältnis zum Meer als familaritas. Sie kennen nicht nur die See, sondern sind mit ihr in einem Maße vertraut, wie ein Aristokrat mit Literatur vertraut ist 243. Daher fürchten sie weder Schiffbruch, den sie sogar noch üben, noch einen Sturm, den sie sogar zu ihrem Vorteil nutzen, um ihre Gegner zu überfallen. Er schildert die Sachsen insgesamt als eine militärische Einheit, die auf hoher See unbezwingbar erscheint. Im Anschluss liefert Sidonius einen weiteren Grund, warum Namatius vorsichtig sein soll: praeterea, priusquam de continenti in patriam vela laxantes hostico mordaces anchoras vado vellant, mos est remeaturis decimum quemque captorum per aquales et cruciarias poenas plus ob hoc tristi quod superstitioso, ritu necare superque collectam turbam periturorum mortis iniquitatem sortis aequitate dispergere. talibus se ligant votis, victimis solvunt; et per huiusmodi non tam sacrificia purgati quam sacrilegia polluti religiosum putant caedis infaustae perpetratores de capite captivo magis exigere tormenta quam pretia. 244 Zudem ist es Sitte, dass die Zurückkehrenden, bevor sie mit gesetzten Segeln aus den feindlichen Gewässern die bissigen Anker lichten, um vom Kontinent in die Heimat zu gelangen, jeden zehnten der Gefangenen durch einen Ritus der Kreuzigungen als Strafe töten, was dadurch widerlich ist, weil es abergläubisch ist; darüber hinaus verteilt die versammelte Schar der zum Tode Verurteilten die Ungerechtigkeit des Todes durch ein gerechtes Auslosen. Von der Art sind ihre Gelübde, die sie durch Opfer einlösen; und durch diese Art und Weise glauben sie, nicht etwa durch die Opfer gereinigt, sondern vielmehr durch religiöse Sakrilege beschmutzt, dass sie als Vollzieher dieses unheilvollen Blutbades vom Kopf eines Gefangenen mehr Folter einfordern können als Beute. Vorsicht sei geboten, da die Sachsen mit ihren Gefangenen nicht zimperlich umgingen und diese nach heidnischen Bräuchen für ihre Rückkehr opferten. Wieder ein Gemeinplatz, der beispielsweise bei Ennodius von Pavia gefunden werden kann, der menschliche Opfer bei Franken, Herulern und Sachsen belegt. Es zeigt, dass solche Gemeinplätze nicht nur bei Sidonius zu finden, sondern im Gedankengut der römischen Aristokratie fest verankert sind. 245 Ebenso wie die Wildheit der Sachsen und ihre räuberische Natur geschildert werden, wird ihr heidnischer Glaube thematisiert, der sie in den Augen des Sidonius unberechenbar macht. Indem sie ihren Aberglauben ausleben und ihre Gefangenen wie Opfertiere behandeln, begehen sie an der Religion ein Sakrileg. Weder ihr Verhalten noch ihre heidnischen Rituale können aus seiner Sicht nachvollzogen werden, womit ihre Alterität zum Vorschein kommt.

243 Sidon. epist. 8,4,2. 244 Sidon. epist. 8,6,15. 245 Ennod. vit. Antonii 13 (= opusc. 4); Cass. Dio 62,7,1 f.; Tac. Ann. 1,61,3; vgl. Flierman 2017, 47.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Trost spendet Sidonius die Tatsache, dass Namatius der Fahne des siegreichen „Volkes“ folge (… victoris populi signa comitaris …). 246 Bisher wurde angenommen, dass es sich bei diesem „siegreichen Volk“ um visigotische Föderaten handeln müsse, zumal es nicht untypisch war, Föderaten gegen andere nicht-römische Gruppierungen einzusetzen. 247 Doch wie ist der Brief in seiner Gesamtheit zu lesen und welche Funktion nimmt die Sachsenbeschreibung in diesem Schreiben ein? Oliver Overwien äußert die Hypothese, dass der Ausdruck der Sorge um Namatius ein versteckter Vorwurf des Sidonius sei. Denn Namatius habe das Leben eines GalloRömers aufgegeben und dadurch keinen Zugriff mehr auf Literatur. 248 In der Gesamtkomposition des Briefes ist dieser Vermutung nur in Grundzügen zuzustimmen. Sidonius wirft Namatius vor, nicht genügend Zeit mit Bildung zu verbringen, was durch die Ringkomposition des Briefes zum Vorschein kommt und das Hauptanliegen darstellt. Er soll sich ein Beispiel an Caesar nehmen, der sowohl im Kampf gegen die Barbaren als auch in seinen literarischen Beschäftigungen äußerst erfolgreich war. Overwien vertritt die Meinung, dass die ersten acht Briefe des achten Buches als kodierter Widerstandsaufruf des Sidonius an seine aristokratische ‚Lebenswelt‘ zu interpretieren seien. Problematisch ist dabei die kaum zu bewerkstelligende Datierung der „first lives“ 249 der Briefe und die somit unklare politische Situation, unter der die originalen Schreiben entstanden. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die retrospektive Sicht des Autors selbst seine Briefe maßgeblich geprägt hat. Dennoch bleiben viele Fragen offen: 1.  Hat Namatius unter visigotischem Oberkommando gedient und nicht unter einem burgundischen magister militum? 2. Wenn er unter visigotischem Oberbefehl als militärischer Offizier aktiv war, war er es unter dem intakten foedus mit Theoderich II. oder unter Eurich? 3.  Könnte mit dem siegreichen Volk nicht doch Rom gemeint sein? 4.  Wenn der Brief unter der Herrschaft Eurichs veröffentlicht wurde, kann es sich bei ihm nicht vielmehr um einen Aufruf zur Erhaltung des Bildungsstandards, selbst in kriegerischen Zeiten, handeln, als um einen Widerstandsaufruf? Diese Fragen verdeutlichen einmal mehr die Problematik bei der Interpretation der Sidoniusbriefe. Dabei wird es nicht die eine richtige oder falsche Interpretation geben. Das Lesen zwischen den Zeilen lässt Spielraum für Ideen und Hypothesen, die nicht unbedacht verworfen werden sollten. Die stilistisch ausgearbeitete Darstellung der Sachsen, in warnender Rhetorik verpackt, ist als weitere Ermunterung an den Leser zu verstehen, in jedweder Situation die Beschäftigung mit Literatur nicht zu vernachlässigen.

246 Sidon. epist. 8,6,16. 247 Harries 1994, 197; auch die PLRE II, 772 verweist für Namatius auf Sidon. epist 8,6, wodurch ein visigotischer Militärdienst nicht gesichert erscheint. 248 Overwien 2009b, 104. 249 Ich bediene mich hier dem von Joop van Waarden verwendeten Ausdruck: van Waarden 2010, 44.

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Stereotypisierung von Barbaren

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5.1.4 Zwischenfazit zur Stereotypisierung Sidonius bedient sich traditioneller Vorurteile, um das Verhalten, die Erscheinung und die Bildung von Barbaren im Allgemeinen darzustellen. Die bereits besprochenen Textauszüge zeigen, dass diese Kategorien oft Hand in Hand gehen und dass durch die Verwendung von speziellen Topoi – wie der barbarischen Ungebildetheit, Wildheit – oder von Metaphern der Terminus ‚Barbar‘ verzichtbar wurde. Die unmittelbare textliche Nähe von charakterlichen und verhaltensbedingten Verfehlungen als Darstellungsmerkmal von Alterität gegenüber Gallo-Römern wie Sidonius und die namentliche Nennung von unterschiedlichen gentes in diesen Zusammenhängen verdeutlichen, dass Sidonius diese in ihrer allgemeinen Beschreibung als Gegenpart zu seinen eigenen ‚Lebenswelten‘ als barbarisch wahrnimmt. Der Rückgriff auf traditionelle Barbarenbilder unterstützt Sidonius dabei, diese ,Andersheit‘ gegenüber den Lesern zum Ausdruck zu bringen. Es scheint für ihn unwichtig zu sein, dass seine Darstellungen der Realität entsprechen. Sidonius beschreibt eine Gruppe fremder Menschen. Diese Art der Stereotypisierung ist noch im 6. Jahrhundert in den Briefen des Avitus von Vienne erkennbar. In seinem Dankesschreiben an Eustorgius im ostgotischen Mailand kreiert Avitus einen rhetorischen Kontrast zu ,Anderen‘, um die Größe des Empfängers hervorzuheben: […] victa est per reverentiam vestri in rigore barbarico humilitate immanitas, intercessione crudelitas, inlatione cupiditas. […] 250 […] Aus Respekt vor dir hat bei der barbarischen Unbeugsamkeit die Menschlichkeit über die Wildheit, die Barmherzigkeit über die Grausamkeit, die Großzügigkeit über die Habgier gesiegt. […] In diesem Kontext charakterisiert Avitus die Barbaren durch Wildheit, Grausamkeit und Habgier. Dadurch drückt er in ähnlicher Weise wie Sidonius aus, was in seinen Augen gute Eigenschaften sind (humilitas, intercessio und inlatio) und stellt das Verhalten von Barbaren in direkten Gegensatz zum Verhalten seiner lebensweltlichen Gemeinschaft. Auffallend ist dabei die Präsenz kirchlicher Ideale wie ein Leben in Demut und Gebet. All diese Beispiele zeigen, dass Sidonius ,Andere‘, die für ihn Fremde sind, in vielfacher Weise mit traditionellen Stereotypen belegt, die bereits andere antike Autoren vor ihm verwendet haben und die auch bei Autoren nach ihm nachweisbar sind. Er übernimmt diese Darstellungsweisen für Menschen, die er direkt und primär indirekt als Barbaren klassifiziert, um nicht nur sich selbst, sondern v. a. den Leser seiner Briefe zu überzeugen, dass diese Menschen wirklich anders sind und sie nicht in die ‚Lebenswelt‘ eines gallo-römischen Aristokraten gehören. Gleichzeitig verwendet er diese Gruppierungen als narrativen Hintergrund in seinen Briefen, um den Leser für seine Version der Geschichte zu gewinnen. Sei es als Rechtfertigung für eine Bitte wie im Schreiben 250 Alc. Avit. epist. 7,3 (= 10 Peiper).

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

an Bischof Censorius oder wie die felltragende Leibgarde im Schreiben an Agricola. Die Nichtverwendung des Terms ‚Barbar‘ sowie die metaphorische Darstellung derselben als Tiere bezeugen, dass Sidonius noch andere Verschleierungstechniken hatte, um die barbarische Alterität in seinen Briefen zum Ausdruck zu bringen.

5.2 Obscuritas in den Briefen Im Folgenden wird primär obscuritas durch landschaftliche Verweise untersucht . 251 Dabei wird zwischen allusiven Verweisen, die als Hinweise des Sidonius auf Problematiken der eigenen Zeit verstanden werden, und Landschaftsdiskursen, die als Form von Alterität interpretiert werden, unterschieden. Da Sidonius bei der Darstellung von Barbaren nicht strikt zwischen stereotypisierter Darstellung, metaphorischen Verweisen und Allusionen unterscheidet, werden der Vollständigkeit halber alle relevanten Briefe, auch wenn sie in der Arbeit bereits unter anderen Gesichtspunkten ausführlicher betrachtet wurden, im vorliegenden Kapitel analysiert. Das Verhalten von Barbaren ist in den Briefen offensichtlich mit landschaftlichen Darstellungen und den politischen Umständen der Zeit verwoben. So schildert Sidonius den aristokratischen Lebensstil beispielsweise als landschaftliche und naturbelassene Idylle seines Landgutes, während er die Umgebung, die mit Barbaren in Zusammenhang steht, landschaftlich und klimatisch düster kontrastiert. 252 Bevor die Hypothese untersucht wird, inwieweit Landschaft und Klima als verdeckte Hinweise auf Barbaren gesehen werden können, seien zunächst diese Begrifflichkeiten zu definieren. 253 Landschaft als Konzept ist v. a. in den letzten Jahren in den Fokus unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen geraten. 254 Nachdem Kunsthistoriker schon lange mit Landschaftskonzepten arbeiten, werden sich auch Historiker und Archäologen immer mehr der Verbindung von Landschaft und Gesellschaft bewusst und gewinnen die Erkenntnis, dass das eine ohne das andere nicht gänzlich verstanden werden kann.

251 Dabei folge ich den Ideen und Gedanken von Schwitter 2015 zur obscuritas in der spätantiken Briefliteratur. 252 Sidon. epist. 2,2; 2,9. 253 Eine ähnliche Hypothese verfolgte Ellen Arnold in ihrem Aufsatz Fluid Identities. Am Beispiel von Flüssen wird die Möglichkeit einer Identitätskonstruktion durch Landschaft erörtert. Die Autorin geht davon aus, dass Ausonius, Sidonius und Venantius Landschaft nutzten, um allgemeine Sorgen kultureller und politischer Art zum Ausdruck zu bringen (Arnold 2014, 89). 254 Hier muss an das Projekt Topoi in Berlin, an die Graduiertenschule Human Development in Landscapes in Kiel oder an Publikationen wie zum Beispiel The Archaeology and Anthropology of Landscape (Ucko/Layton 2011) gedacht werden. Für einen ersten Überblick sei ferner auf Fischer 2012 verwiesen.

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Obscuritas in den Briefen

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Landschaft ist ein komplexes Konstrukt, das je nach Gebrauch und Disziplin unterschiedlich definiert wird. 255 Für die Alte Geschichte hält Graham Shipley fest, dass das Landschaftskonzept für jede Quelle und jeden Autor differiert. 256 Antike Literaten nutzten Landschaft, um ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Daher muss ihre Darstellung als eine ,mentale Landschaft‘ interpretiert werden, statt sie als eine real existierende physische Umgebung zu sehen. Für die griechische Antike unterscheidet Susan G. Cole drei unterschiedliche Landschaften: 1. die natürliche Landschaft; 2. die vom Menschen geprägte Landschaft, die er sich beispielsweise durch Agrikultur nutzbar gemacht hat; 3. die imaginierte Landschaft als Raum, der über die kultivierten Felder der zivilisierten Landschaft hinausreicht. 257 Dank des Wissens, dass das antike Denken das Barbaricum vom Römischen Reich abgegrenzt und in Berichten teils mystifiziert, 258 kann gefolgert werden, dass in den Quellen die als Barbaren dargestellten Menschen als Teil dieser Landschaft verstanden wurden. In anderen Worten: Die Wildheit der Landschaft und die Wildheit der Bewohner haben sich gegenseitig beeinflusst. 259 Verbunden mit der antiken Klimatheorie, welche die räumliche Entfernung von der mediterranen, zivilisierten Welt auf Erscheinung und Charakter der Menschen überträgt, hat sich ein Barbarenbild etabliert, das in enger Verbindung mit Natur, Landschaft und Klima zu sehen ist. 260 Mit Landschaftsdiskursen setzt sich John Wylie in seiner Monographie Landscape auseinander und formuliert treffend die Besonderheit von Landschaftsdiskursen: […] a discourse of landscape, in a given setting and epoch, will enable and endorse some ways of behaving, perceiving, picturing and representing, but, at the same time, constrain or proscribe others. […] a discourse will establish some behaviours

255 Trepl 2012, 11; Aston 1985, 20. Ludwig Trepl (Trepl 2012, 19) interpretiert Landschaft als eine sich stetig ändernde Situation. 256 Shipley 1996, 12: „Landscapes exist differently for different cultures and for different groups within a society; and landscape is always given meaning, which may not equate to its practical significance. There is, of course, a caution to make: élite writings are not necessarily evidence of ordinary people’s outlook.“ 257 Cole 2004, 7 f. 258 Vgl. die Berichte über den hercynischen Wald: Caes. BG 6,25; vgl. Str. 7,1,5; Plin. nat. 16,6. 259 Zur Wildnis siehe: Smith 1996, 154: „However defined, the concept of wilderness is a binary one, conveying the notion of a scale between two poles, and thus two extremes. It invokes polarized contrasts and provokes oppositions: wilderness against civilization; the wild against the tame; places of disorder, confusion and savageness against controlled and orderly places; places usually (but not always) hostile and alien as opposed to pleasant, reassuring places.“ Wildnis ist als Gegensatz zum römischen locus amoenus zu betrachten; vgl. Beagon 1996, 286. Die ,barbarische‘ Geographie wird in Kapitel 1.5 erörtert. 260 Arist. pol. 7,7 1327 b 21. Seit Poseidonius ist dieses Bild für Rom adaptiert. Siehe hierzu: Vitr. 6,1, f. sowie Str. 6,4,1. Bei Sidonius bspw. ist es in epist. 8,11,9 zu finden: […] urbium cives Africanarum, quorum, ut est regio, sic animus ardentior. „[…] Bürger afrikanischer Städte, deren Charakter so heiß ist, wie die Region.“

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

and identities as normal, approved and even natural, while making others appear unusual, marginal or unnatural. 261 Bei der Darstellung von ‚Anderen‘ erscheinen die Gegensätze von Natur und Kultur, ausgedrückt in der landschaftlichen und klimatischen Darstellung, als Rahmen des Narrativen, als Instrument, um Differenzen auszudrücken. 262 Dabei unterscheidet sich der Mensch im kultivierten Raum vom Tier im Naturraum. Auf das idealisierte Denken der römischen Antike übertragen, lebt ,der Römer‘ in der zivilisierten Landschaft, der Barbar weiterhin wie ein Tier in der Wildnis. 263 Der Begriff der Landschaft umfasst in dieser Arbeit aus diesem Grund sowohl die natürliche Landschaft, einschließlich klimatischer Bedingungen, die vom Menschen beeinflusste Landschaft sowie eine imaginierte Landschaft der Autoren. Diese unterschiedlichen Landschaftskonzepte existieren nicht nur nebeneinander, sondern gehen ineinander über und ergänzen sich gegenseitig. Es wird von der Grundannahme ausgegangen, dass Sidonius durch die metaphorische Verwendung von Landschaft seine Konstruktion von Alterität erweitert. Durch den Gebrauch von metaphorischer Landschaft in diskursiver Weise wird ihre Bedeutung in den spätantiken Briefen gewichtiger. 264 Für die Bedeutung von Landschaftsdiskursen wird der Annahme von John Wylie gefolgt. Im Diskurs bildet Landschaft einen Vorhang, hinter dem die Realität verschleiert wird und sich das ,Selbst‘ konstruiert. Wylie beruft sich in diesem Punkt auf David Matless, der in seiner Monographie über Landscape and Englishness die Frage nach einer Verbindung von Identität und Landschaft untersucht. 265 Wie bereits festgestellt, bringt Sidonius metaphorische Tierverweise zum Einsatz, um Barbaren darzustellen. Es ist davon auszugehen, dass er als Ausdruck seiner Wahrnehmung ferner landschaftliche Verweise verwendet, um auf politische Situationen aufmerksam zu machen. Dabei bedient er sich verschiedener Techniken, um Inhalte zu verschleiern. Raphael Schwitter demonstriert in seiner 2015 erschienen Dissertation Umbrosa Lux, dass obscuritas in der spätantiken Epistolographie ein beliebtes Mittel war, um gezielt Inhalte in den Briefen zu verschleiern oder zu kodieren. Damit ist, wie Joop van Waarden richtigerweise deutlich macht, keine kodierte Kommunikation des systemtheoretischen Ansatzes der Kognitionswissenschaften gemeint. Obscuritas, Allusionen und Kodierungen referieren nicht auf eine vollständig kryptische Botschaft, sondern dienen als Technik, um bestimmte Inhalte, die der Allgemeinheit verborgen bleiben sollen, zu verhüllen. Die Überarbeitung der Briefe bot eine weitere Möglichkeit, um politische Botschaften im Nachhinein zu tarnen. 266 Dies setzt voraus, dass sowohl Verfasser 261 Wylie 2007, 111. 262 Friedrich 2009, 9. 263 Beispielsweise Sidon. epist. 4,1,4, wenn er von den sumpfbewohnenden Sygambern oder den kaukasischen Alanen berichtet. 264 Vgl. Botello 2015, 494. 265 Wylie 2007, 112, 118; Matless 1998, passim, bes. 12 f. 266 Van Waarden 2010, 39, bes. Anm. 84.; Harries 1994, 15–17. Zur Verschleierung durch die bewusste Überarbeitung und Anordnung der Briefe siehe: Harries 1994, 11. Zelzer 1995, 548: „Hier liegt

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Obscuritas in den Briefen

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als auch Empfänger des Briefes mit der Art und Weise der Verschlüsselung vertraut sind, was als ein weiteres Identifikationsmerkmal der Innengruppe des Sidonius gesehen werden kann. 267 Das Verbergen der eigenen Meinung war in der Antike nichts Neues und bereits im Werk De elocutione wurde auf diese Möglichkeit, wenn auch für die Rhetorik, hingewiesen: τὸ μὲν οὖν κολακεύειν αἰσχρόν, τὸ δὲ ἐπιτιμᾶν ἐπισφαλές, ἄριστον δὲ τὸ μεταξύ, τοῦτ̓ ἔστι τὸ ἐσχηματισμένον. 268 Tatsächlich ist das Schmeicheln schmählich, das Tadeln gefährlich, das Beste aber liegt dazwischen, dieses nämlich ist, sich zu verstellen. Joop van Waarden, Danuta Shanzer und Ian Wood arbeiten heraus, dass verschleierte Nachrichten als Formalia der antiken Briefliteratur zu betrachten sind und durch die antike Brieftheorie tradiert wurden. 269 Sie erfüllen also zweierlei Funktion: 1. Sie dienten dem Autor zur Demonstration seiner paideia, indem er den Konventionen der antiken Brieftheorie folgend allusiven Techniken gebrauchte. 270 2. Sie sollten bestimmte Inhalte, aus welchen Gründen auch immer, bewusst verschleiern. Raphael Schwitter macht deutlich, dass für die lateinische Epistolographie die „Kodierung des sprachlichen Ausdrucks aus Gründen der Vorsicht und der persönlichen Sicherheit“ seit Cicero nachzuweisen ist. 271 Wie gefährlich es war, sich politisch in Briefen zu äußern, belegen neben den Briefen des Sidonius die Schriften Gregors von Tours. 272 Die brieflich miteinander in Verbindung stehenden Korrespondenten waren durch militärische Auseinandersetzungen voneinander getrennt und immer wieder wird in den Briefen die Distanz zwischen Empfänger und Verfasser sowie die Schwierigkeit, Briefe

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wohl der Schlüssel für das Verständnis der Briefsammlung des Sidonius: eine Darstellung der Geschichte seiner Zeit erschien ihm viel zu gefährlich in den politisch äußerst schwierigen Zeiten, in denen er sich letztlich mit dem arianischen Germanenherrscher Euricus arrangieren mußte; unter dem Deckmantel des Briefes konnte er jedoch der Nachwelt all das hinterlassen, was ihm am Herzen lag.“ Vgl. van Waarden 2010, 65. Demetr. Eloc. 294. Van Waarden 2010, 40; Shanzer/Wood 2002, 84; vgl. Iul. Vict. rhet. 27: lucem vero epistolis praefulgere oportet, nisi cum consulto clandestinae litterae fiant, quae tamen ita ceteris occultae esse debent, ut his, ad quos mittuntur, clarae perspicuaeque sint. „Klarheit muß aus den Briefen hervorleuchten, wenn es nicht mit Absicht Geheimbriefe werden sollen (die freilich für Unberufene so unverständlich sein müssen, daß sie den Empfängern, für die sie bestimmt sind, klar und verständlich seien). (Übersetzung Hofmann 2014, 129). Vgl. Näf 1995, 47. Schwitter 2015, 239. Quint. inst. 9,2,66, benennt drei Gründe, um auf Verschleierungen zurückzugreifen: 1.  aus Gründen der Unsicherheit, 2.  aus Gründen der Unschicklichkeit des Inhaltes, 3. aus Gründen der Eleganz. Beispielsweise Greg. Tur. HF. 10,9.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

zu versenden, angesprochen. 273 Für Schwitter ist es daher verständlich, dass sich Bischöfe wie Sidonius in ihren Briefen vorsichtig zu aktuellen politischen Situationen äußerten. 274 Michaela Zelzer stellt fest, dass manches Urteil des Sidonius über zeitgenössische Probleme als zu hart erscheine, um es offen anzusprechen, und die Verschleierung solcher Inhalte in den Briefen, die alle Genera umfassten und in denen politische Äußerungen zwischen Freundschaftsbriefen, Empfehlungs- und Dankschreiben versteckt werden konnten, dies ermöglicht habe. 275 Schwitter zufolge stellt der … realhistorische Hintergrund, der Obscuritas in der Folge bedingte, […] letztlich wieder nur eine erzählte Wirklichkeit dar, die mit der historischen Realität nur bedingt deckungsgleich sein musste. 276 Die Briefe dienten als Instrument, um über das physisch Wahrgenommene zu reflektieren und dies einzuordnen. 277 Vor diesem Hintergrund sind die landschaftlichen Diskurse in Sidonius’ Werken zu betrachten und zu analysieren. Wie zuvor dargestellt existieren in den Sidoniusbriefen weitere Techniken (Aussehen, Bildung, Verhalten), um auf ,Andere‘, speziell ,barbarische Andere‘, hinzuweisen, ohne Ausdrücke wie Barbaren oder Gentilnamen zu verwenden. 5.2.1 Verschleierte Hinweise auf das Zeitgeschehen Die meisten Verweise auf das aktuelle Geschehen in Gallia sind sehr subtil und umfassen diverse Lebensbereiche: Bildung, Karriere, Briefaustausch oder Landschaft. Während im ersten Briefbuch das Zeitgeschehen offen thematisiert wird, 278 wie z. B. der Arvandusfall, beginnt Sidonius im zweiten Buch, kleinere verdeckte Hinweise, meist zu Beginn eines Briefes, einzustreuen. Das zweite Buch befasst sich vorwiegend mit den ‚Lebenswelten‘ der gallo-römischen Aristokratie, berichtet des öfteren vom ländlichen Leben als Teil des aristokratischen otium 279, aber auch über Pflichterfüllung 280 und Freundschaft 281. 273 Zum Beispiel Sidon. epist. 3,4,2; 4,2,1; 9,5,1; Alc. Avit. epist. 33 (=  37 Peiper); 75,21–22 (=  79 Peiper). 274 Schwitter 2015, 258. 275 Zelzer 1995, 549. 276 Schwitter 2015, 258. 277 Ricoeur 1998. Es gibt keinen direkten Zugang zur ‚Lebenswelt‘ und zum ‚Selbst‘. Es ist immer eine Vermittlung durch Symbole und Texte und demnach eine Interpretation. 278 Dementgegen Hanaghan 2017, der eine Interpretation von Epistel 1,5 vorlegt, in der er die darin beschriebene Landschaft als verschleierten Hinweis auf die beginnenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der Auvergne deutet. Dieser Interpretation wird nicht Folge geleistet, wie in Kapitel 5.2.2 erläutert wird, da die Landschaft in diesem Brief eine andere Funktion erfüllt. 279 Sidon. epist. 2,2; 2,9 f.; 2,12; 2,14. 280 In diese Beispiele eingeschlossen sind Empfehlungsschreiben, da diese als Teil aristokratischer Pflichten aufgefasst werden. Sidon. epist. 2,1; 2,4 f.; 2,7 f.; 2,10; 2,12. 281 Sidon. epist. 2,3; 2,6; 2,11; 2,13.

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Obscuritas in den Briefen

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Lediglich in Epistel 2,1 an Ecdicius finden sich Anzeichen sozialer Veränderungen in der Region und Ansichten des Sidonius über barbarisches Verhalten. 282 Da dieser Brief im Zusammenhang mit Seronatus an späterer Stelle betrachtet werden soll, wird er in diesem Kapitel zurückgestellt. In Epistel 2,11, adressiert an Rusticus, der in der Nähe von Bordeaux lebte, beschreibt Sidonius die Entfernung, die die beiden Briefpartner voneinander trennt, weshalb eine Reise für persönliche Gespräche nicht zu realisieren sei: Si nobis pro situ spatiisque regionum vicinaremur nec a se praesentia mutua vasti itineris longinquitate discriminaretur […]. 283 Wenn wir durch Lage und Raum unserer Region benachbart wären und auch nicht unsere gegenseitige Gegenwart von der Weite und Länge der Reise verhindert werden würde, dann […]. Obwohl Sidonius früher in der Lage war, nach Rom zu reisen, erscheint nun eine Reise nach Bordeaux als eine Unmöglichkeit, die seiner Meinung nach niemals hätte eintreten dürfen. Die große Entfernung verhindere nicht nur das Reisen, sondern gefährde selbst den Austausch von Briefen. 284 Dabei treffe keinen eine Schuld: […] cum de naturalium rerum difficultate nec culpa nos debeat manere nec venia. 285 […] weil, bedingt durch die natürliche Schwierigkeit der Sache, uns weder Schuld noch Schonung erwarten dürfte. Es stellt sich nun die Frage, ob Sidonius die Entfernung zum Anlass nimmt, um seinen unregelmäßigen Kontakt zu Rusticus zu entschuldigen, oder hier einen Hinweis liefert, dass sich die politische Situation in Gallien zuspitzt und es dadurch schwieriger ist, von einer gallischen Provinz in eine andere zu reisen. Eine definitive Entscheidung muss aufgrund fehlender Anhaltspunkte offenbleiben. Eine Anspielung politischer Art findet sich im 13. Brief des Buches, der an Serranus, einen sonst unbekannten Empfänger, gerichtet ist. Von ihm ist aufgrund des Inhaltes und der Tatsache, dass er als Empfänger in der Sammlung veröffentlicht wurde, anzunehmen, dass er ebenfalls ein Aristokrat war. Obwohl die Anspielung in diesem Schreiben nicht in Zusammenhang mit Barbaren zu bringen ist, wird der Brief als Beispiel für die Verschleierungstechnik präsentiert. Sidonius schreibt an Serranus, weil er über einen gemeinsamen 282 Sidon. epist. 2,1,1: Duo nunc pariter mala sustinent Arverni tui. ‚quaenam?‘ inquis. praesentiam Seronati et absentiam tuam. „Deine Arverner ertragen gerade gleichzeitig zwei Übel. ‚Welche?‘, fragst du? Die Anwesenheit des Seronatus und deine Abwesenheit.“ 283 Sidon. epist. 2,11,1; zu Rusticus siehe: PLRE II, 964 unter Rusticus 4. 284 Sidon. epist. 2,11,2. 285 Sidon. epist. 2,11,2.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Freund einen Brief gezeigt bekam, in dem Serranus den Kaiser Petronius Maximus, den Vorgänger des Kaisers Avitus, Schwiegervater des Sidonius, lobt. Sidonius präsentiert historische Beispiele von Sulla, Damokles und Sardanapal, um seine Ansicht sowohl zum Kaisertum, als auch zur Einstellung des Serranus darzulegen. Der Brief statiert daher eine Erörterung der Meinung Sidonius’: In der captatio (Paragraph 1) wird die Ausgangsthese dargelegt; in der narratio (Paragraphen 2–8) wird diese durch Beispiele erörtert und im Anschluss (am Ende von Paragraphen  8) folgt die conclusio. Die von Sidonius zu erörternde These lautet: sed sententiae tali numquam ego assentior, ut fortunatos putem qui reipublicae praecipitibus ac lubricis culminibus insistunt. 286 Aber einer solchen Meinung werde ich niemals zustimmen können, dass ich diejenigen für glücklich halten soll, welche die abschüssigen und unsicheren Gipfel des Staates betreten. Im Gegensatz zum Adressaten ist Sidonius der Meinung, Petronius Maximus sei weder als glücklich noch als beneidenswert zu betrachten, weil er es in seiner öffentlichen Karriere bis zum Kaiser gebracht habe. Im ersten Teil der narratio begründet er dies mit dem Beispiel Sullas, der von der Macht eingenommen wurde und Sidonius zu Folge dieses Schicksal jedem Machthaber bevorstehe. 287 Diese Besessenheit glaubt Sidonius in der Vita des Maximus zu sehen, der dieselben Ämter mehrmals bekleidet habe, bis er endlich an den „Abgrund“ der Kaiserwürde gelangt sei. 288 Er vermutet im Anschluss, dass dieser wohl vor seinem zweimonatigen Prinzipat glücklicher gewesen sei. 289 Der Bericht über Maximus endet mit dessen Tod. Das anschließende Beispiel des Damokles, eines Untergebenen, der für ein Mahl im Stil des Sardanapal mit dem Tyrannen Dionysius die Rolle tauschen wollte und es bereute, schließt die Argumentation der narratio ab. 290 In der conclusio animiert Sidonius Serranus durch eine rhetorische Frage, das Loblied auf Petronius Maximus zu überdenken. 291

286 Sidon. epist. 2,13,1. 287 Sidon. epist. 2,13,2. nam sicut hominibus reges, ita regibus dominandi desideria dominantur. „Denn sowie Könige die Menschen beherrschen, so werden die Könige von der Sehnsucht des Herrschens unterdrückt.“ 288 Sidon. epist. 2,13,3. 289 Sidon. epist. 2,13,4. profecto invenies hominem beatiorem prius fuisse quam beatissimus nominaretur. „Du wirst tatsächlich erkennen, dass dieser Mensch glücklicher gewesen war, bevor er der Glücklichste genannt wurde.“ 290 Sidon. epist. 2,13,6–8. 291 Sidon. epist. 2,13,8: quapropter ad statum huiusmodi, domine frater, nescio an constet tendere beatos, patet certe miseros pervenire. „Aus diesem Grund, Herr und Bruder, weiß ich nicht, ob es feststeht, dass die Glücklichen zu einem solchen Zustand eilen, wenn bekannt ist, dass mit Gewissheit die Elenden dort hingelangen.“

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Obscuritas in den Briefen

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Es gilt, auf einige Unregelmäßigkeiten des Briefes hinzuweisen. In der captatio beschreibt Sidonius den Adressaten als in einem Klientelverhältnis zu Kaiser Maximus stehend, was impliziert, dass dieser in der erzählten Zeit des Briefes noch am Leben war. Im Verlauf der narratio berichtet er von dessen Ermordung und bricht somit mit der Erzählzeit, die in der captatio suggeriert wurde. Ein weiterer Bruch der Zeitverhältnisse folgt in der conclusio, in der Sidonius den Empfänger als domine frater anspricht. Da dies auf einen kirchlichen Stand von Verfasser und Adressat hindeutet und Sidonius erst nach 470 n. Chr. als Bischof von Clermont in Erscheinung tritt, ist dies ein weiterer Anachronismus zur captatio des Briefes, in der Maximus als noch lebender Schutzherr von Serranus präsentiert wird. Vor dem Hintergrund der Sidonius-Vita ist zu vermuten, dass er mit diesem Brief die kurze Herrschaft und den Tod seines eigenen Schwiegervaters verarbeitet. Als ein Hinweis darauf ist die Aussage zu Beginn des Briefes über die Gefahr an der Spitze des Staates zu stehen zu sehen sowie das Ende des Briefes, dass ein solches Schicksal den Elenden vorbestimmt sei. Eine mögliche naheliegende Parallele zu Avitus wird von Sidonius durch die anachronistischen Verhältnisse des Briefes wohl bewusst verschleiert. Petronius Maximus lebte doch zu einer Zeit, in der Sidonius selbst noch keine öffentlichen Ämter in Rom ausübte und wir über seine öffentlichen Ämter nichts wissen. Weiterhin sind Parallelen zur Vita des Avitus erkennbar, der ebenfalls am Abgrund der Kaiserwürde stand und ebenfalls ermordet wurde. Gerade weil Sidonius seinem eigenen Schwiegervater öffentlich nie Machtgier nachsagen würde, kann das Beispiel des Petronius Maximus als Ersatz dafür dienen, sich zu artikulieren. Dieser Brief ist als Kritik am römischen Staat zu lesen. Dabei greift Sidonius auf Beispiele aus der Vergangenheit zurück, um den Leser von seinen Ausführungen zu überzeugen. Nur ein Leser, der über eine gleichrangige Bildung wie die des Sidonius verfügt und mit der Geschichte von Sulla, Dionysius, Damokles und Sardanapal vertraut ist, kann diese Beispiele vollständig begreifen. Die zeitlichen Anachronismen im Schreiben offenbaren eine weitere Verschleierungstechnik des Sidonius, um den Leser zum Mitdenken anzuregen. Beide besprochenen Beispiele demonstrieren einen Fokus auf das ,Selbst‘ im zweiten Buch der Sidoniusbriefe, weshalb es nicht erstaunlich ist, in diesem kaum Anspielungen auf Barbaren zu finden. Sidonius baut in diesem Buch die Konstruktion der eigenen ‚Lebenswelten‘ aus, vor denen er die ,Anderen‘ abgrenzt. Der Leser wird in diesem Prozess unbewusst ein Teil dieses gemeinschaftlichen Denkens. 5.2.1.1 Verschleierungen im dritten Buch Die Hinweise direkter und indirekter Natur auf die Widrigkeiten seiner Zeit häufen sich ab dem dritten Buch der Briefe. In einem Schreiben an Eucherius beschwert sich Sidonius darüber, dass römische Aristokraten für ihre militärischen Leistungen nicht mehr zur Genüge entlohnt würden. Zu Beginn des Schreibens stellt er den Staat in einem Zustand äußersten Elends dar:

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

neque si Romana respublica in haec miseriarum extrema defluxit, ut studiosos sui numquam remuneretur, non idcirco Brutos Torquatosque non pariunt saecula mea. 292 Und auch wenn der römische Staat in dieses extreme Elend herabgesunken ist, sodass die Eifrigen von ihm niemals mehr belohnt werden, dann nicht deswegen, weil mein Zeitalter keine Männer mehr, wie Brutus oder Torquatus hervorbringt. Sidonius verweist durch die äußerste miseria auf den Zustand, in dem sich der römische Staat und somit auch Gallia seiner Meinung nach befinden. Ferner macht er deutlich, dass seines Erachtens nicht die Aristokratie an diesem Zustand Schuld trägt, da es nicht an Helden, die den republikanischen Vorbildern von Brutus und Torquatus ähnlich sind, fehle. 293 Er sieht die Schuld im Staat, der solche Männer nicht würdige. Filomena Giannotti vermutet, dass der Brief einen Aufruf zum Widerstand gegen Eurich darstelle. Gleichzeitig sei das Schreiben ein Vorwurf an Rom ob mangelnder Intervention. 294 André Loyen ist der Meinung, dass der Brief in die Jahre zwischen 472 und 474 datiere. 295 Wenn auch der Abfassungszeitraum des Briefes offenbleiben muss, ist die Erzählzeit aufgrund der Anordnung der anderen Schreiben im dritten Buch (vgl. Briefe 3,1–3; 3,7) tatsächlich in diese Zeit kriegerischer Wirren einzuordnen. Sidonius gliedert Eucherius in eine Kette aristokratischer Vorbilder ein, die sich im Kampf gegen die Visigoten verdient gemacht haben: Avitus (epist. 3,1), Constantius (epist. 3,2) und Ecdicius (epist. 3,3). 296 Durch den Vergleich mit republikanischen Vorbildern stellt er die Helden seiner Zeit in ihre Tradition und legitimiert dadurch seine Aussagen. Die Schuld des Staates wiegt umso größer. Die Klimax des Vorwurfes wird im zweiten Paragraphen erreicht: quamquam mirandum granditer non sit, natione foederatorum non solum inciviliter Romanas vires administrante verum etiam fundamentaliter eruente si nobilium virorum militariumque et supra vel spem nostrae vel opinionem partis adversae bellicosorum non tam defuerunt facta quam praemia. 297 Indessen muss man sich nicht großartig darüber wundern, wenn, während die verbündete natio [Anm.: gemeint sind wohl Visigoten] nicht nur in tyrannischer

292 Sidon. epist. 3,8,1. 293 Siehe Köhler 2014, 84 und Giannotti 2016, 191: Mit Brutus ist L. Iunius Brutus gemeint, der im 6. Jahrhundert v. Chr. bei der Vertreibung der Könige mitgewirkt hat. T. Manlius Torquatus war römischer Konsul zur Zeit der Galliereinfälle im 4. Jahrhundert v. Chr. und half bei der Befriedung der Latiner und Campaner. Zu historischen Personen als exempla siehe: Sehlmeyer 2009, 123 f., 256 f. mit Anm. 222. 294 Giannotti 2016, 189. 295 Loyen 1960/1970, Bd. 2, 249. 296 Vgl. Giannotti 2016, 190, die Eurich in diesem Schreiben als antiken Held wahrnimmt, wie er in einer Erzählung des Livius vorkommen könnte. 297 Sidon. epist. 3,8,2.

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Art die römische Streitmacht 298 befehligt, sondern sie sogar von Grund auf zerstört, es da den noblen Männern im Kriegsdienst, die sich weit über unsere Hoffnung und über die Ansicht der Gegner hinaus kriegerisch gezeigt haben, nicht so sehr an Taten fehlt, als an Belohnungen. Der Grund des Übels liegt für Sidonius in den Verträgen mit gentes, die er durch ihr Verhalten (inciviliter) als Barbaren wahrnimmt. 299 Frank Kaufmann findet es erstaunlich, dass Sidonius in diesem Schreiben von Föderaten spricht, da seiner Ansicht nach der Brief in die Jahre 472/473 zu datieren ist und der Vertrag zu diesem Zeitpunkt längst hinfällig gewesen sei. 300 Davon ausgehend, dass Sidonius den Brief zu einem Zeitpunkt verfasste, an dem Eurich als ‚Warlord‘ die dominante Macht in Südwestgallien darstellte, erscheint es nachvollziehbar, dass Sidonius die Visigoten als römische Föderaten bezeichnete. Es muss vermutet werden, dass diese Bezeichnung zur Aufrechterhaltung der römischen Ideologie diente und ihm half, sich mit der Situation abzufinden. Eventuell beschreibt er an dieser Stelle nicht nur die Auswirkungen der Verträge mit Goten, sondern allgemein mit barbarischen Gruppierungen, die sich als Teil des römischen Militärs schnell unersetzbar machten und deren Anführer daher in die höchsten Ränge aufsteigen konnten. Zusammenfassend finden sich in dieser Epistel verschleierte Hinweise auf die politischen Umstände der Zeit, die mit nicht-römischen Gruppierungen in Zusammenhang zu bringen sind, um den Adressaten des Briefes als Held in Erscheinung treten zu lassen. 5.2.1.2 Verschleierungen im vierten Buch Das vierte Buch der Briefe beginnt mit einem Gedankenexperiment. Sidonius überlegt, was geschehen würde, sollte ein Philosoph den Barbaren Bildung bringen. 301 Das nachfolgende Schreiben thematisiert die Schwierigkeit eines persönlichen Treffens zwischen Claudianus Mamertus und Sidonius, ohne die genauen Gründe zu benennen. 302 Davon ausgehend, dass die überlieferte Anordnung der von Sidonius vorgenommenen 298 Giannotti 2016, 193 weist darauf hin, dass nicht klar hervorgeht, was genau Sidonius unter Romanas vires meint. Während W. B. Anderson 1936/1965, Bd. 2, 35 den Ausdruck mit römischen Ressourcen interpretiert, spricht André Loyen 1960/1970, Bd. 2, 97 von römischen Streitkräften. Giannotti schließt sich der Meinung von André Loyen an. Köhler 2014, 85 hat sich ebenso in ihrer Übersetzung für das römische Militärwesen entschieden. 299 Dauge 1981, 383 zu Folge reicht der Begriff natio aus, um dem Leser zu verdeutlichen, dass von Barbaren gesprochen werden würde. In diesem Beispiel wird dies durch das Adverb inciviliter zusätzlich unterstrichen, da in der traditionellen Darstellung Barbaren keine Gesetze kennen würden und daher auch nicht in ziviler oder gerechter Weise anführen könnten. 300 Kaufmann 1995, 128 Anm. 333. 301 Sidon. epist. 4,1,4. Siehe hierzu auch: Kapitel 5.1.1. 302 Dies ist der einzige Brief in der Sammlung, der nicht von Sidonius, sondern von Claudianus Mamertus verfasst worden ist. Sidon. epist. 4,2,1: quippe revisionis potestas multimodis et miseris perinde causis intercluditur. „Ein Wiedersehen nämlich wird durch die Gewalt vieler und in gleicherweise unglücklicher Umstände verhindert.“

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Anordnung ähnlich ist, kann zwischen dem Gedankenspiel über gebildete Barbaren, die dadurch weniger furchtbar wären, und den Anspielungen auf die Schwierigkeiten eines persönlichen Wiedersehens durchaus einen roten Faden erkannt werden. Zu beweisen ist diese Annahme jedoch nicht. Weiterhin finden sich Anspielungen dieser Art im Schreiben an Simplicius und Apollinaris, 303 in dem Sidonius die Empfänger auffordert, ihre Pläne, die unbekannt bleiben, mit Faustinus zu besprechen. 304 Aus diesem Grund referiert Sidonius, warum ihn mit Faustinus eine Freundschaft verbindet, und erklärt somit, wieso diesem zu vertrauen sei. 305 Faustinus fungiert in diesem Schreiben als Vermittler mündlicher Botschaften, die im Schreiben nicht enthalten sind. Aus diesem Grund bleibt die Erzählzeit des Briefes parallel zum Inhalt verschleiert. Die politischen Verhältnisse erlaubten kein Wiedersehen und Sidonius möchte durch Faustinus erfahren, wie es um die Zustände in der Gegend von Simplicius und Apollinaris steht. 306 Auf welche Umstände Sidonius anspielt, bleibt für den heutigen Leser im Dunkeln. Es ist zu vermuten, dass die schwierigen politischen Verhältnisse mit den Ansiedlungen nicht-römischer Verbände in Gallia und den folgenden Auseinandersetzungen in Zusammenhang zu bringen sind. David Amherdt erkennt als Grund für die Anspielung den Publikationszeitraum des vierten Buches der Briefe, den er um 477 vermutet und somit unter die Herrschaft Eurichs fiele. 307 Eine direkte Kritik ist seines Erachtens nicht möglich gewesen. 308 Es ist zu hinterfragen, inwiefern Sidonius an dieser Stelle wirklich eine Kritik äußert. Er hat doch in seinem dritten Buch bereits viel offener über die visigotischen Machthaber gesprochen. Würde der allgemeinen Forschungsmeinung gefolgt werden, müsste davon ausgegangen werden, dass dieses Buch ebenfalls bereits unter der Herrschaft Eurichs öffentlich zirkulierte. Der eigentliche Inhalt des Schreibens, die eigentliche Intention, ist aus diesem Grund weniger im historischen 303 Bei den beiden Aristokraten handelt es sich um die Brüder des Thaumatus, der von Helga Köhler als Onkel des Sidonius identifiziert wurde: siehe Köhler 2014, 105. Ausführlicher werden sie von Amherdt 2001, 167 beschrieben. Siehe weiterhin: PLRE II, 113 unter Apollinaris 2 sowie 1015 unter Simplicius 8. 304 Sidon. epist. 4,4. Die in Absatz 3 genannten Pläne werden durch ein Schreiben an Apollinaris (epist.  4,6) als geplante Reise offenbart. Zu Faustinus ist nicht Näheres bekannt. Köhler 2014, 106 vermutet, dass es sich bei ihm um einen Kleriker aus Clermont gehandelt habe; vgl. PLRE II, 450 unter Faustinus 4. Eine Zusammenfassung zum Aufbau und Inhalt des Briefes findet sich im Kommentar von Amherdt 2001, 169 f. 305 Sidon. epist. 4,4,1. 306 Sidon. epist. 4,4,2: per hunc salutem dico, videre vos sub ope Christi quam maturissime, si per statum publicum liceat, cupiens. quocirca, nisi desiderium meum videtur onerosum, remeante praefato fiam locorum vestrorum et temporum gnarus. „Durch diesen grüße ich euch und wünsche euch, durch Christi Hilfe schon zeitig zu sehen, wenn es der staatliche Zustand erlaubt. Deshalb, wenn mein Verlangen nicht beschwerlich erscheint, möchte ich durch den vorher Erwähnten bei der Rückkehr über die Angelegenheiten Eurer Gegend und Eurer Verhältnisse, erfahren.“ 307 Die Forschung geht davon aus, dass die ersten sieben Bücher um 477 n. Chr. veröffentlicht waren. Einen Publikationszeitraum für einzelne Bücher lässt sich nicht benennen. Vgl. zusammenfassend: Mathisen 2013b, 228; siehe Kapitel 3.2.2. 308 Amherdt 2001, 170 f.

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Hintergrundnarrativ zu suchen als vielmehr im Absatz über die Freundschaft und über eine Kommunikation mit Hilfe von Briefboten. Allerdings kann meines Erachtens aufgrund dieses Briefes allein nicht erschlossen werden, von welchen Problemen Sidonius spricht und wie diese zeitlich in die Geschichte Galliens im 5. Jahrhundert einzuordnen sind. Erst durch eine Einbettung der Anspielungen in den Kontext des Briefkorpus sowie Vergleiche mit anderen Schreiben lassen sich Spekulationen anstellen. 309 Im nächsten Schreiben fährt Sidonius mit den Anspielungen fort. Es ist an Felix gerichtet, den er wiederholt tadelt, den Boten ohne Brief zurückgeschickt zu haben. 310 Er werde Felix nun nicht mehr nach dem Stand der Dinge fragen, da er dessen Gewissen nicht belasten wolle. 311 Somit greift Sidonius in diesem Schreiben das Narrativ von Epistel 3,4 sowie von 3,7 mit der Frage nach Neuigkeiten bezüglich der Verhandlungen mit den Visigoten auf. Erneut ist die freundschaftliche Pflichterfüllung (Briefe zu schreiben) von Anspielungen auf die politische Situation begleitet, die nur in Zusammenhang mit früheren Schreiben interpretiert werden können. 312 Die Anspielungen finden ihre Fortsetzung in Epistel  4,6 an Apollinaris, einen der Empfänger von Schreiben  4,4, an das inhaltlich angeknüpft wird. Apollinaris habe seine Pläne, die im vorher angesprochen worden sind, nicht umgesetzt, worüber Sidonius seine Freude ausdrückt. 313 Jedoch hat der Brief ein aktuelles Anliegen, wie aus der conclusio hervorgeht: Apollinaris soll einem Vergehen, das an dem Briefboten des Sidonius begangen worden war, nachgehen. 314 Diese Bitte steht jedoch vollkommen losgelöst vom Rest des Briefes und ist nur durch den landschaftlichen Diskurs am Ende mit dem Inhalt der Paragraphen 2 und 3 verbunden. 315

309 Ähnlich Mathisen 2013b, 223. Hierdurch wird beispielhaft die Grenze vieler Sidoniusbriefe als historische Quelle für das Zeitgeschehen aufgezeigt. Anders sieht dies Amherdt 2001, 168, der unter Zuhilfenahme von Epistel  4,6, der an Apollinaris adressiert ist, nicht nur davon ausgeht, dass das Schreiben nach 470  n.  Chr. verfasst worden sei, sondern den Brief sogar auf das Jahr 471 n. Chr., zum Zeitpunkt der ersten Angriffe Eurichs auf die Auvergne, datiert. Vgl. Kaufmann 1995, 80. 310 Sidon. epist. 4,5. Felix war bereits Adressat der Briefe 2,3; 3,4 sowie 3,7. 311 Sidon. epist. 4,5,2: de temporum statu iam nihil ut prius consulo, ne sit moribus tuis oneri, si adversa significes, cum prospera non sequantur. […] „Was den gegenwärtigen Stand der Dinge betrifft, frage ich nicht mehr wie im vorigen Brief nach Deiner Einschätzung, damit es nicht Dein Gewissen belastet, wenn Du das Verkehrte andeutest, obgleich dann nicht Gutes nachfolgt […].“ (Übersetzung Köhler 2014, 107). 312 Vgl. Amherdt 2001, 185 f. David Amherdt folgt André Loyen in seiner Datierung des Briefes, Ende des Jahres 474 n. Chr., einem Zeitraum, indem Licinianus im Auftrag von Julius Nepos mit den Visigoten um die arvernischen Gebiete verhandelt hätte. Vgl. Loyen 1960/1970, Bd. 2, 251. 313 Sidon. epist. 4,6,1. 314 Sidon. epist. 4,6,4. 315 Amherdt 2001, 195 beschreibt diesen Teil des Briefes als „la vie pratique“ und sieht die alltägliche Bitte als Anzeichen für eine normal agierende lokale Aristokratie, selbst in politisch schwierigen Zeiten.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

[…] ne tempore timoris publici non timeres et solidae domus ad hoc aevi inconcussa securitas ad tempestuosos hostium incursus pro intempestiva devotione trepidaret […]. 316 […] Du hättest dich in der Zeit allgemeiner Furcht nicht gefürchtet und so die bis in diese Zeit unerschütterliche Sicherheit der ganzen Familie, bis zu den stürmischen Angriffen der Feinde, durch seine unzeitig gelegene Frömmigkeit gefährdet […]. Sidonius startet die narratio mit dem Bekenntnis, dass er in Sorge gewesen sei, Apollinaris habe sich in der Absicht, eine Wallfahrt zu unternehmen, blindlings in Gefahr begeben. Letztlich habe er diese, zur Erleichterung des Sidonius, wegen der politischen Umstände nicht unternommen. Bildlich schließt sich der Brief den vorausgegangenen Schreiben des vierten Buches an und es ist zu vermuten, dass die beschriebenen Ereignisse ebenso in die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen (zwischen 471 und 475 n. Chr.) zu datieren sind. 317 Sidonius beschreibt diese Zeit als eine Periode der Angst, die jeden betroffen habe, was durch die figura etymologica (timoris – timeres, tempestuosos – intempestia) unterstützt wird. 318 Die Angriffe selbst werden durch das Adjektiv tempestuosus metaphorisch mit einem Sturm verglichen, eine Metapher, die Sidonius des öfteren verwendet, um barbarisches Verhalten oder die dadurch entstandenen Umstände zu beschreiben. 319 Die Absicht des Sidonius wird zu Beginn des dritten Paragraphen deutlich: proinde factum bene est, quod anceps iter salubriter distulistis neque intra iactum tantae aleae status tantae familiae fuit. 320 Demnach war es gut, dass ihr diese gefährliche Reise vernünftigerweise verschoben habt und dass sich das Ansehen einer so bedeutenden Familie nicht innerhalb des Wurfes eines so wichtigen Würfels befunden hat. Sidonius geht es um den Bestand, das Ansehen und den Status seiner Familie in diesen politischen Wirren. Auf diese spielt er mit Caesars Ausspruch alea iacta est 321 an. Im Gegensatz zu Caesar scheinen die Würfel über das Schicksal der Auvergne zwar geworfen, aber noch nicht gefallen zu sein. 322 Solange der Ausgang des Konfliktes offen ist, sollen

316 Sidon. epist. 4,6,2 317 Entgegen Loyen 1960/1970, Bd.  2, 251 sowie Amherdt 2001, 193, die den Brief auf das Jahr 472 n. Chr. datieren. 318 Amherdt 2001, 200. 319 Beispielsweise in Sidon. epist. 5,6,1; 6,10,1; 7,11,1; 8,2,1; 8,6,14. 320 Sidon. epist. 4,6,3. 321 Suet. Iul. 32. 322 Amherdt 2002, 204 verweist unter Referenz auf TLL 1, 1522 darauf hin, dass die geworfenen Würfel metaphorisch verwendet wurden, um auf den unsicheren Ausgang eines Ereignisses hinzuweisen.

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Menschen, die für die Zukunft Gallias wichtig sind, vorsichtig sein. 323 Es geht Sidonius um das Überleben der gallo-römischen Aristokratie, was er am Beispiel von Apollinaris und seiner Familie aufzeigt. David Amherdt vermutet hinter dem Schreiben erneut eine Kritik an Eurich. 324 Eine solche ist meiner Meinung nach dem Schreiben nicht zu entnehmen. Ich lese den Brief als Aufruf zur Zurückhaltung und zur Vorsicht, keine unnötigen Risiken einzugehen, um so das Fortleben von romanitas durch die gallo-römische Aristokratie zu sichern. Im letzten Absatz, der petitio, kommt Sidonius zu seinem eigentlichen Anliegen. Apollinaris soll sich des Falles des Überbringers des Briefes annehmen, der Klage gegen Genesius, einen möglichen Klienten des Apollinaris, erhebt. 325 Falls die Klage nicht rechtmäßig sei, sei der Ankläger bereits durch die schwierigen Reisebedingungen bestraft: […] in maximo hiemis accentu summisque cumulis nivium crustisque glacierum […]. 326 […] im tiefsten Winter und über höchste Schneehaufen sowie über Eisplatten […].“ Für den landschaftlichen Diskurs am Ende des Briefes werden zwei Erklärungen in Betracht gezogen. Zum einen hat Sidonius die Bedingungen beschrieben, unter denen der Bote zu Apollinaris aufgebrochen ist, um dessen Anliegen dadurch mehr Gewicht zu verleihen. Zum anderen verbindet Sidonius durch diesen Diskurs die beiden Briefinhalte miteinander und erzeugt somit das Bild einer gefährlichen Situation, in der sich die gallorömische Aristokratie befindet und weshalb Reisen unterlassen werden sollten. In beiden Fällen kann es sich um einen realen Zustand zur damaligen Zeit (= Erzählzeit) gehandelt haben oder um eine von Sidonius imaginierte Landschaft, die den Inhalt des Briefes, das Anliegen des Boten oder die Gefährlichkeit des Reisens hervorheben soll. Das vierte Buch widmet sich der aristokratischen Freundschaft und der brieflichen Kommunikation als Teil der amicitia. 327 Adressaten, die unregelmäßig schreiben, werden für die Vernachlässigung dieser Pflicht getadelt, der Erhalt der Freundschaft wird angemahnt. Sidonius verweist immer wieder auf die Briefboten als Überbringer mündlicher Nachrichten, was den Eindruck verstärkt, dass die Briefe selbst eher als Form literarischen Austausches gesehen werden und die eigentlichen Nachrichten mündlich übermittelt wurden. In den ersten 15  Briefen finden sich kleinere Anspielungen auf 323 Sidon. epist. 4,6,3: […] sed praesentia faciunt cautos quos videbunt futura securos. „[…] aber die gegenwärtigen Zeiten machen diese Menschen vorsichtiger, die sie in der Zukunft in Sicherheit sehen möchten.“ Zur stilistischen Konstruktion dieses Satzes sei Amherdt 2001, 205 heranzuziehen. 324 Amherdt 2001, 194. 325 Sidon. epist. 4,6,4. 326 Sidon. epist. 4,6,4. 327 In der Tat finden sich im gesamten vierten Buch bei mehr als der Hälfte der Briefe Anspielungen auf diese Art der Kommunikation. Diese kommen jedoch ab dem 20. Brief nicht mehr vor. Es scheint, dass mit diesem Brief, der Beschreibung des Sigismers, politische Inhalte offener angesprochen werden (epist. 4,20–25). Briefe ohne Bezug zur brieflichen Kommunikation, aber noch immer mit Bezug zur aristokratischen Freundschaft sind epist. 4,9; 4,11; 4,13; 4,15.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

politische Umstände, die nicht einfach zu interpretieren und nicht immer in das historische Geschehen einzuordnen sind. 328 Hierzu gehören beispielsweise das Schreiben an Polemius, in dem Sidonius auf die Widrigkeiten des römischen Staates eingeht, 329 oder der Brief an Elaphius, in dem er die Hoffnung auf ruhigere Zeiten ausspricht. 330 Hier ist, ähnlich wie in Epistel 4,6,4, ein Landschaftsdiskurs zu finden, der die Gefährlichkeit der Reise beschreibt, die Sidonius für den Adressaten auf sich nimmt. 331 Speziell im vierten Buch zeigt sich, dass zwar durch Allusionen durchaus auf die politische Situation in der Auvergne oder des römischen Staates allgemein angespielt wird, sie aber nur selten direkten Bezug zu Barbaren im Sinne von bewusster Abgrenzung haben. Kleinere Anspielungen dienen meist als erzählerischer Hintergrund des Schreibens und beziehen sich oft auf die Konfliktjahre zwischen 471 und 475 n. Chr. sowie auf den zeitlich nicht einzugrenzenden miserablen Zustand des Staates, der jedoch als Topos der antiken Literatur zu betrachten ist. In diese Kategorie sind ebenfalls die Anspielungen auf den verfallenden Bildungsstand zu beleuchten, die sowohl zur Abgrenzung des ,Selbst‘ dienen, aber ebenfalls ein wiederkehrendes Thema der lateinischen Literatur

328 Erst durch Vergleiche mit anderen Schreiben kann erschlossen werden, in welchem Zusammenhang die Inhalte mancher Briefe stehen. 329 Sidon. epist. 4,14,1: […] si Romanarum rerum sineret adversitas […]. „[…] wenn es die Widrigkeiten des römischen Staates dulden würden […].“ Von diesem Hinweis ausgehend, vermutet Amherdt 2001, 344 eine Datierung des Schreibens in Zusammenhang mit der Ermordung Kaisers Anthemius (472  n.  Chr.). In der Tat erwähnt Sidonius selbst einen Anhaltspunkt zur Datierung der Erzählzeit: Er merkt an, dass der Empfänger, Polemius, nun schon seit knapp zwei Jahren praefectus praetorio Galliarum war. Polemius wird als letzter praefectus praetorio Galliarum angesehen und amtierte vermutlich von 471–472 n. Chr. Vgl. PLRE II, 895. 330 Sidon. epist. 4,15,2: […]  mitigatoque temporum statu  […]. „[…]  und in ruhigeren Zeiten  […].“ Amherdt 2001, 364 interpretiert diese Phrase als Hinweis, dass in der Region bereits Frieden herrschte. Dabei drückt der nachfolgende Konjunktiv indulgeat einen Wunsch für die Zukunft aus, wodurch beschlossen werden kann, dass die Situation der Erzählzeit noch von Unruhen geprägt war. Vgl. Köhler 2014, 16, welche die Stelle in ihrer Übersetzung folgendermaßen interpretiert: „und wenn die Verhältnisse wieder friedlicher geworden sind, dann […].“ 331 Sidon. epist. 4,15, 3: de cetero quamquam [et] extremus autumnus iam diem breviat et viatorum sollicitas aures foliis toto nemore labentibus crepulo fragore circumstrepit inque castellum, ad quod invitas, utpote Alpinis rupibus cinctum, sub vicinitate brumali difficilius escenditur, nos tamen deo praevio per tuorum montium latera confragosa venientes nec subiectas cautes nec superiectas nives expavescemus, quamvis iugorum profunda declivitas aggere cocleatim fracto saepe redeunda sit, quia, etsi nulla sollemnitas, tu satis dignus es, ut est Tullianum illud, propter quem Thespiae visantur. „Obwohl übrigens der Spätherbst schon den Tag verkürzt und das Geräusch fallender Blätter im ganzen Wald die aufmerksamen Ohren der Reisenden mit rauschendem Prasseln erfüllt und obwohl man zu dem Bergdorf, in das Du uns einlädst, so kurz vor Winteranfang besonders schwierig gelangt, weil es ja von alpinen Felsbergen umringt ist, so fürchten wir dennoch, weil Gott uns voran geht, bei unserer Anreise durch die zerklüfteten Flanken Deines Gebirges weder die Felsstürze unter uns noch die Schneemassen über uns; und obwohl man auf der schneckenförmig gewundenen Straße immer wieder zu dem tiefen und steilen Abhang zurückkehren muß, bist doch Du selbst es unbedingt wert, auch wenn kein Fest stattfinden würde, daß man, wie Tullius sagt, Deinetwegen ,Thespiä aufsucht‘.“ (Übersetzung Köhler 2014, 125).

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darstellen. 332 Es ist daher nicht einfach zu entscheiden, welche Anspielungen als literarischer Topos und welche Anspielungen als narrativer Hintergrund zum Zeitgeschehen oder gar als beides zu interpretieren sind. In beiden Fällen scheinen sie eher der Konstruktion des ,Selbst‘ als der des ,Anderen‘ zu dienen. 333 Anders erscheint dies, wenn Landschaftsdiskurse instrumentalisiert werden, um die Schwierigkeiten beim Reisen aufzuzeigen (beispielsweise 4,6,4; 4,15,3) oder wenn die Angriffe der Feinde als stürmisch (beispielsweise 4,6,2) charakterisiert werden. 5.2.1.3 Verschleierungen im fünften Buch Das Fehlen kleinerer Anspielungen ab Epistel 4,16 zieht sich bis in das fünfte Buch der Briefsammlung fort, in dem sich erneut in einem Schreiben an Apollinaris, in der captatio, ein Hinweis auf den Konflikt von Clermont mit den Visigoten findet: Cum primum aestas decessit autumno et Arvernorum timor potuit aliquantisper ratione temporis temperari, Viennam veni, ubi Thaumastum, germanum tuum, quem pro iure vel sanguinis vel aetatis reverenda 334 familiaritate complector, maestissimum inveni. 335 Sobald der Sommer dem Herbst gewichen ist und sich die Furcht der Arverner durch den Umstand der Witterung eine Weile mäßigen konnte, kam ich nach Vienne, wo ich deinen Bruder Thaumastus, den ich sowohl des Blutes als auch des Alters wegen in ehrenvoller Freundschaft schätze, todtraurig antraf. Sidonius beginnt den Brief mit einem Vermerk zur Jahreszeit in Zusammenhang mit dem Empfinden der arvernischen Bevölkerung, die in Anbetracht der Witterungsumstände endlich weniger Angst erdulden müsse. 336 In Epistel 3,7 beschreibt er, dass die Visigoten die Stadt vorwiegend im Sommer bedrohten und sich in den Wintermonaten zurückzögen. 337 Durch die Anspielung auf den Wechsel der Jahreszeiten bildet Sidonius somit den Erzählrahmen des Briefes. Es herrscht folglich Herbst und die Bewohner müssen feindliche Angriffe weniger fürchten. Gleichzeitig verdunkelt Sidonius durch die Jahreszeit die Stimmung des Briefes: Denn im Herbst werden nicht nur die Tage kürzer und es herrscht mehr Dunkelheit, sondern auch die Stimmung des Erzählgegenstandes erscheint 332 Beispielsweise Sidon. epist. 5,10,4. 333 Dadurch scheint indirekt der ,Andere‘ vom ‚Selbst‘ abgegrenzt zu sein, da, wie im theoretischen Teil der Arbeit erarbeitet, das ‚Selbst‘ und der ‚Andere‘ in einer Wechselbeziehung gegenseitiger Beeinflussung zu sehen sind. 334 Zur Leseart von reverenda siehe ausführlich: Giulietti 2014, 110–112. 335 Sidon. epist. 5,6,1. Giulietti 2014, 109 sieht im Briefbeginn eine Parallele zu Symm. epist. 2,6. 336 Es sei an die aufeinanderfolgenden Alliterationen von temporis temperari, Viennam veni verwiesen. Vgl. Giulietti 2014, 109, die weiterhin auf die figura etymologica hinweist. 337 Sidon. epist. 3,7,4.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

düster, wenn Sidonius die Verfassung des Thaumastus als maestissimus beschreibt. Somit sind dem landschaftlichen Diskurs, der den Brief einleitet, drei Funktionen zuzusprechen: 1.  Der Diskurs bildet den Erzählhintergrund, vor dem die Handlung stattfindet (Sidonius besucht Thaumastus und erfährt von dessen Sorgen). 2. Die Landschaft spiegelt die seelische Verfassung des Erzählers wider und bereitet den Leser auf den düsteren Inhalt (die Denunziation des Apollinaris) vor. 338 3. Sidonius sendet eine Botschaft an den Empfänger, in der er auf ein Antwortschreiben bestehe, da die Situation für einen brieflichen oder persönlichen Austausch günstig sei. 339 Während die Anspielung zu Beginn des Briefes zwar durchaus auf das aktuelle politische Geschehen in der Region hinweist, kann es nur bedingt als Abgrenzung gegenüber ,Anderen‘ interpretiert werden. Diese werden in diesem Schreiben sowie in der nachfolgenden Epistel vielmehr durch ihr falsches Verhalten vom ,Selbst‘ abgegrenzt. Einen Hinweis auf ein zeitpolitisches Geschehen anderer Art findet sich in Sidonius’ Brief an Secundinus, der ermuntert wird, seine dichterische Aufmerksamkeit der Satire zu widmen. 340 In der narratio übermittelt er einen Zweizeiler, den der Konsul Ablabius 341 heimlich am Tor des Palastes angebracht habe: Saturni aurea saecla quis requirat? / Sunt haec gemmea, sed Neroniana. 342 Wer vermisst nicht die goldenen Zeiten des Saturns? Unsere Zeiten sind aus Edelsteinen, aber von der Art Neros. Sidonius erklärt dem Leser, dass das Distichon dadurch zustande gekommen sei, dass Konstantin zu dieser Zeit seine eigene Gemahlin und seinen eigenen Sohn getötet habe. 343 Er fordert am Ende des Briefes den Empfänger nicht nur auf, weiter satirische Dichtung zu betreiben, sondern endet mit folgender Anspielung: nam tua scripta nostrorum vitiis proficientibus tyrannopolitarum locupletabuntur. 344 Denn deine Werke werden durch die dienlichen Verfehlungen der tyrannischen Stadtbeherrscher bereichert werden.

338 Sidon. epist. 5,6,1: Diese werden mit dem Chiasmus turbo barbaricus aut militaris […] improbitas näher beschrieben. Vgl. Giulietti 2014, 113. 339 Sidon. epist. 5,6,2: […] ne vobis sollicitudinis aut praesentiae meae opportunitas pereat. „[…] damit euch nicht die günstige Gelegenheit für meine Sorge oder meine Anwesenheit verloren gehe.“ 340 Sidon. epist. 5,8,3. 341 Ablabius war Konsul zu Zeiten Konstantins um 331 n. Chr. 342 Sidon. epist 5,8,2. 343 Sidon. epist. 5,8,2. Zu Konstantin dem Großen sei auf die einschlägige Forschungsliteratur verwiesen. 344 Sidon. epist. 5,8,3.

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Erst am Ende des Briefes offenbart sich die Bedeutung der historischen Allegorie Konstantins und des damit einhergehenden Distichons, das auf die in der Literatur als tyrannisch dargestellte Herrschaft Neros anspielt. Sidonius zieht diese historischen Negativbeispiele für einen Vergleich mit seiner eigenen Zeit heran. Er geht davon aus, dass seine Leser in der Lage sind, die Anspielung auf die tyrannopolitae zu verstehen. Es ist zu vermuten, dass mit diesem Begriff diejenigen, die in dieser Zeit als Oberhaupt einer civitas fungierten, angesprochen waren. 345 Dieses Beispiel zeigt, dass Sidonius’ Allusionen neben Bemerkungen zur eigenen Zeit oder Landschaft auch historische Allegorien und Beispiele beinhalten können. In diesem Fall ist anzunehmen, dass er bewusst seine bischöflichen Standesgenossen kritisieren und deren Verhalten, welches sich seiner Meinung nach auf Abwegen befand, anmahnen wollte. Einen erneuten Fokus auf die Kriegsjahre bietet Sidonius in seinem Brief an Calminius, in dem er sich zum einen dafür entschuldigt, nur selten zu schreiben, zum anderen den Adressaten auffordert, umso öfter einen Brief zu schicken. Da das gesamte Schreiben die Auseinandersetzung mit den Visigoten zum Gegenstand hat, wird es als Gesamtes vorgestellt: Sidonius Calminio suo salutem. [1] Quod rarius ad vos a nobis pagina meat, non nostra superbia sed aliena impotentia facit. neque super his quicquam planius quaeras, quippe cum silentii huius necessitatem par apud vos metus interpretetur. hoc solum tamen libere gemo, quod turbine dissidentium partium segreges facti mutuo minime fruimur aspectu. neque umquam patriae sollicitis offerris obtutibus, nisi forsitan cum ad arbitrium terroris alieni vos loricae, nos propugnacula tegunt. ubi ipse in hoc solum captivus adduceris, ut pharetras sagittis vacuare, lacrimis oculos implere cogaris, nobis quoque non recusantibus, quod tua satis aliud moliuntur vota quam iacula. [2]  sed quia interdum etsi non per foederum veritatem, saltim per indutiarum imaginem quaedam spei nostrae libertatis fenestra resplendet, impense flagito, uti nos, cum maxime potes, affatu paginae frequentis impertias, sciens tibi in animis obsessorum civium illam manere gratiam, quae obliviscatur obsidentis invidiam. vale. 346 Sidonius grüßt seinen Calminius. [1] Dass nur selten ein Brief von uns zu dir wandert, ist nicht unserem Hochmut, sondern fremdem Unvermögen geschuldet. Auch sollst du über diesen Umstand nicht irgendetwas Näheres erfragen, denn zugleich kann die Notwendigkeit dieses Schweigens mit der Furcht bei euch erklärt werden. Dennoch seufze ich freimütig nur über dieses eine: dass wir durch den Sturm verfeindeter Parteien getrennt wurden und den gegenseitigen Anblick überhaupt nicht genießen können. Auch zeigst du dich niemals den sorgenvollen Blicken der Heimat, außer vielleicht wenn 345 Zu tyrannopolitae sowie für die Auslegung als Bischöfe, sei auf die Anmerkung von Köhler 2014, 158 verwiesen. 346 Sidon. epist. 5,12.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

dich ein Brustpanzer und uns ein Verteidigungswerk vor der Willkür feindlichen Terrors schützen. Wenn man dich in diesen Zeiten als Gefangenen ins Land führt, sodass du gezwungen bist, die Köcher von Pfeilen zu entleeren und die Augen mit Tränen zu füllen, verweigern auch wir uns nicht, weil deine Gebete von anderen Gründen geschleudert werden als deine Wurfspieße. [2]  Aber weil inzwischen, wenn auch nicht durch einen echten Friedensvertrag, sondern wenigstens durch einen scheinbaren Waffenstillstand, eine gewisse Hoffnung auf ein Fenster für unsere Freiheit erscheint, flehe ich dich innigst an, dass du uns, weil es dir am meisten möglich ist, häufig Briefe schreiben mögest, weil du weißt, dass dich in den Herzen der belagerten Bürger jene Freundschaft erwartet, welche die Abneigung gegen die Belagerer vergessen lässt. Lebe wohl. Sidonius findet die Schuld für den seltenen Briefverkehr bei ,Anderen‘, ausgedrückt durch aliena impotentia. Doch auf was genau er anspielt, verschweigt er. Es ist einer der seltenen Fälle, in denen Sidonius offen zugibt, dass manche Briefinhalte für den Verfasser zu gefährlich sind, um diese publik zu machen. Durch die Furcht, die er auch dem Empfänger des Briefes unterstellt, kann spekuliert werden, dass der verheimlichte Inhalt Konsequenzen für beide Seiten hätte. Verhältnismäßig offen speist Sidonius Bemerkungen über den kriegerischen Zustand Gallias ein und verbindet dies mit einer Sturmmetapher, die darauf schließen lässt, dass die verfeindeten Parteien nicht-römischen Ursprunges sein dürften. 347 Es wird angenommen, dass burgundische Truppen zeitweise aufseiten der Stadt gegen die visigotischen Angreifer gekämpft haben. Demzufolge kann es sich bei den verfeindeten Parteien um Burgunder und Visigoten handeln. Da eine Datierung der Geschehnisse im Brief nicht möglich ist, bleibt es eine Vermutung, die zumindest in Betracht gezogen werden sollte. In der Forschung wird hingegen angenommen, dass Sidonius die Auseinandersetzung zwischen den arvernischen und gotischen Soldaten beschreibt, was ebenfalls nicht bewiesen werden kann. 348 Wenn auch über die Identität des Calminius in der Forschung Uneinigkeit besteht, 349 kann aufgrund dieses Schreibens davon ausgegangen werde, dass er, in der Auvergne geboren, aufseiten der Belagerer kämpfte. Davon ausgehend, dass in Sidonius’ Darstellung stets visigotische Truppen die Stadt belagert haben, ist anzunehmen, dass er auf diese referiert. Ob Calminius, wie William  B. Anderson vermutet (obwohl er es als unüblich erachtet), tatsächlich von Eurich ins Heer gepresst wurde, kann nicht belegt werden. 350 Weiterhin versucht David Jäger den ,Seitenwechsel‘ des Calminius mit den Plünderungen in Gallien in Verbindung zu bringen, nimmt aber als Ausgangsbasis fälschlicherweise an, dass der Brief den „Übertritt des Calminius auf

347 Beispielsweise Sidon. epist. 6,10,1. 348 Siehe Anderson 1936–1965, Bd. 2, 209–211; Kaufmann 1995, 193; Giulietti 2014, 246. 349 Anderson 1936/1965, Bd.  2, 209 erachtet ihn als Sohn des Aristokraten Eucherius (nicht des Bischofes), während Loyen 1960/1970, Bd.  2, 238 dies für einen Irrtum hält. Köhler 2014, 164 sowie Giulietti 2014, 246 enthalten sich einer Meinung. 350 Anderson 1936/1965, Bd. 2, 209, 211.

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die Seite Eurichs“ beschreibe, was nicht der Fall ist. 351 Über den Übertritt oder die Hintergründe, warum Calminius für die ,Anderen‘ kämpft, schweigt Sidonius gänzlich. Lediglich der Hinweis, dass die Geschosse von Calminius in ihre Richtung durch seine Gebete abweichen würden, kann dahingehend interpretiert werden, dass er als Söldner im visigotischen Heer diente und den Befehlen Eurichs gehorchen musste. Sidonius versucht, die Situation objektiv darzustellen. Der Hinweis, dass beide durch verfeindete Parteien daran gehindert seien, sich zu sehen, erweckt den Eindruck, dass Sidonius Opfer eines Geschehens anstelle von beteiligten Akteuren beschreibt. 352 Er nutzt die Anspielungen, um sein eigentliches Anliegen in den Mittelpunkt des Schreibens zu rücken. Sidonius möchte dem Adressaten ins Bewusstsein rufen, dass, obwohl er auf der Seite der Belagerer steht, die Auvergne und Clermont dennoch seine patria seien. Aus diesem Grund wird im Schreiben die Heimat zum handelnden Akteur und kann in personifizierter Form sogar Emotionen gegenüber Calminius empfinden (patria sollicita). Er versichert dem Empfänger, dass die Bevölkerung der Stadt ihm verzeihen werde. Im zweiten Paragraphen spielt er auf einen gegenwärtigen Waffenstillstand an und vervollständigt dadurch den Hintergrund des Geschehens. Der Brief spielt folglich vor dem Hintergrund visigotischer Angriffe auf Clermont in den Jahren 471 bis 475 und handelt von einer Waffenruhe, die der Autor nutzt, um durch ein Schreiben Calminius an dessen Wurzeln zu erinnern. 353 Dieser wird von Sidonius aufgefordert, Briefe zu schreiben, da er hierfür eher die Möglichkeit als Sidonius habe. Unter Beachtung der emotionalen Heimat, die dem Adressaten seine Verfehlungen verzeihe, wird folgende Interpretation des Briefes vorgeschlagen: Sidonius versteckt hinter der Aufforderung des Briefschreibens einen Appell zur Rückkehr zur aristokratischen Lebensweise, wie sie sich für einen gallo-römischen Aristokraten aus der Auvergne zieme, d. h. in diesem Fall eine Aufforderung, sich wieder der Gemeinschaft der gallo-römischen Aristokraten, wie Sidonius sie in seinen Briefen darstellt, in allen Lebensbereichen anzuschließen. Die Akteure des Briefes –  Sidonius, Calminius und die patria (mit Bewohnern)  – werden von Sidonius als Spielbälle des politischen Geschehens beschrieben. Der Brief als Gesamtwerk wird als Aufruf an die Leser erachtet, den eigenen ‚Lebenswelten‘ selbst in widrigen Umständen treu zu bleiben. Calminius fungiert als Beispiel und soll mit Hilfe von Emotionen überzeugt werden, den Verpflichtungen seiner aristokratischen ‚Lebenswelt‘ nachzukommen, obwohl er nicht im Dienste des römischen Staates, sondern im Dienste der ,Anderen‘ steht. 354

351 Jäger 2017, 198. 352 Selbst wenn mit einer der Parteien burgundische Truppen gemeint wären, bleibt Sidonius ob seiner Funktion als Bischof der Stadt und seiner ihm in seinen Briefen selbst zugewiesenen Rolle als deren Verteidiger immer noch handelnder Akteur im Geschehen. 353 Zwar bekennt Anderson 1936/1965, Bd. 2, 210, dass die Nennung von Waffenstillstand und die Aussicht auf einen Friedensvertrag nicht als Datierungsindiz des Briefes herangezogen werden können, erachtet aber das Jahr 474 n. Chr. dennoch als wahrscheinliches Abfassungsdatum des Briefes. 354 Daher ist es zum einen zweitrangig, wer Calminius war, zum anderen irrelevant, wann der Brief abgefasst wurde, da sein Inhalt für die Nachwelt bestimmt war.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die bereits die Anspielungen im vierten Buch dominiert haben, bleiben auch im fünften Buch, wenngleich deutlich weniger dominant, präsent. 355 5.2.1.4 Verschleierungen im sechsten Buch Im sechsten Buch, das insgesamt lediglich zwölf an Bischöfe gerichtete Briefe enthält, ist ein Rückgang politischer Anspielungen zu verzeichnen. So findet sich zur Hälfte des Buches, in Epistel 6, eine erste Anspielung. Mit diesem Schreiben an Bischof Eutropius, das als freundschaftlicher Brief unter Bischöfen anzusehen ist, erklärt Sidonius sein langes Schweigen, erkundigt sich bei seinem Adressaten nach dessen Wohlergehen und bittet um eine Antwort. 356 In seiner Erklärung, die der salutatio direkt nachfolgt, erläutert er, weshalb er schon länger keine Briefe geschrieben hat. Es findet sich hier die Anspielung Sidonius’ auf die politische Situation: Postquam foedifragam gentem redisse in suas sedes comperi neque quicquam viantibus insidiarum parare, nefas credidi ulterius officiorum differre sermonem, ne vester affectus quandam vitio meo duceret ut gladius inpolitus de curae raritate robiginem. 357 Nachdem ich erfahren hatte, dass die vertragsbrüchige gens in ihre Gebiete zurückgekehrt war und nicht mehr den Reisenden auflauert, hielt ich es für einen Frevel, weiterhin das Gespräch der Pflichterfüllungen hinauszuschieben, damit nicht eure Zuneigung durch meine Schuld sozusagen wie ein unpoliertes Schwert aus mangelnder Sorgfalt Rost ansetzen würde. Sidonius verwendet als Erzählhintergrund die Anspielung auf eine vertragsbrüchige gens, die in ihre Gebiete zurückgekehrt sei. Demzufolge sei es wieder sicher, Briefboten zu schicken und so den freundschaftlichen Pflichten nachzukommen. Es wird vermutet, dass Sidonius auf die Visigoten anspielt. Zum einen, da diese, von der Auvergne angezogen, das ihnen zugeteilte Land zurückgelassen hatten 358, und zum anderen, da Eurich die Verträge mit Rom gelöst hatte. Ich nehme an, dass Sidonius die politischen Anspielungen zu Beginn des Briefes verwendet, um die Vernachlässigung seiner Briefpflichten zu erklären und zu entschuldigen. Dies ist deshalb zu folgern, da der Rest des Briefes

355 So ist kriegerische Auseinandersetzung auch in Sidonius’ Brief an seine Papianilla, die er davon unterrichtet, dass Ecdicius, ihrem Bruder, der Rang eines patricius zugestehen würde, zu finden. Er geht davon aus, dass ihre Freude über diese Nachricht selbst von den Schrecken der nahenden Belagerung nicht geschmälert werden könne: siehe Sidon. epist. 5,16,3. 356 Sidon. epist. 6,6. 357 Sidon. epist. 6,6,1. 358 Sidon. epist. 3,1.

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weder weitere Anspielungen enthält noch die Beziehung zu den visigotischen Truppen thematisiert. Dieses Schreiben fokussiert auf die Bedeutung brieflicher Kommunikation zur Erhaltung von Freundschaft. Der politische Hinweis zu Beginn, durch den ein Ende der Kriegszeit als Erzählzeit des Briefes zu vermuten ist, dient als Erzählhintergrund. 359 Einzig der Vergleich der Pflege einer Freundschaft mit der Pflege eines Schwertes könnte auf einen militärischen Erzählhintergrund hindeuten. 360 Daneben finden sich im sechsten Buch lediglich zwei weitere Anspielungen: In einem Brief an Bischof Censorius erwähnt Sidonius die gotischen Plünderungen, 361 und im letzten Brief des Buches an Bischof Patiens, der diesen in aller Ausführlichkeit lobt und als Dank für dessen Hilfe für die Auvergne gilt, macht Sidonius eine weitere Andeutung auf die schwierige Zeit, in der sie (Sidonius und der Adressat) leben: inter haec temporum mala bonus sacerdos, bonus pater, bonus annus es quibus operae pretium fuit fieri famem suam periculo, si aliter esse non poterat tua largitas experimento. 362 In diesen bösen Zeiten bist Du ein guter Bischof, ein guter Vater und ein gutes Jahr für all diejenigen, für die es sich gelohnt hat, dass ihre Hungersnot eine Gefahr erzeugte, wenn es anders nicht möglich gewesen wäre, Deine Freigiebigkeit zu erfahren. 363 Die schlechten Zeiten stehen antithetisch zum guten Patiens und zum Jahr, 364 das Dank des Censorius selbst für die Menschen gut war, die Hunger leiden mussten. Die Wahrnehmung der eigenen Zeiten als schlecht ist in diesem Beispiel Teil einer rhetorischen Konstruktion, um den Gegensatz zu Patiens hervorzuheben. Allein die hungerleidende Bevölkerung der Auvergne kann als Hinweis gesehen werden, dass auch dieser Brief von Ereignissen während der Auseinandersetzungen mit den Visigoten berichtet. 5.2.1.5 Verschleierungen im siebten Buch Weitere Anspielungen kommen im ersten Brief des siebten Buches zur Sprache, in dem Sidonius an Bischof Mamertus schreibt, er habe von einem Gerücht über einen gotischen 359 Genauso gut kann es sich jedoch auch um die Wintermonate handeln, in denen sich die visigotischen Söldner stets zurückgezogen haben. 360 So Sarti 2013, 91. 361 Sidon. epist. 6,10,1. Der Brief wird im nachfolgenden Kapitel zu den Landschaftsmetaphern besprochen. 362 Sidon. epist. 6,12,9. 363 Übersetzung Köhler 2014, 196. 364 Die schlechten Zeiten stehen als Antithese zum parallelen Trikolon bonus  …  bonus  …  bonus. Weiterhin gilt es, auf die Alliteration von fuit fieri famen hinzuweisen.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Vorstoß gehört. 365 Dieser Brief leitet eines der zentralen Themen des siebten Buches, die Auseinandersetzungen um Clermont und schließlich den abschließenden Friedensvertrag, ein. 366 Der erste Satz unterstreicht die Wichtigkeit dieser Thematik für Sidonius. Diese wird im fünften Brief an Bischof Agroecius erneut erwähnt und bleibt auch in den nachfolgenden Briefen zentral. Joop van Waarden betrachtet die Briefe 5 bis 9 als Herzstück des siebten Buches. Seiner Meinung nach bilden die Briefe 5, 8 und 9, die die Bischofswahl in Bourges betreffen, einen Rahmen für die Briefe 6 und 7, die die Übergabe der Stadt Clermont schildern. 367 In Epistel 5 berichtet Sidonius von der anstehenden Bischofswahl in Bourges, für die er Agroecius bittet, anzureisen, da nicht genügend stimmberechtigte Bischöfe vor Ort seien. 368 Der einleitende Satz berichtet, dass sich Sidonius zum Erzählzeitpunkt des Geschehens bereits in Bourges befindet, weil die Gemeinde dort ihren Bischof verloren hat. Die Situation sei des Weiteren schwierig, weil sich beide Stände um das Amt bewürben und die Bevölkerung deshalb aufgeregt sei. 369 Sidonius war wohl der für die Wahl verantwortliche Bischof und musste Bestechungsversuche von sich weisen. Besonders interessant ist die nachfolgende Aussage: proin quaeso, ut officii mei novitatem pudorem necessitatem exspectatissimi adventus tui ornes contubernio, tuteris auxilio. 370 Daher bitte ich dich, dass du die Neuheit, Bescheidenheit und Notlage meines neuen Amtes durch deine Gesellschaft, mit deiner dringlich ersehnten Ankunft ehren und mit deiner Hilfe schützen mögest. Dieser Abschnitt bietet einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Bischofswahl in Bourges, da Sidonius auf die Neuigkeit seines Amtes und die damit einhergehende Unsicherheit hinweist. 371 Damit wird die Erzählzeit auf die frühe Phase von Sidonius’ Karriere einge-

365 Sidon. epist. 7,1,1. Der Brief wird im folgenden Abschnitt zu Landschaft als Ausdruck von Alterität behandelt werden. 366 Vgl. van Waarden 2010, 41, der die vier Thematiken im siebten Buch erkannte: Politik (der Kampf um die Auvergne), Soziales (Erhaltung der Werte und des Einflusses der Nobilität), literarische Kultur (Bemühungen, romanitas zu erhalten), Religion (Katholizismus gegen Arianismus und pastorale Fürsorgepflicht eines Bischofes). 367 Van Waarden 2010, 42 f., 244. 368 Zu Agroecius als Adressaten siehe: van Waarden 2010, 245 f. Dieser weist auf die verschiedenen namentlichen Überlieferungen (Agrecius, Agrycius, Agricius und Agritius) hin, die für diese Zeit in Gallien alle geläufig waren. Siehe außerdem: Kaufmann 1995, 276 f.; vgl. PLRE II, 39 unter Agroecius 3 sowie Heinzelmann 1983, 548 unter Agroecius 3. 369 Sidon. epist. 7,5,1. 370 Sidon. epist. 7,5,2. 371 Van Waarden 2010, 260 interpretiert das Trikolon aus novitas, pudor und necessitas als „Please help me, who am I novice to this office and am feeling embarassed and am unable to back out.“

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grenzt, also auf die Zeit um das Jahr 470 n. Chr. 372 Er äußert sich über innere Streitigkeiten in den aquitanischen Provinzen sowie über die Expansionsbemühungen der Visigoten: his accedit, quod de urbibus Aquitanicae primae solum oppidum Arvernum Romanorum reliquum partibus bella fecerunt. quapropter in constituendo praefatae civitatis antistite provincialium collegarum deficimur numero, nisi metropolitanorum reficiamur assensu. 373 Dies kommt noch hinzu, dass die Kriege von den Städten der Aquitania Prima allein die Stadt der Arverner auf römischer Seite übriggelassen haben. Aus diesem Grund fehlen uns für die Bestimmung eines Bischofs für die oben genannte civitas die Anzahl von Kollegen aus der Provinz, außer wir ergänzen sie durch die Zustimmung der Metropolitan-Bischöfe. 374 Allein Clermont ist nach der Darstellung des Sidonius noch in römischer Hand gewesen. 375 Schuld waren mehrere kriegerische Auseinandersetzungen (bella), für die er zwar die Visigoten als Verantwortliche nicht direkt benennt, dies aber aus dem Kontext der anderen Breife erschlossen werden kann. Nicht deutlich wird, ob die Kriegshandlungen, die die arvernische Bevölkerung betroffen haben, zum Zeitpunkt der Bischofswahl in Bourges schon in Gang waren oder ob diese Region bis dato als einzige von den Auseinandersetzungen verschont geblieben war. Beides ist vorstellbar. Unklar bleibt, ob die anderen Bischofsstühle der Provinzmetropolen unbesetzt waren –  etwa, weil die Städte bereits unter visigotischer Herrschaft waren, – oder ob die Bischöfe aufgrund der Gefahr oder einer Blockade ihrer Stadt nicht zur Wahl kommen konnten. 376 Aufgrund der späteren Überarbeitung und Anordnung der Briefe besteht ferner die Möglichkeit, dass Sidonius mit zeitlichem Abstand historische Ereignisse in die Briefe eingebaut hat, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. In diesem Fall sollte die Dramatik die erste Bischofswahl inszenieren, an der Sidonius als Kommissionsmitglied beteiligt war. Gleichzeitig konnte er durch die politischen Referenzen die Wahl des Simplicius, seines Wunschkandidaten, rechtfertigen. Dieser verfügte über Erfahrung im Umgang mit „barbarischen Herrschern“ und war bereits in „barbarischer Gefangenschaft“ gewesen. Der kriegerische Erzählhintergrund zur Bischofswahl zieht sich in diesem Schreiben weiterhin durch die gespaltene Kirche sowie durch die gespaltene Bevölkerung 377 und begründet bereits in

372 Zur Datierung dieses Schreibens siehe: van Waarden 2010, 245; Loyen 1960/1970, Bd. 3, 214. 373 Sidon. epist. 7,5,3. 374 Zu den Metropolitan-Bischöfen der Aquitania Prima sei auf die Liste von van Waarden 2010, 263 mit den Bischofsitzen verwiesen: Albi, Rodez, Cahors, Javols, Saint Paulien, Limoges und Clermont. 375 Siehe hierzu: van Waarden 2010, 264. 376 Van Waarden 2010, 263. 377 Sidon. epist. 7,5,3.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

diesem Schreiben die Notwendigkeit der Wahl des Simplicius. 378 Weiterhin konstruiert Sidonius mit diesem Schreiben den erzählerischen Rahmen und den Hintergrund für die Kritik an Bischof Graecus (epist.  7,7) wegen des Friedensvertrages mit Eurich und der Übergabe der Stadt. 379 Dabei sind Parallelen zu Epistel 3,1,4 und 7,1,1 nicht von der Hand zu weisen, da in jedem dieser Schreiben betont wird, dass Clermont als letzte Stadt Widerstand leiste. Für Sidonius persönlich bedeutete der Vertrag, wie in seiner Vita dargestellt, eine Zeit des Exils, auf die er gegen Ende des siebten Buches in einem Brief an Abt Chariobaudus hinweist. 380 In diesem Freundschaftsbrief bittet er den Adressaten, für ihn einzutreten, und sendet ihm einen wollenen Mantel: Sidonius Chariobaudo abbati salutem. [1] Facis, unice in Christo patrone, rem tui pariter et amoris et moris, quod peregrini curas amici litteris mitigas consolatoriis. atque utinam mei semper sic recorderis, ut sollicitudines ipsas angore succiduo concatenatas, qui exhortator attenuas, intercessor incidas! [2] de cetero, libertos tuos causis quas iniunxeras expeditis reverti puto, quos ita strenue constat rem peregisse, ut nec eguerint adiuvari. per quos nocturnalem cucullum, quo membra confecta ieiuniis inter orandum cubandumque dignanter tegare, transmisi, quamquam non opportune species villosa mittatur hieme finita iamque temporibus aestatis appropinquantibus. vale. Sidonius grüßt Abt Chariobaudus. [1]  Du handelst, du einzigartiger Beschützer in Christus, in der Angelegenheit entsprechend deiner Liebe und Moral, wenn du dem Freund in der Fremde die Sorgen mit einem tröstenden Brief linderst. Und wenn du dich doch meiner immer so erinnern würdest, dass du meine aus wankender Angst zusammengeketteten Sorgen, als Ermunterer abschwächen und als Fürbitter durchschneiden mögest! [2] Im Übrigen glaube ich, dass deine Freigelassenen, nachdem sie die Angelegenheiten, die du Ihnen aufgetragen hattest, erledigt haben, zurückkehren werden, und es steht fest, dass sie diese so tatkräftig beendet haben, dass sie keine Hilfe nötig hatten. Diesen vertraute ich eine Kukulle für die Nacht an, mit der ihr den vom Fasten erschöpften Körper beim Gebet und beim Ruhen ehrwürdig bedecken könnt, obgleich es nicht geeignet scheint, dass etwas wollener Art am Ende des Winters und der schon nahenden Zeit des Sommers geschickt wird. Leb wohl.

378 Sidon. epist. 7,9. Über die Ansicht, dass der Brief eigentlich epist.  7,9 einleitet, sei auf Loyen 1960/1970, Bd. 3 verwiesen, der den vorliegenden Brief als „dispositions préliminaires“ betitelt. 379 Sidon. epist. 7,7,1: […] facta est servitus nostra pretium securitatis alienae. „Unsere Knechtschaft ist der Preis für die Sicherheit anderer.“ 380 Sidon. epist. 7,16: Über Chariobaudus ist sonst nichts bekannt. Ein Kommentar liegt von van Waarden 2016, 180–197 vor.

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Erneut weist Sidonius auf die freundschaftliche Pflichterfüllung, ausgedrückt mit der Paronomasie von amoris – moris, der Briefkommunikation hin, die in diesem Fall Chariobaudus ihm entgegenbringt, während er in der Fremde weilt und von Sorgen gequält wird. 381 Dies kann als Anspielung auf sein Exil in Livia interpretiert werden, 382 währenddessen sich seine Sorgen zu einer Kette aneinandergefügt haben, von der er hofft, dass Chariobaudus sie durchbrechen kann. Welche Sorgen und Ängste Sidonius durchleben musste, bleibt offen. Es ist anzunehmen, dass diese metaphorische Darstellung gewählt wurde, um sein Schicksal – selbst ein Fremder zu sein, der noch dazu von barbarischen Frauen umgeben ist und sich nicht der Literatur widmen kann 383 – eindringlicher zu schildern. Sidonius zählt auf seine Freunde, um diese Situation zu beenden. Im weiteren Verlauf des Briefes spricht er über einen Auftrag, den Chariobaudus seinen Freigelassenen erteilt habe und der erfolgreich ausgeführt worden sei. Allerdings schweigt Sidonius über die Art des Auftrages. Wir können nur vermuten, dass dieser mit dem Aufenthalt des Sidonius in Livia in Zusammenhang steht, da, erstens,  sonst kein Grund existierte, diese nach Livia zu schicken, zweitens, Sidonius diesen ein Geschenk für den Adressaten mit auf den Rückweg gab. Ob die Information bezüglich der Aufgabe zu gefährlich war, um sie in einem Brief zu kommunizieren, oder ob er seinen Lesern ein Rätsel aufgeben wollte, bleibt ungeklärt. Eventuell ist die Kukulle, die Sidonius als Dank übersandte, selbst als ,Deckmantel‘ für etwas anderes, eventuell für Informationen, zu interpretieren, die den Empfänger schon fast zu spät erreichten, da der Winter beinahe vorüber war. Der Hinweis auf den beginnenden Sommer kann in jedem Fall als eine anstehende Wende interpretiert werden, da Sidonius Jahreszeiten instrumentalisiert, um bestimmte Situationen zu bebildern oder Veränderungen auszudrücken. Mit dem ersten Brief des siebten Buches hat Sidonius den Fokus auf die Auvergne, Clermont und die kriegerischen Auseinandersetzungen gelegt und einen Landschaftsdiskurs konstruiert, der sich in den ersten elf Briefen des siebten Buches wiederfindet. Er verwendet die politische Situation offen als Erzählhintergrund der Briefe und nutzt landschaftliche Beschreibungen, um den Gegensatz zwischen dem ‚Selbst‘ und den ‚Anderen‘ auszudrücken, wie in Kapitel 5.2.2 gezeigt werden wird. 5.2.1.6 Verschleierungen im achten Buch Obwohl sich im achten Buch kaum Anspielungen auf politische Umstände finden lassen 384, bietet es dennoch Hinweise auf die Darstellung von ‚Anderen‘, wie beispielsweise die Beschreibung von Sachsen in dem Brief an Namatius. 385 Sidonius beschäf381 Das Hyperbaton von peregrini  …  amici muss beachtet werden, das die dadurch entstandenen Sorgen in den Mittelpunkt stellt. 382 Siehe Köhler 2014, 238; Loyen 1960/1970, Bd. 3, 75. 383 Vgl. Sidon. epist. 8,3,2. 384 Ein Beispiel wäre Sidon. epist. 8,2, das im nachfolgenden Kapitel behandelt werden wird. 385 Sidon. epist. 8,6,13–16.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

tigt sich in diesem Buch vornehmlich mit dem ,Selbst‘ seiner Briefe, der literarischen Beschäftigung und dem Verhalten von Aristokraten. So sendet er seinem Freund Leo eine Lebensbeschreibung des Philosophen Apollonius, die als Vorbild dienen soll. Im Erzählhintergrund des Briefes äußert sich Sidonius über sein Exil, das Grund für die späte Zusendung des Werkes sowie dessen Qualität ist, und entschuldigt sich: nam dum me tenuit inclusum mora moenium Livianorum, cuius incommodi finem post opem Christi tibi debeo, non valebat curis animus aeger saltim saltuatim tradenda percurrere, nunc per nocturna suspiria, nunc per diurna officia districtus. 386 Denn während mich die Zeit in den Mauern Livias eingeschlossen hielt, dessen Umstandes Ende ich neben Christi Hilfe dir verdanke, war mein durch Sorgen leidender Verstand nicht kräftig genug, um wenigstens zeitweise das Anvertraute zu erfüllen; bald war er des Nachts durch Seufzer gequält, bald bei Tage durch Pflichten. Diesmal ist Sidonius nicht wie in vorausgegangenen Schreiben aus Kriegsgründen hinter Mauern eingeschlossen, sondern weil er sich in der Verbannung befindet. 387 In beiden Fällen stehen die Mauern metaphorisch für Freiheitsverlust und für die beengte Seele des Autors. Wie Sidonius durch eine Alliteration (animus aeger) verstärkt ausdrückt, war sein Geist in dieser Zeit zu schwach, um der Bitte des Freundes nachzukommen. 388 Die Beschreibung der Landschaft wird in diesem Abschnitt von Sidonius als Spiegel der Seele gebraucht. Warum es ihm in dieser Zeit so schlecht geht, wird durch das barbarische Verhalten zweier gotischer Frauen, das in Kapitel 5.1.3 besprochen wurde, erklärt. Eventuell drückt sich die Sehnsucht des Sidonius nach romanitas und der Heimat ebenfalls im Schreiben an Consentius aus, in dem er den Empfänger des Briefes zur öffentlichen conversio und somit zu einem Leben im Dienst der Kirche auffordert. Dabei beginnt der Brief mit der Beschreibung des Landgutes des Consentius, die in seiner Struktur den anderen Villenbeschreibungen ähnelt: umquamne nos dei nutu, domine maior, una videbit ille ager tuus Octavianus, nec tuus tantum quantum amicorum? qui civitati fluvio mari proximus hospites epulis, te pascit hospitibus, praeter haec oculis intuentum situ decorus, primore loco, quod domicilium parietibus attollitur ad concinentiam scilicet architectonicam fabre locatis; tum sacrario porticibus ac thermis conspicabilibus late coruscans; ad hoc agris aquisque, vinetis atque olivetis, vestibulo campo colle amoenissimus; iam super penum vel supellectilem copiosam thesauris bibliothecalibus large refertus, ubi ipse dum non minus

386 Sidon. epist. 8,3,1. 387 Sidon. epist. 3,2,1; 3,3,3; 7,10,1. 388 Diese ist ebenfalls durch eine paronomastische Alliteration (saltim saltuatim) verstärkt.

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stilo quam vomeri incumbis, difficile discernitur domini plusne sit cultum rus an ingenium. 389 Wird uns jemals durch Gottes Willen, verehrter Herr, jenes Landgut, dein Octavia­num, das nicht so sehr deines, sondern vielmehr das deiner Freunde ist, wiedersehen? Dieses, der Stadt, dem Fluss und dem Meer benachbart, versorgt die Besucher mit Speisen und dich mit Gästen und bietet den Augen derer, die es erblicken, einen schönen Anblick durch seinen Bau; zuerst, weil das Haus mit Wänden aufgerichtet wurde, die der architektonischen Symmetrie entsprechend, meisterhaft konstruiert worden waren; ferner, weil es mit einer Kapelle, mit beachtlichen Säulenhallen und Thermen beachtlich glänzt; zusätzlich erscheint es sehr idyllisch mit seinen Gewässern und Äckern, seinen Weinbergen und Olivenhainen, mit seinem Vestibül, seiner Fläche und Hügeln. Sogar über den Vorrat an Lebensmitteln oder Gütern hinaus, ist es reichlich angefüllt mit wertvollen Bibliotheksschätzen; wobei, solange du dich selbst nicht weniger dem Stift als dem Pflügen widmest, es schwierig zu erkennen ist, ob eher das Land oder der Geist des Hausherrn kultiviert ist. Wie bereits in anderen Beschreibungen zeichnet der Autor mit Hilfe sprachlicher Figuren ein Bild des Landgutes mit dem Namen Octavianum. 390 Aufgrund seiner Lage, Architektur und Ausstattung repräsentiert es einen locus amoenus, im Text mit dem Superlativ amoenissimus ausgedrückt. Sidonius lässt den Leser an einer Erinnerung teilhaben und nimmt ihn mit auf die gedankliche Reise in diese äußerst idyllische Landschaft. Eingeleitet wird die Erinnerung mit der rhetorischen Frage, ob es jemals ein Wiedersehen auf diesem Landgut geben wird. Dies ist zum einen als Anspielung auf den im Exil befindlichen Sidonius erklärbar, der sich von den Mauern Livias, in einer Landschaft der ,Andere‘ eingeschlossen, nach einem locus amoenus sehnt. Zum anderen sollte der landschaftliche Diskurs, der den Inbegriff von romanitas symbolisiert, als Teil der Überzeugungsstrategie gelesen werden, mit der Sidonius den Adressaten auffordert, sich öffentlich in den Dienst der Kirche zu stellen. Hierfür dient neben dem landschaftlichen Diskurs sein eigenes Vorbild: sed, quod fatendum est, talibus studiis anterior aetas iuste vacabat seu, quod est verius, occupabatur; modo tempus est seria legi, seria scribi deque perpetua vita potius quam

389 Sidon. epist. 8,4,1. 390 Dies ist ein Beispiel für die Personifikation des Landgutes als Akteur. Es sei auch auf die zahlreichen rhetorischen Mitte in dieser Passage hingewiesen: Ellipse (…  nec tuus tantum quantum amicorum), Trikolon (civitas fluvius mare), Chiasmus und Polyptoton (hospites epulis  – te hospitibus), Paronomasie (agris – aquis; vinetis – olivetis), Aufzählung mit dem Kolon der Bibliothek als Klimax, die wiederum in sich kleinere Aufzählungen einschließt.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

memoria cogitari nimiumque meminisse nostra post mortem non opuscula sed opera pensanda. 391 Aber, was zu bekennen ist, mein früheres Leben enthielt sich rechtmäßig nicht solchen Beschäftigungen oder, was ehrlicher ist, sie wurden von ihm eingenommen. Aber nun ist es an der Zeit, Ernsthaftes zu lesen und Ernsthaftes zu schreiben und mehr über das ewige Leben nachzudenken als über das Andenken, und sich stetig daran zu erinnern, dass nach unserem Tod nicht kleinere Werke, sondern Taten zu beurteilen sind. Der Ton ist verglichen mit dem ersten Absatz ein anderer. Sidonius folgt seiner eigenen Aufforderung, ernsthafte Dinge zu sagen und zu schreiben. Er dient dem Adressaten als Vorbild, hat er sich doch ausgiebig mit Literatur beschäftigt, was er angeblich zum Erzählzeitpunkt des Briefes aufgegeben hat. Der Hinweis auf sein früheres Leben spielt wohl zum einen auf die Zeit vor seiner conversio an, da aus einem anderen Schreiben bekannt ist, dass er als Bischof mit dem Dichten aufgehört habe. Zum anderen könnte Sidonius den Lebenswandel im Exil andeuten, währenddessen er Zeit hatte, sein Leben zu überdenken. Gegen beide Möglichkeiten spricht die Tatsache, dass Sidonius als Bischof sehr wohl kleinere nugae verfasste und sich ausgiebig mit Literatur beschäftigte, wovon seine Briefe vom ersten bis hin zum letztem Buch Zeugnis geben, sowie sein eigenes Klagen, dass er während des Exils nicht in der Weise literarisch aktiv sein konnte, wie er sich es gewünscht habe. Diese Passage enthält die Gedanken eines alternden Mannes, der auf das Leben rückblickend und dem Tod entgegensehend ein Fazit zieht und erkennt, dass seine Taten für das Leben im Jenseits wichtiger sind. Die Textstelle zeugt von einem Sidonius, der, selbst nicht mehr politisch aktiv, seinen Lesern eine Botschaft für ein aktives Leben zukommen lässt. Die gallo-römische Aristokratie soll sich nicht auf ihre Landgüter zurückziehen, sondern öffentlich aktiv sein und so ihre romanitas im Rahmen der Kirche erhalten. 392 Sidonius selbst sieht sich hierfür als Beispiel und möchte seine memoria aus diesem Grund an nachfolgende Generationen weitergeben. Das Ansehen eines Aristokraten über seinen Tod hinaus war wichtiger Bestandteil der verbindenden „mentalité“ und von Sidonius durchaus gewollt, obgleich in diesem Schreiben anders formuliert. Der Brief beinhaltet vieles, was Sidonius an der gallo-römischen Aristokratie verehrt (Landgüter und damit verbunden otium, Lektüre und literarische Aktivität sowie ein Leben in der Kirche) 393 und gibt so Zeugnis über die ‚Lebenswelten‘ und Persönlichkeiten des Autors. Der philosophische und ernsthafte Ton des Briefes ruft die Wichtigkeit eines aktiven Lebens in Erinnerung. Der Landschaftsdiskurs und die Anspielung auf ein früheres Leben sind Teil der Überzeugungsstrategie gegenüber den Lesern sowie Teil der Konstruktion eines idealisierten ,Selbst‘ in den Briefen. 391 Sidon. epist. 8,4,3. 392 Einen ähnlichen Aufruf, sich weniger dem Landgut zu widmen und ein Leben in der Öffentlichkeit zu führen (wenn auch nicht im Rahmen der Kirche), findet sich in Sidon. epist. 8,8. 393 Dies ist besonders im zweiten Paragraphen des Briefes zu finden.

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5.2.1.7 Verschleierungen im neunten Buch Im letzten Buch finden sich im Vergleich zum vorhergehenden Buch vermehrt Anspielungen auf die Zeiten, in denen Sidonius lebte. Allerdings nur innerhalb der Briefe 1 bis 9. Es scheint, als ob spätestens mit dem elften Brief ein thematischer Wechsel von Sidonius vollzogen wurde. Von da an widmet er sich vorwiegend literarischen Themen. 394 Die wohl von Sidonius meistverwendete Anspielung und zugleich Entschuldigung für eine vernachlässigte Briefkommunikation findet sich in einem Brief an Bischof Faustus, der an den Verhandlungen des Friedensvertrages maßgeblich beteiligt war. 395 In diesem Schreiben kündigt Sidonius an, die Briefaustausch vorübergehend einzuschränken, wofür er in der narratio des Briefes drei Gründe – Gefährlichkeit, persönliche Situation und die Überlegenheit des Briefpartners – benennt. Im Hinblick auf die Verschleierung brieflicher Inhalte sind besonders neben der captatio die ersten beiden Gründe von Relevanz. Folgend werden die ersten drei Paragraphen des Briefes vollständig wiedergegeben: Sidonius domino papae Fausto salutem. [1] Servat consuetudinem suam tam facundia vestra quam pietas, atque ob hoc granditer, quod diserte scribitis, eloquium suspicimus, quod libenter, affectum. ceterum ad praesens petita venia prius impetrataque cautissimum reor ac saluberrimum per has maxume civitates, quae multum situ segreges agunt, dum sunt gentium motibus itinera suspecta, stilo frequentiori renuntiare dilataque tantisper mutui sedulitate sermonis curam potius assumere conticescendi. quod inter obstrictas affectu mediante personas asperrimum quamquam atque acerbissimum est, non tamen causis efficitur qualibuscumque, sed plurimis certis et necessariis quaeque diversis proficiscuntur ex originibus. [2] quarum ista calculo primore numerabitur, quod custodias aggerum publicorum nequaquam tabellarius transit inrequisitus, qui etsi periculi nihil, utpote crimine vacans, plurimum sane perpeti solet difficultatis, dum secretum omne gerulorum pervigil explorator indagat. quorum si forte responsio quantulumcumque ad interrogata trepidaverit, quae non inveniuntur scripta mandata creduntur; ac per hoc sustinet iniuriam plerumque qui mittitur, qui mittit invidiam, plusque in hoc tempore, quo aemulantum invicem sese pridem foedera statuta regnorum denuo per condiciones discordiosas ancipitia redduntur. [3] praeter hoc ipsa mens nostra domesticis hinc inde dispendiis saucia iacet; nam per officii imaginem vel, quod est verius, necessitatem solo patrio exactus, hoc relegatus variis quaquaversum fragoribus quia patior hic incommoda peregrini, illic damna proscripti. quocirca solvere modo litteras paulo politiores aut intempestive petor aut inpudenter aggredior, quas vel ioco lepidas vel stilo cultas 394 Mratschek 2017, 316 stellt fest, dass die Briefe 12 bis 16 des neunten Buches alle Gedichte beinhalten, die entweder an oder für einen Literaten verfasst worden sind, wobei das neunte Buch von allen am meisten Gedichte (nämlich sechs) enthält. Auf den Seiten 313–322 des zitierten Beitrages hat sich Sigrid Mratschek näher mit der Dichtung in den Briefen auseinandergesetzt. 395 Sidon. epist. 9,3. Für die Beteiligung Faustus’ am Friedensvertrag siehe: Sidon. epist. 7,6,10; zu Faustus selbst siehe: Anderson 1936/1965, Bd. 2, 508 f.; vgl. Heinzelmann 1983, 607 unter Faustus 2.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

alternare felicium est. porro autem quidam barbarismus est morum sermo iucundus et animus afflictus. Sidonius grüßt Bischof Faustus. [1] Sowohl Eure Sprachfertigkeit als auch Eure Liebe sind ihrer Gewohnheit getreu und deswegen empfange ich gerne Eure Worte, weil Ihr redegewandt schreibt und Euer Wohlwollen, weil Ihr gerne schreibt. Übrigens halte ich es bei den gegenwärtigen Zeiten, wofür ich die Bitte um Vergebung vorausschicke und (hoffentlich) erhalte, für das Sicherste und Vernünftigste, besonders aufgrund unserer gegenwärtigen Städte, die weit voneinander gelegen handeln, während den Straßen durch die Unruhen der Menschen misstraut werden muss, auf ein regelmäßiges Schreiben zu verzichten und durch die einstweilige Verzögerung der gegenseitigen Emsigkeit des Gesprächs, in Sorge vielmehr das Schweigen ergreifen. Obgleich dies zwischen miteinander durch Zuneigung verbundenen Menschen besonders hart und streng ist, wird dies nicht durch irgendwelche Gründe bewirkt, sondern am meisten aus bestimmten und notwendigen Gründen, die aus verschiedenen Ursachen herrühren. [2] Unter diesen ist an erster Stelle die Tatsache zu nennen, daß kein Briefbote die Wachposten an den öffentlichen Straßen passiert, ohne durchsucht zu werden; das bedeutet zwar für ihn keinerlei Gefahr, weil er ja kein Verbrechen begeht, aber doch ein hohes Maß an Unannehmlichkeit, wenn eine aufmerksame Wache an der Landstraße die Boten bis in den geheimsten Winkel erforscht. Läßt dann beim Verhör ihre Antwort nur die geringste Nervosität erkennen, dann glaubt man, daß sie alles, was sich nicht schriftlich bei ihnen finden läßt, als mündlichen Auftrag erhalten hätten. Und darum muß der Bote häufig Mißhandlungen ertragen und sein Auftraggeber Mißgunst, noch mehr unter den derzeitigen Verhältnissen, in denen Verträge, auf die sich die rivalisierenden Regierungen vor kurzem geeinigt hatten, von neuem in Frage gestellt werden mit Bedingungen, die neuen Zwist verheißen. [3] Außerdem liegt mein Geist von persönlichen Verlusten, die ihn von zwei Seiten her betroffen haben, betrübt darnieder, denn unter dem Vorschein einer Aufgabe oder, was der Wahrheit näher kommt, unter Zwang von der heimatlichen Erde vertrieben und hierher verbannt, schwächen mich jedesmal wechselnde Anfälle von Melancholie: Hier muß ich die Unbequemlichkeiten eines Fremden hinnehmen, dort die Verluste eines Proskribierten. Es dürfte daher nicht der richtige Zeitpunkt sein, von mir auch nur als Antwort einen sorgfältiger abgefaßten Brief zu erbitten, und es wäre schamlos, wollte ich mich daran versuchen, Briefe zu wechseln, die anmutig im Scherz sind und von gepflegtem Stil, was nur glücklichen Menschen erlaubt ist. Außerdem wäre das so etwas wie ein charakterlicher Barbarismus: ein heiteres Gespräch bei bekümmertem Geist. 396

396 Übersetzung nach Köhler 2014.

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Obscuritas in den Briefen

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Zu Beginn erfährt der Leser, dass Sidonius den Adressaten für seine stilistische Ausdrucksweise und seine rege Briefkommunikation verehre. 397 Er schmeichelt seinem Briefpartner, worauf unmittelbar die Ankündigung, die Kommunikation einzustellen, erfolgt. Hierfür nennt Sidonius zwei Gründe, mit denen er auf den Erzählhintergrund anspielt: 1.  die Entfernung der Städte, in denen sich die beiden aufhalten. Dies deutet darauf hin, dass sich Sidonius nicht in Clermont, seinem eigentlichen Aufenthaltsort, befindet. Erst im dritten Paragraphen erfährt der Leser über eine weitere Anspielung auf den Aufenthaltsort des Sidonius, der sich als vertrieben (patrius exactus) bezeichnet und somit auf sein Exil verweist. 2. Er nennt in der captatio die Situation im öffentlichen Wegenetz, der aufgrund von Aufständen der Bevölkerung nicht zu trauen sei. Doch auf welche Aufstände spielt Sidonius an? Die Erzählzeit (Sidonius im Exil) bedeutet, dass zwischen dem Römischen Reich und den visigotischen Anhängern unter Eurich ein Vertrag geschlossen worden war, an dem Sidonius zufolge Faustus beteiligt gewesen war. Bekannt ist weiterhin, dass eben neben Sidonius die Bischöfe Crocus und Simplicius sowie später Faustus von Eurich in die Verbannung geschickt wurden. Frank Kaufmann vermutet, dass dies weniger einer antikatholischen Haltung Eurichs zuzuschreiben, sondern vielmehr auf deren antigotisches Verhalten zurückzuführen sei. Seines Erachtens ist eine Verbannung ein politisches Instrument Eurichs gewesen, um der „Furcht vor einer Aufhetzung des Volkes“ entgegenzuwirken. 398 Könnten dadurch Sidonius’ Anspielungen zu erklären sein? Eine Analyse der narratio soll helfen, die Hinweise im Brief zu erkennen. Dabei fällt auf, dass Sidonius die in der captatio angeführten Gründe für das Einstellen der Kommunikation in der narratio in exakt umgekehrter Reihenfolge abarbeitet. Er beginnt in Paragraph 2 mit der Postierung von Wächtern auf öffentlichen Wegen, die grundsätzlich jeden Boten abfingen und befragten. Zwar sei es für die Boten weniger gefährlich als unangenehm, es deutet aber darauf hin, dass diese nicht nur bezüglich der Briefinhalte, sondern auch wegen der mündlichen Botschaften, die durch sie übermittelt wurden, vorsichtig sein mussten. 399 Sidonius schreibt zwar an keiner Stelle, dass die Wachposten im Auftrag Eurichs stationiert waren, jedoch ist davon auszugehen, dass dieser das lokale Straßennetz überwachen ließ. Für diese Maßnahmen waren weniger die vorhergehenden Auseinandersetzungen ausschlaggebend als vielmehr das gegenseitige Misstrauen (condiciones discordiosae) der Reiche, die in Gallia um Einfluss rangen. Besonders die problematischen Verhältnisse zwischen Burgundern und Visigoten kommen bei Sidonius zur Sprache. 400 Aus diesem Grund ist zu vermuten, dass Sidonius’ Anspielung auf diese beiden Gruppen abzielte. Folglich sind die in der Einleitung angesprochenen Unruhen der gentes wohl eher als Heerbewegungen gotischer und burgundischer 397 Sidonius ermahnt häufig in seinen Briefen das Gegenüber, öfter zu schreiben. Dies war wohl bei Faustus nicht notwendig. 398 Kaufmann 1995, 408 f. (Zitat auf S. 409). 399 Wörtlich Sidon. epist. 9,3,2: quorum si forte responsio quantulumcumque ad interrogata trepidaverit, quae non inveniuntur scripta mandata creduntur. 400 Sidon. epist. 1,7,5; 3,4,1; 5,6 f.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Gruppierungen zu verstehen. Dies wird von Christine Delaplace unterstrichen, die annimmt, dass das foedus zwischen Rom und den aquitanischen Goten im Jahr 465 n. Chr. aufgelöst wurde, aber zwischen Burgundern und Goten Absprachen bezüglich der Grenzen getroffen worden seien. 401 Genau auf diese Absprachen und das gegenseitige Misstrauen, das schließlich zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Goten und Burgundern führte, spielt Sidonius in diesem Schreiben an. 402 Es ist davon auszugehen, dass Eurich als gotischer rex sichergehen wollte, von Bischöfen wie Sidonius, Simplicius oder Faustus, die bereits zuvor mit burgundischen Machthabern in Kontakt standen, nicht hintergangen zu werden. Sidonius selbst lässt seine Leser diesbezüglich im Dunkeln. Im dritten Paragraphen führt er den Hauptgrund auf, warum eine briefliche Kommunikation mit Faustus besser unterbrochen werden sollte: seinen seelischen Zustand. Seine Gemütslage formt nicht nur das Herz der narratio, sondern wird bereits in der captatio von der angeblich literarischen Überlegenheit des Faustus sowie der Situation des öffentlichen Verkehrsnetzes eingerahmt. Die Verbannung sei unter dem Anschein einer Aufgabe oder Pflichterfüllung erfolgt. Doch was diese das Exil tarnende Aufgabe sein soll, verschweigt Sidonius. 403 Es wurde bereits in der Vita die Hypothese diskutiert, ob Eurich Sidonius unter einem Vorwand in das Exil schickte, um die Möglichkeit zu haben, diesem eine Rückkehr zu gewähren. Sidonius bespricht in diesem Teil des Briefes deutlich seine innere Gefühlslage, die er mit der parallel konstruierten, antithetischen Sentenz hic incommoda peregrini, illic damna proscripti zum Ausdruck bringt. In der Verbannung (hic) müsse er die Unanhemlichkeiten eines Fremden ertragen, während er in der Heimat (illic) die Verluste eines Proskribierten ertragen müsse. Sidonius fühlt sich im Exil wie ein Auswärtiger, was die Darstellungen des barbarischen Verhaltens von zwei gotischen Frauen vor seinem Fenster ebenfalls unterstreicht. 404 Er fühlt sich in dieser Umgebung nicht wohl. Er beschreibt sich als jemand, der nicht in die dortigen ‚Lebenswelten‘ passt, sich nicht anpassen kann und auch nicht anpassen möchte. Er vergleicht sein Schicksal mit dem eines Proskribierten und sieht sich folglich selbst als Opfer politischer Machtspiele. Unter diesen Umständen literarisch tätig zu sein, ist für ihn nicht nur unmöglich, sondern darf auch von Faustus nicht verlangt werden, da es einem charakterlichen Barbarismus gleichkommen würde, in einer solchen Situation Briefe zu verfassen. In Anbetracht der Tatsache, dass Faustus selbst einer der Bischöfe war, die an den Vertragsverhandlungen zur Übergabe von Clermont beteiligt waren, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Sidonius mit der Beschreibung seines Gemütszustandes Mitleid bewirken wollte. In den folgenden Abschnitten bittet Sidonius Faustus, für ihn zu beten, damit 401 Delaplace 2015, 255. 402 Zu den Auseinandersetzungen siehe: Perrin 1968,421. Delaplace 2015, 284 beklagt die schlechte Quellenlage zu diesen Prozessen. Henning 1999, 233 weist darauf hin, dass die Burgunder bis zur Eroberung der Franken offiziell römische Föderaten des Kaisers in Konstantinopel blieben und das Amt des gallischen Heermeisters ausübten. 403 Siehe Sidon. epist. 8,3,1. 404 Sidon. epist. 8,3,1.

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Sidonius sich der Sünde in eben der Weise entfremde, in der er sich des irdischen Besitzes entfremdet habe. 405 Ganz schmeichlerisch behauptet Sidonius, dass der wichtigste Grund für das Einstellen der Kommunikation seine Bewunderung für den Stil des Faustus sei, der mit Tropen und Figuren angefüllt ist.  406 Es bleibt zu hinterfragen, wieso Sidonius die Kommunikation mit Faustus wirklich einstellen wollte und aus welchem Grund er den Brief mit Verschleierungen versah. Weder dienen sie hier als Teil einer Überzeugungsstrategie noch grenzen sie das ,Selbst‘ vom ,Anderen‘ ab. Außerdem berichtet der Brief nicht von gefährlichen Inhalten, die verschleiert werden müssten. Ist Sidonius, der Faustus so überschwänglich lobt und sich am Ende des Briefes sogar selbst als stolidus bezeichnet, von seinem Gegenüber enttäuscht und stellt aus diesem Grund die Korrespondenz mit ihm ein? Ahnt Sidonius von der bevorstehenden Verbannung des Faustus und möchte seine eigene Rückkehr nicht durch den Kontakt zu diesem gefährden? Oder ist das ganze Schreiben eine Farce, um Sidonius’ Leid während des Exils zu präsentieren, und gleichzeitig eine scheinheilige Bescheidenheitsfloskel, um sein eigenes literarisches Schaffen unter das von anderen gelehrten Männern zu stellen? All diese Vermutungen sind im Rahmen des Briefes möglich. Nach meiner Ansicht ist es am wahrscheinlichsten, dass Sidonius dieses Schreiben für seine Leserschaft komponiert hat, um diese durch die Darstellung seines Schicksals auf seine Seite zu ziehen. Damit sind die Allusionen als Überzeugungsstrategie gegenüber seinen zukünftigen Lesern zu interpretieren. Ganz ähnlich wie das Schreiben an Faustus beginnt der fünfte Brief des neunten Buches an Bischof Julianus. 407 In diesem kurzen Freundschaftsschreiben berichtet Sidonius, dass die Korrespondenz zwischen den beiden nicht wegen schwieriger Bedingungen des Weges behindert worden sei, sondern durch die Auseinandersetzungen zweier verfeindeter Herrschaftsgebiete, die nun durch einen Friedensvertrag beseitigt worden seien. Für den Erhalt des Friedens solle Julianus beten: Sidonius domino papae Iuliano salutem. [1] Etsi plusculum forte discreta, quam communis animus optabat, sede consistimus, non tamen medii itineris obiectu quantum ad solvendum spectat officium nostra sedulitas impediretur, nisi quod per regna divisi a commercio frequentiore sermonis diversarum sortium iure revocamur; quae nunc saltim post pacis initam pactionem quia fidelibus animis foederabuntur, apices nostri incipient commeare crebri, quoniam cessant esse suspecti. [2] proinde, domine papa, cum sacrosanctis fratribus vestris pariter Christo supplicaturas iungite preces, ut dignatus prosperare quae gerimus nostrique dominii temperans lites arma compescens illos muneretur innocentia, nos quiete, totos securitate. memor nostri esse dignare, domine papa. 408

405 406 407 408

Sidon. epist. 9,3,4. Sidon. epist. 9,3,5. Über Bischof Julian ist nichts Näheres bekannt; vgl. Köhler 2014, 293; Kaufmann 1995, 315f. Sidon. epist. 9,5.

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Sidonius grüßt Bischof Julianus. [1]  Obwohl wir vielleicht etwas weiter entfernte Wohnsitze einnehmen, als von unserer gemeinsamen Gesinnung gewünscht, hätte dennoch nicht das Hindernis des dazwischenliegenden Weges, soweit es um die Erfüllung unserer Plicht geht, die Emsigkeit behindern können, sondern nur, durch getrennte Herrschaften vom regelmäßigen Gesprächsverkehr abgehalten, das Gesetz feindlicher Bereiche; und weil diese sich nun wenigstens, nachdem ein Friedensvertrag abgeschlossen ist, in treuer Gesinnung verbünden wollen, werden unsere Schreiben anfangen häufig zu verkehren, da sie ja aufhören, verdächtig zu sein. [2] Deswegen, ehrwürdiger Vater, vereinigt euch ebenso mit euren hochheiligen Brüdern, um in Gebeten zu Christus zu bitten, dass dem was wir ausüben erlaubt zu blühen, indem er die Streitigkeiten unserer Herren besänftigt, die Kämpfe bändigt und jenen Rechtschaffenheit, uns Frieden und allen Sicherheit schenken werde. Seid so gnädig euch meiner zu erinnern, Herr und Vater. Wie in anderen Schreiben verweist Sidonius auf die Entfernung der Wohnorte von Verfasser und Adressat. André Loyen geht davon aus, dass der Brief in Clermont nach der Rückkehr aus dem Exil entstanden sei und mit der Anspielung der verfeindeten Reiche die visigotischen und burgundischen Herrschaftsbereiche angesprochen seien. 409 William B. Anderson stimmt zwar mit André Loyen darin überein, dass der Brief in Clermont verfasst worden sei, geht aber davon aus, dass sich dieser auf die Verträge im Jahr 475 zwischen Goten und Römern beziehe. 410 Helga Köhler schließt sich der Meinung von Anderson bezüglich des Friedensvertrages von 475 n. Chr. an. 411 Die Verwendung der ersten Person Plural zu Beginn des Briefes zeigt, dass Sidonius tatsächlich auf die konstanten Niederlassungen, also ihre Bischofsstühle, anspielt. Für gewöhnlich macht Sidonius weitere Andeutungen, wenn er sich nicht in Clermont, sondern im Exil aufhält. 412 Doch wo ist das Gegenüber zu verorten? Über Julianus gibt es keine prosopographischen Informationen. Lediglich als Adressat von Sidonius’ Briefen tritt dieser Bischof in Erscheinung. Allein der Hinweis des Sidonius auf die „verfeindeten Herrschaften“, lässt folgern, dass Julianus nicht in der Auvergne und vermutlich auch nicht in der Aquitania Prima wirkte. Doch in welcher gallischen Provinz er einen Bischofssitz innehatte, muss offenbleiben. Die Einschränkung auf Gallia ist lediglich durch den Adressatenkreis des Sidonius zu untermauern, da Julianus sonst der einzige Adressat außerhalb der gallischen Provinzen wäre. Dementsprechend kann keine weitere Aussage über die Identifizierung der verfeinden Reiche gemacht werden. Die Theorie von Anderson (Römer gegen Visigoten) ist ebenso denkbar wie die Annahme Loyens (Burgunder gegen Goten). Die Anordnung des Briefes im neunten Buch lässt die Möglichkeiten vielleicht näher einschränken. Zu beachten ist jedoch, dass die Briefe 3, 409 410 411 412

Loyen 1960/1970, Bd. 3, 140. Anderson 1936/1965, Bd. 2, 518 f. Köhler 2014, 293. Beispielsweise Sidon. epist. 8,3 f.; 9,3.

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4 und 5 jeweils mit dem Hinweis auf die Entfernung zwischen Verfasser und Adressat beginnen und alle auf Unruhen in den gallischen Provinzen anspielen. Somit kann angenommen werden, dass sich hinter dieser Anordnung versteckte Hinweise befinden. Im dritten Brief an Faustus wird die Korrespondenz aus diversen Gründen eingestellt; das vierte Schreiben an Graecus berichtet von einer regelmäßigen Gewohnheit des brieflichen Gespräches trotz irdischer Stürme, 413 während der Brief an Julianus davon spricht, dass ihr brieflicher Austausch einzig durch die Kriegssituation gestoppt worden sei und dieser, nach Abschluss eines Friedensvertrages, nun regelmäßig erfolgen werde. Es besteht die Möglichkeit, dass Sidonius hier auf das Schreiben an Bischof Faustus anspielt, in dem als einer der Gründe für das Ende des Briefwechsels die Situation der öffentlichen Wege genannt worden war. Die Tatsache, dass sich Sidonius in der Erzählzeit des Schreibens an Faustus im Exil befand, lässt vermuten, dass es sich bei den Unruhen um Auseinandersetzungen zwischen Goten und Burgundern handeln müsse. Stünden diese beiden Schreiben in einem engeren Zusammenhang, wäre die logische Folgerung, dass auch Epistel 9,5 auf die Gebietsstreitigkeiten zwischen Goten und Burgundern anspielt. Leider berichtet keine der zeitgenössischen Quellen über Verträge zwischen diesen beiden gentes. Somit sind weitere Vermutungen bezüglich der Erzählzeit müßig. Die inhaltliche Botschaft dieser Schreiben stimmt hingegen überein. Die aristokratische Pflicht des Gespräches durch Briefe wurde von den gallo-römischen Bischöfen übernommen. Lediglich kriegerische Auseinandersetzungen erlaubten eine Unterbrechung dieser Pflicht. Es scheint, als ob Sidonius es nicht (mehr) als die Aufgabe der Bischöfe sieht, sich in die Auseinandersetzungen der nicht-römischen Herrscher und ihrer Anhänger einzumischen, da er Julianus lediglich zu Gebeten für den Frieden auffordert, damit der briefliche Austausch nicht erneut gefährdet werde. Dies kann als Argument für einen Konflikt nicht-römischer Gruppierungen sowie für einen Abfassungszeitraum des Briefes nach dem Exil des Sidonius gesehen werden. Dieser zog sich von da an aus der Politik zurück und konzentrierte sich auf seine Aufgaben als Bischof sowie auf die Aufrechterhaltung aristokratischer „mentalité“. Vor diesem Hintergrund sind die Anspielungen im achten Brief an Bischof Principius zu lesen. 414 Dieses ebenfalls kurze Freundschaftsschreiben behandelt die Anzahl der bisher geschickten und erhaltenen Briefe sowie erneut eine Anspielung auf die Distanz, die zwischen Verfasser und Adressat liegt. 415 Besonders die narratio, die direkt in den Briefschluss überleitet, ist aufgrund der Anspielungen von Belang: .

Et quia, domine papa, modo vivimus iunctis abiunctisque regionibus conspectibusque mutuis frui dissociatae situ habitationis inhibemur, orate, ut optabili religiosoque decessu vitae praesentis angoribus atque onere perfuncti, cum iudicii dies sanctus offulserit cum resurrectione, agminibus vestris famulaturi vel sub Gabaoniticae servitutis 413 Sidon. epist. 9,4,2. Eine Analyse dieses Briefes findet sich in Kapitel 5.2.2. 414 Principius war der Bischof von Soissons; siehe Köhler 2014, 279; Heinzelmann 1983, 673 unter Principius 2. 415 Sidon. epist. 9,8,1 f.

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occasione iungamur; quia secundum promissa caelestia, quae spoponderunt filios dei de nationibus congregandos, si nos reos venia soletur, dum vos beatos gloria manet, etsi per actionum differentiam, non tamen per locorum distantiam dividemur. 416 Und weil wir, Herr und Vater, zwar im Geiste vereint aber in verschiedenen Regionen leben und der Genuss von gegenseitigen Anblicken durch die getrennte Lage der Wohngegenden verhindert wird, betet, dass ich nach einem wünschenswerten und frommen Hinscheiden und nachdem die Kummer und Lasten des gegenwärtigen Lebens überstanden worden sind, wenn der Tag des heiligen Gerichts und wenn die Auferstehung entgegenstrahlt, in eurem Gefolge als Diener oder unter der Bedingung einer Gabaonitischen Knechtschaft 417 mit euch vereint sein werde; weil nach den himmlischen Verheißungen, welche versprochen hatten, die Kinder Gottes von jeder Herkunft zu versammeln, werden wir, wenn mir dem Schuldigen Gnade erteilt werden wird, während euch dem Gesegneten die Herrlichkeit erhalten bleibt, zwar durch unsere unterschiedlichen Handlungen, aber dennoch nicht durch eine Entfernung des Ortes voneinander getrennt werden. Erneut wird die gleichartige mentale Gesinnung als Charakteristikum einer gemeinsamen ‚Lebenswelt‘, die sich Verfasser und Adressat teilen, angesprochen. Dabei ist noch immer die einende „mentalité“, die charakteristisch für die Aristokratie war, für die Bischöfe als wichtiges Identifikationsmerkmal zu erachten, das über einer gemeinsamen räumlichen ‚Lebenswelt‘ steht. 418 Der Brief enthält die Aufforderung an Bischof Principius, für Sidonius zu beten, und darüber hinaus die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel. Sidonius spricht sein eigenes Ableben an, das er als Erlösung von den Sorgen, ausgedrückt durch das Hendiadyoin angor atque onus, des gegenwärtigen Lebens betrachtet. Damit schließt er gedanklich erneut an den vierten Brief des neunten Buches an, der an Graecus gerichtet ist und in dem er ebenfalls über das Elend des gegenwärtigen Lebens spricht, das ertragen werden müsse, um in das Himmelreich zu gelangen. 419 Es ist davon auszugehen, dass diese Schreiben von einem älteren Sidonius, der sich intensiv mit der Frage nach dem Tod und einem Fortleben beschäftigt hat, in dieser Form überarbeitet, wenn nicht sogar abgefasst wurden. Das Leid und der Kummer bleiben im Dunkeln. Sidonius könnte damit auf den Verlust der gallischen Provinzen und die Entwicklung des Römischen Reiches anspielen. Er könnte auf den seiner Ansicht nach literarischen Niedergang verweisen oder seine politischen Niederlagen andeuten. 416 Sidon. epist. 9,8,2. 417 Vgl. Ios 9,3–15; 9,18–23: Die Einwohner Gibeons wollten Josua und seine Streitmacht täuschen, einen Bund mit ihnen zu schließen. Als der Betrug ans Licht kam, wurden sie zur ewigen Knechtschaft als Holzhauer und Wasserschöpfer verbannt. 418 An dieser Stelle sei erneut auf die stilistische Ausgestaltung der Briefe des Sidonius verwiesen, der die Antithese von verbunden und getrennt durch eine Paronomasie ausdrückt ( iunctis abiunctisque regionibus). 419 Sidon. epist, 9,4,3: quantumlibet nobis anxietatum pateras vitae praesentis propinet afflictio […] „Mag uns das Elend des gegenwärtigen Lebens beliebig viele Schalen der Ängste zu trinken geben […].“

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Gleichzeitig ist das Schreiben als Bekenntnis zur christlichen Lehre zu verstehen, da er zum wiederholten Male anspricht, dass das Leid des irdischen Lebens ertragen werden müsse, um in das Reich Gottes zu gelangen. 420 5.2.2 Landschaftsdiskurse als Instrument der Abgrenzung Bevor die Bedeutung von Landschaft als Instrument von Alterität untersucht werden kann, muss die Grundlage dessen definiert werden, was Sidonius versucht abzugrenzen. Zu Beginn dieses Kapitels wurde die antike Klimatheorie angesprochen, die, in römischer Perspektive, Rom beziehungsweise Italia als perfekten Scheitelpunkt der Welt sieht und somit die römische Bevölkerung als Idealtypus hervorbringt. Im ersten Buch seiner Briefsammlung verdeutlicht Sidonius seinen Lesern, dass diese Weltsicht für ihn noch immer von Bestand ist. So berichtet er in Epistel 1,5 von seiner Reise nach Rom 421 und schildert in eleganter Weise nicht nur seine eigene Route, sondern nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte der Weltmacht Rom. 422 So erinnern die Alpen an Hannibal und die punischen Kriege. Er erwähnt, in eine idealisierte Landschaft eingebettet, den Geburtsort Vergils als wichtige Station römischer Literaturgeschichte; für Ravenna hat er nur Spott übrig 423 und drückt so seine Loyalität gegenüber Rom als wichtigste Stadt des Römischen Reiches aus. 424 Im folgenden Brief, der eingangs dieses Kapitels bereits zitiert wurde, definiert er Rom als: 420 Vgl. Apg 14,22: ἐπιστηρίζοντες τὰς ψυχὰς τῶν μαθητῶν, παρακαλοῦντες ἐμμένειν τῇ πίστει καὶ ὅτι διὰ πολλῶν θλίψεων δεῖ ἡμᾶς εἰσελθεῖν εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ. „Sie stärkten die Seelen der Jünger und ermahnten sie, im Glauben zu verharren, und sagten, dass wir durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes hineingehen müssen.“ (Übersetzung Elberfelder Bibel) 421 Siehe Stoehr-Monjou 2009, 209. Der Brief stellt eine Art Reisebericht des Sidonius dar. Allerdings verschweigt er den Grund, warum die Gesandtschaft überhaupt die Reise auf sich nahm. Lediglich das Scheitern der Gesandtschaft ist bekannt. In diesem Brief kommt auch eine gewisse Religiosität des Sidonius zum Ausdruck, der während der Reise an Fieber erkrankt war und dessen Leiden plötzlich geheilt wurden, als er vor den Mauern der Kirche St. Peter und Paul niederkniete. Sidon. epist. 1,5,9: ubi priusquam vel pomeria contingerem, triumphalibus apostolorum liminibus affusus omnem protinus sensi membris male fortibus explosum esse languorem […]. „Dort, noch ehe ich auch nur das Pomerium berührt hatte, an den triumphalen Schwellen der Apostel hingestreckt, fühlte ich, wie mit einem Schlage aus meinen geschwächten Gliedern die ganze Krankheit weggeblasen war […].“ (Übersetzung Köhler 2014, 15). 422 Zur Bedeutung von Geschichte als Argument in den Briefen des Sidonius siehe: Mratschek 2008b, 372. In ähnlicher Weise ist eine solche Darstellung in Sidon. epist. 7,12,3 zu finden. 423 Vgl. Sidon. epist 1,8 an Candidianus, in dem er Ravenna ebenfalls verspottet, um die Auvergne schöner erstrahlen zu lassen. 424 Sidon. epist 1,5,2–9. Für eine ausführliche Interpretation des Briefes und der Funktion der Landschaft in demselben sei auf Fournier/Monjou 2013 verwiesen. Da die Onlinepublikation über keine Seitenangaben verfügt sei besonders auf folgende Unterkapitel verwiesen: Espace intime et identitaire (für Hannibalvergleich), Espace de la nature maîtrisée (Fortsetzung der Hinweise auf kriegerischen Auseinandersetzung mit Karthago), Espace de l’ idéal naturel antique (Bild einer idealisierten Landschaft mit dem Geburtsort Vergils verbunden), Espace politique de Ravenne

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[…] domicilium legum, gymnasium litterarum, curiam dignitatum, verticem mundi, patriam libertatis, in qua unica totius orbis civitate soli barbari et servi peregrinantur. 425 […] die Heimatstätte der Gesetze, das Gymnasium der Literatur, die Kurie der Senatoren, den Mittelpunkt der Welt, die Vaterstadt der Freiheit, in der als einzige Stadt auf der ganzen Welt einzig Barbaren und Sklaven Fremde sind. Rom symbolisiert die Zivilisation, die sich von der wilden, ungezähmten Natur unterscheidet, die in diesem Schreiben deutlich mit Barbaren und Sklaven in Verbindung zu bringen ist. Für Sidonius haben Barbaren keinen Anteil an der idealisierten römischen Landschaft, dem locus amoenus, und somit keinen Anteil an der Zivilisation selbst. Insgesamt kann über das erste Briefbuch geurteilt werden, dass die dort beschriebene Landschaft als narrativer Hintergrund verwendet wurde, um Sidonius’ Ansichten von romanitas und aristokratischer „mentalité“ zu bebildern. So begibt sich der Leser zusammen mit Sidonius von seiner geliebten Stadt an der Rhône 426, Lyon, nach Rom, das als Erzählort in den Briefen  5 bis 10 dient. Erst im letzten Brief des ersten Buches verlagert Sidonius das Geschehen in die gallischen Provinzen zurück, genauer nach Arles, dem Aufenthaltsort von Kaiser Maiorian, und nimmt die Anklage gegen ihn selbst, ein Spottgedicht gegen den Kaiser verfasst zu haben, zum Anlass, um Vergil gemäß durch Ausgrenzung zu definieren, wen er als Mitglied seiner lebensweltlichen Gemeinschaft akzeptiert. 427 Die Bedrohung dieser romanitas wird ab dem zweiten Buch durch landschaftliche Diskurse ausgedrückt. Eine barbarische Landschaft, die in direktem Gegensatz zu einem locus amoenus steht, findet sich in seinem Schreiben an Domitius, das eine Aufforderung an den Empfänger darstellt, Sidonius auf seinem Landgut zu besuchen. Bevor Sidonius jedoch sein eigenes Landgut mit allen Annehmlichkeiten beschreibt, liefert er in der captatio dem Briefadressaten einen Grund für die Reise aufs Land:

à Rome en traversant l’Italie (Landschaft beschreibt den Konkurrenzkampf zwischen Ravenna und Rom als Hauptstadt des Römischen Reiches). Im Jahr 2017 ist eine Interpretation desselben Briefes von Michael Hanaghan erschienen, der besonders im ersten Teil des Briefes Allusionen zu Kriegen und Schlachten sowie literarischen Vorbildern, die diese beschreiben (Horaz, Silius und Vergil) erkennt (Hanaghan 2017, 648). Er sieht ihre Funktion als Erinnerung eines drohenden Krieges an die Leser und versucht ihn, mit einer Datierung der Abfassung im Jahr 467 und einer Veröffentlichung vor 469/470 (634 f.), in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen, und vertritt die Annahmen, dass die Anspielungen unter Berücksichtigung der politischen Propaganda des Sidonius zu interpretieren seien (634). Da die Argumentation Michael Hanaghans mit den Datierungen steht und fällt und ich diesen kritisch gegenübersteht, wird der Interpretation von Mauricette Fournier und Annick Stoehr-Monjou (ehemals Monjou) der Vorrang gegeben. 425 Sidon. epist. 1,6,2. 426 Sidon. epist. 1,5,1. 427 Sidon epist. 1,11. Zur Abgrenzung durch die Frage Vergils nach Herkunft und Abstammung siehe: Kapitel 2.1.

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iam ver decedit aestati et per lineas sol altatus extremas in axem Scythicum radio peregrinante porrigitur. hic quid de regionis nostrae climate loquar? cuius spatia divinum sic tetendit opificium, ut magis vaporibus orbis occidui subiceremur. quid plura? mundus incanduit: glacies Alpina deletur et hiulcis arentium rimarum flexibus terra perscribitur; squalet glarea in vadis, limus in ripis, pulvis in campis; aqua ipsa quaecumque perpetuo labens tractu cunctante languescit, iam non solum calet unda sed coquitur. 428 Schon weicht der Frühling dem Sommer und die hochstehende Sonne erreicht auf dem höchsten Punkt ihrer Bahn mit ihrem sonst fremden Strahl die skythische Himmelsgegend. Was soll ich in dieser Beziehung über das Klima unserer Gegend sagen? Diese hat das göttliche Schöpfungswerk so ausgerichtet, daß wir mehr der Wärme des westlichen Erdteils unterliegen. Was mehr? Die Welt hat sich erwärmt: Das Eis der Alpen schwindet, und das Land ist gezeichnet von den klaffenden Windungen dürstender Furchen. Ausgetrocknet ist der Kies in den Furten, der Lehm an den Ufern, der Staub auf den Feldern; ja, selbst jedes Gewässer, das sonst immer fließt, tröpfelt dahin in zögerlichem Lauf; seine Wellen sind nicht mehr nur warm, sie kochen. 429 Der Grund für die Reise aufs Land ist offensichtlich die Jahreszeit und das Klima, das dort erträglicher zu sein scheint. Beschreibt Sidonius hier reale klimatische Bedingungen oder eine verwilderte Landschaft, um auf politische Schwierigkeiten anzuspielen? Ein einleitender Hinweis diesbezüglich könnte das Adjektiv extremus und das Partizip peregrinatus sein. Der Theorie von Albert Dauge folgend, dass Adjektive wie ultimus u. a. als Distanz vom ‚Selbst‘ zum ,Anderen‘ betrachtet werden können, wird extremus als eben solcher Hinweis gedeutet. Die Strahlen der Sonne erreichen sogar den für sie fremden Nordpol (axis Scythicus). 430 Sidonius verwendet hier das poetische axis und verbindet es, klimatheoretisch bedingt, mit den Skythen als Bewohnern des nördlichen Endes der Welt. 431 Erst nachdem für den Leser symbolisiert worden war, dass im folgenden Teil ein Bereich außerhalb der ‚Lebenswelten‘ des Autors angesprochen wird, etwas, das als nicht normal charakterisiert werden kann, beginnt Sidonius, mit einer rhetorischen Frage einleitend, die Beschreibung des Klimas. Die Landschaft, die er schildert, ist durch extreme Hitze geprägt, die das Eis der Alpen zum Schmelzen und die Wellen (vermutlich des Meeres) zum Kochen bringen würde. Flüsse würden nicht mehr fließen und die Erde wäre ausgetrocknet. Der Autor zeichnet eine furchtbare Szenerie, die, bedingt durch die vorherige Erwähnung des Begriffes Scythus, das Bild einer barbarischen Landschaft beim

428 429 430 431

Sidon. epist. 2,2,1. Übersetzung nach Köhler 2014, 42. Dauge 1981, 398. Der Begriff ‚Skythen‘ umfasste in der Spätantike mehrere barbarische Gruppierungen. Unter anderem sollten die Goten von den Skythen abstammen: vgl. Iord. Get. 1,9.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Leser hinterlässt. Im Gegensatz hierzu folgt die Beschreibung seines persönlichen locus amoenus – seines Landgutes mit dem Namen Avitacum: mons ab occasu, quamquam terrenus, arduus tamen inferiores sibi colles tamquam gemino fomite effundit, quattuor a se circiter iugerum latitudine abductos. sed donec domicilio competens vestibuli campus aperitur, mediam vallem rectis tractibus prosequuntur latera clivorum usque in marginem villae, quae in Borean Austrumque conversis frontibus tenditur. 432 Ein Berg im Westen, mit Erde bedeckt, aber doch steil, entsendet Hügel, niedriger als er selbst, gleichsam in zwiefacher Verzweigung, die auf einer Fläche von ungefähr vier Joch von ihm aus flacher werden. Bis sich jedoch genügend freier Platz für einen meinem Wohnsitz angemessenen Vorhof öffnet, begleiten seitliche Hänge in geradem Verlauf das zwischen ihnen liegende Tal bis an die Grenze meines Gutes, das so ausgerichtet ist, daß seine Stirnseiten sich nach Norden und Süden wenden. 433 Perfekt in die Landschaft eingebunden befindet sich das Landgut in einer natürlichen Idylle, deren Reiz immer wieder zur Sprache kommt, während Sidonius den Leser Schritt für Schritt und Raum für Raum durch die Villa führt. 434 Vom zuvor beschriebenen brodelnden Klima, dem ausgetrockneten Boden oder dem schmelzenden Eis der Alpen ist keine Rede mehr. Nicht nur liegt die Villa an einem wunderschönen See, der zu Schiffsrennen einlädt, 435 sondern besitzt auch ausgedehnte Wälder, bunte Wiesen und ertragreiche Weiden, sodass die Hirten einen reichen Gewinn verzeichnen können (Abb. 4). 436 Der Interpretation von Jelle Visser, die diese Beschreibung als wilde Landschaft begreift, die bei den Villenbeschreibungen eines Plinius nicht zu finden ist, ist zu widersprechen. 437 Die captatio des Briefes hat deutlich herausgestellt, was Sidonius unter einer wilden Landschaft versteht. Er malt hier einen locus amoenus aus, um seiner eigenen

432 Sidon. epist. 2,2,3. 433 Übersetzung Köhler 2014, 43. 434 Sidon. epist. 2,2,4–15. Eine Interpretation des Briefes mit besonderem Fokus auf der narratio findet sich bei Visser 2014. Einen Vergleich der Beschreibung mit archäologischen Villenbefunden hat Dark 2005 unternommen. 435 Sidon. epist. 2,2,19. Die ausführliche Beschreibung des Sees findet sich in den Absätzen 16 bis 19. 436 Sidon. epist. 2,2,19. 437 Die stellen Plin. epist. 2,9; 5,6 und 8,20 werden von Jelle Visser als Vergleich herangezogen. Gerade mit Plinius epist.  2,17 und 5,6 argumentierend äußert Sigrid Mratschek die Hypothese, dass das von Sidonius beschriebene Landgut nicht real gewesen sein könnte. Das beschriebene Gut sowie die umgebende Landschaft erscheinen ihr unwirklich, zumal der Name des Empfängers, Domitius, an einen Adressaten von Plinius erinnern würde (Mratschek 2008b, 373). Es ist kein Geheimnis, dass Sidonius dem Vorbild Plinius gefolgt ist und aus dem Grund, muss, ebenso wie die Annahme von Sigrid Mratschek als eine mögliche Interpretation gesehen werden muss, auch die Möglichkeit offenbleiben, dass sich die Namensparallele der Adressaten angeboten hat, auch einen Brief ähnlichen Inhaltes zu veröffentlichen.

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Abb. 4: Lac d’Aydat und Blick auf den See mit Ortschaft (© Autorin).

romanitas Ausdruck zu verschaffen. 438 Wie ein Künstler kreiert er ein Landschaftsbild seiner Persönlichkeit. Die Beschreibung der Villa hebt die eigene romanitas, den eigenen aristokratischen Lebensstil, hervor, um sich von ,Anderen‘ abzugrenzen. 439 Dies bezeugt ferner der neunte Brief des zweiten Buches an Donidius, der ebenfalls die idyllische Lage zweier aristokratischer Landgüter thematisiert  –  die Villen des Ferreolus und Apollinaris. 440 Während Sidonius bei der Beschreibung seines eigenen Landgutes dessen Architektur und Einbettung in die Landschaft dargestellt hat, ist in diesem Brief der landschaftlichen Einbettung mit der captatio Genüge getan. Dabei sind Parallelen zur

438 Vgl. Mratschek 2008b, 373–375: „Aber kein Zeichen der Identität ist vielsagender in der Welt der römischen Eliten als ihre privaten Villen.“ (Zitat S. 373). 439 Visser 2014, 27. Diese Theorie wird ferner durch den Brief  3,5 an Hypatius unterstrichen, der den Rückkauf eines alten Landgutes durch einen rechtmäßigen Aristokraten beinhaltet. Da ein Landgut ein aristokratisches Charakteristikum ist und für die Verkörperung von romanitas steht, darf es in der Ansicht des Sidonius nicht in fremde Hände gelangen. 440 Sidon. epist. 2,9. Zu Donidius siehe: PLRE II, 376 f.; vgl. Heinzelmann 1983, 593 unter Donidius. An Ferreolus ist Epistel 1,7 der Briefsammlung adressiert; zu dessen Person siehe: PLRE II, 465 f. unter Tonantius Ferreolus; vgl. Heinzelmann 1983, 608 unter Tonantius Ferreolus 2. Köhler 2014, 56 schließt sich Kaufmann 1995, 278 und Loyen 1960/1970, Bd. 2, 219 an, die vermuten, dass es sich hierbei um den Onkel des Sidonius handeln könnte.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Beschreibung der Villa des Sidonius, Avitacum, sichtbar. 441 Die narratio des Briefes ist den als typisch zu erachtenden Beschäftigungen (Lektüre, Spiel, Mahlzeiten, Ausritte und Bäder) während eines Aufenthaltes auf einem Landgut gewidmet 442 und komplimentiert somit die durch die idealisierte Landschaft ausgedrückte romanitas der Besitzer und des Sidonius. 443 Im zehnten Brief des zweiten Buches beschwert sich Sidonius bei Hesperius über die üblich gewordenen Barbarismen. 444 Neben der Abgrenzung von ,Anderen‘ durch die Reinheit der Sprache bringt Sidonius diese auch visuell zum Ausdruck. Er beschreibt die neue Basilika in Lyon, die durch die finanzielle Förderung des Bischofes Patiens erbaut werden konnte. 445 In der narratio des Briefes, die dem Adressaten die von Sidonius für das Bauwerk verfasste Inschrift übermittelt, beschreibt er die Architektur der Kirche parallel zur rhythmischen Konstruktion der Gedichte, die in der Kirche angebracht sind. 446 Es scheint, als ob die Architektur der Basilika und somit die kirchliche Landschaft mit der aristokratischen Mentalität verschmelzen würden. Somit wird die Kirche ein weiteres Abgrenzungsmerkmal gegenüber den ,Anderen‘, die nicht in der Lage sind, ein solches Bauwerk und solche Dichtung zu konstruieren, und die sich mit Barbarismen ausdrücken. Parallel zum barbarischen Verhalten häufen sich die landschaftlichen Hinweise zu den Geschehnissen in Gallia im dritten Brief des Buches. Erneut ist der Brief 3,1 an Avitus zu erwähnen, in dem dieser von Sidonius aufgefordert wird, in die Auvergne zurückzukehren. Diese Landschaft wird durch die von ihm getätigten Schenkungen an die Kirche von Clermont und das an Avitus gegangene Nicetius-Erbe beschrieben. 447 Demgegenüber steht die Landschaft, in der die Goten leben: […] Gothis […], qui saepenumero etiam Septimaniam suam fastidiunt vel refundunt, modo invidiosi huius anguli etiam desolata proprietate potiantur. 448

441 Sidon. epist. 2,9,1. Die Villen befinden sich umgeben von Hügeln, Weingärten und Wäldern. 442 Sidon. epist. 2,9,3–9. 443 Ein weiteres Beispiel derselben Art ist die Beschreibung des Landgutes von Consentius in Sidon. epist. 8,4,1, das ebenfalls über Wasserläufe, Äcker, Olivenhaine, Bäder und eine Bibliothek verfügt, um lediglich einige der Merkmale zu nennen. 444 Da der Brief bereits ausführlich in Kapitel 5.1.1 behandelt wurde, soll er an dieser Stelle lediglich erwähnt werden. 445 Sidon. epist. 2,10,2. 446 Sidon. epist. 2,10,3: huius igitur aedis extimis rogatu praefati antistitis tumultuarium carmen inscripsi trochaeis triplicibus adhuc mihi iamque tibi perfamiliaribus. namque ab hexametris eminentium poetarum Constantii et Secundini vicinantia altari basilicae latera clarescunt […]. „Im Chorabschluß dieser Kirche habe ich also auf Bitten des besagten Bischofs ein eilig verfaßtes Gedicht anbringen lassen in dreifachen Trochäen, die bisher nur mir sehr vertraut sind und es Dir sogleich sein werden. Die dem Altar der Basilika benachbarten Seitenwände erglänzen nämlich bereits von Hexametern der beiden hervorragenden Dichter Constantius und Secundinus […].“ (Übersetzung Köhler 2014, 62). 447 Sidon. epist. 3,1,2 f. 448 Sidon. epist. 3,1,4.

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Obscuritas in den Briefen

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[…] die Goten, die oft sogar ihr eigenes Septimanien 449 verschmähen oder zurückgeben würden, wenn sie sich nur eines verlassenen Besitztums in unserer Ecke, auf die sie neidisch sind, bemächtigen könnten. Die Auvergne als Landschaft besitze eine solche Anziehungskraft, dass sogar NichtRömer von ihr angezogen werden würden. Neben der Charakterisierung der Visigoten als neidisch spricht Sidonius mit Hilfe der Landschaft die militärischen Auseinandersetzungen und die politischen Probleme mit den Föderaten, die ihr Einflussgebiet auf die Auvergne ausdehnen wollten, an. Die Bezeichnung als angulus bezieht Filomena Giannotti auf den Schmerz des Sidonius über das Schicksal seiner Stadt als letzter Winkel unter römischer Herrschaft. Das Thema des dritten Buches, die Heimat des Sidonius, ihre Helden und die Auseinandersetzung mit den Föderaten wurde von Sidonius elegant eingeleitet. Die Auvergne wird in seinen Briefen zu einer idealisierten Landschaft und zum Sinnbild von romanitas. 450 Die Bedrohung dieser romanitas wird infolge der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Visigoten deutlich. 451 Eine wilde Landschaft, die als Gegensatz hierzu zu deuten ist, soll im Folgenden nun ausführlicher besprochen werden. Im zweiten Brief des dritten Buches findet sich ein Dankschreiben an Constantius, einem Priester in Lyon, für dessen ,Besuch‘ im zerstörten Clermont. 452 Sidonius schildert, wie Constantius der Bevölkerung Mut zugesprochen und zum Wiederaufbau der Stadt ermutigt hat. Bemerkenswert ist die Leistung desselben, der wohl nicht mehr Jüngste war und dennoch die Gefahren der Reisen auf sich genommen hatte:

449 Für Septimanien als Gebiet der Goten siehe: Kapitel 5.1.3. 450 Vgl. die Beschreibung der Auvergne in Sidon. epist. 4,21,5: taceo territorii peculiarem iucunditatem; taceo illud aequor agrorum, in quo sine periculo quaestuosae fluctuant in segetibus undae, quod industrius quisque quo plus frequentat, hoc minus naufragat; viatoribus molle, fructuosum aratoribus, venatoribus voluptuosum; quod montium cingunt dorsa pascuis latera vinetis, terrena villis saxosa castellis, opaca lustris aperta culturis, concava fontibus abrupta fluminibus; quod denique huiusmodi est, ut semel visum advenis multis patriae oblivionem saepe persuadeat. „Schweigen will ich von der ganz besonders anziehenden Natur dieses Landstriches; schweigen will ich von diesem Meer von Äckern, auf dem ohne jede Gefahr gewinnbringende Wellen von Korn hin- und herwogen; je öfter sie der fleißige Bauer aufsucht, desto weniger wird er Schiffbruch erleiden; angenehm ist diese Gegend für den Wanderer, ertragreich für den Landmann, voller Vergnügen für den Jäger; ringsherum umgeben das Land Bergrücken mit Weiden, Hänge mit Weinbergen, erdiges Gelände mit Gutshöfen, felsiges mit Bergdörfern, schattige Wälder mit Verstecken für das Wild, offene Partien mit kultivierten Äckern, Grotten mit Quellen und Steilhänge mit Wasserfällen; kurz, alles ist so beschaffen, daß es viele Fremde, die es auch nur einmal gesehen haben, nicht selten dazu bringt, ihr eigenes Heimatland zu vergessen.“ (Übersetzung Köhler 2014, 135). 451 Erneut sei darauf verwiesen, dass die Datierung des Erzählzeitraumes der Briefe, welche die Auseinandersetzungen in der Auvergne und Clermont betreffen, nicht näher als für die Jahre 471 bis 475 festgelegt werden kann. Eine Bestimmung des Abfassungs- beziehungsweise Überarbeitungszeitraumes des Briefes ist meines Erachtens zum derzeitigen Forschungsstand nicht möglich. 452 Constantius ist der Adressat folgender Briefe: 1,1; 3,2; 7,18; 8,16.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Sidonius Constantio suo salutem. [1] Salutat populus Arvernus, cuius parva tuguria magnus hospes implesti, non ambitiosus comitatu sed ambiendus affectu. deus bone, quod gaudium fuit laboriosis, cum tu sanctum pedem semirutis moenibus intulisti! quam tu ab omni ordine sexu aetate stipatissimus ambiebare! quae salsi erga singulos libra sermonis! quam te blandum pueri, comem iuvenes, gravem senes metiebantur! quas tu lacrimas ut parens omnium super aedes incendio prorutas et domicilia semiusta fudisti! quantum doluisti campos sepultos ossibus insepultis! quae tua deinceps exhortatio, quae reparationem suadentis animositas! [2] his adicitur, quod, cum inveneris civitatem non minus civica simultate quam barbarica incursione vacuatam, pacem omnibus suadens caritatem illis, illos patriae reddidisti. quibus tuo monitu non minus in unum consilium quam in unum oppidum revertentibus muri tibi debent plebem reductam, plebs reducta concordiam. quocirca satis te toti suum, satis se toti tuos aestimant; et, quae gloria tua maxima est, minime falluntur. [3] obversatur etenim per dies mentibus singulorum, quod persona aetate gravis infirmitate fragilis, nobilitate sublimis religione venerabilis solius dilectionis obtentu abrupisti tot repagula, tot obiectas veniendi difficultates, itinerum videlicet longitudinem brevitatem dierum, nivium copiam penuriam pabulorum, latitudines solitudinum angustias mansionum, viarum voragines aut umore imbrium putres aut frigorum siccitate tribulosas, ad hoc aut aggeres saxis asperos aut fluvios gelu lubricos aut colles ascensu salebrosos aut valles lapsuum assiduitate † derasas; per quae omnia incommoda, quia non privatum commodum requirebas, amorem publicum rettulisti. [4] quod restat, deum precamur, ut aevi metis secundum vota promotis bonorum amicitias indefessim expetas capias referas sequaturque te affectio, quam relinquis, et initiatae per te ubicumque gratiae longum tibi redhibeantur quam fundamenta tam culmina. vale. 453 Sidonius grüßt seinen Constantius. [1] Es grüßt Euch das Volk der Arverner, dessen kleine Hütten Ihr, ein großer Gast, aufgesucht habt, nicht stolz und von Gefolge umdrängt, sondern zugänglich und von Liebe umgeben. Guter Gott, welch eine Freude hat die Leidgeprüften ergriffen, als Ihr Euren verehrungswürdigen Fuß in die halbverfallene Stadt gesetzt habt! Wie seid Ihr herumgegangen umdrängt von jedem Stand, jedem Geschlecht und Alter! Wie fein abgewogen war Eure scherzhafte Rede gegen jedermann! Wie gütig haben Euch die Kinder, wie gesellig die jungen Männer und wie ernsthaft die Greise erlebt! Welche Tränen habt Ihr wie ein Vater aller Menschen über die bei dem Brand eingestürzten Gebäude und die noch qualmenden Wohnhäuser vergossen! Welchen Schmerz habt Ihr gezeigt über die Felder, begraben unter unbegrabenen Gebeinen! Doch wie groß war dann Eure Aufmunterung, Euer Mut, mit dem Ihr zum Wiederaufbau geraten habt. [2] Und weiter: Als Ihr die Stadt noch mehr durch die Feindschaft zwischen ihren Bürgern als durch den Einfall der Barbaren 453 Sidon. epist. 3,2.

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Obscuritas in den Briefen

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verlassen vorfandet, habt Ihr durch Eure Ermahnung zum Frieden den Bürgern die Nächstenliebe und sie damit ihrer Heimat wiedergegeben. Nachdem sie nämlich aufgrund Eurer Ermahnung zum selben Sinn nicht weniger als in dieselbe Stadt zurückgefunden haben, verdanken ihre Mauern Euch die Rückkehr der Menge und die Menge die Rückkehr ihrer Eintracht. Darum betrachten sie Euch allesamt als den Ihren, sich selbst gänzlich als die Euren; und was Euch am meisten Ehre macht: sie täuschen sich nicht darin. [3] Kommt es doch täglich jedem einzelnen mehr zum Bewußtsein, daß Ihr als betagter Mann und von Krankheit gebrechlich, von höchstem Adel und von verehrungswürdiger Frömmigkeit allein aus Liebe so viele Wegsperren durchbrochen und so viele Reisehindernisse überwunden habt wie die Länge des Weges bei kurzem Tageslicht, Schneemassen und Futtermangel, die Weite des unbewohnten Landes und die Enge der Herbergen, die bodenlosen Wege, teils vom Regen aufgeweicht, teils trocken und dornig vom Frost, dazu raue Straßen voller Geröll, eisglatte Flüsse, felsige Berge, mühsam zu ersteigen, und von beständigen Erdrutschen geschrundete Täler: Weil Ihr alle diese Mühsale nicht um des eigenen Vorteils willen auf Euch genommen habt, habt Ihr die Liebe des ganzen Volkes gewonnen. [5] Schlußendlich bitte ich Gott, daß er das Ende Eures Lebens Eurem Wunsch gemäß in weite Ferne rücken möge, daß Ihr unermüdlich die Freundschaft edler Männer erstreben, ergreifen und erwidern möget, daß die Zuneigung, die Ihr zurücklaßt, Euch begleite und daß die Monumente der dankbaren Anerkennung, deren Grund Ihr allenthalben gelegt habt, vom Fundament bis zur Vollendung Euch noch lange Zeit vergolten werden. Lebt wohl. 454 In der captatio des Briefes beschreibt Sidonius die Landschaft, die Constantius bei seinem Besuch vorfindet. Die Bewohner der Stadt leben in kleinen Hütten und zwischen halb zerstörten Mauern. Ein Feuer habe zudem große Teile der Wohnhäuser in der Stadt zerstört. Aber der schlimmste Anblick befinde sich außerhalb der Stadt: Die Felder seien unter unbestatteten Körpern begraben. Wenn das Vokabular der captatio beachtet wird, fällt dem Leser sofort tuguria als Bezeichnung für die Unterkünfte der Bewohner der Stadt auf, die stilistisch mit parva antithetisch zu magnus hospes gestellt sind. 455 Der Begriff tugurium bezeichnet eine primitive Behausung armer Menschen oder speziell die Wohnräume von Barbaren. 456 Seltener gebräuchlich war es, damit eine städtische Wohnsiedlung zu beschreiben. Sidonius hat durch dessen Gebrauch zum einen den miserablen Zustand der Stadt gleich zu Beginn des Briefes, direkt nach der salutatio, zum Ausdruck gebracht sowie, zum anderen, dem geschulten Leser einen ersten verschleierten Hinweis auf die Präsenz von Barbaren gegeben. Sidonius kann den Zustand der Stadt ohne Allusionen beschreiben, da die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Visigoten 454 Übersetzung Köhler 2014, 74f. 455 Vgl. Giannotti 2016, 123 f. Leider äußert sich Filomena Giannotti nicht über die Bedeutung von tugurium. 456 Zum Beispiel Vitr. 2,1,5. Mit der etymologischen Entwicklung des Begriffes hat sich unter Einbezug verschiedener Herleitungen Baldi 1997, 241–246 beschäftigt.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

kein Geheimnis darstellen. 457 Ich weise darauf hin, dass Sidonius in seinen Briefen eine imaginierte Landschaft erschaffen hat und seine Ausführungen daher übertrieben sind. In diesem Schreiben verwendet Sidonius für die Darstellung der zerstörten Stadt eine künstliche Sprache, die durch stilistische Figuren wie ein Hyperbaton (civitatem … vacuatuam), einer Paronomasie (sepultos  …  insepultis), einen Parallelismus (aedes incendio prorutas et domicilia semiusta fudisti) oder Gegensätze allgemein (parva … magnus und gaudium … laboriosis) angereichert ist. 458 Die Sprache dient nicht nur dazu, das Leiden der Bevölkerung darzustellen, sondern erzeugt auch einen düsteren Kontrast zum Protagonisten des Briefes, Constantius. 459 Diesen bezeichnet Sidonius als Vater der gesamten Bevölkerung. Am Ende der Aufzählung der städtischen Zerstörung spricht er die Felder außerhalb der Mauern an. Erst in seinem dritten Brief im selben Buch an Ecdicius wird deutlich, dass damit die unbestatteten gotischen Krieger gemeint sind. 460 Mit Beginn der narratio (Absatz  2) wendet sich Sidonius von der ,Landschaft des Grauens‘ ab und benennt den Zwist unter den Bürgern als Grund für das trostlose Clermont. Die Schuld für die Zerstörung sei folglich nicht nur bei einfallenden Barbaren zu suchen, sondern auch bei der arvernischen Bevölkerung selbst, die sich im Streit entzweite. Den Anlass der innerstädtischen Auseinandersetzung verschweigt Sidonius. Nur durch die Hilfe des Constantius konnte die Stadt wieder zusammenwachsen und Frieden (pax), Nächstenliebe (caritas) und Einheit (concordia) hergestellt werden. Der zweite Paragraph, der Constantius für seine Vermittlung lobt, versteht sich als Ermahnung der arvernischen Bevölkerung gerade in schwierigen Zeiten zusammenzuhalten. Im darauffolgenden Absatz greift Sidonius erneut das Landschaftsmotiv auf, um die Situation von Clermont zu beschreiben, was den Eindruck der Sonderstellung des zweiten Paragraphen verdeutlicht. Sidonius spricht in Wahrheit eben doch dem barbarischen Einfall die Schuld an der Zerstörung zu, womit die Schuldzuweisung an die Bewohner der Stadt eine Scharade darstellt. Denn die Stadt sei keinesfalls einfach zu erreichen gewesen und allein die dilectio des Constantius habe ihn angetrieben, sämtliche Wegsperren zu durchbrechen. Sidonius stellt Constantius dem Leser durch eine parallele Aufzählung von Subjekt + Adjektiv (aetate gravis, infirmitate fragilis, nobilitate sublimis, religione venerabilis) nicht nur vor, 461 sondern fügt in einer langen antithetischen Aufzählung die Schwierigkeiten des Weges hinzu: 462 lange Wege, kurze Tage, Schneemassen, Versorgungsprobleme, widrige Straßenverhältnisse, schäbige Unterkünfte sowie klimatische Schwierigkeiten. Dadurch wirken die Taten des Constantius und seine Persönlichkeit 457 Zur kriegerischen Auseinandersetzung in der Auvergne am Ende des 5.  Jahrhunderts speziell zwischen Clermont und Eurichs Truppen sei auf Kapitel 3.1.4 dieser Arbeit verwiesen. 458 Für weitere Stilfiguren im ersten Paragraphen des Briefes sei auf Giannotti 2016, 124–127 verwiesen. 459 Für den hell-dunkel-Kontrast in der spätantiken Literatur sei auf Schwitter 2015, 38, 126–212 verwiesen. 460 Vgl. Sidon. epist. 3,3,7. 461 Giannotti 2016, 128. 462 Siehe Giannotti 2016, 129 f. für eine ausführliche Beschreibung der stilistischen Gestaltung dieser Aufzählung.

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Obscuritas in den Briefen

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noch größer. Der dritte Paragraph des Briefes bildet die Klimax: Constantius war in der Lage, alle Hindernisse, die ihm im Weg standen, zu durchbrechen. Mit diesen metaphorisch zu verstehenden Hindernissen sind die Goten gemeint, die die Zugänge zur Stadt blockierten. Die Landschaft wirkt wild und ungezähmt, sie wirkt barbarisch. Dennoch schaffte es Constantius, alle Gefahren hinter sich zu lassen, und wurde zum Hoffnungsträger für die Bevölkerung. Dieser Brief spricht für sich. Es ist klar erkennbar, dass Sidonius hier düstere Landschaftsmetaphern von Zerstörung, Gewalt und einem rauen Klima nutzt, um den Helden des Briefes in ein helles Licht zu stellen. Daher ist er ein gutes Beispiel für zweierlei: Zum einen veranschaulicht er die kunstvolle Konstruktion der Briefe, aufgrund derer in der Forschung diskutiert wird, ob die Schreiben des Sidonius ,real‘ waren oder als Kunstbriefe verfasst worden sind. Sie zeigen die besonderen literarischen Fähigkeiten des Autors und setzen ebensolche Fähigkeiten des Lesers voraus, um sie verstehen zu können. Zum anderen wird deutlich, dass Landschaften als Metaphern für Auseinandersetzungen mit ,Barbaren‘ dienen und somit als Instrument zur Darstellung von Alterität gesehen werden. Offensichtlich wollte Sidonius durch die Figur des Constantius ein Beispiel für andere gallo-römische Aristokraten aufzeigen. In der Botschaft des Sidonius schwingt die Hoffnung mit, dass sie es mit Hilfe von Nobilität und christlicher Überzeugung mit den Schwierigkeiten der Zeit aufnehmen können. Parallelen zu diesen Schreiben finden sich in der nachfolgenden Epistel 3,3 an Ecdicius, die ausführlich im Kapitel 5.1.3 besprochen wurde und daher an dieser Stelle lediglich für den darin enthaltenden Landschaftsdiskurs herangezogen wird. Es sei in Erinnerung gerufen, dass Sidonius, ähnlich wie in den Schreiben 3,1 und 3,2, den Empfänger Ecdicius als beispielhaften Helden und Verfechter gallo-römisch-aristokratischer Werte lobt. Die in der captatio des Briefes beschriebenen Landschaft, in der Ecdicius aufgewachsen ist, 463 wird nicht nur dem barbarischen Verhalten der Angreifer, 464 sondern auch der trostlosen Landschaft, in der sich die Ereignisse abspielen, gegenübergestellt: die halb niedergebrannte Stadtmauer oder die steilen Anhöhen, auf die sich die Goten zurückgezogen haben. 465 Die Abgrenzung vom ,Selbst‘ zum ,Anderen‘ findet sich in der Nennung des freien Feldes wieder, das sich zwischen der arvernischen Bevölkerung und den gotischen Angreifern befände: […] cum interiectis aequoribus in adversum perambulatis […]. 466 […] als du die dazwischen befindliche Ebene zum Feind hin durchquert hattest […].

463 Sidon. 3,3,2. 464 Ich erinnere an deren Umgang mit ihren gefallenen Kriegern. 465 Sidon. epist. 3,3,3: […]  e semirutis murorum aggeribus conspicabantur […]. „[…]  von den halbzerstörten Wällen der Mauern haben sie [Anm.: gemeint: die Bürger von Clermont] beobachtet […].“ Sidon. epist. 3,3,4: subducta est tota protinus acies in supercilium collis abrupti […]. „Sofort flüchtete die gesamte Schlachtreihe auf die Anhöhe eines steilen Hügels […].“ 466 Sidon. epist. 3,3,3.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Die mentale Unterscheidung zwischen dem ,Selbst‘, den römischen Bürgern von Clermont, und dem ,Anderen‘, den feindlichen visigotischen Soldaten, wird durch eine reale Distanz ausgedrückt. Die Alterität der Angreifer wird in diesem Brief nicht nur durch ihr barbarisches Verhalten dargestellt, sondern durch die Verwendung von landschaftlichen Diskursen, die der ,Natur des Selbst‘ und der ,Natur des Anderen‘ entsprechen, zusätzlich untermauert. Die Episteln 1 bis 3 des dritten Buches bilden durch ihren Inhalt eine Einheit. Zwar wird die militärische Auseinandersetzung mit den Visigoten in der Auvergne thematisiert, aber das eigentliche Anliegen der Briefe ist indes die Abgrenzung von romanitas und alteritas durch leuchtende Beispiele zeitgenössischer Aristokraten, die trotz widriger Umstände an der aristokratischen „mentalité“ festhalten. Die von Sidonius beschriebene Landschaft in den Briefen an Constantius und an Ecdicius wird in ähnlicher Weise widergespiegelt. Beide Briefe berichten von semiruta moenia, von unbestatteten Kriegern, oder von steilen Hügeln und auf die sich die Visigoten zurückziehen. In beiden Briefen nimmt die gesamte Bevölkerung von jedem Stand, Alter und Geschlecht Anteil an den Taten und die Funktion von Zeugen ein, um die Glaubwürdigkeit der Darstellung des Sidonius zu unterstreichen. Durch ihre Verkörperung römischer Ideale und ihren Mut gegenüber Barbaren, verdienten die beiden Akteure der Briefe die öffentliche Zuneigung der Bevölkerung. Tab. 3: Parallelen in den Briefen 3,2 und 3,3 epist. 3,2 an Constantius 2.1 semirutis moenibus

epist. 3,3 an Ecdicius 3.3 semirutis murorum

2.1 campos sepultos ossis insepultis

3.7 decervicatis liquere cadaveribus

2.3 colles ascensu salebroso

3.4 collis abrupti

2.1 ab omni ordine sexu aetate

3.3 omnis aetas ordo sexus

2.3 amorem publicum

3.6 publici amoris

Oliver Overwien versteht die Briefe als Aufruf zum Widerstand. 467 Ich erachte diese indes als Aufruf zur Aufrechterhaltung von romanitas. Als Argument hierfür werden die Charakterisierungen der Helden als exempla 468 sowie deren Einsatz für die Auvergne als patria gesehen. 469 Durch deren Beispiele erinnert Sidonius an die Pflichten eines Aristokraten gegenüber seinen lebensweltlichen Gemeinschaften und tradiert diese durch die Veröffentlichung der Briefe an nachfolgende Generationen. 470 467 Vgl. Overwien 2009b, passim. Oliver Overwien stellte diese These vorwiegend an Beispielen aus dem achten Buch der Sammlung auf. 468 Sidon. epist. 3,1,1; 3,2,1; 3,2,3; 3,3,1 f. 469 Sidon. epist. 3,1,2; 3,2,2; 3,3,3–7. 470 Als weitere Argumente sind die Beschreibung des geschändeten Grabes des Großvaters in Epistel 3,12 sowie das Porträt des Gnatho in Epistel 3,13 als Negativbeispiele für aristokratisches Verhalten

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Obscuritas in den Briefen

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Ein weiterer Hinweis auf die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region findet sich im siebten Brief des dritten Buches an den Präfekten Felix. Diesen bittet Sidonius um Neuigkeiten und tadelt ihn in der captatio, schon länger nicht an Sidonius geschrieben zu haben. 471 In der narratio drückt Sidonius seine Besorgnis um den Ausgang der Gespräche zwischen dem römischen Quästor Licinianus und den Visigoten aus. 472 Die Visigoten werden im nachfolgenden Absatz, der die comitas, prudentia und fides des Licinianus preist, von Sidonius direkt als barbari bezeichnet, wodurch ihr Verhalten dem des Licinianus gegenübergestellt wird. 473 Das barbarische Verhalten wird durch die Beschreibung der Witterung am Briefende ausgedrückt: mandate perniciter, si vero dicta conquadrant, ut tantisper a pervigili statione respirent quos a muralibus excubiis non dies ninguidus, non nox inlunis et turbida receptui canere persuadent; quia, etsi barbarus in hiberna concedat, mage differunt quam relinquunt semel radicatam corda formidinem. palpate nos prosperis, quia nostra non tam procul est a vobis causa quam patria. 474 Melde also eilends, ob die Aussagen mit der Wahrheit übereinstimmen, damit unsere Männer sich wenigstens zeitweilig von ihrer ununterbrochenen Wache erholen können, Männer, die kein Schneetag und keine mondlose, stürmische Nacht dazu bringen kann, zum Rückzug zu blasen von ihrem Wachestehen auf der Mauer; denn wenn sich der Barbar auch ins Winterlager zurückzieht, so kann das Herz die einmal eingewurzelte Furcht nur vorübergehend zum Schweigen bringen, aber nicht endgültig von sich werfen. Beruhige uns mit günstigen Nachrichten, denn unsere Sache ist Dir nicht so fern wie unsere Heimat. 475 Die Gefahr, die von den visigotischen Soldaten ausgeht, zeichnet sich in der landschaftlichen Beschreibung ab, die die arvernische Stadt und ihre Verteidiger umgibt. Erneut verwendet Sidonius hierfür eine Aufzählung, die mit dem Adjektiv turbida endet. Besonders die Sturmmetapher ist in den Darstellungen des 5.  Jahrhunderts beliebt, um auf

471 472 473 474 475

zu sehen, die ebenfalls als Mahnungen für ein aristokratisches Pflichtbewusstsein beachtet werden müssen. Im letzten Brief des dritten Buches ruft Sidonius ebenfalls nicht zum Widerstand auf, sondern tut seinen Unmut darüber kund, dass die lateinische Sprache mit ihren Finessen nicht mehr gewürdigt und so die Wissenschaft missbraucht werden würde (siehe Sidon. epist. 3,14,2). Sidon. epist. 3,7,1: Longum a litteris temperatis. igitur utrique nostrum mos suus agitur: ego garrio, vos tacetis. „Lange Zeit hältst du dich von den Briefen fern. Folglich handelt jeder von uns nach seiner Art: ich schwatze, du schweigst.“ Sidon. epist. 3,7,2: […] et indicare festina, si quam praevio deo quaestor Licinianus trepidationi mutuae ianuam securitatis aperuerit. „[…] und gibt schnell Hinweise, ob der Quästor Licinianus mit Gottes Hilfe unserer gegenseitigen Unruhe eine Tür zur Sorglosigkeit geöffnet hat.“ Sidon. epist. 3,7,3. Sidon. epist. 3,7,4. Übersetzung nach Köhler 2014, 83 f.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

kriegerische Auseinandersetzungen oder Zerstörungen durch Barbaren hinzuweisen. 476 Sidonius beschreibt hier keine ,reale‘ Umgebung oder tatsächlich existierende klimatische Bedingungen, 477 sondern verwendet die beschriebene Witterung als Metapher, um die schwierige Lage der Stadt zu betonen. Die widrige Natur soll den Leser in die gleiche Angst versetzen, wie sie die Soldaten auf der Mauer empfunden haben. Die Landschaftsmetapher erfüllt in diesem Brief einen doppelten Zweck: 1. Sie drückt den barbarischen Charakter der Visigoten aus und zeugt von der Gefahr, in der sich Clermont befindet. 478 2. Sie ist Teil der Überzeugungsstrategie des Sidonius, um von Felix die gewünschten Neuigkeiten zu erhalten. In beiden Fällen ist sie als Hinweis auf die politische Situation zu erachten. Auch im vierten und fünften Buch finden sich landschaftliche Darstellungen wie der Wechsel von Jahreszeiten als narrativer Hintergrund. 479 Als Beispiel sei auf den Brief des Sidonius an seinen Onkel Apollinaris verwiesen, der über die Anklage gegen diesen am burgundischen Hof berichtet. 480 Gleichzeitig verwendet er Landschaft allgemein sowie Verweise auf Kirchengebäude als Teil landschaftlicher Diskurse, um eine gemeinschaftliche Identität der arvernischen Aristokraten zum Ausdruck zu bringen. 481 Neben dieser Art an Beschreibungen, finden sich landschaftliche Topoi, die Sidonius verwendet, um sich bewusst von ,Anderen‘, von Barbaren, abzugrenzen. Zum Beispiel kann im fünften Buch einen Zusammenhang zwischen barbarischem Verhalten und landschaftlichen Referenzen erkannt werden, 482 während er im vierten Buch romanitas von barbaritas nicht nur bildlich durch Tiber und Mosel voneinander abgrenzt, sondern unterschiedliche Ethnien

476 Vgl. Chron. Gall. chron. I, 138; siehe z. B. Sidon. epist. 4,6,2; 5,6,1. 477 Auch wenn es anzunehmen ist, dass es in den Wintermonaten in der Auvergne durchaus schneit. 478 Allerdings lässt sich für keinen der Briefe der Erzählzeitraum enger als zwischen 471 und 474/475  n.  Chr., also dem Zeitraum der militärischen Auseinandersetzung festlegen. Etwaige Vermutungen, bspw. von Giannotti 2016, 35 f. Kaufmann 1995, 180, bleiben spekulativ. 479 Da die Landschaftsmetaphern im vierten und fünften Buch bereits im vorhergegangenen Unterkapitel besprochen worden sind, werden sie an dieser Stelle lediglich in einer kurzen Erwähnung festgehalten. Wie in Epistel 4,6, der an den Onkel des Sidonius, Apollinaris, adressiert worden war, symbolisieren Landschaftsdiskurse die Schwierigkeiten einer Reise, die jemand auf sich nimmt, um ein spezielles Ziel zu erreichen. In diesem Fall war es der Überbringer des Briefes, der eine Klage vorzubringen hatte. Sidonius positioniert sich durch den Landschaftsdiskurs auf der Seite des Klägers, da dieser kaum eine Reise im tiefsten Winter unternommen hätte, wenn er nicht im Recht gewesen wäre (Sidon. epist. 4,6,4). In gleicher Weise instrumentalisiert Sidonius die Landschaft in seinem Schreiben an Euodius, in dem er sein Gedicht für Königin Ragnahilda übermittelt. Die in der Epistel beschriebene Landschaft dient als vorweggenommene Entschuldigung für die Qualität des Gedichtes und steht in Zusammenhang mit dem literarischen Bescheidenheitstopos. 480 Sidon. epist. 5,6,1; siehe auch: Kapitel 5.1.2 sowie 5.3.1. Die düstere und ernsthafte Stimmung des Briefes wird mit Übergang vom Sommer in den Herbst eingeleitet. Weitere Beispiele für den Wechsel von Jahreszeiten als Mittel, um die Stimmung eines Briefes auszudrücken finden sich in Sidon. epist. 2,2,1; 2,3,2; 3,7,4; 4,6,4; 4,15,3; 5,17,4; 7,9,4; 7,16,2; 8,12,1; 8,12,4; 9,16,2. 481 Zur Landschaft allgemein als Teil der Identität gallo-römischer Aristokraten siehe: Sidon. epist. 4,7,2; 4,21; 5,13,1; 5,20,4; zur kirchlichen Landschaft als Ausdruck einer aristokratischen Identität siehe: Sidon. epist. 4,13,1; 4,15; 4,18, 4–6; 5,17,2–4. 482 Sidon. epist. 5,7,4; 5,12,1; 5,13,1 f.

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gemäß der Klimatheorie verortet. 483 Des Weiteren findet sich in diesem Buch die metaphorische Verwendung von Stürmen, um auf die barbarischen Angriffe auf seine Region anzuspielen. 484 Eine solche Verwendung kommt ebenfalls im Brief an Bischof Censorius im sechsten Buch der Sammlung zum Vorschein: 485 hic cum familia sua depraedationis Gothicae turbinem vitans in territorium vestrum delatus est ipso, ut sic dixerim, pondere fugae […]. 486 Dieser ist zusammen mit seiner Familie, um den Sturm des gotischen Raubzuges zu meiden, in euer Gebiet getrieben worden; gewissermaßen direkt durch die Last der Flucht […]. Der Diakon wird zusammen mit seiner Familie von Sidonius als Opfer eines Unwetters bezeichnet, der sie in den Verantwortungsbereich des Censorius getrieben habe. Er beschreibt diesen Sturm zusätzlich mit dem Genitivattribut depraedationis Gothicae. Es besteht folglich ein eindeutiger und direkter Zusammenhang zwischen der Sturmmetapher und den Goten. Der landschaftliche Diskurs beschreibt in diesem Beispiel das Verhalten der Goten und stellt deren Andersartigkeit durch die Abgrenzung zur gemeinschaftlichen ‚Lebenswelt‘ der Glaubensgenossen (domestici fidei), also  Anhänger des nizänischen Bekennnisses, dar.  487 Eine Parallele findet sich hierzu im Schreiben an Bischof Patiens, in dem ebenfalls von gotischen Plünderungen und den dadurch entstandenen Zerstörungen berichtet wird: […] quod post Gothicam depopulationem, post segetes incendio absumptas peculiari sumptu inopiae communi per desolatas Gallias gratuita frumenta misisti […]. 488 […] dass ihr nach der völligen Plünderung der Goten, nachdem die Felder durch Brandstiftung zerstört worden waren, auf private Kosten gegen die allgemeine Not durch das verwüstete Gallia kostenloses Getreide geschickt habt […]. Wie bereits zuvor hat Sidonius die Landschaft dem gotischen Verhalten nachempfunden und die verwüsteten gallischen Provinzen ergänzen das Bild des fliehenden Diakons 483 Sidon. epist. 4,1,4; 4,6,2; 4,17,1. 484 Sidon. epist. 4,6,2. 485 Sidon. epist. 6,10. Der Brief wurde bezüglich ,Anderen‘ innerhalb einer Gemeinschaft des ,Selbsts‘ in den Kapiteln 4.2 dieser Arbeit angesprochen. Das Schreiben behandelt die Ansiedlung eines Diakons nach seiner Flucht in eine Region, die in den Zuständigkeitsbereich des Censorius fällt. 486 Sidon. epist. 6,10,1. 487 Sidon. epist. 6,10,2: quem si domesticis fidei deputata humanitate foveatis  […]. „Wenn ihr ihn mit der Mitmenschlichkeit unterstützt, die den Mitgliedern des Glaubens bestimmt ist […].“ Eventuell meint Sidonius hier sogar ,Mitglieder der Kirche‘; vgl. TLL I, 690 lin. 25 unter fides. 488 Sidon. epist. 6,12,5.

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in Epistel 6,10. Das Vorgehen der Goten, in Ergänzung mit der landschaftlichen Schilderung und der Darstellung des ,Opfers‘ des Diakons, erscheint barbarisch. Dieses als barbarisch charakterisierte Verhalten bringt Sidonius weiterhin in einem Schreiben an Bischof Mamertus von Vienne zum Ausdruck, das Joop van Waarden als Acts of War and Weapons of Faith betitelte. 489 In diesem Brief bezeichnet Sidonius die Arverner als Einfallstor für die Goten. 490 Es wurde in Kapitel 5.1.3 festgehalten, dass Sidonius durch das gemeinsame Feindbild der Goten beim Leser Sympathien für die Situation seiner Stadt erzeugen wollte. Vor diesem Hintergrund ist auch der sich anschließende Landschaftsdiskurs zu betrachten: sed animositati nostrae tam temerariae tamque periculosae non nos aut ambustam murorum faciem aut putrem sudium cratem, aut propugnacula vigilum trita pectoribus confidimus opitulatura; solo iam invectarum te auctore rogationum palpamur auxilio, quibus inchoandis instituendisque populus Arvernus, etsi non effectu pari, affectu certe non impari coepit initiari, et ob hoc circumfusis necdum dat terga terroribus. 491 Wir aber vertrauen nicht darauf, dass unserem so tollkühnen wie gefährlichen Mut die verbrannte Oberfläche der Mauern oder das mürbe Flechtwerk der Palisaden, auch nicht die von den Brustkörben der Wächter abgenutzten Verteidigungswerke beistehen könnten. Wir sind einzig durch die Hilfe der Bittgebete, die auf deine Veranlassung eingeführt worden waren, getröstet. Durch deren Einführung und Ausführung hat die arvernische Bevölkerung begonnen, wenn auch nicht in angemessener Vollendung, doch sicherlich in einem nicht unähnlichen Zustand, diese zu initieren und aufgrund von diesen hat sie noch nicht den Schrecken, die sie umgeben, den Rücken zugewandt. Joop van Waarden schlägt vor, diesen Brief in der Tradition von Lucans Beschreibung der Einnahme Riminis und der Panik in Rom, die durch Caesars Überschreiten des Rubicon verursacht worden war, zu lesen. 492 Wie die Bewohner Riminis bezeichne Sidonius auch

489 Sidon. epist. 7,1; van Waarden 2010, 69. Zum barbarischen Verhalten der Goten in diesem Schreiben, sei erneut auf Kapitel 5.1.3 verwiesen. 490 Van Waarden 2010, 70 datiert das Schreiben auf das Jahr 473 n. Chr., den herkömmlichen Datierungen und Ansichten von André Loyen und Frank Kaufmann bezüglich der „Belagerung“ folgend. Als Anhaltspunkt für diese Datierung sieht er die Einführung der rogationes im Winter 472/473 in Clermont. Diese stellt jedoch ihrerseits eine Vermutung von Stevens 1933, 202 dar, womit die Datierung erneut in Frage gestellt wird. Zwar bietet das semper einen Hinweis, dass die Erzählzeit des Briefes nicht während des ersten Jahres der Auseinandersetzung anzusetzen ist, eine nähere Eingrenzung ist jedoch nicht möglich. 491 Sidon. epist. 7,1,2. 492 Van Waarden 2010, 75–77 mit Verweis auf die entsprechenden Stellen in Lucans Bellum civile (auch Pharsalia).

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die Bewohner der Auvergne als Einfallstor für den Feind 493 und die maroden Verteidigungswerke der arvernischen Stadt lassen Joop van Waarden Parallelen in der Beschreibung der Verteidigung der Arminer sehen. 494 Van Waarden folgt in seiner Interpretation den Erkenntnissen von Isabella Gualandri, die diesen Brief als besonderes Beispiel für die Verwendung literarischer Traditionen sieht, um die Ereignisse der eigenen Zeit den Lesern zu vermitteln. Von Lucan seien für dieses Schreiben Struktur und Rhetorik vorgegeben und einzig die conclusio sei dem christlichen Denken angepasst worden. 495 Dieser Theorie folgend stellt Eurich, der Clermont bedroht, das Pendant zu Caesar dar. 496 Dabei wird der erste Satz des zweiten Paragraphen von Gualandri als Spiegel der Hoffnungslosigkeit der Stadt interpretiert. Die Lautmalerei tam, tem-, tam- zu Beginn des Abschnittes sei als Imitation von Kriegstrommeln zu erachten. Der Mut der Verteidiger, von Sidonius als tollkühn und gefährlich präsentiert, soll für die Aussichtslosigkeit des Kampfes sprechen. Die Klimax bei der Aufzählung des trostlosen Verteidigungszustandes erfolgt bei den Nachtwachen, deren Verteidigungswerk abgenutzt und deren Aufmerksamkeit vom vielen Wachestehen verbraucht ist. 497 Das Einzige, was der Bevölkerung noch Hoffnung gebe und sie davon abhalte, vor dem Schrecken wegzulaufen, seien die von Mamertus initiierten rogationes. 498 Die von Sidonius beschriebene Landschaft steht somit im Gegensatz zum locus amoenus, den die Aristokratie auszeichnet. Die Landschaft ist dem Verhalten der Angreifer entsprechend, selbst zu einem wilden und verwahrlosten Ort geworden und dadurch als Sinnbild nicht nur für die Gefahr der realen Regionen und Städte zu verstehen, sondern in besonderer Weise als Sinnbild für die die romanitas bedrohende Gefahr. In den Paragraphen  3 und 4 wird die Erzählung des Briefes zeitlich nach Vienne zurückverlagert. Denn Sidonius referiert, wie Mamertus dazu kam, die Bittgebete ins Leben zu rufen. Gleichzeitig präsentiert er Vienne als Beispiel für die Ereignisse, die auch seine eigene Stadt erwarten würden: Er berichtet von Erdstößen, Feuern, wilden Tieren auf dem

493 Vgl. Sidon. epist 7,1,1 mit Lucan. 1,250 f., 258 (‚nos praeda furentum / primaque castra sumus […] hac iter est bellis.‘ „,Wir sind die Beute der Rasenden / wir sind das erste Kriegslager […] dieses ist der Durchgang für den Krieg.‘“). 494 Van Waarden 2010, 76 mit Verweis auf Lucan. 1,486–489. 495 Gualandri 1979, 43–49. 496 Van Waarden 2010, 77. 497 Van Waarden 2010, 92 verweist auf die wachsende Anzahl des Trikolons (Sidon. epist. 3,3,4) nach dem Gesetz der wachsenden Glieder. Die Besonderheit des letzten Gliedes wird weiterhin durch eine umgekehrte Wortstellung, verglichen zu den anderen Gliedern, ausgedrückt (Adjektiv  – Genitiv Nomen 2 ×; am Ende Nomen – Genitiv – Adjektiv). Des Weiteren verweist van Waarden auf die verschiedene Bedeutung von pectus hin. 498 Die stilistische Konstruktion von non effectu pari, affectu non impari muss beachtet werden, die gleich mehrere Figuren miteinander verbindet: Paralellismus, Paronomasie, Antithese, Homoioteleuton; siehe hierzu: van Waarden 2010, 94.

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Forum 499 und den Wundern, die Mamertus vollbrachte. 500 Nur durch einen gefestigten Glauben sei Vienne von der „drohenden Peinigung durch Erdbeben“ verschont geblieben. 501 So malt aus Sidonius, was passiert wäre, wenn die barbarische Wildheit die Stadt nicht nur erreiche, sondern in diese eindringe. Gleichzeitig verwendet er die Allegorie der Bewohner von Nineveh, die durch Gebete und Fasten Gott davon überzeugen konnten, ihre Stadt zu verschonen. Es ist der Meinung Joop van Waardens zuzustimmen, dass Sidonius absolut keinen Widerspruch sah, pagane Traditionen und Geschichten mit der eigenen Zeit und dem christlichen Glauben zu verbinden. 502 So wie die Niniviten durch Gebete und Fasten das Unheil von ihrer Stadt abwenden konnten und Bischof Mamertus als Vorbild dienten, waren in der Überlieferung Lucans die Priester der Stadt für deren Schutz zuständig. 503 Folglich zeigt dieser Brief die Verwendung von Anspielungen auf mehreren Ebenen: Der Rückgriff auf literarische Traditionen unter Einbeziehung von Bibelallegorien im Zusammenspiel mit komplexen stilistischen Ausarbeitungen verdeutlicht, dass für Sidonius das literarische Werk vor der Geschichtsschreibung zu platzieren ist. Dadurch bekommt seine Aussage, kein Geschichtswerk abfassen zu wollen, eine eigene Dimension und erklärt, weshalb jegliche Versuche, einzelne Briefe zu datieren, zum Scheitern verurteilt sind. Sidonius konstruiert in seinen Briefen bewusst Bilder, die er an die Leserschaft vermitteln wollte. Die Parallelen in diesem Brief, vorwiegend zu Lucan und Livius, verdeutlichen die Wichtigkeit landschaftlicher Diskurse, die somit eine weitere Verbindung zu literarischen Traditionen in Sidonius’ Werk darstellen. Ebenso wie im dritten Buch seiner Briefsammlung leitet er das siebte Buch mit landschaftlichen Diskursen ein, die nicht nur als Ausdruck von Alterität zu begreifen sind, sondern die von ihm wahrgenommene Gefahr für seine lebensweltlichen Gemeinschaften präsentieren. Parallel hierzu beschreibt Sidonius die neue Aufgabe der Bischöfe als Schutzherren ihrer Städte, v. a. aber als Schutzherren römischer Traditionen und Werte. Dies zeigt sich deutlich im siebten Brief des siebten Buches, der, zusammen mit dem sechsten Brief, das Herzstück ausmacht. 504 Sidonius kritisiert in dem Schreiben offen den Adressaten wegen des Ausganges der Vertragsverhandlungen mit den Visigoten unter Eurich. 505 Joop van Waarden weist darauf hin, dass dieser Brief – ebenso wie der sechste  – in einigen Textzeugen (LNVTR) nicht überliefert worden ist, was er auf die frühe Zirkulation der Sammlung zurückführt. Der Inhalt der beiden Briefe sei für eine

499 Sidon. epist. 7,1,3. Intertextuelle Parallelen, meist auf Livius bezogen, wurden im Kommentar von van Waarden 2010, 97 gelistet. Die Rolle von „Feuer“ im Werk des Sidonius wäre poetischen Ursprunges (van Waarden 2010, 99). 500 Sidon. epist. 7,1,4: Allein mit seinem Körper habe dieser Feuer zurückdrängen können. 501 Sidon. epist. 7,1,5: mones minacem terrae motuum conflictationem fidei stabilitate firmandam. 502 Van Waarden 2010, 102–104. 503 Lucan. 1, 584 f.; van Waarden 103. 504 Van Waarden 2010, 335: „Letter 6 thematizes the threat to the Catholica in Gaul, letter 7 the threat to romanitas. Together they constitute the core of book 7.“ 505 Sidon. epist. 7,7.

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Vervielfältigung unter visigotischer Herrschaft zu gefährlich gewesen. 506 Wie Joop van Waarden selbst zugibt, kann diese Hypothese, die bereits auf Theodor Mommsen zurückgeht, allerdings nicht bewiesen werden. 507 Was auch immer der Grund für die Auslassung bestimmter Briefe bei der Tradierung gewesen sein mag, Sidonius muss wohl selbst, trotz seines Exils, kein Problem in deren Veröffentlichung und Zirkulation gesehen haben. 508 Der Inhalt des Briefes sei folgend kurz zusammengefasst und in den Kontext eingeordnet. Die captatio des Briefes handelt vom Boten Amantius 509 und seinen geschäftlichen Bemühungen in Marseille. Sie wird als satirisch-komische Einleitung, also als Antithese zu diesem sonst ernsten Brief gesehen. 510 Durch die Einleitung wird der Aufenthaltsort des Adressaten mit Marseille bestimmt, wo Graecus als Bischof wirkte. Dies lässt Joop van Waarden überlegen, wie Sidonius den Brief dorthin schickte, wenn Graecus mit den Vertragsverhandlungen beschäftigt war. Obwohl kein Verhandlungsort überliefert sei, kann doch angenommen werden, dass diese in Toulouse stattgefunden haben. Seiner Ansicht nach kann es entweder ein Hinweis darauf sein, dass die Verhandlungen zum Zeitpunkt des Briefes bereits abgeschlossen waren, oder die Hoffnung ausdrücken, dass Graecus sich noch in Marseille aufhalte und ihn der Brief vor den abschließenden Gesprächen erreiche. 511 Zu beachten ist die spätere Überarbeitung des Schreibens. Es besteht die Möglichkeit, dass sich in die Erinnerung des Sidonius ein Fehler eingeschlichen oder er den Brief aus ursprünglich zwei unterschiedlichen Schreiben zusammengesetzt hat. Darüber hinaus ist der Erzählhintergrund nach meiner Meinung für Sidonius weniger von Belang als die Botschaft an den Leser: der Erhalt von romanitas. So verändert sich bereits am Ende der Einleitung der Tonfall des Briefes mit einem ersten Verweis auf die politische Situation: siquidem nostri hic nunc est infelicis anguli status, cuius, ut fama confirmat, minus fuit sub bello quam sub pace condicio. facta est servitus nostra pretium securitatis alienae. 512

506 Van Waarden 2010, 340, vgl. zu Buch 6, 277. 507 Van Waarden 2010, 35. Die Aussage von Theodor Mommsen findet sich im Vorwort der Textedition von Lüthjohann MGH AA 8, xxv Anm. 1. 508 Van Waarden 2010, 35 schreibt dies Sidonius’ Kampfgeist zu. 509 Dieser scheint der übliche Bote für die briefliche Unterhaltung zwischen Graecus und Sidonius gewesen zu sein, da er auch in Sidon. epist. 6,8; 7,2; 7,10 und 9,4 in Erscheinung tritt – jedes Mal unter dem Hinweis, dass er die Distanz zwischen den beiden Korrespondenten oft zurücklegen würde. 510 Van Waarden 2010, 341. Zu beachten ist die Parallele zu Juv. 4,1 mit gleichem Wortlaut: ecce iterum Crispinus; Sidon. 7,7,1: ecce iterum Amanitus. 511 Van Waarden 2010, 342. 512 Sidon. 7,7,1. Zur schwierigen Lesung und Überlieferung von minus, das auf die Handschriftenfamilien CM zurückgeht, mit der Ergänzung von durch Lüthjohann siehe: van Waarden 2010, 345; Loyen 1960/1970, Bd. 3, 47.

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Wenn sich nämlich der Zustand unseres unglücklichen Winkels tatsächlich so verhält, wie es das Gerücht versichert, dann war sein Zustand im Krieg weniger traurig als zu Friedenszeit. Es steht fest, dass unsere Knechtschaft der Preis für die Sicherheit der anderen ist. Mit dem angulus meint Sidonius die civitas der Arverner beziehungsweise die Region an sich, da diese Bezeichnung bereits in Epistel 3,1,4 für die Auvergne verwendet wurde. Mit fama confirmat greift Sidonius auf die Einleitung des siebten Buches (rumor est) zurück. Er stellt sich somit vor seiner Leserschaft als ,unwissend‘ dar und kann dadurch im Brief die Hoffnung auf eine Abwendung des Vertrages äußern. 513 Doch warum diese Farce? Was wollte Sidonius dadurch bezwecken? Denn der fama stehen facta gegenüber. Dies deutet darauf hin, dass die Verhandlungen über den Vertrag an sich schon abgeschlossen waren, die Auvergne und Clermont dem Herrschaftsbereich der Visigoten zugesprochen wurden. Dies sei besonders schmerzhaft, da die Arverner nicht nur Brüder Latiums seien, sondern laut Sidonius darüber hinaus von Trojanern abstammten. 514 Die Verbindung zum Beginn der römischen Geschichtsschreibung sowie eine trojanische Abstammung sind Teil des kulturellen Gedächtnisses der gallo-römischen Aristokratie und somit Teil ihrer Tradition, die es galt, an nachkommende Generationen weiterzugeben. 515 In gegenwärtigen Zeiten hätten sie sich dadurch ausgezeichnet, dass sie, eingeschlossen in die Stadt, keine Angst vor den Goten gehabt, sondern diesen Angst gemacht hätten. 516 Sidonius zählt in diesem Abschnitt die Taten der arvernischen Bevölkerung auf, an die sich die Nachwelt erinnern soll, und folgert im Anschluss, dass eine Bevölkerung, die so viel habe erleiden und erdulden müssen, einen derartigen Vertrag nicht verdient habe. 517 513 Van Waarden 2010, 345 geht davon aus, dass Sidonius durchaus seine Informanten hatte. 514 Sidon. epist. 7,7,2: Arvernorum, pro dolor, servitus, qui, si prisca replicarentur, audebant se quondam fratres Latio dicere et sanguine ab Iliaco populos computare. „Die Knechtschaft der Arverner, wie schmerzlich, die, wenn an die Vergangenheit erinnert werden soll, wagten sich einst Brüder Latiums zu nennen und sich unter die von Ilions Blut abstammenden Völker zu rechnen.“ Vgl. Lucan. 1,427: Arvernique ausi Latio se fingere fratres,  / sanguine ab Iliaco populi. „Die Arverner erdreisteten, sich als Brüder Latiums darzustellen und vom Blut des trojanischen Volkes abstammend.“ Für diesen Verweis siehe: van Waarden 2010, 347 sowie folgende Seiten zur Ursprungssage der Arverner als Identifikationsmerkmal. Siehe hierzu weiterhin: Gualandri 1979, 20 und Harries 1992, 298, die auf die bewusste Darstellung von Geschichte als Instrument des Sidonius verweist, der über Vercingetorix schweigen, aber die Verbindung zu Rom bewusst stärken würde. 515 Van Waarden 2010, 348. 516 Sidon. epist. 7,7,2: si recentia memorabuntur, hi sunt, qui viribus propriis hostium publicorum arma remorati sunt; cui saepe populo Gothus non fuit clauso intra moenia formidini, cum vicissim ipse fieret oppugnatoribus positis intra castra terrori. „Wenn an die Gegenwart erinnert werden soll, sind es diese, welche auf sich alleingestellt die Krieger der Feinde des Staates aufgehalten haben; welche Bevölkerung, oft eingeschlossen in den Mauern, die Goten nicht ängstigten, während es wiederum selbst die Angreifer in Schrecken versetzte, die sich innerhalb des Lagers positioniert hatten.“ 517 Die Aufzählung in Sidon. epist. 7,7,2 wird von van Waarden 2010, 350 stilistisch analysiert. Sie besteht aus drei Teilen, wird je von einer Anapher hi sunt … eingeleitet und wächst stetig in Gliedern, wobei die zweiten und dritten Aufzählungspunkte negativ in Bezug auf Graecus sind, der

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Im vierten Paragraphen leitet Sidonius mit flehenden Worten die petitio des Briefes ein, jedoch nicht, ohne vorher seine Meinung zum Vertrag deutlich zu äußern: pudeat vos, precamur, huius foederis, nec utilis nec decori. per vos legationes meant. 518 Schämt euch, wir bitten euch, des Vertrages, der weder nützlich noch würdig ist! Bei euch gehen die Gesandtschaften ein und aus. 519 Graecus war einer der vier Bischöfe, die im Auftrag des Kaiserhauses maßgeblich an der Aushandlung des Vertrages beteiligt waren. Sidonius stellt die Verhandlungen so dar, als hätten diese Bischöfe ein wichtiges Mitspracherecht gehabt, und wirft ihnen vor, zu wenig an das allgemeine Wohl zu denken. 520 Das eigene Wohlergehen sei den Bischöfen wichtiger als die Auvergne. Diese Aussage bezeichnete Joop van Waarden als die direkteste Äußerung des Sidonius in der ganzen Sammlung, die den Adressaten hart getroffen haben müsse. 521 Ein letztes Mal fleht er Graecus an, seinen Einfluss zu nutzen und die unsittliche Einigung zu zerschlagen, und er beteuert, dass die Arverner bereit seien, weiterzukämpfen, weiter Belagerungen zu ertragen und Hunger zu leiden. Einen Vertrag, der die Übergabe Clermonts beschließt, sieht er als Verrat an, da dies bezeuge, dass Graecus und die anderen Bischöfe den Barbaren hierzu geraten hätten. 522 In der conclusio des Briefes zeigt sich Sidonius von seiner versöhnlichen Seite, erkennt seinen eigenen Zorn und hofft auf Nachsicht des Graecus für den Trauernden. Denn nach seiner Ansicht muss jede andere Region die Knechtschaft, die Arverner aber die Hinrichtung erwarten. Aus diesem Grund solle Graecus, wenn er nichts anderes für Sidonius und seine Gemeinde machen könne, wenigstens die zu erwartenden Strafen abmildern und seine eigene Stadt für Flüchtlinge aus der Auvergne öffnen. 523 Sidonius beendet den Brief mit der gleichen Dramatik, mit der er die narratio begonnen hat. Gemeinsam mit seiner patria stellt er sich als Opfer dar, aber als Opfer, das alles in seiner Macht Stehende getan hat, um den Vertrag zu stoppen oder wenigstens abzuändern. In diesem

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trotz der heldenhaften Taten der Arverner nicht gehandelt hätte. Van Waarden, 350–352 sieht in dieser Aufzählung eine Parallele zu Silius Italicus’ Punica (Sil. 11,173–182). Sidon. epist. 7,7,4. Van Waarden 2010, 365 weist auf die gekürzte Parallele von 7,6,10 (per vos mala foederum currunt, per vos regnis utriusque pacta condicionesque portantur) hin. Sidon. epist. 7,7,4: parum in commune consulitis. „Ihr sorgt euch nicht genug für die Allgemeinheit.“ Van Waarden 2010, 367. Sidon. epist. 7,7,5: si vero tradimur, qui non potuimus viribus obtineri, invenisse vos certum est quid barbarum suaderetis ignavi. „Wenn wir aber verraten werden, die wir nicht durch Gewalt in Besitz genommen werden konnten, ist es sicher, dass es euch in den Sinn gekommen ist, was ihr Feiglinge dem Barbaren geraten habt.“ Vgl. Köhler 2014, 215, die ,barbarischen Rat‘ übersetzte. Es wurde jedoch der Annahme von van Waarden 2010, 374 gefolgt, der barbarum als Maskulin Singular und nicht wie Helga Köhler als Neutrum Singular interpretiert. Sidon. epist.7,7,6.

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Zusammenhang ist auch die landschaftliche Beschreibung des dritten Paragraphen zu sehen, die nun vorgestellt und analysiert wird: hoccine meruerunt inopia flamma, ferrum pestilentia, pingues caedibus gladii et macri ieiuniis proeliatores? propter huius tam inclitae pacis expectationem avulsas muralibus rimis herbas in cibum traximus, crebro per ignorantiam venenatis graminibus infecti, quae indiscretis foliis sucisque viridantia saepe manus fame concolor legit? pro his tot tantisque devotionis experimentis nostri, quantum audio, facta iactura est? 524 Haben dies etwa Not und Feuer, Stahl und Krankheit, die vom Töten beschmierten Schwerter und die vom Hunger traurigen Streiter verdient? Wir haben aufgrund der Erwartung auf den so berühmten Frieden aus den Ritzen der Mauern die verstümmelten Kräuter als Nahrung herausgezogen und uns dabei oft durch Unwissenheit mit giftigen Gräsern vergiftet, welche, weil sie grün waren, ohne Unterschied der Blätter und Kräfte oftmals eine Hand sammelte, die durch Hunger gleichfarbig war. Trotz so großer und zahlreicher Beweise unserer Hingebung wurden unsere Leistungen, wie ich höre, über Bord geworfen? Der Landschaftsdiskurs des Briefes schließt sich der Aufzählung der Heldentaten der arvernischen Krieger und der Bevölkerung während der Kämpfe mit den Visigoten an. Als eine dreigliedrige Kette rhetorischer Fragen leitet dieser Absatz das Flehen des Sidonius, den Vertrag zu überdenken, ein. 525 Dabei personifiziert er in einer Aufzählung die verschiedenen Leiden der Bevölkerung (inopia, flamma, ferrum, pestilentia) sowie die Schwerter der Soldaten (pingues gladii), die als Höhepunkt mit dem Bild der ausgehungerten Soldaten abgeschlossen werden. Diese Klimax bricht gleichzeitig mit der Personifikation und ist durch eine Konjunktion angeschlossen. Isabella Gualandri und Joop van Waarden weisen beide auf die semantische Ambiguität von pingues caedibus gladii und macri ieiuniis proeliatores hin. Nach Gualandri verdeutlicht das Gegenüberstellen von pinguis und macer die Dramatik der Episode, in der an den Schwertern nicht nur Blut klebt, sondern diese vom Abschlachten gesättigt sind. 526 Van Waarden sieht in diesem Teil der Aufzählung eine raffinierte Ausarbeitung von inopia und ferrum 527 und verweist auf eine ähnliche Verwendung in Avitus’ Panegyrikus hin (pinguis … sanguine … lorica; „von Blut tropfende Rüstung“). 528 Besonders der Gegensatz von ieiunia und pinguis 524 Sidon. epist. 7,7,3. 525 Van Waarden 2010, 357. 526 Gualandri 1979, 41. Sie erkennt dabei eine weitere Parallele zu Lucan. 7,317 – quanto satiavit sanguine ferrum („so sehr hat er das Schwert durch Blutvergießen befriedigt“). 527 Hierbei sollte dann auf die chiastische Stellung hingewiesen werden: Not (inopia) und Schwert ( ferrum) – Schwerter (gladii) und sorgenvolle Krieger (macri proeliatores). 528 Van Waarden 2010, 358; Sidon. carm. 7,260. Weitere Parallelen erkennt Joop van Waarden zu Lucan. 3,247; Verg. Aen. 4,62; Verg. georg. 1,491 sowie zur Heiligen Schrift Jes 34,6 (gladius Domini repleus est sanguine incrassatus est adipe). Für einen Althistoriker stellt sich die Frage, ob die Paarung von Blut und Schwert literarisch wirklich so ungewöhnlich erscheint und ähnliche

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erscheint ihm wichtig, da ieinuium sonst mit religiösem Bezug (Fasten) von Sidonius verwendet werde. Daher betrachtet er Gualandris Interpretation als irreführend und stellt nicht die gewalttätige Dramatik in den Vordergrund, sondern den eben genannten Gegensatz als kunstvollen Ausdruck seiner Emotionen, wobei „das Bizarre die Tragik, in einer sozial akzeptablen Weise, da literarisch stilisiert, spiegle“. 529 Sidonius greift mit dieser Schilderung der Situation in Clermont die Briefe des dritten Buches auf und geht mit der Darstellung noch weiter. Die Erwartung auf den Frieden habe die Krieger am Leben gehalten, die in ihrer Not die Grasbüschel aus den Mauerritzen gekratzt hätten, um zu überleben. Dabei seien die Hände der Krieger vor Krankheit und Hunger farblich ebenso grün wie die Gräser gewesen, was in Verbindung zur Krankheit steht, die in der ersten rhetorischen Frage von Sidonius genannt wurde. Dabei ist die Formulierung tam inclitae pacis durchaus ironisch zu verstehen. 530 Es kann weiterhin als Indiz für einen auf die Vergangenheit blickenden Sidonius gesehen werden, der seine Briefe mit dem Wissen über den Ausgang der Ereignisse überarbeitet und abgefasst hatte. Eventuell hatte Sidonius selbst Jahre nach dem Frieden noch nichts Positives an diesem gefunden und streut diese Haltung durch sarkastische Bemerkungen in die Briefe ein. 531 Das Hungern während militärischer Kampagnen oder Belagerungen ist als literarische Tradition überliefert, die an dieser Stelle von Sidonius aufgegriffen wurde. 532 Joop van Waarden weist darüber hinaus auf eine weitere Parallele zu Lucan hin, der beschreibt, wie die Soldaten Caesars als letzten Ausweg während einer Belagerung das Gras des Bodens, essbar oder nicht, zu sich genommen hätten. 533 Weiterhin spricht er dieses Motiv als Inhalt von Heiligenviten an, wie beispielsweise in der des Heiligen Martin von Sulpicius Severus. Die manus, die ebenfalls von Hunger und Krankheit grün ist, soll beim Leser Mitgefühl erregen. 534 Generell geht van Waarden davon aus, dass dieser Absatz den Heroismus der arvernischen Bevölkerung ausdrücke. 535 Sidonius identifiziert sich vollständig mit der Sache Clermonts, wie die Verwendung der ersten Person Plural zeigt. Allerdings ist dies nicht das erste Mal, dass Sidonius eine sprechende Gruppe verwendet, wenn er von seiner patria spricht. 536 Er hat sich spätestens seit der Übernahme des Bischofsamtes, eventuell aber schon seit der Ehe mit Papianilla mit Clermont als patria identifiziert und es überrascht nicht, dass er nicht ohne Eigeninteresse, das Beste für seine Stadt im Sinn

529

530 531 532 533 534 535 536

Beispiele nicht um ein vielfaches ergänzt werden könnten. Speziell der Verweis auf die Heilige Schrift erscheint dann doch zu weit hergeholt. Van Waarden (2010, 359) zu Gualandris Interpretation: „I think it misleading. Quite the contrary: this contrast [Anm.: gemeint sind ieiunia und pinguis] is the heart of the matter. In Sidonius at his best, artifice is the benchmark for emotion, the bizarre mirrors the tragic, in a socially acceptable, because literarily stylized, way.“ Vgl. van Waarden 2010, 359. Zur Ironie in den Briefen des Sidonius sei auf Overwien 2009a verwiesen. Beispielsweise in Suet. Caes. 68,2; Sen. epist. 17,7, worauf Joop van Waarden (2010, 359 f.) hinweist. Lucan. 4,412–414; van Waarden 2010, 359 f. Sulp. Sev. Mart. 6,5; van Waarden 2010, 360–362. Van Waarden 2010, 359–361. Zum Beispiel Sidon. epist. 8,6,2.

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hatte. Es kann van Waarden nur zugestimmt werden, dass Sidonius sich in seiner Darstellung in den Konflikten um Clermont selbst zum Helden stilisieren wollte. Allerdings ist diese Hypothese nicht nur auf diesen Abschnitt des Briefes zu übertragen, sondern auf die Schilderungen der Schlachten um Clermont im Allgemeinen. 537 Der landschaftliche Diskurs, der die wilde Natur in Clermont, die für die Belagerten zur Gefahr wird, darstellt, drückt somit in einer metaphorischen Weise die barbarische Andersartigkeit der Goten als Feinde der Bevölkerung aus. Die Situation in der Stadt passt sich der Darstellung des unglücklichen angulus an. Nicht mehr das Bild der landschaftlichen Weite der Auvergne als ein locus amoenus, als Zentrum für romanitas, wird vermittelt, sondern das Bild eines bedrängten Winkels (angulus), von Männern zwischen Mauern, von Not und Leid umgeben, wird von Sidonius gezeichnet. Am Ende stellt sich für Sidonius die Frage, für was all dies gut gewesen ist, womit der Diskurs endet. Dabei präsentiert Sidonius vorwiegend einen Gegenpart zum barbarischen Verhalten: Loyalität. Während Goten und Burgunder, speziell Erstere, in seinen Briefen als vertragsbrüchige gentes dargestellt werden, denen nicht zu trauen sei, erinnert Sidonius den Empfänger daran, dass er und seine Männer sich nichts zu Schulden haben kommen lassen und stets loyal gewesen seien. 538 Trotzdem sind sie es, die über Bord geworfen werden, womit Sidonius indirekt die Sturmmetapher inklusive erlittenem Schiffbruch aufgreift und seinen Sarkasmus bezüglich des Vertrages mit quantum audio zum Ausdruck bringt. 539 Die Kunst des Sidonius lag darin, seine eigene Wahrnehmung der Ereignisse mit literarischen Topoi, die für Mitglieder seiner ‚Lebenswelten‘ erkennbar waren, zu paaren und dadurch indirekt seine Meinung zu den Geschehnissen zu äußern. Der landschaftliche Diskurs in diesem Brief war dabei nicht nur ein Mittel, um die eigene Persönlichkeit aus der Retrospektive und in literarische Traditionen eingebettet als Held erstrahlen zu lassen, sondern auch, um auf die Andersartigkeit der Belagerer hinzuweisen, denen Sidonius und die arvernische Bevölkerung nun ausgeliefert waren. Sidonius weist mit diesem Schreiben deutlich alle Schuld von sich und kreiert so ein ganz bestimmtes Bild seiner Person, das er für die Nachwelt erhalten wollte: nämlich das Bild als Widerstandskämpfer, der Not, Feuer und Hunger für seine patria ertrug. Die Briefe 7,10 und 7,11 an die Bischöfe Graecus und Auspicius 540 markieren das Ende des ersten Teiles des siebten Buches. Gegenüber Bischof Graecus beklagt sich Sidonius, dass ein Wiedersehen unter diesen Umständen nicht möglich sei, und verweist erneut auf die aristokratische – und nun bischöfliche – Pflicht des Briefschreibens:

537 Folglich u. a. auf die Epistel 3,2 f.; 3,7; 7,6 f.; 7,10 f. 538 Zur Vertragsbrüchigkeit bzw. dem Misstrauen gegenüber Barbaren siehe z. B.: Sidon. epist. 5,6,1 sowie Kapitel 5.1.3 dieser Arbeit. 539 Van Waarden 2010, 363 f. 540 Zur Anordnung der Briefe, die in der Handschriftenfamilie C gegenteilig überliefert ist, äußert sich van Waarden 2010, 536. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist die Anordnung zweitrangig. Allerdings folge ich den Ausführungen Joop van Waardens und habe daher dessen Anordnung, die auf Loyen 1960/1970, Bd. 3, 62 f. basiert und auch bei Anderson 1936/1965, Bd. 2, 358–362 sowie Köhler 2014, 226 f. so angeordnet wurde, übernommen.

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et ego istic inter semiustas muri fragilis clausus angustias belli terrore contigui desiderio de vobis meo nequaquam satisfacere permittor. atque utinam haec esset Arvernae forma vel causa regionis, ut minus excusabiles iudicaremur! 541 Aber ich bin hier eingeschlossen zwischen den halbverkohlten Engen einer zerbrechlichen Mauer und der Schrecken des nahen Krieges erlaubt mir in keiner Weise meine Sehnsucht nach euch zufriedenzustellen. Wenn doch Lage und Situation der Auvergne nur so beschaffen wären, dass wir uns weniger rechtfertigen müssten! Sidonius beschreibt seine eigene Situation mit einer düsteren Landschaft, die sein inneres Empfinden widerspiegelt. Gleichzeitig deuten die zerfallende Mauer 542 und die dazugehörigen Brandspuren auf die Angriffe hin, die Clermont über sich ergehen lassen musste, und konstruieren einen Zusammenhang zum eben vorgestellten Schreiben an Graecus (epist. 7,7). Die Schrecken des Krieges sind in Zusammenhang mit den Angriffen und Blockaden der gotischen Truppen auf die Stadt zu sehen, die Sidonius das Reisen und somit ein persönliches Treffen mit Graecus nicht ermöglichen. Der Landschaftsdiskurs dieses Absatzes drückt nicht nur die innere Gemütslage (terror und desiderium) des Sidonius aus, sondern deutet, durch wiederkehrende Motive wie den Feuerschaden, die zerfallenen Mauern sowie die Beklemmung, 543 die stets in Zusammenhang mit der Blockade der Stadt in Verbindung stehen, auf den zerstörerischen Charakter der Angreifer hin. Die von Sidonius als idyllisch und als Ausdruck von romanitas beschriebene Auvergne 544 steht hier am Rande der Zerstörung. Aber Sidonius drückt dennoch seine Hoffnung auf eine Verbesserung des Zustandes aus: quocirca salutatione praefata, sicut mos poscit officii, magno opere deposco, ut interim remittatis occursionis debitum vel verba solventi. nam si commeandi libertas pace revocetur, illud magis verebor, ne assiduitas praesentiae meae sit potius futura fastidio. 545 Daher, nachdem die Begrüßung vorausgeschickt worden war, wie es die Sitte der Pflichterfüllung fordert, verlange ich mit großer Anstrengung, dass du einstweilen auf die Verpflichtung eines Besuches verzichten mögest, für den doch wenigstens Worte bezahlen. Denn wenn die Freiheit des Reisens durch den Frieden zurückgebracht wird, dann werde ich jenes eher fürchten müssen: nämlich dass dich meine fortdauernde Anwesenheit vielmehr ermüden wird.

541 Sidon. epist. 7,10,1 (= 7,11,1 bei Lüthjohann). 542 Die halbverfallene Mauer findet sich ebenfalls in der Darstellung des vom Krieg beschädigten Clermont in Sidon. epist. 3,2 f. 543 Hier angustiae, in Sidon. epist. 7,7 angulus. 544 Siehe Kapitel 5.2.2. 545 Sidon. epist. 7,10,2. (= 7,11,2 bei Lüthjohann).

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In diesem zweiten Teil des Briefes verdeutlicht Sidonius, dass, neben der Briefkommunikation, gegenseitige Besuche als Teil der freundschaftlichen Pflichterfüllung gesehen wurden und ein Ausbleiben derselben entschuldigt werden musste. Damit schließt er an seine Aussage des ersten Abschnittes an, dass er sich wünsche, weniger Entschuldigungen zu lesen und wohl auch zu verfassen. Vor allem die Aufrechterhaltung und Ausübung der aristokratischen Pflichten steht in diesem Schreiben im Vordergrund, wie verschiedene Synonyme (mos, officium, debitum) belegen. Besonders die Hervorhebung von Moral und Pflicht deutet darauf hin, dass Sidonius seine Briefe nicht nur für eine zeitgenössische Leserschaft, sondern auch für seine Nachwelt veröffentlichte. Wenn wir davon ausgehen, dass Sidonius diese zu einem späteren Zeitpunkt überarbeitet hat, als die Auseinandersetzung um Clermont bereits beendet war, kann nicht ausgeschlossen werden, dass er hier einen literarischen Vorwand kreiert, der auf traditionellen Ansichten beruhend, eine Entschuldigung konstruiert, um den Mann, den er für den Vertrag von 475 für mitverantwortlich hält, nicht sehen zu müssen. Als Gegenargument zu diesem Vorschlag ist die Anzahl der in seine Sammlung aufgenommenen Briefe zu nennen, die an Graecus adressiert sind und in denen er diesen nicht wie Seronatus oder Gnatho als schlechten Bischof und Aristokraten schildert. 546 Allerdings befassen sich zwei der vier an ihn adressierte Briefe mit dem Briefboten und zwei mit der Lage von Clermont und dem römisch-gotischen Vertrag. Ist dieses Schreiben, auch wenn in der Erzählzeit der Epistel 7,6 vorangestellt, als Fortsetzung des landschaftlichen Diskurses zu sehen, um die Opfer, die Sidonius für Clermont erbracht haben will, zu unterstreichen? Stellt Sidonius Moral und Pflichterfüllung aus diesem Grund in den Vordergrund, um sich erneut als Beispiel und Graecus als Gegenbeispiel zu präsentieren, der durch den Vertrag Schuld daran trägt, dass Sidonius durch sein Exil noch immer nicht reisen kann und sich die Situation in Gallia auch nach dem Vertrag allgemein nicht verändert hat? Ein Blick auf die nachfolgende Epistel hilft bei der Klärung dieser Fragen. 547 Sie ist ein an Bischof Auspicius gerichtetes Empfehlungsschreiben für den Überbringer des Briefes. Im ersten Teil des Schreibens wird derselbe Inhalt mit einem ähnlichen landschaftlichen Diskurs aufgegriffen: 548 546 Graecus ist Adressat folgender Briefe: Sidon. epist. 6,8; 7,2; 7,7; 7,10. Dabei sind die Briefe 6,8 und 7,2 als Einheit zu betrachten, da sich beide mit der Täuschung durch den Boten, vermutlich Amantius, beschäftigen. Aufgrund der Amantiusgeschichte, spricht vieles dafür, dass die Erzählzeit der Graecusbriefe folgendermaßen anzuordnen sein könnte: 6,8, 7,7; 7,10; 7,2. Denn im Schreiben 6,8 wird der Bote in einem Empfehlungsschrieb vorgestellt, in epist. 7,7 sowie epist. 7,10 auf ihn Bezug genommen, während ihn Sidonius in epist. 7,2, aufgrund des Betruges, als moralisch widerlich bezeichnet. Allerdings bleibt der Nutzen und Sinn einer solchen Anordnung und Leseart zu hinterfragen, wenn diese doch von Sidonius selbst bewusst außer Acht gelassen worden war. Fest steht, dass der Bote Amantius eine interessante Persönlichkeit darstellt und sich eine intensivere Beschäftigung mit diesen Briefen und der Rolle seiner Person im Rahmen eines Aufsatzes lohnen würde. 547 Die unterschiedliche Anordnung der beiden Epistel in den Textzeugen wurde bereits angesprochen. 548 Der zweite Teil des Briefes ist die Empfehlung für den Überbringer Namens Petrus. Uu den beiden Briefen siehe van Waarden 2010, 449; zu Bischof Auspicius siehe: van Waarden 2010, 549; Heinzelmann 1983, 566 unter Auspicius 2.

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Si ratio temporum regionumque pateretur, non per sola officia verborum amicitias semel initas excolere curarem. sed quoniam fraternae quietis voto satis obstrepit conflictantium procella regnorum, saltim inter discretos separatosque litterarii consuetudo sermonis iure retinebitur, quae iam pridem caritatis obtentu merito inducta veteribus anuit exemplis. superest, ut sollicito veneratori culpam rarae occursionis indulgeas, quae quo minus assidue conspectus tui sacrosancta contemplatione potiatur, nunc periculum de vicinis timet, nunc invidiam de patronis. sed de his ista: haec etiam multa sunt. 549 Wenn die Lage der Zeit und der Region es erlauben würde, würde ich nicht nur allein durch die Verpflichtungen von Worten dafür sorgen, unsere einmal begonnene Freundschaft zu verfeinern. Weil der Wunsch nach brüderlicher Ruhe den Sturm im Kampfe liegender Reiche geradezu übertönt, soll wenigstens unter Getrennten und voneinander Entfernten die Gewohnheit einer brieflichen Unterhaltung ihr Recht beanspruchen, das schon längst aus Gründen der Freundschaft als Verdienst eingeführt worden war und den alten Vorbildern entsprach. Es bleibt nur noch übrig, dass du dem ergebenen Verehrer die Schuld eines seltenen Besuches verzeihst, der umso weniger beharrlich den heiligen Anblick deines Gesichts erhält, da er bald die Gefahr von den Nachbarn fürchtet, bald die Missgunst der Beschützer. Aber genug über diese Dinge, über die schon zu viel gesagt wurde. Sidonius spricht zwei Faktoren an, die einen persönlichen Kontakt nicht ermöglichen: die zeitlichen (ratio temporum) und die örtlichen Umstände (ratio regionum). Allein der Pflicht, sich gegenseitig Briefe zu schreiben, kann in dieser Situation nachgekommen werden. Wie bereits in den Schreiben zuvor wird das officium zum Erhalt und zur Ausübung von Freundschaft betont. Im folgenden Diskurs greift er, mit ähnlichen Anspielungen wie in bereits analysierten Schreiben, die zu Beginn des Paragraphen erwähnten Umstände auf. Dabei stehen der brüderlichen Ruhe antithetisch die Konflikte von gegnerischen Reichen gegenüber. 550 Die Anspielung erinnert zum einen an Epistel 5,12,1, in der Sidonius vom Sturm verfeindeter Parteien spricht, ohne die Akteure näher zu bestimmen, sowie an Epistel 9,9,6. Tab. 4: Anspielung auf verfeindete Parteien epist. 5,12,1 … turbine dissidentium partium …

epist. 7,11,1 (= 7,10) … conflictantium procella regnorum …  

epist. 9,9,6 … gentium concitatarum procella […] cuius immanis hinc et hinc turbo tunc inhorruerat …

Kontext: Reiseschwierigkeiten Kontext: Reiseschwierigkeiten Kontext: Reiseschwierigkeiten

549 Sidon. epist. 7,11,1 (= 7,10,1). 550 Für weitere stilistische Analyse dieses Paragraphen siehe: van Waarden 2010, 551–559.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Frank Kaufmann möchte die Epistel 9,9 aufgrund der ähnlichen Wortwahl im Schreiben an Auspicius in das Jahr 471 n. Chr. datieren. 551 Dem wird widersprochen: Zum einen, da eine Gleichheit von procella kein Indiz sein kann und er diese Art von Ähnlichkeit nicht für die Verwendung von turbo in Epistel 5,12 und 9,9 als Datierungsmerkmal in Betracht zieht. Diesen Brief an Calminius datiert Kaufmann in das Jahr 474 n. Chr. 552 Zum anderen, weil er den Diskurs, in dem diese ähnlichen Formulierungen in Erscheinung treten, nicht beachtet. In allen drei Briefen spricht Sidonius die Problematik des Reisens an, die er sowohl direkt durch verfeindete Parteien (partes, regna oder gentes), als auch indirekt durch den landschaftlichen Diskurs der Sturmmetapher (turbo [2 ×]; procella [2 ×]) begründet. Da Sidonius über Metaphern auf die Alterität von Barbaren beziehungsweise auf deren Präsenz in den Briefen hinweist, ist davon auszugehen, dass er die im Streit liegenden Parteien als barbarisch charakterisiert. Folglich deutet er auf die Zwistigkeiten von Visigoten und Burgundern in der Region und nicht auf die römisch-gotischen Auseinandersetzungen hin. Dafür spricht, dass er ein bereits bekanntes Bild aus Epistel 3,4 an Felix aufgreift, wenn er von der Gefahr der Nachbarn und dem Neid der Beschützer spricht, die er bereits in diesem Schreiben als die Stadt in Schrecken versetzende gentes beschrieb. Tab. 5: Parallele zwischen epist. 3,4 und 7,11 epist. 3,4,1

epist. 7,11,1 (= 7,10)

… suspecti Burgundionibus, proximi Gothis, nec impugnantum ira nec propugnantum caremus invidia.

nunc periculum de vicinis timet, nunc invidiam de patronis.

… circumfusarum nobis gentium arma terrificant.

… conflictantium procella regnorum …

Kontext: Angst des Sidonius

Kontext: Reiseschwierigkeiten

Joop van Waarden geht davon aus, dass turbulente Zeiten als ein legitimer Grund zu betrachten seien, um persönliche Besuche aufzuschieben, und zieht als unterstützendes Argument die parallele Stelle aus Epistel 7,10 an Graecus heran. Das Aufschieben einer Reise sei mehr als ein literarischer Topos, da dies selbst in Briefen der nächsten Generation immer wieder thematisiert werde, wie beispielsweise in denen des Avitus von Vienne. 553 Obwohl dem zuzustimmen ist, gilt es dennoch, die weitere Intention hinter dem Topos des Aufschiebens beziehungsweise der Schwierigkeiten des Reisens herauszuarbeiten. In allen Briefen, in denen die Schwierigkeit des Reisens thematisiert wird, wird von Sidonius die freundschaftliche Pflichterfüllung genannt. Im Zusammenhang mit der Darstellung der ,Anderen‘ durch landschaftliche Diskurse ist zu vermuten, dass der Autor durch die Betonung von Moral, Freundschaft und Pflichterfüllung indirekt eine

551 Kaufmann 1995, 183 f. 552 Kaufmann 1995, 192 f. 553 Alc. Avit. epist. 30,1 (= 34 Peiper); van Waarden 2010, 552.

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Botschaft zum Erhalt von Traditionen (hier wörtlich: veteribus exemplis) selbst in schwierigen Umständen hinterlassen möchte. Die landschaftliche Metapher des Sturmes als Darstellungsmöglichkeit von ,barbarischen Anderen‘ findet sich weiterhin im achten Buch der Sammlung, in einem Schreiben an Johannes, einen Grammatiklehrer, der unter gotischer Herrschaft nicht aufhörte, Latein zu unterrichten, wie in der captatio benevolentia (Paragraphen 1 und 2) zu erfahren ist. 554 In der narratio (Ende des Paragraphen 2) erklärt Sidonius, dass Bildung allein als Merkmal übrigbleiben wird, um einen Aristokraten von einem ,Anderen‘ zu unterscheiden, und in der conclusio (Paragraph 3) dankt er Johannes für die Erziehung einer Leserschaft. Im Folgenden sollen nun die captatio benevolentiae sowie die kurze narratio analysiert werden: 555 [1]  Credidi me, vir peritissime, nefas in studia committere, si distulissem prosequi laudibus quod aboleri tu litteras distulisti, quarum quodammodo iam sepultarum suscitator fautor assertor concelebraris, teque per Gallias uno magistro sub hac tempestate bellorum Latina tenuerunt ora portum, cum pertulerint arma naufragium. [2] debent igitur vel aequaevi vel posteri nostri universatim ferventibus votis alterum te ut Demosthenem, alterum ut Tullium nunc statuis, si liceat, consecrare, nunc imaginibus, qui te docente formati institutique iam sinu in medio sic gentis invictae, quod tamen alienae, natalium vetustorum signa retinebunt: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. 556 [1] Ich hätte es, hochgelehrter Mann, für einen Frevel an der Wissenschaft gehalten, wenn ich weiterhin damit zurückgehalten hätte, Dich dafür zu preisen, daß Du das Verschwinden der literarischen Bildung aufgehalten hast; als sie bereits zu Grabe getragen schien, da bist Du als ihr Erwecker, Förderer und Beschützer bekannt geworden, und bei Dir, dem einzigen Lehrer in ganz Gallien, ruhte in diesen kriegerischen Wirren die Sprache Latiums im sicheren Hafen, während seine Waffen Schiffbruch erlitten. [2] In der Tat stehen unsere Zeitgenossen wie unsere Nachfahren insgesamt in der Pflicht, mit glühendem Verlangen Dich als einen zweiten Demosthenes, als einen zweiten Tullius bald in Statuen (wenn die Möglichkeit bestünde), bald in Tafelbildern zu verewigen; sie, die von Dir als ihrem Lehrer bereits inmitten eines so unbesiegbaren wie gleichwohl fremden Volkes unterrichtet worden sind, werden die Zeichen ihrer alten Abstammung aufrechterhalten: denn nachdem schon die Stufen der Würden abgeschafft worden sind, durch die man 554 Sidon. epist. 8,2,1. 555 Es könnte auch argumentiert werden, dass der Brief lediglich aus captatio und conclusio bestünde. Die Abtrennung der narratio, welche die Bedeutung von Johannes begründet und in den Dank des Sidonius überleitet, wurde aufgrund der Gewichtigkeit dieser viel zitierten Aussage von Sidonius vorgenommen. 556 Sidon. epist. 8,2,1 f.

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gewohnt war, den Geringsten vom Höchsten zu unterscheiden, wird zukünftig literarisches Wissen der einzige Nachweis für nobilitas sein. 557 Sidonius beginnt den Brief mit der Personifizierung literarischer Bildung, die bereits zu Grabe getragen worden sei, und diesen Prozess habe Johannes als Einziger aufgehalten. Deshalb wird er als suscitator fautor und assertor gerühmt. Die Gefahr, der die Bildung ausgesetzt war, bis sie von Johannes gerettet wurde, wird von Sidonius als Sturm (tempestas) beschrieben. Die bereits vorgestellten Verwendungen der Sturmmetapher lassen darauf schließen, dass Sidonius sie in diesem Kontext erneut einsetzt, um, erstens, auf die politischen Auseinandersetzungen in den gallischen Provinzen anzuspielen und, zweitens, um indirekt als Gefahr für die Bildung auf Barbaren zu verweisen. Die zweite Metapher, die Sidonius verwendet, ist eine in der Literatur allgemein beliebte: die des Schiffbruchs beziehungsweise des Erreichens des sicheren Hafens am Ende einer Reise. Durch den Sturm hindurch war die lateinische Sprache im sicheren Hafen angekommen, während ihre Waffen Schiffbruch erlitten hatten. Da der Hafen für die Leistung des Johannes steht, ist anzunehmen, dass die Waffen die gallo-römische Aristokratie, besonders Bischöfe wie Sidonius, Simplicius oder Faustus, die alle von Eurich verbannt worden waren, symbolisieren. Es ist zu erwähnen, dass mir nicht ein Gesetzestext oder eine Quelle bekannt ist, die auf ein Bildungsverbot oder auf ein Berufsverbot für Lehrer unter Eurich hinweist. Es zeigt hier zum einen die literarische Tradition auf, den Bildungsverfall der eigenen Zeit zu beklagen, zum anderen die persönliche Wahrnehmung des Sidonius, der die ,Anderen‘ als Bedrohung für seine Werte und Traditionen sah. Der landschaftliche Diskurs in diesem Brief bringt durch die Wildheit der See und die Gefahr des Sturmes eine Bedrohung zum Ausdruck. Sie erfüllt – von ihrer stilistischen Funktion abgesehen – neben ihrer Rolle als Allusion für politische Ereignisse oder als Metapher für Barbaren den Zweck, die Wahrnehmung und Emotionen des Sidonius widerzuspiegeln. Die Tatsache, dass er, wie so oft, die Erhaltung und Weitergabe von Traditionen als Pflicht seiner und nachkommender Generationen sieht, bestätigt der Vergleich von Johannes mit Demosthenes und Cicero. In diesem Paragraphen des Briefes findet sich ein verborgener Kritikpunkt: Sidonius deutet an, dass die Bevölkerung nicht mehr in der Lage sei, so zu agieren, wie sie es in der Vergangenheit getan habe. Denn wenn es erlaubt wäre, würden sie Johannes zu Ehren Statuen oder Tafelbilder errichten lassen. Der Irrealis drückt die Unmöglichkeit aus. Doch wer hat dies der Bevölkerung verboten? Gab es ein solches Verbot? Die Konstruktion des Satzes unterstreicht die Unmöglichkeit einer solchen Ehrung, da der Parallelismus von nunc statuis nunc imaginibus durch sic liceat vom dazugehörigen Infinitiv (consecrare) gesperrt ist. Die weitere Lektüre impliziert, dass Sidonius die Unmöglichkeit, einen der ihren mit Statuen zu ehren, auf die politische Situation zurückführt, da er im zweiten Paragraphen des Briefes seine Anspielungen fortsetzt, indem er die geographische Lage von Verfasser und Adressat inmitten einer unbezwingbaren gens beschreibt. Mit dem Wissen, dass die Visigoten sich um die 557 Übersetzung nach Köhler 2014, 245 f.

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Oberhoheit in Südwestfrankreich bemühten und diese spätestens nach 475 n. Chr. für einige Jahre innehatten, ist davon auszugehen, dass Sidonius die Goten als invictus gens betitelt. Die Erzählzeit des Briefes zu bestimmen, erscheint unmöglich. Selbst über den Adressaten liegen kaum Informationen vor, zudem ist der Brief voller Verschleierungen. Zwei Interpretationen erscheinen im Rahmen der Möglichkeiten: 1.  Wenn mit den Waffen der Bildung die Bischöfe gemeint sein sollten und mit dem Schiffbruch deren Exil, könnten diese Information als terminus post quem für die Erzählzeit des Briefes gedeutet werden. In diesem Kontext wäre die Charakterisierung der Goten als unbezwingbar vom Standpunkt eines Besiegten erfolgt. Für Sidonius selbst bedeutet dies, dass er sich auf das Schreiben konzentrieren könnte, da Johannes als Verfechter von romanitas für die adäquate Ausbildung des Nachwuchses sorgen würde und Sidonius genügend zukünftige Leser hätte. 2.  Der Schiffbruch kann dahingehend interpretiert werden, dass die Erzählzeit des Briefes in die Auseinandersetzungen um Clermont datieren, in denen Aristokraten wie Sidonius Not, Feuer und Krankheiten überstehen mussten und daher Personen wie Johannes umso dankbarer waren, sich in dieser Zeit ganz dem Erhalt der Bildung zu widmen. Sidonius’ allusiver Stil erschwert ein modernes Verständnis der Briefe. Offensichtlich achtete er bei der Überarbeitung genau darauf, welche Inhalte er verschleiern, auf welche Situationen er anspielen und welche Botschaft er den Lesern vermitteln wollte. Der Brief kann weiterhin als Beleg für Raphael Schwitters Theorie herangezogen werden, dass Sidonius seine Briefe für ein unterschiedliches Publikum schrieb: eines, das in der Lage war, die Metaphern und Allusionen zu entschlüsseln, und eines, das nicht genügend in römischen literarischen und kulturellen Traditionen verankert war, um die verschleierten Inhalte einzelner Sätze oder gar ganzer Briefe verstehen zu können. Ganz im Zeichen landschaftlicher Diskurse und verschleierter Anspielungen, die den Gegensatz von romanitas und barbaritas ausdrücken, steht der zwölfte Brief des achten Buches an Trygetius, über den sonst nichts Näheres bekannt ist. 558 Sidonius befindet sich in der Erzählzeit des Briefes auf einem Landgut des Pontius Leontius bei Bordeaux und verfasst eine Aufforderung an Trygetius, sich ihnen dort anzuschließen und mit ihnen Austern zu essen. 559 Norbert Delhey vermutet, dass es sich bei dem Landgut um die Villa Burgus der Leontier gehandelt habe und sieht, ähnlich wie Courtenay E. Stevens, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Carmen 22, das die Villa beschreibt, und der Epistel 8,12. 560 Courtenay E. Stevens deutet den zweiten Paragraphen des Schreibens, der auf eine Reise des Trygetius nach Spanien verweist, als Anspielung auf dessen Teilnahme

558 Sidon. epist. 8,12. Zu Trygetius siehe: PLRE II, 1129 unter Trygetius 2; Stroheker 1970, 225 Nr. 396. 559 Sidon. epist. 8,12,7 f. Mit dem Brief haben sich u. a. Schetter 1994, 252–254; Delhey 1993, 9–12; Loyen 1960/1970, Bd. 3, 202 und Stevens 1933, 66 f. beschäftigt, primär als Datierungshilfe für Sidon. carm. 22. 560 Delhey 1993, 9–12.

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Abb. 5: Die Stadt Bazas als Mittelpunkt eines 90 km Radius (© Autorin)

an einer gotischen Expedition in den Jahren 458/459. 561 Norbert Delhey vertritt die Ansicht, dass diese Theorie nicht von der Hand zu weisen sei, da Trygetius, der civitas Vasatium (heute Bazas) zugehörig, unter gotischer Herrschaft gestanden habe. 562 Es ist zu überlegen, welchen Einfluss die gotischen Ansiedlungen zu dieser Zeit in Gallia wirklich gehabt haben und ob gallo-römische Aristokraten wie Trygetius unter den Föderaten aktiv waren. Es ist wohl vielmehr Karl F. Stroheker rechtzugeben, der davon ausgeht, dass die Hintergründe der Reise im Dunkeln liegen und der Brief somit undatierbar sei. 563 Der Brief, der aufgrund seiner Länge lediglich inhaltlich paraphrasiert und analysiert werden wird, erinnert inhaltlich an den Reisebericht des Sidonius nach Rom, da er ebenfalls eine Verbindung aus Geographie und Geschichte darstellt. 561 Stevens 1933, 66 f. Die Hypothese von Loyen 1960/1970, Bd. 3, 202, dass Trygetius 460 n. Chr. im Heer unter Maiorian nach Spanien gereist wäre, wird sowohl von Willy Schetter als auch von Norbert Delhey vehement zurückgewiesen, da dieser Feldzug das Ziel Afrika hatte und durch das östliche Spanien über Saragossa nach Cartagena geführt habe, während in Sidon. epist.  8,12,2 Calpis und Cadiz als Aufenthaltsorte erwähnt werden würden. Siehe auch: Schetter 1994, 253 f.; Delhey 1993, 12. 562 Delhey 1993, 11 Anm. 84. 563 Stroheker 1970, 125.

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In der captatio erfährt der Leser den Aufenthaltsort des Adressaten, die Stadt Bazas (Vasatium civitas), die laut Sidonius nicht auf Ackerboden, sondern auf Sand gebaut ist. Er beschreibt sie geographisch als Land der Syrten, des schwankenden Bodens und des Sandes, der von schnellen Winden aufgewirbelt wird. 564 Sidonius übertreibt hier mit der landschaftlichen Situation sicherlich. Die angesprochenen Sandbänke und Dünen befinden sich etwa 90 km von Bazas entfernt und sind somit für Trygetius in ähnlicher Distanz wie Bordeaux, die Sidonius als parvis spatiis bezeichnet (Abb. 5). 565 Da das Gebiet um Bazas heute von landwirtschaftlicher Nutzung geprägt ist und sich die Stadt in der Nähe eines Flusses befindet, kann angenommen werden, dass dies bereits in der Antike der Fall war. Der landschaftliche Diskurs ist als Hyperbel des Autors anzusehen, der den Empfänger des Briefes davon überzeugen wollte, auf das Landgut, den locus amoenus, zu kommen. 566 Die Tatsache, dass der erste Paragraph der captatio (Paragraphen 1–4) als Stichelei gegen den Adressaten aufgefasst werden muss, wird im letzten Satz deutlich: 567 an temporibus hibernis viarum te dubia suspendunt et, quia solet Bigerricus turbo mobilium aggerum indicia confundere, quoddam vereris in itinere terreno pedestre naufragium? Oder hemmen dich die Zweifel über die Straßen in Winterzeiten und fürchtest du dich etwa sozusagen bei einer Landreise vor einem Schiffbruch zu Fuß, weil für gewöhnlich ein Sturm von Bigorre die Markierungen der unbeständigen Uferdämme verwirrt? Es bieten sich drei Interpretationen an: 1. Sidonius referiert über klimatische Begebenheiten und damit verbunden die Schwierigkeiten des Reisens, in dem er auf den anbrechenden Winter und die aufkommenden Stürme hinweist. Dem widerspricht jedoch die absolut ironisch pointierte rhetorische Frage, ob Trygetius etwa Angst vor einem Schiffbruch auf 564 Sidon. epist. 8,12,1: Tantumne te Vasatium civitas non caespiti imposita sed pulveri, tantum Syrticus ager ac vagum solum et volatiles ventis altercantibus harenae sibi possident […]. „Kann Dich denn die Stadt Bazas, die nicht auf Ackerboden, sondern auf Sand gebaut ist, kann Dich das Land der Syrten, des wandernden Bodens und des Flugsandes, der von gegeneinander blasenden Winden aufgewirbelt wird, dermaßen festhalten?“ (Übersetzung Köhler 2014, 275). 565 Die einzigen Dünen, die mir bekannt sind und sich in der Nähe befinden würden, wären die Dünen von Pilat bei der Bucht von Archachon. 566 Sidon. epist. 8,12,1: […] attrahere Burdigalam non potestates, non amicitiae, non opimata vivariis ostrea queant?„[…] können Dich nach Bordeaux weder Amtspersonen noch Freunde noch in Bassins gemästete Austern herbeiziehen?“ (Übersetzung Köhler 2014, 275). Unklar bleibt, welche potestas Sidonius anspricht. Köhler 2014, 275 interpretiert die potestates als Amtspersonen, jedoch bleibt unklar, aufgrund welcher Amtspersonen Trygetius nach Bordeaux kommen sollte. Sinngemäß könnte gemeint sind: „keine Kräfte welcher Art, keine Freunde und auch nicht die Austern können dich nach Bordeaux ziehen?“ 567 Das Ende der captatio wird mit dem Hinweis auf die klimatischen Bedingungen im vierten Paragraphen beendet.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

dem Land habe. 2. Sidonius möchte seinen Adressaten mit dieser die Hyperbel-krönenden Bemerkung triezen, sich endlich Richtung Bordeaux in Bewegung zu setzen, und zeigt mit der Antithese von terreno und naufragium – neben seinen literarischen Fähigkeiten –, die Grundlosigkeit nicht zu reisen. Aus vorherigen Schreiben weiß der Leser, dass ein persönliches Sehen unter schwierigen Reisebedingungen entschuldbar ist. Doch diese von Sidonius imaginierte Landschaft lässt im Umkehrschluss die Vermutung zu, dass der Empfänger keinen für Sidonius annehmbaren Grund liefern kann, seiner freundschaftlichen Pflicht nicht nachzukommen. 3. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Sidonius auf die sich verändernde politische Situationen anspielt: seien es der Feldzug des Maiorian, der durch Spanien führte, oder die gotischen Expansionsbestrebungen im Süden Aquitaniens sowie deren Expeditionen über die Pyrenäen. Die Verwendung von Stürmen als Hinweis auf barbarisches Verhalten oder politische Schwierigkeiten ist ebenfalls möglich. Im zweiten Paragraphen, der wie der erste ebenfalls aus rhetorischen Fragen konstruiert ist, erinnert Sidonius an die Reisen des Adressaten nach Calpis (heute Gibraltar) und Cadiz. Dabei verwendet Sidonius Vokabular aus dem militärischen Bereich. So habe Trygetius Calpis zu Fuß erobert und in einem Zelt bei Cadiz verweilt. 568 Dies lässt die angesprochene Hypothese von der Teilnahme des Trygetius an einem Feldzug in Spanien als wahrscheinlich erscheinen. Dafür sprechen zudem die Anspielungen im dritten Paragraphen, in dem Sidonius fragt, ob der Adressat so lustlos sei, weil er befürchte, die Donaugrenze gegen die Massageten verteidigen zu müssen, oder sich fürchte, auf einem Schiff von Krokodilen im Nil umgeben zu sein. 569 Der dritte Absatz beschließt die Hänseleien des Adressaten mit der Frage, was dieser wohl im Heer des Cato in Nordafrika gemacht hätte, wenn ihm schon zwölf Meilen zu viel zum Reisen seien. 570 Dies lässt darauf schließen, dass Trygetius Teil militärischer Aktionen war, die Sidonius, im Vergleich mit der Vergangenheit, als weitaus geringer betrachtet. Der im zweiten Paragraphen angebrachte Vergleich mit Herkules, mit dem Trygetius den Endpunkt seiner Reise gemein habe, zeigt, dass die Reisebereitschaft des Trygetius, verglichen mit der des Herkules, als gering zu erachten ist. 571 Der Rückgriff auf die römische Militärgeschichte, von der näheren Vergangenheit und geographischen Lage ausgehend (Donau) bis zurück zu Cato Uticensis, der gemeinsam mit seinen Soldaten 46 v. Chr. die libysche Wüste zu Fuß durchquerte, soll als Ansporn dienen, der aristokratischen Pflichterfüllung 568 Sidon. epist. 8,12,2: ubi, quaesumus, animo tam celeriter excessit vestigiis tuis nuper subacta Calpis? ubi fixa tentoria in occiduis finibus Gaditanorum? „Wohin, frage ich dich, ist die Erinnerung an Calpis, das du einst mit deinen Schritten unterworfen hast, so plötzlich aus deinem Gedächtnis entschwunden? Wo ist die Erinnerung an die Zelte, die im westlichen Gebiet von Cadiz aufgeschlagen wurden?“ 569 Sidon. epist. 8,12,3. Bei den Massageten handelt es sich um eine skythische Gemeinschaft am Kaspischen Meer, siehe Köhler 2014, 275; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 476. 570 Sidon. epist. 8,12,3: et cum nec duodecim milium obiectu sic retarderis, quid putamus cum exercitu Marci Catonis in Leptitana Syrte fecisses? „Und wenn du schon so durch ein Hindernis von kaum zwölf Meilen zurückgehalten wirst, was sollen wir dann glauben, was du im Heer von Marcus Cato in der Syrte von Leptis getan hättest?“ 571 Sidon. epist. 8,12,2.

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nachzukommen und trotz zu erwartender Unannehmlichkeiten dem Reisen nicht aus dem Weg zu gehen. Besonders der Verweis auf Cato den Jüngeren in Form der letzten rhetorischen Frage erlaubt weitere Rückschlüsse auf die Intention des Briefes. Cato der Jüngere war, wie sein gleichnamiger Vorfahre, Marcus Porcius Cato (Cato der Ältere), dafür bekannt, sich für die Erhaltung römischer Sitten und Traditionen einzusetzen und sie gegen äußere Einflüsse zu verteidigen. Aus diesem Grund wurde er in der literarischen Überlieferung oftmals idealisiert. 572 Erst an dieser Stelle wird der landschaftliche Diskurs des ersten Paragraphen deutlich, der indirekt mit dem Cato-Verweis aufgegriffen wird. Sidonius bezieht sich hier erneut auf eine Stelle aus Lucans Pharsalia, und zwar direkt auf die Syrtendigression und den sich anschließenden Seesturm. 573 Die landschaftlichen Verhältnisse erscheinen denen in der Umgebung des Trygetius sehr ähnlich: Der Sand, die Syrten, die Wirbelstürme aus dem Süden, die den Reiseweg erschweren und für Seefahrer zum Schiffbruch führen, werden von Sidonius aufgegriffen und an die Situation des Trygetius angepasst. Die ironische Anspielung des Schiffbruches zu Fuß bekommt daher nicht nur auf ihre ironische Weise Sinn, sondern verdeutlicht die Parallele zu Lucans landschaftlicher Digression, bevor er den schwierigen Marsch des Helden seiner Darstellung beschreibt. Sidonius scheint die Figur des Cato, der literarischen Tradition Lucans folgend, idealisiert zu haben. Nicht nur hat er sich bewusst für den Bürgerkrieg entschieden, sondern er verficht die Einhaltung und Reinhaltung von Moral und Virtus. Die Unfruchtbarkeit der Landschaft sowie deren Wildheit, die, Lucans Beispiel folgend, bei Sidonius mit einem Sturm ihren Höhepunkt findet, symbolisiert die Barbaren, gegen die Sidonius und seine Gemeinschaft ihre romanitas aufrechterhalten wollen. Der Appell an Trygetius ist somit als Aufruf zu einem aktiven Leben zu verstehen. Sidonius drückt seine eigene Entscheidung aus, wie Cato für den Erhalt von Sitte, Moral und Tradition zu kämpfen, und fordert andere Aristokraten dazu auf, es ihm gleich zu tun. Daher ist der Brief ein Aufruf zur Aktivität und nicht eine Einladung zum Rückzug in ein Leben in otium, wie es im Schreiben den Anschein macht. Diese Annahme wird zusätzlich durch das Ende der Einleitung im vierten Paragraphen gestützt. Mit einem erneuten Verweis auf den Winter und das Wetter 574 schließt Sidonius die Ringkomposition und der literarische Diskurs wird beendet. Sidonius drückt gegenüber Trygetius seine Hoffnung aus, dass ihn nicht die Jahreszeit zurückhalte, sondern

572 Wussow 2004,1. Zu Cato Uticensis sei für den deutschsprachigen Raum nach wie vor auf die Biographie von Fehrle 1983 verwiesen. 573 Lucan. 9, 347–365. Der Wüstenmarsch des Cato ist u. a. von Lucan überliefert, auf den Sidonius, wie Joop van Waarden und Isabella Gualandri für Epistel 7,1 an Mamertus demonstrieren, bereits bei der Darstellung zeitgenössischer Ereignisse zurückgriff. Vgl. Lucan. 9,379–510; van Waarden 2010, 75 f.; Gualandri 1979, 43 f. 574 Sidon. epist. 8,12,4. Es wird auf die parallele dreigliedrige Aufzählung tam clemens – tam tepida – tam suda hingewiesen.

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ihn die Wärme zur Reise einlade. 575 Er beendet die Einleitung mit der Mahnung, dass Trygetius sein Aufforderungsschreiben (epistula evocatoria) nicht missachten solle. In der narratio werden die Vollstrecker, die dafür Sorge tragen sollen, namentlich vorgestellt. 576 Dabei wird der Diskurs eines römischen locus amoenus, der dem Leser bereits aus Villenbeschreibungen bekannt ist, auf das Schiff übertragen und steht somit in direktem Gegensatz zur vorher gegangenen Einleitung. 577 Die Beschreibung der Annehmlichkeiten, die Trygetius bei den Gastgebern zu erwarten hat, ziehen sich durch die gesamte narratio des Briefes und bilden so eine geschlossene Antithese zur captatio. 578 Dies kann als weiteres Indiz für die Bedeutung des landschaftlichen Diskurses als Instrument der Abgrenzung von ,Anderen‘ gesehen werden. In der conclusio lobt Sidonius abschließend den Gastgeber, Pontius Leontius, der alle Mitbürger übertrumpfe und an dessen Tafel jeder Gast sich wie ein Staatsgast fühle. 579 Dieses Schreiben demonstriert einmal mehr die Schwierigkeit der Interpretation landschaftlicher Diskurse zwischen Realität, literarischer Tradition, Allusion für politische Ereignisse oder Akt der Abgrenzung und Darstellung von ,Anderen‘. Erst die Parallele zu Lucan lässt den Leser verstehen, dass die landschaftliche Beschreibung der Reiseproblematik in Wahrheit eine Allegorie ist und zum Handeln auffordern soll. Die abgrenzende Funktion gegenüber barbarischen ,Anderen‘ kommt durch den Topos des Sturmes sowie die Wildheit der Natur zutage und wird durch den Verweis des Schiffbruches noch verstärkt. Es bleibt am Ende des Briefes festzuhalten, dass es Sidonius in diesem Schreiben in erster Linie nicht um die Darstellung von ,Anderen‘ ging, sondern dass er durch Cato den Jüngeren seinen Lesern ein Beispiel aus der Vergangenheit bietet, um mit den eigenen schwierigen Zeiten umzugehen. So wie Cato sich nicht gescheut hat, die 575 Sidon. epist. 8,12,4: […] ut te non valeat enixius retinere tempus quam invitare temperies. „[…] dass die Jahreszeit dich weniger zurückhalten dürfte, als die Wärme dich vielmehr zu einer Reise einladen sollte.“ 576 Sidon. epist. 8,12,5. Bei ihnen handelt es sich um Pontius Leontius und dessen Sohn Paulinus. Zu diesem siehe: PLRE II, 847 unter Pavlinvs 10; vgl. Heinzelmann 1983, 666 unter Paulinus 11. 577 Sidon. epist. 8,12,5: hic tuas laudes modificato celeumate simul inter transtra remiges, gubernatores inter aplustria canent. hic te aedificatus culcitis torus, hic tabula calculis strata bicoloribus, hic tessera frequens eboratis resultatura pyrgorum gradibus expectat; hic, ne tibi pendulum tinguat volubilis sentina vestigium, pandi carinarum ventres abiegnarum trabium textu pulpitabuntur; hic superflexa crate paradarum sereni brumalis infida vitabis. „Hier, auf dem Schiff, werden Dir zu Ehren die Ruderer auf ihren Bänken zusammen mit den Steuerleuten auf dem Hinterdeck ein taktfestes Seemannslied singen. Hier ist für Dich aus Kissen ein Lager bereitet, hier erwartet Dich ein Spielbrett, mit zweifarbenen Steinen belegt, und eine Menge Würfel, die über die elfenbeinernen Stufen der Türme hinunterhüpfen wollen; hier wird man die ausladenden Schiffsbäuche mit einer aus Tannenbrettern gefügten Platte überdecken, damit das hin- und herrollende Kielwasser nicht Deine baumelnden Füße bespritzt. Hier wirst Du unter dem Flechtwerk eines schützenden Daches vor der Unberechenbarkeit des wolkenlosen Winterhimmels geschützt sein.“ (Übersetzung Köhler 2014, 276). Die Annehmlichkeiten werden von Sidonius durch eine parallel konstruierte Aufzählung dargestellt. 578 Sidon. epist. 8,12,6 f. Sidonius legt dabei einen besonderen Fokus auf die kulinarischen Speisen. 579 Sidon. epist. 8,12,8.

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Wüste zu durchqueren, sollen sich seine und die nachkommenden Generationen nicht scheuen, ihren Lebensstil in den stürmischen Zeiten unter gotischer Vormacht zu leben. Die Thematik des langen Weges, den ein Briefbote auf sich nehmen muss, leitet Epistel 9,4 an Bischof Graecus ein. 580 Dieses Schreiben an Graecus ist als Freundschaftsbrief zu betrachten, der dazu auffordert, dem Beispiel Jesu zu folgen und den Kelch irdischer Betrübnisse anzunehmen. In der captatio des Schreibens fordert Sidonius den Empfänger auf, seine Briefe nicht aus Gewohnheit, sondern aufgrund der freundschaftlichen Anteilnahme zu schreiben. 581 Eine solche Anteilnahme benötige Graecus, dem ein Unglück widerfahren ist und auf die Sidonius im Laufe des Briefes anspielt: 582 nam quod nuper quorumpiam fratrum necessitate multos pertuleritis angores, flebili ad flentes relatione pervenit. sed tu, flos sacerdotum gemma pontificum, scientia fortis fortior conscientia, minas undasque mundialium sperne nimborum, quia frequenter ipse docuisti, quod ad promissa convivia patriarcharum vel ad nectar caelestium poculorum per amaritudinum terrenarum calices perveniretur. [3]  velis nolis, quisque contempti mediatoris consequitur regnum, sequitur exemplum. quantumlibet nobis anxietatum pateras vitae praesentis propinet afflictio, parva toleramus, si recordamur, quid biberit ad patibulum qui invitat ad caelum. 583 Denn der traurige Bericht, dass ihr kürzlich auf Grund der Not der Brüder große Ängste ertragen habt, hat die Klagenden erreicht. Ihr aber, Blüte der Priester und Zierde der Bischöfe, stark im Wissen und stärker im Gewissen, verachtet die Drohungen und Wogen weltlicher Stürme, weil ihr selbst regelmäßig gelehrt habt, dass man zum versprochenen Gastmahl des Vaters oder zum himmlischen Nektar der Gelage nur durch die Kelche irdischer Bitterkeit gelangt. [3]  Ob du willst oder nicht, jeder der nach dem Reich des verachteten Mittlers strebt, folgt seinem Beispiel nach. Mag uns das Elend des gegenwärtigen Lebens beliebig viele Schalen der Ängste zu trinken geben, so ertragen wir doch Weniges, wenn wir uns erinnern, was er, der uns in den Himmel einlädt, am Kreuz trinken musste. Der Leser erfährt, dass einige Brüder, vermutlich Glaubensbrüder, in Bedrängnis gewesen seien und Graecus aus diesem Grund bedrückt war. Die Hintergründe verschweigt Sidonius. Graecus, der sich in der Darstellung des Sidonius durch ein reines Gewissen auszeichnet, wird von diesem aufgefordert, den weltlichen Stürmen zu widerstehen. Die Drohungen und Wogen in Zusammenhang mit Stürmen sind an dieser Stelle als Landschaftsmetaphern zu lesen, mit denen der Autor nicht nur auf die Geschehnisse in Gallia 580 Sidon. epist. 9,4,1. Graecus war Bischof in Marseille. Zu seiner Person siehe: Kaufmann 1995, 312; Heinzelmann 1983, 918 unter Graecus. 581 Sidon. epist. 9,4,1. 582 Sidon. epist. 9,4,1: […] sicut vestris erigimur secundis, ita deprimimur adversis. „[…] so wie wir uns von euerm Glück ermutigen lassen, so drückt uns euer Unglück nieder.“ 583 Sidon. 9,4,2 f.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

hinweist, sondern mit denen er die Aktionen der visigotischen Einheiten unter Eurich beschreibt. Die Gefährlichkeit der Landschaft dient der Darstellung der ,Anderen‘, dem das ‚Selbst‘ in Form von Wissen und Gewissen gegenübersteht. Sidonius verwendet die eigenen Predigten des Graecus, dass das Himmelreich nur durch einen bitteren Kelch erreicht werden könne, nun dazu, um ihn zum Widerstand gegen die Stürme, zum Widerstand gegen die Visigoten zu ermutigen. In der conclusio folgert er, dass Graecus keine Wahl habe, da jeder, der nach dem Himmelreich trachte, dem Beispiel Jesu Christi nachfolge. Die Widrigkeiten, die sie ertragen müssten, seien im Vergleich zu seinem Leiden am Kreuz als gering zu erachten. Der Inhalt dieses Schreibens behandelt einen Zeitpunkt vor der Übergabe der Stadt und somit vor den Friedensverhandlungen, an denen Graecus beteiligt war. Es ist davon auszugehen, dass Sidonius mit den weltlichen Stürmen auf die visigotischen Expansionsversuche anspielt und den Bischof auffordert, in den Verhandlungen Stärke zu zeigen. Ein Appell an das reine Gewissen des Graecus und besonders das Beispiel der Opfer, die Jesus Christus selbst ertragen musste, sollen den Bischof davon überzeugen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Wie der Leser bereits im siebten Buch erfahren konnte, blieb diese Ermahnung des Sidonius fruchtlos. Die wilde Natur in diesem Schreiben dient als obskure Anspielung auf Barbaren und verbildlicht somit den Gegensatz zum ,Selbst‘, das dem Beispiel von Jesus Christus folgt. Ferner kann das himmlische Reich als abstrakte Landschaft, die lediglich der Gemeinschaft der Katholiken offensteht, interpretiert werden, die somit einen weiteren Gegensatz zu den stürmischen ,Anderen‘, die dem Arianismus angehören, darstellt. Das Himmelreich als Ziel der gallo-römischen Bischöfe wurde ein weiteres Instrument des Sidonius, um die Identitäten der bischöflichen Gemeinschaft sowie einen weiteren Teil seiner eigenen Persönlichkeit zu konstruieren. Der letzte Verweis auf die stürmischen Zeiten, in denen Sidonius lebt, ist in Epistel 9,9 an Bischof Faustus zu finden. Dieses Schreiben wird durch eine kleine Plauderei über die gegenseitige Korrespondenz eingeleitet, in der Sidonius angibt, nicht genügend Material für ein ausführliches Schreiben zu besitzen Dadurch spannt er einen Bogen zur narratio, indem er berichtet, ihm sei in letzter Minute doch noch ein Erzählgegenstand eingefallen. 584 Dieser Erzählgegenstand stellt einen Tadel gegenüber Faustus dar. Denn dessen Bücher, obwohl sie bereits durch arvernisches Gebiet geschickt wurden, seien nicht für die Lektüre des Sidonius gedacht gewesen. Im Anschluss spekuliert Sidonius, dem Bescheidenheitstopos folgend, was wohl die Intention des Faustus sein könne, ihm seine Werke vorenthalten zu wollen, und sieht dieses Verhalten offenbar als Kränkung seiner Freundschaft an. 585 Es war mehr oder minder Zufall, dass Sidonius von den Büchern erfuhr, die er sofort las. Als Strafe für Faustus droht Sidonius an, sein Urteil zurückzuhalten, das

584 Sidon. epist. 9,9,1–3. 585 Sidon. epist. 9,9,4 f. Dabei geht Sidonius soweit, sich selbst als ,Ungebildeten‘ (indoctus) zu be­zeichnen. Zur Kränkung der Freundschaft siehe: Sidon. epist. 9,9,5: atqui praesule deo tenues nobis esse amicitias nec inimici fingere queunt. „Sondern durch Gott den Fürsprecher, sind noch nicht einmal die Feinde imstande sich vorzustellen, dass unsere Freundschaft so schwach ist.“

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dann jedoch sofort im Anschluss erfolgt. 586 In der Tat lobt er Faustus überschwänglich, der mit der Philosophie verheiratet sei, die er von den gottlosen Wissenschaften befreit habe, wodurch Platons Schule nun der Kirche diene. 587 Dabei hätte Faustus nicht nur das Denken von Platon im christlichen Sinne brauchbar gemacht, sondern auch das von dreizehn weiteren heidnischen Philosophen – von Speusipp bis Cleanthes. 588 In der conclusio, die einem Nachruf nicht unähnlich ist, da Sidonius anspricht, dass Faustus von nachkommenden Generationen vermisst werden wird, fasst Sidonius die Würdigung des Adressaten noch einmal zusammen. Inmitten dieses Schreibens, das zum einen die Freundschaft mit Faustus präsentiert und zum anderen diesen für die Leserschaft und Nachwelt als herausragende Persönlichkeit präsentiert, findet sich erneut ein landschaftlicher Diskurs in Form einer Sturmmetapher: 589 igitur hic ipse venerabilis apud oppidum nostrum cum moraretur, donec gentium concitatarum procella defremeret, cuius immanis hinc et hinc turbo tunc inhorruerat, sic reliqua dona vestra detexit, ut perurbane quae praestantiora portabat operuerit, spinas meas illustrare dissimulans tuis floribus. 590 Als sich dieser Ehrwürdige [gemeint ist Riochatus] 591 in unserer Stadt aufhielt, bis sich der Sturm der erregten gentes ausgetobt hatte, dessen ungeheuer großer Wirbel sich zu diesem Zeitpunkt hier und da erhoben hatte, entblößte er auf diese Weise eure restlichen Geschenke, sodass er sehr geschickt verborgen halten konnte, was er Außerordentliches transportierte, während er sich verstellte, um meine Dornen angesichts deiner Blüte zu verschönern. Sidonius verwendet in diesem Abschnitt zwei landschaftliche Diskurse mit unterschiedlichen Metaphern. Zum einen nimmt er mit dem „Sturm der erregten gentes“ Bezug auf die politische Situation, in der sich die civitas der Arverner befindet, zum anderen vergleicht er seine literarischen Fähigkeiten mit denen des Faustus durch eine Pflanzenmetapher, die auch bei Ruricius von Limoges zu finden ist. 592 Die eigene Darstellung als Dornen verglichen mit den Blüten des Faustus demonstriert einmal mehr, dass eine metaphorische

586 Sidon. epist. 9,9, 6–11. 587 Sidon. epist. 9,9,12 f. 588 Sidon. epist. 9,9,14. 589 Die narratio einleitende Episode über die dramatischen Umstände der Lektüre der Werke des Faustus kann einerseits als Neckerei des Adressaten verstanden werden, andererseits dient sie als erzählerisches Element, die Charaktereigenschaften des Sidonius zutage zu bringen, ohne das Lob des Adressaten zu mindern. So kann sich Sidonius als loyaler Freund präsentieren, der keine Umstände scheut, um sich weiterzubilden, und dennoch von modestia geprägt ist. 590 Sidon. epist. 9,9,6. 591 Zu diesem Boten liegen keine weiteren Informationen vor. 592 Vgl. Rur. epist. 1,5,3.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Ausdrucksweise in den Briefen verwendet wird, um das ,Selbst‘ vom ,Anderen‘ zu differenzieren. Für die Frage nach der Abgrenzung von ,Anderen‘ ist lediglich die Sturmmetapher von Relevanz. Besondere Ähnlichkeit weist diese mit denen in den Episteln  5,12,1 und 7,11,1 (= 7,10,1) auf, wie bei der Interpretation von Letzterer tabellarisch angeführt wurde (Tab.  3). Diese Ähnlichkeit in Ausdruck und Verwendung ist nicht ausreichend, um eine zeitgleiche Einordnung der Brieferzählung anzunehmen. Einzig die Andeutung, dass Sidonius und Faustus sich inmitten des Sturmes befinden, ohne eine eigene Beteiligung an den Auseinandersetzungen anzusprechen, lässt vermuten, dass es sich bei den Konflikten um Kämpfe zwischen Burgundern und Goten und zwischen Römern und Goten gehandelt habe. Die Stadt der Arverner wird von Sidonius in diesem Sturm als sicherer Ort dargestellt, an dem der Bote sich zwei Monate lang aufhalten konnte. Sidonius verweist entweder auf den Beginn der Auseinandersetzungen, in denen burgundische Söldner zwar im eigenen Interesse, aber auf römischer Seite gegen die Visigoten kämpften, oder auf die Zeit nach den Verhandlungen von 475 n. Chr. und nach seiner Rückkehr aus dem Exil nach Clermont. In beiden Fällen scheint der Sturm, durch den indirekt die nicht-römischen gentes als streitlustig, gefährlich und wild charakterisiert werden, der Dramatik der narratio zu dienen. 5.2.3 Zwischenfazit zu obscuritas und Alterität in den Briefen Es wurde gezeigt, dass eine Interpretation der Allusionen im Werk des Sidonius keine leichte Aufgabe ist und deren Auslegungen oft nicht belegbar sind. Letzteres zeigt die Schwierigkeit, die Briefe zeitlich einzuordnen –  sei es nach Abfassungs-, Erzähl- oder Veröffentlichungszeitraum. Zwar können aufgrund von Bezügen zwischen den Briefen und dem inneren Kontext Vermutungen angestellt und Zeiträume eingegrenzt werden, aber eine exakte Datierung, wie sie speziell von André Loyen vorgenommen wurde, liegt nicht im Rahmen des Möglichen. 593 Die Analyse verschiedener Hinweise hat ergeben, dass diese nicht nur in verschiedener Art und Weise konstruiert wurden, sondern zudem unterschiedliche Funktionen in den Briefen erfüllen. Sie bilden den narrativen Hintergrund des Briefes, sollen die Leser von den Argumenten des Sidonius überzeugen oder die Stimmung der Erzählung untermalen. Folglich dienen sie, sich auf Traditionen beziehend und sich dabei verändern könnend, als Instrument, um das ,Selbst‘ zu definieren und zu konstruieren. 594 Allusionen sind als eines der Mittel zu sehen, wodurch Sidonius sich und seine lebensweltlichen Gemeinschaften von ,Anderen‘ abgrenzen konnte. Speziell die Abgrenzung der ,Anderen‘ durch landschaftliche Diskurse gilt es dabei zu erwähnen. Es konnten unterschiedliche Landschaftsdiskurse herausgearbeitet werden, die nicht immer eindeutig voneinander abgrenzbar sind und sich häufig überlagern. An erster Stelle 593 Vgl. Courcelle 1964, 178: „La chronologie des lettres de Sidoine est trop incertaine pour que nous puissions reconstituer, année par année, les épisodes de la guerre qui s’engage; […].“ 594 Mratschek 2017, 319.

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Obscuritas in den Briefen

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ist deren Funktion als erzählerischer Hintergrund für das Hauptnarrativ zu nennen. Dabei muss aus dem Kontext des Schreibens erschlossen werden, ob die Beschreibung der Landschaft intentional mit einer weiteren Bedeutungsebene versehen war oder in der Tat einfach nur den geographischen Hintergrund für das Geschehen präsentiert. Auffällig ist, dass Sidonius die Gemütslage von sich oder von Akteuren durch den Wechsel von Jahreszeiten, Lichtverhältnissen oder dem Wetter ausdrückt. Weiterhin können in seinen Briefen landschaftliche Diskurse erkannt werden, die auf das politische Geschehen in der Auvergne hinweisen und dieses bildlich porträtieren. Dabei sind zwei unterschiedliche Arten von diskursiven Anspielungen zu erkennen. Erstens fällt der Topos der Reiseschwierigkeit auf, der in den Briefen ab Buch 2, zunehmend oft ab Buch 3 benutzt wird. Dabei stellt er – teils in übertriebener Art und Weise – zum einen die Realität der problematischen Reiseschwierigkeiten im 5. Jahrhundert dar, die aufgrund der militärischen Handlungen in den Provinzen nicht geleugnet werden dürfen, zum anderen erfüllt er je nach Kontext des Briefes ganz unterschiedliche Funktionen: z. B. als Entschuldigung für eine ausbleibende Korrespondenz; die Unmöglichkeit eines persönlichen Gespräches; als Vorwand, eine Person nicht sehen zu müssen; eine Aufforderung, trotz schwieriger Umstände aktiv zu werden; die Mühen, die eine Person auf sich genommen hat. Zweitens gilt es auf die Darstellung der Zerstörung hinzuweisen, die besonders Clermont betrifft. Obwohl diese vorwiegend im dritten und siebten Buch präsent ist, bleibt sie dem Leser der Briefe eingehend in Erinnerung. 595 Generell schafft es Sidonius, durch landschaftliche Diskurse ein zweiseitiges Bild zu kreieren, das durch Kontraste das ,Selbst‘ vom ,Anderen‘ abgrenzt. Während die aristokratische „mentalité“ durch Villen und eine ruhige, friedliche Landschaft präsentiert wird, wird das barbarische Verhalten von ,Anderen‘ mit Stürmen gleichgesetzt, die die ‚Lebenswelten‘ des ,Selbst‘ und seiner Gemeinschaften bedrohen. 596 In Sidonius’ Briefen wird sogar die die Aristokratie umgebende, kultivierte Landschaft im Verlauf der Auseinandersetzungen mit nicht-römischen Gruppierungen verwilderter und verdeutlicht zum einen, dass Sidonius diese Gruppierungen in ihrer Gesamtheit als Feinde und als Barbaren ohne Sitten und Anstand betrachtet und sie zum anderen als Gefahr für die gallo-römische Aristokratie wahrnimmt. Mit Hilfe der landschaftlichen Diskurse erzeugt Sidonius bestimmte Atmosphären in seinen Schreiben, mit denen er den Leser zu seinen Gunsten beeinflussen und von der Realität seiner detaillierten Darstellung überzeugen möchte. Dabei sind für ihn historische Daten weniger relevant als die Botschaften der Briefe an 595 Von der Zerstörung Clermonts berichten die Briefe 3,2 f.; 3,7; 7,6 f. und 7,10 f., die dabei eindeutige Parallelen aufweisen. 596 Diese Metapher wird zum Beispiel auch bei Avitus von Vienne in einem Brief an den vir illustrissimus Aurelianus, der wohl im Frankenreich ansässig war, gefunden. Der Brief mahnt den Adressaten zur Vorsicht, der sich trotz der temporariae pacis, des zeitlich begrenzten Friedens, in Hut nehmen soll. Denn die Brandung, die Wogen der Flut (aestus) bedrohen die Menschen. Sie werden mit procellis temporalibis, mit vorüberziehenden Stürmen, verglichen, welche durch unablässige Wogen der Meere die Menschen mit Unruhe bedrängen. Weiterhin spricht Avitus von den adversitates temporum, den Widrigkeiten der Zeit, und den Gefahren (discriminum), denen er und sein Adressat ausgesetzt sind. Vgl. Alc. Avit. epist. 33 (= 37 Peiper); Shanzer/Wood 2002, 324–326.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

seine Leser, die zum Erhalt von romanitas aufrufen und Beispiele für Pflichterfüllung sowie für eine Lebensweise eines vir bonus liefern.

5.3

Häresie und Arianismus

Bevor mit Sidonius Sichtweise auf Arianer, Häretiker und der Frage, inwiefern diese von ihm als barbarisch wahrgenommen und als solche präsentiert werden, fortgefahren wird, muss geklärt werden, was unter Arianern und Häretikern zu verstehen ist. Zunächst sei auf die gängige Literatur verwiesen, da vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit nicht die Geschichte des Arianismus oder ihre theologische Debatten in Vordergrund steht. Einen ersten Einblick gewährt die Einführung von Hanns C. Brennecke im Sammelband von Guido Berndt und Roland Steinacher Arianism. Roman Heresy and Barbarian Creed. 597 Einen historischen Überblick über Entstehung und Entwicklung der Glaubensrichtungen, die fälschlicherweise unter Arianismus subsumiert werden, bieten u. a. Henri-Irénée Marrou, Hanns C. Brennecke, Ralph W. Mathisen sowie Bruno Dumézil. 598 Die Forschungsgeschichte wird von Daniel H. Williams im Rahmen seiner Studien zu Ambrosius von Mailand und dem Ende des arianisch-nizänischen Konfliktes sowie von Manuel Koch in seiner Dissertation über die ethnische Identität im spanischen Westgotenreich umrissen. 599 Zu Beginn sei festgehalten, dass sich kein Anhänger einer als arianisch eingestuften Glaubensgemeinschaft selbst als Arianer bezeichnet hätte. 600 Dem liegt zugrunde, dass sich hinter dem Begriff des Arianismus mehrere Glaubensformen verbergen, die sich auf keine gemeinsame Orthodoxie beriefen. 601 Bei den größten handelt es sich um die Homöer, die Homöusianer sowie die Anhomöer oder Heterousianer (auch Neuarianer). Während das Konzil von Nicäa sich darauf geeinigt hatte, dass Gott-Vater und Sohn wesensgleich seien (ὁμοούσιος), glaubten die Homöusianer lediglich an eine Wesensähnlichkeit (ὁμοιούσιος). Die Homöer gingen zwar von einer Wesensähnlichkeit von Vater und Sohn (ὅμοιος) aus, vermieden aber die ousios-Terminologie. 602 Die Heterousianer glaubten hingegen an eine

597 Berndt/Steinacher 2014; Brennecke 2014, 1–18. 598 Dumézil 2016, 231–234; Steinacher 2016, 109–117; Mathisen 2014, 146–185; Brennecke 1988, passim. 599 Koch 2012, 72–81; Williams 1995, 1–8. 600 Mathisen 2014, 146; vgl. Brennecke 2014, 1; Williams 1995, 6. 601 Deshalb ist der Term des Arianismus mit Vorsicht zu bedienen. In dieser Arbeit wird dieser Begriff verwendet, da Sidonius mit diesem das Glaubensbekenntnis der Goten bezeichnet und ferner die Wahrnehmung des Arianismus in dessen Briefen untersucht wird. Dabei wird der Begriff jedoch lediglich dann angewandt, wenn Sidonius ihn zur Charakterisierung von Individuen oder Gemeinschaften nutzt. Andernfalls wird von ,Gegnern des nizänischen Konzils‘ die Rede sein. Zum Missbrauch des Begriffes Arianismus sei auf Barnes 1993,15 verwiesen. 602 Mathisen 2014, 146.

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Häresie und Arianismus

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unterschiedliche Wesensart (ἑτεροούσιος). 603 Dabei werden in der heutigen Forschung die Homöer und Homöusianer nicht mehr als Arianer bezeichnet, da sie, wie Brennecke festhält, eher der Hypostasten-Theologie des Origines zuzuordnen sind. 604 Zu Beginn der Streitigkeiten um die Beschaffenheit der Trinität handelte es sich um eine Debatte innerhalb der christlichen Kirche des Römischen Reiches, die auf dem Konzil von Nicäa (325  n.  Chr.) beigelegt werden sollte, durch das die Wesensgleichheit (ὁμοούσιος) von Gottvater und Gottsohn als Orthodoxie festgelegt worden war. 605 Faktisch blieb die römische Kirche gespalten, weil die Nachfolger Konstantins, primär Valens (364–378  n.  Chr.), eher Befürworter der ,Wesensähnlichkeit‘ waren. 606 Erst mit dem Konzil von Konstantinopel 381 n. Chr. wurde das nizänische Bekenntnis zur Staatsreligion und jegliche Abweichung als ,Häresie‘ definiert. 607 Jedoch wurde unter Valentinian II. 386 n. Chr. auf dem Mailändischen Konzil dem Gesetz eine Ausnahme hinzugefügt, die das homöische Bekenntnis von Rimini (359 n. Chr.) legalisierte. 608 Was bedeutet dies für die nicht-römischen Gruppierungen, die sich auf römischem Boden angesiedelt hatten? Die meisten Goten und Burgunder folgten Ulfila und dem Bekenntnis von Rimini (359 n. Chr.), besonders dann, wenn sie unter Kaiser Valens in römisches Gebiet vorgedrungen waren. 609 Manuel Koch äußert in diesem Zusammenhang für die Goten die Vermutung, dass die Übernahme des Bekenntnisses des Ulfila als eine „Assimilierung an die römische Welt zu werten“ sei. 610 Es gibt keinen Hinweis, dass 603 Zur Unterscheidung dieser Glaubensbekenntnisse siehe: Brennecke 2014, 9–15; Mathisen 2014, 146. 604 Brennecke 2008, 178. 605 Unterschiedliche Ansichten über das Wesen von Jesus Christi zu Beginn des 4.  Jahrhunderts finden sich nach Vertretern geordnet bei Pietras 2015, 12 f., 18; zum Streit zwischen Arius und Bischof Alexander von Alexandria: Pietras 2015, 13–16. Kritisch mit den Quellen und den politischen Hintergründen zum Konzil von Nicäa setzt sich Pietras 2001, 5–35 auseinander und vertritt dabei die These, dass das Konzil ursprünglich nicht des arianischen Streites wegen einberufen worden sei, sondern als politischer Akt Konstantins zu sehen sei. Vgl. Pietras 2015, 16, wo er diese These erneut aufgreift. Der Begriff ‚Orthodoxie‘ wird in dieser Arbeit für das Glaubensbekenntnis nach Nicäa, das im Konzil 381 n. Chr. staatlich anerkannt wurde, gebraucht. Ich bin mir der theologischen Debatte um die Verwendung des Begriffes bewusst. Einen guten Einblick bietet bspw. Jorgensen 2017, passim, 6: „As mental concepts with which to map the world, the twinned notions of heresy and orthodoxy are themselves historically contingent.“ Orthodoxie und Häresie sind somit als konstruierte Diskurskategorien zu betrachten, die im 5. Jahrhundert als etablierte Tradition in der literarischen Überlieferung aufgefriffen wird. 606 Kashchuk 2014, 154 weist darauf hin, dass die Anhänger der Bekenntnisse, die die Wesensähnlichkeit favorisierten, trotz der Unterstützung von Valens gespalten geblieben seien. Vgl. Chadwick 1993, 133–136. 607 Cod. Theod. 16,1,2; 16,5,6; Mathisen 2014, 147; Kahlos 2011b, 274. Die Konzilien und Ereignisse nach Nicäa finden sich zusammengefasst bei Kashchuk 2014, 148–154. 608 Cod. Theod. 16,4,1; 16,14; Mathisen 2014, 148. 609 Mathisen 2014, 148; Heather 1991, 182. Herwig Wolfram weist darauf hin, dass die Franken als einzige nicht-römische Gruppierung auf gallischem Boden direkt das nizänische Glaubensbekenntnis angenommen haben (Wolfram 1979a, 15). 610 Koch 2012, 75.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

die Ausnahme im Codex Theodosianus wieder rückgängig gemacht wurde. Das bedeutet, dass die nicht-römischen Gruppierungen im 5. Jahrhundert in Gallia ihren Glauben legal praktizierten. 611 Für das Individuum heißt dies, dass theoretisch eindeutig war, welcher christlichen Gemeinschaft er oder sie zugehörten. Es gab keinen „middle ground“, wie Ralph W. Mathisen festhält. Die alltäglichen ‚Lebenswelten‘ sahen dennoch anders aus. 612 In den gallischen Konzilsakten finden sich Einträge, dass mit Häretikern nicht gemeinsam gebetet oder gar Psalmen gesungen werden dürfen 613. Dies sind Einträge, die nur dann notwendig waren, wenn die alltägliche Realität eine andere war. 5.3.1 Häretiker und Arianer in den Briefen des Sidonius Sidonius berichtet in einem Brief an Bischof Euphronius von Augustodunum (heute Autun) beiläufig von Arianern, die in seiner Darstellung am Wahlgeschehen in Bourges, das Simplicius für sich entscheiden konnte, beteiligt gewesen seien: 614 at postquam aemulos eius nihil vidi amplius quam silere, atque eos maxume, qui fidem fovent Arianorum, neque quippiam nominato, licet necdum nostrae professionis, inlicitum opponi, animum adverti exactissimum virum posse censeri, de quo civis malus loqui, bonus tacere non posset. 615 Als ich aber sah, daß seine Konkurrenten nichts weiter taten, als den Mund zu halten, vor allem die, die den arianischen Glauben unterstützen, und daß ihm als dem erst Nominierten und auch noch nicht unserem Stand angehörenden, wirklich nichts Unerlaubtes vorgeworfen wurde, da begriff ich, daß man den für einen tadellosen Mann ansehen müsse, über den ein schlechter Bürger nicht sagen, ein guter jedoch nicht schweigen kann. 616 Sidonius erwähnt die Anwesenheit von Arianern beiläufig und in einem Kontext, der ihre Rolle im Wahlgeschehen offenlässt. Zählt er sie zu den Bürgern, spezifischer zu den civi mali der Stadt Bourges, oder zu den Konkurrenten, die ebenfalls zur Wahl standen? 617 611 Mathisen 2014, 148. 612 Mathisen 2014, 184. 613 Stat. eccl. Ant. (Canones) 93, Nr. 82: Cum haereticis neque orandum neque psallendum. „Mit Häretikern ist weder zu beten noch sind mit ihnen Psalmen zu singen.“ 614 Zu Bischof Euphronius siehe: van Waarden 2010, 380 f.; Heinzelmann 1983, 601 unter Euphronius. 615 Sidon. epist. 7,8,3. Diese Wahl wurde in Kapitel 3.1.4 bereits behandelt. 616 Übersetzung nach Köhler 2014, 217. 617 Für letztere Hypothese siehe: Sivan 1983, 145; Wolfram 1979a, 204. Van Waarden 2010, 398 weist darauf hin, dass die Bedeutung von aemulos sowohl „Gegner“ allgemein als auch speziell „Konkurrenten“ bedeuten kann und somit philologisch unklar bleibt, welche Funktion die vermeintlich ,arianischen Bürger‘ hatten.

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Häresie und Arianismus

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Wer waren die ariani? Manuel Koch erkennt, dass keine „barbarische Verbindung zu den besagten Arianern“ auszumachen ist, da Sidonius nicht darüber berichtet, ob es „sich um gotische Funktionsträger handelte“. 618 Ihm ist Recht zu geben, dass Sidonius keine gotischen Funktionäre erwähnt, allerdings ist davor zu warnen, Barbaren mit Goten und in einem zweiten Schritt mit Arianern gleichzusetzen oder die Gleichung Arianer = Gote = Barbar anzunehmen. Die von Sidonius als Arianer bezeichneten nizänischen Gegner sind in seiner Darstellung grundlegend ,Andere‘, die auf einer Stufe mit schlechten Menschen stehen. Ihre ,ethnischen‘ Identitäten müssen offenbleiben. 619 Da Sidonius sich selbst als vir bonus sieht und dieses Ideal in seinen aristokratischen Kreisen hochgehalten wurde, ist davon auszugehen, dass ein vir malus als ,Anderer‘ wahrgenommen wurde. Das falsche Bekenntnis trug seinen Anteil zu dieser Wahrnehmung bei. Diese Passage belegt weiterhin, dass die Glaubenssituation in Gallien keineswegs so homogen war, wie die Forschung lange Zeit geglaubt hatte. 620 Nichtsdestotrotz war in dieser Zeit das Christentum essenzieller Bestandteil der römischen Lebensweise. 621 Eine Karriere in der Kirche konnte als Ersatz für eine Beamtenlaufbahn gesehen werden, die für die gallischen Aristokraten nicht mehr möglich war. Somit wurde die Zugehörigkeit zur nizänischen Kirche und die öffentliche Darstellung der Gläubigkeit zu einem Faktor der romanitas. Ergo wurde der Glaube ein weiteres Abgrenzungsmerkmal, um sich von ,Anderen‘ zu unterscheiden. 622 Leider liegt von diesem Abgrenzungsprozess vorwiegend die Seite der nizänischen Christen vor, weshalb um so mehr zwischen den Zeilen gelesen werden muss, um die Funktion der Darstellung von Arianern, Häretikern und Heiden verstehen zu können. 623 Dies kann in dem Dankesbrief an Bischof Patiens im sechsten Buch der Sammlung nachvollzogen werden. 624 Im vierten Paragraphen des Schreibens kommt Sidonius

618 Koch 2012,86. Dementgegen steht Mathisen 2014, 186, der eindeutig davon ausgeht, dass Sidonius hier auf gotische Arianer verweisen würde. 619 Mathisen 2014, 186. Für Ralph W. Mathisen scheint sich nur die Möglichkeit römischer und gotischer Arianern zu bieten, wobei er sich für deren gotische Zugehörigkeit mit großer Sicherheit ausspricht, da sich der römische Arianismus sicherlich nicht so lange in Bourges hätte halten können. Nicht bedacht wird dabei die Problematik der Bezeichnung ‚Arianer‘ und welche Glaubensgemeinschaft Sidonius eigentlich meinte. Wurde die Bezeichnung als Schimpfwort für an sich nizänische Laien, Priester, Bischöfe gebraucht, die sich entgegen von manchen Traditionen verhielten? Auch wenn die Frage nach den Identitäten der als Arianer bezeichneten Männern in diesem Text an dieser Stelle ungeklärt bleiben muss, sollten mehrere Optionen und auch Funktionen während der Wahl (z. B. als Wahlbeobachter im Auftrag Eurichs) in Betracht gezogen werden können. 620 Koch 2012, 89; Mathisen 1997a, 693. 621 Siehe Kapitel 2.1 dieser Arbeit. 622 Vgl. Kahlos 2011b, 259: „In the course of the Christianization of the Roman Empire, the criteria for being a good Roman were changed. A Roman was redefined as being a Christian, and moreover, the right kind of christian.“ 623 Koch 2012, 74; Heil 2011,47. 624 Sidon. epist. 6,12.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

auf dessen Leistungen für die religiösen Gemeinschaften in Gallia zu sprechen 625 und berichtet von den Bauten von und den Erweiterungen bei Basiliken auf Veranlassung des Bischofes. Vieles habe dieser im religiösen Bereich geleistet, wobei Sidonius besonders den Kampf gegen Häretiker würdigt: cumque multa in statu fidei tuis dispositionibus augeantur, solum haereticorum numerum minui, teque quodam venatu apostolico feras Fotinianorum mentes spiritualium praedicationum cassibus implicare, atque a tuo barbaros iam sequaces, quotiens convincuntur verbo, non exire vestigio, donec eos a profundo gurgite erroris felicissimus animarum piscator extraxeris. 626 Auch selbst davon [schweige ich], dass Vieles aufgrund deiner Anordnungen den Stand des Glaubens vergrößert und allein die Zahl der Häretiker sich verringert, und auch, dass du sozusagen als ein apostolischer Fischer die wilden Gesinnungen der Fotinianer mit den Netzen deiner geistvolligen Predigten umhüllst und auch davon, dass dir die schon beweglichen Barbaren, jedes Mal wenn sie mit dem Wort Gottes überführt worden waren, nicht deine Fährte verlassen, bis du diese als gesegneter Fischer der Seelen vom tiefen Strudel der Fehler herausgezogen haben wirst. 627 Sidonius vergleicht die Missionierung von ,Anderen‘ mit dem Fischfang und greift dabei auf eine Allegorie aus der Bibel zurück, in der Jesus Simon Petrus auffordert, ihm nachzufolgen und „Menschen zu fangen“. 628 Sidonius stellt, stellvertretend durch Patiens, die Bischöfe in die Nachfolge der ersten Jünger Jesu Christi und sieht es damit als Pflicht an, Menschen, die einem anderen Glauben angehören, zu missionieren. Dies wird ebenso in seinem Nachruf auf Bischof Claudianus Mamertus deutlich, in dem er dessen Erfolg über Häretiker erwähnt: […] et verbi gladio secare sectas, / si quae catholicam fidem lacessunt. 629 Was bei Claudianus das Schwert ist, symbolisiert bei Patiens das Fischernetz. Aber die eigentliche Waffe, die gegen Häretiker zum Einsatz kommt, sind folglich die 625 Dieser hatte der arvernischen Bevölkerung in ihrer Not Nahrung zukommen lassen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Sidonius lobt in diesem Schreiben den Bischof, der nicht für sein eigenes Wohl, sondern für das Wohl von anderen Menschen lebe, wofür Sidonius im ganzen Schreiben Beispiele aufführt. Siehe Sidon. epist. 6,12,1–9. 626 Sidon. epist. 6,12,4. 627 Verbum als Wort Gottes meint hier die Predigten des Patiens. Köhler 2014, 194 übersetzt venatus als „Jagd“, was in dieser Allegorie wenig Sinn macht. Sidonius spielt an dieser Stelle auf Petrus als Menschenfischer für Jesu an, dessen Rolle in dieser Allegorie von Patiens eingenommen wird. Unter Fontianer sind die Anhänger von Photius von Sirmium gemeint, dessen Lehre dem Arianismus zugerechnet wird. 628 Lk 5,10–11: καὶ εἶπεν πρὸς τὸν Σίμωνα Ἰησοῦς μὴ φοβοῦ·ἀπὸ τοῦ νῦν ἀνθρώπους ἔσῃ ζωγρῶν καὶ καταγαγόντες τὰ πλοῖα ἐπὶ τὴν γῆν ἀφέντες πάντα ἠκολούθησαν αὐτῷ. „Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht; von nun an wirst du Menschen fangen. Und als sie die Schiffe ans Land gebracht hatten, verließen sie alles und folgten ihm nach.“ (Übersetzung Elberfelder Bibel). 629 Sidon. epist. 4,11,6, V 11 f.: „Und mit dem Schwert des Wortes durchschnitt er die Irrlehren, wenn diese den katholischen Glauben herausforderten.“

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Häresie und Arianismus

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Predigten der Bischöfe und somit das Wort Gottes, das verbum. Ralph W. Mathisen geht davon aus, dass im Gallien des 5. und 6. Jahrhunderts Kontakte zwischen Arianern und Nizänern existiert haben und ein theologischer Austausch über die Glaubenslehre nicht unüblich gewesen sei. 630 Diese beiden Schreiben des Sidonius können als Beleg für diese Überlegung herangezogen werden. Peter Gassmann weist darauf hin, dass die Missionierung von Heiden als Pflicht eines Bischofs galt und diese am Ende des 5. Jahrhunderts in Gallien als abgeschlossen zu betrachten sei. 631 Es ist anzunehmen, dass diese ,Missionierungspflicht‘ auf Häretiker allgemein übertragen wurde und die Bischöfe sich aus diesem Grund auf theologische Debatten mit Gegnern des nizänischen Bekenntnisses eingelassen hatten; Missionierungsversuche seitens der Goten sind nicht überliefert. Gleichzeitig demonstriert die Epistel an Patiens, wie Sidonius die Begriffe Häretiker, Arianer 632 und Barbaren nebeneinanderstellt und sogar die barbarische Stereotypisierung und metaphorische Darstellung auf diese überträgt. So werden die Arianer durch das Adjektiv ferus charakterisiert, das in der literarischen Tradition für die Beschreibung von Barbaren steht. Weiterhin gleicht der tiefe Strudel der Sünden, in dem sich ihre Seelen befinden, den Stürmen an Land, mit denen Barbaren in Sidonius’ Briefen metaphorisch in Zusammenhang gebracht werden. Der Autor greift bekannte Traditionen auf, um diese in neuer Art auf Häretiker und Arianer anzuwenden. 633 Dies wird weiterhin in der sechsten Epistel des siebten Buches, die an Bischofs Basilius adressiert ist, deutlich. Die Bedeutung des Christentums als elementarer Bestandteil der gallo-römischen Identitäten kommt in diesem Schreiben zum Ausdruck, in dem Sidonius die Konsequenzen des Arianismus für seine lebensweltlichen Gemeinschaften beklagt. 634 Basislius wird von Sidonius als Wahrer des Glaubens dargestellt, der seinen Gegner, einen gotischen Bürger Namens Modaharius, in einer Glaubensdebatte mit der Kraft seiner Worte und Gedanken besiegen konnte. 635 Joop van Waarden vermutet, dass es sich bei 630 Mathisen 2014, 664–695. 631 Gassmann 1977, 161. 632 Warum Sidonius an dieser Stelle von der Gemeinschaft der Fotinianer, stellvertretend für Arianer, spricht, bleibt unklar. Eventuell war einer der ,Gegner‘ des Patiens in theologischen Debatten Angehöriger dieser Gemeinschaft. Dies ist jedoch lediglich eine Vermutung, die nicht belegt werden kann. 633 Dabei wird nicht behauptet, dass Sidonius der erste spätantike Autor wäre, der dies tut. Das Argument bleibt jedoch: Im 5. Jahrhundert kann in Gallien von einer „Erfindung“ von Traditionen gesprochen werden, die der Formierungen neuer Identitäten dienen soll. 634 Sidon. epist. 7,6. Für Bischof Basilius siehe: van Waarden 2010, 273 f.; Mathisen 1982, 368; Heinzelmann 1983, 570 unter Basilius. Der Brief wird in Kapitel 6.2 zu Eurich erneut behandelt werden, weshalb hier lediglich der zweite Teil des Schreibens diskutiert wird. Für die Unterteilung des Briefes siehe ebenfalls: Kapitel 6.2.1; für die Darstellung Eurichs als mögliche Kontingenzbewältigung des Sidonius siehe: Egetenmeyr 2021b; zum historischen Hintergrund siehe bspw.: Meier 3 2020, 580 f.; Delaplace 2015, 253–256; Kaufmann 1995, 129 f.; Wood 1992, 12 f.; Gillet 1999, 25 f.; Stroheker 1970, 82. 635 Sidon. epist. 7,6,2: […] qui viderim Modaharium, civem Gothum, haereseos Arianae iacula vibrantem quo tu spiritalium testimoniorum mucrone confoderis […] „[…] Ich, der ich beobachtet habe, wie du Modaharius, einen gotischen Bürger, der die Speere der arianischen Häresie schwang, mit dem

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Modaharius um eine in Gallien bekanntere Person gehandelt haben muss, da Sidonius einen konkreten Namen nennt. Glaubensdebatten unterschiedlicher christlicher Fraktionen waren in der Tat keine Seltenheit, 636 weshalb van Waardens Ansicht, dass Sidonius auf eine reale Debatte zwischen Basilius und Modaharius anspiele, zuzustimmen ist.  637 Die arianischen Goten werden in der Epistel nicht nur metaphorisch als Barbaren präsentiert, sondern als gewalttätige ,Andere‘, die als Feinde betrachtet und bekämpft werden müssen, wie es Basilius es tat. Die ,Anderen‘, in diesem Fall konkret Modaharius, bleiben ohne Stimme. 638 Ferner wird offenbart, dass Sidonius in seinen Werken haeresis beziehungsweise arianos als Synonyme zum Barbarenbegriff verwenden kann. 639 Zu Beginn der narratio, die erst im siebten Paragraph des Briefes beginnt, äußerst er sich über die unbesetzten Bischofsstühle in Gallia, was die Gemeinden verzweifeln lasse. 640 Dies untermalt Sidonius im Anschluss durch die Beschreibung einer trostlosen Landschaft: nulla in desolatis cura dioecesibus parochiisque. videas in ecclesiis aut putres culminum lapsus aut valvarum cardinibus avulsis basilicarum aditus hispidorum veprium fruticibus obstructos. ipsa, pro dolor, videas armenta non modo semipatentibus iacere vestibulis sed etiam herbosa viridantium altarium latera depasci. sed iam nec per rusticas solum solitudo parochias: ipsa insuper urbanarum ecclesiarum conventicula rarescunt. 641 Es gibt keine Fürsorge in den verlassenen Diözesen und Pfarreien. Du kannst in den Kirchen das Einstürzen verfallener Dächer oder die von Dornbüschen versperrten Zugänge der Basiliken sehen, deren Türen samt den Türangeln herausgerissenen worden sind. Du kannst sogar, wie schrecklich, Rinder erblicken, die nicht nur in den halb offenstehenden Vorhallen liegen, sondern sogar die grasreichen Flächen der Altäre abweiden. Aber schon sind nicht mehr nur ländliche Pfarreien von Vereinsamung betroffen; darüber hinaus nehmen selbst die Versammlungen der städtischen Kirchen ab. Ähnlich wie auf die Städte wird die Wild- und Rauheit der Goten von Sidonius auf Kirchengebäude übertragen, wobei das Schreiben bestimmte Wiederholungen

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Schwert deiner geistlichen Zeugnisse durchbohrt hast.“ Sidonius charakterisiert den Arianismus in diesem Schreiben eindeutig als häretisch und stellt die Lage der der katholischen Kirche als bedroht dar. In der zu Beginn dieses Unterkapitels zitierten Epistel an Euphronius sprach Sidonius hingegen neutraler und nach Joop van Waarden weniger gebräuchlich von fides […] Arrianorum. Siehe van Waarden 2010, 285, 398 f. Mathisen 2014, 174, siehe auch: 172–177. Heil 2014, 279; van Waarden 2010, 284. Vgl. Spivak 2013. Wood 2011, 49 f.; Pohl 2008, 99. Letzterer weist auf die stereotypisierte Verwendung in Zusammenhang mit den Konflikten im 5. Jahrhundert in Gallia hin. Sidon. epist. 7,6,7; Amory 1994, 439. Sidon. epist. 7,6,8.

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desjenigen an Mamertus aufgreift: 642 Während dort die Palisadenzäune mit dem Adjektiv putris beschrieben werden, wird dieses von Sidonius hier genutzt, um den Zustand der Kirchendächer, die vom Zerfall bedroht sind, zu veranschaulichen. In Epistel  7,1 wird das Eindringen wilder Tiere durch Hirsche in die Stadt beschrieben und im Schreiben an Basilius weiden Rinder in den Vestibülen und auf den Altären der vereinsamten Gotteshäuser. Die im ersten Schreiben dieses Buches eingeleitete verwilderte Landschaft wird damit fortgesetzt. Parallel zur gotischen Expansion scheint sich die Landschaft zu verändern und sich die Wildheit derselben auszubreiten. Dabei stehen die Landschaften in diesem Schreiben nicht nur als Alteritätsmerkmal der Wildheit von Barbaren, sondern drücken ihre ,Andersheit‘ aufgrund ihres Glaubens aus. Sidonius befürchtet, dass sich der Arianismus unter Eurich ausbreiten könnte. Abschnitt 9, der die petitio einleitet, beginnt mit zwei rhetorischen Fragen, die eine Überleitung zur Ansprache an Basilius bilden: quid enim fidelibus solacii superest, quando clericalis non modo disciplina verum etiam memoria perit? 643 Was nämlich bleibt den Gläubigen als Trost übrig, wenn nicht nur die priesterliche Lehre, sondern sogar die Erinnerung an diese verloren geht? Als Antwort auf diese Frage folgert Sidonius, dass es keinen Trost mehr gebe: […] in illa ecclesia sacerdotium moritur, non sacerdos. („[…]  in jener Kirche stirbt das Priestertum, nicht der Priester.“) Zusammen mit dem Tod eines nachfolgelosen Priesters sterbe das Priesteramt der katholischen Kirche. 644 Diese Aussage leitet zur nächsten rhetorischen Frage über, der Frage nach der bleibenden Hoffnung: atque ita quid spei restare pronunties, ubi facit terminus hominis finem religionis? 645 Und was würdest du sagen, welche Hoffnung würde übrigbleiben, wenn das Ende eines Menschen das Ende der Religion bedeutet? Parallel zur vorherigen Antwort, dass nicht der Priester, sondern das ganze Priestertum sterbe, führt Sidonius sein Gegenüber zur logischen Folgerung, dass keine Hoffnung bleibe. Dabei ist der zweite Teil der zweiten rhetorischen Frage in exakt umgekehrter Reihenfolge zur vorhergehenden Antwort angeordnet worden, um die Parallele und die Konsequenzen zu verdeutlichen. 646 Sidonius drückt sich dramatisch aus, was durch die 642 Vgl. Sidon. epist. 7,1. Dieser Brief wurde im Kapitel 5.1.3 dieser Arbeit besprochen. 643 Sidon. epist. 7,6,9. Van Waarden 2010, 323: clericalis … disciplina ist wiederum ein Sidonius’scher Neologismus. Traditionell würde disciplina ecclesiastica erwartet werden. 644 Sidon. epist. 7,6,9. 645 Sidon. epist. 7,6,9. 646 Van Waarden 2010, 325.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

Verwendung von Terminologien aus dem Wortfeld von Untergang und Tod deutlich wird. 647 Denn das Priestersterben würde einen Abfall der Gläubigen zur Folge haben und dies wiederum den Untergang der katholischen Kirche in Gallien bedeuten. Der landschaftliche Diskurs drückt nicht nur die Andersartigkeit der Goten durch den Arianismus aus, sondern soll primär den bevorstehenden Untergang der Kirche in Gallia vor Augen führen, wenn Basilius und die anderen Bischöfe nicht handelten: altius inspicite spiritalium damna membrorum: profecto intellegetis, quanti surripiuntur 648 episcopi, tantorum vobis populorum fidem periclitaturam. 649 Betrachte doch genauer den Verlust von Glaubensmitgliedern: Tatsächlich werdet ihr erkennen, dass, nachdem so viele Bischöfe entfernt werden, auch der Glauben eurer Gemeinden in Gefahr sein wird. Sidonius hofft, Basilius möge erkennen und primär in den Verhandlungen betonen, dass die Bischöfe zentral sind, um den Glauben in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, und deren „Verlust“ dramatische Konsequenzen für die christlich-katholischen Gemeinden in dem von Visigoten besetzten Gallia haben wird. Das Futur, das verwendet wird, impliziert, dass Basilius noch handeln und die gefährliche Situation für Bischöfe und Gemeindemitglieder verhindert werden könne. Mit exempla von exilierten Bischöfen am Ende des Abschnittes vergrößert Sidonius das Gewicht seiner Aussage: 650 tu sacratissimorum pontificum, Leontii Fausti Graeci, urbe ordine caritate medius inveniris; per vos mala foederum currunt, per vos regni utriusque pacta condicionesque portantur. agite, quatenus haec sit amicitiae concordia principalis, ut episcopali ordinatione permissa populos Galliarum, quos limes Gothicae sortis incluserit, teneamus ex fide, etsi non tenemus ex foedere. 651 Du befindest dich aufgrund deiner Stadt, deines Ranges und deiner Nächstenliebe unter den hochheiligsten Bischöfen Leontius, Faustus und Graecus; über euch laufen die Übel der Friedensverträge, durch euch werden die Abmachungen und Bedingungen der beiden Reiche getragen. Lasst dies die wichtigste Einigkeit des Bündnisses sein, dass wir durch die Erlaubnis der Ordination von Bischöfen die Gemeinden Gallias, die von den Grenzen des gotischen Gebietes eingeschlossen 647 Van Waarden 2010, 323 nennt als Beispiele perit, defungitur, moritur, terminus, finem, periclitaturam. Dies würde die Dramatik und den Ernst der Situation besser auf den Punkt bringen. 648 Es wurde der Leseart der Textzeugen M gefolgt, die nach Ansicht von van Waarden 2010, 326 als die wahrscheinlichste Lesung anzusehen ist. 649 Sidon. epist. 7,6,9. 650 Vgl. Egetenmeyr 2021b, 145 f.; van Waarden 2010, 328f. 651 Sidon. epist. 7,6,10. Van Waarden 2010, 330 bezeichnet die Position des Basilius unter den anderen genannten Bischöfen als „Schlüsselposition“.

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worden sind, aufgrund des Glaubens behalten, wenn auch nicht aufgrund des Vertrages. Die petitio, die Sidonius am Ende des Briefes vorbringt, betrifft nicht die herrschaftlichen Verluste der Auvergne an Eurich und seine Visigoten, sondern bezieht sich allein auf das Recht, zukünftig Bischöfe zu wählen und einzusetzen. Die Desintegration des Römischen Reiches in Gallien scheint nicht mehr aufhaltbar zu sein, weshalb Sidonius seine Hoffnung auf die bischöflichen ‚Lebenswelten‘ zum Erhalt von romanitas legt. Er appelliert an den Helden Basilius, wie er ihn zu Beginn des Briefes in der Auseinandersetzung um Modaharius dargestellt hat, für diese gemeinschaftliche ‚Lebenswelt‘ einzustehen. Denn Basilius trägt gemeinsam mit Leontius, Faustus und Graecus die Verantwortung über die Zukunft der Auvergne, wie die Wiederholung von per vos, das dadurch betont wird, andeutet. Die vielen Vorahnungen und Zukunftsvisionen deuten darauf hin – ganz ähnlich wie in seiner Darstellung des Arvandus-Prozesses –, dass Sidonius bereits wusste, was passieren würde. 652 Dies ist meines Erachtens ein deutliches Zeichen dafür, dass er den Brief nach den Ereignissen mindestens überarbeitet, wenn nicht gar komplett verfasst hat. 653 Ferner bringt er seine Haltung gegenüber dem Vertrag von 475 mit der Bezeichnung mala sehr deutlich zum Ausdruck. 654 In diesem Schreiben vereinigen sich also mehrere Diskurse, die Sidonius als Instrument einer Überzeugungsstrategie einsetzt, um seinem Leser die Situation der Bischöfe und der Kirche in Gallia unter Eurich zu beschreiben. Er nimmt diesen aber auch für die Zukunft – worauf die häufige Verwendung des Futurs in der petitio hindeutet – in die Verantwortung, für die Erhaltung des Glaubens zu sorgen. Sidonius berichtet nicht ausschließlich von der Zeit um 475, als die Verträge mit den Visigoten geschlossen wurden, sondern spricht meines Erachtens neben Basilius – ganz direkt mit per vos –die Leser an, den Glauben als Teil einer gallo-römisch-aristokratischen Identität zu erhalten. Die landschaftliche Darstellung von Zerfall und Verwilderung untermalt die düstere Stimmung, die Sidonius im Brief evozieren wollte. 655 In der Vergangenheit wurde dieses Schreiben oftmals als Beweis gesehen, dass die katholische Kirche von Eurich bedroht

652 Van Waarden 2010, 333. Er weist darauf hin, dann der Sarkasmus ex fide – ex foedere eine Anspielung von Sidonius sei, den Ausgang des Vertrages bereits zu kennen. 653 Siehe hierfür: Egetenmeyr 2021b. 654 Für die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten für mala foederum siehe: van Waarden 2010, 330. Heil 2014, 280 interpretiert den Brief als Versuch seitens Sidonius, die bischöfliche Delegation vom Abschluss des Friedensvertrages abzuhalten. 655 Joop van Waarden fasst die Interpretation dieses Schreibens folgendermaßen zusammen (van Waarden 2010, 272): „The reader is shown the bleak landscape of Gaul, plagued by Arian heresy, deprived of its spiritual leaders, its places of worship overgrown with moss and thorns, its people losing their grip and their faith. The backbone of society is affected: the towns themselves are demoralized. Death and despair reign supreme.“

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

und ihre Anhänger verfolgt wurden. 656 Die früheste Quelle, welche diese Thematik aufgreift, ist Gregor von Tours: Huius temporis et Euarix rex Gothorum, excidens Hispanum limitem, gravem in Galliis super christianis intulit persecutionem. […] Extat hodieque et pro ac causa ad Basilium episcopum nobilis Sidoni ipsius epistola, quae haec ita loquitur. 657 In dieser Zeit begann auch Eurich, der König der Goten, während er die spanische Grenze verwüstete, in Gallien eine schwere Verfolgung der Christen. […] Und dies steht noch heute fest aufgrund und durch einen Brief des noblen Sidonius an Bischof Basilius, der dieses so berichtet. Gregor von Tours verweist namentlich auf seine Quelle: die Briefe des Sidonius. Karl F. Stroheker stellt fest, dass es wohl zu einem Niedergang der nizänischen Orthodoxie in Gallien im 5.  Jahrhundert gekommen sei, Eurich daran aber nicht die Schuld trage. 658 Weiterhin weist er darauf hin, dass Eurich nicht so barbarisch gegenüber den Bischöfen gehandelt habe, wie Sidonius schildert. Denn dieser, obwohl er selbst den Hauptwiderstand gegen Eurich angeführt und nach dem Vertragsschluss noch gegen diesen gewettert habe, sei nur kurzzeitig im Exil gewesen, das ihm zudem recht annehmlich gestaltet worden sei und aus dem er bald habe zurückkehren dürfen. 659 Ralph W. Mathisen sieht in den Maßnahmen Eurichs, ähnlich wie Karl F. Stroheker, eher einen Angriff auf die lokale Führungselite der Kirche, als auf die Kirche und die nizänischen Christen an sich. 660 Frank Kaufmann ist ebenfalls der Meinung, dass die Maßnahmen Eurichs gegen Bischöfe wie Sidonius politischer Natur waren und es unter gotischer Herrschaft keine

656 Gassmann 1977, 213 mit Beispielen; siehe Schäferdiek 1967, 27–30, 24: „Die von Sidonius beschriebenen kirchlichen Verhältnisse müssen demnach schon eingeschätzt werden als Folgeerscheinung eines umfassenden königlichen Vorgehens und können nicht nur als das Ergebnis eine Summe von Einzelmaßnahmen gegen punktuelle Manifestationen ideologisch-politischen Widerstandes aufgefaßt werden.“ 657 Greg. Tur. HF 2,25. Fischer 1948, 142 glaubt dem Brief des Sidonius und geht davon aus, dass unter Eurich eine „schmerzliche Einschnürung der katholischen Kirche“ erfolgte. Allerdings ist der Text von Joseph Fischer seines historischen Hintergrundes wegen besonders kritisch zu betrachten. Er versucht am Ende zu beweisen, dass Sidonius die germanischen Stämme grundsätzlich ablehnte und dem Dichter „der Sinn für Politik mangelte“. 658 Stroheker 1937, 56 f. Der Autor führt den geistig-christlichen Niedergang auf die Politisierung des Episkopats zurück. Anders hingegen Pierre Courcelle, der den Darstellungen von Sidonius und Gregors von Tours folgt und von einem Impakt des arianischen Kultes auf die kirchliche Situation ausgeht (Courcelle 1964, 178). 659 Stroheker 1937, 59 f.: „Wie wenig die Legende vom ,persecutor‘ Eurich die Wahrheit trifft, zeigt wohl am besten die Tatsache, daß sein Reich am Ende seiner Regierung zur Zufluchtsstätte für verfolgte Katholiken wird.“ (60). 660 Mathisen 2014, 184; Mathisen 1993, 32–34.

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Zwangsbekehrungen gegeben habe. Weiterhin führt er an, dass der Glaube kein Ausschlusskriterium für gallo-römische Beamte in gotischen Diensten bildete. 661 5.3.2 Zwischenfazit zur Darstellung von Häretikern und Arianern Der häretische Aspekt wurde in den Briefen des Sidonius nicht nur als ein Merkmal von ,Anderen‘ stilisiert, sondern er wurde speziell als barbarisches Merkmal generiert, um Mitglieder seiner eigenen Gemeinschaften als herausragende Persönlichkeiten darzustellen. Dabei werden Arianer in der Wahrnehmung des Sidonius nicht schlechter dargestellt als Juden oder Heiden. 662 Im Vergleich mit Avitus tritt der arianische Gesichtspunkt bei Sidonius nur selten zutage, bleibt sogar unkommentiert (z. B. in der Darstellung von Theoderich II. 663) und wird erst dann zur bewussten Abgrenzung von ,Anderen‘ herangezogen, wenn er im Konflikt mit der römisch-aristokratischen Lebens- und Denkweise steht, wie im Fall des Schreibens an Graecus. 664 Auffällig ist, dass Sidonius bekannte Stereotype, Metaphern und Topoi, die zur Beschreibung von Barbaren dienten, auf Häretiker überträgt und diese dadurch nicht nur zum ,Anderen‘, sondern in der Tat zum ,barbarischen Anderen‘ werden, wenn es dem Kontext des Briefes und seiner Argumentation dienlich ist. Es wird daher Pierre Courcelle widersprochen, der davon ausging, dass Sidonius mit derselben Passion wie für die römische Sache für den katholischen Glauben eintrat und als einzigen Feind den arianischen Verfolger gesehen habe. 665 Sidonius instrumentalisierte den arianischen Gesichtspunkt von ,Anderen‘ in derselben Weise wie er Barbarenbilder im Generellen als Argument nutzte, um den Leser im Prozess der Meinungsbildung unterschwellig zu beeinflussen. 666 Er schildert seine Wahrnehmung von Häretikern und grenzt sich selbst von ihnen ab. Er demonstriert damit seine Ansicht, dass sich seine eigenen ‚Lebenswelten‘ und die seiner aristokratischen Kreise von denen der Häretiker abgrenzen, was im alltäglichen Leben nicht der Fall war. 667 Auffällig ist, dass das ,arianische‘ Bekenntnis der Goten für Sidonius erst unter Eurich relevant wurde. 668 Weiterhin bezeugt die Tatsache, dass Sidonius, der dieses Bekenntnis pauschal als arianisch bezeichnet und in seinen Briefen keine weitere Differenzierung vornimmt, 661 Kaufmann 1995, 208 f. Als Beispiel eines Katholiken am westgotischen Hof nennt er Victorius, von dem sogar Sidonius in epist. 7,12,2 berichtet. Der These von Frank Kaufmann schließt sich Koch 2012, 91 an. 662 Zu Juden vgl.: Sidon. epist. 3,4,1; 6,11,1; 8,13,3; zu Heiden: Sidon. epist. 3,12, V 16; 8,6,15. 663 Sidon. epist. 1,2; siehe auch Kapitel 6.1 dieser Arbeit. 664 Sidon. epist. 7,6. Wood 2013, 2. 665 Courcelle 1964, 177: „Évêque de Clermont, Sidoine confond dans un même amour la cause romaine et la cause catholique; l’unique ennemie devient l’Arien persécuteur.“ 666 Vgl. Amory 1994, 442: „[…]  these lettered bishops could manipulate the rhetoric of ethnicity, emphasizing either the ferocity or the heathenism of barbarians, fur purposes of their own.“ 667 Koch 2012, 89. Dies ist meiner Meinung nach schon allein der Tatsache geschuldet, dass der arianischen nizänischen Glauben wohl schwerlich am Aussehen einer Person abgeleitet werden kann. 668 Claude 1970, 48.

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Die ‚barbarischen Anderen‘ in den Briefen des Sidonius

den Arianismus als Spiegel gotischer Alterität verwendet. Dabei ist der Glaube primär als ein weiteres Kriterium, neben Sprache, Bildung, Aussehen, Kleidung und Verhalten, zu betrachten, mit denen er in erster Linie ,Andere‘ allgemein und weiterführend Barbaren an sich darstellt. Im Fall der Goten war die Kenntnis um deren Arianismus allgemein bekannt und Sidonius konnte ihn, wenn er seinen Standpunkt zusätzlich untermauern wollte, zu seinem Vorteil einsetzen. Durch die Übertragung klassisch-barbarischer Klischees auf Häretiker und im Fall des Sidonius ganz speziell auf arianische Goten wird ein traditionelles Bild auf eine relativ ,neue‘ Form von Alterität übertragen, was durch Wiederholungen dazu führte, dass Häretiker mit Barbaren in Verbindung gebracht wurden. 669

669 Siehe Amory 1994, 444: Die Gleichung barbarisch  =  heidnisch, die auf häretisch ausgeweitet werden kann, wurde in den Dekaden nach Augustinus im Gedankengut westlicher Christianität verankert. Siehe hierzu auch: Kapitel 1.5.

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6. Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘ Der bisherige Fokus der Arbeit lag auf Sidonius’ Wahrnehmung von barbarischen Gruppen und deren eher stereotypisierte Darstellung in seinen Briefen. Im Folgenden werde ich untersuchen, wie Sidonius einzelne Persönlichkeiten, die in der modernen Forschung als nicht-römisch beziehungsweise als Barbaren klassifiziert wurden, darstellt. Dabei gehe ich der Frage nach, ob Sidonius’ Darstellungen von Individuen gegenüber seinen Beschreibungen von Gruppierungen differenziert betrachtet werden müssen und, wenn ja, warum. Aus diesem Grund muss analysiert werden, inwiefern und unter welchen Umständen Sidonius die Kategorie des Barbarischen bei einzelnen Persönlichkeiten anwendet. Besonders spannend verhält sich diese Untersuchung, wenn nicht augenscheinlich ,Andere‘ (also nicht-römischer Herkunft), sondern Menschen von Sidonius als barbarisch charakterisiert werden, die wir aus moderner Perspektive als Mitglieder gallorömischer Eliten (aristokratisch, militärisch oder klerikal) bezeichnen würden. Abschließend wird Sidonius’ Schilderung von Personen nicht-römischer Herkunft der Beschreibung einzelner gallo-römischer Aristokraten gegenübergestellt, deren Verhalten von der traditionellen aristokratischen „mentalité“ abweicht. Während die Barbaren als ihm unbekannte Masse von Personen, quasi als Fremde, in seinen Briefen barbarisch bleiben, räumt Sidonius einzelnen Menschen die Chance ein, sich zu ändern. Denn wenn er ein individuelles Gegenüber beurteilt, steht für ihn die Beschaffenheit der Seele an erster Stelle: nam illud, sicuti ego censeo, qui animum tuum membris duco potiorem, non habet aequalitatem, quod statum nostrum supra pecudes veri falsique nescias ratiocinatio animae intellectualis evexit […]. 1 Denn jenes wie ich glaube, ich, der deine Seele als höherwertig als deinen Körper erachtet, besitzt nicht die gleiche Beschaffenheit, weil nämlich das Denken unseres logischen Verstandes unser Wesen über die Tiere, die nicht in der Lage sind, richtig von falsch zu verstehen, erhoben hat […]. Sidonius spricht hier Philagrius als Empfänger des Briefes an, der zwar ein ,Anderer‘ ist, aber durch Gemeinsamkeiten, die Sidonius in seinem Schreiben ausführlich erörtert, als Teil der eigenen ‚Lebenswelten‘ wahrgenommen wird. Sidonius lässt den Leser am 1 Sidon. epist. 7,14,4.; Der Brief wurde detailliert in Kapitel 5.1.1 dieser Arbeit besprochen. Ein Kommentar mit detaillierten Hintergrundinformationen und Interpretation liegt von van Waarden 2016, 105–167 vor.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Prozess der Urteilsfindung teilhaben. Er bietet somit ein konkretes Beispiel, wie bei der Beurteilung einer Person vorzugehen ist. Er erklärt, dass Personen aufgrund ihrer Fähigkeit, logisch zu denken, in der Lage seien, richtig von falsch zu unterscheiden, und infolgedessen Tieren überlegen seien. Er selbst schätze die Seele eines Menschen und nicht den Körper. Folglich beurteilt Sidonius einen Menschen nach seiner Seele und nicht nach seinem äußeren Erscheinungsbild. Es ist zu prüfen, ob dies nur für Mitglieder seiner Innengruppe gilt, also für Menschen, die an seinen ‚Lebenswelten‘ teilhaben, oder ob seine Ansicht auf nicht-römische Individuen übertragbar ist.

6.1 Sidonius’ Porträt Theoderichs II. Theoderich II. war ein gotischer ,Warlord‘, der es durch einen foedus mit dem Römischen Reich geschafft hatte, seine eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen und den gotischen Machtbereich auszubauen. Seine Herrschaft bildete die Grundlage für weitere Expansionen unter seinen Nachfolgern. 2 Die einzige ausführliche zeitgenössische Quelle zu seiner Person bildet das Porträt, das Sidonius in einem Schreiben an seinen Schwager Agricola entwirft. 3 Bemerkungen zu Theoderich II. in den Chroniken, die sich mit dieser Zeit befassen, weisen zwar auf politische und militärische Ereignisse hin, erlauben aber keine Rückschlüsse auf dessen Persönlichkeit. Weiterhin sind die Informationen dort sehr knappgehalten und müssen aufgrund ihrer zeitlichen Differenz kritisch hinterfragt werden. 4 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wieso Sidonius der Schilderung Theoderichs II. einen eigenen Brief widmet. Ohne Zweifel besteht zwischen dem Porträt des gotischen Anführers und Sidonius’ Intention ein Zusammenhang, dem nachgegangen werden muss. Die Schilderung ist die erste erhaltene Beschreibung eines nicht-römischen Herrschers, der von der Forschung als Barbar klassifiziert wurde, und so detaillierte Einblicke in das Privatleben desselben bietet. 5 Obwohl die Methode der Darstellung als traditionell zu erachten ist, stellt der Inhalt eine Innovation dar. 6

2 Zu Theoderich II. siehe bspw.: Delaplace 2015, 213–219, 225–239; Sivan 1989, 85–94; Rouche 1979, 27–35. 3 Harries 1996, 36; Kaufmann 1995, 108; Stevens 1933, 23. 4 Beispielsweise Isid. Goth. chron. II 30–33 5 Gosserez 2010, 129; Reydellet 1981, 49. 6 Vgl. Wickham 2005, 80. Diese ,Innovation‘ wurde selbst zu einer Tradition. Es finden sich Beschreibungen nicht-römischer Herrscher bei Ennodius von Pavia und Cassiodor (beide zu Theoderich dem Großen) sowie bei Florentinus über den vandalischen Anführer Thrasamund und bei Venantius Fortunatus über Chilperich.

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Sidonius’ Porträt Theoderichs II.

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6.1.1 Theoderich II. in Sidonius’ Brief an Agricola Der zweite Brief des ersten Buches, der die Schilderung Theoderichs II. enthält, beginnt mit einer kurzen Einleitung, die den Anlass nennt und sowohl den Adressaten als auch die zu beschreibende Person würdigt. 7 Am Ende des Briefes wird parallel dazu ein bündiger Epilog mit Abschiedsformel verfasst. Dazwischen befindet sich die narratio –  die in zwei Bereiche unterteilbare Beschreibung des gotischen Anführers. 8 Der erste wesentlich kürzere Teil umfasst die Absätze 2 bis 4 und ist der physiognomischen Deskription Theoderichs II. gewidmet. Daran schließt sich in den Absätzen 4 bis 10 der Tagesablauf an, der dem natürlichen Verlauf der Zeit vom Aufgang der Sonne bis zur Nachtruhe folgt. Im Folgenden werden nun die einzelnen Abschnitte des Briefes näher betrachtet, wobei v. a. der Kommentar und die Übersetzung von Helga Köhler herangezogen und angepasst wurden. 9 In der captatio des Briefes werden von Sidonius zwei Dinge hervorgehoben. Zum Ersten sei die nachfolgende Beschreibung keine ausgefeilte Biographie, sondern eine briefliche Beschreibung einer bestimmten Person, die der mehrmaligen Aufforderung des Adressaten Agricola nachkomme. Zum Zweiten sei nicht irgendein unwichtiger Mensch Gegenstand der Schilderung, sondern ein rex Gothorum, der noch dazu über civilitas verfüge: Saepenumero postulavisti ut, quia Theodorici regis Gothorum commendat populis fama civilitatem, litteris tibi formae suae quantitas, vitae qualitas significaretur. […] igitur vir est et illis dignus agnosci, qui eum minus familiariter intuentur: ita personam suam deus arbiter et ratio naturae consummatae felicitatis dote sociata cumulaverunt; mores autem huiuscemodi sunt, ut laudibus eorum nihil ne regni quidem defrudet invidia. 10 7 Kaufmann 1995, 115. Zur Stilistik des Briefes siehe: Amherdt 2001, 47‒56; Köhler 1995, 123 f. Der Brief unterscheidet sich stilistisch nicht von den anderen Briefen des Sidonius. Häufige asyndetische Aufzählungen fallen bei der Lektüre ebenso auf wie die Verwendung antithetischer Strukturen. Weiterhin greift Sidonius auf griechisches Fachvokabular zurück, um die Tafel Theoderichs II. zu beschreiben. Der Satzbau in der narratio des Briefes ist kurz gehalten. Auf eine Wiedergabe des gesamten Wortlautes wird im Textteil dieser Arbeit verzichtet. 8 Köhler 1995, 123. 9 Es ist anzumerken, dass dies einer der am meisten interpretierten Briefe für Sidonius’ Barbarenbild ist, bspw.: Pohl im Druck; Egetenmeyr 2021a, 156 f.; 2019, 176; Mratschek 2020, 234; Hanaghan 2019, 95 f., 101–103; Furbetta 2014/2015, 137–145; Gosserez 2010, 128–132; von Rummel 2007, 107, 146, 167, 170; Gualandri 2000, 107–110; Köhler 1998; Kaufmann 1995, 107–117; Mathisen 1993, 48, 70; Reydellet 1981, 49, 70–77. Gegen Reydellets Auffassung des Theoderichbildes als Propagandaschrift (Reydellet 1981, 72) interpretiert Staubach 1983, 10–17 die Epistel vor dem Hintergrund gattungsspezifischer Konventionen der antiken Biographie und nicht als Antithese zu Eurich; siehe auch: Courcelle 1964, 166–168. Ferner kann das Schreiben kein Wissenschaftler ignorieren, wenn die römisch-gotischen Beziehungen im 5. Jahrhundert untersucht werden; siehe u. a.: Kulikowski 2020, 206; 2008, 349; Hess 2019, 80; Wolfram 2018, 247–251; Castellanos 2015, 395  f.; Heather 2006, 380–382; Barnwell 1992, 72–74; Sivan 1989; 1983, 104–106. 10 Sidon. epist. 1,2,1.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Viele Male hast Du gedrängt, dass man Dir, weil über die civilitas Theoderichs, des Anführers der Goten unter den Leuten viel Gutes gesprochen wird, in einem Brief eine Beschreibung der Größe seiner Erscheinung, der Art seiner Lebensführung gebe. […] Dieser Mann ist würdig, auch von denen anerkannt zu werden, von denen er weniger freundlich betrachtet wird: Von der Art ist seine Persönlichkeit, da Gott der Richter und die Vernunft der Natur durch ein vereintes Geschenk die Vollkommenheit des Erfolgs angesammelt haben; aber auch seine Manieren sind so beschaffen, dass nicht einmal die Eifersucht auf seine Herrschaft ihr Lob beeinflussen kann. 11 Wie das fünfte Kapitel dieser Arbeit gezeigt hat, ist civilitas keine Eigenschaft, die bei der Charakterisierung eines Barbaren erwartet werden würde. Da gotische foederati in den Briefen des Sidonius sowie in zeitlich vorausgehenden Zeugnissen (z. B. Ammianus Marcellinus) als barbarisch klassifiziert werden, ist der Leser aufgrund dieses Barbarenbildes voreingenommen. Umso mehr wird dieser durch die civilitas, die zu Theoderich II. in gesperrter Position steht, überrascht. 12 Für Marc Reydellet bedeutet civilitas, dass Theoderich  II. das römische Recht respektiert habe und allein diese Bereitschaft ihn zur „Bürgerschaft“ führe. Obwohl diese Interpretation zu weit führt, ist Reydellet insofern Recht zu geben, als dass Theoderich  II. durch seine civilitas nicht mehr als Fremder erscheint, sondern als ein Kriegsherr und Anführer, der romanitas anstrebt. 13 Die Kennzeichnung Theoderichs II. in der captatio des Briefes als ein Mann mit civilitas demonstriert dem Leser von Beginn an, dass dieser kein gewöhnlicher Barbar ist, und weist indirekt auf dessen römische Erziehung durch Avitus hin. Denn nur jemand, der über Bildung verfügt, kann nach Auffassung des Sidonius über civilitas, im Sinne von kultureller und sozialer Zivilisiertheit, verfügen. Durch die parallel verwendete Paronomasie von formae suae quantitas und vitae qualitas bringt Sidonius den Inhalt des Briefes auf den Punkt: Aussehen und Lebensweise des Herrschers. Gleichzeitig betont er den gattungstechnischen Rahmen der Beschreibung (die Briefform), was als Hinweis auf den Topos der brevitas, die in der Epistolographie üblich war, zu verstehen ist. 14 Der nächste Begriff, den Sidonius zur Charakterisierung Theoderichs II. verwendet, ist dignus, womit die Begründung für die Beschreibung erfolgt. Er beschreibt ihn, weil dieser würdig sei, dargestellt und gekannt zu werden ‒ auch von Personen, die ihm nicht so nah stehen. 15 11 Übersetzung nach Köhler 2014, 5. 12 Köhler 1995, 124. 13 Reydellet 1981, 71, 74. Gualandri 2000, 109 sieht ebenfalls durch den Schlüsselbegriff civilitas die Darstellung des Herrschers als römischer Bürger. Fascione 2019, 60 f. verweist auf die Darstellung Trajans als civilis und der Fähigkeit eines Herrschers, sich als Privatmann und einfacher Mensch verhalten zu können. Eine Parallele sieht sie zurecht insofern, als dass Sidonius den Tagesablauf des Herrschers als Politiker sowie als Mensch darstellt. Eine Erkenntnis zu der auch Staubauch 1983, 12 und Reydellet 1981, 73 kommen. 14 Vgl. Köhler 1995, 126. 15 Es gilt hier auf die Parallele zu Sidon. epist. 4,9,1 an Industrius hinzuweisen, in dem das Verhalten eines vir illustris namens Vettius vorgestellt wird, da Sidonius diesen ebenfalls als dignus erachtete:

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Sidonius’ Porträt Theoderichs II.

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Sidonius bezieht sich dabei auf eine ganz bestimmte Lesergruppe, nämlich die gallorömischen Aristokraten, die Theoderich II. als ,typischen‘ Barbaren einschätzen, da sie ihn selbst nicht kennen. 16 Die dignitas, die den Anführer auszeichnet, ist von besonderer Art, da er durch Gott und die Natur vollkommen ausgestattet wurde. Die Hervorhebung der dignitas kann weiterführend dahingehend interpretiert werden, dass er dem Leser eine Andeutung auf das, was folgen wird, geben möchte, nämlich die Beschreibung eines tugendhaften, idealtypischen Herrschers. 17 Die Einleitung des Briefes schließt mit den Tugenden Theoderichs, die selbst ein Neider nicht verleugnen könne, sondern loben müsse. Diese Sentenz sieht Helga Köhler als eindeutige Anspielung auf Eurich, der dem Bruder das regnum nicht gegönnt habe. 18 Im zweiten Abschnitt beginnt der eigentliche Inhalt des Briefes mit der Deskription der äußeren Erscheinung des gotischen Anführers, der mit einem nahezu perfekten Körper gesegnet sei. Die sehr detaillierte Beschreibung der äußeren Erscheinung folgt ganz dem Beispiel Suetons. 19 Sidonius beginnt mit dem Kopf, der nach Art Alexanders des Großen oder Pompeius’ von gekräuseltem Haupthaar bedeckt ist. 20 Theoderich II. wird dadurch in die Liste berühmter Herrscher aufgenommen und mit ihnen gleichgestellt. Auffallend ist die Wortwahl, mit der Sidonius in der Beschreibung fortfährt, denn die Augenbögen des Herrschers sind nicht nur mit Augenbrauen bewachsen, sondern mit buschigen Augenbrauen bekrönt (Geminos orbes hispidus superciliorum coronat arcus. „Die beiden Augen krönt ein Bogen buschiger Brauen.“). 21 Es folgt die Beschreibung des restlichen Kopfes: aurium ligulae, sicut mos gentis est, crinium superiacentium flagellis operiuntur. nasus venustissime incurvus. […] pilis infra narium antra fruticantibus cotidiana succisio; barba concavis hirta temporibus, quam in subdita vultus parte surgentem stirpitus tonsor assiduus genis ut adhuc vesticipibus evellit. 22

16 17 18 19 20

21 22

quas quoniam dignas cognitu inveni, non indignas relatu existimavi. „Weil ich dieses [Anm.: gemeint ist das Verhalten] als würdig erachtete es kennenzulernen, hielt ich einen Bericht darüber nicht für unangemessen.“ Castellanos 2015, 396 vermutet, dass der gesamte Brief die Intention hatte, einer aristokratischen Leserschaft, das Bild eines vernünftigen Gesprächspartners zu vermitteln: „[…] todo el texto trataba de colocar la imagen de un interlocutor razonable para su aristocrática audiencia.“ Vgl. Reydellet 1981, 75. Köhler 1995, 129. Köhler 1995, 120. Köhler 1995, 130. Entgegen Fascione 2019, 56, die das Aussehen Theoderichs, inklusive der Art und Weise wie er die Haare trägt, als ,barbarisch‘ charakterisiert. Dies zeige auch der Begriff rex auf, wodurch ein Gegensatz zur noblen königlichen Würde geschaffen wurde. Von Rummel 2006, 170 hält bezüglich der Haartracht des visigotischen Anführers fest, dass zwar aufgrund der Sidoniusbeschreibung keine stammesspezfische Zuschreibung möglich sei, diese aber auch eindeutig nicht dem Ideal gallo-römischer Aristokraten entspreche. Sidon. epist. 1,2,2. Sidon. epist. 1,2,2.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Die Ohrmuscheln sind, wie es bei seiner gens üblich ist, von Haarsträhnen bedeckt, die auf ihnen liegen. Die Nase ist in einem sehr schönen Schwung gebogen. […] Haare, die in den Nasenlöchern nach unten sprießen, werden täglich zurückgestutzt, ein Bart kräuselt sich um die nach innen gewölbten Schläfen, den in der unteren Gesichtshälfte ein ständig beschäftigter Barbier gründlich auszupft, wenn er wachsen will, wie bei Wangen, die noch im ersten Flaum stehen.  23 Jedes kleinste körperliche Detail scheint ohne Makel zu sein. Der Umstand, dass seine Ohren von zurückgekämmten Haaren bedeckt werden, wie es mos gentis est, wird dadurch kompensiert, dass seine Nase edel gekrümmt ist. Sein Nasenhaar oder seinen Bart lässt er nicht wie ein Barbar sprießen, sondern nach römischer Manier rasieren. Den einzigen Hinweis, dass Sidonius an dieser Stelle keinen römischen Aristokraten oder gar römischen Herrscher beschreibt, findet der aufmerksame Leser in der Äußerung „wie es der Sitte seiner gens entspricht“, die, da sie beiläufig erwähnt wird, sogar überlesen werden kann. Einzig Thomas Kitchen sieht in der Verwendung von fructicari eine kritische Bemerkung seitens Sidonius versteckt. Seiner Meinung nach würden die aus der Nase sprießenden Haare einen Gegensatz zur Stärke und Tugendhaftigkeit darstellen. Weiterhin glaubt Thomas Kitchen hier eine Parallele zu Juvenals Satiren zu sehen, in denen fructicari in Zusammenhang mit einem Prostituierten (Naevolus) verwendet wird. 24 Beiden Aussagen des Autors ist zu widersprechen. Erstens ist ein Vergleich mit Naevolus aufgrund eines Wortes, das sich bei Juvenal noch dazu auf die Beine und nicht auf die Nase bezieht, nicht haltbar, zweitens wird bei Sidonius gerade hervorgehoben, dass Theoderich II. die sprießenden Haare täglich zurückstutzt, wie es beispielsweise in der Darstellung Caesars bei Sueton erwähnt wird. 25 Ich halte dagegen, dass das Zurückstutzen der Haare vielmehr als Hinweis auf die Eingrenzung des Barbarischen durch Theoderich II. selbst interpretiert werden kann. Daher ist dieser Teil der Beschreibung nicht der Negativliste Theoderichs II. zuzuschreiben. Der folgende Abschnitt beschreibt den Körper vom Kinn bis zu den Füßen, mit denen die physiognomische Beschreibung endet. Dieser Teil ist v.  a.  durch stilistische Besonderheiten geprägt. Eingeleitet wird er durch das Asyndeton menti gutturis colli, gefolgt von non obesi sed suculenti, was parallel zu non ira sed verecundia am Satzende gestellt ist. 26 Die antithetische Verwendung von obesus und suculentus verbildlicht den kräftigen Körperbau des Herrschers, der eben nicht fett, sondern kraftvoll ist, wie es sich für einen Feldherrn geziemt. Falls Theoderich II. einmal erröten sollte, so geschieht dies nicht aus Zorn, sondern aus verecundia, die Sidonius als eine besonders geschätzte Eigenschaft darstellt und die von Helga Köhler als die „Beachtung des Schicklichen“ interpretiert. 27 Wiederum mit einer asyndetischen Aufzählung, mit je einem Substantiv 23 24 25 26 27

Übersetzung nach Köhler 2014, 5. Kitchen 2010, 60; vgl. Iuv. 9,15. Suet. Iul. 45. Sidon. epist. 1,2,3. Köhler 1995, 134 f.

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Sidonius’ Porträt Theoderichs II.

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und beschreibendem Adjektiv, wird die Beschreibung fortgesetzt, bei der insbesondere die Kraft und Stärke des Körpers betont wird. 28 Die Verwendung von Alliterationen und Antithesen fällt v. a. bei der restlichen Beschreibung der Oberschenkel ins Auge, die bis hin zum pes modicus fest wie Horn (corneus) sind. 29 Bei der Zusammenfassung der Physiognomie Theoderichs wird festgestellt, dass Sidonius einen soliden männlichen Körper mit athletischem Potenzial beschreibt. 30 Er zeichnet das Bild eines Soldaten, der prädestiniert ist, ein Heer zu führen, und weist ihm damit eine der wichtigsten Eigenschaften eines römischen Kaisers zu. Des Weiteren sollte die physiognomische Beschreibung als literarisches Mittel betrachtet werden. Aussehen und Charakter einer Person stehen in der Wahrnehmung des Sidonius in einem engen Zusammenhang. Zwei Beispiele sollen als Belege genügen. Erstens, die Beschreibung eines vir spectabilis mit dem Namen Germanicus, der ebenso wie Theoderich  II. nicht nur mit einem guten Körperbau gesegnet ist, sondern auch seinen Bart stets zurückstutzt. Dessen physiognomische Erscheinung wird von Sidonius ebenfalls als „Gottesgeschenk“ bezeichnet und steht wie bei Theoderich II. in Einklang mit seinem Verhalten. 31 Unterschiedlich sind einerseits die Länge der Beschreibung, was jedoch mit dem wesentlich kürzeren Brief zu begründen ist, und andererseits die Merkmale wie Haartracht, die den Umständen des Briefes – bei Germanicus der Übertritt in den geistlichen Stand – angepasst wurden. Die nicht zu leugnende Parallele der physiognomischen Beschreibung ist angesichts literarischer Konventionen zu erklären. Zweitens ist als Beleg die Beschreibung des Gnatho heranzuziehen, der, obwohl negativ beschrieben, als Mitglied der gallo-römischen Aristokratie zu sehen ist. Sein Aussehen entspricht jedoch seinem schlechten Charakter, weshalb er von Sidonius als ,Anderer‘ dargestellt wird. 32 Somit ist dieses Beispiel als weiterer Beweis für die Annahme zu erachten, dass Sidonius das körperliche Erscheinungsbild einer Person als Ebenbild dessen Charakters und Verhaltens auffasst und demzufolge dazu beiträgt, ob eine Person als ,Anderer‘ oder als Teil der lebensweltlichen Gemeinschaften wahrgenommen wird.

28 Sidon. epist. 1,2,3. 29 Köhler 1995, 136  f. Sidon. epist. 1,2,3: Antithesen wären: maximus in minime […], magna […] membra zu pes modicus. 30 Gualandri 2000, 110. 31 Sidon. epist. 4,13,1 f. 32 Vgl. Raga 2009, 180: „Tout comme pour la revue élogieuse du physique de Théodoric II, Sidoine commence par la tête du Gnathon et progresse du haut vers le bas le long de cette collection de pustules hideuses, infections purulentes et cicatrices repoussantes“. Es wird Emanuelle Raga zugestimmt, dass die Beschreibungen als antithetisches Spiegelbild interpretiert werden sollte.

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Tab. 6: Vergleich der physiognomischen Schilderungen Theoderichs II. und Germanicus’ Sidon. epist. 1,2,1–3 Beschreibung Theoderichs II.

Sidon. epist. 4,13,1–3 Beschreibung Germanicus’

Parallelen in der Beschreibung

Germanici spectabilis viri […]. est ipse loco sitorum facile primus.

commendat populis fama civilitatem

Ansehen bei der Bevölkerung

crinium superiacentium flagellis operiuntur

crinis in rotae specimen accisus

Haartracht (in beiden Fällen den Traditionen folgend)

barba concavis hirta temporibus, quam in subdita vultus parte surgentem stirpitus tonsor assiduus genis ut adhuc vesticipibus evellit.

barba intra rugarum latebras mersis ad cutem secta forcipibus

Stutzen des Bartes

si forma quaeratur: corpore exacto […] [3] spina discriminat

membrorum solida […] non spina curvatur

Körper allgemein sowie Aufzählung weiterer Körperpartien, z. B. des Rückgrats

ita personam suam deus arbiter et ratio naturae consummatae felicitatis dote sociata cumulaverunt

beneficia peculiaria dei

Erscheinung als Gabe Gottes

Abschließend halten wir zur körperlichen Beschreibung Theoderichs II. fest, dass Sidonius diese dem Charakter des gotischen Anführers entsprechend positiv schildert, um am Ende ein vollkommenes Bild zu erzeugen. Er folgt damit dem Genre der Kaiserbiographien, in denen die physiognomische Beschreibung ein fester Bestandteil ist. Das körperliche Erscheinungsbild des gotischen ,Warlords‘ ist eine Folge seiner civilitas und dignitas. Es wird der folgenden Aussage Helga Köhlers uneingeschränkt zugestimmt: „Wie er wirklich ausgesehen hat, wissen wir nicht.“ 33 Mit dem vierten Abschnitt beginnt der zweite Teil der narratio des Briefes, die eigentliche Vita Theoderichs  II. Helga Köhler konnte demonstrieren, dass der letzte Teil an 33 Köhler 1998, 334; Sivan 1989, 86. Dennoch ist Helga Köhler in einer Annahme zu widersprechen: Die Beschreibung seiner Physiognomie interpretiert diese als Hinweis, dass Theoderich nicht im Besitz einer anima intellectualis sei, weshalb Sidonius nicht die Bildung Theoderichs II., sondern das Aussehen beschrieben habe. Dieser Annahme wird nicht beigepflichtet, da Sidonius im späteren Teil des Briefes sehr wohl auf die geistigen Fähigkeiten Theoderichs II. eingeht und dessen Bildung darüber hinaus im Avitus-Panegyrikus thematisiert (Sidon. carm. 7,495–498).

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Sidonius’ Porträt Theoderichs II.

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Plinius’ Epistel 3,1 angelehnt ist. 34 Theoderichs Tagesablauf ist streng konzipiert und laut Sidonius’ Schilderung jeden Tag gleich. Die Erwähnung des morgendlichen Gebetes soll dabei die virtus des Herrschers und seinen Respekt gegenüber Sitten und Gebräuchen zeigen. 35 Der gotische Arianismus wird dabei von Sidonius, wie bereits erwähnt, nicht angesprochen. Der Fokus der Schilderung liegt auf der Handlung des Gebetes und nicht auf der Frage des Bekenntnisses. Der Arianismus fällt in dieser Beschreibung nicht negativ ins Gewicht. 36 Courtenay  E. Stevens betont, dass Sidonius das Gebet mehr als Gewohnheit denn als wirkliche Überzeugung darstelle, weshalb an der Überzeugung Theoderichs II. in Bezug auf den gotischen Arianismus gezweifelt werden könne. 37 Im Anschluss an das Gebet kümmert er sich um die Administration des Reiches. An dieser Stelle beschreibt Sidonius einen ersten auffallenden Unterschied des gotischen ,Hofes‘ im Vergleich zum römischen Kaiserhof, denn der visigotische Anführer verfügt über „in Pelze gekleidete Gefolgsleute“, die sich zu seinem Schutz in der Nähe aufhalten. 38 Die Interpretation dieser Textstelle aus Kapitel 5.1 sei kurz in Erinnerung gerufen. Sidonius beschreibt die Leibgarde zwar mit dem barbarischen Charakteristikum der Fellkleidung, ordnet ihnen aber eindeutig eine militärische Funktion zu. An dieser Stelle unterscheidet Sidonius weiterhin zwischen Männern mit der Amtsbezeichnung eines comes, die zwar neben der sella zu finden sind, und der eigentlichen Leibgarde, die vor die Türen verbannt wurde. Dennoch ist anzunehmen, dass es sich in diesem Kontext um eine Amtsbezeichnung handelt. Dies wird durch die sella, den Stuhl römischer Magistrate belegt, durch den Theoderich II. zweifelsfrei als Anführer im Dienste Roms charakterisiert wird. 39 Er zeichnet sich dadurch aus, dass er die barbarische Leibgarde aus seiner unmittelbaren Nähe entfernt. Für Marc Reydellet ist diese der Gegenpart zur civilitas Theoderichs. 40 Dem entgegen vertrete ich die Ansicht, dass gerade der Gegensatz von Theoderich II. und seiner Leibgarde den Anführer positiv von dieser abhebt. Somit folge ich Philipp von Rummel, der eine negative Intention seitens Sidonius’ ausschließt und anmerkt, dass diese Schilderung lediglich das „militärische Gewand eines Soldaten“ beschreibe, was ein Indiz für eine normale Leibgarde sei. 41 Von besonderer Besonnenheit zeigt sich Theoderich II. beim Empfang der Gesandtschaften, indem er viel zuhört und gründlich über seine Entscheidungen nachdenkt,

34 Vgl. Plin. epist. 3,1; Köhler 1995, 123. Die parallele Konstruktion muss beachtet werden: Sidon. epist. 1,2,5‒10: si venatio nuntiata procedit […], si in convivium venitur […], cum ludendum est […], circa nonam recrudescit moles illa regnandi […], cum surrexit […]. 35 Sidon. epist. 1,2,4. Mathisen 1993, 48 weist noch einmal darauf hin, dass nach Sidonius das Gebet mehr Gewohnheit als wirkliche Überzeugung war. 36 Harries 1996, 37; siehe auch: Courcelle 1964, 166. 37 Stevens 1933, 24. 38 Sidon. epist. 1,2,4. Vgl. Kapitel 5.1.2. 39 Hiermit wird Gualandri 2000, 113; Harries 1996, 37 und Kaufmann 1995, 110 zugestimmt, die die Annahme äußerten, dass sella in diesem Kontext nicht „Thron“ bedeuten kann. 40 Reydellet 1981, 74. 41 Von Rummel 2007, 167.

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andererseits nicht zögert, rasch zu entscheiden, wenn dies erforderlich ist. 42 Sidonius beschreibt ihn als besonnenen Herrscher, der in Ruhe zuhört, nachdenkt und dann handelt. Demnach besitzt der gotische Anführer in Bezug auf die Regierungsgeschäfte alle erforderlichen Tugenden, die ein guter Herrscher braucht. Nachdem er Gesandtschaften empfangen und deren Anliegen überdacht hatte, kümmerte er sich um sein eigenes Anwesen. Sidonius setzt in diesem Abschnitt deutlich das Pflichtbewusstsein Theoderichs II. in den Vordergrund und konstruiert dadurch eine weitere Parallele zu einem römischen Aristokraten oder Würdenträger. 43 Der folgende Abschnitt ist einer der interessantesten in der Beschreibung. Hier zeigt Sidonius seine Belesenheit und beschreibt, wie Theoderich II. auf die Jagd geht. Dabei wird sehr detailliert berichtet, wie der König den Bogen selbst spannt, wodurch der Leser sehr stark an den heimkehrenden Odysseus erinnert wird, der ihn ebenfalls selbst spannte. Der Gräzismus chordae, eine Vokabel, die auch Homer in der Odyssee verwendet, verstärkt diese mythologische Anlehnung. 44 Im Anschluss folgt der Höhepunkt des Pfeileinlegens und Schießens, das mit einer Klimax wiedergegeben wird: spicula capit, implet, expellit („er fasst den Pfeil, spannt und schießt“). Es steht außer Frage, dass Theoderich II. immer trifft, was sehr schön durch das Polyptoton eligis quid feriat: quod elegeris ferit („Du wählst aus, was er treffen soll, was immer du ausgewählt haben wirst, das trifft er.“) zum Ausdruck kommt. 45 Helga Köhler schreibt, dass die Jagd mit Pfeil und Bogen nicht typisch römisch sei und Theoderich mit den Waffen „seines Volkes“ dargestellt werde. Gleichzeitig benennt sie aber als mythische Helden dieser Jagdszene Odysseus, Achill, Herkules und Aeneas; 46 Figuren, die, obwohl sie nicht-römisch sind, gleichwohl in die römisch-griechisch zivilisierten und gebildeten ‚Lebenswelten‘ gehören. Sidonius 42 Sidon. epist. 1,2,4. Auch hier fällt wieder die antithetische Stellung von plurima und pauca sowie der Parallelismus von si quid tractabitur und si quid expedietur auf. 43 Vgl. Köhler 1995, 141. 44 Sidon. epist. 1,2,5: quem sicut puerile computat gestare thecatum, ita muliebre accipere iam tensum. igitur acceptum modo insinuatis e regione capitibus intendit, modo ad talum pendulum nodi parte conversa languentem chordae vagantis laqueum digito superlabente prosequitur  […]. „Denn wie er es für kindisch hält, den Bogen im Futteral herumzutragen, so hält er es für weibisch, ihn schon bespannt entgegenzunehmen. Deshalb richtet er ihn, sobald er ihn ergriffen hat, zunächst an den gegeneinander gebogenen Enden gerade, dreht dann das Ende mit dem Knoten nach unten zum angehobenen Fuß und geleitet die schlaffe Schlinge der losen Darmsehne mit gleitendem Finger nach oben […].“ (Übersetzung nach Köhler 2014, 7). Vgl. Hom. Od. 21, 404‒410: […] ἀτὰρ πολύμητις Ὀδυσσεύς / αὐτίκ᾽ ἐπεὶ μέγα τόξον ἐβάστασε καὶ ἴδε πάντηι, / ὡς ὅτ᾽ ἀνὴρ φόρμιγγος ἐπιστάμενος καὶ ἀοιδῆς / ῥηϊδίως ἐτάνυσσε νέηv περὶ κόλλοπι χορδήν, / ἅψας ἀμφοτέρωθεν ἐϋστρεφὲς ἔντερον οἰός, / ὣς ἄρ᾽ ἄτερ σπουδῆς τάνυσεν μέγα τόξον Ὀδυσσεύς. / δεξιτερῇι ἄρα χειρὶ λαβὼν πειρήσατο νευρῆς […]. „[…] der einfallsreiche Odysseus / hatte indessen den Bogen betastet und alles besehen. / Leichter Hand, wie ein Künstler des Leierspiels und Gesanges  / wenn an erneuertem Wirbel die Saite er spannt und aufzieht / beiderseits macht er sie fest, den trefflich gedehnten Schafdarm; / Gradso spannte Odysseus nun mühelos den mächtigen Bogen, / nahm ihn an sich mit der rechten Hand und prüfte die Sehne  […].“ (Übersetzung Weiher 2003, 587). Vgl. Köhler 1995, 142 für weitere Sagenfiguren als Parallelen. 45 Sidon. epist. 1,2,5. 46 Köhler 1995, 142.

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Sidonius’ Porträt Theoderichs II.

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inszeniert Theoderich durch die Jagd mit Pfeil und Bogen als Teil dieser ‚Lebenswelten‘ und stellt ihn in eine Reihe mit den mythischen Helden. Dabei ist in erster Linie nicht von Bedeutung, ob diese mythologischen Figuren römisch waren, sondern welche Bedeutung sie für die antike Gesellschaft hatten. Durch den Vergleich Theoderichs II. mit diesen Gestalten hat dieser nicht nur Anteil, sondern wird literarisch Teil der römischen Kultur, Vergangenheit und Mythologie. Im Anschluss beschreibt Sidonius das tägliche Mittagsmahl und die daran anschließende Ruhezeit. Besonders auffallend ist die Mäßigung, die der gotische Anführer beim Essen an den Tag legt und die von der Ausstattung der Tafel und der Menge der Speisen reflektiert wird: si in convivium venitur, quod quidem diebus profestis simile privato est, non ibi inpolitam congeriem liventis argenti mensis cedentibus suspiriosus minister imponit; maximum tunc pondus in verbis est, quippe cum illic aut nulla narrentur aut seria. 47 Wenn man bei ihm zum Mahl geladen ist, das freilich an gewöhnlichen Tagen wie ein privates Essen ausfällt, dann belädt dort keineswegs ein ächzender Diener sich biegende Tische mit einem Sammelsurium von ungeputztem, bläulich angelaufenem Silber! Das allergrößte Gewicht haben dann die Worte, weil dort entweder gar nicht, oder nur über Ernsthaftes gesprochen wird. 48 Sidonius hebt die Bescheidenheit besonders hervor, indem er das Gastmahl Theoderichs II. als etwas Gewöhnliches darstellt. 49 Die ironische Wendung, dass kein stöhnender Diener alle möglichen Arten von ungeputztem Silber serviere, beinhaltet die gegenteilige Aussage: Natürlich befindet sich dort silbernes Tafelgeschirr und alles weitere wie bei einem Mahl eines römischen Aristokraten. Doch steht dieses bei Theoderich II. nicht im Mittelpunkt des Gastmahles. Dabei suggeriert er eine regelmäßige Teilnahme an einem solchen, um seine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Im Mittelpunkt des Gastmahles stehe das Gespräch, was als Hinweis auf einen gewissen Grad an Bildung bei Theoderich zu interpretieren ist. 50 Bis auf die Tatsache, dass es dabei entweder um ernste Themen ging oder geschwiegen wurde, erfährt der Leser leider nichts über die Inhalte jener Gespräche. Bei der Beschreibung der Sitzmöbel fällt auf, dass Sidonius sie mit den griechischen termini technici benennt, wie zum Beispiel toreuma, conchyliatus, byssina. Dabei werden v.  a.  der Wohlstand und die Eleganz des tolosanischen Wohnsitzes hervorgehoben. 51 Gleichzeitig kann er damit beweisen, dass er der griechischen Sprache mächtig ist und 47 48 49 50 51

Sidon. epist. 1,2,6. Übersetzung nach Köhler 2014, 7. Sidon. epist.1,2,6. Zum Bildungshintergrund von Theoderich II. siehe: Goltz 2002, 307; Mathisen 1997b, 142. Sidon. epist. 1,2,6: […]  toreumatum peripetasmatumque modo conchyliata profertur supellex, modo byssina. „[…] Die Ausstattung an Polstern und Behängen ist teils in Purpur, teils in feinem, weißem Leinen aufgelegt.“ (Übersetzung Köhler 2014, 6). Ziche 2011, 215 sieht die Luxusgüter am gotischen Königshof als Importgüter.

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somit einen in allen Bereichen klassisch gebildeten Aristokraten repräsentiert. 52 Besonders durch die Speisen und das Essverhalten definiert Sidonius den Charakter Theoderichs II. 53 In Bezug auf das Trinken wird wiederum das Maßhalten in den Vordergrund gestellt, da Theoderich selbst nicht viel Wein beim Speisen trinkt und auch seinen Gästen nur wenig Wein anbietet. 54 Der Herrscher stellt damit erneut das komplette Gegenteil der Beschreibung Gnathos dar, dessen schlechte Essgewohnheiten seinem schlechten Verhalten und Charakter entsprechen. Durch das Maßhalten und die gute Esskultur Theoderichs ist eine weitere Parallele zu den ‚Lebenswelten‘ der gallo-römischen Aristokratie sichtbar. Dies wird weiterhin durch die Zusammenfassung belegt, die Sidonius zum Gastmahl bietet: videas ibi elegantiam Graecam abundantiam Gallicanam celeritatem Italam, publicam pompam privatam diligentiam regiam disciplinam. 55 Du könntest dort griechische Eleganz, gallischen Überfluss, italische Schnelligkeit, öffentliche Prachtentfaltung, private Gewissenhaftigkeit und herrschaftliche Disziplin finden. 56 Er beendet den Abschnitt mit den Motiven des Anfanges, nämlich der Mäßigung und Bescheidenheit des gotischen Anführers. Mit der Beschreibung des Mittagsmahles schließt sich Sidonius thematisch ganz den Kaiserbiographien Suetons und der Historia Augusta an, die über das Gastmahl versuchen, „wichtige Charakterzüge des Herrschers zu illustrieren“. 57 Emmanuelle Raga hebt besonders die Parallelen zu den Herrscherbeschreibungen in der Historia Augusta hervor, in denen ebenfalls die moderatio bei Tisch ein wichtiges Merkmal eines guten Herrschers darstellt. Sidonius reiht Theoderich II. somit in die Liste guter Herrscher ein. 58 Zur Esskultur im Allgemeinen ist festzuhalten, dass sie von Sidonius als weitere Kategorie genutzt wird, um sich ,Selbst‘ von ,Anderen‘ zu unterscheiden, beziehungsweise, wie in diesem Fall, ,Andere‘ als Teil der eigenen ‚Lebenswelten‘ wahrzunehmen. Um weiter die positiven Charaktereigenschaften hervorzuheben, widmet Sidonius zwei Abschnitte des Briefes dem König beim Spiel, da diese sich dabei besonders

52 Mit der Frage, ob Sidonius des Altgriechischen mächtig war, hat sich John 2020 auseinandergesetzt. 53 An dieser Stelle sei auf den Aufsatz von Emmanuelle Raga Bon mangeur, mauvais mangeur verwiesen, die Essgewohnheiten und Praktiken bei Sidonius eingehend analysiert hat (Raga 2009, 173–177). 54 Sidon. epist. 1,2,6: scyphorum paterarumque raras oblationes facilius est ut accuset sitis quam recuset ebrietas. „Pokale und Trinkschalen werden selten gereicht, so dass viel mehr der Durst sich beklagt als dass die Trunkenheit ablehnt.” (Übersetzung nach Köhler 2014, 7). 55 Sidon. epist. 1,2,6. 56 Übersetzung nach Köhler 2014, 7. 57 Köhler 1995, 146; Raga 2009, 175. 58 Raga 2009, 175 f.

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offenbaren. 59 Der erste Abschnitt zum Thema des Spielens ist erneut von asyndetischen Aufzählungen geprägt, welche die Spannung des Würfelspieles auf den Leser übertragen sollen. Dabei beweist der König v. a. Geduld, Disziplin und niemals Zorn: quibus horis viro tabula cordi, tesseras colligit rapide, inspicit sollicite, volvit argute, mittit instanter, ioculariter compellat, patienter exspectat. in bonis iactibus tacet, in malis ridet, in neutris irascitur, in utrisque philosophatur. 60 Wenn in diesen Stunden dem Manne der Sinn nach dem Spielbrett steht, sammelt er rasch die Würfel auf, betrachtet sie aufmerksam, schüttelt sie bedeutungsvoll, wirft sie energisch, ruft ihnen Scherzworte zu und erwartet geduldig. Bei einem guten Wurf schweigt er, bei einem schlechten Wurf lacht er; in keinem Fall wird er zornig, in beiden Fällen philosophiert er. 61 Ähnlich wie sein Verhalten gegenüber Gesandtschaften von Sidonius geschildert wird, erscheint der Herrscher beim Spiel bedacht und selbstbeherrscht, ähnlich wie ein Philosoph. Nikolaus Staubach erkennt im Aussehen Indizien, die vermuten lassen, dass Theoderich II. den Lesern als ein solcher präsentiert wird. Seines Erachtens ist die Haar- und Barttracht ein ausschlaggebendes Argument. Daher sieht er Parallelen zur Beschreibung des Philosophen Euphrats bei Plinius dem Jüngeren. 62 Als weiteres Argument für Staubachs Theorie ist das besonnene Verhalten des gotischen Anführers sowie die Verwendung des Verbs philosophari heranzuziehen. Eine Entsprechung zu Marc Aurel als einem ,Vorzeigekaiser‘ des Römischen Reiches, der für seine Besonnenheit und Neigung zur Philosophie bekannt war, steht außer Zweifel. 63 Theoderich  II. bleibt stets ehrlich im Spiel, lässt sich aber auch nichts anmerken, wenn er kleine Regelverstöße des Gegners bemerkt. Bei alldem lässt er den Sieg nicht aus den Augen: sola est illi cura vincendi („zu siegen ist sein einziges Interesse“). 64 Der zweite Abschnitt, der dem Verhalten des gotischen Anführers beim Spiel gewidmet ist, zeigt wie menschlich Theoderich II. von Sidonius wahrgenommen wurde. Dieser lässt hier seine eigenen Erfahrungen bei einem Spielenachmittag mit dem gotischen Herrscher einfließen. Bei solchen Veranstaltungen wird Theoderich II. zum Privatmann und möchte auch als solcher wahrgenommen und nicht als Herrscher gefürchtet werden. 65 Dieser Zeitpunkt

59 Köhler 1995, 153. 60 Sidon. epist. 1,2,7. Köhler 1995, 153: Hier sollte ebenso dem Stil des Sidonius besondere Aufmerksamkeit gezollt werden: Die Satzglieder bestehen jeweils aus einem Verb mit Adverb, wobei nach dem vierten Wortpaar eine Zäsur festzustellen ist. Durch die asyndetische Folge soll die Schnelligkeit im Spiel symbolisiert werden. Das Würfeln selbst wird durch den Parallelismus ausgedrückt. 61 Übersetzung nach Köhler 2014, 8. 62 Staubach 1983, 13; Plin. epist. 1,19. 63 Zu Marc Aurel sei stellvertretend auf den Sammelband von van Ackeren 2012 verwiesen. 64 Sidon. epist. 1,2,7; Köhler 1995, 154. 65 Sidon. epist.1,2,8: […] timet timeri. „[…] er fürchtet, gefürchtet zu werden.“

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biete eine gute Gelegenheit, Bitten vorzubringen, wie Sidonius berichtet. Hierfür greift er auf die Schiffsmetapher zurück: tunc petitionibus diu ante per patrociniorum naufragia iactatis absolutionis subitae portus aperitur. 66 Dann öffnet sich Gesuchen, die vorher lange Zeit durch den Schiffbruch ihrer Anwälte hin- und hergerissen waren, der Hafen einer plötzlichen Vollendung. 67 Der Schiffbruch ist nicht, wie die beschriebenen Fälle in Kapitel 5.2 zeigen, mit Barbaren in Verbindung zu bringen, sondern als Metapher für ein missglücktes Anliegen zu betrachten, dem durch Theoderich II. zur Rettung verholfen wird. Daher habe sich sogar schon Sidonius besiegen lassen, um für seine Sache zu siegen. 68 Für die Wahrnehmung desselben bedeutet dies, dass Theoderich sich auch in diesem Punkt von der Masse der barbarischen ‚Anderen‘ unterscheidet. Wie bereits bei dem Abschnitt über die Jagd wird deutlich, dass Sidonius ein positives Bild von Theoderich II. schildert, das durch keinen Makel befleckt wird. Seiner Meinung nach ist er ein perfekter Herrscher, wie es selten einen gab. Mittlerweile wird die neunte Stunde ‒ also ca. 15.00 Uhr ‒ erreicht und Theoderich wendet sich erneut den Regierungsgeschäften zu. Die Darstellung ist diesmal sehr viel kürzer, woraus geschlossen werden kann, dass der morgendliche Empfang von Gesandtschaften aus Sidonius’ Sichtweise als wichtiger empfunden wird. Helga Köhler vermutet, dass am Nachmittag die Anliegen der gallischen bzw. gotischen Bevölkerung abgehandelt werden. Ihre These wird durch das Gezänk der Bittsteller unterstrichen und es geht bei Weitem nicht mehr so gesittet zu wie bei dem morgendlichen Empfang. 69 Diese Regierungstätigkeit wird jedoch relativ früh durch das Abendmahl des Königs unterbrochen, wenngleich die Diskussionen damit nicht beendet sind, sondern auf die Höflinge verteilt werden: d. h. dass Theoderich II. auf eine Art Anwaltsstab zurückgreifen konnte. Dies spricht für eine bestehende Administration der Region um Toulouse durch die gotischen foederati. Die Beschreibung des Abendmahls, das die letzte Tätigkeit in Theoderichs Tagesablauf darstellt, ist von der gleichen moderatio geprägt, die bereits beim Mittagsmahl

66 Sidon. epist. 1,2,8. 67 Übersetzung nach Köhler 2014, 8. 68 Sidon. epist. 1,2,8: […] feliciter vincor, quando mihi ad hoc tabula perit, ut causa salvetur […]. „[…] ich lasse mich gerne besiegen, wenn eine Partie mit dem Ergebnis verloren geht, dass das Anliegen gewinnt […].“ (Übersetzung. nach Köhler 2014, 8). 69 Sidon. epist. 1,2,9: […]  redeunt pulsantes, redeunt summoventes, ubique litigiosus fremit ambitus. „[…]  erneut kommen diejenigen, die Recht fordern, erneut kommen diejenigen, die sie davon abhalten, und überall lärmt der Eifer der Streitenden, der sich bis in den Abend hineinzieht […].“ (Übersetzung. nach Köhler 2014, 8). Siehe auch: Köhler 1995, 158.

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ersichtlich war. 70 Nur selten treten Schauspieler auf und niemals wird ein Stück auf der Wasserorgel oder Gesang dargeboten. 71 In der Regel war nämlich das abendliche Gastmahl innerhalb der römischen Aristokratie Bühne für künstlerische Darbietungen, die während der Kaiserzeit zunahmen und immer mehr kritisiert wurden. Selbst in der Spätantike hat sich der Brauch mimischer Darbietungen noch erhalten, obwohl er von den Kirchenvätern heftig beanstandet wurde. 72 Die Schilderung der Einschränkungen der Unterhaltung beim Mahl durch Theoderich  II. erlauben Sidonius, dessen Porträt im Bereich der Besonnenheit, civilitas und dignitas, zu vollenden, indem der gotische Anführer zwar lokale Sitten und Bräuche zulässt, sich jedoch gleichzeitig der zeitgenössischen Kritik bewusst ist und daher nur eingeschränkt Unterhaltung zulässt. Sidonius zeichnet das Bild eines Anführers, der es versteht, zwischen Vergangenheit und Zukunft mit Bedacht zu balancieren und der trotz seiner nicht-römischen Abstammung römische Traditionen pflegt. Der letzte Abschnitt des Briefes, der die Ringkomposition beschließt, beginnt mit der Aufhebung der Tafel durch den König, der als letzte Handlung die Wachen positionieren lässt, wobei die Schatzkammer Priorität hat. 73 An dieser Stelle beendet Sidonius seine Schilderung Theoderichs II.: sed iam quid meas istud ad partes, qui tibi indicanda non multa de regno sed pauca de rege promisi? simul et stilo finem fieri decet, quia et tu cognoscere viri non amplius quam studia personamque voluisti et ego non historiam sed epistulam efficere curavi. 74 Aber gehört das wohl noch zu meiner Aufgabe, da ich doch nicht versprochen habe, Dir vieles über das Amt des rex zur Kenntnis zu bringen, sondern weniges über den Herrscher? Zugleich muß ich auch deshalb meinem Griffel Einhalt gebieten, weil einerseits Du von dem Manne nicht mehr erfahren wolltest als seine

70 An dieser Stelle sei erwähnt, dass Ziche 2011, 215 die Darstellung des Palastes und die Beschreibung des Mittags- und Abendmahls dahingehend interpretiert, dass die des Sidonius einen Einblick biete, für wie „fortgeschritten die Römer die Wirtschaft der Barbaren“ hielten, was Ziche an den von Sidonius aufgezählten Luxusgütern festmacht. Obgleich meines Erachtens Aussagen über die Handelsbeziehungen des visigotischen rex aufgrund dieses stark enkomiastisch und idealisierten Briefes nicht möglich sind, stimme ich mit ihm überein, dass Sidonius dadurch die romanitas von Theoderich II. hervorhebt. 71 Sidon. epist. 1,2,9: Auffallend ist in dieser Stelle erneut die Verwendung griechischer termini technici; vgl. Köhler 1995, 161. 72 Köhler 1995, 161. Einen Überblick zum Mimus in der Spätantike (291–294) und zu Gallien (301– 304) bietet Puk 2014. 73 Sidon. epist. 1,2,10: cum surrexerit, inchoat nocturnas aulica + gaza custodias; armati regiae domus aditibus assistunt, quibus horae primi soporis vigilabuntur. „Gleich nachdem er sich erhoben hat, läßt er die nächtlichen Wachen bei der fürstlichen Schatzkammer beginnen; Bewaffnete positionieren sich vor den Eingängen der herrschaftlichen Gemächern, welche in den ersten Stunden des tiefen Schlafes bewacht werden.“ 74 Sidon. epist. 1,2,10.

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Beschäftigungen und seine Erscheinung, und andererseits ich nicht darauf bedacht war, ein Geschichtswerk zu verfassen, sondern einen Brief. 75 Beendet wird die Darstellung mit der Phrase sed iam quid meas istud ad partes, eine bereits von Plinius verwendete „elliptische Floskel“, mit der die Thematik abgebrochen wird. Im gleichen Satz greift Sidonius noch einmal auf Plinius zurück, indem er das Zitat propositum est enim mihi principem laudare, non principis facta abwandelt und mit Antithesen auffüllt: … non multa de regno sed pauca de rege […]. Ebenso finden wir in stilo finem fieri decet eine typische Formulierung, wie sie Plinius in seinen Briefen verwendet. 76 Die Formulierung non historiam sed epistulam efficere curavi greift nochmals den eigentlichen Sinn und Inhalt des Schaffens auf – die Abfassung eines Briefes und nicht eines Geschichtswerkes. Dennoch ist nicht zu bezweifeln, dass Sidonius mit diesem Brief die Genera der Epistolographie weit überschritten hat. Vielmehr fühlt sich der Leser an die Kaiserviten Suetons erinnert, denn nicht nur literarisch, sondern auch inhaltlich hat Sidonius sich vieles von seinen antiken Vorbildern angeeignet und aus ihnen rezitiert. 77 Einen Unterschied zu den Vorbildern seines Schaffens stellt die literarische Gattung dar: Sidonius schreibt Briefe, keine Geschichtswerke oder Biographien. Ein Abgleich mit den in Kapitel 5 erarbeiteten Kategorien, mit denen Barbaren von Sidonius klassifiziert worden waren, führt zu folgendem Ergebnis: Die physiognomische Beschreibung Theoderichs  II. weicht deutlich vom stereotypisierten Erscheinungsbild der Barbaren ab. Weder beschreibt Sidonius dessen Kleidung mit Tierfellen noch dessen Körper als ungepflegt und wild. Im Gegenteil: Sidonius hebt Theoderich II. buchstäblich von der felltragenden Schar ab, die sich nicht benehmen kann und daher vor die Tür verbannt wird, wo sie niemand zu Gesicht bekommt. Während für Sidonius die unbekannte gotische Gruppe barbarisch bleibt, wird das ihm bekannte Individuum – Theoderich II. – für sich betrachtet und beurteilt. Dabei entsprechen Aussehen und Gestalt den Erwartungen, die Sidonius an Mitglieder seiner Innengruppe stellt und die durch Vergleiche mit den Schilderungen von Germanicus und Gnatho deutlich werden. Dies findet seinen Fortgang in Bezug auf Bildung und Sprache, die Sidonius indirekt durch die Gespräche am Tisch und deren Ernsthaftigkeit bezeugt. Ein ungebildeter Mensch ist dazu nicht in der Lage. Weiterhin spricht für den Bildungshintergrund des gotischen Anführers seine Besonnenheit bei Regierungsgeschäften, die der Autor besonders hervorhebt. Theoderich II. wird als eine Person geschildert, die über das Leben philosophiert. Sein Verhalten und sein Charakter können mit drei Begriffen zusammengefasst werden: civilitas, dignitas und modestia. Eigenschaften, die einem stereotypisierten Barbarenbild nicht entsprechen. Selbst der gotische Arianismus, der von Sidonius als

75 Übersetzung nach Köhler 2014, 9. 76 Zu den Parallelen mit Plinius in der conclusio des Briefes sei auf Köhler 1995, 164 verwiesen. 77 Köhler 1995, 120 f.; Reydellet 1981, 72 f. Barnwell 1992, 73 sieht die größte Parallele in der Beschreibung Cassio Dios von Severus (vgl. Cass. Dio 77,17,1–4).

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Häresie aufgefasst wurde, wird in der Schilderung Theoderichs II. übergangen, während seine pietas und das tägliche Gebet positiv herausgestellt werden. 78 Nach ausführlicher Beschäftigung mit der Beschreibung Theoderichs II. muss festgehalten werden, dass dieser Brief alles andere als eine typische Barbarendarstellung beinhaltet. 79 Es kann der gängigen Forschungsmeinung zugestimmt werden, die Frank Kaufmann vertritt: „Theoderich [erscheint] mehr als Römer denn als Barbar.“ 80 Er tritt sogar ausschließlich als Römer auf. Es ist nicht die Schilderung eines Barbarenherrschers, sondern die eines römischen Regenten. Und noch eine Besonderheit gilt es an dieser Stelle zu erwähnen, auf die Sigrid Mratschek hinweist: Sidonius war der erste Literat, der einen Panegyrikus auf einen nicht-römischen Herrscher für ein breites Publikum, das auch die Nachwelt einschloss, verfasste. 81 Die Schilderung Theoderichs II. kann zusammenfassend als Darstellung eines ,Anderen‘ interpretiert werden, der in der Lage war, durch die Adaption römischer Verhaltensweise und Traditionen seine ,Andersheit‘ hinter sich zulassen und der in der Wahrnehmung des ,Selbst‘ des Sidonius zu einem ebenbürtigen Mitglied römischer ‚Lebenswelten‘ wurde. Fraglich ist die Authentizität der Beschreibung. Hagith S. Sivan vermutet, dass es sich um eine idealtypische Darstellung eines Herrschers handle, da alles an Theoderich  II. positiv erscheine. Helga Köhler betont ebenfalls den Konstruktionsgehalt der Beschreibung, die den realen Theoderich II. nicht offenbaren könne. 82 Indes sollte keinesfalls vergessen werden, dass Theoderich II. eine römische Bildung unter dem späteren Kaiser Avitus genossen hatte und so mit den römischen Sitten und Gepflogenheiten vertraut war. 83 Demnach ist es gut möglich, dass sich der Barbar an den gesitteten römischen Herrschern ein Vorbild genommen hatte. Um Aussagen zur Authentizität des Inhaltes machen zu können, ist das eigentliche Genre des Briefes zu beachten. Ist die Beschreibung Theoderichs  II. bereits als Biographie zu werten? Nach Holger Sonnabend sind deren wesentlichen Merkmale: Herkunft und Abstammung, Aussehen, Charakter, Taten und Leistungen. 84 Bei Theoderich II. wird die Abstammung nicht erwähnt, was jedoch dadurch zu erklären ist, dass sie dem Brief, der dem Lob Theoderichs II. dient, nicht nützlich gewesen wäre. Gleichzeitig ist dadurch die Auffassung von Thomas Kitchen, der den 78 Gleichfalls Sidonius den Begriff pietas nicht erwähnt, erscheint er mir treffend das zu bezeichnen, was Sidonius durch das tägliche Morgengebet ausdrücken wollte, ohne dabei das ,arianische Bekenntnis‘ zur Sprache zu bringen. 79 Eine gegenteilige Meinung vertritt Dietrich Claude: „Wie die Quellen, namentlich der Bericht des Sidonius Apollinaris über die Hofhaltung Theoderichs II., zeigen, hatte das westgotische Königtum im 5. Jh. wesentliche Grundzüge germanischer Herkunft bewahrt.“ (Claude 1971, 202). 80 Kaufmann 1995, 115 f. Vertreter dieser Ansicht sind bspw.: Pohl im Druck; Ziche 2011, 215; Gosserez 2010, 134; Raga 2009, 176; Wickham 2005, 80; Gualandri 2000, 110–113; Heather 1996, 193; Sivan 1989, 85 f; 1983, 105; Staubach 1983, 12; Reydellet 1981, 71, 75. Heather 1996, 193 beschreibt den Hof als einen geordneten Ort, an dem schlechtes Verhalten nicht geduldet war. 81 Mratschek 2020, 234 f. 82 Köhler 1995, 334 f.; Sivan 1989, 86. Gualandri 2000, 113 ist der Meinung, dass die Beschreibung zwar idealisiert, aber sicherlich nicht falsch sei. 83 Carm. 7, 497 f. 84 Sonnabend 2002, 128.

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Brief als Kritik bzw. Ironie gegenüber Theoderich II. betrachtet, zu entkräften, da genau zu einem solchen Zweck eine Erwähnung der nicht-römischen Abstammung zu erwarten gewesen wäre. Sonnabend stellt zu Recht die Frage, „was man als Historiker mit Biographien anfangen kann“. Für die Spätantike definiert er zwei Arten: Faktenbiographie und Charakterstudie, die jedoch am Übergang zum Enkomion steht. Meines Erachtens ist der Brief über Theoderich II. als Charakterstudie zu sehen, die nicht nur Verhalten und Charakter im Sinne der aristokratischen „mentalité“ aufweist, sondern sogar einem römischen Herrscher gleichkommt. 85 Hagith S. Sivan sieht in dem Brief eher einen Panegyrikus als eine historische Biographie eines Herrschers, da Theoderich II. durchweg ohne Makel zu sein scheint, weshalb sie, ähnlich wie Helga Köhler, die ,Wahrheit‘ hinter der Darstellung in Zweifel zieht. 86 Es ist davon auszugehen, dass Sidonius mit der Beschreibung Theoderichs II. eine spezielle Intention verfolgte und die Darstellung des visigotischen Herrschers dementsprechend angepasst worden war. Hierauf werde ich nach der Betrachtung von Carmen 7 eingehen. 87 Aufgrund der familiären Beziehungen zu Avitus kann Sidonius Glauben geschenkt werden, dass er selbst bei der einen oder anderen Gelegenheit den gotischen Anführer persönlich gesehen hat. Michael Hanaghan spricht die Möglichkeit an, dass Sidonius den Brief gleichermaßen dafür nutzte, um sich selbst als erfolgreichen Diplomat in Szene zu setzen. 88 Es sei unterstrichen, dass die Frage nach der ,realitätsgetreuen‘ Darstellung Theoderichs  II. für die Fragestellung dieser Arbeit keine Priorität hat, wohingegen die Frage nach möglichen Intentionen des Sidonius bei der Darstellung, deren Erörterung bisher ausgelassen wurde, für die Untersuchung der Wahrnehmung einer Person unabdingbar ist. 6.1.2 Visigoten und ihr Anführer Theoderich II. in den Carmina Sidonius beschreibt den visigotischen Anführer in der soeben analysierten Epistel, präsentiert ihn aber auch in Carmen  7, einem Panegyrikus auf Kaiser Avitus, und in Carmen  23. 89 Es steht außer Frage, dass die Darstellung Theoderichs  II. in Carmen 23 sowie im Avitus-Panegyrikus dem Genre der Dichtung unterstellt ist. Eine wahrheitsgetreue Charakterisierung ist gattungsbedingt nicht zu erwarten. Es sei ein kurzer Exkurs zur Dichtung des Sidonius gestattet. 90 85 Vgl. Gosserez 2010, 131. 86 Sivan 1983, 105. Vgl. Sivan 1989, 86, wo die Autorin auf die Diskrepanz des Theoderich-Bildes zwischen der Darstellung Sidonius’ und anderen Quellen hinweist. Jedoch muss erneut darauf verwiesen werden, dass die Zahl der Quellen zu Theoderich II. nicht nur überschaubar, sondern v. a. nicht zeitgenössisch ist. 87 Siehe Kapitel 6.1.2. 88 Hanaghan 2019, 95, 101. 89 Dies widerspricht Gualandri 2000, 107, die nur von zwei essenziellen Darstellungen Theoderichs in den Werken des Sidonius spricht und sich dabei auf epist. 1,2 und carm. 7 bezieht. 90 Einen guten Einstieg bieten: Consolino 2020; Stoehr-Monjou 2020, 317–340; Condorelli 2008; Loyen 1942.

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David Amherdt unterteilt diese in zwei Gruppen: Die erste Gruppe bilden die drei Panegyriken, die in den Carmina 1 bis 8 enthalten sind und jeweils für den Regierungsantritt eines Kaisers verfasst wurden. Sie beinhalten v. a. die Ereignisse während der politischen Karriere des Sidonius in Rom. 91 Bei den weiteren Gedichten handelt es sich um sogenannte epigrammata oder nugae 92 (carm. 9‒24), die wiederum in verschiedene Untergruppen wie Widmungs- und Schlussgedichte (carm. 9 und 24), Epigramme (carm. 18‒21), Gelegenheitsdichtungen (carm. 10 f. und 14 f.), eine Bittschrift (carm. 13), ein Einladungsschreiben (carm.  17) und zuletzt Dankgedichte (carm. 16 und 22  f.) unterteilt werden können. 93 Während David Amherdt und Norbert Delhey davon ausgehen, dass Panegyriken und nugae getrennt voneinander publiziert wurden, schließt Nora Chadwick eine separate Publikation aus, da es dafür keine Anzeichen gebe und die gesamte Kollektion einem Schulfreund von Sidonius, Magnus Felix aus Narbonne, gewidmet sei. Amherdt und Delhey plädieren jedoch dafür, dass sie erst später zu einem Werk zusammengefügt worden seien, welches vermutlich um 469 veröffentlicht wurde. 94 Palma Camastra setzt den Entstehungszeitpunkt und somit den Veröffentlichungszeitpunkt vor seiner Bischofswahl 471 an. Dadurch, dass eine chronologische Anordnung der Carmina mit Ausnahme der Panegyriken äußerst kompliziert erscheint, ist es nicht angebracht, den Abfassungsoder Publikationszeitpunkt exakt festlegen zu wollen, sondern einen terminus ante quem als sinnvoller zu erachten. 95 Ein weiteres Argument dafür ist eine Aussage von Sidonius selbst, der mit Annahme des Episkopats das Verfassen von Gedichten aufgeben möchte. 96 Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass den Carmina keine Präfatio vorangestellt ist, die das Ziel und die Umstände der Veröffentlichung näher erklärt. 97 Generell hat Sidonius für einen elitären Kreis gedichtet und griff hierfür, wie bereits erwähnt, auf Klassiker zurück, was beispielsweise an seiner akkuraten Metrik erkannt werden kann. 98 Besonders wurde er von Claudian beeinflusst, dessen Stil und Versmaß (hauptsächlich Hexameter

91 Amherdt 2001, 22; Harries 1994, 5. Zur Anordnung der Panegyriken im Werk siehe: Schindler 2009, 182 f. 92 Sidon. carm. 9,9: Er selbst bezeichnet die Gedichte 9 bis 24 als nugae. Eine Auflistung sämtlicher nugae, die poetischen Verse in der Briefsammlung eingeschlossen, bietet Consolino 2020, 342 f. 93 Amherdt 2001, 22. Vgl. zur weiteren Unterteilung: Consolino 2020, 341; Henke 2008, 158; Delhey 1993, 6. Die Carmina 9 bis 24 wurden von Lütjohann 1887 als Carmina minora betitelt. Zu carm. 16 siehe die Edition, Übersetzung und Kommentar von Santelia 2012. 94 Amherdt 2001, 22; Chadwick 1955, 304; Delhey 1993,5; vgl. Mratschek 2013, 251 Anm. 9; Condorelli 2008, 79. Zuletzt hat sich Consolino 2020, 342 für die Zusammengehörigkeit der Carmina 9 bis 24 ausgesprochen. Carmina 9 und 24 seien als Eröffnungs- bzw Schlussgedicht einer Sammlung konzipiert worden, wie Parallelen in Metrik, Inhalt und Adressat andeuten. Sie verdeutlicht, dass zwar eine Zusammenführung der Carmina minora mit den Carmina 1 bis 8 zu einer Sammlung möglich wäre, aber nicht bewiesen werden könne. 95 Ausführlich mit der Veröffentlichung der Carmina minora hat sich Schetter 1994, 236‒256 beschäftigt. 96 Sidon. epist. 9,7,1. 97 Harries 1994, 5. 98 Condorelli 2008, 9, vgl. van Waarden 2011b, 100 f.

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und elegisches Distichon) im Speziellen an Vergil erinnern. 99 Michael von  Albrecht arbeitet in seiner Geschichte der römischen Literatur heraus, dass ohne die Panegyrici Latini kein Claudian möglich gewesen wäre, und tatsächlich sind deren Vertreter, namentlich Plinius, in den Kaiserpanegyriken des Sidonius erkennbar, indem dieser ebenfalls die Kategorien der antiken Königsrede (Heimat, Bildungsgang, frühe Taten und Herrschertugenden) übernommen hat. 100 Einen Vergleich der Panegyrici des Sidonius mit denen des Claudian erarbeitet insbesondere Claudia Schindler heraus. Die Autorin sieht speziell in der Rahmengestaltung einige Parallelen, wie z. B. die Einrahmung durch Proömium und Epilog oder die in allen Panegyrici enthaltenden Götterhandlungen. Dennoch ahmt Sidonius nicht nach, sondern verändert Einzelheiten in der Darstellung, wobei besonders eine Mystifizierung und eine Anhäufung historischer Elemente sichtbar werden. 101 Jean Le Guillou sieht in den Panegyriken apologetische Züge des Sidonius. 102 Um der Intention ihres Autoren auf die Spur zu kommen, gelten ähnliche Argumente wie für seine Briefsammlung. Einerseits müssen die Gedichte als Einheit betrachtet werden, um Sidonius als Poeten verstehen zu können, andererseits muss jedes Gedicht in seinem soziokulturellen Rahmen verortet und insbesondere im Fall der Panegyriken vor dem tagespolitischen Geschehen interpretiert werden. 103 Sidonius wollte mit den Gedichten seine poetischen Fähigkeiten beweisen und an römisch-aristokratische Traditionen anknüpfen sowie durch seine Panegyriken sich selbst präsentieren und seinen Aufstieg im cursus honorum sichern. 104 Dabei stimme ich Annick Stoehr-Monjou und Tabea L. Meurer zu, die den politischen Kommunikationscharakter der Panegyriken betonen und dem Panegyriker somit eine Vermittlerrolle zwischen dem Herrscher und den Eliten zuschreiben. 105 Es wurde bereits bei der Untersuchung der Epistel 1,2 angedeutet, dass diese in einen politischen Kontext verortet werden muss, um Sidonius’ Intentionen der Theoderichdarstellung zu hinterfragen. Da Theoderich  II. seinem Schwiegervater Avitus zum 99 Stevens 1933, 32. Zur Entwicklung der epischen Panegyrik siehe: Schindler 2009, 14–58; zur spätantiken Dichtung allgemein siehe: Roberts 1989. 100 Albrecht 2012, 1143, 1233. Zum Einfluss Claudians, Plinius’, den Panegyrici Latini, Ausonius’ und Merobaudes siehe Stoehr-Monjou 2020. 101 Schindler 2009, 212 f. 102 Le Guillou 2001, 48 erkennt in den Panegyriken des Sidonius eher apologetische Züge. 103 So erklärt bspw. Kaufmann 1995, 86 die zeitlich umgekehrte Anordnung der Panegyriken in der Sammlung als eine Referenz auf Kaiser Anthemius, zu dessen Regierungszeit die Lobgedichte veröffentlicht worden wären. Obgleich dies sicherlich ein gewichtiges Argument ist, kann eine solche Annahme nicht bewiesen werden. 104 Den selbst-referentiellen Charakter der Gedichtsammlung hebt Meurer 2019, 174 hervor. Sie untersucht die Carmina des Sidonius auf Distinktionsmerkmale senatorischer Eliten (175–200). Das Anknüpfen an Tradition unterstreicht bereits Gualandri 1979, 104. 105 Stoehr-Monjou 2020, 320; Meurer 2019, 185. Ähnlich argumentiert Gillett 2003, 87, 91–94, der Carmen 7 des Sidonius als Kommunikationsmittel zwischen Kaiser und Aristokratie zu Propagandazwecken interpretiert. Zur Frage der Panegyriken als idealisiertes Spiegelbild eines Herrschers und der damit zusammenhängenden Konstruktion von Macht sei auf Furbetta 2014/2015, insb. 124–133 verwiesen. Kulikowski 2008, 335–332 gelingt es meisterhaft Carmen 7 in das politische Geschehen zu verorten.

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Kaiserthron verholfen habe, liegt es nahe, das von ihm gezeichnete Bild des Visigoten in seinem Panegyrikus zum Herrschaftsantritt des Avitus in den Blick zu nehmen. 106 Sidonius gestaltet den Panegyrikus als concilium deorum, vor das die gebeugte Roma tritt und ihr Leid klagt. 107 Durch Roma selbst hält Sidonius eine Rückschau auf schlechte und gute principes sowie die damit verbundenen militärischen Niederlagen bzw. Siege. 108 Die vergangenheitsbezogene Auflistung endet mit Trajan als optimus princeps, der eine perfekte Überleitung für die folgende Darstellung von Avitus als Hoffnung Roms zu bieten scheint; stammte Trajan doch wie Avitus aus einer Provinz (Spanien) und wurde darüber hinaus in einer Provinzstadt, in der colonia Agrippina (dem heutigen Köln) zum Kaiser erhoben. Im Panegyrikus fleht Roma nun Gallia an, einen neuen Trajan zu schicken, der siegen wird. 109 Mit der Antwort des Göttervaters beginnt die eigentliche Präsentation des neuen Herrschers, die sich gemäß gattungstypischen Konventionen eines Enkomions unterteilt: Herkunft (7,139–152) 110, Abstammung (7,153–163), Jugend und Ausbildung (7,164–206) sowie Karriere (7, 207–356). Noch in jugendlichen Jahren führte ihn Letztere, nachdem mit den Goten ein Vertrag geschlossen worden war, an den Hof Theoderichs I.: 111 in media pelliti principis aula. 112 Dort sei es ihm gelungen, so Sidonius, sich mit dem visigotischen Anführer anzufreunden. 113 Dies wurde vm Autor besonders positiv dargestellt, weil es immerhin eine Freundschaft mit einem wilden König (rege … feroci) war. 114 So lässt Sidonius den Göttervater in seiner Rede hervorheben, dass Avitus als Einziger in der Lage war, einen foedus mit den Goten zu schließen und die Ländereien zurückzufordern, auf die sie ihr Reich bereits ausgedehnt hatten. 115 Die Goten hatten es nicht einmal nötig, für ihre Expansion zu kämpfen, was Sidonius mit dem Gegensatz nec pugnare … sed migrare verstärkt. 116 Der Autor scheint hier schon beinahe 106 Zu Avitus’ Herrschaftsantritt siehe: Henning 1999, 128–132. Luciana Furbetta bereitet derzeit einen kritischen Kommentar zu Carmen  7 vor, der im Rahmen des SAxxi-Projektes –  Sidonius Apollinaris for the 21st Century – erscheinen wird. Erste Einblicke zur Gestaltung von Carmen 7 finden sich in Furbetta 2014, 73–88. 107 Zum Adressatenkreis des wohl in der curia vorgetragenen Lobgedichtes siehe: Meurer 2019, 184–186; Hanaghan 2017, 271 f.; Henning 1999, 126. 108 Sidon. carm. 7,45–115; vgl. Meurer 2019, 184 f.; Schindler 2009, 187 f. Zur Ähnlichkeit der RomaDarstellung in Claudians De bello Gildonico siehe: Schindler 2009, 185. Kaufmann 1995, 83–86 zieht einen Vergleich zu Rutilius Namantius’ De reditu suo. Zusammenfassend zu Roma-Darstellungen in Sidonius’ Panegyriken und intertextuelle Bezüge siehe: Consolino 2014, 147–176. 109 Sidon. carm. 7,116–118; siehe Furbetta 2014/2015, 131 f.; Mratschek 2008b, 366; Loyen 1960/1970, Bd. 1, 59. Zur imitatio des Trajan als optimus princeps in der spätantiken Panegyrik siehe: StoehrMonjou 2020, 318. 110 Henning 1999, 125 hält fest, dass Sidonius die Bedeutung der Auvergne amplifiziert. 111 Sidon. carm. 7,214–220 112 Sidon. carm. 7,219: „[…] mitten in die Halle des felltragenden Anführers […]. 113 Sidon. carm. 7,223–225. 114 Sidon. carm. 7,223‒225. 115 Sidon. carm. 7, 299–315. 116 Sidon. carm. 7,302 f.: […] nec erat pugnare necesse / sed migrare Getis „[…] die Goten mussten nicht einmal kämpfen, sondern lediglich migrieren.“

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eine Ungläubigkeit über diese Ereignisse zu zeigen und meines Erachtens klingt indirekt eine Anklage des Sidonius an den römischen Kaiser mit, der nicht gleich auf die Wirren in Gallien nach diesem Ereignis reagierte. Dies ist erneut eine Möglichkeit, den neuen Kaiser zu rühmen, dem es gelang, mit den Goten zu verhandeln. 117 Doch die Ermordungen von Aëtius und Valentinian III. hatten grundlegende Folgen für die mit den Goten geschlossenen Verträge. 118 Wie groß Sidonius die Gefahr nach Aëtius’ Tod durch die Goten darstellte, verdeutlichen folgende Verse: […] nec non sibi capta videri / Roma Getis tellusque suo cessura furori. / raptores ceu forte lupi, quis nare sagaci / monstrat odor pinguem clausis ab ovilibus auram, / irritant acuuntque famem portantque rapinae / in vultu speciem, patulo ieiunia rictu / fallentes […]. 119 […] und auch die Goten von sich glaubten, Rom eingenommen zu haben, und von der Welt, dass sie unter ihrer Raserei zurückweichen werde. Wie reißende Wölfe, deren witternde Nase einen Hauch von Fett aus einem eingezäunten Schafstall aufgespürt hat, reizen und wecken sie ihren Hunger und sie tragen den Anblick der Beute bereits in ihrem Gesichtsausdruck, während sie mit weit aufgerissenen Mäulern ihre Nüchternheit unterdrücken. In der Schilderung des Sidonius geschieht der erneute Expansionsversuch der Goten bereits unter Petronius Maximus, dem Nachfolger Valentinians. 120 Sidonius hütet sich jedoch, das Wort potestas oder regnum zu verwenden, sondern beschreibt das gotische Expansionsstreben als Wahnsinn ( furor). Die verwendeten Hyperbata sibi videri und capta Roma können literarisch ausdrücken, dass dieses Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt wurde. 121 Er greift das Bild eines Wolfsrudels auf, das auszieht, um wehrlose Schafe

117 Sidon. carm. 7,342 f. Zur Darstellung des Avitus in Sidon. carm. 7 siehe stellvertretend: Hanaghan 2017, 262–280; Stoehr-Monjou 2014, 89–110; Schindler 2009, 182–197; Henning 1999, 123–128; Watson 1998, 177–198; Bonjour 1982, 11 f. Sidon. carm. 7,431: rigido … corde; zur getica ira: 7,298, 303, 348, 399, 426, 548; vgl. Kaufmann 1995, 120. 118 Für den historischen Hintergrund sei auf Kapitel 2 verwiesen. Siehe ferner zum Aufstieg der Heerführer: Börm 2013, 56–93. Ein kurzer Überblick findet sich bei Meier 32020, 472–475, 560–562. Sidonius spricht den Aufstieg und Fall des Petronius in epist. 2,13 an. 119 Sidon. carm. 7,361‒368. Eben diese Verse hat Montone 2011 kritisch kommentiert. 120 Zum Aufstieg des Petronius Maximus siehe: Henning 1999, 28–32. Kritisch geht Kulikowski 2008, 337 f. mit dem Quellenbefund um, der in der modernen Forschung oft unbedacht rezitiert werde. Er unterstreicht, dass Sidonius’ Panegyrikus die einzige zeitgenössische Quelle ist, die über Avitus’ Erhebung zum Kaiser berichtet, und daher umso kritischer gelesen werden muss. 121 Besonders für Zuhörer der Lobrede in Rom mag diese Aussage jedoch eine reale Furcht ausgelöst haben, wurde Rom 410 von Goten und 455 von Vandalen heimgesucht. Stevens 1933, 25 schreibt diesen Versen eine reale Bedrohung zu, die existiert habe, während Kulikowski 2008, 341 die Historizität anzweifelt. Meines Erachtens spielt Sidonius hier mit den Emotionen seiner Zuhörer

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zu reißen. 122 Die Schafe stehen in dieser Passage für die römische Bevölkerung, welche den Goten durch die politischen Wirren nach der Ermordung des Aëtius und Valentinians III. schutzlos ausgesetzt war. Der Panegyrikus auf Avitus eignet sich vorzüglich, um zu unterstreichen, wie Sidonius eine ,Masse‘ ihm persönlich unbekannter Barbaren stereotypisiert, um einzelne Persönlichkeiten, in diesem Fall seinen Schwiegervater Avitus, zum Leuchten zu bringen. Er beschreibt die Goten als hartherzige Räuber, deren Zorn nur von Avitus gebändigt werden konnte. 123 An dieser Stelle ist es angebracht, über die Intention des Panegyrikus zu reden. 124 Er entstand zum Konsulatsantritt des Avitus und sollte dem Publikum den Heermeister als idealen Herrscher vor Augen führen, da lediglich von Avitus als „neuem Trajan“ Siege –  insbesondere über vandalische Heeresverbände, die 455 n. Chr. Rom geplündert hatten – zu erwarten waren. 125 Avitus war kein italischer Herrscher und wurde in Toulouse, am visigotischen Hof, zum Kaiser ernannt. Michael Kulikowski weist zurecht darauf hin, dass Sidonius Avitus’ Beziehung zum visigotischen Herrscher erklären musste und die Lobrede diese Funktion übernahm. 126 Gleichzeitig wollte er mit seinen Panegyriken allgemein den Glauben nach politischer Stabilität bestärken und die Hoffnung wecken, dass Rom die Größe seiner Vergangenheit wieder erlangen könne. 127 Immer wieder verweist er sowohl auf die militärischen als auch primär auf die diplomatischen Fähigkeiten seines Schwiegervaters. Dieser besaß, so Michael Hanaghan, eine natürliche auctoritas, der sich visigotische Föderaten willig beugten. 128 In seiner Darstellung spielen gotische Anführer dabei im Vergleich zu römischen Würdenträgern eine untergeordnete Rolle. 129 Im Avitus-Panegyrikus verdeutlicht Sidonius dessen besondere Bedeutung, ob

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– genauer gesagt mit ihrer Angst –, um diese zu überzeugen, dass Avitus ein fähiger Beschützer und Herrscher Roms sei. Durchaus eine Parallele zu epist. 7,6. Siehe Kapitel 6.2.1. S. o. Anm. 117. Stoehr-Monjou 2009, 209: Die Panegyriken des Sidonius stehen in einem politischen Kontext und sind als Propagandamittel aufzufassen. Kitchen 2010, 57: Der Hypothese des Autors, dass der Panegyrikus eine Usurpation legitimieren sollte und aus diesem Grund eine satirische Darstellung der Visigoten von Sidonius vorgenommen wurde, soll in dieser Arbeit nicht gefolgt werden, da in den Textpassagen über die Barbaren keine besonderen Hinweise auf Ironie oder Satire nachvollzogen werden konnten. Thomas Kitchens Argument, dass die Lobrede während der Saturnalien vorgetragen wurde, ist für die Grundlage seiner Überlegungen nicht tragend und abzulehnen. Zur curia als traditioneller Austragungsort für Panegyriken siehe: Henning 1999, 123. Sidon. carm. 7,115‒117; vgl. Aur. Vict. Caes. 13,2,8; siehe Mratschek 208, 365 f.; Reydellet 1981, 54. Ferner Kulikowski 2008, 336. Allerdings stimme ich seiner Annahme, dass Sidonius die gesamte Lobrede derart strukturiert habe, um die Beziehung von Avitus zu den Visigoten zu erklären, nicht zu (340). Diese wird den vielen Facetten, die dieser Panegyrikus aufweist, nicht gerecht. Mratschek 2008b, 365; Watson 1998, 177 f.; Harries 1994, 67–79. Hanaghan 2017, 274–277. Watson 1998, 188.

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der Tatsache, dass die Verträge mit den Goten an die Persönlichkeit des Avitus gebunden waren. 130 Dadurch wird deutlich, dass sich ohne Avitus, der als die Hoffnung der Welt dargestellt wird (spes orbis), die Beziehung zu den Goten jederzeit wieder ändern kann. 131 Unter Avitus folgen die mit Fellen bekleideten Krieger den römischen Kriegstrompeten: ibant pellitae post classica Romula turmae. 132 Unter der Herrschaft Theoderichs II. kam es zum Frieden zwischen Rom und den Goten und Avitus betrat mit dem visigotischen Anführer und dessen Bruder die Stadt Toulouse, um ein foedus zu besiegeln. 133 Betrachten wir nun das Bild Theoderichs II. in diesem Panegyrikus, 134 so fällt auf, dass Sidonius zwar ,die‘ Goten als Kollektiv stereotypisiert und Adjektive aus der Wortfamilie der Wildheit und des Zornes für deren Beschreibung verwendet: feroci getae; geticas iras; getis furori. 135 Theoderich II. aber hebt sich von dieser Darstellung deutlich ab und Sidonius vergleicht ihn sogar mit Titus Tatius: 136 post hinc germano regis, hinc rege retento / Palladiam implicitis manibus subiere Tolosam. / haud secus insertis ad pulvinaria palmis / Romulus et Tatius foedus iecere […]. 137 Dann führte er [Anm.: Avitus] auf der einen Seite den König, auf der anderen Seite den Bruder des Königs und Hand in Hand betraten sie Toulouse, die Stadt der Pallas. In gleicher Weise schlossen Romulus und Tatius ihren Vertrag, indem sie sich die Hände bei den Göttersesseln reichten […]. Lynette Watson arbeitet heraus, dass der Sabinerkönig in der Darstellung des Livius eine untergeordnete Rolle spielt. Diese ,Unterordnung‘ wollte Sidonius durch den Vergleich Theoderichs II. mit dem Sabinerkönig ausdrücken. Es herrschte demnach Frieden, aber die Römer diktierten ihn. 138 Lediglich der Schauplatz des Vertragsabschlusses will nicht so recht zur römischen Mentalität passen –  sind die ,Befriedeten‘ nicht immer nach Rom gekommen? Wie kann Rom die Oberhand in dieser Vertragssituation haben, wenn 130 Giannotti 2000, 115 f. 131 Sidon. carm. 7,353. 132 Sidon. carm. 7,349: „[…] die mit Fellen bekleideten Schwadronen, marschierten hinter den römischen Trompeten […].“ 133 Kulikowski 2008, 343 f. 134 Zur Darstellung Theoderichs II. in den Carmina siehe: Gosserez 2010, 133–138; Gualandri 2000, 107 f., 113–118; Kaufmann 1995, 117–122; Harries 1994, 67 f.; Mathisen 1993, 46, 70; Sivan 1989, 87–90; Günther 1982, 659 f. 135 Sidon. carm. 7,392, 547, 362. 136 Gualandri 2000, 116; Reydellet 1981, 77. Zur Bedeutung von Geschichte in Sidonius’ Panegyriken siehe: Meurer 2019, 175–191 (bes. zu carm. 7,184–186). Freilich hat Sidonius den Mord, den Theoderich II. an seinem Bruder begangen hat, im Lobpreis auf Avitus verschwiegen; vgl. Kapitel 2. Siehe Kaufmann 1995, 82 zur „Unterdrückung unangenehmer Wahrheiten“. 137 Sidon. carm. 7,435‒438; Ausruf der Goten zum Frieden: Sidon. carm. 7,416: periit bellum, date rursus aratra. 138 Vgl. Liv. 1,14,1‒3. Watson 1998, 189; ebenso Gualandri 2000, 117.

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der Abschluss in Toulouse, dem Hof des gotischen Königs, stattfand? Wenn Watsons Vermutung zugestimmt werden kann, müsste dies bedeuten, dass der Ort die Zuhörerschaft des Panegyrikus sehr wohl zum Stutzen gebracht hatte. Der Vergleich von Avitus mit Romulus als einem Helden der guten alten Zeit konnte dies ausgleichen und zeigen, dass Rom bzw. Avitus dem visigotischen Anführer überlegen war. Dies wird später im Panegyrikus durch eine Rede des Theoderich noch verstärkt, in der dieser beteuert, dass er Frieden mit Avitus halten will: me pacem servare tibi vel velle abolere […]. 139 An einer anderen Stelle verspricht Theoderich II., dass er mit Avitus als Führer Roms Freund und als Kaiser sogar Roms Soldat sei. 140 mihi Romula dudum / per te iura placent, parvumque ediscere iussit / ad tua verba pater, docili quo prisca Maronis / carmine molliret Scythicos mihi pagina mores; / iam pacem tum velle doces. […] / testor, Roma, tuum nobis venerabile nomen / et socium de Marte genus (vel quicquid ab aevo, / nil te mundus habet melius, nil ipsa senatu), / me pacem servare tibi vel velle abolere / quae noster peccavit avus, quem fuscat id unum, / quod te, Roma, capit; […]. 141 Dank dir gefallen mir die römischen Gesetze schon lange. Mein Vater gebot mir im Knabenalter deine Worte auswendig zu lernen, damit die altehrwürdigen Buchseiten durch die gelehrte Dichtung Vergils meine gotischen Sitten besänftigen würden; schon damals lehrtest du mich den Frieden. […] Ich schwöre Roma, bei deinem ehrwürdigen Namen und der gemeinschaftlichen Abstammung von Mars (denn was auch immer von Anbeginn existierte, die Welt besitzt nichts Besseres als dich und selbst nichts Besseres als den Senat), dass ich den Frieden mit dir bewahre und verlange das zu vergessen, was unser Vorfahre verschuldet hat; den dieses eine verdunkelt, dass er dich, Roma, eingenommen hat; […].

139 Sidon. carm. 7,504. In dieser Hinsicht ist die alternative Lesart spannend, der Michael Kulikowski nachgeht. Er unterbreitet den Vorschlag, dass Avitus nicht im Auftrag des Petronius Maximus nach Toulouse kam, weil die Goten aufständisch geworden waren und an die Einhaltung des foedus mit Rom erinnert werden mussten. Vielmehr sei die Herrschaft über die Visigoten zwischen Theoderich II. und seinem Bruder Frederich geteilt gewesen und zwischen den beiden sei es zu einer Art Bürgerkrieg gekommen. Wird die spätere Ermordung Frederichs durch Theoderich II. in die Betrachtung miteingeschlossen, könnte dies durchaus der Wahrheit entsprochen haben. Folgen wir nun aber Michael Kulikowskis Ausführungen, dann würde Toulouse in den Versen eigentlich Rom darstellen, Theoderich Romulus repräsentieren und Avitus würde dadurch zum auswärtigen Sabinerkönig. Kulikowski ist sich seiner gewagten Lesart durchaus bewusst und negiert nicht die traditionelle Lektüre des Panegyrikus. Indem er seine Interpretation gekonnt mit historischen Fakten untermauert, macht er auf die Möglichkeit aufmerksam, dass Sidonius mit diesem Panegyrikus mehrere Botschaften kommuniziert haben könnte; siehe: Kulikowski 2008, 344–352. 140 Sidon. carm. 7,511 f. 141 Sidon. carm. 7, 495–506.

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Sidonius ruft die römische Bildung von Theoderich II. durch Avitus in Erinnerung und unterstreicht das Verlangen Theoderichs nach Frieden. Sogar eine gemeinsame Abstammung, die sich auf den Kriegsgott Mars bezieht, wird von Sidonius suggeriert. Isabella Gualandri interpretiert den von Sidonius konstruierten Abstammungsmythos als Legitimationsgrundlage für eine Zusammenarbeit von Römern und Goten, speziell von Avitus und Theoderich  II. 142 Er führt somit einen Anführer, der aus römischer Perspektive zu den ‚Anderswelten‘ gehören müsste, als Verbündeten und Freund in die römischen ‚Lebenswelten‘ ein. Aus Theoderich dem ,Anderen‘, wird Theoderich der Vertraute. 143 Die Sidonius unbekannten visigotischen Truppen bleiben hingegen außerhalb der erschaffenen ‚Lebenswelten‘ und werden in traditioneller literarischer Manier mit Metaphern und Topoi dargestellt. Vom Panegyrikus auf Avitus komme ich nun auf das private Lobgedicht auf Consentius (Carmen 23) zu sprechen. 144 Dabei handelte es sich um eine Antwort des Sidonius an Consentius, der ihm ein multiplex poema zugeschickt hatte, für das sich Sidonius mit seinen eulogischen Versen revanchiert. 145 Franca E. Consolino arbeitet deutlich heraus, dass es sich bei Carmen 23 um ein Enkomion handle, das zuerst Consentius’ Heimat (23,37–96), dann dessen Elternhaus (23,97–177) und schließlich den Gelobte selbst (Ausbildung, Karriere, Leben in otium) besingt. Dazwischen folge Sidonius Menanders Ratschlägen und hebe hervor, dass seine Dichtkunst dem gelobten Consentius nicht gerecht werden würde. 146 Obgleich es sicherlich nicht uninteressant wäre, das Lob auf Consentius näher zu betrachten, steht vielmehr Theoderich II. und sein Erscheinen in diesem privaten Gedicht im Vordergrund. 147 Dieser wird im Zusammenhang mit dem Städtelob auf Narbonne, zur Ehrung von Consentius’ Herkunft, genannt.: Hinc te Martius ille recto atque  / magno patre prior, decus Getarum,  / Romanae columen salusque gentis, / Theudericus amat sibique fidum / adversos probat ante per tumultus. 148

142 Gualandri 2000, 117. 143 Gosserez 2010, 135 kommt am Ende seiner Interpretation des Panegyrikus zur Schlussfolgerung, dass Theoderich II. als Restaurateur römischer Macht fungiere und Sidonius die Idee eines römisch-gotischen Reiches verfolgt habe. Da Theoderich  II. trotz positiver Charakterisierung deutlich unter Avitus als Retter Roms steht, kann ich mich der Folgerung von Laurence Gosserez nicht anschließen. 144 Allgemein zu Carmen 23: Consolino 2020, 343–346; Riess 2013, 93–129; Wolff 2012b; Harries 1994, 100–102, 128; Reydellet 1981, 77; Loyen 1960/1970, Bd. 2, xli. Zu Consentius siehe; Heinzelmann 1983, 586 unter Consentius 2; vgl. PLRE II, 308 f. unter Consentivs 2. Dieser besaß ein Landgut bei Narbonne, das von Sidonius in epist. 8,4,1 erwähnt wird. Zur Datierung siehe: Kelly 2020, 173. 145 Sidon. carm. 23, 20–31. 146 Consolino 2020, 344. 147 Die Privatheit des Gedichtes werde durch die Verwendung eines Hendekasyllabus unterstrichen, statt eines für Panegyriken üblicheren Hexameter, siehe: Consolino 2020, 345. 148 Sidon. carm. 23, 69‒73.

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Deshalb beherrscht dich jener Kriegsherr, der selbst vorzüglicher ist als sein großer Vater, der Zierde der Goten ist und Säule und Heil der römischen gens; Theoderich liebt dich und deine Treue erprobt er aufgrund der aufrührerischen Erhebungen von einst. Das Gedicht ist als Aufruf an die Stadt Narbonne zu verstehen, Theoderich, nachdem sie seinem Machtbereich unterstellt worden war, treu zu sein. 149 Sidonius charakterisiert Theoderich II. als kriegerischen Herrscher, was der körperlichen Darstellung in der Epistel sowie der kriegerischen Natur der Goten in Carmen 7 entspricht. 150 Dies wird jedoch weder als Bewunderung für eine edle kriegerische Natur der ‚Wilden‘, wie sie in ethnographischen Beschreibungen in Erscheinung tritt, interpretiert noch als stereotypisierte Darstellung eines Barbaren erachtet. Vielmehr sind die Darstellungen von Theoderich II. in der Epistel an Agricola, im Avitus-Panegyrikus und im Carmen 23 mit derselben Intention konstruiert worden: Sidonius wollte mit Theoderich II. ein Beispiel für eine gelungene ‚Integration‘ in die römischen ‚Lebenswelten‘ geben und vermutlich dabei auch rechtfertigen, weshalb seine Familie dem visigotischen Anführer verbunden war. So ist auch zu erklären, warum er Theoderichs II. Ansehen über dessen Vorfahren hinaushebt und ihn sogar als Heil der Römer bezeichnet. Gleichzeitig beweisen diese Verse, dass Sidonius’ Haltung gegenüber Theoderich II. eine gänzlich andere ist als gegenüber Eurich. Denn während Sidonius Narbonne aufruft, vor Theoderich im übertragenen Sinne die Knie zu beugen und ihm Loyalität zu schwören, kämpft er erbittert gegen die Übergabe seiner civitas an Eurich. 6.1.3 Fazit zu Theoderich II. Nach Hagith S. Sivans Meinung hatten die Schilderungen des gotischen Anführers in den Episteln und in den Carmina, hauptsächlich im Avitus-Panegyrikus, dieselbe Intention: die Verteidigung der römisch-gotischen Allianz. Daher erkläre sich auch das romanisierte Bild Theoderichs II. und dessen ,unrealistische‘ Darstellung. Brief und Gedichte sollten für eine Kooperationspolitik zwischen Goten und Römern sprechen. 151 Frank Kaufmann, der von einer maßgeblichen Beteiligung Theoderichs II. an der Thronerhebung des Avitus ausgeht, räumt ein, dass Sidonius keine andere Chance gehabt habe, als den gotischen Herrscher in positivem Licht darzustellen, da er sonst seinem eigenen Schwiegervater 149 Zum politischen Hintergrund siehe: Harries 1994, 100 f. 150 Eine Interpretation der Darstellung von Theoderich II. als ‚edler Barbar‘ wird abgelehnt (siehe Kapitel 1.5). Meines Erachtens hat Sidonius ihn nicht als ,Anderen‘ beschrieben, der trotz positiver Merkmale ein ,Anderer‘ bleibt. Sidonius hatte mit seiner Darstellung die Intention den rex Gothorum als rex romanus erscheinen zu lassen. 151 Sivan 1989, 86‒89, 94. Gualandri 2000, 114 ist ebenfalls der Meinung, dass Sidonius versuchte, Theoderich II. so römisch wie möglich darzustellen, um die Allianz mit den Visigoten zu verteidigen. Heather 1996, 193 sieht in der Darstellung ebenso einen würdigen politischen Verbündeten, der römisch zivilisiert war.

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geschadet hätte. 152 Diese Argumentation ergibt sich aus dem scheinbaren Konsens der Forschung, dass die beiden Gedichte sowie der Brief an Agricola ungefähr zeitgleich entstanden, wobei eine Entstehung noch zu Lebzeiten Theoderichs II. († 466 n. Chr.) angenommen wird. Obwohl ich mich der Forschung dahingehend anschließe, dass der Erzählzeitraum des Briefes durchaus in die Zeit zwischen der Kaisererhebung des Avitus (455  n.  Chr.) und der Arvandusaffäre (468/469  n.  Chr.) eingeordnet werden kann, ist meines Erachtens eine Zirkulation des Briefes unabhängig von der Sammlung über den Sidonius’schen Freundeskreis hinaus aufgrund des politischen Inhaltes auszuschließen. Wie in Kapitel 3.2.2 verdeutlicht wurde, kann deren Publikationszeitpunkt nicht zweifelsfrei bestimmt werden. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem eigentlichen Adressaten oder dem Leserkreis, für den die Veröffentlichung des Briefes bestimmt war, unausweichlich. Mit der Intention, die Politik seines Schwiegervaters zu verteidigen, wäre als Adressat des Briefes die gesamte römische Aristokratie angesprochen, besonders dann, wenn ein Zusammenhang zwischen der Abfassung oder Veröffentlichung des Briefes um das Jahr 469 n. Chr. und dem Arvandusfall besteht. 153 Helga Köhler ist der Auffassung, dass der Brief erst nach dem Tod Theoderichs II. verfasst wurde und somit in panegyrischer Manier ein idealisiertes Bild des toten Königs darstellt, das mahnend auf Eurich wirken sollte. Der Brief habe die Funktion besessen, Theoderich II. als Vorbild für Eurich abzubilden, und demnach sei Agricola lediglich ein „Pseudo-Adressat“ des Briefes gewesen. 154 Frank Kaufmann vertritt entgegen aller Diskussion die Meinung, dass der Brief aufgrund hoher persönlicher Wertschätzung entstanden sei, was zudem Carmen 23 beweise. 155 Dies schließt eine politische Intention des Briefes zwar nicht aus, aber auch nicht automatisch ein. Die Vermutung André Loyens, dass Sidonius mit dem Brief seine Zuneigung zu den visigotischen Föderaten unter Theoderichs  II. Führung gezeigt habe, erscheint nicht plausibel. 156 Zwar scheint Sidonius von ihm angetan gewesen zu sein, aber dieses Wohlwollen darf in keiner Weise auf die gotische Gemeinschaft übertragen werden, die für Sidonius als Fremde weiterhin stereotypisiert und als barbarisch angesehen werden. Es ist davon auszugehen, dass Sidonius mit dem Brief und dem Panegyrikus zweierlei Intention verfolgte: 1.  Er wollte die Zusammenarbeit seines Schwiegervaters mit Theoderich II. und somit primär seine eigene Rolle in diesem Verhältnis und im politischen Geschehen rechtfertigen. 2.  Er wollte mit Theoderich  II. ein Beispiel eines nicht-römischen Herrschers bieten, unter dem eine Kontinuität des aristokratischen Lebens möglich war. Das Schreiben an Agricola ist als Beleg dafür zu interpretieren, dass ,Andersheit‘ überwunden werden kann. Dadurch, dass er dem Barbarenherrscher römische Tugenden zuordnet, verliert dieser seine Fremdheit. Er wirkt dem Leser durch die 152 Kaufmann 1995, 122. 153 Küppers 2005, 271 f. 154 Köhler 1995, 120 f. Kitchen 2010, 59 und Reydellet 1981, 72 sprechen sich als Abfassungszeit des Briefes für das Jahr 455 aus. 155 Kaufmann 1995, 117, 123. 156 Loyen 1960/1970, Bd. 2, xlii.

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römische Mentalität, mit der er beschrieben wird, vertraut. Mit der besonderen Stellung der Theoderich-Beschreibung am Beginn der Briefsammlung entsteht ein neues Bild eines ,Warlords‘, der vormals als barbarisch klassifiziert worden war. In Sidonius’ Werken kann diese Entwicklung von einem wilden Krieger zu einem über civilitas und dignitas verfügenden Anführer nachvollzogen werden. 157 Der vormals sogar feindliche Fremde wird in Sidonius’ Wahrnehmung zu einem ,Anderen‘, der die lebensweltlichen Grenzen überschreitet und dadurch als Teil einer gemeinschaftlichen ‚Lebenswelt‘, einer Innengruppe des Sidonius, beschrieben wird.

6.2 Die Darstellung Eurichs Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Darstellung Eurichs in ähnlicher Weise wie die Theoderichs II. von den stereotypisierten Barbarenbildern in Sidonius’ Werk differiert. Eurich wird von Jill Harries als Negativbild zu Theoderich II. angesehen. 158 Dieses Urteil bezieht sich vorwiegend auf die Politik Eurichs, der sich die innere Zerrissenheit des Römischen Reiches zu Nutzen machte und den gotischen Machtausbau vorantrieb. 159 Eurich ergriff im Jahr 466 n. Chr. die Herrschaft über die gotischen Verbände, nachdem er seinen Bruder Theoderich II. ermordet hatte. 160 Im Jahr 468 n. Chr. änderte sich in Rom die Lage, als Anthemius als neuer Kaiser des weströmischen Reiches seine Herrschaft antrat. Dessen Gesetze sind die Ersten, die von den Goten nicht in ihre Gesetzessammlung aufgenommen und somit nicht befolgt wurden. 161 Wie der Arvandus-Prozess zeigt, gab es Bestrebungen, Gallia unter Goten und Burgundern administrativ aufzuteilen. Die ersten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Eurich und dem Römischen Reich unter Anthemius folgten erst im Jahr 471 n. Chr. in der Region der heutigen Provence. 162 Im Jahr 475 erkannte Kaiser Nepos schließlich das ,Tolosanische Reich‘ unter Eurich als autonom an, was in der lokalen aristokratischen Führungsschicht zu inneren 157 Die Schritte sind in der Schilderung von Sidonius folgendermaßen nachzuvollziehen: zur barbarischen Charakterisierung: Sidon. carm. 7,303; zum Übertritt vom ,Anderen‘ in die Innengruppe des Sidonius: Sidon. carm. 7, 495–498; Carm. 23, 71; zum Mitglied der Sidonius’schen ‚Lebenswelten‘: Sidon. epist. 1,2. Es wird Fascione 2019, 60 widersprochen, die in der Epistel an Agricola verschiedene Charakteristiken Theoderichs II. erkennt, da Sidonius diesen „mal als Barbar und mal als Nicht-Barbar“ beschreibe („Come si può notare, nella descrizione di Teodorico si sovrappongono caratterizzazioni diverse. Egli è connotato ora come un barbaro, ora come un ‚non-barbaro‘ […].“). 158 Harries 1992, 302; siehe auch: Gualandri 2000, 129. 159 Gualandri 2000, 118. Ausführlich mit der Politik Eurichs haben sich folgende Forscher und Forscherinnen befasst: Gillet 1999, 1–40; Demougeot 1979, 631–649; Rouche 1979, 35–43; Stroheker 1937. 160 Hyd. chron. 238. Aufgrund der Quellenlage herrscht in der Forschung Uneinigkeit, ob Eurich die Herrschaft 466 oder 467 n. Chr. übernommen hat. Die Forschungsdebatte findet sich zusammengefasst bei Gillet 1999, 3–19, der sich für das Jahr 466 n. Chr. ausspricht. 161 Wolfram 1979a, 221. 162 Chron. Gall. 522, 649; Gillet 1999, 26.

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Konflikten führte, die Eurich ausnutzte, um seine Macht zu stärken. 163 Bereits im Jahr 473 hatte die ostgotische Invasion in Italia begonnen und drei Jahre später herrschte Odoaker in Ravenna und akzeptierte 477 n. Chr. Eurichs Autonomie sowie regionale Vormachtstellung in den südwestlichen gallischen sowie nordöstlichen spanischen Gebieten. 164 Bezüglich der Quellen zu Eurich besteht ein ähnliches Problem wie für seinen Bruder Theoderich  II. Von den Chroniken abgesehen, stellen die einzigen zeitgenössischen Berichte, die sich mit Eurich befassen, die Briefe des Sidonius dar. 165 Jordanes sowie Gregor von Tours widmen Eurich zwar größere Abschnitte in ihren Geschichtswerken, sind jedoch eindeutig von Sidonius’ negativer Schilderung beeinflusst. In seinen Augen war ein ,vollkommener Barbar‘ an der Macht, der dem Römischen Reich keinerlei Respekt zollte und auf brutalste Weise seine Herrschaft ausweitete. 166 So ist der Eindruck, den die in Kapitel 5 besprochenen Briefe hinterlassen. 167 In den Schreiben an Leo, die Sidonius nach seiner eigenen Aussage im Exil verfasste, bezeichnet er Eurich als potentissimus rex sowie als rex inclitus. 168 Im achten Buch der Briefsammlung folgt in einem Schreiben an den Aristokraten Lampridius ein Lobgedicht auf Eurich. Es muss daher hinterfragt werden, wie diese unterschiedlichen Darstellungen zu beurteilen sind, welche Intentionen sich dahinter verbergen und ob Eurich von Sidonius als Barbar wahrgenommen wurde. 169 6.2.1 Epistel 7,6 Die erste namentliche Erwähnung Eurichs findet sich im siebten Buch, im Brief an Basilius. Zuvor verweist Sidonius auf Eurich allein mit dem Titel rex und spricht nur indirekt über ihn. 170 Das Schreiben (epist. 7,6) erlaubt eine ausführliche Analyse der Schilderung und Wahrnehmung Eurichs. Aufgrund der Länge und der kurzen Abhandlung unter dem Gesichtspunkt der Häresie in Kapitel 5.3.1 wird an dieser Stelle der Fokus auf der Darstellung Eurichs liegen. 171 163 Gualandri 2000, 118; Gillet 1999, 28; Harries 1996, 39; Demougeot 1979, 640 f.; Wolfram 1979a, 222‒227. 164 Zu den Eroberungen gehören auch Marseilles, ein wichtiger Handelsstützpunkt, und Arles, der ehemalige Herrschersitz des Römischen Reiches in Gallia. 165 Die Chroniken als Informationsquelle zu Eurich wurden von Andrew Gillet in seinem Aufsatz zum Herrschaftsantritt Eurichs besprochen: Gillet 1999, 3–35. 166 Vgl. Wolff 2012, 46. 167 Fascione 2019, 62 weist zurecht darauf hin, dass Eurich von Sidonius nicht mit der gleichen Systematik wie Theoderich II. beschrieben wird. Dennoch sei Eurich, wenn auch nicht direkt in den Briefen genannt, omnipräsent und sein Schatten sei insbesondere im dritten Buch der Sammlung sichtbar. 168 Sidon. epist. 4,22,3; 8,3,3. 169 Flierman 2017, 45; Reydellet 1981, 75; Stroheker 1970, 85. 170 Sidon. epist. 1,7,5; 4,8,1; 4,22,3; 8,3,3. 171 Für die Interpretation des Briefes wird hauptsächlich der Kommentar von Joop van Waarden zum siebten Buch verwendet: siehe van Waarden 2010, 279–333. Mit Eurich in Sidon. epist. 7,6

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Zur besseren Verortung wird kurz der Inhalt des Schreibens wiederholt. Sidonius beschäftigen die vakanten Bischofsstühle und die Furcht, dass diese nach einer Übergabe der Auvergne an den neuen Machthaber Eurich nicht mehr besetzt werden dürfen. Das Schreiben ist daher eine Bitte an Bischof Basilius, der einer der Bischöfe war, der an den Friedensverhandlungen teilgenommen hatte, zumindest das Ordinationsrecht für gallische Bischöfe unter Eurich auszuhandeln. 172 Joop van Waarden unterteilt den Brief in drei Teile: exordium/captatio (Abschnitte 1–6), narratio (Abschnitte 7–8) sowie argumentatio und petitio am Ende des Briefes (Absatz 9 f.). Das exordium unterteilt er in drei weitere Ebenen: 1. die Hinführung zum Thema (Absatz 1–3), 2. die Nennung des Übeltäters Eurich (Absatz 3 f.), 3. den Triumph des Arianismus (Absatz 4–6). 173 Für die Interpretation dieses Briefes wird eine andere Unterteilung von exordium und narratio vorschlagen: Die captatio des Briefes ist als captatio benevolentiae zu begreifen, die mit dem Bericht über den Sieg von Basilius in der theologischen Debatte mit Modaharius endet (Absatz 1 f.) In den Abschnitten 3 bis 9 schließt sich die narratio an, die zweigeteilt ist. Der erste Teil (Abschnitt 3–6) schildert die Person Eurichs und die Konsequenzen seiner Politik für die gallischen Regionen. Im zweiten Teil (Abschnitt 7 f.) fokussiert Sidonius die Lage der katholischen Kirche. 174 Der Brief beginnt mit der Herausstellung der lebensweltlichen Gemeinsamkeiten von Adressaten und Adressat, deren Freundschaft als Beispiel für neue Zeit zu sehen sei: Sunt nobis munere dei novo nostrorum temporum exemplo amicitiarum vetera iura, diuque est quod invicem diligimus ex aequo. 175 Wir besitzen durch das göttliche Geschenk das alte Recht der Freundschaft als ein neues Beispiel unserer Zeiten, und schon lange schätzen wir uns gegenseitig aus Gleichberechtigung. Sidonius stellt das nos in den Vordergrund und versucht dadurch, den Ausgang seiner petitio zu beeinflussen. Denn im ersten Teil der narratio stellt er dem nos einen

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haben sich u. a. befasst: Egetenmeyr 2021, 136–147; Fascione 2019, 68 f.; Hanaghan 2019, 100 f.; Schwitter 2015, 270–275; Castellanos 2013, 239–241; Fo 1998, 19–22; Kaufmann 1995, 129  f., 200–210. Van Waarden 2010, 273; Kaufmann 1995, 129, 200. Frank Kaufmann weist auf Diskrepanzen in den Darstellungen von Sidonius und Ennodius hin, was die Identität der Unterhändler angeht. Stroheker 1937, 77 f. und Stevens 1933, 158 ziehen beide die Möglichkeit in Betracht, dass die von Sidonius genannten Bischöfe lediglich Unterhändler eines Unterhändlers waren (Courtenay E. Stevens schlägt Epiphanius und Karl-Friedrich Stroheker Licinianus vor). Henning 1999, 309 f. nimmt an, dass auch Eurich auf Unterhändler zurückgefriffen habe. Sidonius jedenfalls zeigt mit seinem Finger eindeutig auf Basilius und seine Kollegen. Van Waarden 2010, 272 bezeichnete das Schreiben als „Todeskampf des Katholizismus“, Schwitter 2015, 274 als ein „Glanzstück“ der Sammlung. Van Waarden 2010, 272, 278; vgl. Schwitter 2015, 271. Dieser zweite Teil der narratio stand im Fokus des Kapitels 5.3.1 dieser Arbeit. Sidon. epist. 7,6,1.

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gemeinsamen Feind, Eurich, gegenüber. Das Besondere an der Freundschaft zwischen Sidonius und Basilius sei, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhe und deshalb auf gleicher Ebene stattfinde. 176 Joop van Waarden sieht dies als Anzeichen dafür, dass sich die anschließende Bitte an den Freund und nicht an den Bischof richte. 177 Wenngleich dieser Annahme zuzustimmen ist, kann ein gewisser Sarkasmus nicht verleugnet werden, der genau das Gegenteil besagt. Sidonius mag sich durch die gemeinschaftlichen aristokratischen ‚Lebenswelten‘ mit Basilius auf einer Ebene sehen, ist sich dabei aber des überlegenen Ranges des Bischofes in seiner Funktion als Unterhändler des Römischen Reiches durchaus bewusst. Daher ist zu vermuten, dass Sidonius die Hoffnung hat, dass Basilius die Bitte als Freund wahrnehme, aber sich dessen nicht gewiss sein kann. Im Sinne einer captatio benevolentiae folgt, nachdem die gemeinschaftlichen Grundlagen der Beziehung in Erinnerung gerufen wurden, Basilius’ Hervorhebung als der Überlegenere der beiden Kommunikationspartner, die in der Schilderung seines Triumphes über Modaharius endet. Ich vermute, dass sich Sidonius bewusst unbedeutender darstellt, um dadurch dem Empfänger des Briefes, Basilius, zu schmeicheln und ihn für sein Anliegen zu gewinnen: 178  igitur, quia mihi es tam patrocinio quam dilectione bis dominus […]. 179 Folglich, weil du mir sowohl als Schutzherr als auch als Freund in zweifacher Hinsicht Herr bist […].“ Zu Beginn seines Briefes greift Sidonius noch einmal das Freundschaftsmotiv auf. 180 Das Verhältnis zwischen ihm und Basilius bestärkt ihn, seine Klage vorzubringen, und verdeutlichen die Hoffnung, Basilius möge sie bei den Vertragsverhandlungen in Betracht ziehen: tibi defleo, qualiter ecclesiasticas caulas istius haereseos lupus, qui peccatis pereuntium saginatur animarum, clandestino morsu necdum intellecti dentis arrodat. 181

176 Van Waarden 2010, 280. 177 Van Waarden 2010, 279. 178 Sidon. epist. 7,6,1: namque iniquitas mea tanta est, ut mederi de lapsuum eius assiduitate vix etiam tuae supplicationis efficacia queat. „Denn meine Sünde ist so groß, dass sogar deine erfolgreiche Fürbitte kaum imstande ist, sie von ihren ständigen Verstößen zu heilen.“ 179 Sidon. epist. 7,6,2. 180 Van Waarden 2010, 283 weist auf den Chiasmus von Abschnitt 1 und 2 hin, da Freundschaft und Patron in ihrer Bedeutung vertauscht wurden. 181 Sidon. epist. 7,6,2. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Lesarten haereseos/haeresis sowie aetatis umstritten sind. Für die Diskussion sei auf den Kommentar von van Waarden 2010, 288 verwiesen. Da eben diese Häresie das beschreibende Hauptmerkmal von Modaharius darstellt und der gesamte Brief den Gegensatz zwischen nizänischem und arianischem Bekenntnis thematisiert, wird der Lesart von Lüthjohann in dieser Arbeit der Vorzug gegeben.

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Ich beklage dir gegenüber, wie dieser ketzerische Wolf, der sich an den Sünden der verlorenen Seelen mästet, mit verborgenen Bissen seines noch unentdeckten Zahnes an den Schafpferchen Kirche nagt. Der noch namenlose ketzerische Wolf entpuppt sich im vierten Paragraphen der Epistel als Eurich, womit Sidonius die Wolfsmetapher enden lässt. Obgleich diese in der Epistel an Bischof Basilius vor einem religiösen Kontext interpretiert werden muss und Basilius als Kleriker sicherlich die Assoziationen mit der Heiligen Schrift erkannt hat, möchte ich die traditionellen Stereotypen von ,Barbaren‘ als Tiere und insbesondere die Parallele zu Carmen 7 hervorheben. 182 Während im Avitus-Panegyrikus Sidonius Theoderich II. als visigotischer Anführer aus der Masse „räuberischer Wölfe“ hervorhebt und ihn als Freund und Teil römischer ‚Lebenswelten‘ charakterisiert, reiht Sidonius Eurich in die Masse der beutejagenden Wölfe ein. Eurich wird dadurch nicht nur zu einem ,Anderen‘, sondern zu einem feindlichen ,Anderen‘, der jenseits der Sidonius’schen ‚Lebenswelten‘ steht. Ferner zeigt diese Textstelle, wie Sidonius seine klassische Bildung mit seiner christlichen Bildung verbindet und traditionelle Barbarenbilder in Einklang mit christlichen ‚Lebenswelten‘ setzt, in denen Häretiker die ,Anderen‘ sind. Dass es sich bei dem räuberischen Wolf tatsächlich um einen Feind handelt, offenbart der dritte Paragraph. Dieser stürzte sich zuerst auf die schlafenden Hirten – die lokalen Bischöfe – und dann auf die verlassenen Schafe – die gallo-römische und dem nizänischen Bekenntnis folgende Bevölkerung: namque hostis antiquus, quo facilius insultet balatibus ovium destitutarum, dormitantum prius incipit cervicibus imminere pastorum. 183 Denn der alte Feind beginnt, weil er leichter auf dem Blöken der verlassenen Schafe herumtanzen kann, zuerst den Nacken der schlafenden Hirten aufzulauern.

182 Sidon. carm. 7,363; siehe Fo 1999, 20. Zum theologischen Hintergrund der Metapher vgl. Mt 15,7: Προσέχετε ἀπὸ τῶν ψευδοπροφητῶν, οἵτινες ἔρχονται πρὸς ὑμᾶς ἐν ἐνδύμασιν προβάτων, ἔσωθεν δέ εἰσιν λύκοι ἅρπαγες. „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu Euch kommen! Inwendig aber sind sie reißende Wölfe.” (Übersetzung Elberfelder Bibel). Sidonius stellt Eurich als Angehöriger des arianischen Bekenntnisses als falschen Propheten dar, der es auf die arvernischen Kleriker abgesehen habe. Van Waarden 2010, 290 verweist hingegen auf Parallen zum Buch Ezechiel (34,5) sowie zum Johannesevangelium (10,1–17). Im Buch Ezechiel liegt der Fokus auf den Hirten, die nicht in der Lage sind, ihre Herde zu schützen, und im Johannesevangelium auf dem Gleichnis vom guten Hirten, nämlich Jesus als Beschützer, und dem Fremden. Da Sidonius an dieser Stelle das Verhalten Eurichs und nicht das falsche Verhalten der an den Verhandlungen beteiligten Bischöfe thematisiert, ist meines Erachtens ein Vergleich mit dem Matthäusevangelium passender. 183 Sidon. epist. 7,6,3. Im kirchlichen Kontext bedeutet hostis antiquus der „Teufel“, siehe: Schwitter 2015, 271; Furbetta 2014/2015, 142; van Waarden 2010, 291. Raphael Schwitter (ebd.) macht auf die Ähnlichkeit zu Verg. Aen. 9,59–61 aufmerksam.

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Nos (Innengruppe Sidonius) Rex Gothorum gallo-römische Lebenswelten

(Innengruppe Eurich)

nicht-römische Lebenswelten

Vos (Innengruppe Basilius)

Abb. 6: ‚Lebenswelten‘ und ‚Anderswelten‘ des Sidonius in Epistel 7,6 (© Autorin)

Während vorher das Verhalten Eurichs an erster Stelle stand, wendet sich die Perspektive nun dem Verhalten der Bischöfe zu, die unachtsam sind und somit dem Feind einen Angriff erst ermöglichen. Sidonius kritisiert nun das Verhalten der gallischen Bischöfe, die ihrer Aufgabe als gute Hirten der Gemeinde nicht nachgekommen seien. 184 Er stellt sich selbst als Teil dieser Gemeinschaft dar und möchte mit seinem Schreiben lediglich die Wahrheit der Ereignisse berichten. 185 Betrachten wir die Paragraphen 3 und 4 zusammen, lässt sich festhalten, dass wir einen Wechsel der Perspektive nachvollziehen können: Zuerst richtet Sidonius den Blick auf den ,Anderen‘ außerhalb seiner gemeinschaftlichen ‚Lebenswelt‘ mit Basilius, dann wendet er den Blick nach innen auf die eigene Gemeinschaft. Während Eurich als Barbar dargestellt wird, obgleich Sidonius diesen Begriff nicht verwendet, und somit sein Verhalten im Bereich des Erwartbaren liegt, ist Sidonius’ Wahrnehmung seiner eigenen Innengruppe weitaus kritischer. Den Grund der Kritik eröffnet Sidonius in den nachfolgenden Zeilen:

184 An dieser Stelle ist ein Vergleich zum Buch Ezechiel (34,5) angebracht. 185 Sidon. epist. 7,6,3: sed quoniam supereminet privati reatus verecundiam publica salus, non verebor, etsi carpat zelum in me fidei sinister interpres, sub vanitatis invidia causam prodere veritatis. „Aber da ja das öffentliche Heil über die private Scham der Schuld herausragt, scheue ich mich nicht, selbst wenn neidvoller Kritiker an meinem religiösen Eifer zweifeln sollte, unter der Missgunst der Unwahrheit den Sachverhalt der Wahrheit zu berichten.“

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Evarix, rex Gothorum, quod limitem regni sui rupto dissolutoque foedere antiquo vel tutatur armorum iure vel promovet, nec nobis peccatoribus hic accusare nec vobis sanctis hic discutere permissum est. 186 Dass Eurich, König der Goten, die Grenze seines Reiches, nachdem er den alten Vertrag gebrochen und aufgelöst hat, mit Waffengewalt bald schützt, bald erweitert, dieses anzuklagen ist uns Sündern und dies zu hinterfragen, ist euch Ehrwürdigen nicht erlaubt. Wie Theoderich II. bezeichnet Sidonius ihn als rex Gothorum, nur das positive Beiwerk wird ausgelassen. Stattdessen folgt die negative Feststellung, dass Eurich das alte foedus gebrochen habe und nun gewalttätig sein Reich vergrößere. Den Vertragsbruch Eurichs hebt er durch das Oxymoron rupto dissolutoque noch zusätzlich hervor. 187 Aber im Blickpunkt des Sidonius steht weiterhin die Innengruppe gallischer Bischöfe, die nochmals differenziert werden. So steht der Gemeinschaft der Sünder, in die sich Sidonius selbst einschreibt, wie die Verwendung von nos belegt, die Gemeinschaft der Ehrwürdigen gegenüber, die er mit vos deutlich abgrenzt. Plötzlich können wir in diesem Schreiben aus der Perspektive des Sidonius drei lebensweltliche Gemeinschaften unterscheiden, von denen zwei zwar wiederum als eine Innengruppe gegenüber ,Fremden‘ definiert werden kann, aber die Basilius und seinen Kollegen zu ,Anderen‘ erklärt (Abb. 6). Durch die Zuschreibung von Basilius als einen ,Anderen‘ kann sich Sidonius nicht nur abgrenzen, sondern sich gemeinsam mit den Sündern als Opfer darstellen. Es ist als Apologie des Sidonius zu verstehen, dem die Hände gebunden waren. Die Schuld am Verlust seiner patria tragen ,Andere‘. Dieses Zusammenspiel von Eurich als externem Aggressor, den Bischöfen um Basilius und den Leidenden um Sidonius erfährt seinen Höhepunkt in der sich anschließenden Allegorie, die die Situation in der Auvergne mit Ereignissen aus dem Neuen und Alten Testament vergleicht. In Bezug auf Eurich enthält sich Sidonius eines direkten Urteiles. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die momentane Situation zu akzeptieren, was er erneut durch eine Allegorie darstellt: quin potius, si requiras, ordinis res est, ut et dives hic purpura byssoque veletur et Lazarus hic ulceribus et paupertate feriatur; ordinis res est, ut, dum in hac allegorica versamur Aegypto, Pharao incedat cum diademate, Israelita cum cophino; ordinis res est, ut dum in hac figuratae Babylonis fornace decoquimur, nos cum Ieremia spiritalem Ierusalem suspiriosis plangamus ululatibus et Assur fastu regio tonans sanctorum sancta proculcet. 188 186 Sidon. epist. 7,6,4. Fascione 2019, 68 verweist auf die Parallele zu Lucan. 1,4–7 sowie die Charakterisierung Hannibals in der römischen Literatur als Vertragsbrecher. Zur Instrumentalisierung Hannibals in Sidonius’ Werk siehe: Mratschek 2013, 258–264. 187 Egetenmeyr 2021, 141; vgl. van Waarden 2010, 299. Für Sidonius ist die gotische Expansion definitiv keine Schutzmaßnahme und tutari daher ironisch zu versehen. 188 Sidon. epist. 7,6,4.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Ja vielmehr, wenn du nach den Gründen fragen solltest, ist es die Ordnung der Welt, dass der Reiche hier in Purpur und in feines Leinen eingehüllt wird und Lazarus hier von Geschwüren und Armut gezeichnet ist; es ist die Ordnung der Welt, dass, solange wir allegorisch gesprochen in diesem Ägypten verweilen, der Pharao mit dem Diadem einherschreitet, der Israelit mit dem Tragekorb; es ist die Ordnung der Welt, dass, solange wir bildlich gesprochen in diesem babylonischen Ofen geläutert werden, wir zusammen mit Jeremias das geistige Jerusalem mit Seufzern und Geschrei beklagen und zugleich Assur mit königlichem Stolz donnernd das Heiligste aller Heiligen zertritt. Mit ordinis res est leitet Sidonius jeweils drei Metaphern ein, um die zeitgenössischen Ereignisse zu verbildlichen. 189 Er beginnt mit dem Lazarusgleichnis aus dem Lukasevangelium. Sidonius instrumentalisiert Lazarus, um sich und die leidende Kirchengemeinschaft darzustellen, 190 während der Reiche in diesem Gleichnis sowohl durch Eurich, Basilius als auch seine Kollegen verbildlicht werden kann. Während der leidende Lazarus im Gleichnis erlöst wird, müssen die Reichen ewige Qualen erdulden. 191 Für den zweiten Vergleich greift Sidonius auf die Unterdrückung Israels in Ägypten zurück. Während Eurich als Unterdrücker zu interpretieren ist und die Rolle des Pharaos übernimmt, leidet die Bevölkerung der Auvergne wie das israelitische Volk. Eine weitere Parallele zum Lazarusgleichnis ist ersichtlich: In beiden Beispielen sind die Leidtragenden später die Glücklichen. Denn Moses gelingt es, die Israeliten aus Ägypten heraus und ins gelobte Land zu führen. Es schwingt die Hoffnung des Sidonius mit, dass so wie sich Gott Lazarus und Israel annahm, er sich auch Sidonius und den Menschen in der Auvergne annehmen wird. 192 Während Sidonius in den ersten beiden Vergleichen zunächst die ,Anderen‘ (den Reichen und den Pharao) nennt, ändert er im letzten und längsten Vergleich erneut die Perspektive und beginnt mit den Leidenden 193: den durch Babylon unterdrückten Israeliten und der durch Sanherib, dem König von Assurs, belagerten Stadt Jerusalem. 194 Wenden wir uns zunächst der Unterdrückung durch Babylon 189 Interpretationen finden sich bei Egetenmeyr 2021, 142 f.; van Waarden 2010, 301–305. 190 Siehe Kaufmann 1995, 203. 191 Lk 16,19‒25. Da Sidonius ebenfalls das Oxymerion bei πορφύραν καὶ βύσσον ‒ purpura byssoque anwendet, kann gefolgert werden, dass er sich auf exakt eben diese Stelle im Lukasevangelium bezog. 192 Ex 2,23–25. 193 Siehe van Waarden 2010, 303. Schwitter 2015, 271 macht darauf aufmerksam, dass der „Ton“ in dieser letzten Metapher „drängender“ werde und sich die petitio langsam ankündige. 194 Vgl. Jer 1–52; 2 Chr 32, 1–3: Καὶ μετὰ τοὺς λόγους τούτους καὶ τὴν ἀλήθειαν ταύτην ἦλθεν Σενναχηριμ βασιλεὺς ᾿Ασσυρίων καὶ ἦλθεν ἐπὶ Ιουδαν καὶ παρενέβαλεν ἐπὶ τὰς πόλεις τὰς τειχήρεις καὶ εἶπεν προκαταλαβέσθαι αὐτάς. καὶ εἶδεν Εζεκιας ὅτι ἥκει Σενναχηριμ καὶ τὸ πρόσωπον αὐτοῦ τοῦ πολεμῆσαι ἐπὶ Ιερουσαλημ, καὶ ἐβουλεύσατο μετὰ τῶν πρεσβυτέρων αὐτοῦ καὶ τῶν δυνατῶν […]. „Nach diesen Ereignissen und dieser Treue kam Sanherib, der König von Assur. Und er drang in Judäa ein und belagerte die befestigten Städte, und er gedachte, sie für sich zu erobern. Und als Hiskia sah, dass Sanherib gekommen und dass sein Gesicht zum Kampf gegen Jerusalem gerichtet war, da beriet er sich mit seinen Obersten und seinen Helden […]“. (Übersetzung Elberfelder Bibel). Hier gilt es auf

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Die Darstellung Eurichs

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zu: Ähnlich wie der Prophet Jeremiah sein Klagelied auf Israel singt, klagt Sidonius über das Schicksal der arvernischen Bevölkerung. Dabei symbolisieren die Israeliten, die den falschen Göttern nachgeeifert haben, die Gemeinschaft um Basilius, die in den Augen des Sidonius ihrer Aufgabe nicht nachgekommen sind und einen Vertrag mit Eurich geschlossen haben. Gleichzeitig impliziert Sidonius, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden, wie dies auch Gott mit den Hirten tat, die ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind. 195 Sidonius knüpft somit meisterhaft an die Wolfsmetapher vom zweiten Paragraphen dieses Briefes an. Der König von Babel in der Rolle des Feindes, der als Strafe von Gott geschickt wurde, ist mit Eurich gleichzusetzen. 196 Ebenso wie die Israeliten 70 Jahre im Exil leben mussten, vermittelt Sidonius die Ansicht, dass auch die gallorömische Bevölkerung zunächst leiden muss. Sidonius setzt die Belagerung Jerusalems durch Sanherib sowie das daraus folgende Schicksal mit dem der civitas Arvernorum sowie der katholischen Kirche in Gallien, die durch Eurich bedrängt werden, gleich. In dieser Metapher wurde Sanherib ebenfalls als Strafe für Jerusalem von Gott geschickt. Wie in den vorherigen Vergleichen ist auch aus der Belagerung Jerusalems noch Hoffnung zu schöpfen: Denn, obgleich Sanherib fast alle Städte in Judäa erobert hatte, konnte er Jerusalem nicht einnehmen. 197 Es könnte gefolgert werden, dass Sidonius die Hoffnung äußert, dass die Übergabe Clermonts noch abgewendet werden kann. Dadurch wird der Leser in die Überzeugung versetzt, dass der Brief von Sidonius verfasst wurde, bevor die Auvergne an Eurich übergeben worden war. Und diese Hoffnung setzt sich im folgenden Verlauf des Schreibens fort: quibus ego praesentum futurarumque beatitudinum vicissitudinibus inspectis communia patientius incommoda fero; primum, quod mihi quae merear introspicienti quaecumque adversa provenerint leviora reputabuntur; dein quod certum scio die Parallelen zu Salvians’ De Gubernatione Dei (siehe Kapitel 1.5) sowie zu Hieronymus Epistel 60 aufmerksam zu machen. Der Vergleich zur Heiligen Schrift und speziell den leidenden Israeliten als Verbildlichung für das Leiden nizänischer Christen wird als erfundene Tradition christlicher Gelehrter aufgefasst. 195 Jer 23,3: διὰ τοῦτο τάδε λέγει κύριος ἐπὶ τοὺς ποιμαίνοντας τὸν λαόν μου ῾Υμεῖς διεσκορπίσατε τὰ πρόβατά μου καὶ ἐξώσατε αὐτὰ καὶ οὐκ ἐπεσκέψασθε αὐτά, ἰδοὺ ἐγὼ ἐκδικῶ ἐφ᾽ ὑμᾶς κατὰ τὰ πονηρὰ ἐπιτηδεύματα ὑμῶν·. „Darum, so spricht der Herr, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie vertrieben und habt nicht nach ihnen gesehen. Siehe, ich werde die Bosheit eurer Taten an euch heimsuchen, spricht der Herr.“ (Übersetzung Elberfelder Bibel). 196 Jer 21,10: διότι ἐστήρικα τὸ πρόσωπόν μου ἐπὶ τὴν πόλιν ταύτην εἰς κακὰ καὶ οὐκ εἰς ἀγαθά· εἰς χεῖρας βασιλέως Βαβυλῶνος παραδοθήσεται, καὶ κατακαύσει αὐτὴν ἐν πυρί. „Denn ich habe mein Angesicht gegen diese Stadt gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten, spricht der Herr. Sie wird in die Hand des Königs von Babel gegeben werden, und er wird sie mit Feuer verbrennen.“ (Übersetzung Elberfelder Bibel). 197 2 Kön 18,13: Καὶ τῷ τεσσαρεσκαιδεκάτῳ ἔτει βασιλεῖ Εζεκιου ἀνέβη Σενναχηριμ βασιλεὺς ᾿Ασσυρίων ἐπὶ τὰς πόλεις Ιουδα τὰς ὀχυρὰς καὶ συνέλαβεν αὐτάς. „Im vierzehnten Jahr des Königs Hiskia zog Sanherib, der König von Assur, herauf gegen alle befestigten Städte Judas und nahm sie ein.“ (Übersetzung Elberfelder Bibel).

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maximum esse remedium interioris hominis, si in hac area mundi variis passionum flagellis trituretur exterior. 198 Wenn ich diese Gegensätzlichkeit von irdischer und himmlischer Glückseligkeit genau betrachte, kann ich gemeinsames Unglück gelassener ertragen, weil mir erstens alles Widerwärtige, das mir zustößt, leichter erscheint, wenn ich in meinem Gewissen erforsche, was ich verdiene; und weil ich zweitens ganz sicher weiß, daß es das wirkungsvollste Heilmittel für den inneren Menschen ist, wenn der äußere Mensch auf der Tenne dieser Welt mit dem Dreschflegel verschiedener Leiden ausgedroschen wird. 199 Sidonius schließt mit diesen Zeilen die biblischen Vergleiche ab und kehrt in die briefliche Gegenwart zurück. Er unterstreicht, was er bereits zuvor ausgedrückt hat: seine Unschuld am Schicksal der Auvergne. Weil Sidonius von dieser überzeugt ist, wird er erneut zum Lazarus, der auf die „himmlische Glückseligkeit“ hoffen darf. 200 In der Zusammenschau der von Sidonius gezogenen Vergleiche im vierten und fünften Paragraphen des Briefes wechseln sich Hoffnung, Mahnung und Anklagen ab. Er klagt die Bischöfe um Basilius an, keine guten Hirten zu sein und die Auvergne ins Verderben zu führen. Sidonius ermahnt seine Glaubensgemeinschaften zur Abkehr von Sünden und zur Treue gegenüber Gott, um dessen Strafe zu entgehen. 201 So wie der leidende Lazarus oder die leidenden Israeliten werden auch die Leiden der Gegenwart zur Erlösung führen, wie Sidonius hofft. Eurich ist bis dahin in der Epistel ein narratives Instrument, um den Hintergrund seiner Anklage zu beschreiben. Der Fokus von Sidonius liegt auf den gallo-römischen ‚Lebenswelten‘. Eurich wird als Feind seiner lebensweltlichen Gemeinschaften dargestellt und mit den unterschiedlichsten Metaphern – vom Wolf bis hin zum Herrscher Assurs – verbildlicht. Dabei dient dessen Darstellung primär Sidonius’ eigentlichem Grund des Schreibens: der Bitte an Basilius bezüglich der leer stehenden Bischofsstühle. Die biblischen Vergleiche, so der Eindruck, sollten Basilius die Augen öffnen. 202

198 Sidon. epist. 7,6,5. 199 Übersetzung nach Köhler 2014, 210. 200 Schwitter 2015, 272 f. interpretiert die Paragraphen 4 bis 5 als eine implizierte Aufforderung von Sidonius gegenüber seinen Lesern zur Passivität. Statt zu einem Widerstand aufzurufen, übernehme Sidonius die Rolle des tröstenden Bischofes, der sich als Pragmatiker mit den neuen Machthabern gut stellen möchte. 201 Vgl. Courcelle 1964, 178. 202 Schwitter 2015, 271 statiert, dass die biblischen Referenzen ein Indiz dafür seien, dass der Brief an eine gebildete Leserschaft gerichtet war. Dies ist sicherlich nicht falsch, jedoch ist zu bedenken, dass Sidonius seine Briefe generell für einen gebildeten Rezipientenkreis verfasste, die er als Mitglieder seiner ‚Lebenswelten‘ aufgefasst hat. Wer nicht über die notwendige Bildung verfügt hat, dem blieben die vielen Anspielungen von Sidonius verschlossen und somit der Zugang zu den Sidonius’schen ‚Lebenswelten‘ verwehrt. Zur Bildung als kulturelles Kapital und Eintrittskarte in senatorische Kreise siehe: Meurer 2019, 118–143.

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Die Darstellung Eurichs

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Sidonius fürchtet, dass Eurichs Ziel weniger die römischen Mauern als vielmehr die christlichen Lehren seien, wie er in der Überleitung zum zweiten Teil der narratio schreibt.  203 In dieser Überleitung schildert er das erste Mal direkt den rex Gothorum, den er seither lediglich stereotypisiert und metaphorisch dargestellt hat. Zwei Merkmale Eurichs hebt Sidonius vor: seine kriegerische Fähigkeit 204 sowie seinen Hass auf die katholische Gesinnung. Eben diese Gesinnung lässt Sidonius hinterfragen, ob Eurich wirklich eine gens oder nicht doch eine Sekte führe: tantum, ut ferunt, ori, tantum pectori suo catholici mentio nominis acet, ut ambigas ampliusne suae gentis an suae sectae teneat principatum. 205 So sehr, wie man berichtet, ist die Erwähnung des Ausdrucks katholisch für seinen Mund so bitter wie für sein Herz, sodass du zweifeln musst, ob er mehr die Herrschaft über eine gens oder über eine Sekte innehat. Die arianische Gesinnung, die Sidonius bei Theoderich II. nicht ein einziges Mal erwähnt hat, wird nun zum negativen Hauptattribut Eurichs. Dies lässt sich einerseits damit erklären, dass Sidonius zum Zeitpunkt der Auseinandersetzungen um Clermonts und bei der Übergabe der Stadt als Bischof agierte und als ein solcher von Eurich ins Exil geschickt wurde. Andererseits, dass Sidonius diese Beschreibung von Eurich in einem Bittschreiben an einen anderen Bischof verwendet, um diesen von seinem Anliegen zu überzeugen. 206 Die versteckte Botschaft scheint zu lauten, dass Basilius, wenn er nicht von Eurichs Kriegsfertigkeit eingeschüchtert sei, er wenigstens dessen Arianismus fürchten solle, der sich als häretischer Glauben unter einer Herrschaft Eurichs vermehren könnte. Um diese Botschaft des Briefes hervorzuheben, fasst Sidonius die positiven wie negativen Eigenschaften Eurichs am Ende des sechsten Paragraphen zusammen:

203 Sidon. epist. 7,6,6: sed, quod fatendum est, praefatum regem Gothorum, quamquam sit ob virium merita terribilis, non tam Romanis moenibus quam legibus Christianis insidiaturum pavesco. „Aber, was eingestanden werden muss, zittere ich, dass der oben genannte rex der Goten, obwohl er wegen der Kraft seiner Streitkräfte schrecklich ist, es weniger auf die römischen Mauern als vielmehr auf die christlichen Lehren abgesehen hat.“ Zu merita siehe: van Waarden 2010, 309. 204 Ein Lob der kriegerischen Fähigkeiten wegen fällt ebenfalls in den Bereich der stereotypisierten Barbarenbilder. 205 Sidon. epist. 7,6,6. 206 Zur Überzeugungsstrategie in dieser Epistel siehe: Schwitter 2015, 273 f., hier 274: „Dass Eurich im Brief zum Katholikenverfolger stilisiert wird, ist ein konsequenter Bestandteil von Sidonius’ rhetorischer Strategie der affektgeladenen Dramatisierung, durch die er die Verhandlungsführung des Basilius politisch zu beeinflussen suchte. Zweifel am Realitätsgehalt und an den Arianisierungsbestrebungen der Westgoten sind daher berechtigt.“

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ad hoc armis potens acer animis alacer annis hunc solum patitur errorem, quod putat sibi tractatuum consiliorumque successum tribui pro religione legitima, quem potius assequitur pro felicitate terrena. 207 Ansonsten ist er ein waffengewaltiger Mann von scharfem Geist und energischer Jugend, doch unterliegt er diesem einzigen Irrtum, dass er glaubt, seinen Plänen sei Dank seines rechten Glaubens der Erfolg beschieden, der ihm doch viel eher durch die Gunst des irdischen Glückes zufällt. Die dreigliedrige Aufzählung charakterisiert Eurich als waffengewandt, intelligent und voller Tatendrang; Eigenschaften, über die ein guter Anführer verfügen sollte. Aber auch Eigenschaften, die bereits in der antiken Ethnographie gegenüber Barbaren gelobt wurden und zur Beschreibung der ,edlen Barbaren‘ verwendet wurde. 208 Das Lob Eurichs wendet Sidonius durch die Nennung eines einzigen Fehlers – solus error – ins Negative: von Arianismus. Eurich sei in der Annahme, dass er dem rechten Glauben folge und ihm deshalb „irdisches Glück“ beschieden sei. Dies ist eine indirekte Warnung von Sidonius an Basilius und die anderen Bischöfe: Eurich wird seine Andersheit, die insbesondere durch den Arianismus gekennzeichnet ist, nicht ablegen können. Während Theoderich II. zu einem Mitglied gallo-römischer Lebenswelten geworden ist, wird Eurich stets ein ,Anderer‘ bleiben, der die notwendigen Eigenschaften, um Mitglied der Sidonius’schen Gemeinschaften zu werden, nicht aufbringen und nicht erlernen kann. Damit endet auch die Darstellung Eurichs in dieser Epistel, die sich nun den Konsequenzen von Eurichs’ angeblichem Katholikenhass zuwendet. 209 Zur Beschreibung dieser Konsequenzen nutzt Sidonius erneut einen bildlichen Vergleich: Die katholische Kirche in Gallia sei aufgrund der vakanten Bischofsstühle ein kopfloser Körper. Der Tod von Bischöfen und die mangelnden Neubesetzungen hätten zu einer geistigen Verwüstung geführt. 210  Das Schreiben stellt eine kritische Reflexion seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ dar. Eurich ist dagegen lediglich eine ,Randerscheinung‘, die eine kritische Auseinandersetzung mit seinem eigenen Verhalten sowie mit dem Verhalten des Basilius veranlasst. Mit diesem Schreiben verteidigt Sidonius sein Ansehen gegenüber nachfolgenden Generationen, in der Angst, die Übergabe Clermonts könnte als Verrat angesehen werden. Gleichzeitig zeigt er mit dem Finger deutlich in Richtung Basilius. Während die Erzählzeit des Briefes daher vor Abschluss des Vertrages einzuordnen ist, kann über 207 Sidon. epist. 7,6,6. 208 Vgl. Exkurs in Kapitel 1.5. Zu der positiven Schilderung Eurichs siehe: Schwitter 2015, 272. Er geht davon aus, dass Sidonius Eurich als einen fähigen Herrscher im weltlichen Bereich wahrnehme und daher den visigotischen Anführer in dieser Epistel nicht direkt für den Priestermangel beschuldigt. Ein Bezug zwischen dem gallischen Priestermangel und der Herrschaft Eurichs könne dem Schreiben nicht entnommen werden. Obgleich ich erstere Annahme ob der gesamtheitlichen Darstellung Eurichs in Sidonius’ Werk in Zweifel ziehe, stimme ich Schwitter zu, dass Eurich in diesem Schreiben nicht der Schuldige ist. 209 Sidon. epist. 7,6,7. 210 Sidon. epist. 7,6,7.

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den Abfassungs- beziehungsweise Änderungszeitraum lediglich festgehalten werden, dass dieser nach Vertragsende, eventuell sogar während oder nach der Zeit im Exil anzusetzen ist. Obgleich Sidonius die diversen Zeiten des Briefes bewusst manipuliert und den Eindruck erweckt, dass am Ausgang des Vertrages noch etwas geändert werden könnte, kommt deutlich zum Vorschein, dass er das Schreiben so wie es in epist. 7,6 vorliegt nach Abschluss des Vertrages 475  n.  Chr. konstruiert hat. 211 Der Gedanke, dass sowohl die Bischöfe, die den ,schändlichen‘ Vertrag 212 geschlossen haben, als auch Eurich aufgrund seines falschen Glaubens, ewige Qualen erleiden werden, scheint ihm Trost zu spenden. Die Darstellung Eurichs in diesem Schreiben dient dem Narrativ des Briefes, um die Schuld von Basilius und den anderen Bischöfen hervorzuheben. Ihre Taten werden von Sidonius verurteilt und sie selbst zu ,Anderen‘ erklärt. Wie bei Alteritätsdiskursen üblich, bleibt Basilius ohne Stimme. Sidonius beschreibt seine persönliche Sicht auf die historischen Ereignisse, die er für seine brieflichen Interessen manipuliert. In diesem Fall wird Eurich als gemeinsamer Feind stilisiert, der nach der Meinung des Sidonius gemeinschaftlich hätte bekämpft werden müsse. Eurich verkörpert einen Wolf, einen ägyptischen Pharao, den König von Babylon und den König von Assur. Alle diese Figuren haben eine Gemeinsamkeit: Sie stehen der gläubigen Bevölkerung als Bedrohung gegenüber und werden durch ihren Glauben zu ,Anderen‘. Nicht das äußere Erscheinungsbild oder seine Ungebildetheit, noch nicht einmal sein Verhalten machen Eurich zu einem Barbaren, sondern lediglich sein häretischer Glaube führt dazu, dass Sidonius in ihm einen Feind sieht. 6.2.2 Die Briefe an Leo (epist. 4,22,2 und 8,3,3) Beide Briefe sind an den Aristokraten Leo gerichtet und berichten von Sidonius’ Zeit im Exil. Wie erwähnt wurde dieses Exil auf Fürsprache Leos, der im Dienste Eurichs stand, beendet. 213 Im 22. Brief des vierten Buches geht Sidonius auf eine Anfrage Leos ein, ein Geschichtswerk zu verfassen. Sidonius lehnt dankend ab, weil es u. a. für ihn gefährlich sei, die Wahrheit zu schreiben. 214 Er sieht vielmehr Leo in der Position, ein solches Werk zu verfassen. cotidie namque per potentissimi consilia regis totius sollicitus orbis pariter [eius] negotia et iura, foedera et bella, loca spatia merita cognoscis. 215

211 Loyen 1960/1970, Bd. 2, 43 datiert den Brief in das Frühjahr 475 n. Chr. Kaufmann 1995, 207 und Stevens 1933, 208 sprechen sich ebenso für eine Datierung vor dem Vertrag aus. 212 Sidon. epist. 7,7,4. 213 Sidon. epist. 8,3,1. 214 Sidon. epist. 4,22,5. 215 Sidon. epist. 4,22,3.

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Erfährst Du doch täglich in den Ratsversammlungen des mächtigsten Herrschers aufs Genaueste zugleich von Verhandlungen und Gesetzen im ganzen Reich, von Bündnissen und Kriegen, von Orten, Entfernungen und wichtigen Dingen. 216 Eurich wird als mächtigster rex auf gallischem Boden dargestellt, der, einem römischen Herrscher nicht unähnlich, einen Hof unterhält, an dem tägliche Ratsversammlungen stattfinden. Die kurze Schilderung erinnert an die Herrschaft von Theoderich II., der ebenfalls täglich Gesandtschaften empfing. Hinweise auf einen Barbarenstatus von Eurich werden nicht gefunden. Fraglich ist, ob Sidonius seine persönliche Wahrnehmung schildert oder das wiedergibt, was vom visigotischen Hof in Toulouse erwartet wird. Der Hinweis, dass Sidonius nicht frei seine Meinung äußern könne, deutet auf Letzteres hin. In Epistel 8,3,3 greift er das Lob auf Eurich erneut auf und bezeichnet ihn als ruhmreichen König, der die Herzen überseeischer gentes erschrecke: […] quibus ipse rex inclitus modo corda terrificat gentium transmarinarum, modo de superiore cum barbaris ad Vachalin trementibus foedus victor innodat, modo per promotae limitem sortis ut populos sub armis, sic frenat arma sub legibus. 217 […] mit ihrer Hilfe [gemeint sind die Reden Leos] erschreckt ebendieser ruhmreiche König bald die Herzen der überseeischen gentes, bald schließt er als überlegener Sieger mit Barbaren, die bis zur Waal hin vor ihm erzittern, einen foedus; bald hält er entlang der Grenzen seines vorgeschobenen Machtbereiches die Bevölkerungen unter Waffen und die Waffen unter Gesetzen nieder. 218 Wie in Kapitel 5.1.3 angesprochen, stellt dieser Brief eine Ermahnung an Leo dar, der sich vermehrt seinen literarischen Studien widmen und nicht Eurich bei seinen Regierungsangelegenheiten helfen solle. Auch an dieser Stelle wird Eurich nicht mit barbarischen Vorurteilen belegt, sondern sogar von fremden gentes abgehoben. Lediglich das Verb terrificare ist Teil des Wortfeldes ,Schrecken‘, das in der römischen Literatur zur Beschreibung von Barbaren verwendet wird. Am Ende dieser Textstelle hebt Sidonius ein Vorurteil gegenüber Barbaren, nämlich das der Gesetzlosigkeit auf, indem er behauptet, dass Eurich der Bevölkerung Gesetze bringe, was als Anspielung auf den Codex Euricianus interpretiert werden kann. 219 Zusammenfassend kann auch in diesem Abschnitt keine negative Darstellung Eurichs festgestellt werden. 220 Zu hinterfragen bleibt, ob diese neutrale Schilderung, die teils mit 216 217 218 219

Übersetzung Köhler 2014, 136 f. Sidon. epist. 8,3,3. Übersetzung nach Köhler 2014, 248. In der Forschung ist umstritten, ob der Codex Euricianus (CE) tatsächlich auf Eurich und nicht erst auf seinen Nachfolger Alarich zurückgeht. Zum CE siehe: Koch 2012, 63  f.; Harries 2001, 39–51; Demougeot 1979, 643; Stroheker 1937, 96–109. 220 Dies widerspricht Fascione 2019, 70, die das Schreiben als Ironie liest und der Meinung ist, dass Eurich zwischen den Zeilen als Tyrann dargestellt wird.

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positiven Adjektiven geschmückt ist, allein dem Ende des Exils sowie dem Veröffentlichungszeitraum der Briefe zu Lebzeiten Eurichs geschuldet ist. 6.2.3 Epistel 8,9 Der Brief an den Rhetoriklehrer Lampridius ist in der Erzählzeit mit der Rückkehr des Sidonius aus dem Exil in Zusammenhang zu bringen. Wie Sidonius in der captatio beschreibt, ist er eben in Bordeaux angekommen und wartet auf die Rückgabe seiner Güter. 221 Um seine Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, war eine Audienz bei Eurich notwendig. 222 Der Brief, der ein Prosimetrum darstellt, gliedert sich in drei Teile. Die captatio umschließt die Paragraphen 1 bis 5 und erklärt den Umstand des Gedichtes. Die narratio und das Herzstück des Briefes bilden das Lobgedicht auf Eurich, dem sich die conclusio anschließt, in der Sidonius ankündigt, keine Gefälligkeit dieser Art für den Adressaten zu wiederholen. Der Brief ist als Antwortschreiben zu klassifizieren, da Sidonius der Bitte des Empfängers nachkommt, diesem einige Verse zukommen zu lassen. 223 Frank Kaufmann hält dies für einen Vorwand, damit dieser „seine mächtigste Waffe“, nämlich „die Feder“ einsetzen könne, um bei Eurich vorstellig zu werden. Sidonius war auf Lampridius als Vermittler angewiesen, der gute Kontakte zum visigotischen Hof pflegte. 224 Sidonius weist zu Beginn des Briefes mit metaphorischer Sprache (Honig, Blüten und Perlen für dichterische Verse) darauf hin, dass ihn die Aufforderung von Lampridius unmittelbar nach seiner Ankunft in Bordeaux erreicht habe. Dieser hatte selbst ein Gedicht verfasst und Sidonius aufgefordert, sein Schweigen zu brechen. Doch anders als Lampridius, der die Freigebigkeit des Königs genießen kann, ist Sidonius in seiner Muse befangen. Mit Versen aus Juvenals Satire erinnert er den Adressaten daran, dass das tägliche Leben eines Literaten wirtschaftlich gesichert sein müsse, damit dieser dichten könne. 225 Sidonius gehorcht der Aufforderung des Empfängers in der Hoffnung, dass sich sein Gegenüber mit seinem strengen Urteil zurückhalte. Die Fröhlichkeit des Lampridius bildet in diesem Brief die Antithese zu den Gefühlen des Sidonius. 226 Diesem fällt das Dichten schwer, da sein Verstand, ähnlich wie „Fische(n) im Netz“, im Kummer gefangen sei. Sidonius könne sich nicht aus den Fesseln der Angst, seine Seele nicht aus den Fesseln der Melancholie befreien, da er seine wirtschaftliche Sicherheit, sein Gut Avitacum sowie 221 Sidon. epist. 8,9,1 f. Die Darstellung Eurichs in dieser Epistel erhielt bereits einige Aufmerksamkeit von der Forschung, so z. B. : Fasione 2019, 101–105; Schwitter 2015, 275–280; Gualandri 2000, 118–129; Fo 1999, 17–37; Kaufmann 1995, 131–137; Harries 1994, 240–242. 222 Kaufmann 1995, 131; Stevens 1933, 164. 223 Sidon. epist. 8,9,1. 224 Kaufmann 1995, 132. 225 Sidon. epist. 8,9,1. 226 Schwitter 2015, 276; Henke 2008, 167. Raphael Schwitter macht auf die tu – nos Verwendung im Brief aufmerksam, welche die ungleiche Situatuion von Sidonius und Lampridius widerspiegle und zum Leitmotiv des Schreibens gehöre.

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die Einkünfte aus seinen Gütern noch nicht zurückerhalten habe. 227 Im dritten Paragraphen wird der seelische Zustand weiter thematisiert. Sidonius sei nicht in der Lage, über etwas anderes zu dichten als über sein tägliches Leben. Daher wisse er nicht, ob seine Verse das von Lampridius gewünschte Ergebnis seien, unterstreicht aber, dass Lampridius ihm unrecht tue, sollte er die eigenen Verse mit denen des Sidonius auf gleicher Ebene beurteilen: ago laboriosum, agis ipse felicem; ago adhuc exulem, agis ipse iam civem […] 228 Ich lebe geplagt, du lebst an und für sich glücklich; ich bin bis jetzt ein Verbannter, du bist sogar schon ein Bürger […]. Sidonius ist in Not, Lampridius dagegen fröhlich. Sidonius ist ein Exilant, während Lampridius Teil der lebensweltlichen Gemeinschaften des visigotischen Reiches geworden ist. Sprachlich hat Sidonius diese Gegenüberstellungen als abwechselnde Parallelismen gestaltet: ago … ago und agis ipse … agis ipse, um den Vergleich zu verbildlichen, den Lampridius nicht ziehen solle. Die ganze Thematik von Sidoniusʼ Unglück wird in dieser Zeile deutlich formuliert. 229 Er ist im Unglück, weil er sich immer noch als Exilant betrachtet. Eurich muss ihn persönlich wieder im Reich aufnehmen und ihm seinen Besitz zurückgeben. Vorher kann Sidonius nicht mehr glücklich sein. Daher klingt das beigefügte Gedicht wie das Lied eines sterbenden Schwanes. 230 Das 59 Zeilen umfassende Gedicht wird für die Analyse in drei Teile eingeteilt. Der erste Teil umfasst die Zeilen 1 bis 18 und fasst die Situation, in der sich Sidonius befindet, zusammen. Der zweite Teil, Zeilen 19 bis 54 und zugleich der Hauptteil des Gedichtes, ist als Eurich-Panegyrikus bekannt und berichtet von den verschiedenen gentes, die sich seiner Herrschaft unterwarfen. Die letzten vier Zeilen bilden den dritten und letzten Teil, der erneut die persönliche Situation des Sidonius aufgreift. Das Gedicht ist nicht wie bei Herrscherpanegyriken üblich in Hexametern verfasst, sondern in einem Hendekasyllabus, der normalerweise für kleinere Gedichte verwendet wird. 231 Hat Sidonius wirklich einen Panegyrikus auf Eurich verfasst oder ist diese Bezeichnung falsch? Ein Panegyrikus, eine gratiarum actio, war eine Rede zum Konsulatsantritt eines Herrschers. Der Redner wollte nicht nur den Herrscher loben, sondern sich v. a. für das vom Kaiser 227 228 229 230

Sidon. epist. 8,9,2. Sidon. epist. 8,9,3. Fo 1999, 32. Sidon. epist. 8,9,4: quod si quopiam casu ineptias istas, quas inter animi supplicia conscripsimus, nutu indulgentiore susceperis, persuadebis mihi, quia cantuum similes fuerint olorinorum, quorum est modulatior clangor in poenis […]. „Wenn es aber irgendwie der Fall sein sollte, dass Du meine ungeschickten Verse, die ich in seelischer Pein geschrieben habe, mit einigermaßen nachsichtiger Zustimmung aufnimmst, dann wirst Du mich davon überzeugen, dass sie dem Gesang der Schwäne gleichen, deren Schreie im Leiden am melodischsten ist […].“ (Übersetzung nach Köhler 2014, 262). 231 Schwitter 2015, 277; Henke 2008, 167.

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erhaltene Amt bedanken. Andere Anlässe für einen Herrscherpanegyrikus waren dessen Geburtstag oder militärische Siege. 232 Pauli Sivonen hat den Wert der Panegyriken folgendermaßen definiert: Moreover, the source value of the panegyrics lies especially in their literary form. If they belonged to the wider ceremonial setting of the imperial court, they are valuable documents reflecting the way of thinking related to offices and imperial administration in the politico-ideological circumstances of the court. 233 In Anbetracht dieser Aussage fällt es schwer, die Verse für Eurich als einen Herrscherpanegyrikus zu bezeichnen. Rainer Henke sieht in dieser Art der Inszenierung ein Anzeichen, dass das Gedicht vielmehr eine „satirisch-ironische Attacke im Mantel einer laudatio sei“ als wirklich ein Panegyrikus. 234 Die Sidoniusforscher sind zwiegespalten. Während die einen das Gedicht als Signal des guten Willens von Sidonius sehen, der sich mit der politischen Situation abfinde und schmeichelnd zu Kreuze krieche, 235 sprechen die anderen dem Gedicht jegliches Lob ab und gehen davon aus, dass Sidonius Eurich noch immer als Feind sieht. 236 Zu Beginn des Gedichtes stellt Sidonius die rhetorische Frage, warum Lampridius ihn zwinge, ein Gedicht zu verfassen, als ob Sidonius ein neuer Apollo sei. Lampridius wird hier als Tityrus angesprochen, der, nachdem er sein Land wiedererhalten hatte, fröhlich die Lyra spielt: 237 Quid Cirrham vel Hyantias Camenas, / quid doctos Heliconidum liquores, / scalptos alitis hinnientis ictu,  / nunc in carmina commovere temptas,  / [5]  nostrae Lampridius decus Thaliae, / et me scribere sic subinde cogis, / ac si Delphica Delio tulissem / instrumenta tuo novusque Apollo / […] / tu iam, Tityre, rura post recepta / myrtos et platanona pervagatus  /  […]  nos istic positos semelque visos  / bis iam menstrua luna conspicatur […]. 238 Was, bei all den Musen von Cirrha und Hyantes,  / was bei den Wassern hochgelehrter Quellen,  / die der Huftritt des Pegasus eröffnet,  / versuchst Du zum Sange zu bewegen  / [5]  mein Lampridius, Thaliens Zierde,  / zwingt mich so zu schreiben / als wenn ich deines Delischen Gottes Waffen weggenommen hätte / und als neuer Apoll soll ich sie führen / […] / Du hast Tityrus, schon Dein Land 232 233 234 235

Sivonen 2006, 37, 40. Sivonen 2006, 41. Henke 2008, 198 f.; vgl. auch: Schwitter 2015, 278–279; Fo 1999, 34. Harries 1996, 43; 1994, 240 f.; Kaufmann 1995, 130 f.; Demougeot 1979, 641; Stroheker 1970, 85; 1937, 111; Stevens 1933, 166. 236 Fascione 2019, 72; Kitchen 2010, 66; Fo 1999, 24; Overwien 2009, 111; Henke 2008, 168; Gualandri 2000, 127. 237 Sidon. epist. 8,9,5. 238 Sidon epist. 8,9,5 V 1–18.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

zurückbekommen / streifst durch Haine von Myrthen und Platanen / […] / Doch ich bin nun schon den zweiten Monat hier / sah den Herrn nur einmal […]. 239 Dichterisch verarbeitet Sidonius den Gegensatz zwischen ihm und Lampridius, indem er auf die erste Ekloge Vergils zurückgreift und Lampridius mit der Figur des Tityrus identifiziert. 240 Es wird den Interpretationen von Isabella Gualandri und Alessandro Fo zugestimmt, die durch die Gleichsetzung des Lampridius mit Tityrus eine Selbstinszenierung des Sidonius als Meliboeus sehen, der ebenfalls von seinem Land vertrieben worden und besitzlos war, während Tityrus sich freikaufen konnte und über ein Haus verfügte, das er Meliboeus zum Schutz als Unterkunft anbieten konnte. 241 Besondere Betonung im Vers erhalten positus und visos. Sidonius wurde gesehen und wieder „beiseitegelegt“, was Frank Kaufmann und Ormonde M. Dalton schon mit „gefangen sein“ übersetzt haben. 242 Denn bis Sidonius sein Eigentum und damit seine Rechte zurückerlangt, kann er sich nicht frei bewegen und ist auf die Gunst seiner Freunde angewiesen. Schon zweimal hat er den monatlichen Mond gesehen und, obwohl Sidonius sich in einer schwierigen Situation befindet, bringt er Verständnis für den dominus auf: nec multum domino vacat vel ipsi, / dum responsa petit subactus orbis. 243 nicht viel Zeit steht dem Herrscher sogar für sich selbst zur Verfügung, / während der unterworfene Erdkreis Antworten erbittet. Das augenscheinliche Verständnis ist ironisch aufzufassen. Sidonius bezweifelt, dass Eurich tatsächlich ein viel beschäftigter Herrscher sei, worauf die Hyperbel dominus orbis terrarum hinweist. Hans U. Labuske stellt zurecht fest, dass Sidonius sich bei Eurich beliebt machen muss. 244 Nicht mehr der römische Kaiser ist Beherrscher der Welt, sondern ein barbarischer Gote. In den Versen 21 bis 38 folgt nun eine Aufzählung der gentes, die Eurich unterwarf und die diesem ihre Aufwartung machen. 245 In dieser Auslistung wird den Sachsen die längste Beschreibung zuteil (sieben Verse). Die Darstellungen der anderen 239 Übersetzung nach Köhler 2014, 262 f. 240 Schwitter 2015, 278 f., bes. 279, erörtert die möglichen Lesearten der Verse und begründet, warum diese ironisch zu verstehen sind: „Indem Sidonius seine ‚wahre‘ Meinung auf eine Ebene transferiert, die nur einem Angehörigen der Bildungselite zugänglich ist, kann er vordergründig Eurich als deus iuvenis bestätigen und somit auf die Deeskalation seiner Lage hinarbeiten, ohne aber dadurch seine Würde und Integrität als gallo-römischer Aristokrat zu verlieren.“ 241 Verg. georg. 1; Gualandri 2000, 119; Fo 1999, 18. Sidonius hat dieses Motiv bereits in Carmen 4 aufgegriffen. Eventuell kann es weiterhin als ein Hinweis gedeutet werden, dass sich Sidonius nach dem Exil in Lampridius’ Haus in Bordeaux aufgehalten habe, was eine primäre Funktion des Briefes ausschließen würde. 242 Dalton 1915, Bd. 2, 155; Kaufmann 1995, 133. 243 Sidon. epist. 8,9,5 V 19 f. 244 Labuske 1997, 112. 245 Gualandri 2000, 119.

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Die Darstellung Eurichs

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gentes nehmen in der Textlänge ab. 246 Erst bei den Burgundern wird stellvertretend für alle Gruppierungen der Grund für die versammelten Gesandtschaften genannt: flexo poplite supplicat quietem („auf gebeugtem Knie erbittet er Frieden“). 247 Sie erbitten von Eurich Bündnisverträge und erkennen dadurch die visigotische Oberhoheit an. Die barbarischen gentes, mit denen Eurich Bündnisverträge abschließt, sind dem Leser bereits aus den Briefen an Leo bekannt. 248 Es ist davon auszugehen, dass sich Eurich neben militärischen Operationen durchaus um regionale Lokalpolitik bemühte. Die Ostgoten, Parther und Perser, die angeblich vor Eurich die Knie beugen, sind dagegen Teil der Übertreibung. 249 Sidonius bezeichnet Eurich als Heil des Römers, da er Rom vor den Barbaren im Norden schütze: hinc, Romane, tibi petis salutem,  / et contra Scythicae plagae catervas,  / si quos Parrhasis ursa fert tumultus, / Eorice, tuae manus rogantur, / ut Martem validus per inquilinum / defendat tenuem Garumna Thybrim. 250 Von hier ersuchst du Römer dein Heil / gegen die Banden der skythischen Landstriche, wenn diese der Parrhasische Bär in Aufruhr versetzt,  / dann werden deine Truppen erbeten  / sodass schlagkräftig mit eingewanderten kriegerischen Bürgern / die Garonne den schwachen Tiber verteidige. Landschaftlich verortet Sidonius die Barbaren im Norden, im skythischen Gebiet, während die Goten, die als Siedler von Bordeaux, das durch die Garonne dargestellt wird, als ‚Mitbürger‘ und somit als Teil einer ‚Lebenswelt‘ von Sidonius akzeptiert werden. Die Schwäche des Römischen Reiches versinnbildlicht der Tiber, der nunmehr ein Rinnsal und auf die Hilfe der eingewanderten Goten angewiesen sei. Die Sichtweise Eurichs als Beschützer weist Parallelen zu Carmen 23 auf, in dem Sidonius Theoderich II. als Säule und Heil der Römer bezeichnete. Dieses Bild wird nun auf Eurich übertragen, der deutlich von den ihn umgebenden Barbaren abgegrenzt wird. Rainer Henke bezeichnet die Aufzählungen der Schutzsuchenden und unterworfenen gentes als „völlig phantastischer Einfall, den nur ein plumper Barbar wie Eurich als Lob auffassen wird.“ 251 Frank Kaufmann weist in seinen Studien darauf hin, dass diese Verse keine poetische Erfindung des Sidonius seien, sondern bei Chronisten durchaus Entsprechungen finden könne, wie z. B. in Jordanesʼ Getica. 252 Sidonius hatte dieses Gedicht mit einer Anspielung auf Vergils erste Ekloge begonnen und lässt es damit enden, um die Ringkomposition zu schließen: 246 Sachsen: Sidon. epist. 8,9,5 V 21–27; Sygamber: V 28–31; Heruler: V 32–35; Burgunder: V 36–38; Ostgoten: V 36; Hunnen: V 37 f. 247 Sidon. epist. 8,9,5 V 35. 248 Vgl. Sidon. epist. 4,22,3; 8,3,3. 249 Sidon. epist. 8, 9,5 V 36‒39.; zu den Parthern: V 45–47; zu den Persern: V 48–51. 250 Sidon. epist. 8,9,5 V 39–44. 251 Henke 2008, 168. 252 Kaufmann 1995, 137, vgl. Iord. Get. 47,244.

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haec inter terimus moras inanes; / sed tu, Tityre, parce provocare; / nam non invideo magisque miror, / qui, dum nil mereor precesque frustra / impendo, Meliboeus esse coepi. 253 Unterdessen vergeude ich meine Tage im vergeblichen Warten; / aber du, Tityrus, verschone es, mich zu reizen  / denn weniger von Neid bin ich erfüllt als mehr verwundert,  / wieso, während ich nichts erreiche und die vergeblichen Gebete opfere, / ich beginne, Meliboeus zu sein. Während Eurich die verschiedensten Gesandtschaften empfängt, ist für Sidonius diese Zeit eine nutzlose Verzögerung. Aber er als Meliboeus hat aufgehört, Tityrus zu beneiden, der seinerseits aufhören soll, ihn mit Versen herauszufordern. Sprachlich fällt hier auf, dass er beide Verse 56 und 57 mit Alliterationen enden lässt (parce provocare, magisque miror), was das gegensätzliche Verhalten von Lampridius und Sidonius zum Ausdruck bringt. Sidonius hat erkannt, dass es nichts bringt, das Schicksal zu beklagen, sondern es solle gefragt werden, wie dem Schicksal nachgeholfen werden könne. Im Fall des Sidonius, wie er es schaffen kann, wieder ein Mitglied der Gemeinde mit Amt und Würden zu werden. Die Lösung hierfür hat der Leser vor sich: Indem Sidonius an der richtigen Stelle die richtigen Worte einsetzt und sich wohlwollend über Eurich äußert. Wird das Gedicht näher betrachtet, wird festgestellt, dass es sich gänzlich von der Darstellung Theoderichs unterscheidet. Während Theoderich durch seine civilitas definiert wird, wird Eurich lediglich als dominus bezeichnet. 254 Es fehlen schmückende Adjektive und auch die Wortwahl des Sidonius ist nicht sonderlich positiv. Während Theoderich in Carmen 23 noch die Säule für das Heil Roms und Rom noch caput mundi war, muss die Stadt nun ihr Heil in Eurich suchen, der den Erdkreis unterworfen und ihr ihre zentrale Stellung abverlangt hat. Daher ist wohl Rainer Henke und Isabella Gualandri zuzustimmen , die dieses Gedicht nicht als Panegyrikus bezeichnen. 255 Die Verwendung von metaphorischen Bildern oder Beispielen aus der Vergangenheit ist ein Kennzeichen spätantiker Autoren. Rainer Henke vermutet, dass Sidoniusʼ „dichterisches Ich sich in die poetische Tradition der imperialen Goldzeit flüchtet“, was er als Eskapismus bezeichnet. 256 Fraglich bleibt, warum Sidonius das Eurich-Gedicht in einem Brief an Lampridius veröffentlicht und nicht, wie zuvor geschehen, die lobenden Worte in einem Schreiben an Leo unterbringt. War Leo nicht mehr in der Lage, seinem Freund weiterzuhelfen? Oliver Overwien sieht eine verborgene Kritik an Lampridius im Hintergrund, da Sidonius seinen Freund indirekt kritisiere, mit den Visigoten zusammenzuarbeiten. Seiner Meinung nach sei es kein Zufall, dass Lampridius’ grausamer Tod lediglich zwei Briefe später von Sidonius beschrieben wird. 257 In der Tat schildert er ausführlich 253 254 255 256 257

Sidon. epist. 8,9,5 V 55‒59. Gualandri 2000, 129. Henke 2008, 168; Gualandri 2000, 121. Eigler 2003, 23; Henke 2008, 169, 155 f. Overwien 2009,111.

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den abstoßenden Leichnam und äußert am Ende seine Ansicht, dass Lampridius dieses Ende verdient habe. 258 Es ist davon auszugehen, dass Sidonius nicht seine realen Gefühle gegenüber der Herrschaft oder der Person Eurichs offenbart, sondern sich in die Traditionen der Dichtung flüchtet, die ihm lediglich die Möglichkeit bieten, seine Klagen gleichsam gebildeten Menschen zu offenbaren. Vielmehr bedauert er, dass Rom sich gezwungen sieht, bei Eurich Schutz zu suchen, als dass er diesen überschwänglich loben würde. Sidonius verarbeitet in den Wandel der Zeit und seine Erkenntnis, dass das Römische Reich sich endgültig verändert hat. Während die Garonne an Größe gewonnen hat, d. h. während die gallischen Städte an Stärke gewinnen, ist der Tiber zu einem Rinnsal verkommen. Das caput mundi ist nicht mehr in der Lage, sich selbst zu verteidigen. 6.2.4 Fazit zu Eurich Einleitend zu Eurich wurde erwähnt, dass Jill Harries die Schilderung Eurichs als Gegenbild zu Theoderich II. interpretiert. Die Analyse der vier ausgewählten Briefe hat ergeben, dass die Darstellung Eurichs nicht pauschalisiert werden darf, sondern von Sidonius kontextbedingt angepasst wurde. 259 Zunächst muss neben den Unterschieden in der Darstellung zu Theoderich II. auf die Gemeinsamkeiten der Schilderungen hingewiesen werden, die gerne übergangen werden. Beide Herrscher werden von Sidonius sowohl im Rahmen des Briefgenres als auch im Rahmen der Dichtung geschildert. Es sei daran erinnert, dass auch Theoderich II. im Panegyrikus auf Avitus zunächst mit dem Adjektiv trux als barbarisch identifiziert und charakterisiert wurde, bevor Sidonius ihn später als Heil Roms bezeichnete und seine civilitas in den Vordergrund stellte. Eine ähnliche Entwicklung kann bei der Schilderung Eurichs nachvollzogen werden, der zwar einerseits als terribilis, das wie trux ein stereotypisches Adjektiv bei der Beschreibung von Barbaren ist, charakterisiert wird, aber ebenso wie Theoderich II. als Heil des Römischen Reiches in Erscheinung tritt. Beinahe banal erscheint die Ansprache beider als rex Gothorum. Neben diesen Gemeinsamkeiten sind mehrere Unterschiede festzuhalten. Während Theoderich II. von Sidonius lediglich in einem Brief porträtiert wird, sind die Aussagen bezüglich Eurichs über die ganze Sammlung verteilt. Dennoch stehen diese der ausführlichen und lobenden Beschreibung Theoderichs  II. inhaltlich nach. Während Theoderich II. ausschließlich mit positiven Attributen beschrieben wird, überwiegt bei Eurich der negative Eindruck. Bei der ersten namentlichen Nennung wird nicht wie bei Theoderich auf 258 Sidon. epist. 9,11,13: atque utinam hunc finem, dum inconsulte fidens vana consultat, non meruisset excipere! „Ach, wenn er doch dieses Ende nicht auch noch verdient hätte, indem er unberaten und vertrauensselig in Lügengespinsten Rat suchte!“ (Übersetzung Köhler 2014, 274). Sidonius kritisiert – mal mehr (Seronatus), mal weniger direkt (Arvandus, Leo, Lampridius) – Mitglieder der gallo-römischen Aristokratie, wenn er das Gefühl hat, dass sie sich mehr und mehr den ,Anderen‘ anpassen und die eigenen lebensweltlichen Gemeinsamkeiten zurücklassen würden. 259 Dies erkannte bereits Reydellet 1981, 75.

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eine positive Charaktereigenschaft des Herrschers hingewiesen, sondern dessen Vertragsbruch thematisiert. Eurich bleibt in Sidonius’ Wahrnehmung der Feind, der Verträge bricht, andere gentes unterdrückt und dadurch zu einem dominus wird, was in Eurichs Fall den Beigeschmack eines Despoten hat. Zweifellos muss berücksichtigt werden, dass Sidonius den weitaus größeren Teil seines Lebens gegen Eurich politisierte. Der Beginn seiner Herrschaft war von diplomatischen Bemühungen gezeichnet, wodurch Sidonius’ Übernahme des Bischofsamtes in Clermont und Eurichs Expansionspolitik zeitgleich einzuordnen sind. 260 Es ist daher nicht verwunderlich, dass bei Sidonius das Feindbild Eurich im Vordergrund seiner Darstellung steht, während bei Theoderich II. als Bündnispartner des Römischen Reiches die Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden. Tab. 7: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung Theoderichs II. und Eurichs Theoderich II.

Eurich Gemeinsamkeiten

Theodorici regis Gothorum (epist. 1,2,1)

Evarix, rex Gothorum (epist. 7,6,4)

abidam trux asperat iram / victor (carm. 7, 304 f.)

sit ob virium merita terribilis (epist. 7,6,6)

Romanae columen salusque gentis (carm. 23, 71) hinc, Romane, tibi petis salutem (epist. 8,9,5 V 39) Unterschiede Theodorici regis Gothorum commendat populis fama civilitatem (epist. 1,2,1)

Evarix, rex Gothorum, quod limitem regni sui rupto dissolutoque foedere antiquo

igitur vir est et illis dignus agnosci, qui eum minus familiariter intuentur (epist. 1,2,1)

istius haereseos lupus […] nam hostis antiquus […] (epist. 7,6,2.3)

Verbündeter Roms

Feind Roms

Abschließend muss zu Sidonius’ Eurichbild festgehalten werden, dass er sich bei direkten Schilderungen gegenüber dem visigotischen Herrscher sehr zurücknimmt. So schweigt er über den Brudermord, mit dem Eurich seine Herrschaft begonnen hat, und selbst im Lobgedicht widmet Sidonius Eurich lediglich wenige Zeilen. Bei allgemeinen Barbarisierungen, primär im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Auvergne, wird Eurich weder ein- noch ausgeschlossen. Seine metaphorische Schilderung in Brief 7,6 ist ein literarisches Instrument, um Basilius und die anderen Bischöfe zu kritisieren. Überschwängliches Lob wie bei Theoderich  II. kann vergeblich gesucht werden. Zwar ist

260 Gillet 1999, 2, 26. Dem entgegen bspw. die Darstellung bei Demougeot 1979, 631, 634, die den Beginn der ersten Auseinandersetzungen mit dem Vorgehen Eurichs gegen Riothamus im Jahr 469 n. Chr. ansetzt, sowie bei Courcelle 1964, 175, der das Jahr 470 n. Chr. mit dem Vorgehen gegen bretonische Truppen als Beginn erachtet.

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Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7

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Eurich ein rex potentissimus sowie ein rex inclitus, doch deutet dies eher auf seine militärischen Erfolge als auf seine charakterlichen Vorzüge hin. 261 Sämtliche Hinweise bezüglich seiner Wahrnehmung Eurichs finden sich in einem Kontext, in dem Sidonius nicht die Intention verfolgte, wie bei Theoderich II. den ,Anderen‘ zu beschreiben, sondern in dem er über seine Innengruppe und sich ,selbst‘ kritisch reflektiert. Daher bleibt nicht nur Eurich als Person in den Briefen obskur, sondern auch seine Wahrnehmung durch Sidonius zu weiten Teilen verborgen.

6.3 Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7 Nachdem zunächst die Darstellungen der visigotischen Anführer auf Alteritätsdiskurse untersucht wurden, wenden wir unserem Blick nun dem burgundischen Königspaar zu. In Sidoniusʼ Werken werden kaum burgundische Individuen erwähnt. Eine Ausnahme bilden König Chilperich und seine Frau. Zunächst sei auf die Genealogie der burgundischen Herrscher eingegangen, da strittig ist, von welchem Chilperich auszugehen ist. 262 Durch Jordanes ist bekannt, dass der burgundische König Gundioc zusammen mit seinem Bruder und Vizekönig Chilperich I. unter visigotischer Führung im Jahr 456 am Spanienfeldzug teilnahm. 263 Weiterhin wurde Gundioc zum magister militum ernannt, was er hauptsächlich seinem Schwager Rikimer zu verdanken hatte. Die in der Forschung aufgrund unzureichender Quellen ungelöste Frage ist, wann Gundioc verstarb. Herwig Wolfram vermutet, dass dies um das Jahr 470 geschah und sein Bruder Chilperich I. die Nachfolge übernahm. Reinhold Kaiser nimmt an, dass Gundiocs zwischen 463 und 472 n. Chr. verstarb, wobei er einen Zeitpunkt vor dem Jahr 467 am wahrscheinlichsten hält. Quellen können dies jedoch nicht belegen. Chilperichs Tod mutmaßt er dagegen um das Jahr 477, als die beiden jüngeren Söhne Gundioc, Chilperich II. und Godomar, bereits verstorben waren. Die Herrschaft nach dem Tod Chilperichs I. sei an seine beiden älteren Neffen Gundobad und Godegisel übergegangen, bis Gundobad seinen Bruder ermordete. 264 Ian Wood stellt als Einziger die Theorie auf, dass es nur einen Chilperich, nämlich den Bruder Gundiocs, gegeben habe, der in der Vita Patrum Iurensium als vir singularis ingenii et praecipuae bonitatis bezeichnet wird. 265 Chilperich ist seiner Meinung nach der Vater Chrodechildes, der späteren Gemahlin Chlodwigs, die dadurch

261 Die Schlussfolgerung von Nikolaus Staubach geht hingegen zu weit: „Um so bemerkenswerter ist es, daß Sidonius in seinen Briefen keineswegs kritisch oder ablehnend über Eurich äußert, sondern durchaus anerkennend und offenkundig beeindruckt von seiner herrscherlichen Machtstellung, wenn auch nicht, wie bei Theoderich, von seiner Persönlichkeit.“ (Staubach 1983, 17). 262 Kaiser 2004, 114; Kaufmann 1995, 147. Escher 2005, Bd. 2, 719: „Aucune source n’apporte d’information claire sur la continuité des règnes et des dynasties.“ 263 Iord. Get. 44,231; Wolfram 1994, 355. 264 Kaiser 2004, 115 f.; vgl. Escher 2005, Bd. 2, 769–775. 265 Vitae patr. Iurens. 2,10,10‒12 (MGH SS rer. Mer. 3,143).

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

zur Cousine Gundobads wird. 266 Guy Halsall vertritt eine eher traditionelle Forschungsmeinung, nach der die Söhne Gundiocs die Herrschaft unter sich aufgeteilt hätten. Was mit Chilperich I. passiert ist, lässt er offen. 267 Martina Hartmann, die sich mit den Königinnen im frühen Mittelalter beschäftigt, schließt sich der Meinung von Reinhold Kaiser an. In Bezug auf die Königinnen des Burgunderreiches ist es schwer, weitere Aussagen zu treffen. Sie argumentiert überzeugend, dass die katholische Caretene die Gemahlin Gundobads und nicht Chilperichs I. gewesen sei. 268 In dieser Arbeit wird der Auffassung gefolgt, dass die Herrschaft von Gundioc auf Chilperich I. und im Anschluss auf Gundobad überging. Darüber hinaus wird Gregor von Tours gefolgt, der von vier Söhnen Gundiocs berichtet. 269 6.3.1 Epistel 5,6 und 5,7 Da die beiden Episteln unter Kapitel 5.1.3 dieser Arbeit bereits thematisiert wurden, soll ihr Inhalt in Erinnerung gerufen und auf die Schilderung des burgundischen Herrscherpaares fokussiert werden. Epistel 5,6 berichtet von einer Reise nach Vienne, die Sidonius unternommen hatte, sobald es der Belagerungszustand erlaubte. 270 Dort angekommen habe er von Thaumastus, Apollinarisʼ Bruder und Empfänger des nachfolgenden Briefes, erfahren, es sei ein Gerücht in Umlauf, dass die Anstiftungen seines Onkels Apollinaris für den Abfall Vaisons von den Burgundern verantwortlich seien. Dies sei sogar Chilperich von bösen Zungen zugeflüstert worden. 271 Die Stadt Vaison befand sich unter burgundischer Vormachtstellung, die im Jahr 475 n. Chr. den römischen Kaiser Julius Nepos nicht anerkannt habe. Dieser berief daher Ecdicius zum magister militum praesentalis. 272 Die Stadt Vaison habe sich daraufhin von den Burgundern zu lösen versucht, woran Sidonius’ Onkel maßgeblich beteiligt gewesen sei:

266 267 268 269

Wood 2008, 224 f. Halsall 2007, 300. Hartmann 2009, 10,11. Greg. Tur. HF 2,28. Die Quelle wurde von Wood 2008, 225 angezweifelt, aber von Hartmann 2009, 10 Folge geleistet. Perrin 1968, 344 nimmt an, dass Chilperich I. als eine Art Vormund für die minderjährigen Söhne Gundiocs als Herrscher anzunehmen sei und auch Escher 2005, Bd. 2, 728 spricht sich für Chilperich I. als Nachfolger Gundiocs aus. 270 Sidon. epist. 5,6,1. 271 Sidon. epist. 5,6,2. Der Brief findet sich kommentiert bei Giulietti 2014, 108–120. 272 Escher 2005, 734. Es gab burgundische Bemühungen, einen gewissen Glycerius als weströmischen Kaiser zu etablieren, der jedoch vom Osten nicht anerkannt worden war. Dadurch kam es zum Bruch des burgundisch-römischen Vertrages. Siehe hierzu: Heil 2011, 15; Escher 2005, Bd.  2, 731–733; Kaiser 2004, 52; Demougeot 1979, 657; Folz 1972, 76; Courcelle 1964,179.

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Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7

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namque confirmat magistro militum Chilperico, victoriosissimo viro, relatu venenato quorumpiam sceleratorum fuisse secreto insusurratum tuo praecipue machinatu oppidum Vasionense partibus novi principis applicari. 273 Er versichert mir nämlich, dass dem magister militum Chilperich, dem sehr siegreichen Mann, von irgendwelchen Verbrechern im Geheimen ein vergifteter Bericht zugeflüstert worden sei, dass sich vorwiegend aufgrund deiner Machenschaften die Stadt Vaison dem neuen Prinzeps zugewandt habe. Die Schwierigkeit der von Sidonius geschilderten Ereignisse besteht darin, dass sie einzig von ihm überliefert werden und er zusätzlich keine Namen von Akteuren nennt. Außer Apollinaris, der unter Verdacht stand, sind weder weitere ,Mitverräter‘, die Namen der Denunzianten, noch eine genaue Bezeichnung des burgundischen Herrscherpaares und letztlich auch nicht der Name des neuen Prinzeps bekannt. Ein Großteil der Forschenden ist sich einig, dass mit dem neuen Prinzeps Julius Nepos gemeint sei. 274 Als bemerkenswert stellt sich Sidonius’ Schilderung diesbezüglich dar, dass es für einen gallo-römischen Aristokraten gefährlich war, sich für die römische Macht einzusetzen, wenn dieser in einem Gebiet lebte, das von nicht-römischen Gruppierungen verwaltet wurde. 275 Sidonius war sehr darauf bedacht, dem Ansehen seiner Familie nicht zu schaden, weshalb dieser Vorfall so schnell wie möglich behoben werden musste. 276 Den burgundischen Herrscher Chilperich I., der von Sidonius mit seiner römischen Titulatur als magister militum angesprochen und als victoriosissimus vir beschrieben wird, erachtet Sidonius ebenso wie seinen Onkel als Opfer der Intrige. 277 Denn Chilperich sei durch den frevlerischen Bericht im Geheimen vergiftet worden. Die Lautmalerei sceleratorum … fuisse secreto insusurratum imitiert das Flüstern der Lügen in das Ohr des Herrschers. 278 Die Epistel 5,7 schließt sich unmittelbar an Epistel 5,6 an und berichtet über den glücklichen Ausgang der Angelegenheit. Der Hauptteil des Briefes ist der Beschreibung der ,barbarischen Denunzianten‘ vorbehalten (Absätze 1–5), die von Sidonius ausfindig gemacht werden konnten, wie er in der captatio berichtet. 279 Die Paragraphen 6 bis 7, die den Brief beenden, beziehen sich auf den burgundischen Herrscher und seiner Rettung vom giftigen Geflüster der Verschwörer durch seine Gemahlin. 280 273 Sidon. epist. 5,6,2. 274 So Giulietti 2014, 127; Harries 1994, 231; Heil 2011, 15; Kaiser 2004, 52; Perrin 1968, 344; Stevens 1933, 236–238. 275 Harries 1994, 231. 276 Kaufmann 1995, 147. 277 Giulietti 2014, 116 weist darauf hin, dass die Kombination von vir mit einem Adjektiv im Superlativ nicht ungewöhnlich sei und Sidonius diese Kombination öfter verwende, wofür Ilenia Giulietti einige Beispiele anführt. 278 Vgl. Giulietti 2014, 117, die auf einen ähnlichen Gebrauch in Hor. sat. 2,8,77 (stridere secreta divisos aure susurros) verweist. 279 Sidon. epist. 5,7,1. 280 Sidon. epist. 5,7,6 f.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

In der captatio ändert Sidonius die Ansprache Chilperichs, der nun als Tetrarch 281 bezeichnet wird: Indagavimus tandem, qui apud tetrarcham nostrum germani tui et e diverso partium novi principis amicitias criminarentur […]. 282 Endlich haben wir diejenigen ausfindig gemacht, die bei unserem Tetrarchen gegen die Freundschaftsbündnisse zwischen deinem Bruder und auf der entgegengesetzten Seite dem neuen Prinzeps Anklage erhoben haben […]. Sidonius hat Chilperich als einen nicht-römischen Herrscher, einem römischen Kaiser nicht unähnlich, wahrgenommen. Doch genau diese Bezeichnung des Tetrarchen ist es, die die Forschung spaltet. Frank Kaufmann ist der Überzeugung, dass der Brief Chilperich II. betrifft, da er sich mit seinen drei Brüdern das Reich seines verstorbenen Vaters geteilt habe. 283 Diese Theorie wird jedoch als veraltet betrachtet und würde auch mit der angenommenen Genealogie des burgundischen Herrscherhauses nicht zusammenpassen, da Chilperich II. vor seinem Onkel, Chilperich I., verstarb. 284 Die einzige Möglichkeit, dass doch Chilperich II. gemeint sein könnte, besteht in der Interpretation der Tetrarchen-Bezeichnung als Ansprache für die Söhne Gundiocs, ohne dass diese aber über das burgundische Reich geherrscht hätten. 285 Dem ist jedoch die Bezeichnung als magister militum entgegenzusetzen, da Chilperich I. der letzte burgundische Anführer war, der dieses Amt innehatte. 286 Daher wird Frank Kaufmann widersprochen und die Auffassung vertreten, dass es sich aufgrund der Abfassungszeit und der Wichtigkeit der beschriebenen Persönlichkeit um Chilperich I. gehandelt haben muss. 287

281 Fascione 2019, 76 f. spricht sich für eine synonyme Verwendung von ,Tetrarch‘ mit dem Begriff rex aus, da eine synonyme Verwendung bei Horaz und Lucan nachweisbar sei. 282 Sidon. epist. 5,7,1. 283 Kaufmann 1995, 148. Sein aus dem Kontext genommener Beleg von Perrin 1968, 344 unterstützt meiner Ansicht nach seine These nicht. Perrin gehe erstens davon aus, dass Chilperich I. als Vormund über die Söhne seines Bruders eingesetzt war und somit der ,führende‘ Tetrarch sei, zum anderen sprichz Odet Perrin in der von Frank Kaufmann zitierten Stelle von allgemeinen Anführern nicht-römischer Herkunft in Gallien, die sich dort die Macht teilen: „Nous croyons plutôt que Sidoine, en employant ce titre, voulait signifier que les Gaules étaient alors en passée d’être démembrées et partagées entre plusieurs princes barbares.“ 284 Hartmann 2009, 10; Kaiser 2004, 115 f. 285 So argumentieren bspw. Loyen 1960/1970, Bd.2, 325; Dalton 1915, Bd. 1, clxiv. 286 Dass mit Chilperich I. als magister militum ein autonomer Anführer einer nicht-römischen gens gemeint ist, kann auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass auch Gundioc diese Amtsbezeichnung führte und die Vita patrum Iurensium Chilperich I. zusätzlich als patricius und rex bezeichnet (Vitae patr. Iurens. 2,10,3‒4). Siehe hierzu: Maier 2005, 96; Kaiser 2004, 119 f. Der Argumentation Freys (Frey 2003, 204), der die Ansprache mit magister militum als Sarkasmus deutet, wird nicht gefolgt, da aus dem Quellenbefund kein Anhaltspunkt hierfür gesehen wird. 287 Siehe ebenso: Furbetta 2014/2015, 145; Wood 2008, 225.

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Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7

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Im sechsten Paragraphen, nachdem Sidonius das barbarische Verhalten der Denunzianten dem Leser deutlich vor Augen geführt hat, lenkt er den Blick zurück auf Chilperich I., der, wie im vorhergehenden Schreiben, als Opfer präsentiert wird. his moribus obruunt virum non minus bonitate quam potestate praestantem. sed quid faciat unus, undique venenato vallatus interprete? quid, inquam, faciat, cui natura cum bonis, vita cum malis est? ad quorum consilia Phalaris cruentior Mida cupidior, Ancus iactantior Tarquinius superbior, Tiberius callidior Gaius periculosior, Claudius socordior Nero impurior, Galba avarior Otho audacior, Vitellius sumptuosior Domitianus truculentior redderetur. 288 Mit diesen Sitten versuchen sie einen Mann, der nicht weniger wegen seiner Güte als seiner Autorität hervorragend ist, zugrunde zu richten. Aber was kann einer allein machen, wenn er von allen Seiten von giftigen Beratern umgeben ist? Was, frage ich, kann einer machen, der das Wesen mit den boni, das Leben aber mit mali gemein hat? Deren Ratschläge würden selbst Phalaris noch blutgieriger, Midas noch begieriger, Ancus noch angeberischer, Tarquinius noch überheblicher, Gaius noch waghalsiger, Claudius noch sorgloser, Nero noch schändlicher, Galba noch geiziger, Otho noch dreister, Vitellius noch verschwenderischer und Domitian noch furchtbarer machen. Sidonius beschreibt Chilperich als einen Mann, der in gleichem Maße über Güte und über Macht verfüge und deshalb angesehen sei. Es sei nicht seine Schuld, wenn er im Leben von schlechten Menschen umgeben sei; er wird von Sidonius als Teil der boni wahrgenommen. 289 Es sei nicht verwunderlich gewesen, wenn Chilperich, ganz ähnlich wie frühere Kaiser, von schlechten Männern beeinflusst worden wäre. 290 Denn selbst solche Herrscher, die nach Sidonius’ Ansicht alle von Natur aus schlecht waren, seien durch schädliche Einflüsse noch schlechter geworden. Sidonius demonstriert durch die chronologisch geordnete Aufzählung schlechter Kaiser die Überlegenheit Chilperichs. Chilperich wird vor einem solchen Schicksal bewahrt, da er von Natur aus zu den boni gehört, und weil er, wie aus dem nächsten Paragraphen hervorgeht, nicht allein war. Er hat eine Tanaquil: sane, quod principaliter medetur afflictis, temperat Lucumonem nostrum Tanaquil sua et aures mariti virosa susurronum faece completas opportunitate salsi sermonis eruderat. cuius studio [factum] scire vos par est nihil interim quieti fratrum communium apud animum communis patroni iuniorum Cibyratarum venena nocuisse neque

288 Sidon. epist. 5,7,6. 289 Kaufmann 1995, 148. 290 Zu den sprachlichen Besonderheiten dieser parallel gestalteten Aufzählung sei auf Giulietti 2014, 178–180 verwiesen.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

quicquam deo propitiante nocitura, si modo, quamdiu praesens potestas Lugdunensem Germaniam regit, nostrum suumque Germanicum praesens Agrippina moderetur. 291 Allerdings, was wesentlich gegen unser Leid hilft, ist, dass seine Tanaquil unseren Lucumo lenkt und die Ohren des Gatten, die vom stinkenden Abschaum der Flüsterer voll sind, bei Gelegenheit mit gesalzenen Worten reinigt. Aufgrund ihrer Bemühungen ist, wie ihr wissen sollt, bis jetzt nichts, was der Ruhe unseres gemeinsamen Bruders hätte schaden können, vom Gift der jüngeren Cibyraten im Herzen unseres gemeinsamen Patrons angekommen. Und es wird auch mit Gottes Hilfe in Zukunft nicht schaden, vorausgesetzt, dass, solange der gegenwärtige Herrscher die germanische Lugdunensis regiert, auch unsere gegenwärtige Agrippina ihren Germanicus zügelt. Sidonius greift hier auf Personen aus der Königszeit Roms zurück und vergleicht Chilperich mit Lucumo und seine Gemahlin mit Tanaquil, die die Gabe der Weissagung und großen Einfluss auf ihren Ehemann hatte. 292 Lucumo, der aus der etruskischen Stadt Tarquinii stammte, wurde unter dem Namen Lucius Tarquinius Priscus der fünfte König Roms. Dabei ist Lucumo weniger ein Name, sondern vielmehr ein etruskischer Titel eines Anführers, der auch priesterliche Funktionen einnahm. Es ist anzunehmen, dass Sidonius mit Hilfe des Namens auf die Funktion Chilperichs I. als rex anspielt. 293 Es war also der Königin zu verdanken, dass die boshaften Gespräche aufgeklärt wurden, was als Anzeichen zu sehen ist, dass sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihren Gatten ausübte. 294 Dabei verkörpert, wie Luciana Furbetta festhält, Chilperichs’ Gattin das Bild der vorbildhaften Matrone, die in der Lage ist, auf geschickte Weise ihren Ehemann zu besänftigen und bei politischen Fragen zu beeinflussen. 295 Zum Abschluss des Briefes wünscht sich Sidonius, dass, solange die Burgunder die Herren über Lyon sind, dieser Einfluss nicht versiege, und zieht dabei einen letzten Vergleich, indem er Chilperich mit Germanicus und seine Frau mit Agrippina gleichsetzt, die ebenfalls Beispiele römischer Tugendhaftigkeit sind. 296 Sidonius verliert kein böses oder schlechtes Wort über das burgundische Herrscherhaus und verwendet in Bezug auf dieses keine Stereotypisierung oder gar den Begriff ‚Barbaren‘. 297 Einzig erwähnt er, dass sie die momentanen Herrscher über die germanische Lugdunensis seien, was dadurch zu erklären ist, dass Sidonius die gallische Provinz nun unter nicht-römischer Oberhoheit 291 292 293 294 295 296

Sidon. epist. 5,7,7. Vgl. Liv. 1,34; Giulietti 2014, 180–182; Anderson 1936/1965, Bd. 2, 194. Alföldi 1977, 132, 187; Schachermeyr 1932, Sp. 2172 f. Kaiser 2004, 124; Kaufmann 1995, 148. Furbetta 2014/2015,147. Agrippina war dafür bekannt, dass sie ihren Gatten Germanicus auf Feldzüge begleitete. So wie Agrippina Germanicus nicht von der Seite wich und ihn lenkte, soll Chilperichs Gattin ihm nicht von der Seite weichen und ihn zügeln. 297 Dementgegen Fascione 2019, 77. Im Kontext der Epistel 5,6 interpretiert sie das Schreiben 5,7 als ironische Darstellung Chilperichs.

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Das burgundische Herrscherpaar: Epistel 5,6 und 5,7

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sieht. Diese Begrifflichkeit kann als Hinweis auf die Anerkennung der burgundischen Herrschaft verstanden werden. Ilenia Giulietti sieht am Ende der conclusio ein Zeichen der Hoffnung, das Sidonius seinen Lesern vermittle. Hoffnung, dass ein Leben unter nicht-römischer Herrschaft möglich sei, solange es sich um Herrscher wie Chilperich und seine Frau handle. Frank Kaufmann vermutet, dass Sidonius an dieser Stelle nicht mehr habe schmeicheln müssen, da der Ruf seines Onkels bereits wiederhergestellt gewesen sei, und somit das Geschriebene den freien Willen des Sidonius dargestellt habe. Dabei sei zu erkennen, dass Sidonius gute Beziehungen zum burgundischen Königshaus unterhalten habe. 298 Frank Kaufmann scheint nicht zu beachten, dass ein Leben unter burgundischer Oberhoheit so frei nicht gewesen sein kann, wenn derjenige darauf achten musste, seine Freundschaften mit gegnerischen Reichen geheim zu halten beziehungsweise sogar einzustellen, wie es Sidonius in seinen Briefen thematisiert. 299 Luciana Furbetta sieht in dem Schreiben eine Propagandaschrift für das burgundische Königshaus, mit dem die lokale Aristokratie gut habe zusammenarbeiten können. Sie interpretiert dies einerseits auf Basis der römisch-burgundischen Verträge (scheint aber den Bruch, der mit dem Regierungsantritt unter Julius Nepos erfolgt ist, nicht einzubeziehen),  300 andererseits aufgrund des Publikationszeitraumes des fünften Buches, der kurz nach den beiden Briefen zu datieren sei. Sidonius habe durch diese „Propaganda“ das empfindliche Verhältnis zwischen seiner Familie und den burgundischen Herrschern beeinflussen wollen. 301 Ich schließe mich der Meinung von Luciana Furbetta nur teilweise an. Es wird ihr zugestimmt, dass Sidonius mit diesem Schreiben das Ansehen seiner Familie retten wollte. Allerdings ist davon auszugehen, dass dies eher vor der gallo-römischen Aristokratie als vor dem burgundischen Königshaus geschehen sollte, da Sidonius seine Briefe für einen späteren Leserkreis verfasste. Es ist anzunehmen, dass er die Briefe in die Sammlung aufnahm, um erstens zu zeigen, dass seine Familie loyal sei und sich zweitens von barbarischen Verrätern wie den im Brief beschriebenen Denunzianten grundlegend unterscheide. Gleichzeitig zeigt der Brief dem Leser, dass niemand vor solchen Verschwörungen sicher sein könne. Daher ist er als Warnung an andere aristokratische Familien zu verstehen. Selbst viri boni seien vor den Machenschaften solch frevlerischer Denunzianten nicht gefeit. Eine offene Frage, die der Brief hinterlässt, ist die anonyme Königin, die mit Tanaquil und Agrippina der Älteren gleichgestellt ist. Sidonius nennt keinen Namen und Frank Kaufmanns Vermutung, dass es sich um Caretene handeln könne, wird von Martina Hartmann widersprochen, da diese höchstwahrscheinlich mit Gundobad verheiratet war. 302 Es ist das erste Mal, dass Sidonius über eine Frau an einem nicht-römischen Herrscherhof so positiv spricht. In der Tat springt einem im Allgemeinen förmlich der 298 Kaufmann 1995, 149. 299 Zum Beispiel Sidon. epist. 5,12,1; 9,5,1. 300 Furbetta 2014/2015, 147 f. Sie datiert jedoch die Briefe 5,6 und 5,7 in die Wintermonate 474 bis 475 und schließt sich somit der von André Loyen etablierten Datierung (Loyen 1960/1970, Bd. 2, 225) an. Siehe auch: Giulietti 2014, 127. 301 Furbetta 2014/2015, 147. 302 Kaufmann 1995, 148; siehe auch: Hartmann 2009, 11.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Unterschied zu Carmen 12 ins Auge, in der die Burgunder keineswegs als gesittete Herren dargestellt werden. 303 Über die Glaubenszugehörigkeit des burgundischen Ehepaares äußert sich Sidonius indirekt in einer Epistel an Bischof Patiens, indem er schreibt, dass der Herrscher mehr die Feste des Bischofes lobe, während die Herrscherin dessen Fasten bewundere. 304 Dies wird als Indiz dafür gesehen, dass zumindest die Frau des Königs katholisch gewesen sei. 305 Zusammenfassend ist für die Schilderung des burgundischen Königspaares folgendes festzuhalten: Ähnlich wie die Darstellungen Theoderichs  II. und Eurichs wird das burgundische Königspaar von den sie umgebenden Barbaren (den Denunzianten) abgehoben. Ihre Darstellung kann und darf somit nicht mit dem gängigen Barbarenbild pauschalisiert werden. Sidonius greift auf römische Titulaturen zurück und zieht historische Vergleiche heran. Dadurch wird die ,Alterität‘ des burgundischen Herrscherpaares schrittweise zurückgelassen. Allerdings steht in dieser Beschreibung, ähnlich wie bei Eurich, nicht die Wahrnehmung und Charakterisierung als Intention des Sidonius im Vordergrund, sondern die Warnung an andere Aristokraten vor Verrätern, die aus den eigenen Reihen kommen können. Diese werden in barbarischer Manier dargestellt und vergiften die verbliebenen guten Männer. Einzig unbeeinflusst von diesem Gift sei die Ehefrau Chilperichs  I., denn mit ihrer Hilfe schafft es dieser, seinen guten Charakter zu erhalten. Fraglich bleibt, ob das burgundische Herrscherpaar, trotz der positiven Konnotation in der Schilderung, von Sidonius als Mitglied seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ wahrgenommen wird. Die Antwort auf diese Frage muss offenbleiben. Sidonius äußerst sich nicht explizit über den Glauben, über die Bildung, die Erscheinung oder das weitere Verhalten des Herrscherpaares. Von Sidonius’ eigener Aussage ausgehend, dass Menschen sich von Tieren unterscheiden, weil sie falsch und richtig unterscheiden können, kann vermutet werden, dass Sidonius Chilperich nicht als übermäßig gebildet wahrnahm, da er sich von Gerüchten vergiften ließ. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass Chilperichs Frau gebildet gewesen sein muss, da sie in der Lage war, zwischen Gerücht und Wahrheit zu differenzieren. Am Ende kann festgehalten werden, dass das burgundische Paar sich zwar von Barbaren unterscheidet, aber in Sidonius’ Schilderung ihre ,Alterität‘ noch nicht vollständig überkommen hat.

6.4 Riothamus in Epistel 3,9 Der letzte nicht-römische Anführer, der in Sidonius’ Briefen namentlich in Erscheinung tritt und als Beispiel für die Darstellung von herrschaftlichen Individuen besprochen werden soll, ist der Bretone Riothamus. Es ist die einzige herrschaftliche Person, die Sidonius als Adressat in seiner Briefsammlung in Erscheinung treten lässt. Es gilt zu fragen, 303 Sidon. carm. 12. 304 Sidon. epist. 6,12,3. 305 Wood 2008, 225; Harries 1994, 232.

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Riothamus in Epistel 3,9

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ob dies als Beweis dafür zu deuten ist, dass Sidonius Riothamus als Teil seiner lebensweltlichen Gemeinschaften und nicht mehr als ,Anderen‘ wahrnimmt. Aufgrund der spärlichen Quellenlage ist nur weniges über den Bretonen bekannt. Jordanes schreibt, dass er über den Ozean ins Land gekommen sei, um Anthemius zu Hilfe zu eilen. 306 Dies lässt darauf schließen, dass es sich bei Riothamus um einen Heerführer, der ursprünglich aus Britannien stammte, gehandelt hat. 307 Herwig Wolfram stellt die Bretonen unter Riothamus als eine an der Loire siedelnde Gemeinschaft vor, die von Eurich und seinen visigotischen Verbänden angegriffen wurde, mit dem Ziel, seine Macht auf gallischem Boden zu erweitern. 308 Die Bretonen bezeichnet Herwig Wolfram, neben den Basken, als „einheimische Barbaren“, die „das autochthone keltische Element“ verkörpern. Ihm zufolge hatten sich im 5. Jahrhundert in Gallien ganze Bezirke vom Römischen Reich gelöst oder waren nur noch als foederati mit Rom verbunden. Dabei habe sich das bretonische Reich unter Riothamus „institutionalisiert“. 309 Émilienne Demougeot äußert die Vermutung, dass die nach Gallien eingewanderten Bretonen sich mit Zustimmung Roms in Aremorica angesiedelt hätten und von Aëtius gegen die Bagauden an der Loire eingesetzt worden seien. Besonders zu erwähnen ist, dass diese wohl katholisch waren, was Demougeot auf einen bretonischen Bischof, der 461 am Konzil in Tours teilgenommen habe, zurückführt. 310 Martin Heinzelmann ist der Meinung, dass Riothamus freiwillig gegen Eurich und für Anthemius ins Feld zog, John R. Martindale dagegen, dass Anthemius ihn dazu gezwungen habe. 311 Neben Jordanes berichtet Gregor von  Tours von der Niederlage der Bretonen gegen die visigotischen Truppen und der anschließenden Vertreibung aus ihren Siedlungsgebieten. 312 Demzufolge folgert Demougeot, dass Riothamus ein Römer, ein Freund des Sidonius, und für die römische Herrschaft in Gallien ein ergebener socius gewesen sei. 313 Ist ihr recht zu geben, die Riothamus als ,Römer‘ bezeichnet? 314 Eine Analyse des Briefes soll helfen, die Wahrnehmung des bretonischen Anführers zu deuten. In diesem Schreiben beschwert sich Sidonius über das Verhalten bretonischer Personen in seiner Region, die Sklaven aufwiegelten. Er drückt seine Hoffnung aus, dass der Ankläger bei den Bretonen unter Riothamus eine faire Anhörung bekomme. Der

306 Iord. Get. 45,237. 307 Der Rückzug römischer Truppen und der römischen Verwaltung erfolgte 410 n. Chr. mit einem Schreiben des Kaisers Honorius. 308 Wolfram 1979a, 221. 309 Wolfram 1979a, 291. 310 Demougeot 1979, 506. 311 Heinzelmann 1983, 681 unter Riothamus; vgl. PLRE II, 945 unter Riothamus. Émilienne Demougeot nimmt an, dass Rikimer Riothamus überzeugt habe, auf römischer Seite gegen die Visigoten zu kämpfen (Demougeot 1979, 506). 312 Greg. Tur. HF 2,18; Wolfram 1979a, 222; Stroheker 1937, 31. Es wird angenommen, dass sich die verbleibenden Bretonen in die burgundische Oberhoheit flüchteten. 313 Demougeot 1979, 507. 314 Demougeot 1979, 507.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Brief ist kurz: narratio und conclusio finden sich im zweiten Paragraphen, während der erste Paragraph als captatio anzusprechen ist: Sidonius Riothamo suo salutem. [1] Servatur nostri consuetudo sermonis: namque miscemus cum salutatione querimoniam, non omnino huic rei studentes, ut stilus noster sit officiosus in titulis, asper in paginis, sed quod ea semper eveniunt, de quibus loci mei aut ordinis hominem constat inconciliari, si loquatur, peccare, si taceat. sed et ipsi sarcinam vestri pudoris inspicimus, cuius haec semper verecundia fuit, ut pro culpis erubesceretis alienis. [2] gerulus epistularum humilis obscurus despicabilisque etiam usque ad damnum innocentis ignaviae mancipia sua Britannis clam sollicitantibus abducta deplorat. incertum mihi est an sit certa causatio; sed si inter coram positos aequanimiter obiecta discingitis, arbitror hunc laboriosum posse probare quod obicit, si tamen inter argutos armatos tumultuosos, virtute numero contubernio contumaces, poterit ex aequo et bono solus inermis, abiectus rusticus, peregrinus pauper audiri. vale. 315 Sidonius grüßt seinen Riothamus. [1] Es wird die Gewohnheit unseres Gespräches erhalten: Denn mit meinem Gruß verbinde ich eine Beschwerde. Nicht weil von allen diesen Dingen von mir ereifert wird, dass mein Brief in der Anrede sehr pflichtbewusst und im Inhalt beleidigend ist, sondern weil sich immer wieder solche Dinge ereignen, von denen es feststeht, dass ein Mann in meiner Stellung und in meinem Rang sich ins Unrecht bringen wird, wenn er reden sollte und es Sünde ist, wenn er schweigen sollte. Aber auch ich erkenne die Bürde eurer Sittsamkeit, deren Schamgefühl immer von der Art ist, dass ihr euch ob der Schuld anderer schämt. [2] Der Träger des Briefes ist bescheiden, unbekannt und verächtlich bis zu einem Grad, dass er sich sogar mit seiner unschuldigen Trägheit selbst schadet. Er beklagt, dass seine Sklaven von Bretonen heimlich aufgewiegelt und weggeführt worden seien. Für mich ist ungewiss, ob diese Anklage rechtmäßig ist; aber wenn ihr von Angesicht zu Angesicht die gegenseitigen Behauptungen geduldig auflöst, dann glaube ich, dass dieser Geplagte das beweisen kann, was er zum Vorwurf macht, wenn es denn unter geschwätzigen, bewaffneten, lauten, durch Kraft, Anzahl und Kameradschaft schonungslosen Männern möglich sein wird, aus Recht und Billigkeit einen einzelnen unbewaffneten, niedrigen Bauern und armen Fremden anzuhören. Lebt wohl. In diesem Schreiben fallen zwei Dinge besonders auf: 1. die Ansprache und Darstellung des Riothamus ohne weitere Titel, 2. der Verweis, dass der Gegenstand des Briefes „Gewohnheit“ sei. Letzteres wird in Kapitel 5.1.3 ausführlich besprochen. Aus diesem Grund wir hier nicht noch einmal näher darauf eingegangen. 316

315 Sidon. epist. 3,9. 316 Kapitel 5.1.3.

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Riothamus in Epistel 3,9

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Riothamus wird von Sidonius wie gallo-römische Aristokraten, namentlich und ohne Titel, angesprochen. Da Jordanes den Titel rex für Riothamus verwendet und Sidonius diesen bei der Darstellung aller anderen nicht-römischen Herrscher benutzt, muss der Verzicht des Titels bei diesem Schreiben hinterfragt werden. 317 Hierfür kommen zwei Erklärungen in Frage: Erstens liegt es im Rahmen der Möglichkeiten, dass Sidonius Riothamus, der nach der Niederlage durch die visigotischen Truppen unter Eurich im burgundischen Teil Galliens lebte, nicht mehr öffentlich als rex betiteln konnte. Davon ausgehend, dass rex als Amtsbezeichnung und für das ausgehende 5. Jahrhundert erst allmählich als ,König‘ zu interpretieren ist, hat Riothamus mit dem Verlust seines Heeres und seines legislativen Machtbereiches seinen Anspruch auf diesen Titel verloren. Im Reich der Burgunder lebend war er ein Untertan wie Sidonius. Gegen diese Hypothese spricht, dass Riothamus in diesem Fall keine richterliche Befugnis gehabt hätte, um sich des von Sidonius vorgetragenen Falles anzunehmen. Zweitens ist es denkbar, dass Sidonius’ Schreiben auf einen Zeitpunkt zurückgeht, zu dem Sidonius selbst noch im Staatsdienst aktiv war, d. h. vor dem Arvandusfall. Dafür spricht die Andeutung, dass das Schreiben neben einer Gewohnheit eine Pflicht des Sidonius gewesen sei (officiosus). Daraus folgend wären locus und ordo, aufgrund derer er nicht schweigen darf, als öffentliche Stellung und senatorischer Rang zu interpretieren. Filomena Giannotti schließt weiterhin die Möglichkeit nicht aus, dass Sidonius zu diesem Zeitpunkt ein einfacher patricius war. Dementsprechend ist das zeitliche Narrativ des Briefes zwischen dem Arvandusfall und Sidonius’ Wahl zum Bischof einzuordnen. 318 Gegen diese Annahme spricht, dass Sidonius keine Titulatur verwendet, obwohl er an einen römischen Föderaten in Rang und Würden schreibt. Bei einem Vergleich des Riothamus mit dem comes Arbogast in Trier fällt auf, dass Sidonius in seinem Schreiben an diesen ebenfalls auf sämtliche offizielle Titulaturen verzichtet. Da Sidonius an Arbogast jedoch als Bischof schreibt, kann dies mit der kirchlichen Position des Sidonius erklärt werden. Letztlich kann durch den Brief weder die eine noch die andere Annahme vollständig gestützt werden. Aufgrund der Kürze ist eine Datierung aus dem Inhalt heraus

317 Iord. Get. 45,237: Quorum rex Riotimus cum duodecim milia veniens in Beturigas civitate Oceano e navibus egresso susceptus est. Ad quos rex Vesegotharum Eurichus innumerum ductans advenit exercitum diuque pugnans Riutimum Brittonum rege, antequam Romani in eius societate coniungerentur, effugavit. „Deren rex Riotimus kam mit zwölftausend Mann über den Ozean in die civitas der Bituriger und wurde empfangen, als er von seinen Schiffen herabstieg. Eurich, der König der Visigoten, näherte sich ihnen, indem er ein immenses Heer anführte. Und nach einem langen Kampf schlug er den König der Brittonen, Riutimus, bevor die Römer sich ihm anschließen konnten.“ Zur Herkunft und Identität von Riothamus siehe: Halsall 2007, 271–277; Wood 1987, 261 f.; Salway 1981, 491; PLRE II, 945 unter Riothamus. Bei der Schreibung des Namens folge ich der Leseart der inscriptio von Lüthjohann 1887, die auch in der Forschungsliteratur dominiert, während die Handschriftenfamilien MTPF der Sidoniusbriefe auch Riotamo überliefern. 318 Giannotti 2016, 197.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

unmöglich. 319 Allein die Tatsache, dass Riothamus als Person eingestuft wird, die ein Gerichtsurteil fällen kann, deutet darauf hin, dass die Erzählzeit vor dessen Niederlage gegen Eurich einzuordnen ist. Einen Vergleich der verwendeten Titulatur rex mit Theoderich, Eurich oder Chilperich erscheint problematisch, da Sidonius diese nicht direkt anschreibt, sondern in seinen Briefen über sie berichtet. Die einfachste Erklärung liegt daher in der Annahme, dass Sidonius aus uns unbekannten Gründen ein freundschaftliches Verhältnis mit Riothamus pflegte und daher ein Bittschreiben an ihn schicken konnte, wie er es auch an einen gallo-römischen Aristokraten oder Bischof schreiben hätte machen können. 320  Riothamus wird in ähnlicher Weise wie Chilperich von den barbarischen Bretonen, die sich durch ihr schlechtes Verhalten auszeichnen, abgegrenzt. Diese werden u.  a.  als geschwätzig, laut, bewaffnet und schonungslos beschrieben. Der Herrscher hingegen wird als Person mit einer sehr großen Sittenstrenge dargelegt, der sich sogar für das Verhalten ,Anderer‘, für das Verhalten seiner Truppen, schäme. Hier muss ich erneut auf die Philagrius-Stelle zurückkommen: Riothamus kann richtig von falsch unterscheiden und wird diesbezüglich von Sidonius auf einer Ebene mit gebildeten Mitgliedern der gallorömischen Aristokratie gesehen. Aus diesem Grund hat Sidonius die Hoffnung, dass sein Klient mit seiner Klage erfolgreich sei, da Riothamus den Sachverhalt geduldig prüfen und zum richtigen Ergebnis gelangen werde. Am Ende entpuppt sich die von Sidonius zu Beginn des Schreibens getroffene Aussage, er kenne die Wahrheit in dem Fall nicht, als Bescheidenheitsfloskel. Sidonius ist sich der Unschuld des Anklägers bewusst. Durch dessen Kleinhaltung zu Beginn der narratio sowie dem direkten Vergleich mit den barbarischen Bretonen, die Riothamus umgeben, versucht er, diesen zu manipulieren. Sollte sich Riothamus gegen den Schützling des Sidonius aussprechen, wäre dieser in seiner Annahme bestärkt, dass bei Barbaren kein gerechtes Urteil möglich sei. Weiter würde Riothamus selbst dadurch in der Wahrnehmung des Sidonius zu einem Barbaren werden. Am Ende bleibt festzuhalten, dass eine Verwendung des Titels rex für die Wahrnehmung einer Person nicht von Bedeutung sein kann. Denn Theoderich wird als rex in römischer Manier geschildert, während Eurich als rex zwar mächtig, aber schrecklich ist. Chilperich ist als rex äußerst siegreich, braucht aber seine Frau, um wahr von falsch zu unterscheiden. Und Riothamus? Riothamus darf sich geehrt fühlen, dass Sidonius ihn insofern als Teil seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ empfunden haben muss, dass er ihn als Adressaten in seine Briefsammlung aufgenommen hat. Daher ist anzunehmen, dass Riothamus von Sidonius als Teil seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ wahrgenommen wird und nicht als ,Barbar‘. 321 319 Dem entgegen Mathisen 2013b, 222, der den Brief zu denen der Sammlung zählt, die eindeutig einem historischen Ereignis, in diesem Fall der Niederlage der Bretonen gegen die Visigoten, zuordbar wären. Das erste Problem, das sich dabei ergibt, ist die zweifelhafte Datierung des historischen Ereignisses an sich. Giannotti 2016, 195 ordnet den Brief in die Jahre 469 bis 470 n. Chr. ein, wobei sie der Annahme von Ralph W. Mathisen folgt. 320 Ein Beispiel hierfür ist die direkt anschließende Epistel an Tetradius: Sidon. epist. 3,10. 321 Damit wird am Ende Wolfram 1979a, 291 widersprochen und Demougeot 1979, 507 zugestimmt.

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Arbogast (epist. 4,17)

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6.5 Arbogast (epist. 4,17) Über Arbogast, den Empfänger des 17.  Briefes des vierten Buches, liegen nur wenige Informationen vor. Seine Person und seine Funktion als comes Treverorum sind neben dem Schreiben des Sidonius in einem Brief des Auspicius überliefert. 322 Es wird angenommen, dass es sich bei ihm um einen Nachfahren des gleichnamigen magister militum unter Valentinian II. handelt, weshalb er in der Forschung als ,Franke‘ bezeichnet wird. 323 Sein Vater Arigius war vermutlich vor ihm als comes in Trier tätig. Britta Everschor sowie Frank Kaufmann bezeichnen Arbogast daher in ihren Studien als Franken, obwohl sie davon ausgehen, dass dessen Familie „weitgehend romanisiert“ war und Arbogast somit nicht als „typischer Barbar“ gelte. 324 David Amherdt sieht Arbogast als Mitglied der senatorischen Elite an, der als comes die Stadt Trier im Auftrag Roms regiert habe, während die umliegende Region in fränkischer Hand gewesen sei. 325 Die Bezeichnung comes weist eher auf ein römisches Amt, als auf eine fränkische Herrschaftsbezeichnung hin. 326 Um diesbezüglich weitere Aussagen treffen zu können, fehlt es an umfassenden Studien zu Funktion und Entwicklung der spätantiken comites. An dieser Stelle wird das Problem der Zuweisung ethnischer Identitäten deutlich, da zu hinterfragen ist, ob Arbogast als Franke bezeichnet werden sollte, wenn er römischer Magistrat war, in einer römischen Stadt aufgewachsen war und römische Bildung genossen hatte. Durch den Brief des Sidonius erhalten wir einen Eindruck, wie dieser den comes Treverorum wahrgenommen und sich ihm gegenüber geäußert hat.  327 Bei der Epistel 4,17 handelt sich um eine recusatio des Sidonius, der von Arbogast gebeten worden war, eine Exegese zu einigen Bibelstellen anzufertigen. Aus diesem Grund beginnt der Brief, der als Freundschaftsbrief gestaltet ist, mit einer captatio benevolentiae, in der Arbogast für seine sprachlichen Fähigkeiten und literarischen Bemühungen gelobt wird (Paragraphen 1 f.). In der narratio wird die Bitte von Arbogast wiederholt und auf für dieses Anliegen besser geeignete Bischöfe in seiner Nähe, z. B. Lupus in Troyes oder Auspicius in Toul, verwiesen. In der conclusio, die im selben Paragraphen (3) enthalten

322 Auspic. ad Arbog. 41; zu Arbogast siehe: PLRE II, 128  f. unter Arbogastes; vgl. Heinzelmann 1983, 558 unter Arbogastes 2; siehe weiterhin: Kaufmann 1995, 281 f. Da das Schreiben des Auspicius deutliche Parallelen zur Epistel des Sidonius aufweist, wird angenommen, dass Auspicius sich auf den Sidoniusbrief berufen habe. Siehe hierzu: Anton 1985, 29–31. 323 Zur Abstammung siehe: Everschor 2007, 210; Amherdt 2001, 377; Kaufmann 1995, 160; Zöllner 1970, 32 f.; zur Bezeichnung von Arbogast als ,Franke‘ siehe: Müller 2018, 93; Everschor 2007, 210. 324 Everschor 2007, 210, 213; Kaufmann 1995, 160. An dieser Stelle kann nicht auf das Konzept der Romanisierung eingegangen werden. Einen Überblick zur älteren Forschungsgeschichte (bis in die 1980er Jahre) um die Person Arbogast und seine mögliche Herrschaft findet sich zusammengefasst bei Anton 1985, 23–27. 325 Amherdt 2001, 377. Unklar bleibt, welche Befugnisse mit dem Amt des comes einhergingen. 326 Anton 1985, 32, 34; Zöllner 1970, 33. 327 Arbogast war vermutlich späterer Bischof von Chartres oder Strasbourg. Siehe hierzu: Amherdt 2001, 377; Demougeot 1979, 678; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 253.

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ist, bittet Sidonius um Verständnis und Nachsicht für die Ablehnung der Bitte. 328 Im Folgenden soll die captatio benevolentiae des Briefes schrittweise analysiert werden: 329 Eminentius amicus tuus, domine maior, obtulit mihi quas ipse dictasti litteras litteratas et gratiae trifariam renidentis cultu refertas. quarum utique virtutum caritas prima est, quae te coegit in nobis vel peregrinis vel iam latere cupientibus humilia dignari; tum verecundia, cuius instinctu dum immerito trepidas, merito praedicaris; tertia urbanitas, qua te ineptire facetissime allegas et Quirinalis impletus fonte facundiae potor Mosellae Tiberim ructas, sic barbarorum familiaris, quod tamen nescius barbarismorum, par ducibus antiquis lingua manuque, sed quorum dextera solebat non stilum minus tractare quam gladium. 330 Ehrwürdiger Herr, dein Freund Eminentius hat mir einen Brief überbracht, der von dir selbst verfasst worden ist, der literarisch ist und der, indem er dein Ansehen auf dreierlei Art erstrahlt, durch deine Kultur angefüllt ist. Von denen ist zuerst die Tugend der Nächstenliebe zu nennen, die dich gezwungen hat, meine demütige Person, jemand der teils ein Fremder ist, teils jemand der wünscht, verborgen zu leben, zu würdigen; dann deine Sittsamkeit, aufgrund derer du, während du dich aus unverdientem Anlass ängstigst, verdienterweise gerühmt werden solltest. Drittens, deine gute Umgangsform, die du beim albernen Schwatzen witzig vorbringst. Mit römischer Beredsamkeit von der Quelle gestillt, speist du, obwohl du von der Mosel getrunken hast, doch den Tiber aus; in der Art wie du mit Barbaren vertraut bist, sind dir dennoch Barbarismen unvertraut, und in Redefertigkeit und Tapferkeit bist du den alten Anführern gleichgestellt, aber nur denen, deren rechte Hand nicht weniger gebraucht wurde, um die Feder zu beherrschen, als das Schwert zu meistern. Arbogast wird von Sidonius als ehrwürdiger Herr angesprochen, eine Ansprache, die er regelmäßig gegenüber wichtigen Persönlichkeiten verwendet. 331 In der captatio benevolentiae schmeichelt Sidonius dem Adressaten, der in dreierlei Hinsicht kultiviert sei und dies in seinem Schreiben zeige. Dabei spielt Sidonius selbst mit der Sprache, wie beispielsweise die figura etymologica litteras litteratas belegt. Die Schmeicheleien interpretiert David 328 Für den Aufbau des Briefes vgl. Amherdt 2001, 380; für Lupus siehe: Heinzelmann 1983, 641 unter Lupus  1; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 246. Lupus ist Adressat von Sidon. epist. 6,1, in dem erwähnt wird, dass er bereits seit 45 Jahren Bischof von Troyes sei. Für Auspicius siehe: Heinzelmann 1983, 566 unter Auspicius 2; Mathisen 1982, 367 f.; Adressat von Sidon. epist. 7,11. 329 Dabei berufe ich mich vorwiegend auf den Kommentar von Amherdt 2001, 377–395 sowie auf die Analyse des Schreibens bei Everschor 2007, 212–215, die den Kommentar von David Amherdt nicht in ihre Analyse einbezogen hat, wodurch für die vorliegende Arbeit zwei voneinander unabhängig Meinungen vorliegen. 330 Sidon. epist. 4,17,1. 331 Amherdt 2001, 383. Beispiele sind in Sidon. epist. 1,1,1 an Constantius, Sidon. epist. 2,3,1 an Felix oder Sidon. epist. 4,3,1 an Claudianus zu finden.

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Arbogast (epist. 4,17)

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Amherdt als Spiegelbild von Sidonius’ Verständnis der Briefkunst und den von ihm befolgten Höflichkeitsregeln. Die erste Regel, die caritas, sei das Loben der literarischen Fähigkeiten der Briefe von (bescheidenen) Freunden, das dabei in Übertreibungen enden könne. Als Beispiel ist der Beginn dieses Briefes zu nennen: Sidonius lobt Arbogast für das persönliche Abfassen eines Schreibens nach allen literarischen Künsten. Die zweite Regel, die verecundia, ermutige Menschen, ein solches Lob abzulehnen und es auf das reine Wohlwollen des Freundes zurückzuführen. Während die dritte Regel, die urbanitas, der systematischen Verunglimpfung der eigenen Werke diene. 332 Es werden zwei Interpretationsmöglichkeiten für diese „pädagogische Unterweisung“ gesehen: 333 Erstens, dass Sidonius sein Lob durchaus ernst meint und den literarischen Stil des Arbogast als Vorwand nimmt, um seinen eigenen Stil als Vorbild für die Nachwelt zu überliefern. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass Sidonius auf ironische Art seinem Gegenüber eine ,Nachhilfestunde‘ in Brieftheorie bietet, da er nicht nur betont, dass dieser den Brief selbst verfasst habe, sondern aufzählt, was eine briefliche Unterredung ausmache. Durch das überschwängliche Lob des Adressaten, das 2/3 des Briefes einnimmt, bietet Sidonius dafür ein Beispiel. Bevor ich mich für eine der beiden Interpretationen entscheide, muss jedoch mit der Analyse des Schreibens fortgefahren werden. Interessant ist, dass sich Sidonius selbst als Fremden bezeichnet, der im Verborgenen leben möchte. In der Forschung wird die Vermutung geäußert, dass dies ein Hinweis auf das Exil des Sidonius sei. 334 Allerdings kann peregrinus unterschiedlich aufgefasst werden. Freilich erscheint es nicht aus der Luft gegriffen, dass Sidonius damit auf sein Exil verweist, wie er es in Epistel  7,16 tut. 335 Zudem könnte er, sollte der Brief auf Ereignisse nach dem Vertrag von 475 n. Chr. hinweisen, auf regionale Unterschiede und v.  a.  die Zugehörigkeiten zu verschiedenen Zuständigkeitsbereichen (Auvergne mit den Visigoten, Trier mit den Franken) anspielen. Gemäß André Loyen kann peregrinus auch als Hinweis auf die weltliche Fremdheit des Sidonius verstanden werden. 336 Dies bedeutet, dass Sidonius für den weltlichen comes Teil einer anderen ‚Lebenswelt‘ und daher ein peregrinus ist. In jedem Fall verweist Sidonius auf den Unterschied zwischen sich selbst und dem Adressaten. Er bemerkt süffisant, nachdem er den dritten Punkt, die urbanitas, abgehandelt hat, dass Arbogast, obwohl er aus der Mosel getrunken habe, den Tiber ausspeie. Er schafft es für diese Aussage, drei Metaphern zu einer Allegorie zu verbinden: 1. Quirinalis impletus fonte facundiae, 2. potor Mosellae, 3. Tiberim ructas. 337 Arbogast ist nicht nur mit Rede332 Amherdt 2001, 382. David Amherdt weist darauf hin, dass diese Regeln ferner bei Symmachus, Ausonius und Ruricius nachzuweisen seien. 333 Vgl. Amherdt 2001, 382: „Ce sont trois règles de politesse que Sidoine prend soin de développer dans un but, pour ainsi dire, pédagogique.“ 334 Everschor 2007, 212; Anton 1985, 52; dagegen: Loyen 1960/1970, Bd. 2, 253. Unentschlossen bleiben Amherdt 2001, 380 und Kaufmann 1995, 160. Ein Datierungskonsens besteht insofern, dass alle Forschenden annehmen, dass der Brief nach 470 n. Chr. entstanden sein muss. Die Erzählzeit kann nicht näher eingeschränkt werden, da Sidonius keine Angaben diesbezüglich macht. 335 Siehe hierzu: Everschor 2007, 212. 336 Loyen 1960/1970, Bd. 2, 253: „étranger au monde“. 337 Zur sprachlichen Gestaltung dieser Metaphern siehe: Amherdt 2001, 384–386.

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kunst erfüllt, sondern hat sie wie ein Grundnahrungsmittel förmlich aufgesogen, bis er damit komplett angefüllt war. In diesem Zusammenhang ist das vulgäre ructare (rülpsen, ausspeisen) zu deuten. Denn in der zweiten Metapher wird deutlich, wo Arbogast sein Wissen erworben hat: an der Mosel. Sidonius berichtet dem Leser also indirekt, wo der Adressat seine Jugend und Ausbildung verbracht hat. Dabei wird die Mosel nicht mehr als idyllische Landschaft und Repräsentantin von romanitas erachtet, wie in Ausonius’ Mosella, sondern ist als Antithese zum Tiber zu begreifen. Überraschend kommt für den Leser die Wendung, dass Arbogast, obwohl er an der Mosel aufgewachsen ist, doch so literarisch gebildet sei, dass er sogar selbst einen Brief verfassen könne. David Amherdt unterstreicht, dass Sidonius ructare im metaphorischen Sinn für „fließend sprechen/ beherrschen“ verwende. 338 Wenngleich als Lob verpackt, ist ob des vulgären Ausdrucks ructare eine Ironie seitens des Sidonius nicht negierbar. In den Briefen findet sich das Verb ructare im Zusammenhang mit der Beschreibung des Seronatus (epist. 2,1) und des Gantho (epist.  3,13), um den schlechten Charakter und das unangebrachte Verhalten der Akteure hervorzuheben. In Epistel  4,25 verwendet Sidonius ructare, um einen Bewerber bei einer Bischofswahl zu schildern. 339 In den Gedichten findet sich ructare bei der Beschreibung der Burgunder, die so sehr nach Zwiebeln riechen, dass einem gleich zehn  Mahlzeiten auf einmal hochkommen wollen. 340 Jedoch ist in den Gedichten die poetische Verwendung des Terms nicht zu verleugnen, weshalb die Interpretation der Nutzung im Zusammenhang mit Arbogast nicht einfach erscheint. 341 Lobt Sidonius diesen, wie es unter aristokratischen Freunden üblich ist, oder steckt hinter dem Lob ein ironischer Hintergedanke, der lediglich durch die Wortwahl erkennbar ist? Denn obwohl Arbogast mit Barbaren vertraut ist, sei er nicht in der Lage, Barbarismen zu produzieren. Dies bedeutet, dass Arbogast in der Lage war, ein reines, pures Latein zu sprechen, durch das sich Sidonius, wie in Kapitel 5.1.1 gezeigt, von ,Anderen‘ unterscheidet. Der Hinweis, dass Arbogast von Barbaren umgeben sei, ist eindeutig auf die fränkische Expansion im Moselgebiet zurückzuführen und er ist als Kämpfer für den Erhalt von Latein und römischen Sitten zu sehen. Dies wird im letzten Teil des ersten Paragraphen deutlich. Sidonius vergleicht Arbogast mit römischen Feldherren, die mit dem Stift ebenso wie mit einem Schwert talentiert waren. Demnach sieht Sidonius Arbogast, trotz dessen familiärem nicht-römischem Hintergrund, als römischen Aristokraten und nicht als einen ungebildeten Barbaren an. In einer Gegend, die sich unter barbarischer Oberhoheit befindet, hält er der römischen ‚Lebensweise‘ die Treue, was durch seine aktive Korrespondenz bewiesen wird. Um dies weiter zu untermauern, wird nun der zweite Teil der captatio benevolentiae untersucht: quocirca sermonis pompa Romani, si qua adhuc uspiam est, Belgicis olim sive Rhenanis abolita terris in te resedit, quo vel incolumi vel perorante, etsi apud limitem ipsum 338 339 340 341

Amherdt 2001, 384 f. Sidon. epist. 2,1; 3,13; 4,25. Sidon. carm. 12,15 f. Zum Beispiel Sidon. carm. 2,337; 5,197.

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Arbogast (epist. 4,17)

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Latina iura ceciderunt, verba non titubant. quapropter alternum salve rependens granditer laetor saltim in inlustri pectore tuo vanescentium litterarum remansisse vestigia, quae si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines, tanto anteferri rusticis institutos. 342 Deshalb hat der Glanz der römischen Sprache, so er noch irgendwo existiert, da er schon lange vom belgischen und rheinischen Land verschwunden ist, in dir überlebt, und solange du wohlauf bist und Reden hältst, wenngleich an unserer Grenze das Recht Latiums schon gefallen ist, wird die lateinische Sprache nicht wanken. Daher erwidere ich den gegenseitigen Gruß und freue ich mich sehr, dass wenigstens in deinem glanzvollen Herzen noch Überreste der verschwindenden Bildung verblieben sind und wenn du sie mit regelmäßiger Lektüre erweiterst, wirst du Tag für Tag erfahren, dass so wie Menschen die Tiere übertreffen, die Gebildeten vorzüglicher sind als die Ungebildeten. Arbogast ist in Sidonius’ Augen eine der letzten Personen, in denen die Reinheit, der Glanz der lateinischen Sprache überlebt hat 343. Dies erinnert an Epistel 2,10,1 an Hesperius, in der Sidonius ebenfalls den Sprachverfall thematisiert und vom verschwindenden Glanz der lateinischen Sprache aufgrund der vielen Barbarismen berichtet. 344 Während Arbogast, von Barbaren umgeben, die römische Kultur aufrecht erhält, kämpft Hesperius gegen die Verunglimpfung der Sprache und damit gegen die breite Masse der Bevölkerung an. Beide sind in ihren Bemühungen auf sich allein gestellt, beide werden mit antiken Vorbildern verglichen und beide werden von Sidonius durch eine Sentenz ermutigt, in ihrem Eifer nicht nachzulassen 345 (Tab. 8). Dieser Vergleich demonstriert, dass Sidonius Arbogast auf Augenhöhe begegnet und ihn nicht als einen ,Anderen‘ wahrnimmt. Die ,Anderen‘ sind die ihn umgebenden Barbaren und die Personen in seinem Umfeld, die Barbarismen produzieren und aus diesem Grund über den Verstand eines Tieres verfügen. 346 Wie Hesperius wird Arbogast von Sidonius als kämpfender Held dargestellt, dessen Schwert die Feder ist. Die Vermutung, dass Arbogast später Bischof von Chartres geworden ist, kann als weitere Parallele in den beiden Viten und somit als Überschneidung gemeinsamer ‚Lebenswelten‘ gesehen werden. 347

342 Sidon. epist. 4,17,2. 343 Vgl. die Interpretation von Michael  G. Müller, der den Brief als gelungene Integration eines ,Barbaren‘ deutet (Müller 2018, 94–96). 344 Sidon. epist. 2,10,1, vgl. Kapitel 5.1.1. Amherdt 2001, 388, verweist auf weitere Parallelen dieser Thematik in Sidon. epist. 3,14,2; 4,3,1; 5,10,4. 345 Zur sprachlichen Ausgestaltung mit rhythmischer Klausel der Sentenz in Sidon. epist. 4,17,2 siehe: Amherdt 2001, 398. 346 Vgl. Prud. c. Symm. 2,816 f. 347 Dies ist allerdings nicht zu beweisen. Siehe Anton 1985, 31.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Es wird festgehalten, dass Arbogast von Sidonius über sein Verhalten und seine Bildung definiert wird. 348 Arbogast setzt sich für den Erhalt von romanitas ein und wird von Sidonius daher als Teil seiner eigenen ‚Lebenswelten‘ wahrgenommen und geschildert. In der Forschung sollte daher aufgehört werden, vom ,Franken Arbogast‘ zu sprechen oder diesen als ,Barbaren‘ zu bezeichnen. 349 Stattdessen wird vorgeschlagen, ohne ethnische Zu- oder Einordnung auf den comes Arbogast zu referieren. Tab. 8: Gemeinsamkeiten der Briefe 4,17 und 2,10 Arbogast

Hesperius

Gemeinsamkeiten der Briefe

… dictasti litteras litteratas et gratiae trifariam renidentis cultu refertas. (4,17,1)

Amo in te quod litteras amas … Beginn mit Verweis auf litera(2,10,1) rische Bildung

quod tamen nescius barbarismorum (4,17,1)

linguae Latiaris proprietatem de trivialium barbarismorum robigine vindicaveritis … (2,10,1)

Beide beherrschen die Sprache in ihrer Reinheit.

sermonis pompa Romani (4,17,2)

nobilium sermonum purpurae (2,101,1)

Beide erhalten den Glanz der lateinischen Sprache.

quae si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines, tanto anteferri rusticis institutos. (4,17,2)

quia natura comparatum est, ut in omnibus artibus hoc sit scientiae pretiosior pompa, quo rarior. (2,10,6)

Sentenz: Aufforderung mit der Lektüre, der literarischen Beschäftigung weiterzumachen

6.6 Syagrius Während Sidonius Arbogast für den Erhalt der römischen Sprache lobt, ermahnt er einen gallo-römischen Aristokraten, diese nicht zu vernachlässigen. Die Rede ist von Syagrius, an den Sidonius zwei appellierende Briefe verfasst, um ihn an seine Zugehörigkeit zu den ‚Lebenswelten‘ der gallo-römischen Aristokratie zu erinnern. Bei Syagrius handelte es sich um einen Nachfahren von Flavius Afranius Syagrius aus Lyon, einem Konsul des 4. Jahrhunderts. 350 Syagrius verfügte somit über gute Grundbedingungen, um eine 348 Vgl. Everschor 2007, 213. 349 Beispielsweise Everschor 2007, 214: „Vor allem Arbogasts Interesse an der klassischen lateinischen Bildung und Kultur hat den römischen Aristokraten Sidonius Apollinaris  […] dazu bewogen, einen so ausführlichen Brief an einen Franken zu richten.“ 350 Giulietti 2014, 82; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 234; Anderson 1936/1965, Bd. 2, 180. Im 4. Jahrhundert existieren zwei Konsuln, die beide Flavius Afranius Syagrius hießen und beide aus Gallien stammten. Siehe hierzu: Demandt 1971. Zum Vorfahren des Adressaten siehe: Heinzelmann 1983, 699 unter Flavius Afranius Syagrius 1; zu seinem Nachkommen und Empfänger von Epistel 5,5

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Syagrius

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Karriere im Staatsdienst anzustreben. Allerdings setzte er, Sidonius zufolge, andere Prioritäten, weshalb sich unser Autor in der Pflicht sieht, mahnend auf ihn einzuwirken und ihn an seine familiären Verpflichtungen zu erinnern. Syagrius erscheint wie ein Wanderer zwischen zwei verschiedenen Welten, den Sidonius versucht, von der Rückkehr in die heimatlichen Lebenswelten zu überzeugen. 6.6.1 Epistel 5,5 In diesem Schreiben bittet Sidonius den Empfänger, die Lektüre literarischer Werke nicht zu vernachlässigen. Hierfür konstruiert Sidonius einen argumentativen Brief, der am Ende der narratio seinen Höhepunkt findet, in dem die Überlegenheit des Adressaten gegenüber Burgundern hervorgehoben wird. Doch zuvor schildert die captatio Syagrius’ familiäre Hintergründe (Paragraph 1) sowie dessen Erziehung und Ausbildung während seiner Kindheit (Paragraph  2). Mit der Frage, wie Syagrius die burgundische Sprache erlernt hat, leitet Sidonius in die erwähnte narratio (Paragraph 3) über, in der er die sprachlichen Fähigkeiten des Adressaten hervorhebt. Der Brief schließt mit der petitio, Syagrius solle nicht vergessen, die eigene Sprache zu kultivieren. 351 Zu Beginn verweist Sidonius auf die aristokratische Abstammung des Syagrius. Sein Vorfahre, der oben genannte Flavius Afranius Syagrius, sei nicht nur ein mit Statuen geehrter Dichter, sondern auch ein erfolgreicher Politiker gewesen. Folglich werden einerseits die lebensweltlichen Umstände des Syagrius, die denen des Sidonius nicht unähnlich sind, definiert und andererseits damit eine Erwartungshaltung dem Adressaten gegenüber ausgedrückt. Denn der aristokratischen „mentalité“ entsprechend müsse sich dieser bemühen, durch öffentliche Würden das Ansehen seiner Vorfahren nicht nur zu erhalten, sondern durch seine eigenen Leistungen zu mehren. Das literarische Talent hierfür bringe Syagrius mit: […] a quo studia posterorum ne parum quidem, quippe in hac parte, degeneraverunt, immane narratu est, quantum stupeam sermonis te Germanici notitiam tanta facilitate rapuisse. 352 […] bei seinen Nachkommen sind diese Studien, besonders in diesem Aspekt [Anm.: gemeint sind literarische Fähigkeiten] nicht sonderlich aus der Bahn geraten, weshalb ich sprachlos darüber bin, dass du mit so großer Leichtigkeit die Kenntnis der germanischen Sprache erlangt hast. und 8,8 siehe: Heinzelmann 1983, 699 unter Syagrius 3; vgl. PLRE I, 862 unter Flavius Afranius Syagrius 2 und zum Nachfahre Syagrius PLRE II, 1042 unter Syagrivs 3; zur Familie der Syagrii im Rhônetal siehe: Geary 1985, 103. 351 Der Brief wurde von Giulietti 2014, 82–105 kommentiert; eine Interpretation des Schreibens findet sich ferner bei Dodd 2007, 45–49. 352 Sidon. epist. 5,5,1.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Nachdem Sidonius auf Syagrius’ edle Vorfahren verwiesen hat, zeigt er sich sprachlos, so überrascht sei er über die Leichtigkeit gewesen, mit der Syagrius die „germanische Sprache” erlernt habe, was er durch das metaphorisch gebrauchte Verb rapere ausdrückt. Syagrius hat folglich nicht einfach die Sprache erlernt, sondern sie regelrecht geraubt, d. h. rasch an sich genommen. Überrascht war Sidonius v. a. deshalb, weil er sich nicht erklären konnte, wie jemand, der in den artes liberales unterrichtet worden war, die Neigung entwickeln konnte, plötzlich und rasch ,die germanische Sprache‘ zu erlernen. atqui pueritiam tuam competenter scholis liberalibus memini imbutam et saepenumero acriter eloquenterque declamasse coram oratore satis habeo compertum. atque haec cum ita sint, velim dicas, unde subito hauserunt pectora tua euphoniam gentis alienae, ut modo mihi post ferulas lectionis Maronianae postque desudatam varicosi Arpinatis opulentiam loquacitatemque quasi de harilao vetere novus falco prorumpas? 353 Aber ich erinnere mich auch, dass du im Knabenalter standesgemäß in den freien Künsten unterwiesen worden bist und ich habe in Erfahrung gebracht, dass du oft eifrig und redegewandt vor dem Rhetoriklehrer gesprochen hast. Und weil dieses wirklich so ist, möchte ich, dass du mir erklärst, woher dein Innerstes plötzlich die schöne Aussprache einer fremden gens eingesogen hat, sodass du, nachdem du soeben erst die Ruten der Vergil-Lektionen gespürt hast und nachdem du schwitzend die opulente Redseligkeit des Arpinaten voller Krampfadern ertragen hast, du vor meinen Augen wie ein junger Falke aus einem alten Nest sprengst. Weil Sidonius für dieses seiner Ansicht nach ,abnormale Verhalten‘ einer Person, die der aristokratischen ‚Lebenswelt‘ angehört, keine Erklärung hat, fordert er direkt vom Empfänger selbst eine solche ein. Die Art und Weise, wie er diese Forderung stellt, zeigt, wie ihn die Tatsache beunruhigt, dass jemand mit einer klassischen Ausbildung plötzlich, schnell und freiwillig die Sprache fremder Menschen lernt. Nach Ilenia Guilietti wird das Talent des Syagrius durch die Adverbien competenter, acriter und eloquenter von Sidonius präsentiert. 354 Der erneute Verweis auf die Rutenschläge, die während der Ausbildung zu erdulden sind, zeigt, dass die Ausbildung des aristokratischen Nachwuchses eine ernst zu nehmende Angelegenheit war und nicht der Freude diente. 355 Gleichzeitig wird ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt, da in Sidonius’ Darstellung jeder Aristokrat in seinem Leben unter Ruten, Vergil und den langen Reden Ciceros gelitten habe. Die Ausbildung des Adressaten liegt nicht lange zurück, worauf das Adverb modo hinweist, was es für 353 Sidon. epist. 5,5,1. Vgl. Loyen 1970, Anm. 2 der auf die Leseart arilao verweist. 354 In Giulietti 2014, 88, 89–93 findet sich eine Ausführung zur Ausbildung des Syagrius. Der Verweis auf den Arpinaten und die Krampfadern dient in erster Linie als Hinweis auf Cicero und die Tatsache, wie ermüdend dessen Lektüre sein kann (91). Vgl. Köhler 2014, 151, der mit der Erwähnung der Krampfadern einen Hinweis auf das lange Stehen bei Reden sieht. 355 Vgl. Sidon. epist. 2,10,1. Dodd 2007, 46 verweist auf die Parallele zur Satire Juvenals: Iuv. 1,15. Den Inhalt des Rutenverweises bringt Leslie Dodd auf den Punkt: „[…] it is the badge of romanitas and must be purchased with pain and sweat.“ (Dodd 2007, 46).

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Syagrius

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Sidonius noch unerklärlicher macht, wann und wo Syagrius die Gelegenheit gehabt hatte, den Wohlklang (εύφωνία/euphonia) einer fremden Gemeinschaft zu lernen. 356 Die Verwendung des griechischen Begriffes weist auf zweierlei hin: 1. Es unterstreicht die Bildung, über die die Burgunder nicht verfügen. 2. Es ist als Ironie des Sidonius zu verstehen, der barbarische Laute nicht als wohlklingend empfand, wie er selbst festhielt. 357 Seine ganze Beunruhigung findet den Höhepunkt am Ende der captatio in dem Vergleich des Syagrius mit einem jungen Falken, der sein Nest verlässt. 358 Sidonius wählt einen metaphorischen Vergleich, um seine Angst auszudrücken, Syagrius könne seine vertraute Gemeinschaft hinter sich lassen und nicht umkehren, was durch die chiastische Position von harilao veter novus falco unterstrichen wird, die die antithetische Stellung der Adjektive vetus und novus hervorhebt. Es erscheint, als ob Syagrius am Scheideweg zweier ‚Lebenswelten‘ stehe. In der nachfolgenden narratio beschreibt Sidonius voll Ironie die burgundische ‚Lebenswelt‘ mit Syagrius als Teil von ihr: aestimari minime potest, quanto mihi ceterisque sit risui, quotiens audio, quod te praesente formidet linguae suae facere barbarus barbarismum. 359 Es ist nicht im Geringsten vorstellbar, wie groß mein Gelächter und das der anderen ist, sooft ich höre, dass in deiner Anwesenheit sich der Barbar fürchtet, einen Barbarismus in seiner eigenen Sprache zu verüben. Nach Sidonius’ Schilderung beherrschte Syagrius die barbarische Sprache so gut, dass sogar Barbaren sich fürchteten, in seiner Gegenwart einen Fehler in ihrer eigenen Sprache zu machen. Die Verwendung der figura etymologica, die gleichzeitig die BarbarLaute imitiert, unterstreicht die Ironie, mit der Sidonius diesen Brief schreibt. 360 Die im zweiten Paragraphen beschriebene Euphonie der burgundischen Sprache wird dadurch in Sarkasmus aufgelöst und die Burgunder werden bezüglich ihrer Bildung auf die unterste Stufe gestellt, da ein ,Anderer‘ ihre Sprache besser beherrscht als sie selbst. Gleichzeitig deutet Sidonius mit dem Verweis auf die ceteri an, dass er als Stellvertreter der gesamten Aristokratie spreche, womit der Brief einer gesellschaftlichen ,Intervention‘ gleichkommt. Mit Ironie berichtet Sidonius, wie Syagrius für die Burgunder Briefe übersetzt, Gesetze verfasst und als Vermittler agiert – kurzum, wie er als Jurist im burgundischen Milieu tätig ist. 361 Dabei bezeichnet er den Adressaten als Solon und als Amphion der Burgunder. Durch den Verweis auf Solon und seine Reformen inszeniert Sidonius Syagrius als Reformator der Burgunder. Weiterhin stimme Syagrius als Amphion, der für seine Künste auf der 356 357 358 359 360

Siehe Giulietti 2014, 88 f; Dodd 2007, 46. Vgl. Sidon. epist. 8,3,2. Zur Lesart von harilao siehe: Anderson 1936/1965, Bd. 2, 182; vgl. Giulietti 2014, 93 f. Sidon. epist. 5,5,3. Mascoli 2021, 18. Dem entgegen Heather 2006, 420, der in dem Brief ein Lobschreiben auf Syagrius erkennt. 361 Sidon. epist. 5,5,3; Liebs 1998, 23.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Lyra bekannt war, deren dreisaitige Zithern. Helga Köhler sieht hinter der Anspielung auf Amphion einen Bezug auf die kirchliche Gesetzgebung, da Augustinus die Zehn Gebote als zehnsaitige Cithara bezeichnet habe und die ersten drei (trichordis) von der Einheit von Vater und Sohn handeln. Daher äußert sie die Vermutung, dass der Vergleich ein „Wink an Syagrius“ sei, die Burgunder auf den richtigen Weg des Glaubens zu führen. 362 Matthias Gerth vermutet aufgrund des gemeinsamen Verweises auf Solon und Amphion, dass es sich bei Syagrius um den ersten Gesetzgeber und Musiker bei den Burgundern gehandelt habe, da Solon und Amphion nicht nur „bedeutende Vertreter ihrer Disziplinen“, sondern an deren Urheberschaft beteiligt gewesen seien. 363 Leslie Dodd und Ilenia Giulietti stimmen darin überein, dass besonders der Hinweis auf das dreisaitige Instrument, dem Syagrius der traditionellen Lyra den Vorrang gebe, als weitere Kritik und Ironie des Sidonius interpretiert werden müsse. 364 Nach Sidonius’ Sicht könne Syagrius seine Fähigkeiten im burgundischen Dienst nicht ausschöpfen. Syagrius versuche, die Burgunder, die in Körper und Geist gleicherweise unbeweglich und starr seien, nicht nur ihre eigene Muttersprache zu lehren, sondern ihnen eine römische Mentalität (cor Latinum) nahezubringen. Dieser Absatz erscheint mir als Antagonismus. Einerseits bekräftigt Sidonius das Klischee, dass Barbaren ungebildet seien und behauptet sogar, dass sie überhaupt nicht erzogen werden könnten (rigidi sint indolatilesque), andererseits offenbart er, dass Syagrius ihnen einen lateinischen Geist beibringe, ihnen ein römisches Herz gebe und somit zur Erhaltung von romanitas, allerdings bei Barbaren, beitrage. Giulietti interpretiert dies als Hoffnungsschimmer des Autors, dass am Ende durch Syagrius’ Bemühungen etwas Gutes entstehen könne, da die Burgunder trotz ihrer barbarischen Natur gezwungen seien, die römische Kultur zu absorbieren. 365 Für mich bleibt die Intention dieser Aussage, ob Hoffnung oder Sarkasmus, obskur. Allerdings verdeutlicht dieser Absatz die Bedeutung und die Macht von Sprache in literarischen Diskursen um Identität und Fremdwahrnehmung. 366 Sidonius zufolge hat Syagrius die Grenzen der eigenen ‚Lebenswelten‘ mit dem Erlernen einer fremden Sprache überschritten. Dies ist als Beweis für einen interkulturellen Austausch sowie die Formierung einer neuen Bevölkerung zu sehen, was sich auch durch die Vermischung unterschiedlicher Sprachen zeigt. 367 Am Ende des Briefes kommt Sidonius’ kritische Haltung Syagrius gegenüber zum Ausdruck. Das Schreiben endet mit einer Ermahnung, dass er, wann immer er Zeit habe, seine Lektüre fortsetzen und ein Gleichgewicht in den Sprachen bewahren solle:

362 363 364 365 366 367

Köhler 2014, 152. Gerth 2013, 216. Giulietti 2014, 100; Dodd 2007, 47 f. Giulietti 2014, 101, 103. Vgl. Haubrichs 2011, 27, der Sprache als „Identitätsanker“ bezeichnet. Vgl. Haubrichs 2011, 27, der von „komplexen multilingualen Gesellschaften“ spricht.

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Syagrius

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restat hoc unum, vir facetissime, ut nihilo segnius, vel cum vacabit, aliquid lectioni operae impendas custodiasque hoc, prout es elegantissimus, temperamentum, ut ista tibi lingua teneatur, ne ridearis, illa exerceatur, ut rideas. 368 Nur eine Sache am Ende, du überaus talentierter Mann; sodass du nichtsdestoweniger, besonders wenn du Zeit hast, dich immer wieder der Mühe der Lektüre hingibst und du in dem Maße, wie du äußerst feinsinnig bist, das richtige Verhältnis zu deiner Sprache bewahrst, damit du nicht ausgelacht wirst, sondern damit du selbst lachen kannst, weil du dich in jener übst. Die Superlative facetissimus und elegantissimus sind ironisch zu verstehen. Das Erlernen des Germanischen ist Sidonius zu Folge unter zwei Umständen annehmbar: 1.  wenn Latein nicht vernachlässigt wird, 2. wenn es gemacht wird, um den Burgundern überlegen zu sein. Sidonius bittet Syagrius, nicht aufzuhören, mit diesen zu kommunizieren oder aufzuhören, ihre Sprache zu üben, sondern er erinnert meines Erachtens Syagrius daran, wohin sein Herz gehören solle: in die römischen ‚Lebenswelten‘. Ilenia Giulietti folgert, dass dieses Schreiben von einer antibarbarischen Haltung des Sidonius durchzogen sei, während Leslie Dood es als Argumentationsbrief interpretiert, mit dem Sidonius Syagrius zur Umkehr bewegen wollte. 369 Beiden Aussagen kann zugestimmt werden. Zum einen, weil Sidonius in diesem Schreiben die burgundische ‚Lebenswelt‘ als barbarisch beschreibt, diese stereotypisiert und somit im klassischen Alteritätskonzept als unterlegene ‚Anderswelt‘ zu seinen eigenen ‚Lebenswelten‘ präsentiert. Zum anderen instrumentalisiert Sidonius diese Art der Darstellung von den ,burgundischen Anderen‘, die absolut anonym bleiben und als geschlossene Gemeinschaft in Erscheinung treten, um dadurch dem Leser zu verdeutlichen, dass Syagrius nicht in diese Gemeinschaft, nicht in diese ‚Lebenswelt‘ gehöre. Dieser scheint sich mehr und mehr von den Traditionen seiner Vorfahren zu entfernen, wie ein vergleichender Blick in das zweite Schreiben, das Sidonius an Syagrius geschickt hat, zeigt. 6.6.2 Epistel 8,8 In Epistel 8,8 fordert Sidonius Syagrius auf, endlich ein öffentliches Amt zu bekleiden, wie es sich für einen Mann seines Standes und seiner Herkunft gehöre. Sidonius reiht im ersten Teil des Briefes eine rhetorische Frage an die andere, um Syagrius in der narratio aufzufordern, ins öffentliche Leben zurückzukehren, was er in der conclusio mit einer Rat gebenden Sentenz schließt. 370

368 Sidon. epist. 5,5,4. 369 Giulietti 2014, 104. 370 Sidon. epist. 8,8,3.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

Sidonius spricht Syagrius ironisch als Zier der gallischen Jugend an und zählt das fehlgeleitete Verhalten des Empfängers auf. 371 Dieser lebe zu sehr in ländlicher Zurückgezogenheit. Obwohl in Kapitel 5.2 gezeigt wurde, dass Landgüter einen wichtigen Aspekt in der aristokratischen Selbstwahrnehmung ausmachen, kommt eine dauerhafte Verlagerung des Lebensmittelpunktes auf ein Landgut einer Vernachlässigung der aristokratischen Pflichten gleich und wird von Sidonius verurteilt. 372 Er fordert daher auf, dieses Leben sofort zu beenden: parce tantum in nobilitatis invidiam rusticari. agrum si mediocriter colas, possides; si nimium, possideris. redde te patri, redde te patriae, redde te etiam fidelibus amicis, qui iure ponuntur inter affectus. 373 Hüte Dich davor, zum Unmut der Nobilitas, nur auf Deinem Landgut zu leben. Wenn Du Dich Deinen Ländereien maßvoll widmest, besitzt Du sie; wenn Du Dich ihnen aber allzu sehr hingibst, ergreifen sie von Dir Besitz. Kehre zu Deinem Vater zurück, kehre zu Deinem Vaterland zurück und kehre zu treuen Freunden zurück, für die Du zu Recht Zuneigung empfindest. 374 Sidonius verdeutlicht dem Leser die Ablehnung dieses Verhaltens durch die aristokratische Gemeinschaft, was mit der Antithese nobilitas und rusticari hervorgehoben wird. Durch seine Lebensart gehört Syagrius zu den rustici, die, wie das Schreiben an Arbogast gezeigt hat, auf einer Stufe mit wilden Tieren stehen, da sie nicht gebildet sind. Er führt dem Leser vor Augen, was geschehen wird, sollte Syagrius seinen Lebensstil nicht ändern: Er würde zu einem ,Anderen‘ werden. Daher formuliert der Autor eine dreigliedrige, parallel konstruierte Aufforderung zur Rückkehr. Im Zentrum dieser Liste steht die patria, nach der Syagrius zurückkehren soll. Das beinhaltet nicht nur die physische Rückkehr in die Stadt (vermutlich Lyon), sondern v. a. die geistige Rückkehr zur romanitas. Eingeschlossen wird diese Aufzählung von der Familie und den Freunden, auf die Syagrius verzichten muss, sollte er seinen Lebensstil nicht ändern. Wie in Epistel 5,5 erinnert Sidonius den Empfänger an die Wahrung von Tradition und Ausübung aristokratischer Pflichten. Syagrius befinde sich im Begriff, die aristokratische ‚Lebenswelt‘ des Sidonius zu verlassen. Obwohl inhaltlich miteinander verwoben, können die Briefe zeitlich nicht in einen Zusammenhang gebracht werden, da Sidonius keine Anhaltspunkte bietet. Es wird angenommen, dass das Schreiben 8,8 zeitlich vor Epistel  5,5 einzuordnen ist, wenn davon ausgegangen werden kann, dass Syagrius der Aufforderung des Sidonius nachgekommen ist und sich in Lyon in die Dienste des burgundischen Herrschers gestellt hat, wofür er erneut getadelt wird.

371 372 373 374

Sidon. epist. 8,8,1. Schwitter 2015, 194. Sidon. 8,8,2. Übersetzung Schwitter 2015, 195.

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Seronatus

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6.6.3 Fazit zu Syagrius Wie das Beispiel des Syagrius zeigt, führten die machtpolitischen Veränderungen in Gallien zu neuen Karrierewegen für die lokale Bevölkerung, die auf den ersten Blick nicht den römisch-aristokratischen Traditionen entsprachen und daher von Traditionalisten wie Sidonius abgelehnt und verurteilt wurden. Auf den zweiten Blick entsteht ein differenzierteres Bild, denn Syagrius verfügt nicht nur über Bildung, er bildete sich in seiner Freizeit weiter (das Erlernen einer fremden Sprache) und übte ein öffentliches Amt aus, wenngleich kein Amt im römischen Staatsdienst, sondern auf lokaler Ebene. Obgleich von Ironie, Sarkasmus und Ablehnung geprägt, offenbart Epistel 5,5, dass Syagrius keine unbedeutende Stellung am burgundischen Herrscherhaus innehatte, sondern durchaus im Sinne der aristokratischen „mentalité“ zu öffentlicher Wertschätzung und Anerkennung gekommen war. Aus dem literarischen Verhalten des Sidonius kann geschlossen werden, dass er sich als Wahrer von Tradition und Anstand berechtigt fühlt, im Namen einer gesamten gesellschaftlichen Klasse zu sprechen und darüber hinaus die Grenzen des Zumutbaren zu definieren. Dies kommt in beiden Briefen deutlich zum Ausdruck. In Sidonius’ Schreiben findet sich die Angst wieder, dass Aristokraten wie Syagrius zu ,Anderen‘ werden könnten, wenn sie die traditionellen Pfade der Aristokratie verlassen. 375 Für Sidonius scheint es keinen Mittelweg zu geben: Entweder ist die Person Teil der römischen ‚Lebenswelt‘ oder Teil der barbarischen. Die Vorstellung, dass jemand mehrere kollektive Zugehörigkeiten entwickeln könnte, stellt für ihn ein Problem dar, das er zu verhindern sucht. In seiner Wahrnehmung wird Syagrius als Person geschildert, die lebensweltliche Grenzen überschreitet und dadurch Traditionen und kollektive Identität zurücklässt. Unter Berufung auf Gemeinsamkeiten zwischen Syagrius, sich selbst und der gallo-römischen Aristokratie versucht Sidonius, ihn zur Rückkehr in das ,Nest‘ zu bewegen.

6.7 Seronatus Bei Seronatus handelte es sich um einen gallo-römischen Aristokraten, der mit dem visigotischen Anführer Eurich eng zusammengearbeitet hat und vermutlich vor 475 n. Chr. wegen Amtsmissbrauches hingerichtet worden war. 376 Courtenay E. Stevens datiert die Ereignisse um Seronatus sowie Sidonius’ Beschwerde über ihn um das Jahr 469 n. Chr., was eine zeitliche Nähe zum Arvandusfall, dessen Verurteilung 468  n.  Chr. vermutet wird, bedeutet. 377 Nicht nur eine zeitliche Parallele, sondern auch Parallelen in der Art, wie Sidonius über Arvandus und Seronatus berichtet, müssen bei der Untersuchung der Darstellung bedacht werden. Aufgrund des Hasses, den Sidonius dem vicarius der 375 Hierzu wurde bereits der Kirchendienst gerechnet. 376 Heinzelmann 1983, 692 unter Seronatus; PLRE II, 995 f. unter Seronatvs. 377 Stevens 1933, 224.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

gallischen Provinzen oder Präfekten der Aquitania Prima entgegenbringt, geht Frank Kaufmann von einer persönlichen Feindschaft zwischen den beiden Aristokraten aus. 378 Da vom Verrat des Seronatus lediglich Sidonius berichtet, bleibt dessen Intention im Dunkeln. Auffallend ist, dass der Autor der Person des Seronatus zwei Briefe in seiner Sammlung widmet, die nun unter der Fragestellung analysiert werden, inwiefern Seronatus in den Augen des Sidonius durch seine Kollaboration mit einer nicht-römischen gens zu einem ,Anderen‘ wurde. 6.7.1 Epistel 2,1 In Epistel 2,1 beschreibt Sidonius das Verhalten und den Charakter des Seronatus, den er zu Beginn als ein Übel vorstellt, das die Auvergne ertragen müsse. Das andere sei die Abwesenheit des Ecdicius, an den der Brief adressiert ist. 379 Dieser tritt in der Sammlung als Paradebeispiel für eine aristokratische „mentalité“ auf, als römischer Held, der gegen den Feind kämpft, und als Bewahrer von romanitas. 380 Mit seinem Schreiben möchte Sidonius seinen Schwager, der sich zum Erzählzeitpunkt des Schreibens in Rom aufhielt, zur Rückkehr in die Heimat bewegen. Der Fall des Seronatus dient dabei als Überzeugungsstrategie. Um das Thema und seinen Standpunkt gegenüber Seronatus zu verdeutlichen, bezeichnet Sidonius ihn in der captatio, die den ersten Paragraphen umfasst, als Catilina seiner Zeit, wofür er in der argumentatio (Paragraphen  2  f.) Beweise liefert, indem er dessen Verhalten und Charakter eindringlich beschreibt. Im abschließenden vierten Paragraphen fordert Sidonius in der petitio die Rückkehr des Ecdicius, dem die Arverner bedingungslos zu folgen bereit seien. Das Schreiben wird von der Forschung einheitlich gegen Ende 469 n. Chr./Beginn 470 n. Chr. datiert, was zumindest für den Erzählzeitraum anzunehmen ist. 381 Wann die Überarbeitung für die Publikation erfolgte, bleibt unbekannt. In der Einleitung legt Sidonius die Grundlage seiner Überzeugungsstrategie, indem er dem Empfänger ein schlechtes Gewissen bereitet. Seine Abwesenheit trage in gleicherweise zum Unheil bei wie die Persönlichkeit des Seronatus. Dessen Name, der „zu spät 378 Kaufmann 1995, 127; ebenso Teitler 1992, 309. Die Amtsfunktion des Seronatus ist nicht gesichert: Delaplace 2015, 248; Kaufmann 1995, 176 f. Auf die Parallelen der beiden Verratsfälle von Arvandus und Seronatus verweisen Teitler 1992, 310 und Courcelle 1964, 174 f. 379 Sidon. epist. 2,1,1: Duo nunc pariter mala sustinent Arverni tui. ‚quaenam?‘ inquis. praesentiam Seronati et absentiam tuam. „Deine Arverner müssen gerade gleichzeitig zwei Unglücke ertragen. ,Welche?‘, fragst du. Die Anwesenheit des Seronatus und deine Abwesenheit.“ Die Gleichzeitigkeit der beiden Unglücke wird durch den Parallelismus verstärkt, der zugleich den Gegensatz von praesentia und absentia hervorhebt. 380 Sidon. epist. 2,2,15; 3,3; 5,16,1. 381 Kaufmann 1995, 177; Teitler 1992, 315; Courcelle 1964, 175; Loyen 1960/1970, Bd. 2, 43; Stevens 1933, 224. Anders datieren Gillet 1999, 28 (472 n. Chr.) und Delaplace 2015, 248 Anm. 71, die den Brief in die ersten Jahre der Bedrohung Clermonts durch die Visigoten als Hilferuf an Ecdicius sehen.

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geboren“ bedeutet, wird von Sidonius als Wink des Schicksals gedeutet. Ebenso wie die Vorfahren Kriege als bella bezeichnet hätten, obwohl diese das Hässlichste seien, was es gebe, sei der Name Seronatus ein Spott Fortunas, die eine Vorahnung gehabt habe. 382 Seronatus ist ein Catilina in der ,falschen‘ Zeit: rediit iste Catilina saeculi nostri nuper Aturribus, ut sanguinem fortunasque miserorum, quas ibi ex parte propinaverat, hic ex asse misceret. 383 Denn dieser Catilina unserer Zeit ist kürzlich aus Aire zurückgekehrt, um das Blut und das Glück der Elenden, das er dort nur teilweise verkostet hatte, nun hier zu vermischen. 384 Da sowohl Cicero als auch Sallust, die beide von der Catilinarischen Verschwörung berichten, zum Kanon der spätantiken Schulbildung gehörten, konnte Sidonius sicher sein, dass jeder seiner Leser den Vergleich zwischen Catilina und Seronatus verstand. 385 Dabei diente die Figur des republikanischen Staatsfeindes und seiner Verschwörung als Paradebeispiel für Verräter in der Spätantike und es reichte, wie Ulrich Eigler betont, eine bloße Nennung der Namen, um indirekt auf die Sallust- und Cicerostellen zu verweisen. 386 Gleich zu Beginn des Schreibens lenkt Sidonius den Fokus des Lesers auf zwei Dinge: 1. Seronatus ist wie Catilina als Staatsfeind zu betrachten. 2. Ecdicius ist das absolute Gegenbild des Seronatus, wie gleich zu Beginn durch die Antithese der Anwesenheit (von Seronatus) – Abwesenheit (von Ecdicius) versinnbildlicht wird. In der narratio, die als Argumentationsteil im Rahmen der Überzeugungsstrategie des Sidonius gesehen wird, um Ecdicius zur Rückkehr zu bewegen, findet der Leser die Erklärung, warum Seronatus mit dem Bild des republikanischen Staatsfeindes verglichen wird: scitote in eo per dies spiritum diu dissimulati furoris aperiri: aperte invidet, abiecte fingit, serviliter superbit; indicit ut dominus, exigit ut tyrannus, addicit ut iudex, calumniatur ut barbarus; toto die a metu armatus, ab avaritia ieiunus, a cupiditate 382 Sidon. epist. 2,1,1: […] sic mihi videtur quasi praescia futurorum lusisse fortuna, sicuti ex adverso maiores nostri proelia, quibus nihil est foedius, bella dixerunt […] „So erscheint es mir, als ob Fortuna in Vorahnung der Zukunft diesen verspottet hat; sowie unsere Vorfahren die Kriege, die nichts Schönes an sich haben, nach dem Gegenteil bella genannt hatten […]“. Vgl. Köhler 2014, 40. 383 Sidon. epist. 2,1,1. 384 Übersetzung nach Köhler 2014, 40. 385 Zum spätantiken Bildungskanon mit Cicero und Sallust als wichtigen Bestandteil siehe: Eigler 2003, 18; Sehlmeyer 2009, 115–117. 386 Eigler 2003, 186. Gualandri 1979, 122 verweist auf Sall. Cat. 22,1. Giulietti 2014, 260 weist ebenso auf intertextuelle Bezüge zwischen Cicero und Sidonius hin, was die Darstellung von Seronatus als Catilina anbelangt. Mit der Parallele von Sallust und Cicero bei der Darstellung des Seronatus hat sich ferner Sara Fascione beschäftigt: Fascione 2016, 453–460. Ihre Erkenntnis, dass Sidonius bei diesem Vergleich in die Rolle Ciceros als pater patriae schlüpft, ist bereits bei Overwien 2009b, 106 f. zu finden.

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terribilis, a vanitate crudelis, non cessat simul furta vel punire vel facere; palam et ridentibus convocatis ructat inter cives pugnas, inter barbaros litteras; epistulas, ne primis quidem apicibus sufficienter initiatus, publice a iactantia dictat, ab impudentia emendat […]. 387 Du musst wissen, dass in diesem Tag für Tag der Geist einer lange versteckten Raserei offenbart wird: öffentlich ist er missgönnerisch, widerwärtig lügt er, wie ein Sklave rühmt er sich; er befiehlt wie ein Diktator; er fordert wie ein Tyrann, er verurteilt wie ein Richter, er diffamiert wie ein Barbar; den ganzen Tag ist er aus Furcht bewaffnet, aus Geiz hungrig, aus Verlangen schrecklich, aus Wahnsinn grausam, er hört nicht auf, gleichzeitig Diebstähle zu bestrafen und zu begehen; in der Öffentlichkeit unter dem Gelächter einer Versammlung spricht er unter Bürgern von Kämpfen und von Literatur, wenn er unter Barbaren weilt; seine Briefe diktiert er, der freilich nicht einmal grundlegend in die Buchstaben eingeweiht worden ist, aus Prahlerei öffentlich und korrigiert sie aus Schamlosigkeit […]. Ähnlich wie das Leben in Ravenna gleicht Seronatus’ Verhalten einer verkehrten Welt, was durch die Aneinanderreihung von parallel konstruierten Antithesen deutlich wird. 388 Dabei verwendet er nicht nur Vokabular, das im traditionellen Barbarendiskurs verankert ist ( furor, invidia, superbia, cupiditas, avaritia, iactantia, impudentia, armatus, terriblis, crudelis), sondern bezeichnet ihn selbst als barbarus. 389 Die Benennung des Seronatus als solchen bildet die Klimax eines Asyndetons, die das Verhalten des Seronatus auf den Punkt bringt: Er verhält sich wie ein Diktator, Tyrann, ungerechter Richter und Barbar. Seronatus wird als solcher deklariert, wie wir im weiteren Briefverlauf erfahren, weil er mit zivilisierten Menschen über Kriege diskutiert (gemeint sind hier Gallo-Römer) und weil er versucht, unter Barbaren literarisch aktiv zu sein, was, wie Sidonius während seiner Exilzeit in Livia am eigenen Leib erfahren musste, nicht möglich ist. 390 Sidonius spielt hier mit dem traditionellen Vorurteil der ungebildeten Barbaren. Da barbarus in Kontrast zu Bildung genutzt wird, kann Seronatus nicht gebildet sein, wenn er versucht, sich mit Barbaren über Bildung auszutauschen. Durch die Darstellung des Seronatus als ungebildet wird folglich das ‚barbarische Klischee‘ auf einen römischen Bürger übertragen. 391 Seronatus wird in den Augen des Sidonius zu einem ,Anderen‘ – zu einem Barbaren. Auffallend ist die Verwendung von ructare, das im Schreiben an Arbogast dessen Beredsamkeit ausdrückt. Während Arbogast inmitten von Barbaren in der Lage ist, seine Bildung zu erhalten und für das Diktieren eines Briefes von Sidonius gelobt wird, werden 387 Sidon. epist. 2,1,2. 388 Siehe Gerth 2013, 212; zu Ravenna als verkehrte Welt siehe: Sidon. epist. 1,8,2; Kapitel 5.1.1. 389 Fascione 2016, 454. Es wird Sara Fascione in der Annahme zugestimmt, dass es sich dabei um eine Verknüpfung barbarischer Charakterisierung und catilinarischer Rhetorik handle. 390 Vgl. Sidon. epist. 9,3,3. 391 Sogar die Grundkenntnisse einer literarischen Bildung spricht Sidonius dem gallo-römischen Aristokraten ab. Siehe Sidon. epist. 2,1,2: […] ne primis quidem apicibus sufficienter initiatus […]. „[…] obwohl er nicht einmal in die Anfangsgründe des Schreibens hinreichend eingeweiht ist […].“

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bei Seronatus die gleichen Punkte als Beleidigung angesprochen. Im Falle des Seronatus ist ructare in seiner vulgären Bedeutung zu verstehen: Er gibt ,alles[,] was raus kommt‘, unkontrolliert von sich. Er denkt nicht nach. Sein falsches Verhalten lässt vermuten, dass Seronatus, ähnlich wie ein Tier und eben wie ein ungebildeter Mensch, richtig und falsch nicht unterscheiden kann und daher in die Kategorie eines Barbaren einzuordnen ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ein römischer Bürger mit einem Barbaren verglichen wird. So hat Cicero nicht nur Catilina zum Staatsfeind erklärt, sondern in seinen Reden auch erfolgreich gegen Marcus Antonius und Verres gewettert, die beide von ihm auf die Stufe eines Barbaren gestellt wurden. Marcus Antonius sei so verleumderisch und grob, ja sogar dumm wie ein Barbar gewesen, womit Cicero zwei barbarische Stereotypen auf diesen überträgt: sein Verhalten und seine Bildung. 392 Ebenso bezeichnet Cicero Verres in seinem gierigen Verhalten, in Zusammenhang mit seinem Betragen auf Sizilien in der Stadt Henna, schlechter als Sklaven, impulsiver als Flüchtlinge, frevlerischer als Barbaren und grausamer als Feinde. 393 Die Parallele zu Seronatus ist offensichtlich, dessen falsches Verhalten im dritten Paragraphen fortgeführt wird: totum quod concupiscit quasi comparat nec dat pretia contemnens nec accipit instrumenta desperans; in concilio iubet in consilio tacet, in ecclesia iocatur in convivio praedicat, in cubiculo damnat in quaestione dormitat; implet cotidie silvas fugientibus villas hostibus, altaria reis carceres clericis; exultans Gothis insultansque Romanis, inludens praefectis conludensque numerariis, leges Theodosianas calcans Theodoricianasque proponens veteres culpas, nova tributa perquirit. 394 In der Versammlung erteilt er Befehle, im Rat schweigt er, in der Kirche erzählt er Witze, beim Essen predigt er, im Schlafzimmer fällt er Urteile, in der Gerichtsverhandlung schläft er; täglich füllt er die Wälder mit Flüchtlingen, die Landgüter mit Feinden, die Altäre mit Gaunern und die Gefängnisse mit Geistlichen; bejubelt die Goten und beschimpft die Römer; hintergeht die Präfekten und macht mit ihren Rechnungsführern gemeinsame Sache; die Gesetze des Theodosius tritt er mit Füßen, die des Theoderich hält er in Ehren, ständig holt er alte Beschuldigungen ans Licht und sucht nach neuen Möglichkeiten, Steuern zu erheben. 395 Sidonius fährt mit der verkehrten Welt des Seronatus fort, der sich – in ähnlicher Weise wie die in Epistel 5,7 an Thaumastus beschriebenen Denunzianten – immer gegenteilig zu 392 Cic. Phil. 3,15: At quam contumeliosus in edictis, quam barbarus, quam rudis! „Und wie beleidigend ist er in seinen Bekanntmachungen, wie barbarisch, wie dumm!“ 393 Cic. Verr. 2,4,112: Quae deprecatio est igitur ei reliqua qui indignitate servos, temeritate fugitivos, scelere barbaros, crudelitate hostes vicerit? „Welche Entschuldigung bleibt ihm noch übrig, den, an Unwürdigkeit die Sklaven, an Impulsivität die Entlaufenen, an Bosheit die Barbaren und an Grausamkeit die Feinde übertroffen haben?“ 394 Sidon. epist. 2,1,3. 395 Köhler 2014, 41.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

dem verhält, was traditionell von einem Aristokraten erwartet wird. 396 Wie in Epistel 5,7 deckt Sidonius sämtliche zivile Lebensbereiche, an denen ein gallo-römischer Aristokrat beteiligt ist, ab. In beiden Fällen scheint es die Gier zu sein, die die schlechte Person zu einem Verhalten jenseits der Norm antreibt (Tab. 9). Im Vergleich zu Seronatus jedoch werden die Denunzianten, obwohl Sidonius ihr Verhalten als calumnia bezeichnet, nicht als Staatsfeinde präsentiert. 397 Seronatus verleumdet zwar ebenfalls wie ein Barbar, geht aber in seinem Verrat gegenüber der gallo-römischen Aristokratie einen Schritt weiter. Er geht aktiv gegen die lokale Bevölkerung vor und gewährt Feinden, Barbaren, Zutritt zu den Landgütern der Aristokratie, die, wie Kapitel 5.2.2 gezeigt hat, ein Herzstück ihrer Identität, ein Herzstück ihrer romanitas ausmachen. Tab. 9: Vergleich des Verhaltens von Seronatus mit den Denunzianten in Sidon. epist. 5,7 Seronatus (epist. 2,1,3)

Denunzianten (epist. 5,7,4)

in concilio iubet in consilio tacet in conlocutionibus statuae

Vergleichspunkt Verhalten im Gespräch

in ecclesia iocatur

pelliti ad ecclesias

Verhalten in der Kirche

in convivio praedicat

armati ad epulas und in convivio scurrae

Verhalten beim Essen

in cubiculo damnat

in cubiculo viperae

Verhalten im Schlafzimmer

in quaestione dormitat

in quaestionibus bestiae

Verhalten bei Verhandlungen

nova tributa perquirit

in exactionibus Harpyiae

Verhalten beim Geldeintreiben

Sogar den Arianismus unterstützt Seronatus, indem er Schuldige Altardienst verrichten und Anhänger des nizänischen Bekenntnisses einkerkern lässt. Offensichtlich ist mit der Phrase altaria reis zweierlei gemeint: 1. die Plünderungen von Kirchen, da Seronatus in Sidonius’ Schilderung gierig wie Verres ist, der selbst vor dem Ceres-Heiligtum in Henna keinen Respekt zeigte; 2. seine Erlaubnis, dass arianische Priester die katholischen Gotteshäuser für ihre Zeremonien nutzen. Die Grenze, die Seronatus von einem schlechten Menschen und einem Staatsverräter unterscheidet, war somit überschritten. Obwohl im zweiten Paragraphen nicht nur eine Annäherung an Barbaren erfolgt, sondern Seronatus von Sidonius barbarisiert wird, findet sich im dritten Paragraphen der Grund, warum er als Catilina bezeichnet wird: exultans Gothis insultansque Romanis. Sidonius klagt Seronatus offen an, mit den Goten zusammenzuarbeiten und dabei sogar seine eigene Gemeinschaft zu verleugnen und zu beschimpfen. Selbst vor den römischen Gesetzen

396 Vgl. Sidon. epist. 5,7,4; siehe Kapitel 5.1.3. 397 Sidon. 5,6,1.

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Seronatus

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habe er keinen Respekt mehr und folge freiwillig den visigotischen Gesetzestexten. Er arbeite nicht nur mit den Goten zusammen, sondern er unterstütze die visigotische Herrschaft in einem Maß, das dem römischen Staat schade. Nach Sidonius hat er die römischen ‚Lebenswelten‘ verlassen und ist auf die Seite der ,Anderen‘ gewechselt. Sidonius verweist zum ersten Mal auf Seronatus’ Machtmissbrauch, der seine Stellung in den gallischen Provinzen dazu genutzt habe, sich selbst zu bereichern. 398 Die Aneinanderreihung von Antithesen ist in ihrer Funktion als Hinweis auf den Amtsmissbrauch von Seronatus und seine Kollaboration mit den visigotischen Machthabern zu verstehen. Frank Kaufmann nimmt an, dass die Handlungen des Seronatus mit Eurich abgestimmt waren, wofür er im dritten Paragraphen deutliche Hinweise sieht. 399 Insgesamt fokussiert dieser Brief durch den Vergleich mit Catilina in der captatio sowie indirekt durch die Parallelen mit Marcus Antonius und Verres auf das verräterische Verhalten des Seronatus. Dieses steht im Gegensatz zum Benehmen von Ecdicius, im Gegensatz zu Arbogast und schließlich im Gegensatz zu Sidonius selbst. Gleichzeitig sind Parallelen zu stereotypisierten Barbaren sowie zum schlechten Verhalten von gallorömischen Aristokraten wie Arvandus oder Gnatho erkennbar. Diese Beschreibung des Seronatus direkt zu Beginn des zweiten Buches ist kein Zufall. Durch Seronatus als Negativbeispiel wird deutlich, welches Verhalten Sidonius von einem gallo-römischen Aristokraten in den für ihn schwierigen Zeiten unter nicht-römischer Fremdherrschaft erwartet. Es ist als Aufruf zu werten, den eigenen Traditionen treu zu bleiben und sich nicht in die ‚Lebenswelten‘ der ,Anderen‘ locken zu lassen. In den Briefen des Sidonius finden sich Beispiele für Kollaborationen gallo-römischer Aristokraten mit den neuen Militäreliten der Burgunder, Goten oder Franken. 400 Worin liegt der Unterschied zwischen dem Verhalten von Leo oder Lampridius zu dem des Seronatus oder Arvandus, die beide als Verräter hingerichtet worden sind? Um dieser Frage näher zu kommen, muss der Arvandusfall vergleichend zurate gezogen werden. 401 Über die Verurteilung des Arvandus berichtet Sidonius in einem Brief an Vincentius, der dies verlangt habe. Es war demnach ein Auftragsschreiben, in dem sich Sidonius als treuer Freund inszeniert und jegliche Beteiligung an der Affäre abstreitet: praefecturam primam gubernavit cum magna popularitate consequentemque cum maxima populatione. pariter onere depressus aeris alieni metu creditorum successuros sibi optimates aemulabatur. […] pervenit Romam, ilico tumens, quod prospero cursu procellosum Tusciae litus enavigasset, tamquam sibi bene conscio ipsa quodammodo elementa famularentur. 402

398 399 400 401

Teitler 1992, 317. Kaufmann 1995, 178. Als Beispiel ist die Unterbringung von Feinden in Villen zu nennen. Hier sind bspw. Leo, Sidon. epist. 4,22, oder Lampridius, Sidon. epist. 8,9, aufzuführen. Zu Arvandus siehe Kapitel 3.1.3 sowie 5.1.3 dieser Arbeit. Einen ausführlichen Vergleich hat Teitler 1992, 310–315, passim vorgenommen. 402 Sidon. 1,7,3.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

In seiner ersten Präfektur wirkte er als großer Volksbeglücker, in der Folgenden als größter Volksbedrücker. Während dieser arbeitete er, von der Last seiner Schulden geplagt, aus Furcht vor seinen Gläubigern gegen diejenigen Vornehmen, die seine Nachfolger werden sollten. […]  er kam nach Rom, wo er gleich wieder damit prahlte, daß er bei günstiger Fahrt die stürmische Küste Etruriens umschifft habe, weil angeblich einem Menschen mit reinem Gewissen selbst ,die Elemente‘ auf irgendeine Weise ,dienstbar‘ seien. 403 Gemäß Sidonius waren Machtgier und Hochmut der Untergang des Arvandus. Denn während er in seiner ersten Amtsperiode von allen geliebt und geschätzt wurde, entpuppte er sich in der zweiten aufgrund von Geldproblemen als Unterdrücker. Selbst bei seiner Verhaftung sei er sich keiner Schuld bewusst gewesen. Dabei gebe es einen Brief gegen Arvandus, der dessen Schuld bezeugt habe. Dieses Schreiben hatte Arvandus an Eurich gerichtet und ihm den Rat erteilt, sich gegen Anthemius zu stellen, die Bretonen anzugreifen und die gallischen Provinzen mit den Burgundern zu teilen. Dieser Brief wurde als Hochverrat eingestuft. 404 Sidonius berichtet weiterhin, dass Arvandus nicht mehr zu helfen gewesen sei, da er, vom Wahnsinn befallen, sich wie ein hoffnungsloser Patient verhalten habe: discedimus tristes et non magis iniuria quam maerore confusi; quis enim medicorum iure moveatur, quotiens desperatum furor arripiat? 405 Wir gehen betrübt hinaus, nicht so sehr wegen der Kränkung als vor Traurigkeit bestürzt; denn welcher Arzt hätte das Recht, ungehalten zu sein, wenn einen hoffnungslosen Patienten der Wahnsinn befällt? 406 Sidonius stellt Arvandus als Opfer seiner selbst dar, als eine verrückte Person, die nicht weiß, wie ihr geschieht. 407 Selbst während des Prozesses sei dieser Wahnsinn zutage getreten, weshalb Sidonius beim Kaiser selbst die Bitte vorbrachte, das Leben seines 403 Übersetzung nach Köhler 2014, 20. 404 Sidon. epist. 1,7,5: haec ad regem Gothorum charta videbatur emitti, pacem cum Graeco imperatore dissuadens, Britannos super Ligerim sitos impugnari oportere demonstrans, cum Burgundionibus iure gentium Gallias dividi debere confirmans. […] hanc epistulam laesae maiestatis crimine ardere iurisconsulti interpretabantur. „Dieses Papier war, wie es schien, an den König der Goten gerichtet; es riet von einer friedlichen Verständigung mit dem griechischen Kaiser ab, legte dar, daß man die Bretonen, die jenseits der Loire wohnen, angreifen müsse und behauptete, daß man Gallien nach dem Völkerrecht mit den Burgundern teilen solle. […]  Dieses Schreiben glühe von verbrecherischem Hochverrat, so deuteten es die Rechtsgelehrten.“ (Übersetzung nach Köhler 2014, 21). 405 Sidon. epist. 1,7,7. 406 Übersetzung Köhler 2014, 22. 407 Diese Naivität des Arvandus erscheint wenig glaubhaft, wie Teitler 1992, 312 unter Berücksichtigung der Überlieferung Cassiodors und Paulus Diaconus’ zum Arvandusfall hervorhebt. Es sei realistisch anzunehmen, dass Arvandus, dem Beispiel Avitus’ folgend, selbst die Kaiserwürde anstrebte.

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Seronatus

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Freundes zu schonen. Es ist anzunehmen, dass Sidonius sich aus der ganzen Affäre herausgehalten hat, um sein eigenes Leben und Ansehen nicht zu gefährden, und sich nachträglich in diesem Schreiben als treuer Freund präsentiert. Eine Ähnlichkeit im Verrat von Arvandus und Seronatus ist nicht abzustreiten. Beide agierten im Interesse der Goten. Der Unterschied besteht darin, dass Seronatus öffentlich für die Sache der Goten eintritt, während der Verrat von Arvandus im Keim erstickt worden war. Dies sei die Ursache, warum Sidonius, von seinen persönlichen Gefühlen abgesehen, die beiden Fälle unterschiedlich beurteile. 408 Beide kehrten ihrer eigenen ‚Lebenswelt‘ den Rücken und sind daher für ihr Schicksal selbst verantwortlich. In Sidonius’ Schilderung ist Seronatus nicht das Opfer des Wahnsinns, wie es bei Arvandus der Fall ist. 409 Seronatus handelt in vollem Bewusstsein, weshalb Sidonius sich später in einem Schreiben an Bischof Graecus darüber entrüstet, dass die Vollstreckung des Urteils so lange gedauert habe. 410 Während der Autor sich für Arvandus einsetzt, das Urteil in Verbannung zu mildern, kann er die Hinrichtung von Seronatus kaum erwarten. Eine weitere Gemeinsamkeit von beiden Aristokraten ist ihr Amtsmissbrauch, da sie sich beide als römische Funktionäre für eine visigotische Herrschaft und mehr noch für sich selbst einsetzen. Darin liegt der Unterschied zu Leo oder Lampridius, die zwar am visigotischen Hof tätig waren, aber kein römisches Amt ausübten. 411 Weiterhin sind die zeitlichen Umstände zu bedenken. Während der Verrat des Arvandus aufgrund des Verweises auf Anthemius in die Jahre 468/469 n. Chr. datiert wird und der Verrat des Seronatus nicht später als 471/472 n. Chr. stattgefunden haben kann (Anthemius war noch immer Kaiser), berichtet Sidonius von den Aufgaben Leos und Lampridius’ erst nach dem Vertrag mit den Visigoten (475 n. Chr.), folglich nach dem Rückzug der römischen Administration aus Gallien. 412 Demnach war die Möglichkeit, wie Arvandus oder Seronatus einen Verrat zu begehen, nicht mehr gegeben. Der Brief endet, wie er begonnen hat: Mit einer Ansprache an Ecdicius, der mit großer Nachdringlichkeit aufgefordert wird, Rom den Rücken zu kehren und zurück in die Heimat zu kommen. Sidonius argumentiert, dass die arvernische Bevölkerung vom Staat keine Hilfe zu erwarten habe, die Macht des Kaisers Anthemius im Schwinden begriffen sei und daher die Arverner einen Anführer brauchten, dem sie folgen könnten. 413 408 409 410 411

Teitler 1992, 315. Sidon. epist. 2,1,2. Sidon. epist. 7,7,2. Siehe Nixon 1992, 73 f. zu Lampridius’ und Leos Funktion am gotischen Hof. Er unterstreicht, dass die Barriere zwischen Goten und Römern in Gallien eine politische und keine kulturelle gewesen sei. In kultureller Hinsicht habe Austausch und Integration stattgefunden. Weitere Beispiele der Zusammenarbeit zwischen gallo-römischen Aristokraten und Goten während der Auseinandersetzungen findet sich bei Harries 1992, 302 f. (z. B. Calminius [Adressat von Sidon. epist. 5,12]). Zur Zusammenarbeit von Gallo-Römern und nicht-römischen gentes vgl. Mathisen 1993, 70 f., 126–129. 412 Vgl. Overwien 2009a, 114. 413 Sidon. epist. 2,1,4: proinde moras tuas citus explica et quicquid illud est, quod te retentat, incide. te exspectat palpitantium civium extrema libertas. quicquid sperandum, quicquid desperandum est, fieri

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6.7.2 Epistel 5,13 Sidonius richtet Epistel 5,13 an Pannychius, einen vir illustris. 414 Frank Kaufmann nimmt an, dass dieser Brief zeitlich vor dem Schreiben an Ecdicius anzusetzen sei, da die Kollaboration mit den Visigoten nicht erwähnt werde. 415 Lediglich der Hinweis, dass Seronatus sich auf dem Rückweg von Toulouse befindet, könne als Anspielung auf dessen Kollaboration gedeutet werden. Ilenia Giulietti gibt in ihrer Beschreibung der Epistel an, dass Seronatus von Toulouse zurückgekommen sei, wo er mit Eurich dessen aggressives Expansionsprogramm besprochen habe. 416 Dies ist indes reine Spekulation. Es gibt nicht genügend Hinweise, um die Ereignisse, von denen die Epistel handelt, zeitlich vor oder nach der Epistel an Ecdicius einzuordnen. Es wird angenommen, dass der Verrat und das Verhalten des Seronatus eine Angelegenheit darstellten, die Sidonius tief bewegte, weshalb er ihm porträtartige, obgleich äußerst negative Briefe widmet. Der Aufbau und Inhalt von Epistel 5,13 sind denen von 2,1 nicht unähnlich. In der captatio warnt Sidonius den Empfänger vor der Ankunft des Seronatus und berichtet von ersten Maßnahmen, die in Anbetracht des Reiseweges desselben getroffen worden sind. In der narratio (Paragraph 2 f.) widmet sich Sidonius erneut dem Charakter und dem Verhalten des Seronatus, der mit verschiedenen wilden Tieren verglichen wird. In der conclusio (Paragraph 4) gibt Sidonius letzte Ratschläge und beendet den Brief mit einer Sentenz, die unmissverständlich klar macht, was Sidonius von Seronatus hält. Sidonius definiert in der captatio des Briefes Seronatus als Bestie (belua), womit die Grundlage für seine Darstellung geschaffen und der barbarische Charakter von Beginn an verdeutlicht wird. Das Wort belua bereitet den Leser auf den metaphorischen Vergleich zwischen Seronatus und einem massigen Walfisch vor. 417 Ilenia Giulietti zufolge ist der Wal als Vergleich bewusst gewählt worden, da dieser als Monster des Meeres bekannt

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te medio, te praesule placet. si nullae a republica vires, nulla praesidia, si nullae, quantum rumor est, Anthemii principis opes, statuit te auctore nobilitas seu patriam dimittere seu capillos. „Also führe deine Verzögerung schnell aus und was auch immer es ist, das dich zurückhält, verkürze es! Dich erwartet die letzte Freiheit von zuckenden Bürgern. Was auch immer gehofft werden kann, was auch immer verloren ist, wird mit dir in der Mitte bewirkt werden, wird mit dir als Anführer für gut befunden. Wenn keine Soldaten vom Staat geschickt werden, kein Schutz zu erwarten ist und wenn, wie es gemunkelt wird, die Macht des Kaiser Anthemius erloschen ist, dann haben die Aristokraten entschieden unter deiner Führung entweder ihr Vaterland oder ihr Haupthaar zu verlieren.“ Sidon. epist. 7,9,18. Zu Pannychius siehe: Heinzelmann 1983, 661 unter Pannychius; vgl. PLRE II, 829 unter Pannychius; Giulietti 2014, 255. Kaufmann 1995, 328 Nr. 75 vermutet, dass Pannychius ebenfalls ein römischer Amtsträger war und Mathisen 1982, 380 ist der Meinung, dass er als comes civitatis von Bourges fungierte. Kaufmann 1995, 177; ähnlich Fascione 2016, 455. Giulietti 2014, 255. Zur Interpretation von belua als Metapher für Seronatus siehe: Anderson 1936/1965, Bd. 2, 213. Sidon. epist. 5,13,1: […] utpote beluam suam de valle Tarnis ducaliter antecessurus, musculis similis inter saxosa vel brevia ballaenarum corpulentiam praegubernantibus. „[…] da er ja gedenkt, aus der Tarnschlucht heraus vor seinem geliebten Untier wie vor einem Feldherrn heranzuziehen, ähnlich

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gewesen sei und auf die Menschen in der Antike eine dunkle und gefährliche Ausstrahlung gehabt habe. Das Bild des Wals färbe im Text auf den Charakter des Seronatus ab, der dadurch ebenfalls dunkel und gefährlich erscheine. 418 Dem ist nichts hinzuzufügen: Seronatus wird als bestialisches Monster präsentiert, das gefürchtet werden muss und dem nicht zu trauen ist. Im Folgenden wird die narratio analysiert und mit der Darstellung in der EcdiciusEpistel verglichen: at ille sic ira celer, quod piger mole, seu draco e specu vix evolutus iam metu exanguibus Gabalitanis e proximo infertur; quos singulos sparsos inoppidatos nunc inauditis indictionum generibus exhaurit, nunc flexuosa calumniarum fraude circumretit, ne tum quidem domum laboriosos redire permittens, cum tributum annuum datavere. 419 Jener Mann aber ist so schnell in seiner Wut wie er träge ist durch seine Dimension; wie ein Ungetüm hat er sich mit Mühe aus seiner Höhle hervorgewälzt, und schon stürzt er sich aus nächster Nähe auf die schreckensbleichen Gabalitaner; vereinzelt, zerstreut, ohne gemeinsame Siedlung wie sie sind, saugt er sie bald mit unerhört neuen Arten von Abgaben aus, bald verstrickt er sie in Lug und Trug wegen seiner falschen Anschuldigungen, und er erlaubt den Leidgeplagten nicht einmal dann, nach Hause zurückzukehren, wenn sie ihre gesamte Jahressteuer schon bezahlt haben. 420 In der narratio wird der Vergleich mit wilden Bestien fortgesetzt, indem Seronatus als großes Ungetüm 421 dargestellt wird, das aus seiner Höhle gekrochen kommt. Dabei kann die Höhle als vorheriger Aufenthaltsort des Seronatus, Toulouse, interpretiert werden. Nach Gualandri imitiert Sidonius in diesem Absatz durch ausgewähltes Vokabular das

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den Lotsenfischen, die dem massigen Walfisch zwischen Klippen und Untiefen vorausschwimmen und ihn lenken.“ (Übersetzung Köhler 2014, 165). Zu belua siehe: Giulietti 2014, 260. Giulietti 2014, 262. Ilenia Giulietti verweist weiterhin auf die Funktion des Wales in der Heiligen Schrift. Dort stünde der Wal für den Tod, während Jona, der nach drei Tagen befreit wurde, die Auferstehung präsentiert. Vgl. Jon 2,1; Mt. 12,40. Sidon. epist. 5,13,2. Für die sprachliche Gestaltung dieses Paragraphen sei auf den Kommentar von Giulietti 2014, 263–268 verwiesen. Übersetzung nach Köhler 2014, 165. Ob Drache (Köhler 2014, 165) oder Schlange (Giulietti 2014, 264; Anderson 1936/1965, Bd. 2, 213) spielt meines Erachtens keine Rolle. Bedeutend ist, dass es sich um eine Bestie handelt, mit der Seronatus verglichen wird. Allerdings bringt Giulietti 2014, 265 durch einen biblischen Vergleich mit der Schlange als Verführung durch den Teufel sowie der von Sidonius verwendeten Lautmalerei mit s-Lauten gute Argumente hervor, warum Seronatus mit einer Schlange verglichen wird. Diesem Argument kann hinzugefügt werden, dass auch die falsche Art der Denunzianten in Epistel 5,7 mit der einer Schlange verglichen wird und somit von Sidonius eine Parallele zu kriecherischem und falschem Verhalten hergestellt wird.

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animalische Verhalten des Monsters: specus, evolvere, exhaurire und flexuosus. 422 Ferner verweist sie auf den zusammenhängenden Gebrauch von exhaurire und pecunia in der lateinischen Literatur, der die Gier des Seronatus deutlicher zum Vorschein bringe. 423 Sidonius lässt ihn durch seine Geldgier zu einem Monster werden. Dabei sind die Gabalitaner (heutiges Département Lozère), die ersten, die die Macht und Gier des Seronatus zu spüren bekommen. 424 Vor allem die Ausbeutung der hilflosen Bevölkerung wird thematisiert, wobei er das Ende der narratio von Epistel  2,1,3 aufgreift. Dort berichtet er, Seronatus lasse sich immer neue Möglichkeiten für die Tributzahlungen einfallen. 425 Mit der Schilderung des Seronatus, der wie ein wildes Tier über die Gabalitaner herfällt, bringt Sidonius den Beweis für seine Anklage. Im Verlauf der narratio führt der Autor weitere Beispiele für das bestialische Verhalten von Seronatus an: signum et hoc certum est imminentis adventus, quod catervatim, quo se cumque converterit, vincti trahuntur vincula trahentes; quorum dolore laetatur, pascitur fame, praecipue pulchrum arbitratus ante turpare quam punire damnandos; crinem viris nutrit, mulieribus incidit; e quibus tamen si rara quosdam venia respexerit, hos venalitas solvit, vanitas illos, nullos misericordia. sed explicandae bestiae tali nec oratorum princeps Marcus Arpinas nec poetarum Publius Mantuanus sufficere possunt. 426 Ein sicheres Zeichen für seine bevorstehende Ankunft ist auch, daß überall, wohin er seinen Weg lenkt, gefesselte Menschen verschleppt werden, die ihre Fesseln mit sich schleppen müssen; an ihrem Schmerz freut er sich und mästet sich an ihrem Hunger. Für besonders rühmlich hält er es, Menschen vor ihrer Bestrafung zu entehren; die Männer müssen sich die Haare waschen lassen, den Frauen läßt er sie abschneiden; und wenn er unter ihnen jemand – obgleich selten – begnadigt, dann befreit er einige aus Käuflichkeit, andere aus Eitelkeit; keinen aus Barmherzigkeit. Doch ist weder der Rednerfürst Marcus aus Arpinum noch der Dichterfürst Publius aus Mantua in der Lage, eine solche Bestie angemessen zu beschreiben. 427 Besonders die Grausamkeit des Seronatus kommt dabei zum Vorschein, der sich am Leid anderer erfreut. 428 Die caritas als aristokratische Eigenschaft scheint er nicht zu kennen. Er findet Gefallen daran, andere Menschen zu missbrauchen und zu entwürdigen. Dabei 422 Gualandri 1979, 122 f. Intertextuelle Bezüge in der Beschreibung eines draco wurden von Giulietti 2014, 264 f. erkannt, wie z. B. Macr. sat. 1,17,67; Plin. nat. 2,67. 423 Gualandri 1979, 123. Dieser Gebrauch ist bspw. in Sidon. epist. 7,12,3 sichtbar. 424 Giulietti 2014, 265 f.; Köhler 2014, 165. 425 Sidon. epist. 2,1,3: […] nova tributa perquirit. „[…] er macht ständig neue Tribute ausfindig.“ 426 Sidon. epist. 5,13,3. 427 Sidon. epist. 5,13,3. 428 Hierbei muss das doppelte Polyptoton vincti trahuntur vincula trahentes sowie die chiastischen Antithesen von dolore laetatur und pascitur fame beachtet werden. Giulietti 2014, 269 weist auf die Verkettung der Gefangenen hin, die Sidonius durch die intensive sprachliche Gestaltung dieser Aussage verbildlicht.

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bringt das Verb turpare die ganze Perversität des Seronatus zum Ausdruck. 429 Lediglich gegen Bezahlung kann er umgestimmt werden, womit Sidonius erneut die Geldgier in den Vordergrund stellt. 430 Zusammenfassend stellt er fest, dass nicht einmal Cicero oder Vergil Worte für ein solches bestialisches Verhalten hätten, wie es Seronatus an den Tag legt. Am Ende des Briefes kann Sidonius den Empfänger daher vor Seronatus, einem malus homo und latro, nur warnen. […] ne malus homo rebus bonorum vel quod noceat vel quod praestet inveniat. in summa, de Seronato vis accipere quid sentiam? ceteri affligi per suprascriptum damno verentur; mihi latronis et beneficia suspecta sunt. 431 […] damit dieser schlechte Mensch nichts findet, womit er dem Vermögen der Patrioten schädlich oder förderlich sein kann. Zusammengefasst, willst du hören, was ich über Seronatus denke? Andere befürchten, durch den oben genannten Schaden zu erleiden; mir sind sogar die Gefälligkeiten dieses Räubers verdächtig. 432 6.7.3 Fazit zu Seronatus Seronatus wird als Inbegriff eines fehlgeleiteten Aristokraten dargestellt, der aus Egoismus mit den visigotischen Verbänden zusammenarbeitet. Dabei macht er sich die wirre Situation in Gallien zu Nutze. Sidonius fokussiert bei seiner Darstellung vorwiegend auf das unangebrachte Verhalten des Seronatus, der mit traditionellen Vorurteilen gegenüber Barbaren belegt wird. So ist er nicht nur physisch hässlich wie die Kriege, sondern auch charakterlich ein schlechter Mensch. Er verhält sich wie ein Barbar, besonders was Verleumdungen angeht, und bringt wie eine wilde Bestie Angst sowie Schrecken über die Menschen. Seine Geldgier verleitet ihn ständig, neue Arten von Steuerzahlungen zu erfinden, die er dann, ohne Gnade zu zeigen, eintreibt. Allein diese Beschreibung macht Seronatus zu einem feindlichen ,Anderen‘, der die Traditionen seiner eigenen Vorfahren entehrt und gegen seine ursprüngliche Gemeinschaft, gegen seine ursprünglichen ‚Lebenswelten‘ vorgeht. In seiner unendlichen Gier nimmt Seronatus den Verrat an seinen eigenen Landsleuten in Kauf. 433 Die beiden Beschreibungen dieses „Erzverbrechers“, wie ihn Raphael Schwitter bezeichnet, bilden eine Einheit und müssen dementsprechend 429 Giulietti 2014, 270. 430 Sidonius unterstreicht die Käuflichkeit, Eitelkeit und Unbarmherzigkeit des Seronatus mit einer dreigliedrigen Aufzählung, die er mit einer Paronomasie gestaltet: hos venalitas solvit, vanitas illos, nullos misericordia. Weitere stilistische Betrachtungen zu diesem Asyndeton finden sich bei Giulietti 2014, 273. 431 Sidon. epist. 5,13,4. 432 Übersetzung nach Köhler 2014, 166. 433 Rouche 1979, 38 bezeichnet ihn als visigotischen Funktionär. Courcelle 1964, 175 beschreibt seinen Machtmissbrauch als Propaganda für Eurich. Kaufmann 1995, 177 glaubt, dass Seronatus auf Anweisung Eurichs handelte. Delaplace 2015, 248 sieht in ihm einen visigotischen Agenten.

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Wanderer zwischen den Welten: ‚römische Barbaren‘ und ,barbarische Römer‘

interpretiert werden. 434 Sie ergänzen sich perfekt und es ist zu vermuten, dass die beiden Briefe ursprünglich eine Einheit gebildet haben, die Sidonius für die Veröffentlichung aufgeteilt hat. Dadurch findet sich dieses absolute Gegenbild eines Aristokraten sowohl im ersten Drittel (Buch 2), im zweiten Drittel (Buch 5) sowie durch den Hinweis auf seine Verurteilung im letzten Drittel der Sammlung (Buch 7). Obwohl Sidonius Seronatus mit Catilina vergleicht und ihn somit als Staatsfeind deklariert, ist für ihn dessen schreckliches Verhalten, das in absolutem Gegensatz zu den aristokratischen ‚Lebenswelten‘ steht, wichtiger. 435 In diesem Zusammenhang ist die Platzierung der ersten Seronatusbeschreibung zu Beginn des zweiten Buches zu sehen, das sich vorwiegend der Selbstwahrnehmung der gallo-römischen Aristokratie und der Konstruktion von romanitas widmet. Dem steht Seronatus konträr gegenüber. Am Ende erfährt der Leser, dass ein solches Verhalten nicht ungesühnt geblieben ist und Seronatus seine gerechte Strafe erhalten hat.

Fascione 2016, 454 führt all dies zusammen, in dem sie feststellt, dass die Beschreibung von Seronatus den Visigoten angepasst worden sei. 434 Schwitter 2015, 260. 435 Dem widerspricht Fascione 2016, 253.

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7. Schlussbetrachtung Die Arbeit begann mit einem Zitat aus den Sidoniusbriefen, das in der Forschung als Beweis diente, um Sidonius als einen Barbarenhasser zu deklarieren. Dies wurde zum Anlass genommen, dessen Barbarenbild in seinen überlieferten Briefen zu untersuchen. Ich folgte der Hypothese, dass Barbaren in seinen Briefen instrumentalisiert wurden, um seine eigenen Zugehörigkeiten und seine eigenen Identitäten zu verhandeln. Aus diesem Grund standen die Fragen nach der Darstellung von Barbaren, der Intention hinter den Barbarenbeschreibungen sowie die möglichen Rückschlüsse auf Sidonius selbst im Vordergrund dieser Untersuchung. Das in der althistorischen Forschung etablierte Alteritätsmodell stellte für diese Fragen eine geeignete Ausgangsbasis dar. Eine Verbindung von phänomenologischen Sichtweisen mit Gedankengut postkolonialer Theorien führten zu folgenden Annahmen: 1. Das ‚Selbst‘ wird sich seiner selbst durch das ,Andere‘ bewusst. Identitäten und Selbstbilder werden demnach im Umgang mit ,Anderen‘ verhandelt. Homi  K. Bhabha folgend befindet sich sowohl das ,Selbst‘ als auch das ,Andere‘ in einem stetigen Wandlungsprozess und beide beeinflussen sich gegenseitig. Weder Identitäten noch Alteritäten sind demnach singulär oder statisch. In der Konsequenz bedeutet dies für die Antike, dass weder ‚die Römer‘ als statisches kulturelles Gebilde existierten noch ‚die Barbaren‘. 2. Wird dies mit Ethik von Emmanuel Levinas, dass das ,Selbst‘‘ mehrere Möglichkeiten hat, dem ,Anderen‘ zu begegnen (von Ablehnung bis Respekt 1, von Abgrenzung bis Aneignung 2), dann hat es zur Folge, dass wir in der literarisch-diskursiven Darstellung von ,Anderen‘ verschiedene und nuancierte Wahrnehmungen und Darstellungen antreffen, wie Erich  S.  Gruen festgestellt. Barbarenbilder unterscheiden sich in der antiken Literatur in Bezug auf ethnische/ethnographische Beschreibungen, kulturelle Verortungen sowie moralische Ansichten. 3. Alteritäten sind folglich das Ergebnis unterschiedlicher Abgrenzungsprozesse, die zur Formierung von ‚Lebenswelten‘ und ‚Anderswelten‘ beitragen, in denen Identitäten und Alteritäten verhandelt werden.

1 Hier muss an den Gegensatz von Barbaren als Feinde und der Bewunderung barbarischer virtus in der Kriegsführung oder der Anziehungskraft der ,edlen‘ Barbaren erinnert werden (siehe Kapitel 1.5). 2 Hier sind literarische und bildliche Alteritätsdiskurse sowie die unbewusste und bewusste Übernahme  von Elementen der ,Anderswelten‘, wie z.  B.  der Kleidung, gemeint. (siehe von Rummel 2007).

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Schlussbetrachtung

Das Konzept der ‚Lebenswelten‘ wurde in dieser Arbeit als Raum zur Formierung und Verhandlung von Gemeinschaften erachtet, durch das ein Mensch sein ‚Selbst‘ konstruiert und sich im sozialen Raum verortet. Das Unbekannte und Unvertraute stellen die Grenzen von ‚Lebenswelten‘ zu ,Anderswelten‘ dar. Da ein Individuum gleichzeitig und im Laufe seines Lebens Teil mehrerer Gemeinschaften sein kann und dabei die Grenzen zum Unvertrauten jederzeit überschritten und somit verlagert werden können, kann ein Individuum mehreren ‚Lebenswelten‘ zugehörig sein. Als Subjekt seiner ‚Lebenswelten‘ entscheidet das Individuum, wer als Teil seiner gemeinschaftlichen ‚Lebenswelten‘ eingeschlossen wird und wen er aufgrund fehlender gemeinschaftlicher Merkmale ausgrenzt. In diesem Band wurde Sidonius als ein solches ‚Selbst‘ interpretiert und auf seiner subjektiven Basis beruhend seine Aushandlungsprozesse von ‚In-Group‘ und ‚Out-Group‘ nachvollzogen (Kapitel 4–6). Das Konzept der ‚Lebenswelt‘ hat den Vorteil, dass keine nationalen oder ethnischen Marker notwendig sind, um die Formierung von Gemeinschaften zu erklären und zu deuten. Ferner ging ich der Annahme nach, dass die ‚Lebenswelten‘ eines Subjektes von Traditionen geprägt sind, die ich unter fünf Gesichtspunkten definiert habe: 1. als dynamisches Konzept und Kommunikationsprozess durch Zeit und Raum; 2. als Richtlinie für Handlungen und Verhalten einer lebensweltlichen Gemeinschaft  3.  als ein selektiver Prozess, der aus sich stetig wiederholenden Handlungen (bewusst und unbewusst) zu einer lebensweltlichen Wahrheit werden kann; 4. als Erfindungen von gemeinschaftlichen Handlungsprozessen; 5. als Stärkung des Zusammenhaltes einer Gemeinschaft. In allen Bereich haben Traditionen Anteil an der Konstruktion des ‚Selbst‘ sowie an der Konstruktion des ,Anderen‘. Die in der Antike und Spätantike existierenden Barbarendiskurse habe ich aus diesem Grund als literarische Traditionen erachtet, die Verhaltensmuster zur Bestimmung von boni und mali anbieten. Sidonius als Subjekt seiner ‚Lebenswelten‘ folgte bestimmten Traditionen, die er aktiv veränderte, weiterkommunizierte und mit deren Hilfe er sich bewusst von ,Anderen‘ und deren ‚Lebenswelten‘ abgrenzte. Traditionen sind ein bedeutender Faktor, den er als Überzeugungsstrategie in seinen Briefen einsetzt, um den Leser zu manipulieren, um ein Gemeinschaftsgefühl zu suggerieren und um Mitglieder der eigenen ‚Lebenswelten‘ durch Erinnerung an gemeinschaftliche Erlebnisse und Gemeinsamkeiten ,zur Besinnung‘ zu bringen. Über Traditionen zeigt Sidonius Handlungswege auf und grenzt sich durch sie von ,Anderen‘ ab. Um mali und boni, ,Selbst‘ und ,Andere‘, in den Sidoniusbriefen unterscheiden zu können, ging ich davon aus, dass seine Barbarenbilder als diskursive Darstellungen untersucht werden können, die auf den Traditionen der antiken Barbarendiskurse aufbauen (Kapitel  1.5). Aus diesem Grund war es zunächst notwendig, Sidonius und sein Werk in einen zeitlichen und räumlichen Kontext einzuordnen und seine lebensweltlichen Gemeinschaften, primär die der gallo-römischen Senatoren sowie gallo-römischen Bischöfe, zu definieren (Kapitel 2 f.). Das 5.  Jahrhundert, in dem der gallische Aristokrat und Bischof lebte, ist eine Zeit voller Veränderungen, die Auswirkungen auf seine ‚Lebenswelten‘ hatte. Diese Transformationen finden ihren Ursprung im kulturellen Kontakt diverser Gruppierungen, die in der Forschung als Ethnien verstanden werden. Ethnisch bedeutet keinesfalls eine

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Schlussbetrachtung

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gemeinschaftliche Abstammung aufgrund einer gleichen DNA oder anderer gebürtiger Herkunftsbedingungen, sondern wird im Sinne der Ethnogenese als Gemeinschaft verstanden, die sich über gemeinsame Faktoren als Kollektiv wahrnehmen und von ,Anderen‘ abgrenzen. 3 Das Ergebnis dieser dynamischen und performativen Prozesse war die Entstehung verschiedener ‚Lebenswelten‘, in deren Rahmen des Vertrauten und Unvertrauten unterschiedliche Identitäten und soziale Zugehörigkeiten verhandelt wurden. Das in dieser Arbeit entwickelte theoretische Konzept erlaubt eine neue Sichtweise auf die Konstruktion der Barbarendiskurse in den Sidoniusbriefen und somit seine Konzeption von Identitäten. Die Annahme, Barbar als Kategorie zu verstehen, die in den Briefen auf beliebige Menschen übertragen wird, bedeutet, dass diese wandel- und übertragbar ist. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass nicht-römische gentes in den spätantiken Quellen immer als Barbaren wahrgenommen wurden und als solche in Erscheinung treten. Der ,Andere‘ kann jederzeit Teil des ,Selbst‘ werden. Aus diesem Grund wird ein synonymer Gebrauch des Begriffes ‚Barbar‘ (und seiner Ableitung) mit ethnischen Nomenklaturen wie Burgundern, Goten oder Franken abgelehnt und eine Darstellung sowie Einordnung spezieller Ethnien vermieden. Die Barbarenbilder des Sidonius sind als konstruierte Diskurse zu verstehen, die dem Autor helfen, seine lebensweltlichen Situationen zu analysieren, zu begreifen und zu regulieren. Sie geben ihm das nötige Selbstbewusstsein, seine Ideale und Traditionen zu bewahren, während sich um ihn herum die Welt veränderte. Bei der Untersuchung der Wahrnehmung von ,Anderen‘ muss strikt unterschieden werden, ob ein Autor seine Perzeption einer Gruppe oder eines Individuums beschreibt. Daher wurde in dieser Arbeit nicht die Darstellung verschiedener gentes diskutiert, sondern zwischen Beschreibungen von Gruppen, die als ,anonymes‘ Kollektiv dargestellt und deren Mitglieder alle gleichermaßen stereotypisiert wurden, und der Beschreibung von Individuen differenziert. Da ich davon ausgehe, dass Traditionen in den Aushandlungsprozessen von Identitäten und Alteritäten sowohl im literarischen Diskurs als auch im erlernten Verhalten eine wichtige Rolle zukommt, war es zunächst notwendig, diese in der Literatur sichtbaren Traditionen aufzuzeigen. Bei der Betrachtung antiker Barbarendiskurse ist eine Symbiose zwischen literarischen Traditionen erkennbar, die bis auf Homer zurückreichen, die je nach politischen und sozialen Umständen neu geschaffen werden mussten. Zudem musste zunächst die Anwendung des Begriffes und die Entwicklung seiner Nutzung in der griechischen Welt untersucht werden und mehrere Diskurse konnten erarbeitet werden, die ich in Stereotypisierung von ,Barbaren‘, der geographisch-klimatisch und landschaftlichen Verortung von Barbaren sowie der Vorstellung von ,edlen Barbaren‘ unterteilt habe. An repräsentativen Beispielen wurde aufgezeigt, dass diese Diskurse bis in die Spätantike nachweisbar sind und auch in den Sidoniusbriefen – mit Ausnahme der ,edlen Barbaren‘ – nachvollzogen werden können. Als erfundene Traditionen im antiken Barbarendiskurs sind zum einen die synonyme Verwendung von barbarus – hostis sowie zum anderen spätantiken Gleichsetzungen von barbarus – miles und barbarus – paganus/ 3 Zur Entstehung, Entwicklung und Forschungskontroverse um Ethnogenese sei auf Gillet 2006, 241–260 verweisen.

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Schlussbetrachtung

haereticus zu erkennen. Sidonius hat diese Kategorien ebenfalls gebraucht, um ,Alteritäten‘ zu beschreiben und mit einem ,barbarischen‘ Verhalten in Zusammenhang zu bringen. Bereits die Analyse der antiken Barbarendiskurse von Homer bis Sidonius hat die Problematik aufgezeigt, wenn wir lediglich die Gleichungen ,Barbaren = Kelten oder Germanen‘ und ,Barbaren  = barbaricum‘ ziehen. Dadurch werden die vielschichtigen Ebenen der antiken Diskurse zu einem einzigen Befund zusammengefasst und verfälscht. Antike Autoren haben situativ und mit spezifischen Intentionen Bilder von ,Fremden‘ und ,Anderen‘ gezeichnet, die wir zunächst dekonstruieren müssen, um Aussagen über das jeweilige ,Selbst‘ und das jeweilige ,Andere‘ zu treffen. Von diesen Ergebnissen ausgehend, habe ich die verschiedenen Barbarenbilder in den Briefen des Sidonius Apollinaris untersucht. Diese können in ethnische, kulturelle und moralische Barbarendarstellungen unterteilt werden. Während die ethnographischen Beschreibungen sowie kulturelle Darstellungen in den Bereich der stereotypischen und landschaftlich-geographischen Diskurse einzuordnen sind, stehen bei den moralischen Diskursen Individuen im Vordergrund, um exempla für ein moralisch gutes Verhalten zu geben. Zunächst werde ich die Ergebnisse zu den stereotypischen Barbarenbilden des Sidonius, wie sie sich vorwiegend aus seiner Beschreibung von barbarischen Gruppen ableiten lassen, vorstellen. Sie erscheinen in den Briefen als Fremde, die von Sidonius mit Vorurteilen belegt und mit kollektiven Bezeichnungen wie Barbaren, Sachsen, Burgunder, Franken oder Goten angesprochen werden. Die einzelne Person spielt bei dieser Beschreibung keine Rolle, sondern bleibt anonymer Teil der Gruppe. Sidonius folgt bei der Beschreibung im Allgemeinen traditionellen Topoi, anhand derer er die Barbarendiskurse in seinem Werk konstruiert. Diese wurden zur Strukturierung der Arbeit in Kategorien eingeteilt, die im Exkurskapitel (Kapitel 1.5) vorgestellt und begründet wurden. Diese waren: a) Sprache und Bildung, b) Aussehen und Erscheinung, c) Verhalten und Charakterisierung, d) obskure Darstellung durch Allusionen und Landschaftsmetaphern, e) Religiosität (Arianismus). Sie sind als Repertoire zu verstehen, auf das spätantike Autoren bei der Erschaffung von Barbarenbildern zurückgreifen konnten. Da meines Erachtens das Bild des ,edlen‘ Barbaren in den Briefen nicht in Erscheinung tritt, wurde diese Kategorie aus Kapitel 1.5 nicht für die Analysen in den Kapiteln 5 und 6 übernommen. a) Sprache und Bildung Die scientia litterarum diente durch die gesamte Antike hindurch als Abgrenzungsmerkmal von ,Anderen‘. In den Briefen des Sidonius ist erkennbar, dass die Reinheit sowie Perfektion der Sprache im Vordergrund stand und die vor Barbarismen bewahrt werden sollte. In diesem Sinn ist jede Person als Barbar zu verstehen, die unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit dem hohen Bildungsideal des Autors nicht standhielt. Die sprachlichen Fertigkeiten und Bildung in den artes liberales erzeugten ein Überlegenheitsgefühl, durch das sich aristokratische Gemeinschaften, wie der literarische Kreis, dem Sidonius angehörte, als Elite verstanden und sich von ,Anderen‘, von weniger Gebildeten und dadurch von Barbaren abgrenzten.

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Schlussbetrachtung

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b) Aussehen und Erscheinung Die visuelle Erfahrung und der erste optische Eindruck von ,Anderen‘ bestimmen, ob eine Person/eine Gruppierung als anders wahrgenommen wird. In der antiken Literatur werden Barbaren von ,Römern‘ durch ihren speziellen habitus und Erscheinungsbild abgegrenzt. Das Tragen von Fellkleiden und Tierhäuten ist ein Topos, der die animalische und wilde Seite unterstreicht. Die Betrachtung des Aussehens von Barbaren hat gezeigt, dass diese häufig in einem militärischen Kontext zu verorten sind. Ohne weiteren Kontext ist es oftmals nicht möglich, zwischen militärischer und barbarischer Kleidung zu differenzieren. Aus diesem Grund scheint es angebrachter, sich mit der Funktion solcher Diskurse als mit deren Realitätsgehalt auseinanderzusetzen. In Bezug auf Aussehen, Kleidung und das generelle Erscheinungsbild wurde demonstriert, dass Sidonius auf literarische Vorbilder zurückgriff, was in der Simplicius-Stelle (Sidon. epist. 7,9,19) deutlich wird, in der pellitos als Antithese zu purpuratos verwendet wird. Ein anderes Beispiel ist die Beschreibung der Leibgarde Theoderichs II. in Epistel 1,2, in der sie mit Fellen bekleidet vor der Tür stehen müssen. c) Verhalten und Charakterisierung Eine Art von Vorurteilen findet sich im von Sidonius beschriebenen Verhalten von Barbaren, das erneut antike Topoi widerspiegelt. So beschreibt er Barbaren wie bei Livius, Tacitus oder Ammianus Marcellinus als wild, untreu, grausam und animalisch. Sogar ihr Verhalten wird direkt mit dem von wilden Tieren verglichen. In Erscheinung tritt die räuberische und habgierige Natur von Barbaren, die er auf nahezu alle nicht-römischen gentes, die er in seinen Briefen anspricht, überträgt. Bei den Visigoten wird dies besonders in den Auseinandersetzungen um Clermont deutlich, in deren Rahmen auch die invidia der Burgunder thematisiert wird. Die Sachsen werden als Piraten dargestellt und selbst die Bretonen treten durch räuberische Aktivitäten in Erscheinung, weshalb er sich an ihren Anführer Riothamus wendet. Aus diesem Grund kann auf Basis von Bildung, Aussehen oder Verhalten nicht zwischen einzelnen gentes unterschieden werden, da stereotypisierte Bilder einer Kategorie beliebig auf Menschen und Gemeinschaften übertragen werden, die nicht zwangsläufig mit der Realität in Einklang stehen müssen. Diese Art der Darstellung drückt aus, was den ,Anderen‘ anders macht, warum er nicht in die Wertvorstellung eines römischen Aristokraten wie Sidonius passt. Dies bedeutet, dass größtenteils keine Rückschlüsse auf ethnisches Aussehen oder Verhalten möglich sind. Er vermischt Dinge, die er gesehen, gehört und oder gelesen hat, im Sinne der Stereotypisierung für die Darstellung von unbestimmten ,Anderen‘, die ihm persönlich fremd sind. Dabei sind in seinem Werk keine Veränderungen dieser Darstellung feststellbar. So wendet er im Barbarenkatalog im Rahmen des Gedichtes für Eurich dieselben klischeehaften Darstellungsmuster (z. B. von Sachsen oder Burgundern) an, auf die er schon in vorausgegangenen Briefen zurückgegriffen hat. 4 Die Schilderung von barbarischem Verhalten dient in den Briefen dazu, den Mitgliedern seiner ‚Lebenswelten‘ die ‚Anderswelten‘ zu veranschaulichen. 4 Beispielsweise Sidon epist. 8,9,5 V 21–35.

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Schlussbetrachtung

Für die Stereotypisierung von Barbaren durch Sprache, Aussehen und Verhalten wird Folgendes konstatiert: Diese Kategorien sind nicht streng voneinander abgrenzbar, sondern gehen ineinander über und sind miteinander verflochten, da sie alle auf literarischen Vorbildern beruhen. Diese Vorbilder und antiken Topoi zu Barbaren ermöglichen eine Verortung von Gruppierungen und Personen, ohne dass dabei der Begriff des Barbaren gebraucht werden muss. Dabei war das Ziel der Stereotypisierung, der Alterität von Barbaren Ausdruck und v. a. Nachdruck zu verleihen – Nachdruck, dass das ,Selbst‘ dem ,Anderen‘ in jeglichen Bereichen überlegen sei. Sidonius nutzte diesen Diskurs, um so seine eigene romanitas zu erschaffen und zu belegen. Ein Ausblick auf Avitus zeigte, dass diese Stereotypisierung und der Rückgriff auf literarische Vorbilder im 6. Jahrhundert noch in Gebrauch war. d) Obscuritas Um obscuritas in Zusammenhang mit den Barbarendiskursen in Sidonius’ Briefen auf den Grund zu gehen, wurde auf die von Raphael Schwitter vorgelegte Studie in der spätantiken Briefliteratur zurückgegriffen. 5 Obscuritas ist als rhetorisches Mittel zu verstehen, das einen Text verdunkeln und dadurch den eigentlichen Inhalt verschleiern kann. Sidonius setzt sie daher ein, um einerseits Aussagen gezielt zu verbergen, andererseits, um durch Allusionen auf bestimme Ereignisse, Personen oder Hintergründe hinzuweisen. In dieser Arbeit wurden zwei Arten von Verdunkelungen separiert: politische Allusionen in Zusammenhang mit nicht-römischen gentes sowie Landschaftsmetaphern als Hinweis auf Barbaren. Das Verhalten von gentilen Verbänden und ihre Charakterisierung als barbarisch ist in Zusammenhang mit den Umständen der Zeit zu sehen. Dabei kommt den Landschaftsmetaphern im Werk des Sidonius eine wichtige Rolle zu. Sie werden als Instrument eingesetzt, um einerseits die eigene Identität zu veranschaulichen, andererseits die Identität der ,Anderen‘ zu konstruieren. Es wurde gezeigt, dass die Erwähnung von Landschaft, Naturphänomenen oder klimatischen Bedingungen als eine Anspielung auf eine barbarische Aktivität und die politische Situation in Gallien gesehen werden kann, ohne dabei zu vergessen, dass es sich um eine erlebte, erschlossene Realität des Sidonius handelte, deren narrativer Zweck hinterfragt werden muss. Es wird betont, dass nicht jede landschaftliche Erwähnung oder Beschreibung diesen Zweck erfüllt und kontextabhängig die Funktion von landschaftlichen Erwähnungen in der Erzählfunktion des jeweiligen Briefes berücksichtigt werden muss. Durch die versteckten Hinweise auf politische Ereignisse verschleierte Sidonius bestimmte Inhalte gegenüber ungewollten Mitlesern, die über eine geringere Bildung als Mitglieder seines eigenen literarischen Zirkels verfügten. Immer wieder thematisiert er die Schwierigkeiten des Reisens sowie die Erschwernis, Briefe zu versenden. Demnach stellt der Rückgriff auf eine kodifizierte Sprache eine logische Konsequenz dar, um unwillkommene Leser zu umgehen. Wie verdunkelt mancher Brief ist, verdeutlicht ein Schreiben von Ruricius, in welchem dieser zugibt, Verständnisschwierigkeiten beim 5 Schwitter 2015, 31.

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Schlussbetrachtung

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Lesen von Sidonius’ Briefen zu haben. 6 Die Verschleierungen der Briefautoren verfolgen mithin eine weitere Intention: Durch Allusionen und Metaphern konnten Briefautoren nicht nur ihre paideia beweisen, sondern diese auch einer breiten Leserschaft präsentieren. Die Verwendung von Landschaftsmetaphern als Anspielung auf Barbaren ist in einer ähnlichen Weise zu betrachten. Dabei diente der landschaftliche Diskurs, speziell in Verbindung mit kulturellen Erinnerungsorten, die einen Bezug von Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft schafften, vorwiegend zur Konstruktion der eigenen ‚Lebenswelten‘. Aus diesem Grund erwartet den Leser eine dem Diskurs angepasste idealisierte Landschaft. Sie ist als Rahmen der Briefe zu betrachten, durch den eine bestimmte Atmosphäre oder Emotionen evoziert wurden. Im Zusammenhang mit Barbaren wird die geschilderte Landschaft, den Spuren der antiken Klimatheorie folgend, selbst wild und das Klima rau. In Bezug auf die von Sidonius beschriebenen Kämpfe um Clermont verdeutlicht die landschaftliche Gestaltung die zerstörerische Gewalt der Barbaren. Während die aristokratischen Landgüter als locus amoenus in Erscheinung treten, als Ort des Friedens und der Ruhe, werden Barbaren mit Zerstörung und Stürmen gleichgesetzt. Allusionen und Landschaftsmetaphern ist gemeinsam, dass sie, wenngleich ihnen im Werk unterschiedliche Funktionen zugestanden werden, vorwiegend zur Abgrenzung von ,Anderen‘ und dadurch zur Selbstwahrnehmung des Sidonius dienen. e) Religiosität Als letzte Kategorie, um das ,Selbst‘ von ,Anderen‘ abzugrenzen, wurde das religiöse Bekenntnis herangezogen, da in den spätantiken Briefen die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche als wichtiges Kennzeichen zu erkennen ist, um ,Andere‘ auszugrenzen. Während bei Sidonius die christlichen ‚Lebenswelten‘ erst im Laufe seines Lebens an Bedeutung gewinnen, fungiert ein bis zwei Generationen später, beispielsweise bei Ruricius und Avitus, das nizänische Bekenntnis als primärer Abgrenzungsmarker von Barbaren. 7 Er überträgt bestehende literarische Konventionen, die mit Barbaren in Zusammenhang zu bringen sind, auf Häretiker und macht diese somit nicht nur zu ,Anderen‘, sondern zu ,barbarischen Anderen‘. Sidonius setzt das häretische Bekenntnis gezielt ein, um die ,Andersartigkeit‘ einer Person auszudrücken, wie beispielsweise bei Eurich. In gleicher Art und Weise verschweigt er den Glauben eines Individuums, wenn er das Gegenteil, die Zugehörigkeit zu seinen ‚Lebenswelten‘, ausdrücken möchte, wie bei Theoderich II.

6 Rur. epist. 2,26,11–13. 7 Zum Beispiel Rur. epist. 1,11; Alc. Avit. epist. 27 (= 30 Peiper).

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7.1

Schlussbetrachtung

Das, Selbst‘ und der ,Andere‘

Theoderichs II. Fall führt zur Darstellung von Individuen in den Briefen des Sidonius. Das Beispiel zeigt, dass es für ein Individuum möglich war, seine ‚Lebenswelten‘ zurückzulassen und Teil neuer zu werden. Während sich das Bild der Barbaren in den Diskursen, die die Wahrnehmung von Gruppierungen beschreiben, traditionellen Vorbildern folgend stereotypisiert bleibt, durchbrechen einzelne Personen die Schranken ihrer ‚Lebenswelten‘ und wechseln in das ,Unvertraute‘. Sie werden dadurch für Sidonius entweder zum Teil seiner ‚In-Group‘ oder zu einem ,Anderen‘. Auffällig ist dies bei der Schilderung von Herrscherpersönlichkeiten. Bei der Beschreibung von Theoderich II., Chilperich  I. und seiner Frau, Riothamus und sogar von Eurich ist zu erkennen, dass entgegen der stereotypisierten Gruppendarstellung einzelne Persönlichkeiten davon abgehoben werden. Bei Theoderich  II. ist es seine Leibgarde, beim burgundischen Königspaar sind es die Denunzianten, bei Riothamus die bretonischen Soldaten, die Sklaven aufwiegeln, und bei Eurich im Lobgedicht die gentes, die sich vor ihm beugen. Es liegt auf der Hand, dass die positive Schilderung der Mitglieder der neuen Eliten in Gallien politische Hintergründe hat. Bei Theoderich II. spielt die Politik des römischen Kaisers Avitus eine Rolle, der zugleich Schwiegervater des Sidonius war. Beim burgundischen Königspaar wollte Sidonius mildernd wirken, da sein Onkel Apollinaris vor ihnen von Denunzianten als Verräter angeklagt worden war. Riothamus war als römischer foederatus mit Respekt zu behandeln und Eurich, dem neuen Machthaber über Sidonius’ Heimatregion, musste er wohlwollend gegenübertreten, um nach dem Exil seinen Familienbesitz zurückzuerhalten. Dementsprechend ist bei diesen Beschreibungen kaum zu entscheiden, wo das persönliche Wohlwollen des Autors gegenüber einem Herrscher anfängt und wo die Grenzen sind. Weiterhin ist es schwer zu beurteilen, wo er in seinen Beschreibungen ironisch wird und wo die geblümte Rhetorik der Literatur geschuldet ist, wie die verschiedenen Interpretationen zu einzelnen Briefen belegen. Sidonius charakterisiert jedoch nicht nur Herrscherpersönlichkeiten, sondern er beschreibt auch ausführlich Individuen seiner eigenen Kreise hinsichtlich ihrer Bildung, ihres Aussehens, ihres Verhaltens und ihrer Religiosität. Dadurch bietet er Mitgliedern seiner ‚Lebenswelten‘ Verhaltensmuster positiver sowie negativer Art. Dabei ist er von der neuplatonischen Seelenlehre beeinflusst, wie durch einen seiner wiederholt zitierten Briefe zu erkennen ist. nam illud, sicuti ego censeo, qui animum tuum membris duco potiorem, non habet aequalitatem, quod statum nostrum supra pecudes veri falsique nescias ratiocinatio animae intellectualis evexit […]. 8 Denn jenes wie ich glaube, ich, der deine Seele als höherwertig als deinen Körper erachtet, besitzt nicht die gleiche Beschaffenheit, weil nämlich das Denken unseres 8 Sidon. epist. 7,14,4.

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Das, Selbst‘ und der ,Andere‘

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logischen Verstandes unser Wesen über die Tiere, die nicht in der Lage sind, richtig von falsch zu verstehen, erhoben hat […]. Durch Bildung und Ausformung des eigenen Verstandes sind Sidonius und die Mitglieder seiner ‚Lebenswelten‘ in der Lage, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, und aus diesem Grund Barbaren überlegen. Da Bildung erlernt werden kann, besteht die Möglichkeit, dass ein Barbar seinen animalischen Verstand zurücklässt, eine Seele bekommt und folglich ebenfalls richtig von falsch unterscheiden kann. Arbogast ist als solcher Fall zu betrachten. Obwohl er von Barbaren umgeben und selbst nicht-römischer Abstammung ist, erreichte er ein solches Maß an Bildung, dass er dieses inmitten von Barbaren aufrechterhielt. 9 Der oben zitierte Gedanke des Sidonius ist deutlich greifbar: An eben diesen Arbogast schreibt er, dass eine Person sich durch die fortdauernde Lektüre von ,Anderen‘ unterscheidet, wie sich der Mensch vom Tier unterscheide. 10 Im Gegenzug bedeutet es, dass durch die Vernachlässigung von Bildung eine Person diese Eigenschaft verlieren und sich so langsam zu einem Tier, zu einem Barbaren, zurückentwickelt. Ein solcher Fall liegt mit Syagrius vor, der mit seinem Verhalten mehr und mehr die lebensweltlichen Traditionen der gallo-römischen Aristokratie vernachlässigt, in den Augen des Sidonius seine literarischen Studien nicht ausgewogen genug betreibt und sogar schon angefangen hat, die Sprache der ,Anderen‘ wie seine Muttersprache zu sprechen. Syagrius befindet sich in seiner Darstellung auf dem besten Weg, ein ,Anderer‘ zu werden. Diesen Prozess hat Seronatus bereits beendet. Wenn der Leser nicht wüsste, dass es sich bei Seronatus um ein Mitglied der gallo-römischen Aristokratie und einen römischen Funktionär handelt, könnte angenommen werden, dass Sidonius einen Barbaren beschreibt. Er gleicht Seronatus, von der Häresie abgesehen, in allen Bereichen dem stereotypisierten Barbarenbild an und verdeutlicht dadurch den Verrat, den dieser begangen hat. In den Augen des Sidonius ist Seronatus eindeutig den mali zugehörig. Aus den Briefen geht hervor, dass Sidonius andere Freunde hatte, die für die Visigoten arbeiteten. Deshalb war es nicht die Tatsache, dass Seronatus in ihren Diensten stand, die ihn in einen Barbaren verwandelte, sondern die Aufgabe der aristokratisch-lebensweltlichen Traditionen. Während Arbogast in die Innengruppe des Sidonius eintreten und Teil des ,Wir‘ der gallo-römischen Aristokratie werden konnte, verließ Seronatus diese und wurde einer der ,Anderen‘. Durch das Ablegen gemeinschaftlicher Traditionen und das Ausüben anderer Gewohnheiten erscheint die Grenzlinie zum ,Anderen‘ als offene Grenze, die überschritten werden kann. So kommt es, dass sich ein gallo-römischer Aristokrat in den Augen seiner Gemeinschaft ,falsch‘ verhält und so zum ,Anderen‘ wird. Gleichzeitig können ,Andere‘ durch Bildung und den richtigen Glauben zur ,guten Seite‘ übertreten und als Teil der Gemeinschaft akzeptiert werden. Unklar bleibt, wie diese Akzeptanz 9 Selbst wenn einer ironischen Leseart des Schreibens den Vorzug gegeben werden kann, muss der Tatsache zugestimmt werden, dass Arbogast ein gewisses Grundmaß an Bildung besessen haben muss und sich Sidonius, selbst wenn er Arbogast verspotten wollte, sich immerhin die Mühe gemacht hat, ihm zu antworten und ihn dann sogar noch als Adressat in seiner Briefsammlung zu ehren. 10 Sidon. epist. 4,17,2.

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Schlussbetrachtung

oder Abgrenzung in der Realität ausgesehen hat. Dem Alteritätskonzept folgend ist Sidonius derjenige, der bestimmt, wie eine Person in den Briefen dargestellt wird und wann eine Person durch den Prozess der bewussten Abgrenzung zu einem ,Anderen‘ wird. Am Ende bleibt festzuhalten, dass Sidonius die ,barbarische Masse‘ in beständiger Weise gleich ,wild‘ charakterisiert. Weiterhin fällt auf, dass er in seinen Werken einen starken Unterschied zwischen den Barbaren an sich und den Individuen, v. a. den Herrscherpersönlichkeiten, macht. So kommt es, dass einzelne Adressaten nicht-römischer Herkunft (z. B. Arbogast und Riothamus) in seine Briefsammlung aufgenommen wurden und bei den Herrscherbeschreibungen, mit Ausnahme Eurichs, die positiven Schilderungen überwiegen. Für Sidonius stand nicht das Kollektiv im Vordergrund – weder auf römischer noch auf barbarischer Seite. Die moralische Ebene von Abgrenzungsprozessen steht bei Sidonius deutlich im Vordergrund. Für ihn sind einzelne Persönlichkeiten von Bedeutung, Persönlichkeiten, die nach römischem Ideal gebildet sind und sich dementsprechend verhalten. Eurich nimmt unter ihnen eine Sonderstellung ein, da er, aufgrund der Auseinandersetzungen um die Auvergne, als persönlicher Feind des Sidonius zu betrachten ist. Trotzdem war er ein bedeutender Herrscher seiner Zeit, der in der Briefsammlung des Autors nicht fehlen durfte. Demnach sind die Briefe im Sinne Plutarchs zu betrachten, der in seinem Werk jeweils Lebensbeschreibungen von guten und schlechten Römern und Griechen nebeneinanderstellt. Im Rahmen seiner Briefe bietet er zum einen Einblicke in die Lebensweisen von Individuen, die dem Erhalt von romanitas dienen, und zum anderen in die Lebensweisen von Individuen, die gemeinschaftlichen Traditionen den Rücken kehren. Sprache und Bildung sowie Aussehen und Verhalten treten in den Briefen des Sidonius als traditionelle Charakteristika in Erscheinung, um seine eigenen ‚Lebenswelten‘ und vorwiegend die gallo-römische Aristokratie von anderen ‚Lebenswelten‘, die er als barbarisch wahrnimmt und beschreibt, abzugrenzen. Dabei ist erneut zu betonen, dass seine Sichtweise ebenso wie die von anderen zeitgenössischen Autoren nicht an die Realität gebunden sein muss. Vielmehr ist nach der Intention dieser traditionellen Präsentation in den Barbarendiskursen zu fragen, um diese für historische Forschungen zu verwenden.

7.2

Intentionen hinter Sidonius’ Barbarendiskursen: Hypothesen und Annahmen

Es ist zu betonen, dass Sidonius seine Briefe nicht verfasst hat, um Barbaren und ,Andere‘ darzustellen, sondern er diesen im Rahmen von konstruierten Diskursen bestimmte Funktionen zuschreibt, die es zu ergründen und zu hinterfragen gilt. Sie wurden von ihm mit verschiedenen Intentionen eingesetzt, um den Geschehenszusammenhang seiner Briefe miteinander zu verbinden. Als Hauptintention ist die Formierung des ,Selbst‘ zu erachten, die zur Formierung seiner ‚Lebenswelten‘ beiträgt, die er durch seine literarischen Werke an seine Umwelt und an die Nachwelt vermittelt. Sidonius verfolgte

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Intentionen hinter Sidonius’ Barbarendiskursen: Hypothesen und Annahmen

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die Absicht, seine eigenen Identitäten zu konstruieren und gegenüber ,Anderen‘ abzugrenzen, wobei er sich als überlegenes ,Selbst‘ inszeniert. Es ließen sich zwei verschiedenartige rhetorische Absichten der Barbarendiskurse von Sidonius unterscheiden: a) als Teil des narrativen Hintergrundes, b) als Teil seiner Überzeugungsstrategien. Die grundlegendste Funktion der Barbarendiskurse in Sidonius’ Briefen dient dem narrativen Hintergrund seiner Erzählung. Die Berichte über die kriegerischen Auseinandersetzungen in der civitas der Arverner reflektieren die eigene Gemeinschaft und präsentieren dabei ausgewählte Protagonisten, z. B. Ecdicius, Avitus und Sidonius selbst, als Verteidiger ihrer patria und als Verfechter von romanitas. Die ,barbarischen Anderen‘ dienen als Hintergrund, demgegenüber er sein eigentliches Anliegen inszeniert. Durch seine narrative Kulisse, die oft in Zusammenhang mit landschaftlichen Diskursen zu sehen ist, erzeugt er verschiedene Stimmungslagen, die das Unterbewusstsein des Lesers beeinflussen. Eine landschaftliche Idylle wirkt sich beispielsweise beruhigend auf den Leser aus, während Stürme oder Handlungsstränge, die von Gewalt beeinflusst sind, diesen innerlich aufwühlen. Mit den Barbarendiskursen als Teil des narrativen Hintergrundes manipuliert Sidonius das Unterbewusstsein seiner Leser, um diese von seiner Perspektive der Geschichte zu überzeugen. Die meisten seiner Briefe, wenn nicht alle, wollen sowohl den Empfänger als auch den späteren Leser von einem bestimmten Anliegen überzeugen. Während das Begehren an den Empfänger direkt in der petitio formuliert und von der einzelnen Intention eines Briefes abhängig durch bewusst instrumentalisierte Diskurse untermauert wird, findet sich die Überzeugungsstrategie gegenüber dem Leser nicht in einem einzelnen Brief, sondern in deren Verkettung. Es sei eine beispielshafte Veranschaulichung erlaubt: Als eine direkte Aufforderung sind das Schreiben an Syagrius sowie der Brief an Johannes anzusehen. 11 In beiden Fällen dient der Barbarendiskurs als Teil des Narrativs zur Abgrenzung der Akteure. Indem Sidonius die barbarische ,Anderswelt‘ beschreibt, die durch bekannte literarische Vorbilder als Fakten in Szene gesetzt werden, fordert er den Empfänger zu einem entgegengesetzten Verhalten auf (im Fall des Syagrius) beziehungsweise appelliert an diesen, die eigenen lebensweltlichen Gemeinsamkeiten aufrechtzuerhalten (im Fall des Johannes). Da sich diese Überzeugungsstrategie durch die gesamte Briefsammlung zieht, wird der Leser von Sidonius und dessen Wahrnehmung beeinflusst. Sein Ziel war es, mit der eigenen Darstellung der Ereignisse die Leser von seinen ‚Lebenswelten‘ und deren Idealen zu überzeugen. Folglich berichtet er aus der Retrospektive über das Vergangene und bindet seine Briefe über Referenzen, Hinweise und Allegorien in römische Traditionen ein. Durch seine Aufforderung, ein Leben im Sinne seiner romanitas zu führen, erzeugt er eine Brücke in die Zukunft. Folglich spielt die akkurate zeitliche Anordnung der Briefe keine Rolle, da der Inhalt, nämlich die Botschaft an die Leser, für die Argumentationslinie von Sidonius als wichtiger erachtet wurde.

11 Sidon. epist. 5,5; 8,2.

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Schlussbetrachtung

Sowohl identitätsstiftende Merkmale als auch Differenzierungsmerkmale bilden Teil seiner Überzeugungsstrategie. Durch die Erzeugung eines kollektiven ,Wirs‘ in den Briefen steuert er die Leser unbewusst, sich auf seine Seite zu stellen. Diesen fällt es somit schwerer, die Handlungen des Sidonius zu kritisieren, was besonders für seine zeitgenössischen Leser zutreffend war. Bei seinen Ausführungen bringt er zum Ausdruck, was er empfindet. Vor allem Metaphern und Allegorien helfen ihm dabei, seine Gefühlswelt zu präsentieren, weshalb Eurich zum Wolf und er selbst zum Meliboeus wird. In seinen Emotionen ist Sidonius menschlich: Er versucht sich selbst in das beste Licht zu rücken und neigt zu Übertreibungen, um das Ausmaß der Ereignisse, die ihm widerfahren sind, zu verdeutlichen. Aus diesem Grund sind seine Briefe ein mahnender Rechenschaftsbericht mit erzieherischer Intention, der dem Erhalt von romanitas dient. Dies ist seine Art, die Realität zu interpretieren und sie zu gestalten. Die Frage nach der Historizität ist dabei eine andere. Er ist kein Historiker und wollte keiner sein, wie er in seinen Werken betont. Dennoch hat er Methoden entwickelt, um Geschichte zu visualisieren und sie zur Beeinflussung seiner Leser bezüglich der Überlegenheit von romanitas zu instrumentalisieren. 12 Für die Intention der Barbarendiskurse wird zusammengefasst, dass sie als Teil von Sidonius’ Strategie erachtet werden, um mit Hilfe von Traditionen und gemeinschaftlichen Konventionen eine gemeinsame ‚Lebenswelt‘, die ich mit dem Begriff romanitas definiere, zu konstruieren. Wie gezeigt wurde, kann jede Person unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit oder ,Klassenzugehörigkeit‘ von Sidonius als Teil dieser ‚Lebenswelt‘ wahrgenommen werden, sofern sie die primäre Grundbedingung der Bildung erfüllt und diese durch richtiges Verhalten demonstriert. Da Frauen in dieser Studie außer Acht gelassen werden und Sidonius sich in der Beschreibung von Individuen auf Männern fokussiert, ist an dieser Stelle in der Tat allein von ,Männern‘ die Rede. Seine Barbarenbilder dienen dabei zur Abgrenzung der ,Anderen‘ und ermöglichen dadurch die bewusste Konstruktion einer elitären Gemeinschaft, die ihre Identitäten unter romanitas formiert und definiert.

7.3

Sidonius und seine Briefe

Abschließend folgt ein Blick auf die Identitäten des Sidonius, die hinsichtlich seines Barbarendiskurses rekonstruiert werden können. Im Mittelpunkt von Sidonius’ Leben stand die römische Aristokratie mit ihren Traditionen und ihrer Lebensart. Aus diesem Grund strebte er als gallo-römischer Aristokrat eine Karriere im Dienst des Staates an. Als er erkannte, dass dies zunehmend schwieriger wurde, kämpfte er darum, das römische Lebensideal in seiner Heimat aufrechtzuerhalten. Dies konnte ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch nur noch als Bischof gelingen. Die klassisch-römische Bildung war für ihn das 12 Sidon. epist. 1,2,10; 4,22,5.

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Sidonius und seine Briefe

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Maß aller Dinge, weshalb er sich durch seine Werke für die Aufrechterhaltung des lateinischen Sprachgebrauches und der römischen Kultur einsetzte. Dadurch bedingt sind in seinem Werk zahllose Parallelen zu früheren Autoren erkennbar. Sidonius wollte die alten Traditionen und das alte Können nicht nur imitieren, sondern weitergeben und am Leben erhalten. Dabei entsprach er vollkommen den Charakteristiken, die von Michelle Salzman als aristokratische „mentalité“ definiert wurden. 13 Diese Charakteristiken waren Abstammung, Herkunft, Vermögen und Besitz, Bildung, öffentliches Ansehen, Freundschaft und das nizänische Bekenntnis. Speziell Briefe erschienen ihm als geeignet, seine Anliegen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er distanziert sich in seinem Werk mehrmals bewusst von der Geschichtsschreibung, weil diese die Wahrheit der Ereignisse darstelle. 14 Daraus ist zu folgern, dass Sidonius sich durch das Genre der Briefliteratur ausdrücklich für einen persönlichen Einblick in sein Leben, seine politischen und bischöflichen Ambitionen und vorwiegend in seine Wahrnehmung eines römischen Lebensstils entschied. Die Briefe sind somit in erster Linie als Selbstdarstellung zu betrachten. 15 Mit diesen konnte er sich seiner Leserschaft als Idealbild eines römischen Aristokraten und später eines Bischofes präsentieren. Trotz aller Widrigkeiten blieben seine Auffassung und sein Stolz auf die römische Kultur konstant, die sich in der Überlegenheit gegenüber den Barbaren manifestiert. Dabei ist romanitas durchaus nicht als statisches Konstrukt zu betrachten, sondern wurde von Sidonius den Umständen seiner Zeit angepasst. Der Verweis auf gemeinsame verbindende Elemente sowie Traditionen, die seiner Meinung nach romanitas entsprachen, suggeriert in seinen Werken nicht nur eine gemeinschaftliche Identität, sondern erschuf diese primär durch die Abgrenzung von ,Anderen‘. Erst durch die Differenzierung von Barbaren wird deutlich, was Sidonius unter romanitas versteht. Durch seine Barbarendiskurse wird ersichtlich, dass er in seinen Briefen eine Illusion von romanitas geschaffen hat, die in dieser Form nicht mehr praktikabel und realistisch war. Mit den konstanten Wiederholungen seiner Ideale wollte er sich selbst und seine Leser überzeugen, dass er als vollkommener Aristokrat anzusehen sei. Er präsentierte sich in der Nachfolge Ciceros, der für den Erhalt des römischen Staates kämpfte – nur dass der römische Staat im Fall des Sidonius die Gemeinschaft der gallo-römischen Aristokraten und das Hauptanliegen im Kampf gegen Staatsfeinde wie Seronatus die Aufrechterhaltung von Bildung war.

13 Salzman 2000, passim. 14 Sidon. epist. 4,3,8; 7,18,3. 15 Diese Meinung wird ebenfalls von van Waarden 2011a, 561 vertreten. Dem schlißet sich Harries 1992, 300 an, die von einer wandelbaren Fassade mit einheitlichen, konstanten Ansichten des Sidonius spricht.

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7.4

Schlussbetrachtung

Zusammenfassung und Ausblick

Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde die Wahrnehmung von ,Anderen‘, von Römern als auch Nicht- Römern, aus der subjektiven Sicht des Briefautors Sidonius Apollinaris analysiert. Diese folgt in ihrer Beschreibung den lebensweltlichen Traditionen, in die der Autor eingebunden war. Im Fokus stand die Alterität als literarisches Konstrukt, die mit Hilfe von Traditionen geschaffen wurde und dadurch Identitäten kreierte. Folglich sind Barbaren als konstruierte Diskurse zu betrachten, mit denen Sidonius nicht nur seine eigenen Identitäten (als Aristokrat, Politiker, Bischof, Widerstandskämpfer und Literat) aufzeigte, sondern auch die seiner lebensweltlichen Gemeinschaften verhandelte. Er hat in seinem Werk bewusst einzelne Persönlichkeiten der Zeit hervorgehoben und diese, dem Beispiel Plutarchs folgend, als positive oder negative exempla für die Leser in Szene gesetzt, um somit Anleitungen zur Unterscheidung von boni und mali an seine Leser vermittelt. Die Barbaren im Allgemeinen, als Fremde, zu denen er keinen persönlichen Kontakt hatte, bleiben in seinen Briefen gemäß den literarischen Konventionen stereotypisiert. Eingangs wurde erwähnt, dass Sidonius aufgrund seiner Aussage, dass er Barbaren selbst dann meide, wenn diese gute Menschen seien, in der älteren Forschung als ,Barbarenhasser‘ deklariert wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass die frühere Forschung in Sidonius’ Werken Barbaren mit ,Germanen‘ (insbesondere mit Goten, Burgunder, Franken und Sachsen) gleichgesetzt hat, ist diese Ansicht zu revidieren. Zwar hat Sidonius alles Barbarische verachtet, dies jedoch unabhängig von einer ethnischen Zugehörigkeit. Den traditionellen literarischen Barbarendiskursen folgend, werden nicht-römische Gemeinschaften ebenso stereotypisiert beschrieben, wie einzelne Personen, die sich in der Wahrnehmung des Autors falsch verhalten haben oder ungebildet sind. Werden die Ergebnisse dieser Studie zusammengefasst, zeigt sich, dass der Begriff ‚Barbar‘ im Werk des Sidonius in erster Linie eine Bezeichnung für Menschen darstellt, die er als ,Andere‘ wahrgenommen hat. Die Barbarendiskurse waren somit ein Werkzeug, um spezifische Bilder zu erzeugen – nicht nur des ,Anderen‘, sondern auch primär des ,Selbst‘. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und kulturellen Transformationen in Gallien im 5. Jahrhundert reflektiert und verhandelt Sidonius durch die Darstellung von ,Anderen‘ seine eigene Umwelt, seine eigene Kultur und seine eigenen Identitäten. Ein Anliegen für weitere Forschungsarbeiten ist es, die Barbarenbilder bei weiteren Autoren des 4.  bis 6.  Jahrhunderts zu untersuchen, und mit den vorgelegten Ergebnissen dieser Arbeit zu vergleichen. Dadurch kann ein umfassenderes Bild der spätantiken aristokratischen Gesellschaft bezüglich ihrer Selbstwahrnehmung gewonnen und Veränderungen in den Barbarendiskursen können nachvollzogen werden. Eine kritische Auseinandersetzung mit ,Alterität‘ im Sinne der „longue durée“ wird zu einem besseren Verständnis der Mentalität der gallischen Aristokratie, einschließlich verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche samt ihren Veränderungen, führen.

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Verzeichnisse Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Traditionskonzept von Aleida Assmann auf Sidonius Apollinaris übertragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Wichtige Städte im spätantiken Gallien (moderne Namensgebung). . . . . . Abb. 3: ,Andere‘ in den Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 4: Lac d’Aydat und Blick auf den See mit Ortschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Die Stadt Bazas als Mittelpunkt eines 90 km Radius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6: ‚Lebenswelten‘ und ‚Anderswelten‘ des Sidonius in Epistel 7,6. . . . . . . . . .



23 50 134 229 256 312



33 158 236 251 252

Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6:

Kategorien und Klassifizierung zur Darstellung von Barbaren. . . . . . . . . . Kleidung als Topos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parallelen in den Briefen 3,2 und 3,3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anspielung auf verfeindete Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parallele zwischen epist. 3,4 und 7,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich der physiognomischen Schilderungen Theoderichs II. und Germanicus’. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 7: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung Theoderichs II. und Eurichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 8: Gemeinsamkeiten der Briefe 4,17 und 2,10. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 9: Vergleich des Verhaltens von Seronatus mit den Denunzianten in Sidon. epist. 5,7. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286 328 346 358

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen lateinischer Autoren und ihren Werken folgen dem digitalen Index des Thesaurus Linguae Latinae (https://thesaurus.badw.de/tll-digital/index/a.html letzter Zugriff: 20.05.2022). Griechische Autoren und ihre Werke wurden gemäß den Vorgaben in H. G. Liddel/R. Scott/H. S. Jones, Greek-English Lexicon abgekürzt (online über

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Verzeichnisse

die Homepage des TLG: http://stephanus.tlg.uci.edu/lsj/01-authors_and_works.html letzter Zugriff: 20.05.2022). Ausnahmen sind im Abkürzungsverzeichnis enthalten. AE App. Lib. BAR BT Caes. BG CIL CPh CSEL CCSL CUF SL CUF SG DNP Eus. h.e. FGrHist GCS N. F. Greg. Tur. HF HLL H-Soz-Kult

L’Année épigraphique Appian App. Libykē British Archaeological Reports Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana C. Iulius Caesar, Commentarii De bello Gallico Corpus Inscriptionum Latinarum Classical Philology Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum Corpus Christianorum. Series Latina Collection des universités de France Série latine Collection des universités de France Série grecque Der Neue Pauly Eusebius Caesariensis, Kirchengeschichte Fragmente der Griechischen Historiker, Hg. von F. Jacoby Die griechischen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, Neue Folge Gregor von Tours, Decem Libri Historiarum Handbuch der Lateinischen Literatur Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften Hum Stud. Human Studies Hyd. chron. Chronik des Hydatius Int. class. Trad. International Journal of the Classical Tradition JRA Journal of Roman Archaeology KFHist Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike LCL Loeb Classical Library LiTheS Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie MGH Monumenta Germaniae Historica AA Auctores Antiquissimi SS. rer. Mer. Scriptores rerum Merovingicarum OCT Oxford Classical Texts (= Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis) PL Patrologiae cursus completes serie Latina PLRE II Prosopography of the Later Roman Empire (J. R. Martindale) RAC Reallexikon für Antike und Christentum RE Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft RET Revue des Études Tardo-antiques SAGA Studien zu Archäologie und Geschichte des Altertums SAPERE Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia

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SFGKoeln SQAW TLL TRW ZPE

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1 Die verwendeten Kommentare sind zusätzlich im Literaturverzeichnis enthalten.

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Quellenverzeichnis



Augustinus Aurelius Victor

Avitus von Vienne

Caesar Cassiodor Cassius Dio Cicero



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Verzeichnisse

Codex Theodosianus

Constantius Cornelius Nepos Demetrius von Phaleron Diodor Ennodius Eucherius von Lyon Eusebius Caesariensis

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Quellenverzeichnis

Gallische Chronik von 452 Gregor von Tours

Herodot Hieronymus Hippokrates Historia Augusta Homer Horaz Hydatius Isidor Isokrates

Jordanes

387

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Julius Victor Juvenal Livius Lucan Macrobius Malchus von Philadelphia

Olympiodorus

Orientius von Auch Orosius Ovid Panegyrici Latini Paulinus von Pella Platon

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Quellenverzeichnis



Plinius der Ältere

Plinius der Jüngere Plutarch Polybius Poseidonius von Apameia Procop Prosper Tiro [Prosper von Aquitanien] Prudentius

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390

Verzeichnisse

Ptolemaeus

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Quellenverzeichnis

Sueton Symmachus Tacitus Tatian

Tertullian

Vegetius Velleius Paterculus Vergil Victor von Vita Vitruv Vita Bibiani

391

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Verzeichnisse

Vita patrum Iurensium Zosimus

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Register Orts- und Personenregister Achill 91, 288 Aegidius 95 Aeneas 60, 288 Aëtius 57 f., 93, 300 f-, 337 Afrika 148, 256 ▷ s. a. Nordafrika Agricola 188, 280 f., 350 f., 307, 155 Agrippina 334 f. Agroecius (Agrecius, Agricius, Agritius, Agrygius) 179, 210 Alarich 46, 52–55, 320 Albi 211 Alexander der Große 14, 32, 91 Alexander von Alexandria 267 Alexandria 283 s. a. Clemens von Alexandria s. a. Alexander von Alexandria Amantius 243 Ambrosius 86, 113, 161, 266 Ammianus Marcellinus 36–40, 62, 171, 282, 371 Amphion 349 f . Anacharsis 31 f. Ancus 333 Anthemius 59, 96, 103, 104, 202, 298, 307, 337, 360 f., 362 Apollinaris (Großvater) 89–91 Apollinaris (Onkel) 161, 175, 198–201, 203 f., 229, 238, 330 f., 374 Apollinaris (Sohn) 77, 124 f., 134 Apollo 323 Apollonius von Tyana 180 f., 182, 214

Aprunculus 109 Aquileia 54 Aquilinus 121–123 Aquitania Prima 157, 179, 211, 222 Aquitanien 49, 56, 57, 70 Arbogast(es) 77, 116, 339, 341–346, 352, 356, 359, 375 f. Arcadius 53 Archachon 257 Aremorica 58, 337 Arigius 341 Aristophanes 124 Aristoteles 40, 87 Arius 267 Arles 57, 66, 67, 68, 87, 88, 93, 108, 226, 308 ▷ s. a. Hilarius von Arles Arvandus 97–100, 164, 275, 307, 327, 353, 354, 359–361 Asien 40 Assur 314, 315, 316, 319 Astyrius 85, 88 Athaulf 55 Athen 32 Attika 32 Attila 57, 93 Augustinus 45, 86, 278, 350 Augustus 43 Aurelianus 265 Aurelius Victor 36 Ausonius 63, 86, 188, 298, 343, 344

1 Bei kursiv-gesetzten Seitenzahlen befindet sich der Name nur in einer Fußnote. Römische Kaiser und lateinische Autoren sind unter der im Deutschen gängigen Namensform angegeben (z.  B. Hadrian, Ausonius).

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Register

Auspicius 248, 250, 252, 341, 342 Autun 268 Auvergne 4, 49, 70, 95, 103–105, 107, 112, 113, 116 f., 143–145, 182, 192, 199, 200, 202, 206–209, 210, 213, 225, 230 f., 234, 236, 238, 241, 244 f., 248 f., 265, 275, 299, 309, 313–316, 328, 343, 354, 376 Auxanius 98, 164 Auxerre 136 ▷ s. a. Germanicus von Auxerre Avitacum 95, 114, 228, 230, 321 Avitus (Cousin?) 165–167, 196, 230, 377 Avitus 57–59, 93 f., 95, 139, 143, 158, 160, 172, 194 f., 246, 282, 286, 295 f., 298 f., 300, 301–306, 311, 327, 360, 374 Avitus von Vivienne 60 f., 76 f., 82, 84, 134, 135, 187, 252, 265, 277, 372 f. Aydat 95 Babel 315 Babylon 314, 319 Basilius 96, 135, 271–276, 308–319, 328 Bazas 256–257 Beaucaire 93 Belgica Secunda 58 Bordeaux +, 112, 193, 255, 257 f., 321, 324, 325 Bourges 100, 127, 162, 179, 210 f., 268, 269, 362 Britannia, Britannien 49, 53, 337 Brutus 196 Burgus 255 Cadiz 256, 258 Caesar 1, 36, 42, 66, 91, 148, 171, 182, 186, 200, 240 f., 247, 284 Cahors 211 Calminius 177, 205–207, 252, 361 Calpis 256, 258 Camena 144 Candidianus 225 Caracalla 41 Carcassonne 106 Caretene 330, 335

Cartagena 256 Cassio Dio 294 Cassiodor 54, 62, 97, 98, 280, 360 Catilina 354–355, 357–359, 366 Cato d. Ältere 259 Cato d. Jüngere (Cato Uticensis) 258–260 Celsus 123 Censorius 136, 177, 188, 209, 239 Ceraunia 134 Chariobaudus 212 f. Chartres 341, 345 Chilperich I. 105, 175, 280, 329–336, 340, 374 Chilperich II. 329, 332 Chlodwig 329 Christi 88, 96, 153, 180, 198, 214, 262, 267, 270 ▷ s. a. Christus ▷ s. a. Jesu(s) Christus 102, 212–222, 262 ▷ s. a. Christus ▷ s. a. Jesu(s) Chrodechildus 329 Cicero 4, 34, 35, 38, 44, 63, 86, 105, 111, 140, 191, 254, 348, 355, 357, 365, 379 Cirrha 323 civitas Arvernorum 1, 97, 101, 315 ▷ s. a. Clermont (Clermont-Ferrand) Claudian 54, 150, 297 f., 299 Claudianus Mamertus 52, 84, 87, 100, 115, 146, 178 f., 197, 209, 240–242, 259, 270, 273, 342 Claudius 333 Claudius Ptolemaeus 182 Cleanthes 263 Clemens von Alexandria 45 Clermont (Clermont-Ferrand) 1, 66, 70, 84, 95, 100, 104–110, 115, 165, 167, 171 f., 178 f., 195, 198, 203, 207, 210–213, 219, 220, 222, 230 f., 234, 235, 236, 238, 240, 241, 244 f.,

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Orts- und Personenregister

247–250, 255, 264 f., 277, 315, 317 f., 328, 354, 371, 373 ▷ s. a. civitas Arvernorum colonia Agrippina 299 ▷ s. a. Köln Consentius 214, 230, 304 Constantius (Priester von Lyon und Freund) 63, 69, 113, 120, 196, 230, 231–236, 342 Constantius (Sohn des Ruricius) 77 Constantius II. 157 Fl. Constantius (Heermeister, = Konstantin III.) 55 ▷ s. a. Konstantin (III.) Cornelius Nepos 42, 72 Crocus 219 Damokles 194 f. Demosthenes 253 f. Diodor 14 Dionysius 194 f. Domitian 333 Domitius 226, 228 Domnicius 157, 159 Donau 258 Donidius 172 f., 229 Ecdicius 85, 103 f., 143–145, 167–169, 171 f., 174, 193, 196, 208, 234–236, 330, 354 f., 359, 361–363, 377 Elaphius 202 Eleutherius 135 Eminentius 342 Ennodius von Pavia 73, 185, 280, 309 Epiphanius 105, 309 Erasmus 52 Euander 60 Eucherius von Lyon 51 f., 86, 195 f., 206 Euodius 148–153, 238 Euphrat 291 Euphronius von Augustodunum 268, 272 Eurich 5, 56, 59 f., 72, 96 f., 101, 103 f., 106–108, 135, 149–151, 162, 172 f., 181 f., 186, 196–199, 201, 206–208,

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212, 219 f., 234, 241 f., 254, 262, 269, 271, 273, 275–277, 281, 283, 305–329, 336 f., 339 f., 353, 359 f., 362, 365, 371, 373 f., 376, 378 Euricus (= Eurich) 191 ▷ s. a. Eurich Europa 40 Eusebius 44, 87, 147 Eustorgius 187 Eutropius 93, 102, 123, 177, 208 Faustinus 198 Faustus 86, 100, 127, 217–221, 223, 254, 262–264, 274 f. Felix 171, 199, 237 f., 252, 297, 342 Ferreolus 229 Filimatius 92 Firminius 113, 116 Florentinus 280 Frederich 303 Frigidus 52 Fronto 111, 181 Gaius 333 Galba 333 Galla Placidia 55 Gaudentius 92, 93 Gennadius 84 Germania Prima 58 Germanicus 285 f., 294, 334 Germanus von Auxerre 63, 68 Geruchia 58 Gibeon 224 Gibraltar 258 Glycerius 330 Gnatho 124–126, 236, 250, 285, 290, 294, 359 Graecus 212, 223 f., 243, 244, 245, 248–250, 252, 261 f., 274 f., 277, 361 Gratian 53 Gregor von Tours 61, 82, 84, 106, 108 f., 191, 276, 308, 330, 337 Griechenland 32, 34 Großbritannien 80 Gundioc 329 f., 332

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Register

Gundobad 329 f., 335 Hadrian 41 Hannibal 42, 225, 313 Hector 91 Henna 357 f. Herkules 258, 288 Herodot 17, 31 f., 37, 38, 39 f., 43 Hesperius 76–77, 86, 141 f., 230, 345 f. Hieronymus 51 f., 54, 58, 75, 84, 86, 315 Hilarius von Arles 52 Hippokrates 40 Hiskia 314, 315 Hispanien 49, 51, 55 Homer 30 f., 37, 60, 86, 288, 369 f. Honoratus 68 Honorius 53, 55, 57, 91, 337 Horaz 42, 86, 116, 120, 149, 226, 322 Hyantes 323 Hypatius 172, 229 Ilion 244 Indien 14 f., 37 Industrius 282 Isokrates 32 Israel 314–315 Italien, Italia 34, 51, 53 f., 57, 59, 67, 96, 98, 104, 225, 308 Iupiter (Gott) 139 Javols 211 Jeremiah 314 f. Jerusalem 314 f. Jesu(s) 109, 261 f., 267, 270, 311 ▷ s. a. Christus ▷ s. a. Christi Johannes 72, 76, 146, 253–255, 377 Johannes Cassianus 52 Jona 363 Jordanes 308, 325, 329, 337, 339 Josua 224 Jovinus 55, 67, 89 Judäa 314, 315 Julian (Märtyrer, Lokalheiliger Clermonts) 178 Julianus (Bischof) 221–223

Julius Nepos 59 f., 105, 199, 307, 330–331, 335 Juvenal 284, 321, 348 Karl der Große 67 Karthago 225 Kaspisches Meer 148, 258 Kleinasien 31 Knossos 31 Köln 299 ▷ s. a. colonia Agrippina Konstantin (III.) (= Fl. Claudius Con­stantinus) 67, 51, 53, 67, 89, 91 ▷ s. a. Fl. Claudius Constantinus Konstantin der Große 45, 204–205, 267 Konstantinopel 59, 220, 267 Lac D’Aydat 229 Lampridius 120, 162, 308, 321–324, 326 f., 359, 361 Latium 34, 244, 253, 345 Lazarus 314, 316 Leo (Freund) 107, 180 f., 182, 214, 308, 319 f., 325 f., 327, 359, 361 Leo (Kaiser) 96 Leptis Magna 258 Lérins 52, 68, 108 ▷ s. a. Lerinum Lerinum 52 ▷ s. a. Lérins Libius Severus 59, 96 Licinianus 199, 237, 309 Limes 41 Limoges 60, 82, 84, 211, 263 ▷ s. a. Ruricius von Limoges Livia (Ort) 106, 180, 182, 213–215, 356 Livius 42, 171, 196, 242, 302, 371 Loire 95, 97, 166, 179, 377, 360 Lozére 364 Lucan 240–242, 244, 246, 247, 259 f., 313, 332 Lucumo 334 Lueius Tarquinius Priscus ▷ s. Lucumo Lugdunensis 138, 334 Lupus 341, 342

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Orts- und Personenregister

Lyon 52, 59, 85 f., 95, 104, 105, 157, 226, 230 f., 234, 346, 352 ▷ s. a. Constantius von Lyon ▷ s. a. Eucherius von Lyon ▷ s. a. Syagrius Magnus Felix ▷ s. Felix Mailand 54, 187, 266 Mainz 51 Maiorian 59, 65, 95, 139, 160, 226, 256, 258 Mamertus ▷ s. Claudianus Mamertus Marc Aurel 291 Marcus Porcius Cato ▷ s. Cato d. Ältere Markus Antonius 44, 357, 359 Mars 159, 303 f. Marseille 243, 261, 308 ▷ s. a. Silvan von Marseille Martin von Tours 247 Meliboeus 107, 324, 326, 378 Menander 86, 304 Menéxenos 32 Merobaudes 298 Midas 333 Modaharius 271 f., 275, 309–310 Mosel 238, 342–344 Moses 314 Naevolus 284 Namatius 134, 182–186, 213 Narbonne 59, 95, 112, 297, 304 f. ▷ s. a. Felix Nero 204 f., 333 Nerva 94 Nestor 60, 61 Nicäa 63, 266 f. Nicetius 230 Nil 258 Nordafrika 139, 259 Nordpol 227 Octavianum 215 Odoaker 56, 59, 308 Odysseus 60, 61, 288 Olympia 31 Olympus 31

437

Orestes 59 Orientius von Auch 51 f. Origenes 44 Orosius 34, 37, 45 f. Otho 333 Ovid 43, 107, 110, 181 Pannychius 362 Papianilla 93, 134, 143, 208, 247 Patiens 178, 209, 230, 239, 269–271, 336 Paulinus (Sohn des Leontius) 260 Paulinus von Nola 52, 64 Paulinus von Pella 64, 85 Paulus Diaconus 97, 360 Perpetuus 100, 127, 162 Petronius Maximus 58, 93, 194 f., 300, 303 Petrus (Bote) 250 Phalaris 333 Philagrius 153 f., 279, 340 Philomathius 92 Philostratus 111 Photius von Sirmium 270 Pilat 257 Placentia 94 Placidius 58, 146 Platon 32, 87, 263 Plinius 23, 35, 75, 111, 113, 114, 118, 168, 228, 287, 291, 294, 298 Polemius 202 Polybius 42 Pontius Leontius 95, 255, 260, 274 f. Poseidon 61 Poseidonius 40, 189 Potentinus 77, 126, 176 Pragmatius 151 Principius 223–224 Probus 87, 88, 115, 133 f., 147 f., 151 Prosper von Aquitanien 51 Prudentius 141 Pylos 31 Pyrenäen 258 Quintilian 147

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Register

Radagaisus 46 Ragnahilda 149–151, 238 Ravenna 59, 152 f., 225, 226, 308, 356 Rhein 51 f., 58, 148 Riothamus 173, 174, 184, 328, 336–340, 371, 374, 376 Rhône 166, 179, 226 Fl. Rikimer, 58 f., 95, 104, 139, 329, 337 Rimini 240, 267 Riochatus 263 Riotamo ▷ s. Riothamus Rodez 211 Rom 1 f., 4, 7, 16, 33 f., 40, 42, 45–47, 54 f., 57, 58 f., 65, 70, 82, 94, 96–98, 99, 103, 105, 114, 137 f., 157, 171, 172, 186, 189, 193, 195 f., 208, 220, 225 f., 240, 244, 256, 287, 297, 299–303, 304, 307, 325–328, 334, 337, 341, 354, 360 f. Roma (Göttin) 139, 299, 303 Romulus Augustulus 59 f., 302 f. Rubicon 240 Ruricius von Limoges 60, 71, 73, 76 f., 82, 84, 123, 134, 141, 146 f., 263, 343, 372 f. Rusticus 193 Rutilius Namantius 299 Saint Paulien 211 Saintes 183 Sallust 86, 355 Salvian von Marseille 42, 46, 315 Sanherib 314 f. Saragossa 256 Sardanapal 194 f. Schwarzes Meer 43 Secundinus 177, 204, 230 Seneca 101 Septimanien 166, 231 Seronatus 105 f., 114, 193, 250, 327, 344, 353–359, 361–366, 375, 379 Serranus 193–195 Servandus 97 Sigismer 157–160, 174, 201 Silius Italicus 226, 245

Simplicius 64, 127–130, 162, 198, 211 f., 219 f., 254, 268, 371 Sirmium ▷ s. Photius von Sirmium Sizilien 357 Sokrates 32, 87 Solon 349 f. Spanien 53, 108, 148, 225, 256, 258, 299 Speusipp 363 Stilicho 34, 46, 52 f. Strabon 31 Strasbourg 341 Sueton 72, 283 f., 290, 294 Sulla 194 f. Sulpicius Severus 294 Syagrius 346–353, 375, 377 Symmachus 23, 62, 73, 75, 87, 88, 111, 113, 343 Syria 37 Tacitus 35, 36 f., 40, 42, 156, 371 Tanaquil 333–335 Tarquinii 334 Tarquinius 333 f. Tatian 45 Telemachos 60, 61 Terenz 86, 124 Tertullian 8 Tetradius 340 Thalien 323 Thaumastus 160, 161, 175, 198, 203 f., 357 Theoderich der Große 51, 59 Theoderich I. +57, 93, 299 ▷ s. a. Theoderid Theoderich II. 5, 57, 93, 94, 95, 96, 150, 155 f., 165, 173 f., 186, 277, 280–296, 298, 302–308, 311, 313, 317 f., 320, 325–329, 336, 340, 357, 371, 373 f. Theoderid 57 ▷ s. a. Theoderich I. Theodosius 45, 52, 53, 357 Thespiä 202 Thorismund 57, 93 Thrasamund 280

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Stellenregister

Tiber, 238, 325, 327, 342–344 Titus Tatius 302 Tityrus 323 f., 326 Tomis 43 Torquatus 196 Toul 341 Toulouse 59, 151, 243, 292, 301–303, 320, 362 f. Trajan 94, 282, 299, 301 Trier 46, 65, 66, 339, 341, 343 Troja 105 Troyes 341, 342 Trygetius 255–260 Tullius 202, 253 Ulfila 267 Vaison 330 f. Valentinian II. 267, 341 Valentinian III. 57 f., 89, 91, 93, 300 f. Valerian 52

Vallia 55 Vasatium 256 f. Velleius Paterculus 35 Venantius Fortunatus 19, 188, 280 Venus 150, 159 Vercingetorix 244 Vergil 35, 60–61, 86, 93, 107, 225 f., 298, 303, 324 f., 348, 365 Verres 35, 44, 357–359 Vettius 282 Victorius 277 Vienne 65, 179, 203, 240 f., 330 ▷ s. a. Avitus von Vivienne Vincentius 98, 164, 359 Vitruv 40 Vittelius 333 Viventiolus 76 Vouillé 60 Zenon 59

Stellenregister Antike Autoren AE AE 1991, 01378 = AE 2011, 01142 = ZPE87–137 ▷ 41 Alc. Avit. carm. 4,90 ▷ 61 Alc. Avit. epist. 7,3 (= 10 Peiper) ▷ 187 26,5 (= 29 Peiper) ▷ 135 27 (= 30 Peiper) ▷ 373 27,9 (= 30 Peiper) ▷ 135 30,1 (= 34 Peiper) ▷ 252 33 (= 37 Peiper) ▷ 192, 265 33,1 f. (= 37 Peiper) ▷ 60 42,11 (= 46 Peiper) ▷ 47 48 (= 51 Peiper) ▷ 84, 134

439

48,9 (= 51 Peiper) ▷ 72 49 (= 52 Peiper) ▷ 84 54 (= 57 Peiper) ▷ 77 54,1 (= 57 Peiper) ▷ 76 75,21–22 (= 79 Peiper) ▷ 192 Amm. 2,12,25 ▷ 36 15,12,1 ▷ 37 18,2,18 ▷ 171 21,10,8 ▷ 36 28,4,6–27 ▷ 62 31,2,1 ▷ 171 31,2,1–31,2,11 ▷ 39 31,2,2 ▷ 38 31,2,3 ▷ 39 31,2,2.3.5.6 ▷ 155

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Register

31,2,4 ▷ 39 31,2,8–9 ▷ 39 31,2,10 ▷ 39 31,2,11 ▷ 39 31,2,21 ▷ 40 31,5,3 ▷ 38 31,7,8–9 ▷ 38 31,9,1–5 ▷ 38 31,15,2–4 ▷ 38 Ar. V. 5,370 ▷ 124 Arist. Pol. 7,7 1327 b 21 ▷ 40, 189 Aug. civ. 17,19 ▷ 47

Chron. Gall. chron. I 138 ▷ 49, 238 522 ▷ 307 649 ▷ 307 Codex Euricianus ▷ 320 Cod. Theod. 9,1,1 ▷ 73 14,1,1 ▷ 71 14,9,1 ▷ 89 16,1,2 ▷ 267 16,4,1 ▷ 267 16,5,6 ▷ 267 16,14 ▷ 267 CIL CIL 13, 08274 = SFG Koeln 00012 = AE 1889, 00065 = AE 1953, 00273 ▷ 41

Aur. Vict. Caes. 13,2,8 ▷ 301 24, 9–11 ▷ 36 27,1 ▷ 73

Cic. Catil. 4,15 ▷ 105

Auspic. ad Arbog. 41 ▷ 341 Caes. BG 1,1,3 ▷ 42 4,16–19  ▷ 148 6,25 ▷ 189 7,4,3–10 ▷ 38, 169 Cassiod. chron. 158,1287 ▷ 97 Cass. Dio 62,7,1 ▷ 185 77,17,1–4 ▷ 294 Cassiod. var. Praefatio 1,14 ▷ 62

Cic. de orat. 2,85 ▷ 147 Cic. div. 2,80 ▷ 38 Cic. fin. 2,49 ▷ 34 Cic. Flacc. 16,37 ▷ 73 Cic. off. 1,38,4 ▷ 34 Cic. Phil. 3,15 ▷ 44, 357 Cic. rep. 1,58 ▷ 34

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Stellenregister

Cic. Rhet. Her. 4,12 ▷ 35

2,22 ▷ 108 2,23 ▷ 109, 110 2,24 ▷ 167 2,28 ▷ 330 4,46 ▷ 61 10,9 ▷ 192

Cic. Verr. 2,2,40 ▷ 44 2,4,112 ▷ 36, 140 Clem. Al. Strom 2,2,5 ▷ 45 Constantivs vita Germ. 22 ▷ 63 Demetr. Eloc. 227 ▷ 74, 117 294 ▷ 294

Hier. epist. 60,4 ▷ 47 108,1,1 ▷ 63 123 ▷ 51 123,15 ▷ 57 125 ▷ 51 125,6,1 ▷ 70 Hier. vir. ill. ▷ 92

D.S. 5,28–32 ▷ 155 19,32–36 ▷ 14

Hier. in Ezech. 75,3 ▷ 54 Hist. Aug. Hadr. 12,6 ▷ 41

Ennod. carm. 2,57–59 ▷ 155 Ennod. vit. Antonii (= opusc. 4) 13 ▷ 185 Ennod. vit. Epiph. 91 ▷ 105

Hist. Aug. quatt. tyr. 7,1 ▷ 66 Hom. IL 2,867 ▷ 31

Eucher. epist. ad Val. 714B ▷ 52 722C–D ▷ 52 724C–725C ▷ 52

Hom. Od. 3,30–74 ▷ 61 3,71 ▷ 60 3,346–476 ▷ 61 21,404–410 ▷ 288

Eus. h. e. 6,19,17 ▷ 44

Hor. carm. 3,24 ▷ 42

Greg. Tur. HF 2,7 ▷ 57 2,18 ▷ 337 2,21 ▷ 93 2,25 ▷ 106, 276

Hdt. 1, Proöm ▷ 31 4,2 ▷ 148 4,11 ▷ 152 4,19 ▷ 152

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Register

4,17 ▷ 31 4,4–82 ▷ 31 4,46 ▷ 32 4,59–63 ▷ 31 4,59–82 ▷ 31 4,64 f. ▷ 31 4,65–82 ▷ 31 4,76 ▷ 32 4,103–113 ▷ 31 4,127 ▷  31

33 ▷ 53 35–48 ▷ 53 44,231 ▷ 329 45,237 ▷ 337 45,237 ▷ 339 45,238 ▷ 103 47,244 ▷ 325 56 ▷ 53 57,244 ▷ 108 58 ▷ 53

Hor. carm. 3,24,11 ▷ 42 3,5,33 ▷ 34 4,4,49 ▷ 34

Isid. Goth. 19 chron. II ▷ 183 23 chron. II ▷ 55 30 chron. II ▷ 93 30–33 chron. II ▷ 280 34 chron. II ▷ 96

Hor. epist. 2,1,156–157 ▷ 34 Hor. sat. 1–5 ▷ 149 2,8,77 ▷ 331 Hp. Aër. 1 ▷ 40 12 ▷ 40 16 ▷ 40 17 ▷ 39 Hyd. chron. 163 ▷ 94 166 ▷ 56 173 ▷ 56 211 ▷ 59 238 ▷ 307 IGA 112 ▷ 31 Iord. Get. 1,9 ▷ 227 24,122 ▷ 141 30 ▷ 53

Isid. orig. 9,2,100 ▷ 182 Isoc. 4,15–4,23 ▷ 32 Iul. Vict. rhet. 27 ▷ 191 Iuv. 1,15 ▷ 143, 243 4,1 ▷ 243 9,15 ▷ 284 Liv. 1,14,1–3 ▷ 302 1,34 ▷ 334 21,4,4–8 ▷ 42 21,4,9 ▷ 34 21,44,5–7 ▷ 43 22,3 ▷ 169 28,23,2.3 ▷ 38 28,22–23 ▷ 38 30,30,27 ▷ 34

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Stellenregister

Lucan. 1,4–7 ▷ 313 1,250 f. ▷ 241 1,258 ▷ 241 1,427 ▷ 244 1,486–489 ▷ 241 1,584 f. ▷ 242 3,247 ▷ 246 4,412–414 ▷ 247 7,317 ▷ 246 9,347–365 ▷ 259 9,379–510 ▷ 259

Ov. trist. 1,1,39–42 ▷ 107 1,2,31–34 ▷ 43 5,1,45–46 ▷ 148 5,10,37 ▷ 43

Pacatus rhetor Paneg. Theodosia Augusto 5,2 (= XII Paneg. Lat. 93) ▷ 182

Macr. sat. 1,17,67 ▷ 364

Paul. Pell. euch. 72–74 ▷ 85

Malch. frg. 14 ▷ 59

Paul. Diac. hist. rom. 15,2 ▷ 97

Nep. Hann. 23,1,1 ▷ 42 23,13,1 ▷ 42

Plb. 2,36,3 ▷ 42 3,81,10–12 ▷ 42 9,22,1 ▷ 42

Ov. Pont. 1,2,13 ▷ 181

Olymp. fr. 13,1–2 ▷ 53 Orient. Comm. 2,161–172 ▷ 51 2,163–184 ▷ 51, 57 Oros. hist. 1, Prolog ▷ 45 1,2 ▷ 45 1,2,15 ▷ 37 1,2,23 ▷ 37 1,4,2 ▷ 45 3,6,1 ▷ 45 3,14,10 ▷ 45 4,1,6 ▷ 45 7,32,10 ▷ 182 7,37,8–9 ▷ 46 7,38,1 ▷ 34

Plin. epist. 1,19 ▷ 291 2,17 ▷ 228 2,9 ▷ 228 3,1 ▷ 287 5,6 ▷ 228 8,20 ▷ 228 Plin. nat. 2,67 ▷ 364 16,16 ▷ 189 Plin. Paneg. 9 ▷ 168 Pl. Mx 236d–245d ▷ 32

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443

444

Register

Plu. Dem. 847 ▷ 176

2,26,11–13 ▷ 373 2,27 ▷ 84

Procop. Vand. 1,2 ▷ 53

Sall. Cat. 22,1 ▷ 355

Prosp. chron. I 1371 ▷ 93

Sall. hist. 4,69,5 ▷ 43

Prud. c. Symm 2,816 f. ▷ 141, 345

Salv. gub. 1,4,17 ▷ 46 15,4 ▷ 42

Ps. Ambr. dign. sacerd. 4 ▷ 161 Ptol. geog. 2,11,16 ▷ 182 Quint. inst. 1,5,6–8 ▷ 35 2,15,33 ▷ 147 9,2,66 ▷ 191 Rur. epist. 1,3 ▷ 141 1,3,5 f. ▷ 76 1,4 ▷ 72 1,4 ▷ 141 1,5 ▷ 141 1,5,3 ▷ 71 1,5,3 ▷ 77 1,5,3 ▷ 263 1,6 ▷ 72 1,8 ▷ 72, 84 1,9 ▷ 84 1,11 ▷ 373 1,12 ▷ 123 1,12,2 ▷ 146 1,16 ▷ 84 2,13,1 ▷ 60 2,15 ▷ 134 2,24 ▷ 77 f. 2,26 ▷ 84

Sen. epist. 17,7 ▷ 247 Sidon. carm. 2 ▷  96 2,337 ▷ 344 2,377–386 ▷ 139 4 ▷ 324 5 ▷ 95 5,197 ▷ 344 5,238 ▷ 160 5,351–369 ▷ 65 5,562 f. ▷ 139, 156 7 ▷ 94, 163, 296, 298 f., 300, 305, 311 7, 577–579 ▷ 94 7,114–118 ▷ 139 7,115–117 ▷ 301 7,116–118 ▷ 299 7,214–220 ▷ 299 7,219 ▷ 156 7,219 ▷ 299 7,223–225 ▷ 299 7,260 ▷ 246 7,298 ▷ 300 7,299–315 ▷ 299 7,302 f. ▷ 299 7,303 ▷ 300 7,303 ▷ 307 7,342 f. ▷ 300 7,348 ▷ 300

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Stellenregister

7,349 ▷ 156 7,349 ▷ 302 7,353 ▷ 302 7,358–375 ▷ 58 7,361–363 ▷ 160 7,361–368 ▷ 300 7,362 ▷ 139 7,363 ▷ 139 7,363 ▷ 311 7,369–371 ▷ 182 7,388–402 ▷ 58 7,392 ▷ 139, 302 7,399 ▷ 300 7,416 ▷ 302 7,426 ▷ 172 7,426 ▷ 300 7,431 ▷ 300 7,435‒438 ▷ 302 7,45–115 ▷ 299 7,454‒457 ▷ 158 7,456 ▷ 156 7,495–498 ▷ 286, 307 7,495–499 ▷ 93 7,495–506 ▷ 303 7,497 ▷ 295 7,504 ▷ 303 7,511 ▷ 303 7,548 ▷ 139 7,548 ▷ 300 8,8 ▷ 94 9,9 ▷ 297 11 ▷ 76 12 ▷ 95, 336 12,15 f. ▷ 344 12,156–158 ▷ 163 16 ▷ 86, 297, 384, 423 20,1 ▷ 85 22 ▷ 255 23 ▷ 296, 304–307, 325 f., 328 23, 69–73 ▷ 304 23,20–31 ▷ 304 23,71 ▷ 307

Sidon. epist. 1,1 ▷ 111, 113 1,1,1 ▷ 120, 342 1,11 ▷ 113, 226, 373 1,11,5 ▷ 61 1,2 ▷ 163, 277, 296, 298, 307 1,2,1 ▷ 281 1,2,10 ▷ 39, 117, 293, 378 1,2,2 ▷ 283 1,2,3 ▷ 284 f. 1,2,4 ▷ 155 f., 165, 174, 287 f. 1,2,5 ▷ 288 1,2,5–10 ▷ 287 1,2,6 ▷ 289 f. 1,2,7 ▷ 291 1,2,8 ▷ 291 f. 1,2,9 ▷ 292 1,3,1 ▷ 89, 92 1,3,1 ▷ 89, 92 1,3,2 ▷ 87, 93 1,3,2 ▷ 87, 93 1,5,1 ▷ 226 1,5,2–9 ▷ 225 1,5,9 ▷ 96, 225 1,6,2 ▷ 121, 137, 226 1,6,2 ▷ 121, 137, 226 1,6,2 ▷ 226 1,6,3 ▷ 123 1,7 ▷ 229 1,7,1 ▷ 97 1,7,2 ▷ 99 1,7,3 ▷ 359 1,7,5 ▷ 219, 308, 360 1,7,6 ▷ 98, 164 1,7,7 ▷ 165, 360 1,8 ▷ 225 1,8,2 ▷ 152, 356 1,9,1 ▷ 121 1,9,6.8 ▷ 96 2,1 ▷ 192 f., 344, 354, 362 2,1,1 ▷ 193, 354 f. 2,1,2 ▷ 356, 361 2,1,3 ▷ 357 f., 364

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445

446

Register

2,1,4 ▷ 103, 361 2,2 ▷ 188, 192 2,2,1 ▷ 227, 238 2,2,15 ▷ 354 2,2,19 ▷ 228 2,2,3 ▷ 228 2,2,4–15 ▷ 228 2,3 ▷ 192, 199 2,3,1 ▷ 342 2,3,2 ▷ 238 2,4 ▷ 192 2,4 f. ▷ 182 2,4,1 ▷ 121 2,6 ▷ 192 2,7 ▷ 192 2,7 f. ▷ 182 2,9 ▷ 188, 192, 229 2,9 f. ▷ 182 2,9,1 ▷ 230 2,9,3–9 ▷ 230 2,10 ▷ 192 2,10,1 ▷ 71, 142, 329, 345 f., 348 2,10,2 ▷ 230 2,10,3 ▷ 86, 230 2,11 ▷ 192 2,11,1 ▷ 193 2,11,2 ▷ 193 2,12 ▷ 192 2,13 ▷ 192 2,13,1 ▷ 194 2,13,2 ▷ 194 2,13,3 ▷ 194 2,13,4 ▷ 194 2,13,6–8 ▷ 194 2,13,8 ▷ 194 2,14 ▷ 192 3,1 ▷ 70, 208 3,1 ▷ 70, 208, 230, 235 3,1,1 ▷ 121, 165, 236 3,1,1 ▷ 121, 165, 236 3,1,2 ▷ 165, 230, 236 3,1,2 f. ▷ 165, 230 3,1,4 ▷ 165, 212, 230, 244

3,1,5 ▷ 103, 166, 174, 179 3,2 ▷ 231 f., 235 f. 3,2 f. ▷ 248 3,2 f. ▷ 248 f. 3,2 f. ▷ 265 3,2,1 ▷ 167, 214, 236 3,2,3 ▷ 121, 236 3,2,4 ▷ 168 3,3 ▷ 143, 167, 354 3,3,1 ▷ 122, 236 3,3,1 ▷ 144, 236 3,3,2 ▷ 144, 235 3,3,3 ▷ 145, 167, 214, 235 f. 3,3,5 ▷ 168 3,3,7 ▷ 104, 168 f., 234 3,3,7 ▷ 104, 168 f., 234 3,3,8 ▷ 170, 174 3,3,9 ▷ 143 3,4,1 ▷ 171, 219, 252, 277 3,4,2 ▷ 192 3,5 ▷ 172, 229 3,5,2 ▷ 172 f. 3,6,1 ▷ 45, 121 3,6,3 ▷ 121 3,6,3 ▷ 121 3,7 ▷ 199, 248 3,7,4 ▷ 203, 237 f. 3,8,1 ▷ 196 3,8,2 ▷ 196 3,9 ▷ 173, 338 3,9,1 ▷ 173 f. 3,9,2 ▷ 173 f. 3,10 ▷ 340 3,12 V 16 ▷ 277 3,12,2 ▷ 91 3,12,5 V 1–20 ▷ 89 3,13 ▷ 124, 344 3,13,2 ▷ 125 3,13,5 ▷ 124 3,13,9 ▷ 125 3,14,2 ▷ 146, 237, 345 4,1 ▷ 115, 133 4,1 ▷ 133

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Stellenregister

4,1,1 ▷ 121 4,1,2 ▷ 87 f. 4,1,3 ▷ 87, 147 4,1,4 ▷ 147, 190, 197, 239 4,1,5 ▷ 133 f. 4,2,1 ▷ 192, 197 4,3 ▷ 115 4,3,1 ▷ 146, 342, 345 4,3,3 ▷ 146 4,3,4 ▷ 146 4,3,8 ▷ 379 4,4 ▷ 198 4,4,1 ▷ 121, 198 4,4,2 ▷ 198 4,5 ▷ 199 4,5,2 ▷ 199 4,6 ▷ 198 f., 238 4,6,1 ▷ 199 4,6,2 ▷ 200, 238 f. 4,6,3 ▷ 200 f. 4,6,4 ▷ 199, 201–203, 238 4,7,2 ▷ 135, 238 4,8,1 ▷ 149, 308 4,8,4 ▷ 115 4,8,5 ▷ 149 f. 4,9 ▷ 201 4,9,1 ▷ 282 4,9,2–4 ▷ 127 4,10,1 ▷ 106 4,10,2 ▷ 146 4,11 ▷ 201 4,11,6 V 11 ▷ 270 4,13 ▷ 201 4,13,1 ▷ 238, 285 f. 4,14,1 ▷ 202 4,15 ▷ 201 f., 238 4,15,2 ▷ 202 4,15,3 ▷ 203, 238 4,17 ▷ 341 4,17,1 ▷ 146, 239, 242, 346 4,17,2 ▷ 77, 146, 154, 345 f., 375 4,18,4–6 ▷ 238 4,20 ▷ 157, 163

447

4,20,1 ▷ 157 f., 160 4,20,2 ▷ 157 f., 174 4,20,3 ▷ 159 4,20–25 ▷ 201 4,21 ▷ 238 4,21,5 ▷ 231 4,22 ▷ 359 4,22,3 ▷ 308, 319, 325 4,22,4 ▷ 108, 115 4,22,4 ▷ 108, 115 4,22,5 ▷ 319, 378 4,25 ▷ 344 5,2,1 ▷ 87 5,3,2 ▷ 123 5,5 ▷ 377 5,5,1 ▷ 121, 138, 347 f. 5,5,3 ▷ 138, 146, 152, 349 5,5,4 ▷ 351 5,6 ▷ 161, 219, 329–335 5,6 f. ▷ 219 5,6,1 ▷ 161, 200, 203 f., 238, 248, 330, 358 5,6,2 ▷ 105, 204, 330 f. 5,7 ▷ 119, 161, 329–331, 334, 357 f., 363 5,7,1 ▷ 175, 331 f. 5,7,2 ▷ 175 5,7,3 ▷ 175 5,7,4 ▷ 175 5,7,6 ▷ 176, 333 5,7,6 f. ▷ 331 5,7,7 ▷ 138, 334 5,8,2 ▷ 204 5,8,3 ▷ 177, 204 5,9,1 ▷ 122 5,9,2 ▷ 122 5,9,2 ▷ 91, 122 5,9,3 ▷ 121 f. 5,9,3 ▷ 121 f. 5,9,4 ▷ 71 5,10,1 ▷ 121 5,10,4 ▷ 121, 146, 203, 345 5,11,1 ▷ 123, 126 5,11,1 ▷ 123, 126

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Register

5,11,2 ▷ 126 5,11,3 ▷ 77, 126 5,11,3 ▷ 77, 126 5,12 ▷ 205, 252, 361 5,12,1 ▷ 177, 238, 251, 264, 335 5,13,1 ▷ 238, 362 5,13,1 f.  ▷ 238 5,13,2 ▷ 363 5,13,3 ▷ 364 5,13,4 ▷ 365 5,15 ▷ 72 5,16 ▷ 93, 116, 134, 208, 354 5,16,1 ▷ 354 5,16,3 ▷ 208 5,17,2–4 ▷ 238 5,17,3 ▷ 135 5,17,4 ▷ 238 5,20 ▷ 113 5,20,4 ▷ 238 5,21 ▷ 113 6,2 ▷ 151 6,3 ▷ 177 6,5 ▷ 135, 177, 247 6,5–11 ▷ 177 6,6 ▷ 208 6,6,1 ▷ 177, 208 6,8 ▷ 243, 250 6,10 ▷ 239 f. 6,10,1 ▷ 136, 178, 200, 206, 209, 239 6,10,2 ▷ 239 6,11,1 ▷ 135, 277 6,12 ▷ 269 6,12,3 ▷ 336 6,12,4 ▷ 270 6,12,5 ▷ 178, 239 6,12,9 ▷ 209 7,1 ▷ 259, 273 7,1,1 ▷ 178, 210, 241 7,1,2 ▷ 179, 240 7,1,3 ▷ 242 7,1,4 ▷ 242 7,1,5 ▷ 242 7,1,6 ▷ 135, 179

7,1,7 ▷ 178 7,2 ▷ 113, 243, 250 7,2,1 ▷ 146 7,5 ▷ 179 7,5,1 ▷ 210 7,5,2 ▷ 210 7,5,3 ▷ 104, 179, 211 7,6 ▷ 119, 248, 250, 265, 271, 277, 301, 308, 312, 319 7,6 f. ▷ 248 7,6 f. ▷ 265 7,6,1 ▷ 309, 310 7,6,10 ▷ 217, 274 7,6,2 ▷ 135, 271, 310 7,6,3 ▷ 311 f. 7,6,4 ▷ 56, 313, 328 7,6,5 ▷ 316 7,6,6 ▷ 317 f., 328 7,6,7 ▷ 272, 318 7,6,8 ▷ 272 7,6,9 ▷ 273 f. 7,7 ▷ 119, 242, 249 f. 7,7 ▷ 242, 249 f. 7,7,1 ▷ 212, 243 7,7,2 ▷ 244, 361 7,7,3 ▷ 246 7,7,4 ▷ 245, 319 7,7,5 ▷ 245 7,7,6 ▷ 105, 245 7,8 ▷ 113 7,9 ▷ 100, 162, 212 7,9,16 ▷ 100, 127 7,9,16–22 ▷ 64, 100, 127 7,9,17 ▷ 128 7,9,18 ▷ 362 7,9,19 ▷ 129, 143, 156, 162, 371 7,9,19 ▷ 129, 143, 156, 162, 371 7,9,20 ▷ 162 7,9,21 ▷ 129 7,9,22 ▷ 129 7,9,4 ▷ 238 7,10 ▷ 243, 248, 250, 252 7,10 f. ▷ 248

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7,10 f. ▷ 265 7,10,1 (= 7,11,1 bei Lüthjohann) ▷ 214, 249 7,10,2 (= 7,11,2 bei Lüthjohann) ▷ 249 7,11 ▷ 342 7,11,1 (= 7,10,1) ▷ 251, 264 7,11,1 ▷ 200, 251 f., 264 7,12,3 ▷ 225, 364 7,14 ▷  ▷ 153 7,14,1 ▷ 153 7,14,10 ▷ 1, 139 7,14,10 ▷ 1, 139 7,14,2 ▷ 154 7,14,4 ▷ 39, 279, 374 7,16 ▷ 113, 212, 343 7,16,2 ▷ 238 7,17 ▷ 113 7,18 ▷ 113, 231 7,18,1 ▷ 112, 120 7,18,1 ▷ 112, 120 7,18,2 ▷ 113 7,18,3 ▷ 379 7,18,4 ▷ 113 8,2 ▷ 60, 213, 377 8,2,1 ▷ 200, 253 8,2,2 ▷ 146 8,2,2 ▷ 72, 76, 146 8,3 ▷ 180 8,3 f.  ▷ 222 8,3,1 ▷ 107, 111, 180, 214, 220, 319 8,3,2 ▷ 180, 213, 349 8,3,3 ▷ 181, 308, 319, 320, 325 8,3,4 ▷ 181 8,3,5 ▷ 182 8,4,1 ▷ 215, 230, 304 8,4,2 ▷ 185 8,4,3 ▷ 216 8,6,1 ▷ 182 8,6,11 f. ▷ 182 8,6,13 ▷ 183 8,6,13–16 ▷ 213 8,6,14 ▷ 184, 200 8,6,15 ▷ 185, 277

8,6,16 ▷ 186 8,6,2 ▷ 182, 247 8,6,2–10 ▷ 182 8,6,5 ▷ 85, 91 8,6,5 ▷ 85, 91 8,7,1 ▷ 121 8,7,1–3 ▷ 121 8,8 ▷ 216 8,8,1 ▷ 352 8,8,2 ▷ 352 8,8,3 ▷ 351 8,9 ▷ 359 8,9,1 ▷ 321 8,9,2 ▷ 107, 322 8,9,3 ▷ 322 8,9,4 ▷ 322 8,9,4 V 21–35 ▷ 163 8,9,5 ▷ 323 8,9,5 V 1–18 ▷ 323 8,9,5 V 19 ▷ 324 8,9,5 V 21–27 ▷ 325 8,9,5 V 28–31 ▷ 325 8,9,5 V 32–35 ▷ 325 8,9,5 V 35 ▷ 325 8,9,5 V 36 ▷ 325 8,9,5 V 36–38 ▷ 325 8,9,5 V 36–39 ▷ 325 8,9,5 V 37 f. ▷ 325 8,9,5 V 39–44 ▷ 325 8,9,5 V 45–47 ▷ 325 8,9,5 V 48–51 ▷ 325 8,9,5 V 55–59 ▷ 326 8,9,5 V 21–35 ▷ 163 8,9,5 V 58–59 ▷ 107 8,10,1 ▷ 146 8,10,2 ▷ 110 8,11 ▷ 120 8,11,5 ▷ 146 8,11,9 ▷ 189 8,12 ▷ 255 8,12,1 ▷ 238, 257 8,12,2 ▷ 256, 258 8,12,3 ▷ 258

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449

450

Register

8,12,4 ▷ 238, 259 f. 8,12,5 ▷ 260 8,12,6 ▷ 260 8,12,7 ▷ 255 8,12,8 ▷ 260 8,13,3 ▷ 277 8,16 ▷ 113, 231 9,3 ▷ 217, 222 9,3,1 ▷ 127 9,3,2 ▷ 219 9,3,3 ▷ 106, 181, 356 9,3,4 ▷ 221 9,3,5 ▷ 221 9,4 ▷ 113, 243 9,4,1 ▷ 261 9,4,2 ▷ 223, 261 9,4,3 ▷ 224 9,5 ▷ 221 9,5,1 ▷ 192, 335 9,7,1 ▷ 297 9,7,4 ▷ 146 9,8,1 f. ▷ 223 9,8,2 ▷ 224 9,9 ▷ 252, 262, 297 9,9,12 ▷ 263 9,9,1–3 ▷ 262 9,9,14 ▷ 263 9,9,5 ▷ 262 9,9,6 ▷ 251, 263 9,9,6–11 ▷ 263 9,11,13 ▷ 327 9,12,1 ▷ 120, 146 9,12,1 ▷ 120, 146 9,14,2 ▷ 68 9,16 ▷ 113, 401 9,16,2 ▷ 238 9,16,3 ▷ 94 9,17 ▷ 116 Sil. 11,173–182 ▷ 245

Stat. eccl. Ant. (Canones) 93, Nr. 82 ▷ 268 Str. 6,4,1 ▷ 189 7,1,5 ▷ 189 Suet. Caes. 68,2  ▷ 247 Suet. gramm. 4,1 ▷ 72 Suet. Iul. 32 ▷ 200 45 ▷ 284 Sulp. Sev. Mart. 6,5 ▷ 247 Symm. epist. 1,2,5 ▷ 62 1,2,5 ▷ 62, 115 1,3,2 ▷ 87 2,6 ▷ 203 3,14,1 ▷ 122 3,43,1 ▷ 122 Tac. Agr. 30,6–7 ▷ 43 Tac. Ann. 1,61,3 ▷ 185 Tac. Germ. 1,4 ▷ 37 5,1–3 ▷ 40 9,1 ▷ 44 17,2 ▷ 156 Tat. or. 42,1 ▷ 45

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Stellenregister

Tert. De Pallio 4,1 ▷ 8

Vict. Vit. 1,1,3 ▷ 39 2,9 ▷ 104

Veg. mil. 1,15,20 ▷ 44

Vita Bibiani 7 ▷ 182

Vell. 2,117,3 ▷ 35

Vitae patr. Iurens. 2,10,3–4 ▷ 332 2,10,10–12 ▷ 329

Verg. Aen. 1,279 ▷ 18 4,62 ▷ 246 6,853 ▷ 18 8,114 ▷ 60 8,722 ▷ 36, 141 8,722–723  ▷ 36 9,59–61 ▷ 311

Vitr. 2,1,5 ▷ 233 6,1 f. ▷ 189 6,1,3 ▷ 40 6,1,11 ▷ 40 Zos. 6,2,2–3,1 ▷ 53 6,3,1 ▷ 51

Verg. georg. 1 ▷ 321 1,491 ▷ 246 Biblische Schriften AT 2 Chr 32,1–3 ▷ 314 2 Kön 18,13 ▷ 315 2 Sam 10,1–5 ▷ 104 Ex 2,23–25 ▷ 314 Ez 34,5 ▷ 311 Ios. 9,18–23 ▷ 224 Ios. 9,3–15 ▷ 224 Jer 1–52 ▷ 314 Jer 21,10 ▷ 315 Jer 23,3 ▷ 315

Jes. 34,6 ▷ 246 Jon 2,1 ▷ 363 NT Apg 14,22 ▷ 225 Ioh 10,1–17 ▷ 311 Lk 16,19–25 ▷ 314 Lk 2,10 ▷ 101, 109 Lk 5,10–11 ▷ 270 Mt 15,7 ▷ 311 Mt. 12,40 ▷ 363

© 2022, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11906-1 - ISBN E-Book: 978-3-447-39320-1

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