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German Pages 546 Year 2023
Nadine Sylla Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Postcolonial Studies Band 47
Editorial Die Postkoloniale Forschung hat die Kritik am Kolonialismus in der Geschichte sowie dessen Erbe in der Gegenwart auf das politische und wissenschaftliche Tableau gebracht. Die damit zusammenhängende Theoriebildung zeigt nicht zuletzt die tiefe Verstrickung europäischer Wissenschaft mit der Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus auf. Längst interveniert die postkoloniale Kritik auch in politische und öffentliche Diskussionen gegen das Vergessen der kolonialen Vergangenheit und regt wichtige Debatten etwa zum gesellschaftspolitischen Umgang damit an. Die Reihe Postcolonial Studies bietet diesen Diskussionen einen eigenen editorischen Raum, unabhängig von disziplinaren Grenzen.
Nadine Sylla, geb. 1988, ist als Diversity-Trainerin bei Eine Welt der Vielfalt e.V. tätig und arbeitet und lehrt in der Sozialen Arbeit. Sie promovierte am Institut für Migrationsforschung der Universität Osnabrück. Ihre Schwerpunkte sind Migration, Rassismus, postkoloniale Theorie und diskriminierungskritische Soziale Arbeit sowie Hochschulentwicklung.
Nadine Sylla
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen Mediale Diskurse über Asyl in der Bundesrepublik 1977-1999
Dissertation unter gleichnamigem Titel am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück 2023 Gutachter: Prof. Dr. Christoph Rass, apl. Prof. Dr. Jannis Panagiotidis Unterstützt durch die Promotionsförderung des Cusanuswerks
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.
© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466452 Print-ISBN: 978-3-8376-6645-8 PDF-ISBN: 978-3-8394-6645-2 Buchreihen-ISSN: 2703-1233 Buchreihen-eISSN: 2703-1241 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung ................................................................................... 13 1.
Einleitung................................................................................. 15
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand............................27 Sprache – Diskurs – Massenmedien ....................................................... 28 Postkoloniale Perspektiven auf das Eigene und Andere .................................... 35 Rassismustheorie und Rassismuskritik .....................................................47 Reflexive Migrationsforschung in gesellschaftlichen Machtverhältnissen.................... 54 Diskursanalytische Vorgehensweise ........................................................ 61 Entwicklung der Migrationsforschung und aktueller Forschungsstand .......................72
A Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990): »Das Asylrecht wird missbraucht.« 3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs ...................................................... 81 3.1 Kontextualisierung........................................................................ 82 3.1.1 Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz durch den Parlamentarischen Rat ...... 82 3.1.2 Rechtliche Ausgestaltung und Aufnahmepraxis bis in die 1970er Jahre ............... 88 3.1.3 Asylgeschichte der 1970er und 1980er Jahre – Wandel der Migrationsverhältnisse ..... 91 3.2 Beschreibung des Diskurses .............................................................. 95 3.2.1 Die Entstehung und Entwicklung des Diskurses um den Asylmissbrauch .............. 95 3.2.2 Kollektivsymbole im Diskurs über Flucht und Asyl ................................... 99 3.2.3 Der Begriff Asylant, seine »biologische Spur« und Funktion im Diskurs .............. 101 3.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und der SZ ...................................104 3.3 Das Eigene ...............................................................................105 3.3.1 Asylmissbrauch im Wirtschaftswunderland ..........................................105 3.3.2 Das Grundrecht auf Asyl ............................................................108 3.3.3 Rechtsstaatlichkeit................................................................. 112 3.3.4 Folgen des Asylmissbrauchs in den Kommunen, Behörden und Gerichten............. 115
3.4 Das Andere ............................................................................... 121 3.4.1 Bezeichnungen und Kollektivsymbole ............................................... 121 3.4.2 Außereuropäische Herkunft ........................................................124 3.4.3 Pakistani als Prototyp des Asylmissbrauchs .........................................129 3.4.4 Ausländerfeindlichkeit aufgrund von Asylmissbrauch .................................132 3.5 Fazit .....................................................................................135 4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen....................139 4.1 Kontextualisierung ....................................................................... 141 4.1.1 Fluchtbewegungen aus Vietnam .................................................... 141 4.1.2 Aufnahme in die Bundesrepublik....................................................143 4.1.3 Das Engagement des Komitees Cap Anamur.........................................146 4.2 Beschreibung des Diskurses ..............................................................149 4.2.1 Das Deutungsmuster der Großzügigkeit .............................................149 4.2.2 Der Begriff Boat People und seine Funktion im Diskurs ..............................153 4.2.3 Zuschreibungen im antiasiatischen Rassismus ......................................154 4.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ ....................................... 157 4.3 Konstruktionen des Eigenen ..............................................................158 4.3.1 Integration als staatlich organisierter Vier-Stufen-Plan ..............................158 4.3.2 Hilfsbereitschaft der Bevölkerung als Naturereignis ................................. 161 4.3.3 Radikale Humanität und die Grenzen der Aufnahmebereitschaft .....................165 4.3.4 Der Brandanschlag in Hamburg und die Dethematisierung rassistischer Gewalt ......169 4.4 Konstruktionen des Anderen .............................................................. 171 4.4.1 Auf der Flucht: In Lebensgefahr, aber auch politisch verfolgt? ....................... 171 4.4.2 Bei der Ankunft: vom Elend gezeichnet ............................................. 175 4.4.3 Im Ankommen: integrationswillig – undankbar – wiedergeboren ...................... 178 4.5 Fazit .....................................................................................183 5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin ..........................................185 5.1 Kontextualisierung........................................................................186 5.1.1 Ausländerpolitik in den 1980er Jahren und die Asylmigration nach Westberlin ........186 5.1.2 Geschichte und symbolische Bedeutung Berlins .....................................190 5.2 Beschreibung des Diskurses ..............................................................193 5.2.1 Charakteristika des Asyldiskurses ..................................................193 5.2.2 Das Eigene und Andere im deutsch-deutschen Verhältnis............................194 5.2.3 Überblick über den Diskurs in der FAZ und der SZ ...................................199 5.3 Das Eigene ...............................................................................199 5.3.1 Weit offenes Zufluchtsland, Wohlstand und Menschenrechte .........................199 5.3.2 Die bundesdeutsche Sorge um Westberlin und der pragmatische Umgang vor Ort ................................................................... 202 5.3.3 (Schein-)Zauberwort Grundgesetzänderung ........................................ 205 5.3.4 Kommunikationsregeln im »Asylantenwahlkampf« .................................. 210 5.4 Das Andere ............................................................................... 214 5.4.1 Das Asylantenproblem bzw. die Asylantenfrage...................................... 214 5.4.2 Asylanten mit außereuropäischer Herkunft .......................................... 217
5.4.3 Iranische Flüchtlinge als Asylaspiranten, Folteropfer oder politische Subjekte ....... 222 5.4.4 Die DDR als Anderes und die Belastung des deutsch-deutschen Verhältnisses ....... 226 5.5 Fazit .....................................................................................231
B Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung (1991–1993): »Deutschland im Staatsnotstand. Der innere Friede ist bedroht.« 6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt ......................... 237 6.1 Kontextualisierung....................................................................... 238 6.1.1 Rassistische Gewalt in der Bundesrepublik 1991 – 1993 ............................. 238 6.1.2 Rassistische Gewalt als ostdeutsches Problem? ................................... 242 6.1.3 Begriffsdefinitionen und Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus: »say their names« .................................................... 245 6.2 Beschreibung des Diskurses ............................................................. 249 6.2.1 Zeitgenössische Diskurse zu Rechtsextremismus und damit verbundene Engführungen .................................................. 249 6.2.2 Die Begriffe Ausländerfeindlichkeit und Rassismus im Diskurs ...................... 253 6.2.3 Gadjé-Rassismus im Kontext von Rostock-Lichtenhagen ............................ 256 6.2.4 Beschreibung des Diskurses in der FAZ und SZ ..................................... 258 6.3 Das Eigene .............................................................................. 259 6.3.1 »Hoyerswerda ist überall« – die Entwicklung der Berichterstattung ................ 259 6.3.2 Ablehnung der Gewalt als ausländerfeindlich ....................................... 262 6.3.3 Ausländerfeindlichkeit als ein Gefühl der Bevölkerung .............................. 265 6.3.4 Gewalt als deutscher Selbsthass ................................................... 268 6.4 Das Andere .............................................................................. 272 6.4.1 Schutzsuchende als die Opfer der Gewalt – eine Leerstelle.......................... 272 6.4.2 Schutzsuchende als Ursache der Gewalt: Asylmissbrauch, Dreck und Kriminalität .... 276 6.4.3 Gewalttäter*innen als Andere ...................................................... 280 6.4.4 Verschiebung von Zugehörigkeiten: »Deutsche Ausländer« ......................... 284 6.5 Fazit .................................................................................... 286 7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation ................... 289 7.1 Kontextualisierung....................................................................... 290 7.1.1 Politische und gesellschaftliche Situation nach der Wiedervereinigung.............. 290 7.1.2 Der Weg zur Grundgesetzänderung................................................. 293 7.1.3 Die Änderungen des Asylgrundrechts .............................................. 298 7.2 Beschreibung des Diskurses ............................................................. 302 7.2.1 Der Diskurs über die Grundgesetzänderung als Schaden für die Demokratie......... 302 7.2.2 Nationale Identität im Dreiecksverhältnis und die Europäisierung des Eigenen ...... 305 7.2.3 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ ...................................... 308 7.3 Das Eigene .............................................................................. 309 7.3.1 Gesellschaftliche Krisensituation, Bedrohung des inneren Friedens und Handlungsdruck .............................................................. 309
7.3.2 Das Eigene zwischen Europäisierung, Flüchtlingskonvention und Nichteinwanderungsland .......................................................313 7.3.3 Verhalten und Umgang der Parteien ................................................316 7.3.4 Kritik und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts .................................319 7.4 Das Andere .............................................................................. 322 7.4.1 Asylmissbrauch, politische Verfolgung und Bekämpfung von Fluchtursachen ........ 322 7.4.2 Sozialhilfe-Missbrauch............................................................. 326 7.4.3 Drittstaaten im Osten als Andere ................................................... 329 7.5 Fazit .................................................................................... 332
C Zurück zu einer (neuen) Ordnung (1994–1999): »Wir helfen, aber nicht allen!« 8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr............. 337 8.1 Kontextualisierung....................................................................... 338 8.1.1 Postjugoslawische Kriege – ethnische oder ethnisierte Konflikte? ................... 338 8.1.2 Die Bedeutung von Ethnizität und ethnischer Homogenität in Jugoslawien und Europa .......................................................... 342 8.1.3 Die Rolle Europas im Konflikt und bei der Flüchtlingsaufnahme ..................... 346 8.1.4 Deutsche Aufnahme- und Rückkehrpolitik.......................................... 349 8.2 Beschreibung des Diskurses ............................................................. 352 8.2.1 Westliche Konstruktionen des Balkans ............................................. 353 8.2.2 Berichterstattung über sexualisierte Gewalt ........................................ 355 8.2.3 Die Konstruktion der Bürgerkriegsflüchtlinge in den deutschen Medien .............. 359 8.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ .......................................361 8.3 Das Eigene .............................................................................. 362 8.3.1 Deutschland als Retter*in in der Not und das Ideal der europäische Lastenteilung... 362 8.3.2 Kriterien, Grenzen und Inszenierungen von Humanität .............................. 366 8.3.3 Unklarheiten hinsichtlich Verantwortungsübernahme und Rechtsstatus ............. 370 8.4 Das Andere .............................................................................. 373 8.4.1 Die Erfahrungen der Anderen in Worte fassen ...................................... 373 8.4.2 Ethnizität als verwirrende Vielfalt und die Gefahren einer multikulturellen Gesellschaft ................................................. 378 8.4.3 Die Entdeckung geschlechtsspezifischer Verfolgung................................ 384 8.4.4 Der Stufenplan der freiwilligen Rückkehr ........................................... 389 8.5 Fazit .................................................................................... 393 9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte ............... 397 9.1 Kontextualisierung....................................................................... 398 9.1.1 Geschichte der Kurd*innen in der Türkei ........................................... 398 9.1.2 Kurd*innen in Deutschland .........................................................401 9.1.3 Umgang mit der PKK in Deutschland ............................................... 405 9.2 Beschreibung des Diskurses ............................................................. 407
9.2.1 Konstruktionen von Kurd*innen als Opfer und Täter*innen.......................... 407 9.2.2 Kirchenasyl als Grundrechtsausübung von Gläubigen ................................ 410 9.2.3 Europäisierung als Kriminalisierung und Versicherheitlichung von Migration ......... 414 9.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ ....................................... 416 9.3 Das Eigene ............................................................................... 416 9.3.1 Der deutsche Rechtsstaat und sein Umgang mit Gewalt.............................. 416 9.3.2 Abschiebestopp als Schutz vor Folter oder als »Fluch der guten Tat« ................ 421 9.3.3 Die EU-Sicherheitsgemeinschaft und die Lösung der Kurdenfrage .................. 425 9.3.4 Kirchenasyl als zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen Abschiebung .............. 429 9.4 Das Andere .............................................................................. 434 9.4.1 Kurdische Flüchtlinge ............................................................. 434 9.4.2 Die Macht der Gewalt(täter*innen) ................................................. 437 9.4.3 Kurd*innen als Folteropfer und politische Subjekte ................................. 442 9.4.4 Herstellung und Verschiebung von Zugehörigkeiten ................................ 445 9.5 Fazit .................................................................................... 449 10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen ..................................... 451 11. Schlussbetrachtung ..................................................................... 461
Anhang Abkürzungsverzeichnis ..................................................................... 487 Literaturverzeichnis ........................................................................ 489
Zusammenfassung/Abstract
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen Mediale Diskurse über Asyl in der Bundesrepublik 1977–1999 Asyldiskurse sind häufig emotional, polarisiert und von Bedrohung gekennzeichnet. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass darin Aushandlungen des Eigenen und Anderen sowie hinsichtlich Solidarität, Zugehörigkeit und Differenz erfolgen. Dabei sagen die Konstruktionen über die Anderen häufig mehr über das Eigene als über die Ankommenden aus. Von dieser Beobachtung ausgehend wird betrachtet, wie in medialen Asyldiskursen das Eigene im Verhältnis zum Anderen konstruiert wird. Anhand eines diskursanalytischen Vorgehens wurden etwa 3000 Zeitungsartikel aus der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung analysiert. Aus den Ergebnissen der Strukturanalyse wurden sieben Fallstudien aus den Jahren 1977 bis 1999 ausgewählt, in denen im Asyldiskurs gesellschaftliche Aushandlungsprozesse erfolgten. Es konnten folgende fünf zentrale Deutungsmuster identifiziert werden: Misstrauen, Großzügigkeit, Selbstschutz, Selbstkritik, Zugehörigkeit. Die Änderung des Asylgrundrechtes stellte ein diskursives Ereignis dar, woraufhin sich die Deutungsmuster grundlegend wandelten. Zwei zentrale Verhältnisse zwischen dem Eigenen und Anderen lassen sich als Retter*in – Opfer und Opfer – Täter*in beschreiben. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge, in legitime und illegitime Fluchtgründe. An die Ergebnisse schließt sich die Frage an, wie Asyldiskurse und Aushandlungen des Eigenen gestaltet werden könnten, ohne auf binäre und hierarchisierende Konstruktionen des Anderen zurückzugreifen. Dafür scheint eine veränderte Wahrnehmung von Zugehörigkeit im Diskus und eine gesellschaftliche Verankerung von Diskriminierungskritik zentral.
The Construction of the Own in Relation to the Other The Discourse on Asylum in the Federal Republic 1977–1999 The discourse on asylum is often emotional, polarized, and characterized by a sense of perceived threat. Among other things, this is due to the fact that they involve negotiations
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
of the self and the other as regards solidarity, belonging, and difference. In this context, the constructions about the other often say more about the own than about the newcomers. Based on this observation, we will look at how the self is constructed in relation to the other in media discourse on asylum. Using a discourse-analytical approach, about 3000 newspaper articles from the Süddeutsche and the Frankfurter Allgemeine Zeitung were analysed. From the results of the structural analysis, seven case studies from the years 1977 to 1999 were selected in which social negotiation processes took place in the asylum discourse. The following five central patterns of interpretation could be identified: Distrust, Generosity, Self-protection, Self-criticism, Belonging. The amendment of the Basic Asylum Act provides a shift in discourse patterns whereupon the patterns of interpretation changed fundamentally. Two central relationships between the self and the other can be described as saviour-victim and victim-perpetrator. This is closely related to the division into genuine and non-genuine refugees, into legitimate and illegitimate reasons for fleeing. The results are accompanied by the question of how asylum discourses and negotiations of the self could be shaped without resorting to binary and hierarchizing constructions of the other. For this, a changed perception of belonging in the discourse and a social anchoring of discrimination critique would seem crucial.
Danksagung
Niemand schreibt alleine – und vor allem geht niemand diesen Weg bis zur Fertigstellung einer Doktorarbeit alleine. Dass ich den ersten Schritt 2016 wagte, verdanke ich meinem Betreuer Prof. Dr. Christoph Rass, der mich bereits in der Begleitung der Masterarbeit immer wieder ermutigte: Und denken Sie nochmal über eine Promotion nach! Ohne ihn wäre ich vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen, diesen Weg für mich in Betracht zu ziehen. Danke für diese Ermutigung und den Glauben in meine Fähigkeiten, der den Grundstein für die gute Zusammenarbeit legte. Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Jannis Panagiotidis, Dr. Sebastian Huhn und den Teilnehmenden des Kolloquiums der Historischen Migrationsforschung, die trotz des Umfangs fast alle Analysen gelesen und mit mir diskutiert haben. Trotz und aufgrund der Interdisziplinarität war dies für mich ein wertvoller Raum für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die Schärfung meines Ansatzes. Dankbar bin ich zudem für die Förderung des Cusanuswerks, die mir finanzielle Unabhängigkeit und damit eine große Freiheit ermöglicht hat. Auf der persönlichen Ebene möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die mich stets bestärkt haben, meinen eigenen Weg zu gehen und bedingungslos hinter mir stehen. Ihr seid das Netz, das mich stets auffängt, wenn ich mal stolpere. Zudem wart ihr die Ersten, die die Arbeit von vorne bis hinten gelesen haben. Dankbar bin ich auch für meine Freundinnen, besonders für Anne, Meike, Ruth, Tasja und Weena, die mich schon lange begleiten und die mich emotional in jeder Lebenslage gestärkt haben. Eine Doktorarbeit mit Kleinkind fertigzuschreiben, war eine Herausforderung, bei der ich die eigenen Bedürfnisse auf Platz 3 verweisen musste. Gleichzeitig relativierte die Zeit mit Ismail alle Sorgen und Fragen, die die Doktorarbeit betrafen. Danke, Ismail, für alle Momente, in denen ich mit dir ganz im Jetzt ankomme und wir über die Welt und ihre vielen Wunder staunen können. Ein großes Dankeschön geht außerdem an meinen Mann, Ibrahim. Du warst meine Kontinuität in einer Zeit, die mit fünf Umzügen in sechs Jahren ganz schön turbulent war. Ohne dich, deine Geduld und Zuversicht und die vielen Stunden, die du mit Ismail spazieren warst und mir Zeit zum Arbeiten ermöglichtest, hätte ich es am Ende nicht geschafft. Bei der Fertigstellung meiner Arbeit denke ich an Christian Herwartz, der mich bei jeder Begegnung nach dem Stand der Arbeit fragte, an mich glaubte und schon im Prozess stolz auf mich war. Ich bedaure sehr, dass ich die Freude der Fertigstellung nicht
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mehr persönlich mit ihm teilen kann. Christian, dir widme ich diese Arbeit. Du hast dein Leben lang das Positive und das Besondere jedes Einzelnen gesehen und dich daran gefreut. Gleichzeitig hast du auf das Leid und die Ungerechtigkeit dieser Welt hingewiesen und nicht aufgehört, an Veränderung und an Menschlichkeit zu glauben. Möge diese Arbeit ihren kleinen Teil dazu beitragen.
1. Einleitung
»Dies ist eine Nation, ein Land, das uns beeindruckt in diesen Tagen, was fleißig ist, was wissbegierig ist, was neugierig ist, das unsere Werte teilt. Deswegen verstehe ich, dass die Willkommenskultur bei uns hier in Deutschland, aber auch in Polen und Ungarn, eine ganz andere ist als bei früheren Flüchtlingskrisen.«1 »Kriegsflüchtlinge unterschieden sich ebenso wie die Aussiedler günstig von den meisten Asylbewerbern. Die meisten Vertriebenen wollten so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren, außerdem seien sie willens, sich selbst zu helfen, sich Arbeit zu suchen und sich um ihre Kinder zu kümmern. Auf die meisten Asylbewerber treffe das nicht zu.«2 In der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine wurde anschaulich deutlich, wie in Diskursen über Flucht und Asyl Zugehörigkeit und Solidarität verhandelt wird. Schutzsuchende Menschen wurden abhängig von rassifizierenden Merkmalen entlang von Nationalität, Kultur und Religion als legitime oder illegitime Flüchtlinge3 kategorisiert. Die Einteilung und Kategorisierung von geflüchteten Menschen ist keine neue Entwicklung und sie hat stets Einfluss auf Bleiberechts- und Teilhabechancen in Deutschland. Während das erste Zitat sich auf geflüchtete Menschen aus der Ukraine bezieht, geht es im zweiten Zitat um bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge Anfang der 1990er Jahre. Die Kritik an der Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge war 2022 jedoch wesentlich stärker ausgeprägt. Zum anderen wird im ersten Zitat deutlich, dass die Konstruktion von Schutzsuchenden sich im Verhältnis und in Bezug auf das eigene Selbstverständnis entwickelt. Die Deutschen und die Ukrainer*innen teilen gemeinsame Werte und seien, so lässt sich schlussfolgern, beide fleißig, wissbegierig und neugierig. Die Zuschreibungen erinnern
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Ein Gast bei der RTL-Sendung Stern TV. Zitiert in: Mohamed Amjahid, »Westeuropa und seine Grenzen: Ein widersprüchliches Selbstbild.« Taz, die Tageszeitung, 13.03.2022. Karl Feldmeyer, »Benrath fordert zügige Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.1992. Die Begriffe legitim – illegitim und echt – unecht werden hier als Analysekategorien verwendet, um die im Diskurs vorgenommenen Einteilungen zu benennen.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
an koloniale Diskurse, in dem der Westen als rational, diszipliniert und entwickelt/innovativ konstruiert wird und Menschen in den kolonialisierten Gebieten als ungebildet, faul, nachahmend und unstrukturiert.4 Diskurse über Migration und in diesem Fall Flucht und Asyl beinhalten somit nicht nur Aussagen über die Anderen, sondern auch über das Eigene und die eigenen Identitätskonstruktionen im Verhältnis zu Anderen. Die enge Verknüpfung mit dem Eigenen soll nun beispielhaft verdeutlicht werden: »Die Bundesrepublik ist das einzige Land der Welt, das in seiner Verfassung ein Grundrecht auf Asyl für Verfolgte proklamiert.«5 »Das Asylrecht sollte, solange das Grundgesetz überhaupt gilt, von Stimmungslagen und politischen Wechselfällen nicht berührt werden, sollte ein absolutes Grundrecht sein. Damit sollte sich die Bundesrepublik nach dem verheerenden politischen und moralischen Zusammenbruch des Dritten Reiches unter die Staaten einreihen, die durch Asylgewährung für politisch Verfolgte einen aktiven Beitrag zur Verteidigung von Menschenrechten und Menschenwürde leisten. Eine Dankesschuld sollte abgetragen werden, indem die Bundesrepublik künftigen Flüchtlingen Asyl etwas großzügiger als andere Staaten gewähren würde.«6 Asylgewährung beinhaltet in beiden Zitaten eine besondere Verknüpfung zur Konstruktion des Eigenen. Zum einen wird es verbunden mit einem Selbstbild, welches sich durch Humanität, Demokratie, moralische Verantwortung und Einsatz für Menschenrechte auszeichnet. Zum anderen wird das Asylgrundrecht in Deutschland durch seine Entstehungsgeschichte eng mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verknüpft und dadurch als besonders großzügig dargestellt. Diesem Selbstverständnis als Retter*in steht ein anderer Aspekt gegenüber, in der Asylmigration als unkontrollierbare Zuwanderung und als Bedrohung der eigenen Identität und Existenz gedeutet wird. Unabhängig von konkreten Zahlen, die sehr unterschiedlich ausfallen, wird Migration aus nationalstaatlicher Perspektive als Gefahr wahrgenommen. »Die Aufnahme von Menschen, die wegen ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden, sei ein ›wichtiges Beispiel unserer freiheitlichen Kultur‹. Aber heute sei das Asylrecht ›inzwischen zur Persiflage in vielen Fällen‹ geworden. Wir seien in der Bundesrepublik ›in manchen Bereichen an der Grenze dessen angelangt, wo es um unsere Existenz geht‹.«7 »Die Asylrechtsfrage ist ein brennendes Problem, bei welchem der übertragene Sinn des Wortes von Tag zu Tag mehr in den wortwörtlichen überzugehen droht. [...] Die vom Grundgesetz diktierte Asylpraxis [...] war nahe daran, zu einem Flächenbrand zu werden, der die finanzielle und soziale Leistungskraft des Staates und der Kommunen,
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Stuart Hall, »Das Spektakel des ›Anderen‹.« In Ideologie, Identität, Repräsentation: Ausgewählte Schriften 4, hg. v. Stuart Hall, 1st ed., Stuart Hall – Ausgewählte Schriften v.4 (Hamburg: Argument Verlag, 2018). Peter Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht.« Süddeutsche Zeitung, 10.07.1980. Christian Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Süddeutsche Zeitung, 26.07.1986. dpa, »Dauerstreit um die Asylanten.« Süddeutsche Zeitung, 14.07.1980.
1. Einleitung
das Rechtsgefühl der Bürger und schließlich das Ansehen Deutschlands in der Welt in Mitleidenschaft zieht.«8 Daran wird ein Spannungsverhältnis deutlich zwischen der Selbstbeschreibung als Land mit dem großzügigsten Asylgrundrecht als Ausdruck seiner freiheitlichen Kultur und einem Land, welches durch das Asylrecht in seiner Existenz bedroht ist und in dem die Einschränkung des Asylgrundrechts zur Überlebensfrage der Nation wird. Allein dieses Spannungsfeld lässt bereits vermuten, dass Diskurse über Asyl elementar mit dem eigenen Selbstverständnis und mit nationalen Identitätskonstruktionen verknüpft sind. Die Konstruktionen, die dabei analysiert werden, werden dabei bewusst offen als Eigenes bezeichnet. Bei den Konstruktionen der Anderen wird dies nicht auf Menschen, die in Deutschland Asyl suchen oder als fremd wahrgenommen werden reduziert, sondern es wird betrachtet, was im Diskurs als Anderes erscheint. Zudem zeigt sich im Diskurs über Asyl, wie in den Zitaten deutlich wird, meist ein Dreiecksverhältnis. Es wird eine Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge, in legitime und illegitime Fluchtgründe vorgenommen, die eine eindeutige Kategorisierbarkeit voraussetzt und sich auf Lebensverhältnisse und die Bleiberechtsmöglichkeiten der Betroffenen auswirkt. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Fragestellung und das Forschungsdesign gegeben. Dann folgt eine kurze Einführung in die theoretischen Grundlagen der Arbeit, die postkolonialen Studien sowie den Ansatz der Okzidentalismuskritik und deren Bedeutung für Diskurse über Migration. Anschließend wird ausgehend von einer reflexiven Migrationsforschung die eigene Verantwortung als Forscherin dargestellt. Diese bezieht sich auf die eigene gesellschaftliche Positioniertheit, das Ziel der Forschung und die mögliche Reproduktion und Bestätigung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und rassistischen Ideologien durch Forschung. Abschließend wird auf die Gliederung der Arbeit und die deutsche Asylgeschichte im Untersuchungszeitraum genauer eingegangen. Zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist, wie in medialen Asyldiskursen das Eigene im Verhältnis zum Anderen konstruiert wird. Folgende Aspekte sind dabei der Ausgangspunkt der Studie: Es soll untersucht werden, wie in medialen Diskursen über Migration gesprochen wird, welche Deutungsmuster und Wissensordnungen ersichtlich werden und wie das Eigene dabei ausgehandelt wird. Des Weiteren wird betrachtet, welche Besonderheiten der Asyldiskurs aufweist und welche Unterschiede sich im zeitlichen Verlauf und zwischen den beiden Zeitungen zeigen. Es soll analysiert werden, wie sich das Verhältnis zwischen den Konstruktionen des Eigenen und Anderen beschreiben lassen, ob es weitere Gruppen gibt, die als Andere markiert werden und ob es alternative Deutungsmuster gibt, die Identität und Zugehörigkeit ohne Abgrenzung zum Anderen herstellen. Zudem werden die Begrifflichkeiten und Zuschreibungen betrachtet, die in Verbindung mit Herkunft, Nationalität, Kultur oder Religion auftauchen und mit welchen rassifizierenden Deutungsmustern sie verknüpft werden. Dazu gehört auch die Berücksichtigung von Intersektionalität mit anderen Differenzkategorien wie Geschlecht, Behinderung/Gesundheit, Alter, sozioökonomischer Status/Herkunft und
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Georg P. Hefty, »Kein Anspruch auf das Wunschland.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.1992.
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sexuelle Identität. Abschließend schließt sich daran die Frage an, was stellvertretend anhand von Migration mitverhandelt wird und wann Migration zum Metanarrativ wird. Für die Untersuchung gesellschaftlicher Wissensordnungen hinsichtlich der Konstruktion des Eigenen und des Anderen werden zwei der auflagenstärksten, bundesdeutschen Tageszeitungen als Analysematerial genutzt. Das Datenmaterial besteht aus Zeitungsartikeln der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), in denen über Flüchtlinge und Asyl in Deutschland berichtet wird. Der Betrachtungszeitraum bezieht sich auf 1977–1999. 1977 kann als Beginn einer intensiveren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Asyl und um den Asylmissbrauch identifiziert werden.9 1999 wird als Endpunkt definiert, um die Entwicklungen nach der Grundgesetzänderung und die Debatte um das neue Staatsbürgerschaftsrecht zu berücksichtigen, in welcher das Eigene neu verhandelt wurde. Dabei kann nicht automatisch von medialen Diskursen auf gesamtgesellschaftliche Wissensordnungen geschlossen werden. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass Massenmedien hegemoniale Orte der Produktion und Distribution von Wissensbeständen darstellen und eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung gesellschaftlichen Wissens spielen.10 Dabei ist die Praxis des Nachrichtenmachens in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet und unterliegt bestimmten Regelhaftigkeiten und Kontrollmechanismen, die bei den Ergebnissen berücksichtigt werden müssen. Diskurse werden als Bedeutungszuschreibungen und kollektive Wissensordnungen verstanden, die zumindest für eine bestimmte Zeit stabilisiert und institutionalisiert werden. Diskursanalyse untersucht diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und versucht Regelhaftigkeiten und Diskontinuitäten herauszuarbeiten.11 Die zu analysierenden Diskursfragmente, wie in diesem Fall Zeitungsartikel, werden als Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen betrachtet.12 Mithilfe eines diskursanalytischen Vorgehens wird zunächst erfasst, worüber in den Zeitungsartikeln gesprochen wird (Struktur- und Inhaltsanalyse). Aus dieser Analyse werden im Anschluss Fallstudien ausgewählt, die auf eine intensivere gesellschaftliche Aushandlung hindeuten und mit einer intensiveren Berichterstattung einhergehen. Die induktive Vorgehensweise ermöglicht die Entwicklung des Diskurses und die Feststellung von Relevanzsetzungen aus dem empirischen Material heraus. Die ausgewählten Artikel der Fallstudien werden ausgehend von der Fragestellung kodiert und es werden daraus Kategorien gebildet (Feinanalyse), um abschließend die jeweiligen Regeln der diskursiven Bedeutungspro-
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Patrice G. Poutrus, Umkämpftes Asyl: Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, 1. Aufl. (Berlin: Ch. Links Verlag, 2019), 78; Ursula Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Entwicklung und Alternativen, 2. Aufl. (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1993), 63. Christian Pundt, Medien und Diskurs: Zur Skandalisierung von Privatheit in der Geschichte des Fernsehens, Kultur- und Medientheorie (s.l.: transcript Verlag, 2015), 132; Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse: Reflexionen zum Zusammenhang von Dispositiv, Medien und Gouvernementalität.« In Diskursforschung, hg. v. Johannes Angermuller et al. (transcript Verlag, 2014), 411. Reiner Keller, Diskursforschung: Eine Einführung für Sozialwissenschaftlerlnnen, 2. Auflage, Qualitative Sozialforschung 14 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004), 7–8. Ebd., 72–77; Johannes Angermuller und Veit Schwab, »Zu Qualitätskriterien und Gelingensbedingungen in der Diskursforschung.« In Angermuller et al., Diskursforschung (s. Anm. 10), 647–9.
1. Einleitung
duktion herauszuarbeiten. Die Berücksichtigung des historischen Kontextes ist eine wesentliche Grundlage für die Analyse.13 Die Arbeit ist theoretisch in den Postkolonialen Studien verortet und davon ausgehend wurde die konkrete Fragestellung entwickelt. Die postkoloniale Perspektive wird als »Analysekategorie«14 verstanden, um hegemoniale Wissensproduktion, die Konstruktion (westlicher) Identitäten sowie Konzepte wie Kultur, Nation und Ethnizität 15 zu untersuchen. Die Einteilung der Welt in Okzident und Orient, in den Westen und den Rest war nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimation von Herrschaft und globalen Machtverhältnissen, sondern bewirkte auch eine nachhaltige Veränderung kollektiver vor allem raumbezogener Identitäten.16 »Auf diese Weise bildete sich das Bewusstsein des Westens von sich selbst [...] durch [das] Bewusstsein seiner Verschiedenheit von anderen Welten – die Weise, wie es sich in Beziehung zu diesen ›anderen‹ repräsentierte.«17 Dieses Wissensarchiv über das Eigene und Andere sowie deren binäres Verhältnis ist nicht überwunden, gleichzeitig war dieses Wissensarchiv stets umkämpft und niemals monolithisch. In Diskursen über Migration und zugeschriebene Andersheit wird auf diese rassifizierenden Zuschreibungen und Deutungsmuster zurückgegriffen. Tief eingeschrieben in die europäischen Gesellschaften bieten sie nicht nur leicht nachvollziehbare und verständliche Deutungen, sondern wirken in ihrer Essentialisierung und langen Diskursgeschichte auch wie natürlich und schon immer gegeben. Eine Möglichkeit, diese westlichen Selbstrepräsentationen zu hinterfragen, stellt der Ansatz der Okzidentalismuskritik dar. Er beschreibt die Perspektivverschiebung, »dass das kritische Bemühen nicht der Prozedur des ›Othering‹ gilt, sondern darin besteht, die Produktion des okzidentalen Selbst nachzuvollziehen.«18 . Dies ermöglicht, nicht erneut
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Keller, Diskursforschung, 82–88; Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose, »Kodierende Verfahren in der Diskursforschung.« In Handbuch Diskurs und Raum: Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, hg. v. Georg Glasze und Annika Mattissek, 3rd ed., Sozial- und Kulturgeographie v.11 (Bielefeld: transcript, 2021), 379–82; Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 5. Aufl., Edition DISS : Edition des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung/Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (Münster: Unrast-Verl, 2009), 90–91; Ruth Wodak und Martin Reisigl, Discourse and discrimination: Rhetorics of racism and antisemitism (London, New York: Routledge, 2001). Julia Reuter und Paula-Irene Villa, »Provincialising Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung.« In Postkoloniale Soziologie: Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, hg. v. Julia Reuter und Paula-Irene Villa, Postcolonial studies Band 2 (Bielefeld: transcript, 2010), 17. Zur Konstruktion von Ethnizität siehe Kapitel 8.1.2. Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Sebastian Conrad, Shalini Randeria und Regina Römhild, 2., erweiterte Auflage (Frankfurt a.M., New York: Campus Verlag, 2013), 51. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.: Diskurs und Macht.« In Rassismus und kulturelle Identität, hg. v. Stuart Hall, Sechste Auflage, Ausgewählte Schriften/Stuart Hall; 2 (Hamburg: Argument Verlag, 2018), 141. Gabriele Dietze, »Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion.« In Weiß – Weißsein – whiteness: Kritische Studien zu Gender und Rassismus, hg. v. Martina Tißberger et al. (Frankfurt a.M.: Lang, 2006), 233.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
lediglich die rassifizierenden Konstruktionen des Anderen zu reproduzieren, sondern deren Bedeutung für die Konstruktion des Eigenen zu analysieren. »Okzidentalismuskritik ist mit dem Eigenen, dem okzidentalen Selbst, beschäftigt und untersucht, wann und warum es zu welchen rassisierenden und orientalisierenden Othering-Prozeduren kommt, was sie herstellen und welche Funktion sie im Konzert dominanter Diskurse haben. D.h. Okzidentalismuskritik zielt auf die Analyse der Konstruktion des Eigenen am Anderen.«19 Damit verbunden ist letztendlich die Frage, wie westliche Identitätskonstruktionen aussehen und entwickelt werden können, die nicht auf der Abwertung des Anderen basieren oder anhand von Migration bzw. Asylgewährung ausgehandelt werden. Diskurse über Migration eignen sich aus zwei Gründen, um den Ansatz der Okzidentalismuskritik empirisch umzusetzen und Konstruktionen des Eigenen herauszuarbeiten. Erstens nehmen Migrationsdiskurse ähnlich wie koloniale Diskurse auf raumbezogene und nationalstaatlich verfasste Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeitsordnungen Bezug und sind teilweise auch direkt mit kolonialen Diskursen verknüpft.20 Zweitens wird Migration häufig als erklärende Variable für viele Phänomene genutzt, oft als Krisenerscheinung oder Sonderfall gerahmt und in Diskursen emotionalisiert und undifferenziert verhandelt. Flucht wird als eine Form von Migration verstanden, die in besonderer Weise das eigene Selbstverständnis herausfordert, weil sich Asylgewährung im Spannungsfeld zwischen der Souveränität von Nationalstaaten und der Verpflichtung auf die Menschenrechte bewegt.21 In der Bundesrepublik ist die Entstehung des Asylgrundrechts zudem häufig als ein Gründungselement eines postnationalsozialistischen Deutschlands gesehen worden.22 Dies führt zu der These, dass Migration und insbesondere Flucht und Asyl in Diskursen die Funktion eines Metanarrativs übernimmt, anhand dessen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse stattfinden: »Die Omnipräsenz
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Gabriele Dietze, »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung.« In Kritik des Okzidentalismus: Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, hg. v. Gabriele Dietze, 2., unveränd. Aufl., GenderCodes 8 (Bielefeld: transcript-Verl., 2010), 48 Hervorhebung im Original. Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration: Historische und ethnographische Perspektiven, hg. v. Reinhard Johler und Jan Lange, Kultur und soziale Praxis (2019), 25; Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive, hg. v. Paul Mecheril et al. (Wiesbaden: Springer VS, 2013), 12 Juliane Karakayalı und Paul Mecheril, »Umkämpfte Krisen: Migrationsregime als Analyseperspektive migrationsgesellschaftlicher Gegenwart.« In Postmigrantische Perspektiven: Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, hg. v. Naika Foroutan, Juliane Karakayalı und Riem Spielhaus (Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2018), 229. Klaus Schlichte, »Flucht und Asyl – zur Genealogie eines Feldes.« In Politik der Unentschiedenheit: Die internationale Politik und ihr Umgang mit Kriegsflüchtlingen, hg. v. Margarete Misselwitz und Klaus Schlichte, Global studies (Bielefeld: transcript, 2010), 34. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.: Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er Jahren bis zur Grundgesetzänderung im vereinten Deutschland von 1993.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, hg. v. Jochen Oltmer (Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2016), 893.
1. Einleitung
von Migration im Diskurs, in der Analyse der Verfasstheit von Gesellschaft etc. kann als gesellschaftliches Metanarrativ gedeutet werden, welches die Funktion hat, Wissen und Erfahrung zu ordnen und zu strukturieren.«23 Die Folge davon ist, dass gesellschaftliche Konflikte um den Zugang zu Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe und Fragen von nationaler Identität, Selbstverständnis und Zugehörigkeit verdeckt und stellvertretend über das Thema Migration verhandelt werden.24 Ob sich diese Funktion als Metanarrativ empirisch nachweisen lässt, soll in dieser Studie herausgefunden werden. Migration ist keine allgemein gültige Kategorie, sondern wird durch diskursive Herstellung mit Bedeutung versehen.25 Auch Migrationsforschung ist Teil dieser Bedeutungsproduktion und trägt zur Konstruktion des Gegenstandes bei. Die Themen, Fragestellungen und Perspektiven sowie die Wahl der theoretischen und methodischen Zugänge (re-)produzieren und wirken auf die bestehende Wissensordnung über Migration und auf gesellschaftliche Machtverhältnisse.26 Die zugrunde liegende Forschungshaltung speist sich aus einer reflexiven Migrationsforschung, die den Anspruch hat, Migration nicht als zentrales Differenzkriterium zu setzen, sondern zu fragen, wann dieses wie relevant gemacht wird und welche Sortiermuster, Kategorisierungen und Grenzziehungen damit verknüpft werden.27 Für eine reflexive Migrationsforschung ist der Umgang mit Kategorien und Kategorisierungen eine zentrale Herausforderung. Migrationsforschung steht dabei stets in dem Dilemma, zum einen ihren Gegenstand benennen zu müssen, zum anderen durch Kategorisierungen auch an vorherrschende Zuschreibungen und Differenzkonstruktionen anzuknüpfen und diese zu reproduzieren. Insbesondere bei einer Analyse, die die Konstruktion des Eigenen und Anderen betrachtet, besteht die Gefahr, in eine Binaritätsfalle zu tappen und selbst zu homogenisieren und zu essentialisieren.28 Hinsichtlich Begriffe und Bezeichnungen habe ich mich für folgenden Umgang entschieden: Es geht in der Analyse um die Konstruktion von Begriffen wie Asylant oder Ausländer und damit verbundene Zuschreibungen, die eine Benennung notwendig machen, daher werden diese kursiv gesetzt, um sie als Begriffe aus dem Quellenmaterial zu kennzeichnen. Da es um die Konstruktion im Diskurs geht und nicht um die Menschen, die damit beschrieben wurden, verbleiben sie in der damals genutzten männlichen Form. Dabei beschränke ich mich auf die zentralen Begriffe der Analyse um die Le23 24 25 26 27
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Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Foroutan; Karakayalı; Spielhaus, Postmigrantische Perspektiven (s. Anm. 20), 277–8. Ebd., 276–83. Kijan M. Espahangizi, »Ab wann sind Gesellschaften postmigrantisch?« In Foroutan; Karakayalı; Spielhaus, Postmigrantische Perspektiven (s. Anm. 20), 46. Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 8, 43. Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich: Jahrbuch 3/2016, hg. v. Heinz Faßmann et al., 1st ed., Migrations- und Integrationsforschung v.9 (Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016), 13–6; Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 26. Gabriele Dietze, »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung.« In Kritik des Okzidentalismus, 47; Stuart Hall, »Wann gab es das ›Postkoloniale‹? Denken an der Grenze.« In Conrad; Randeria; Römhild, Jenseits des Eurozentrismus (s. Anm. 16), 204.
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ser*innen hier besonders auf den Konstruktionscharakter aufmerksam zu machen und verzichte auf die Kursivsetzung aller sozialer Gruppen- und Identitätskonstruktionen. Des Weiteren setze ich Begriffe aus bestehenden Wissensordnungen zu Migration kursiv, wie beispielsweise Asylmissbrauch oder Ausländerfeindlichkeit. Diese werden in Diskursen über Migration häufig auf eine Weise genutzt, die Differenz und Anderssein verstärkt und Sachverhalte verharmlost oder einseitig darstellt. Wenn in den Artikeln Textstellen mit eindeutig rassistischen Begriffen und einer rassistischen Ideologie vorkommen, werden diese anhand ausgewählter Beispiele zitiert. Ich bin mir über das Problem bewusst, dass damit diese Denkmuster erneut reproduziert werden, daher wird bei einer Benennung die rassistische Ideologie des Begriffs aufgezeigt und damit sichtbar gemacht. Es bleibt jedoch stets eine Abwägung, ob diese Textstellen im Einzelfall notwendig sind, um die Argumentationsmuster und Konstruktionen zu analysieren. Die tief in das kollektive Gedächtnis eingeschriebenen, viel weniger offensichtlichen rassistischen und grenzziehenden Deutungsmuster sind der Fokus der Analyse. Die Menschen, die im Diskurs als Andere konstruiert werden, bezeichne ich je nach Kontext als geflüchtete Menschen, Flüchtlinge, Schutzsuchende oder Asylsuchende. Jeder dieser Begriffe weist Vor- und Nachteile und andere Konnotationen auf, die stets mit einer Bezeichnungspraxis einhergehen und die ich in dieser Arbeit auch nicht ganz auflösen kann. »Doch schafft diese Dekonstruktion die Begriffe nicht ab wie im Vorgang der ›Aufhebung‹, sie beläßt sie als die einzigen begrifflichen Instrumente und Werkzeuge, mit denen die Gegenwart reflektiert werden kann.«29 Des Weiteren berücksichtigt reflexive Forschung zum einen die eigene Positioniertheit und Involviertheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse und zum anderen, dass Wissen über Migration in Wechselwirkung zur jeweiligen Gesellschaft, dem Nationalstaat und den damit verbundenen Machtverhältnissen steht. Ich bin eine Weiß30 positionierte deutsche Forscherin ohne Flucht- oder Migrationserfahrung, die im Alltag dem hier untersuchten Eigenen zugeordnet und als zugehörig wahrgenommen wird. Viele Deutungsmuster und Grundkonstruktionen über nationale Identität und Migration sind für mich in meiner Weißen Sozialisation Teil von Normalitätsvorstellungen, welche meine Welt- und Selbstbilder geprägt haben. Beim Versuch, diese sichtbar zu machen, mag es mir manchmal wie den beiden jungen Fischen gegangen sein, die von einem älteren Fisch gefragt werden, wie das Wasser heute sei und sich daraufhin fragen: »Was zum Teufel ist Wasser?«31 . Es ist nicht einfach, die eigene Perspektive zu erweitern und die eigene Normalität zu dekonstruieren. Sie ist aber der einzige Weg, um zu merken, wie einseitig, schablonenartig und unkreativ Konstruktionen des Eigenen und Anderen sein können, wie die Anderen lediglich als Kontrastfolie der eigenen positiven Identitätskonstruktion dienen und dabei vielfältige, emanzipatorische und solidarische Per29
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Stuart Hall, »Wann gab es das ›Postkoloniale‹? Denken an der Grenze.« In Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Sebastian Conrad (Frankfurt a.M., New York: Campus-Verl., 2002), 239. Weiß bezieht sich, wenn es großgeschrieben wird, nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die damit verknüpfte gesellschaftliche Konstruktion, die die gesellschaftliche Norm beinhaltet und mit Privilegien verbunden ist. David Foster Wallace, Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken, 18. Auflage, KiWi paperback 1272 (Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 2012).
1. Einleitung
spektiven unsichtbar gemacht werden. In dieser Arbeit verfüge ich über Repräsentations- und Deutungsmacht, mit der ich (unbewusst) soziale Ungleichheit und rassistische Machtverhältnisse sowohl reproduzieren als auch destabilisieren kann. Das Ziel meiner Arbeit ist es, zu analysieren, wie sich das Eigene in einem sich verändernden Verhältnis zum Anderen konstruiert und inszeniert. Es geht mir nicht darum, in irgendeiner Weise die Anderen zu beschreiben oder zu verstehen, denn die Konstruktionen zeigen vor allem, wie das Eigene das Andere herstellt. Ich hoffe jedoch, dass diese Arbeit dazu beiträgt, dass die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Schutzsuchenden bis hin zum Mord in der Asylgeschichte der Bundesrepublik sichtbar werden. Nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern auch die deutsche Erinnerungskultur weist diesbezüglich eine Leerstelle auf, auf die erst langsam aufmerksam gemacht wird. Im besten Fall wirft diese Arbeit Fragen nach Alternativen jenseits vom Eigenen auf, welches sich anhand eines hierarchischen Verhältnisses zum Anderen konstruiert. Im Folgenden wird ein Überblick über den Aufbau der Arbeit und die Asylgeschichte im Untersuchungszeitraum gegeben. Zunächst wird eine Einführung in Theorie, Methodik und Forschungsstand gegeben, die oben schon kurz zusammengefasst dargestellt wurden (Kapitel 2). Anschließend erfolgt die Analyse in drei Zeitabschnitten und anhand von sieben Fallstudien, die als Themen und Ereignisse mit gesellschaftlichem Aushandlungsbedarf und vermehrter Berichterstattung in der Strukturanalyse identifiziert wurden (Kapitel 3 bis 9). Die sieben Analysekapitel sind alle gleich aufgebaut. Sie beinhalten als erster Teil eine Kontextualisierung und eine Beschreibung von wesentlichen Elementen des untersuchten Diskurses anhand von wissenschaftlicher Literatur. Der zweite Teil stellt die Ergebnisse der Analyse über die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen dar. In Kapitel 10 wird als Epilog die Auseinandersetzung um das Staatsbürgerschaftsrecht und das Selbstverständnis als Einwanderungsland betrachtet. Abschließend folgt ein Fazit (Kapitel 11). Aus der Strukturanalyse ergaben sich drei Zeitabschnitte, die der Analyse einen größeren Rahmen geben und die im Folgenden etwas näher beschrieben werden.32 Der erste Zeitabschnitt von 1977–1990 ist überschrieben mit »Von der Großzügigkeit zur Restriktion: Unser Asylrecht wird missbraucht.« In den 1970er Jahren erfolgte ein »mehrdimensionale[r] Wandel der Migrationsverhältnisse«33 und »ein gravierender Einschnitt«34 im Asylgeschehen. Dies umfasste sowohl den Umfang und die Struktur der Asylzuwanderung als auch die Auseinandersetzung und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und die Reaktionen der Politik. Die Asylantragszahlen stiegen und die Herkunftsländer und Fluchtmotive änderten sich. Während die Antragszahlen bis 1973 bei überwiegend zwischen 2.000 und 5.000 Anträgen pro Jahr lagen, verdoppeln sich diese jährlich von rund 16.000 im Jahr 1977 auf mehr als 100.000 Anträge im Jahr 1980.35 Bereits seit Anfang der 1970er 32 33 34 35
Der kursive Satz ist dabei eine Quintessenz aus dem Diskursmaterial und stellt eine verdichtete Selbstaussage des Eigenen dar. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 887. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 63. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/St atistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-dezember-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=5, 5.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Jahre veränderte sich zudem die Struktur der Herkunftsländer durch einen Anstieg von Flüchtlingen aus dem Globalen Süden, sogenannte außereuropäische Flüchtlinge, deren Anteil 1977 75 % betrug. Asylpolitik wurde von einem Expert*innenthema zum zentralen Gegenstand medialer, gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen und dominierte sowohl die Innenpolitik als auch Wahlentscheidungen auf Bund- und Länderebene.36 Innerhalb der 13 Jahre gab es 17 Asylrechtsänderungen, in denen versucht wurde, das Asylrecht unterhalb des Grundgesetzes einzuschränken. In diesem Kontext entstand die Vorstellung des Asylmissbrauchs, die sich ab 1977 als Deutungsmuster des Misstrauens im Asyldiskurs entwickelte und im Fokus der Analyse steht. In diesem ersten Zeitraum lag der Fokus der Berichterstattung stärker auf der Aufnahme und Unterbringung der Asylsuchenden, sowie auf der Aus- und Umgestaltung des Asylverfahrens. Der zweite Zeitabschnitt von 1991–1993 trägt die Überschrift: »Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung: Deutschland im Staatsnotstand. Der innere Friede ist bedroht.« In diesem zweiten Zeitabschnitt verschränkten und überlagerten sich nach der Wiedervereinigung die Ereignisse einer massiven Zunahme an rassistischer Gewalt und der Änderung des Asylgrundrechts im Jahr 1993. Zudem erreichten die Asylzahlen einen neuen Höhepunkt mit über 400.000 Anträgen im Jahr 1992.37 Diese ereigneten sich in einem Deutschland und Europa, welches sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Fall der Berliner Mauer neu sortieren musste. Die Empfindung einer Bedrohung war so massiv, dass sie als Staatsnotstand und Bedrohung der Demokratie beschrieben wurde und die Grundgesetzänderung als einzige Möglichkeit zum Rückerlangen der Handlungsfähigkeit gesehen wurde. Der Fokus der Berichterstattung lag auf der Änderung des Grundgesetzes. Des Weiteren wurde die Berichterstattung über Asyl mit Fragen der deutschen Einheit und dem neuen Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland verknüpft. Der dritte Zeitabschnitt von 1994–1999 hat die Überschrift: »Zurück zu einer (neuen) Ordnung: Wir helfen – aber nicht allen!« In diesem Zeitraum wurde das deutsche Asylgeschehen stark durch den Jugoslawienkrieg und den sich anschließenden Kosovo-Konflikt geprägt. Zudem verursachte der Konflikt mit den Kurd*innen in der Türkei größere Fluchtbewegungen. Diese beiden europäischen Fluchtbewegungen werden als Fallstudien des dritten Zeitraums ausgewählt, weil sie mit umfassenden Auseinandersetzungen des Eigenen verbunden waren und die sich beginnende Unterscheidung in den beiden Zeitungen gut abbildet. Auch die Ausweitung des Eigenen auf eine europäische Ebene zeigt sich in den beiden Fallstudien. Diese wurden durch den Abbau der Binnengrenzen und einer damit einhergehenden Europäisierung und Versicherheitlichung der Migrationspolitik verstärkt. Asylantragszahlen gingen nach der Grundgesetzänderung stark zurück, auch weil bei den Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine Aufnahme ins Asylsystem vermieden wurde. 1996 hatte die Bundesrepublik bereits
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Poutrus, Umkämpftes Asyl, 78; Im Bundestag gab es von 1958 – 1972 lediglich 35 Debatten, die sich mit Asyl beschäftigten. Allein 1980 gab es 40 Debatten. Simone Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, [Europäische Hochschulschriften/31] Europäische Hochschulschriften (Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang, 1988), 32. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021,« 5.
1. Einleitung
350.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen. Die genaue Zahl der kurdischen Flüchtlinge ist nicht bekannt, vorsichtige Schätzungen gehen von etwa 200.000 aus. Der Fokus der Berichterstattung lag auf der Abschiebung sowie den Auswirkungen des neuen Asylrechts. Im dritten Untersuchungszeitraum entstanden in den beiden Zeitungen divergierende Selbstbilder des Eigenen. Das Deutungsmuster des Misstrauens trat nach der Grundgesetzänderung in den Hintergrund und ließ Raum für neue Aushandlungen und Konstruktionen jenseits der Selbstviktimisierung. In der FAZ wurde erneut das Bild von Deutschland als Retter*in etabliert und ein durchweg positives, humanes Selbstbild gemalt. In der SZ hingegen bildete sich ein kritisches Selbstbild heraus, bei dem die Humanität und das neue Asylrecht kontinuierlich hinterfragt und Lücken und Probleme aufgezeigt wurden. In Kapitel 3 werden die ersten Jahre ab 1977 analysiert, in denen sich der Diskurs über Asyl veränderte und sich die Vorstellung des Asylmissbrauchs entwickelte, welche eng mit steigenden Zahlen und außereuropäischen Flüchtlingen verknüpft war. In diesem Zusammenhang entstand der Begriff des Scheinasylanten und das Deutungsmuster des Misstrauens. In Kapitel 4 wird die Struktur des Deutungsmusters der Großzügigkeit anhand der vietnamesischen Boat People betrachtet, die durch eine kontrollierte und begrenzte Aufnahme in die Bundesrepublik kamen und im Diskurs als Kontrastfolie zu den Asylanten konstruiert wurden. Sie waren die ersten Flüchtlinge aus dem Globalen Südens, die mit einer Anzahl von ca. 30.000 – 40.000 und breiter politischer Zustimmung und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in die Bundesrepublik aufgenommen wurden. Doch auch hier gab es Grenzen der Aufnahmebereitschaft. In Kapitel 5 wird der Diskurs über das Schlupfloch Berlin im Sommer 1986 betrachtet, indem es um die Zuwanderung von Asylsuchenden über die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nach Westberlin ging. 1986 kamen zwei Drittel aller Asylsuchenden in Deutschland über den Ostberliner Flughafen Schönefeld.38 Auch dieser Diskurs war vom Deutungsmuster des Misstrauens geprägt. Zu diesem Zeitpunkt verengte sich das Sagbarkeitsfeld hinsichtlich des Asylantenproblems und die Grundgesetzänderung wurde auf bundespolitischer Ebene zu einer realen Möglichkeit. In Kapitel 6 wird der Diskurs über die rassistische Gewalt und die Funktion von Ausländerfeindlichkeit analysiert. Der Anfang der 1990er Jahre war von einem sprunghaften Anstieg rassistischer Gewalt geprägt, die mit über 4.700 Anschlägen innerhalb von drei Jahren in ganz Deutschland alltägliche Realität. Sie ging mit einer gesellschaftlichen Akzeptanz einher, die die Gewalt als nachvollziehbare Reaktion auf die Anwesenheit von Ausländern und auf den zugeschriebenen Asylmissbrauch einordnete. Das Deutungsmuster des Misstrauens beförderte eine Täter-Opfer-Umkehr. In Kapitel 7 wird der Diskurs über die Änderung des Asylgrundrechts näher beleuchtet. Am 26. Mai 1993 wurde das geänderte Asylgrundrecht mit 521 zu 132 Stimmen im
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Jochen Staadt, »Geschlossene Gesellschaft: Unerwünscht: Ausländer in der DDR – Asylanten aus der DDR.« Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 38 (2015): 48; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen zu Asyl: Ausgabe April 2019.« Zuletzt geprüft am 01.06.2019, www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuellezahlen-zu-asyl-april-2019.pdf?__blob=publicationFile, 5.
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Bundestag verabschiedet. Die Einschränkung des Grundgesetzes war der Abschluss einer mehr als fünfzehn Jahre andauernden politischen und öffentlichen Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Asylgewährung, in welchem das Deutungsmuster des Misstrauens dominierte. In Kapitel 8 wird der Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge betrachtet, der sich durch Aufnahmebereitschaft und Empathie auszeichnete. Es gab ähnlich wie bei den Boat People eine große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Wesentliches Element der Berichterstattung ist basierend auf dem Deutungsmuster der Großzügigkeit die Gestaltung der Aufnahme und einer vermeintlich ebenso humanen Rückführung. Hier zeigen sich bereits die divergierenden Selbstbilder in der FAZ und der SZ. In Kapitel 9 wird der Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge analysiert, die in den beiden Zeitungen in gegensätzlicher Weise als terroristische Gewalttäter*innen und von Abschiebung bedrohte Folteropfer konstruiert wurden. Sowohl die Diskurse über die bosnischen und als auch die kurdischen Flüchtlinge berührten Fragen von der Homogenität von Nationalstaaten und dem Umgang mit Vielfalt und Minderheiten. Zudem entwickelte sich ein neues Deutungsmuster der Zugehörigkeit. In Kapitel 10 wird die Analyse mit einem Epilog abgeschlossen, welcher sich mit dem Diskurs über die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts und des Selbstverständnisses als Einwanderungsland beschäftigt. Dieser ist nicht mehr primär dem Asyldiskurs zuzuordnen, behandelt aber expliziter die Konstruktion des Eigenen und weist mit seinen Veränderungen ins neue Jahrtausend hinein. Kapitel 11 schließt mit der Schlussbetrachtung. Nach einer Zusammenfassung der einzelnen Kapitel werden anhand von acht Thesen die wesentlichen Ergebnisse verdichtet dargestellt.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Fluchtmigration unterliegt sozialen Konstruktionsprozessen. Je nach zeitlichem und örtlichem Kontext werden Phänomene als Flucht gesellschaftlich wahrgenommen, bewertet und klassifiziert.1 In gesellschaftlichen Diskursen wird ausgehandelt, wer als Flüchtling gilt und Asyl bekommen soll, welche Zuschreibungen mit geflüchteten Personengruppen verknüpft werden und welche Vorstellungen vom Zusammenleben existieren. Dabei werden nicht nur Welt- und Fremdbilder hergestellt, sondern auch kollektive Identitäten und das eigene (nationale) Selbstverständnis.2 In dieser wechselseitigen diskursiven Herstellung des Eigenen und des Anderen liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit. Die These lautet, dass in Diskursen über Flucht und Asyl nicht nur die Sichtweise und der gesellschaftliche Umgang damit ausgehandelt wird, sondern diese mit anderen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen über Zugehörigkeit, Zusammenleben und Identität verbunden sind. Flucht wird dabei als eine Form von Migration verstanden, die durch die Asylgewährung in besonderer Weise mit dem eigenen Selbstverständnis verknüpft ist (siehe Kapitel 2.4). In dieser theoretischen und methodologischen Einführung wird zunächst (in 2.1) das eigene Diskursverständnis und die Besonderheiten medialer Diskurse anhand der Cultural Studies erläutert. Anschließend wird (in 2.2) eine postkoloniale Perspektive und der Ansatz der Okzidentalismuskritik zur Analyse des Eigenen und Anderen eingeführt. Das zugrundeliegende Rassismusverständnis wird erläutert und Rassismus als Analysekategorie dargelegt, welche es ermöglicht, rassifizierende Deutungsmuster herauszuarbeiten und einzuordnen (in 2.3). Danach wird (in 2.4) die eigene Forschungshaltung auf Grundlage der reflexiven Migrationsforschung entwickelt und das Verhältnis von Flucht
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Sebastian Huhn, Kriminalität in Costa Rica: Zur diskursiven Konstruktion eines gesellschaftlichen und politischen Problems, 1. Auflage (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2011), 49; Christoph Rass und Ismee Tames, »Negotiating the Aftermath of Forced Migration: A View from the Intersection of War and Migration Studies in the Digital Age.« Historical Social Research 45, Nr. 4 (2020). Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen: Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, Postcolonial studies v.9 (s.l.: transcript Verlag, 2014), 79.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
und Migration näher beleuchtet. Im Anschluss wird (in 2.5) die diskursanalytische Vorgehensweise dieser Arbeit erläutert und (in 2.6) der Forschungsstand dargestellt.
2.1 Sprache – Diskurs – Massenmedien Das dieser Arbeit zugrunde liegende Diskursverständnis in Anlehnung an Michel Foucault lässt sich den poststrukturalistischen Ansätzen zuordnen. Diese stellen einen stabilen, präsenten und eigentlichen Sinn von Strukturen in Frage und sehen die Herstellung von Bedeutung als dynamischen Verweisungsprozess. Bedeutung wird zwar kontinuierlich neu hergestellt, gleichzeitig werden aber dominante Deutungen von sozialer Wirklichkeit reproduziert.3 Dabei ist jegliche Form von Erkenntnis ein Prozess, der sprachlich vermittelt wird und daher in Verbindung zu bestehenden Diskursen und Bedeutungszuweisungen steht.4 Foucault hat sich in seinen Werken damit beschäftigt, wie Wissen formuliert wird, wie etwas zu gültigem Wissen beziehungsweise Wahrheit wird und wie es in das Leben der Menschen eingreift. Dabei hat er jedoch nicht einmalig einen Diskursbegriff in seinen Werken definiert, sondern sein Verständnis von Diskurs und von der Bedeutung von Subjekten, Macht und Widerstand im Diskurs fortwährend modifiziert, was auch seine poststrukturalistische Arbeitsweise deutlich macht. Die verschiedenen Verortungen sind jedoch weniger als zwei gegensätzliche Pole, als vielmehr als eine Kontinuitätslinie zu verstehen. Seine Arbeit als ein »concept in progress« nehme ich daher als Anregung, das eigene Diskursverständnis und die zentralen Fragen und Charakteristika zu skizzieren, die damit verbunden sind.5 Ausgangspunkt ist es, wie oben schon angedeutet, das soziale Prozesse Realität sprachlich erzeugen. Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit ist sprachlich vermittelt und wird diskursiv gedeutet. Bedeutung ist nicht ursprünglich oder objektiv vorhanden, sondern wird in sozialen Prozessen hergestellt. Wahrnehmen, Denken, Sprechen und Handeln werden erst durch ein gemeinsames Bedeutungssystem möglich. Da Diskurse auch definieren, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als gültiges Wissen bzw. Wahrheit angesehen wird, sind diese stets verbunden mit Fragen von Macht und Repräsentation. Diskurse verstehe ich somit als Wissensordnungen, in denen (aktuell) gültiges Wissen produziert, geordnet und verhandelt wird und die Ordnungsschemata, Kategorisierungen und Deutungsmuster und somit eine gemeinsame Grundlage für das
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Georg Glasze und Annika Mattissek, »Poststrukturalismus und Diskursforschung in der Humangeographie.« In Geographie: Physische Geographie und Humangeographie, hg. v. Hans Gebhardt, Rüdiger Glaser und Ulrich Radtke, 2. Auflage, Lehrbuch (2011), 661. Reiner Keller et al., Hg., Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Opladen: Leske u. Budrich, 2001), 8–13. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, 2., aktualisierte Auflage, Historische Einführungen Band 4 (Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2018), 65; Tim Karis, Mediendiskurs Islam: Narrative in der Berichterstattung der Tagesthemen 1979 – 2010, Research (Wiesbaden: Springer VS, 2013), Zugl.: Münster, Univ., Diss., 2012, 60–61.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Denken, Sprechen und Handeln in Gesellschaften zur Verfügung stellen.6 Dazu gehört auch die Wahrnehmung von Differenzen, die historisch gewachsen und gesellschaftlich konstruiert sind: »Die grundlegendste Erfahrung, die man macht, die Dinge, an die man am festesten glaubt, weil sie am offensichtlichsten sind, sind genau jene, die von Macht und Ideologie geschaffen wurden. Wir sehen schwarz und weiß. Wir sehen männlich und weiblich [...], dass es Unterschiede gibt. Das ist es, was man uns zu sehen gelehrt hat.«7 Dieses Diskursverständnis als Wissensordnung wird nun anhand folgender Aspekte näher beschrieben: Formationsregeln und Kontrollmechanismen, Kontextualität und Diskontinuität sowie Beziehung zu Macht, Subjekt und Widerstand im Diskurs. Anschließend wird dies anhand von medialen Diskursen und ihren Besonderheiten aus Sicht der Cultural Studies verdeutlicht. Die Formationsregeln legen das Sagbarkeitsfeld des Diskurses fest und steuern das Auftreten und die Anordnung von Aussagen im Diskurs. Mit Aussagen sind dabei die einzelnen Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den Quellen deutlich werden. Die Aussagen eines Diskurses sind begrenzt und durch regelmäßiges und wiederholtes Auftauchen gekennzeichnet: »es ist eine endliche Menge von Regeln, die eine unendliche Zahl von Performanzen gestattet.«8 Das gesamte verfügbare Diskursrepertoire stellt das Archiv dar.9 Jeder Diskurs unterliegt bestimmten Regeln darüber, was sagbar ist und als gültiges Wissen, als Wahrheit, anerkannt wird. Dies soll an einem Beispiel aus den Regeln des biologischen Diskurses verdeutlicht werden, denen die Vererbungslehre von Gregor Johann Mendel im 19. Jahrhundert nicht entsprach: »Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht ›im Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet. Es mußte der Maßstab gewechselt werden, [...] damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem großen Teil) sich bestätigen konnten. [...] [Im] Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.«10 Das Beispiel von Mendel zeigt, dass diskursives Wissen nicht universell ist, sondern zeitlich und örtlich an die jeweilig vorherrschenden Regeln gebunden ist. Wahrheit kann somit als Produkt von Diskursen betrachtet werden, welche sich durch wiederholende und zitierende Praxis verfestigt, gleichzeitig ist das, was als Wahrheit gilt, kontextabhängig und veränderlich.11 Die Diskontinuität von Diskursen beschreibt daher, dass eine Ge6 7 8 9 10 11
Karis, Mediendiskurs Islam, 61, 72–76; Landwehr, Historische Diskursanalyse, 25–26,66; Keller et al., Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 8–13. Lawrence Grossberg, Die Perspektiven der Cultural Studies: Der Lawrence-Grossberg-Reader (Köln: Herbert von Halem, 2008), 66. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 19. Auflage, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 356 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, (1981), 2020), 42. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 35–37. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Erweiterte Ausgabe, 14. Auflage, Fischer Wissenschaft (Frankfurt a.M.: FISCHER Taschenbuch, 2017), 25. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 44.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
sellschaft, »mitunter in einigen Jahren aufhört zu denken, wie sie es bis dahin getan hat, und etwas anderes und anders zu denken beginnt.«12 Foucault betonte stets die Diskontinuität und den Wandel von Diskursen, gleichzeitig stellte er selbst Homogenität und Kontinuität innerhalb definierter Epochen her. Es zeigt eine wesentliche Herausforderung von Diskursanalyse, Kontinuitäten und Brüche zu betrachten und nicht Essentialisierungen vorzunehmen und zu verstärken.13 Dies darf sich auch im Text widerspiegeln: »Daher rührt die vorsichtige und tastende Weise dieses Textes. [...] Er schiebt seine Identität von sich, nicht ohne vorher zu sagen: ich bin weder dies noch das.«14 Die Etablierung oder der Wandel diskursiver Wissensordnungen ist eng mit Machtverhältnissen verbunden, die anhand der verschiedener Kontrollmechanismen deutlich werden. Die Gefahr der Unordnung und Unkontrollierbarkeit von Diskursen wird mit diesen Prozeduren reguliert, die Foucault als externe Ausschließungsmechanismen, interne Kontrollmechanismen und Verknappung der Subjekte beschreibt. Dies sind zum Beispiel gesellschaftliche Verbote und Tabuisierungen oder die Anforderungen, die an eine*n Autor*in, an einen Text oder auch an eine wissenschaftliche Disziplin gestellt werden, um in den Diskurs eintreten zu können.15 Diskurse schweben daher nicht im luftleeren Raum, sondern sind eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse und werden dadurch hervorgebracht, gesteuert und kontrolliert. Macht und Diskurs bedingen sich somit gegenseitig: Macht kann sich sowohl bewahrend als auch verändernd auf Diskurse auswirken, das Eintreten in den Diskurs setzt Macht voraus. »Somit wird das Verhältnis von Diskurs und Gesellschaft reziprok: der Diskurs, der Gesellschaftsverhältnisse (re-)produziert, wurde und wird selbst durch Gesellschaftsverhältnisse hervorgebracht.«16 Macht wird dabei nicht nur als zentralisiertes und institutionalisiertes Herrschaftssystem verstanden, sondern als zirkulierendes, relationales und sich überall entfaltendes Kräfteverhältnis, das jedoch von historischen, politischen, sozialen und institutionellen Strukturen beeinflusst wird.17 Diskurse sind weder autonom, noch können diese intentional gesteuert und gelenkt werden. Da niemand außerhalb des Diskurses steht, können Subjekte lediglich versuchen, Strömungen und Entwicklungen im Diskurs für sich zu nutzen und ihre Interessen in den Diskurs einzubringen. Diskurse bringen zudem Subjekte anhand von Identitätszuschreibungen hervor und ordnen diese entlang von Norm und Abweichung, Eigenem und Anderen. Gleichzeitig ist es notwendig, eine Subjektposition einzunehmen, um in den Diskurs eintreten und sprechen zu können. Diskurse fördern somit die Reduktion
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Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 96 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974), 83. Michael C. Frank, »Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults ›Archäologie‹ in der postkolonialen Theorie.« In PostModerne De/Konstruktionen: Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche, hg. v. Susanne Kollmann und Kathrin Schödel, Diskursive Produktionen 7 (Münster: LIT, 2004), 143–4; Foucault, Archäologie des Wissens, 13–22. Foucault, Archäologie des Wissens, 29–30. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 11–30. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 41. Ulrike Hamann, Prekäre koloniale Ordnung: Rassistische Konjunkturen im Widerspruch; deutsches Kolonialregime 1884–1914, 1. Aufl., Postcolonial studies Band 21 (Bielefeld: transcript, 2014), Dissertation, 19–20; Landwehr, Historische Diskursanalyse, 71–73.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
von Subjekten auf bestimmte Identitätsaspekte.18 Anhand von den Charakteristika und Besonderheiten medialer Diskurse sollen die beschriebenen Aspekte nun verdeutlicht und konkretisiert werden. Massenmediale Daten stellen eine stark formalisierte und Regelhaftigkeiten unterworfene Art der Kommunikation dar. Massenmedien stellen somit bestimmte Möglichkeitsbedingungen bereit, die gewisse Kommunikationspraktiken wahrscheinlicher machen.19 Für die Untersuchung gesellschaftlicher Wissensordnungen hinsichtlich der Konstruktion des Eigenen und des Anderen werden mit der FAZ und der SZ zwei der auflagenstärksten, bundesdeutschen Tageszeitungen als Analysematerial genutzt. Dabei kann nicht automatisch von medialen Diskursen auf gesamtgesellschaftliche Wissensordnungen geschlossen werden. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass Massenmedien hegemoniale Orte der Produktion und Distribution von Wissensbeständen darstellen und eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung gesellschaftlichen Wissens und der Konstruktion von Selbst-, Fremd- und Weltbildern spielen.20 Medien sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet. In Redaktionen werden Diskurse reproduziert, da diese sich an vorherrschenden Deutungsmustern orientieren und nur so verstanden werden und ihre Produkte verkaufen können. Gleichzeitig gestalten sie Diskurse mit, indem sie eigene Meinungen vertreten und eigene Schwerpunkte setzen.21 In Medien wird definiert, was aktuell wichtig und bedeutend für die Nation ist. Dabei stellen Medien keine objektiven und sachlichen Informationen, sondern soziales Wissen bereit, welches in einer Praxis der Bedeutungsproduktion und in einem nach bestimmten Regeln strukturierten Kommunikationsprozess hergestellt wird. Medien bieten einen Deutungsrahmen für Ereignisse, die mit bestimmten Welt- und Selbstbildern verbunden sind und gleichzeitig einen gemeinsamen Erfahrungsraum für Nationen herstellen.22 Laut Anderson ist es für Nationen als »imagined communities« notwendig, »daß wir uns ein Bild von uns selbst machen und dieses unablässig immer wieder neu
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Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 40–41; Karis, Mediendiskurs Islam, 75; Philipp Sarasin und Michel Foucault, Michel Foucault zur Einführung, 4. Aufl., Zur Einführung 333 (Hamburg: Junius-Verl., 2010), 103–21. Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse.« In Diskursforschung, 411; Tim Karis, »Massenmediale Eigenlogiken als diskursive Machtstrukturen: Oder: Ich lasse mir von einem kaputten Fernseher nicht vorschreiben, wann ich ins Bett zu gehen habe!« In Mediendiskursanalyse: Diskurse – Dispositive – Medien – Macht, hg. v. Philipp Dreesen, Łukasz Kumięga und Constanze Spieß, Theorie und Praxis der Diskursforschung (Wiesbaden: Springer VS, 2012), 47–8 Pundt, Medien und Diskurs, 131–33. Pundt, Medien und Diskurs, 132; Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse.« In Diskursforschung, 411. Keller, Diskursforschung, 72–77; Johannes Angermuller und Veit Schwab, »Zu Qualitätskriterien und Gelingensbedingungen in der Diskursforschung.« In Diskursforschung, 647–9. Stuart Hall, »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen.« In Ideologie, Kultur, Rassismus: Ausgewählte Schriften 1, hg. v. Stuart Hall, 1st ed., Stuart Hall – Ausgewählte Schriften 1 (Hamburg: Argument Verlag, 2018), 126–9; Stuart Hall, »Kodieren/Dekodieren.« In Hall, Ideologie, Identität, Repräsentation (s. Anm. 4), 66–8.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
entwerfen müssen«23 . Dabei spielen Medien eine wichtige Rolle, weil sie die vorgestellte Gemeinschaft und ein Gefühl der Zugehörigkeit miterzeugen. Zeitungslesen wird so zu einer Art Massenzeremonie: »Sie wird in zurückgezogener Privatheit vollzogen [...] aber jedem Leser ist bewußt, daß seine Zeremonie gleichzeitig von Tausenden (oder Millionen) anderer vollzogen wird, von deren Existenz er überzeugt ist, von deren Identität er jedoch keine Ahnung hat. [...] Kann man sich ein anschaulicheres Bild für die säkularisierte, historisch gebundene und vorgestellte Gemeinschaft denken?«24 Für den Untersuchungszeitraum ist zudem zu berücksichtigen, dass Zeitungen neben dem Fernsehen die zentrale Quelle für die Verhandlung aktuelle Ereignisse war und daher eine zentralere Bedeutung für die Produktion und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Wissensordnungen spielten.25 Anstatt von Objektivität und Ausgewogenheit der Medienberichterstattung auszugehen, muss diese in Verbindung zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen gesehen werden. Medienberichterstattung basiert auf konsensuellem Hintergrundwissen, auf einem gemeinsamen Deutungsmuster. Bei neuen Ereignissen haben meist etablierte Stimmen der mächtigeren Gruppen die erste Möglichkeit, dieses Deutungsmuster festzulegen. Alle weiteren Akteur*innen, die sich am Diskurs beteiligen wollen, müssen das Ereignis in diesen Begriffen diskutieren. Um vermeintliche Objektivität und Ausgewogenheit zu gewährleisten, kommen dabei häufig Politiker*innen aus der Regierung und der Opposition zu Wort. Diese werden als legitime Quelle angesehen, gleichzeitig bedeutet dies, dass die Bandbreite der zulässigen Definitionen systematisch begrenzt wird und Kontroversen innerhalb eines bestimmten Deutungssystems stattfinden. Andere Positionen werden als extremistisch, unverantwortlich, partikularistisch oder irrational bewertet. Daran werden bereits bestimmte Kontrollmechanismen deutlich, die die Anzahl und Subjektpositionen der Sprecher*innen regulieren sowie bestimmte Regeln für den politischen und medialen Diskurs definieren.26 Die Bedingungen massenmedialer Kommunikation, die sich auf mediale Diskurse auswirken, sollen nun etwas genauer beleuchtet werden. Printmedien stellen eine Form von institutionalisierter und asymmetrischer Kommunikation dar, die sich an ein allgemeines Publikum richtet und über zeitliche und räumliche Distanz technisch vermittelt wird. Sie sind gekennzeichnet durch Wiederholungen, Universalität des Gegenstandsbereiches, Aktualität und allgemeine Zugänglichkeit durch Veröffentlichung. Diese können bereits als Voreinstellungen der Kommunikation betrachtet werden. Die besondere 23 24 25
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Benedict R. O’G. Anderson, Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Erw. Ausg, Ullstein Nr. 26529 (Berlin: Ullstein, 1998), 179. Ebd., 37. Die Auflagenstärke überregionaler deutscher Tages- und Sonntagszeitungen hat sich vom Jahr 2000 bis 2020 unter Berücksichtigung von E-Papern von 28,2 auf 14,3 Millionen halbiert. Mathias Brandt, »Auflage der Überregionalen hat sich halbiert.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://d e.statista.com/infografik/10376/verkaufte-auflage-ueberregionaler-tageszeitungen-in-deutschl and/#:~:text=Tageszeitungen&text=Die%20verkaufte%20Auflage%20der%20%C3%BCberregi onalen,(%2D65%2C6%20Prozent%20gg%C3%BC. Stuart Hall, »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen.« In Ideologie, Kultur, Rassismus, 136–46.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Logik des Mediendiskurses besteht darin, ständig neue Informationen bereitzustellen und diese gleichzeitig in bereits bekannte Selbst- und Weltbilder zu integrieren und in Beziehung zum Eigenen zu setzen. Es wird kontinuierlich neu definiert und entschieden, welches Ereignis den Stellenwert einer Nachricht erhält. Durch die Universalität des Gegenstandsbereiches und die sich wiederholende Veröffentlichung werden die Diskursinhalte weit verbreitet. Da in der Berichterstattung nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Leser*innen bereits über die Vorgeschichte informiert sind, sind Zeitungsartikel auch stark von Wiederholung geprägt, die die Deutungsmuster normalisieren und festigen.27 Der mediale Diskurs wird durch vier Aspekte vorstrukturiert: Quellen, Kommunikator, Gegenstände und Gattungen.28 Die Vorstrukturierung der Quellen erfolgt durch Nachrichtenagenturen und Redaktionen, die entscheiden, was in diesem Moment berichtenswert ist. Dabei entscheidet nicht jede Zeitungsredaktion für sich selbst, sondern wird auch durch Presseagenturen und Pressemitteilungen beeinflusst. Kommunikator sind Redakteur*innen, freie Journalist*innen oder sogenannte Expert*innen in Gastbeiträgen. Durch die Professionalisierung der journalistischen Ausbildung entwickelten sich Kriterien, die auf den Diskurs verknappend wirken. Die Institutionen haben bestimmte Entscheidungsstrukturen, wer mit welcher Qualifikation welche Stelle bekommt und wer als festangestellte*r (Chef-)Redakteur*in oder als Gastautor*in in der Zeitung schreiben darf.29 Journalistinnen wurden im Untersuchungszeitraum meist nur als Korrespondentinnen oder freie Mitarbeiterinnen beschäftigt, der Anteil der festangestellten Redakteurinnen belief sich 1984 in Rundfunkanstalten und Tageszeitungen auf 13 %. Das Schreiben über Inhalte war geschlechterhierarchisch sortiert, sodass Frauen mehr über Kultur und Gesellschaft berichten (Anteil von 35 %), über Politik und Wirtschaft hingegen kaum (5 %).30 Bis 1973 gab es beispielsweise eine Frauenseite in der FAZ, die sich mit Mode, Familie, Rolle der Frau und Gesundheit beschäftigte.31 Zum Thema Asyl berichteten Frauen kaum und eher über den Alltag oder beispielsweise die Lebenssituation im Asylheim. Journalist*innen mit Migrationsgeschichte tauchen im ganzen Untersuchungszeitraum fast gar nicht auf, 2005 lag der Anteil bei 3 %.32 Somit sind es vor allem Weiße, (west-)deutsche, männliche
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Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 78–79; Pundt, Medien und Diskurs, 140–41. Siehe auch Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien: Analyse der aktuellen Berichterstattung, 2., unveränderte Aufl., Alber-Broschur Kommunikation 4 (Freiburg: K. Alber, 1990) Pundt, Medien und Diskurs, 142–45. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 81–82. Irene Neverla und Gerda Kanzleiter, Journalistinnen: Frauen in einem Männerberuf: Irene Neverla, Gerda Kanzleiter; Frauen in e. Männerberuf (Frankfurt a.M. usw.: Campus-Verl., 1984); Margreth Lünenborg, »Zwischen Boulevard und Polit-Talk. Doing Gender im politischen Journalismus.« Femina politica, Nr. 2 (2006): 37. Peter Hoeres, Zeitung für Deutschland: Die Geschichte der FAZ, 2. Aufl. (München, Salzburg: Benevento, 2019), 417–20. Bärbel Röben, »Migrantinnen im deutschen Journalismus – ein weißer Fleck Forschungsüberblick und Perspektiven.« In Journalismus und Öffentlichkeit, hg. v. Tobias Eberwein und Daniel Müller (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), 264; Christian Schneider, »Print-Medien.«
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Akademiker, die den medialen Diskurs mit ihren Erfahrungen und Perspektiven prägen – genauso wie diese im politischen Diskurs dieser Zeit stark repräsentiert waren. Die Gegenstände der Berichterstattung sind in Ressorts unterteilt, die eine Rasterung der Weltabbildung vorgeben. Jede Nachricht steht nicht nur in Konkurrenz zu anderen, sondern muss auch im Thema des jeweiligen Ressorts verwertbar sein. Zudem spiegelt auch die Reihenfolge der Ressorts (Politik – Wirtschaft – Feuilleton) eine Hierarchisierung von Nachrichten und ihre zugeschriebene gesellschaftliche Wichtigkeit wider. Der Aufbau der Zeitung, die Reihenfolge und Themensetzung der Ressorts, der Sprachstil und die Art der Artikel unterliegt Kontrollmechanismen. Auch die Verortung der Redaktion in Westdeutschland, in München (SZ) bzw. Frankfurt (FAZ) beeinflusst die Wahrnehmung und Berichterstattung insbesondere bundesdeutscher Ereignisse. Nicht zuletzt erfolgt eine Vorstrukturierung durch die Gattungen. Tageszeitungen werden in Redaktionen produziert, die ökonomische Institutionen gesellschaftlicher Kommunikation darstellen. Durch die Pressefreiheit hat sich eine große Bandbreite verschiedener Meinungsagenturen entwickelt, die die Welt beschreiben und kommentieren. Die journalistische Konvention der Unterscheidung zwischen Bericht und Meinung ist diskurstheoretisch jedoch fraglich, da es Berichte ohne Wertung nicht gibt. Auch der Verortung der Redaktion in Westdeutschland, in München (SZ) bzw. Frankfurt (FAZ) beeinflusst die Wahrnehmung und Berichterstattung bundesdeutscher und lokaler Ereignisse.33 Bei der Analyse medialer Diskurse ist zudem zu beachten, dass Zeitungen hinsichtlich ihrer politischen Positionierung stets für eine bestimmte Leserschaft schreiben und nicht alle dominanten Deutungsmuster gleichermaßen repräsentieren. Des Weiteren bestehen zwar grundlegende zeitungsübergreifende Deutungsmuster in der Wahrnehmung von Wirklichkeit, dennoch müssen Leser*innen nicht unbedingt allen Deutungen der Zeitung zustimmen. Hierbei können drei verschiedene Dekodierungen unterschieden werden: Leser*innen erkennen die hegemoniale Definition an, sie modifizieren diese in Teilaspekten oder sie vertreten oppositionelle Deutungen.34 Auch wenn dies nicht Teil der Analyse ist, muss dies hinsichtlich der Aussagekraft der Ergebnisse bzw. bei einer Übertragung auf Gesellschaft mitberücksichtigt werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es in dieser Arbeit um das historisch wandelbare, gültige Wissen über Migration geht, welches sich stets in bestimmte Deutungsmustern beziehungsweise in einem Sagbarkeitsfeld verorten lässt. Die sich etablierenden und wandelnden Wissensordnungen, in denen Fluchtmigration diskursiv hergestellt, erzählt, kategorisiert und bewertet wird, sollen anhand medialer Diskurse in zwei großen deutschen Tageszeitungen herausgearbeitet werden. Durch den Fokus auf zwei Zeitungen über einen Zeitraum von 22 Jahren werden Kontinuitäten, Brüche und Verschiebungen sowie alternative Deutungsmuster erfassbar. Medien dienen als Medium in nationalen Gesellschaften, Deutungsmuster zu etablieren, zu wiederholen, zu verbreiten und zu verändern. Massenmedien spielen für die Produktion und Aufrechterhaltung
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In Ausländer und Massenmedien. Bestandsaufnahme und Perspektiven, hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn, 1987), 150–1. Pundt, Medien und Diskurs, 142–45. Stuart Hall, »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen.« In Ideologie, Kultur, Rassismus, 139–41.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
von Wissensordnungen eine große Rolle und eignen sich daher als Quellen für die Rekonstruktion des gesellschaftlichen Selbstverständnisses.35 Dabei wird die Praxis des Nachrichtenmachens »mit all ihren Organisationen, Regelungen, Routinen und mit all ihrem Sprechen durch gesellschaftliche Verhältnisse diskursiv hervorgebracht, stabilisiert und verändert. Insofern lässt sich davon ausgehen, dass durch die Medienanalysen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Verhältnisse gezogen werden können.«36 Obwohl sich die Konstruktionen wandeln, stehen sie stets in Beziehung zu politischen und wissenschaftlichen Diskursen und zum (nationalen) Wissensarchiv über Fluchtmigration, welches anhand von Begrifflichkeiten, Gesetzen und kollektiven Erinnerungen bereits den Rahmen setzt, was als Flucht wahrgenommen und wie Fluchtmigration gedeutet wird. Die reale Existenz von Migrationsbewegungen und von Menschen mit zugeschriebener Migrations- bzw. Fluchterfahrung in der Bundesrepublik sind zwar der Ausgangspunkt und der Kontext der medialen Diskurse. Die Analyse hat jedoch nicht das Ziel, die diskursiven Konstruktionen von Migration mit einer vermeintlichen Wirklichkeit zu vergleichen. Gleichzeitig beeinflussen diese Konstruktionen nicht nur das Sprechen über Migration, sondern wirken sich auch auf individuelles Handeln, politische Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Teilhabechancen aus, welche wiederum Auswirkungen auf die diskursive Wirklichkeitskonstruktionen haben. Die mediale Konstruktion von Fluchtmigration produziert eine Fülle an Selbst-, Fremd- und Weltbildern und erfordert die Verortung und Aushandlung des Eigenen. Die Bedeutung der Konstruktion des Anderen für das Eigene soll anhand einer postkolonialen Perspektive und dem Ansatz der Okzidentalismuskritik nun näher erläutert werden.
2.2 Postkoloniale Perspektiven auf das Eigene und Andere Postkoloniale Perspektiven nehmen u.a. globale Zusammenhänge und Machtverhältnisse sowie die Herstellung von Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen in den Blick. Dabei gehen sie davon aus, dass der europäische Kolonialismus nicht nur die Welt damals grundlegend veränderte, sondern bis heute wirkmächtig ist und globale Verflechtungen, Machtverhältnisse, Interaktionen sowie Identitätskonstruktionen prägt. Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich achtzig Prozent der Erdoberfläche unter europäischer Herrschaft.37 Der Kolonialismus bedeutete nicht nur die wirtschaftliche Ausbeutung und die Zerstörung der politischen und sozialen Strukturen vor Ort, sondern war mit der Entstehung eines Diskurses europäischer Überlegenheit verbunden. Der Kolonialismus hinterließ somit nicht nur tiefe Spuren in den ehemaligen Kolonialstaaten, sondern schrieb sich auch tief in die Gesellschaften der »imperialen
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Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse.« In Diskursforschung, 411. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 79. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz: Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Theorie und Gesellschaft Bd. 72 (Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 2010), 11–15.
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Metropolen« ein.38 Er wurde dabei stets als Projekt präsentiert, welches den kolonialisierten Ländern Zivilisation, Moderne und Fortschritt bringen und sie aus ihrer Unterentwicklung befreien sollte.39 Der westliche Blick auf die Welt und ihr Umgang mit Anderen wurden durch das koloniale Projekt geprägt und wirken sich auf die Wahrnehmung und Bewertung von Migrationsphänomenen40 und auf die »Konstruktion des Anderen, des Fremden, im Zusammenhang mit der Konstitution der eigenen Identität und der Legitimierung von Exklusion«41 aus. Postkoloniale Theorie stellt keine einheitliche Theorie dar, sondern weist sowohl in ihren Theoriebezügen als auch in ihren vertretenen Disziplinen eine große Bandbreite auf. Daher werden hier die Begriffe postkoloniale Ansätze oder Perspektiven genutzt. Die Entstehung der postkolonialen Studien wird in den 1970er und 1980er Jahren verortet, das als Gründungsmoment beschriebene Werk von Edward Said Orientalismus wurde 1978 veröffentlicht.42 Es gab jedoch schon lange vorher Traditionen, die Gewalt und die damit verbundenen Vorstellungen von westlicher Überlegenheit zu kritisieren und Widerstand zu leisten. Daher sind die antikolonialen Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegungen ein wichtiger Ausgangspunkt postkolonialer Perspektiven.43 Diese wurden verbunden mit neueren Ansätzen westlicher Denktraditionen wie von Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan.44 Aufgrund ihrer Entstehung in den Literaturwissenschaften durch Edward Said, Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha liegt der Fokus stärker auf Diskurs und Repräsentation als auf politischen, sozialstrukturellen und ökonomischen Verhältnissen. Dies zeigt sich auch in den Methoden der Diskursanalyse und des Dekonstruktivismus.45 In Deutschland wurde die Relevanz postkolonialer Studien lange negiert und mit der kurzen Periode kolonialer Herrschaft begründet, »obwohl sich die kolonialen Imaginationen keineswegs an territoriale und zeitliche Grenzen hielten«46 . Der Begriff postkolonial bezieht sich jedoch nicht auf eine zeitliche Ein38 39 40
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Stuart Hall, »Wann gab es das ›Postkoloniale‹? Denken an der Grenze.« In Jenseits des Eurozentrismus, 203. Chakrabarty, Europa als Provinz, 12–13. Aram Ziai, »Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft. Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm.« In Postkoloniale Politikwissenschaft: Theoretische und empirische Zugänge, hg. v. Aram Ziai, Edition Politik 27 (s.l.: transcript Verlag, 2016), 41. Aram Ziai, »Postkoloniale Politikwissenschaft. Grundlagen einer postkolonialen politischen Theorie und deren Anwendungsfelder.« In Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, hg. v. Julia Reuter und Alexandra Karentzos (Wiesbaden: Springer VS, 2012), 288. Edward W. Said, Orientalismus, 5. Auflage, S. Fischer Wissenschaft (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2017). Zum Beispiel Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde (Frankfurt a.M., 1994); Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, [2. Auflage] (Wien, Berlin: Verlag Turia + Kant, 2016). María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung, 2., komplett überarbeitete Auflage, Cultural Studies 36 (Bielefeld: transcript, 2015), 23–26; Die Theoriebezüge wurden jedoch teilweise ganz anders gedeutet wie etwa Diskursanalyse bei Foucualt und Said und ihr Verständnis von Macht: Michael C. Frank, »Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults ›Archäologie‹ in der postkolonialen Theorie.« In PostModerne De/Konstruktionen. Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus, 48–9. Ebd., 62; Siehe auch Andreas Eckert und Wirz Albert, »Wir nicht, die Anderen auch: Deutschland und der Kolonialismus.« In Conrad; Randeria; Römhild, Jenseits des Eurozentrismus (s. Anm. 16); Hamann, Prekäre koloniale Ordnung.
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ordnung nach dem Kolonialismus, sondern wendet sich gegen eine lineare Geschichtsschreibung und nimmt die bis heute bestehende Wirkmächtigkeit kolonialer Machtverhältnisse als Ausgangspunkt.47 Postkolonial kann vielmehr als »Analysekategorie«48 genutzt werden um hegemoniale Wissensproduktion, die Konstruktion (westlicher) Identitäten sowie Konzepte wie Kultur, Nation und Ethnizität zu untersuchen. Dies macht deutlich, dass die Bedeutung einer postkolonialen Perspektive weit über koloniale Herrschaft hinausgeht. Grundlegend ist die Berücksichtigung beider Seiten der »imperialen Wasserscheide«49 und ihre Verflechtung.50 Die Gemeinsamkeiten postkolonialer Ansätze liegen daher stärker in einer bestimmten Perspektive und Forschungshaltung als in konkreten Inhalten. Postkoloniale Ansätze möchten mit ihren Analysen Kritik an bestehenden Verhältnissen üben, Wissensnormen und Wissenschaft hinterfragen und eurozentrische Wissensproduktion und Auswirkungen und Folgen kolonialer Machtverhältnisse sichtbar machen. Sie haben den Anspruch, Situiertheit und Positionalität der Forscher*innen und ihre Denkweisen und Ergebnissen offen zu legen und sich selbst kritisch zu reflektieren.51 Sie nehmen eine de-essentialisierende, dekonstruktive Sicht auf implizite, wirkmächtige Grundannahmen des Sozialen, beispielsweise hinsichtlich Identität, Differenz, Universalismus, Wissen und Kritik ein.52 Dieser Anspruch an Wissenschaft findet sich auch bei Foucault und in den anschließend näher erläuterten Ansätzen der Rassismuskritik und reflexiver Migrationsforschung, ist jedoch am stärksten in postkolonialen Perspektiven verortet. Grundsätzlich lassen sich vier wesentliche, miteinander verbundene Konzepte identifizieren, die aus einer postkolonialen Perspektive entstanden sind. Diese sind Orientalismus und Othering, Subalternität und Repräsentation, Hybridität sowie die Provinzialisierung Europas.53 Für diese Arbeit sind alle vier Konzepte wichtig, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung für die Analyse. Ausgangspunkt ist die Analyse von Orientalismus und Othering, d.h. die Wissensproduktion über die Anderen zur Definition des eigenen Selbst. Die Anderen bieten dabei eine »negative Projektionsfläche zur (Re-)Produkti47 48 49 50 51
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Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus, 46–7. Julia Reuter und Paula-Irene Villa, »Provincialising Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung.« In Postkoloniale Soziologie, 17. Edward W. Said, Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1994), 31. Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus, 51–9. Sebastian Lemme, Visualität und Zugehörigkeit: Deutsche Selbst- und Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration, Postcolonial studies Band 41 (Bielefeld: transcript, 2020), 35–40; Ina Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, 3., ergänzte Auflage, Zur Einführung 365 (Hamburg: Junius, 2017), 12–16; Shalini Randeria und Regina Römhild, »Das postkoloniale Europa: Verflochtene Genealogien der Gegenwart – Einleitung zur erweiterten Neuauflage (2013).« In Conrad; Randeria; Römhild, Jenseits des Eurozentrismus (s. Anm. 16), 12–7. Julia Reuter und Paula-Irene Villa, »Provincialising Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung.« In Postkoloniale Soziologie, 11–2. Aram Ziai, »Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft. Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm.« In Postkoloniale Politikwissenschaft, 36.
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on einer positiven eigenen Identität«54 . Die Europäer*innen konnten sich als entwickelt, zivilisiert und rational wahrnehmen, weil ihnen die Differenz zu den Menschen in den kolonialisierten Gebieten kontinuierlich vor Augen geführt wurde. Diese Dichotomie des kolonialen Diskurses findet sich jedoch auch in Form eines antislawischen Rassismus im Diskurs über Polen und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Osteuropa wird als leerer Raum, der bevölkert werden muss und die Menschen als Volk ohne Geschichte und ohne Fortschritt gesehen.55 Es zeigt, dass postkolonial und auch Rassismus als Analysekategorie verstanden werden müssen und nicht auf bestimmte Erscheinungsformen reduziert werden dürfen.56 Dies verknüpft sich mit dem zweiten Konzept der Provinzialisierung Europas, welches darin besteht, eurozentrische Wissensproduktion zu hinterfragen und Perspektivität und Partikularität universeller Konzepte herauszuarbeiten. Ähnlich wie die Vorstellung von Kolonialismus mit Ländern außerhalb von Europa verknüpft ist, ging von Europa auch der definierte Wissenskanon und der Deutungsrahmen aus, was als wissenschaftlich gilt.57 So ist zum Beispiel die Aussage: »Ich denke, also bin ich« von René Descartes nicht universalistisch zu betrachten, sondern es ist notwendig, das dahinterstehende westliche Identitätskonzept wahrzunehmen. Dieses beinhaltet ein losgelöstes Subjekt ohne Positionierung und Bezugnahme auf Beziehungen, Ort oder Zeit, »welches Wahrheit aus einem inneren Monolog mit sich selbst hervorbringt, ohne Bezug auf irgendwen, außer sich selbst.«58 Die Provinzialisierung geht zudem einher mit der Betrachtung einer geteilten und verwobenen Geschichte, welche europäische Geschichte und Identität nicht unabhängig vom »Rest der Welt«59 in den Blick nimmt. Die Notwendigkeit, Geschichte als verwoben zu betrachten, wird in der Erinnerungskultur zu Migration deutlich, die häufig als Geschichte der Anderen erzählt wird und nicht die Veränderung und Gestaltung des Eigenen durch Migrant*innen berücksichtigt. Als weiteres Beispiel ist die Geschichte der DDR zu nennen, die in Abhängigkeit von der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (BRD) erzählt wird, dies umgekehrt jedoch
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Ebd., 37. Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten: Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871 (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2018), 233–37; Ein Beispiel aus der Analyse ist das Sprechen über den Balkan (Kapitel 8). Marija Nikolaeva Todorova und Uli Twelker, Die Erfindung des Balkans: Europas bequemes Vorurteil (Darmstadt: Primus-Verl., 1999). »Die Vernachlässigung rührt auch daher, dass die kolonialen Erfahrungen im europäischen Osten und Südosten nicht in die beiden global gewordenen Schemata der Erinnerung [Shoah sowie Sklaverei und Kolonialismus] passen. (…) Als Problem erscheint (…), dass alle Geschichte und Geschichten, die nicht in dieses Schemata hineinpassen, nicht artikuliert werden können. Mark Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, 2. Auflage (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2021), 126. Weiterführend siehe zum Beispiel Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens: Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, 1. Auflage (Münster [Germany]: Unrast, 2018); Chakrabarty, Europa als Provinz. Ramón Grosfoguel, »Unterwegs zu dekolonialen Zukünften: Vom westlichen Uni-versalismus zu dekolonialen Pluri-versalismen.« In Europa dezentrieren: Globale Verflechtungen neu denken, hg. v. Jens Adam et al. (Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2019), 120. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
selten der Fall ist.60 Für die Analyse bedeutet dies, unsichtbare Wissensnormen zu benennen und zu kontextualisieren, sowie die Verwobenheit von Migrationsgeschichte mit dem Eigenen aufzuzeigen. Die Gefahr, die binäre Logik der Konstruktionen durch die Analyse zu reproduzieren oder zu verstärken, kann durch die beiden weiteren Konzepte abgeschwächt werden. Subalternität und Repräsentation stellen die Frage nach Handlungsfähigkeit zwischen Autonomie der Subjekte und Allmacht der Diskurse in den Mittelpunkt und distanzieren sich damit von der Konstruktion des passiven kolonialen Objektes. Hinsichtlich Migration ist hier die Autonomie der Migration zu nennen, die den Fokus auf die Selbstbestimmung und Mobilität von Menschen trotz bestehender Grenzregime richtet.61 Eine fehlende Repräsentation im hegemonialen Diskurs bedeutet nicht, dass geflüchtete Menschen nicht handlungsfähig sind, sondern dass ihr Handeln unsichtbar gemacht wird. Das Konzept der Subalternität erinnert daran, dass Diskurse Machtverhältnisse widerspiegeln und an die Notwendigkeit, auf Leerstellen und Einseitigkeiten im Diskurs zu verweisen. Das Konzept der Hybridität hingegen nimmt Grenzen und Instabilitäten von Herrschaft in den Blick sowie Bedeutungsverschiebung und Aneignungsprozesse von Diskursen. Bhabha entwickelte mit dem Dritten Raum einen Ansatz, dass kulturelle Differenz und letztlich auch Identität erst durch Interaktion entsteht und Kulturen niemals eine Geschlossenheit oder Reinheit aufweisen.62 Hybridität erinnert daran, dass Nationen, Ethnien oder Kulturen keine homogenen Menschengruppen darstellen, sondern Konstruktionen sind, die für ihre Identitätsbildung ein Gegenüber benötigen. Zudem macht Hybridität deutlich, dass es viele Menschen gibt, die nicht in diese Kategorisierungen passen, was in den Kapiteln über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge und die kurdischen Flüchtlinge zum Thema wird. Beide Konzepte schließen an das oben skizzierte Diskursverständnis an, dass Machtverhältnisse zwar bestehen, dennoch Handlungsfähigkeit in diesen Machtverhältnissen besteht, und dass auch hegemoniale Diskurse Brüche, Verschiebungen und Handlungsspielräume beinhalten, die in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Bevor die Analyse von impliziten Konstruktionen des Eigenen anhand der Okzidentalismuskritik näher betrachtet wird, wird anhand Edward Saids »Orientalismus« und Stuart Halls »The West and the Rest« auf zwei grundlegende Studien zur Konstruktion des Anderen eingegangen. »Die Dichotomie zwischen ›wir‹ und ›sie‹ [...] gehörte zu den tragenden Annahmen des kolonialen Projekts und ist selbst als Element der europäischen Herrschaft identifi-
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Christoph Kleßmann, »Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990.« In Teilung und Integration: Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Phänomen, hg. v. Christoph Kleßmann, Reihe Politik und Bildung 41 (Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verl., 2006). Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali, »Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode.« In Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, hg. v. TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe, 2. Auflage, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2007). Aram Ziai, »Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft. Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm.« In Postkoloniale Politikwissenschaft, 37–9.
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ziert worden«.63 Oder wie Said es ausdrückt: »›Sie‹ waren nicht wie ›wir‹ und verdienten deshalb, beherrscht zu werden«64 . Die Einteilung der Welt in Okzident und Orient, in den Westen und den Rest ist somit nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimation von Herrschaft und globalen Machtverhältnissen, sondern bewirkte auch eine nachhaltige Veränderung kollektiver (nationaler, ethnischer, klassen- und geschlechtsspezifischer) Identitäten.65 In seiner Studie zum Orientalismus rekonstruiert Said den westlichen Diskurs über den Orient über die Jahrhunderte. Diese Konstruktion des Orients ist eine Erfindung des Westens und wird als Gegenbild des Okzidents hergestellt. Orientalismus kann daher »als eine gebieterische und westliche Projektion auf den Orient«66 beschrieben werden. Der Orient wird durch den Westen orientalisiert d.h. zum Anderen gemacht und essentialisiert. Said zeigt dabei, wie sich ein immer größeres Wissensarchiv über den Orient bildet, das jedoch stets auf ähnliche Stereotype und Dichotomien zurückgreift, sodass diese zu einer einseitigen Wahrnehmung der Realität führen. Wesentliche Aspekte des Orientalismus sind Erforschung und Kategorisierung des Orients, die damit einhergehende Essentialisierung und Entmenschlichung sowie das Schweigen des Orients im Diskurs. Die Entstehung eines systematischen Wissens und einer Wissenschaft ermöglichte in Verbindung mit der Vorstellung von Überlegenheit die Erschaffung des Orients. Der Orientale erscheint als jemand, »über den man urteilt (als stünde er vor Gericht), den man erforscht und beschreibt (wie in einer Fallstudie), den man diszipliniert (wie in der Schule oder im Gefängnis) oder abbildet (Lehrbuch Zoologie). Entscheidend ist, dass der Orientale in allen diesen Fällen in vorgefertigte Kategorien gepresst und schablonenartig dargestellt wird.«67 Obwohl die Erfahrung von Einzelnen den Beschreibungen des Orientalen widersprach, wurde die Norm dadurch kaum in Frage gestellt und erhielt eine zirkuläre Form der Bedeutungszuweisung, die immer wieder beim Orientalischsein endete: »Er ist in erster Linie ein Orientale, in zweiter Linie ein Mensch und in dritter wieder Orientale«68 . Das Orientalische war die alles bestimmende Eigenschaft. Die Überlegenheit des Westens konstruierte den Orientalen als passiv, die es erforderte, für den Orientalen zu sprechen und zu entscheiden, was gut für ihn ist.69 Nicht zuletzt führte diese orientalistische Sichtweise zu einem entmenschlichten Denken, welche orientalisierte Menschen bevormundete, geringschätzte, entpersonalisierte und entblößte.70 Das menschliche Mitgefühl wird verbannt: sie leiden nicht, sie sind Orientale.71 Besonders anschau-
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Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus, 47. Said, Kultur und Imperialismus, 14; Die Wahrnehmung der Differenz geschah beispielsweise aufgrund von Sprache, Religion und Tradition, siehe auch: Cvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas: Das Problem der Anderen, 5. Aufl., Edition Suhrkamp (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992). Sebastian Conrad und Shalini Randeria, »Einleitung: Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt.« In Jenseits des Eurozentrismus, 51. Said, Orientalismus, 116. Ebd., 54, Hervorhebung im Original. Ebd., 123, Hervorhebung im Original. Ebd., 115. Said, Orientalismus, 131. Ebd., 182–83.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
lich zeigt die Studie die Verwobenheit von Wissen, Wissenschaft, Machtausübung und Legitimation von Gewalt.72 Saids Studie wurde zu seiner eigenen Überraschung in vielen wissenschaftlichen Disziplinen breit rezipiert und diskutiert. Orientalismus hat sich als Begriff etabliert, um zu beschreiben, wie dominante Kulturen Andere repräsentieren. Die Kritik an seinem Werk macht die Herausforderungen einer (post-)kolonialen Diskursanalyse und die sich daran anschließenden grundlegenden Fragen deutlich.73 Said stellt den Orientalismus als einen ahistorischen, zeitlich überdauernden und monolithischen Diskurs dar und blendet dabei sowohl die jeweiligen historischen Kontexte als auch die Brüche und Widerstände im Diskurs aus. Als problematisch wurde erachtet, dass Said mit seiner Rekonstruktion des Diskurses zur Essentialisierung des Okzidents und Orients beiträgt, zudem wurde sein statisches Machtverständnis, die Ausblendung von Geschlechterverhältnissen, die Annahme einer vermeintlich richtigen Repräsentation des Orients und die fehlende Dekonstruktion von Humanismus kritisiert.74 In seinen späteren Werken »Kultur und Imperialismus«75 und »Orientalism reconsidered«76 nimmt er einige dieser Kritikpunkte auf. Ohne auf die Kritik im Detail eingehen zu können, soll auf die wesentlichen Punkte für meine eigene Analyse hingewiesen werden. Bei der Rekonstruktion von Diskursen ist es wesentlich, Kontinuitäten und Brüche sowie diskursive Widerstände zu berücksichtigen und eine Kontextualisierung der jeweiligen Zeit vorzunehmen. Es können Aspekte herausgearbeitet werden, die den hegemonialen Diskurs in Frage stellen und die Verschiebung von Zugehörigkeitsverhältnissen ermöglichen. Neben der Berücksichtigung der Intersektionalität in den Konstruktionen des Anderen, ist es daher notwendig, nicht die vermeintliche Wahrheit hinter einem falschen Diskurs zu suchen. »Dies nimmt die immer wieder akute Frage postkolonialer Theorie auf, ob eine nicht-gewaltvolle, nicht-reduktionistische Repräsentation der Anderen überhaupt möglich sei.«77 Es bleibt eine Fremdzuschreibung und als diese sollte sie auch präsentiert werden. Jede Diskursanalyse erzeugt dabei »spezifisches Wissen und damit zugleich auch Nicht-Wissen, das es zu reflektieren gilt. Die Rekonstruktion eines Diskurses ist also immer auch ein Konstruktionsakt […] die Welt auf eine bestimmte Art denkend zu ordnen, die immer auch selbstreflexiv hinterfragt werden muss, weil Diskurse stets auch anders denkend geordnet werden können.«78
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Castro Varela und Dhawan, Postkoloniale Theorie, 103. Vera Nünning, Ansgar Nünning und Irina Bauder-Begerow, Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse: Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen (Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2010), 274–76. Castro Varela und Dhawan, Postkoloniale Theorie, 112–27. Said, Kultur und Imperialismus. Edward W. Said, »Orientalism Reconsidered.« Cultural Critique, Nr. 1 (1985). Castro Varela und Dhawan, Postkoloniale Theorie, 30. Ludwig Gasteiger, »Michel Foucaults interpretative Analytik und das unbestimmte Ethos der Kritik.« In Kritik mit Methode? Forschungsmethoden und Gesellschaftskritik, hg. v. Ulrike Freikamp et al., Texte/Rosa-Luxemburg-Stiftung 42 (Berlin: Dietz, 2008), 39 Hervorhebung im Original.
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Stuart Hall nutzt die Begriffe »West and Rest«79 um deutlich zu machen, dass die Zweiteilung der Welt weit über Orient und Okzident hinausgeht. Ausgangspunkt dafür ist, dass jede soziale Praktik eine Bedeutungsdimension hat, die nicht natürlich gegeben ist, sondern durch Sprache und Repräsentation erst geschaffen wird. Bedeutung entsteht dabei sprachwissenschaftlich gesehen erst durch das In-Beziehung-Setzen zu anderen und durch die Hervorhebung von Unterschieden. »Demzufolge wissen wir, was ›Nacht‹ bedeutet, weil sie verschieden, ja sogar das Gegenteil von ›Tag‹ ist. [...] In Wirklichkeit gehen Unterschiede oftmals nicht wahrnehmbar ineinander über.«80 Nun geht Hall davon aus, dass dies nicht nur für sprachliche Bedeutungszuweisungen gilt, sondern auch für Identitäten, was jedoch keine zwingende Schlussfolgerung ist. Der Fokus dieser Arbeit liegt zwar hier auf Identitätsbildungsprozessen, die sich auf Basis von Gruppenzugehörigkeiten und im Verhältnis und in Abgrenzung zu Anderen entwickeln. Dennoch ist Identität wesentlich mehr und Individuen können sich zu Kategorisierungen und damit verbundenen Normvorstellungen sowohl annehmend als auch in Widerstand dazu tretend verhalten: »Obwohl sie mit Unterwerfungen einhergehen, werden gesellschaftliche Kategorisierungen, die eine anerkennungsfähige und dauerhafte soziale Existenz ermöglichen – wie die Bezeichnung ›Migrant*in‹ dies tut – häufig vorgezogen, wenn die Alternative ist, keine Existenz zu haben.«81 Die Konstruktion des (kolonialen) Anderen im Verhältnis zum Eigenen weist trotz aller Kontextualität und lokaler Verortung eine gemeinsame Struktur auf. Die Konstruktionen sind geprägt von Stereotypisierungen, Dualismen und Aufspaltungen, in denen die Anderen homogen dargestellt und in Gute und Schlechte eingeteilt werden.82 Während Europäer*innen Zivilisiertheit, Rationalität und Modernität zugeschrieben wurde, beschrieb man die kolonialisierten Menschen als rückständig, wild, unzivilisiert und impulsiv. Westliche Wissenschaften hatten einen großen Beitrag an der Entwicklung und Verbreitung kolonialer Diskurse, die sich durch eine Bedeutungsfixierung des ausnahmslos Anderen auszeichnet und das überlegene europäische Selbst stets mitkonstruierte.83 »Die Europäer standen den Anderen in der Position der beherrschenden Macht gegenüber. Dies beeinflusste das, was sie sahen und wie sie es sahen, genauso wie das, was sie nicht sahen«84 Die Vorstellung des Westens über den Rest »hatte reale Folgen, denn sie ermöglichte es Menschen, etwas in gewisser Weise über bestimmte Dinge zu wissen oder über sie zu reden. Sie produzierte Wissen. Sie wurde [...] Ausdruck einer ganzen Art zu denken und sprechen«85 . Die Abgrenzung und Abwertung
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Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität. Ebd., 140–1. Melanie Behrens, »Zur Reproduktion von Kategorisierungen in der Migrationsforschung.« In Forschung im Kontext von Bildung und Migration: Kritische Reflexionen zu Methodik, Denklogiken und Machtverhältnissen in Forschungsprozessen, hg. v. Verena Klomann et al., Research (Wiesbaden: Springer VS, 2019), 68; In Anlehnung an Judith Butler, Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, 11. Auflage, Originalausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2021), 24. Stuart Hall, »Das Spektakel des ›Anderen‹.« In Ideologie, Identität, Repräsentation, 142–58. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 137–42. Ebd., 154. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 139.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
der Anderen waren grundlegend für die Konstruktion des westlichen Selbstverständnisses.86 Die Herstellung von Differenz wird durch ein Repräsentationsregime – ähnlich wie Foucaults Archiv – geformt, welches das »gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten enthält, durch das ›Differenz‹ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert wird«87 . Dieses Bedeutungs- und Repräsentationssystem ist bis heute wirkmächtig in der Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen. Gleichzeitig ist das Repräsentationsregime veränderbar, da Bedeutung niemals vollständig fixiert ist. Die Dekonstruktion und Kritik an diesem Repräsentationsregime beziehen sich auch auf nationale Identitäten. Aus den Unabhängigkeitsbewegungen ist ein kritischer Blick auf nationale Identität entstanden. Nationalstaaten werden aus postkolonialer Perspektive als eine europäische Erfindung betrachtet.88 Geschichte ist ein Erkenntnissystem, »das auf Schritt und Tritt den Nationalstaat« beschwört, der als »wünschenswerteste Form politischer Gemeinschaften«89 dargestellt wird. Dies trifft auch auf Diskurse über Asyl und Flucht zu, häufig verknüpft mit der Idee von einer homogenen Bevölkerung und der Notwendigkeit der Grenzsicherung. Said beruft sich auf die Überlegungen von Frantz Fanon, indem er alternative Zugehörigkeitskonzepte fordert, die eine Veränderung des nationalen Bewusstseins zu einem sozialen Bewusstsein bedeuten.90 Dieses Sozialbewusstsein beschreibt Said als »alternativer Weg des Entwurfs menschlicher Geschichte«91 . Auch Hall fragt nach alternativen Identitätskonzepten und nicht-imperialen Repräsentationen, die nicht so stark durch Abgrenzung geprägt sind: »Mit Unterschieden leben, das lässt sich ganz einfach sagen, aber für die heutigen europäischen Gesellschaften ist es die schwerste Sache der Welt, praktisch mit Unterschieden zu leben. Denn es bedeutet fähig zu werden zu einer Gemeinschaft, die es nicht nötig hat, alle anderen zu vernichten, um sie selbst zu sein. [...] In der Sprache des Rassismus sind alle anderen ethnische Gruppen und jetzt geht es darum, ob weiße Europäer lernen können, eine ethnische Gruppe unter anderen zu sein.«92 Obwohl in dieser Arbeit die hegemonialen Diskurse im Vordergrund stehen, ist die Vision eines Sozialbewusstseins und von alternativen Identitätskonzepten, die nicht auf Abgrenzung basieren, der nächste Schritt, der sich daran anschließt. In der Analyse wurde
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Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, 46. Stuart Hall, »Das Spektakel des ›Anderen‹.« In Ideologie, Identität, Repräsentation, 115. Siehe auch Anderson, Die Erfindung der Nation; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780, Erw. Aufl. (Frankfurt a.M., New York: Campus-Verl., 2004). Chakrabarty, Europa als Provinz, 60. Fanon, Die Verdammten der Erde, 172–74. Said, Kultur und Imperialismus, 295. Aus seiner eigenen Erfahrung bedeutet dies, alternative Konzepte von Zugehörigkeit zu entwickeln, diese zu leben und erzählen: »Die Zugehörigkeit zu beiden Seiten der imperialen Wasserscheide befähigt einen, sie leichter zu verstehen. […] Gleichzeitig hat es wohl in mir das Gefühl wachgehalten, daß ich mehr als einer Gruppe und mehr als einer Geschichte angehöre […] als wirklich heilsame Alternative zu dem Gefühl der Verpflichtung auf eine einzige Kultur« (S. 31–32). Stuart Hall, »Rassismus als ideologischer Diskurs.« In Theorien über Rassismus, hg. v. Nora Räthzel, Argument classics N.F., 258 (Hamburg: Argument-Verl., 2000), 16.
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besonders berücksichtigt, wann Verschiebungen und Erweiterungen von Zugehörigkeit im Diskurs sichtbar werden. Abschließend soll nun anhand der Okzidentalismuskritik betrachtet werden, wie die Konstruktionen des Eigenen analysiert werden können. Bereits die Forderung »Europa zu provinzialisieren«93 veränderte die Blickrichtung von den Anderen stärker auf das Eigene, indem es westliche Selbstbeschreibungen in Frage stellte. Diese wendete sich explizit an den universalen Anspruch westlichen wissenschaftlichen Denkens und ein Verständnis der Moderne als eine autonome europäische Entwicklung.94 Die Idee der verflochtenen Geschichten hingegen beschreibt, wie die Konstitution von Metropolen und Kolonien in Wechselwirkung stattfand: Europa als ein Produkt des globalen Südens.95 Europa und seine Geschichte zu provinzialisieren würde zudem bedeuten, die Geschichte der Moderne mit ihren Ambivalenzen anzuerkennen, als eine Geschichte zu mehr Gleichheit und Selbstbestimmung und weg von Repression, Ungleichheit und Gewalt.96 Es beinhaltet, »unermüdlich den Finger auf diesen Zusammenhang von Idealismus und Gewalt [zu] legen«97 oder wie Frantz Fanon schon forderte: »Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wenn es ihn trifft«.98 Dies dekonstruiert ein Europa bzw. Deutschland, dessen positives Selbstbild sich durch Humanität und Menschenrechte auszeichnet. »Es ermüdet, Europa immer wieder als ›das Land des Humanismus‹ porträtiert zu sehen, dem diskussionslos Werte und Ideen wie ›Emanzipation‹, ›Gleichberechtigung‹ und ›Freiheit‹ zugeschrieben werden: denn wir wissen, dass diese Werte und Ideen, so positiv sie auch sein mögen, nie für alle gegolten haben.«99 Eine Möglichkeit, diese westlichen Selbstrepräsentationen zu hinterfragen, beschreibt der Ansatz der Okzidentalismuskritik. Er beschreibt die Perspektivverschiebung, »dass das kritische Bemühen nicht der Prozedur des ›Othering‹ gilt, sondern darin besteht,
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Chakrabarty, Europa als Provinz. Kerner, Postkoloniale Theorien zur Einführung, 76–78; Shalini Randeria und Regina Römhild, »Das postkoloniale Europa: Verflochtene Genealogien der Gegenwart – Einleitung zur erweiterten Neuauflage (2013).« In Jenseits des Eurozentrismus, 9–11. Hall beschreibt diese verflochtene Subjektkonstitution anhand seiner eigenen Erfahrung: »Menschen wie ich, die in den fünfziger Jahren nach England kamen, haben dort – symbolisch gesprochen – seit Jahrhunderten gelebt. Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse […] dann gibt es neben mir Tausend andere, die der Tee in der Tasse selbst sind. Der lässt sich nämlich, wie Sie wissen, nicht in Lancashire anbauen. Im Vereinigten Königreich gibt es keine einzige Teeplantage. Und doch steht die Tasse Tee symbolisch für die englische Identität« (Hall 1994, S. 74). María d. M. Castro Varela, »»Das Leiden ›Anderer‹ betrachten«. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, www.rassismuskritik-bw.de/das-leiden-andererbetrachten/, 11. Chakrabarty, Europa als Provinz, 64. Fanon, Die Verdammten der Erde, 263. Castro Varela, »»Das Leiden ›Anderer‹ betrachten«. Flucht, Solidarität und Postkoloniale Soziale Arbeit.« 11.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
die Produktion des okzidentalen Selbst nachzuvollziehen.«100 . Die Selbstrepräsentation des Westens ist das, was dem Orientalismus zugrunde liegt. »Der Okzidentalismus, wie ich ihn hier definiere, ist somit nicht die Kehrseite des Orientalismus, sondern die Bedingung seiner Möglichkeit.«101 Coronil beschreibt den Prozess von okzidentalistischen Repräsentationen in fünf Schritten: »Mit Okzidentalismus bezeichne ich all jene Praktiken der Repräsentation, die an Konzeptionen der Welt beteiligt sind, welche (1) die Komponenten der Welt in abgegrenzte Einheiten unterteilen; (2) ihre relationalen Geschichten voneinander trennen; (3) Differenz in Hierarchie verwandeln; (4) diese Repräsentationen naturalisieren; und also (5) an der Reproduktion asymmetrischer Machtbeziehungen, und sei es auch noch so unbewußt, beteiligt sind.«102 Diese Einteilung der Welt hat zwar geographische Bezüge, erzeugen jedoch nur eine Illusion einer äußeren Realität. Coronil wirft dabei die Frage auf: »Sind diese Begriffe jemals nicht Metaphern gewesen?«103 . Die Einteilung der Welt in geistige Landkarten geht einher mit der Ausblendung einer wechselseitigen, gemeinsamen Geschichte und der Hierarchisierung und Essentialisierung von Unterschieden. Es ist damit ein relationaler und dezentrierter Zugang, der den Zusammenhang zwischen Beobachteten und Beobachtenden, zwischen Wissen und dem Ort seiner Entstehung, zwischen dem Orientalisten und seiner Konstruktion des Orients in den Fokus der Analyse rückt. Wie schon oben angedeutet, darf die koloniale Konstruktion des Eigenen und Anderen nicht geografisch verortet werden. »Orientalismus bezeichnet die Diskurse und Praktiken, mit denen der ›Westen‹ sich den ›Osten‹ begreifbar und potentiell dienstbar macht, wobei ›Westen‹ und ›Osten‹ [...] keine Bezeichnungen für stabile Menschengruppen oder geografische Orte, sondern diskursive Positionen sind. Eine politische Gemeinschaft wird zum Orient oder eben Osten einer anderen Gemeinschaft nicht aufgrund ihrer geografischen Lage, sondern weil sie als Gegenmodell für ›moderne‹ Gesellschaften gehandelt wird«104 . In dieser Definition kann sowohl das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland als auch die Herstellung von Zentrum und Rändern in Europa und die dabei hervorgebrachten Identitäten als ein kolonialer Diskurs betrachtet werden.105
100 Gabriele Dietze, »Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion.« In Weiß – Weißsein – whiteness, 233. 101 Fernando Coronil, »Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien.« In Conrad; Randeria; Römhild, Jenseits des Eurozentrismus (s. Anm. 16), 473. 102 Ebd., 475. 103 Ebd., 470. 104 Christiane Wilke, »Östlich des Rechtsstaats: Vergangenheitspolitik, Recht und Identitätsbildung.« In Der Osten: Neue sozialwissenschaftliche Perspektiven auf einen komplexen Gegenstand jenseits von Verurteilung und Verklärung, hg. v. Sandra Matthäus und Daniel Kubiak, 1. Aufl. 2016, Springer eBook Collection (Wiesbaden: Springer VS, 2016). 105 Ebd., 174; Siehe auch Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten; Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans.
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Okzidentalismuskritik als hegemoniale Selbstkritik wurde durch Gabriele Dietze auf den deutschen Kontext beispielhaft angewendet, allerdings auf den Orient bzw. Islam zugespitzt. Gleichzeitig erfolgte eine Öffnung hinsichtlich anderer Machtverhältnisse wie Weißsein und Geschlecht. Sie vertritt die These, dass nach dem Mauerfall und der Auflösung der Einteilung der Welt in Ost und West eine Identitätsleerstelle entstanden sei, die eine Neu-Konstruktion und Schließung einer europäischen bzw. deutschen Identität gegenüber den Anderen erforderlich mache. So entwickelten sich beispielsweise Freiheitsrechte als Differenzkriterium für richtiges Deutschsein.106 Hinsichtlich einer Konstruktion des Eigenen und Anderen sowie der Vorstellung einer Identitätsleerstelle lässt sich ergänzen, dass Identitätskonstruktionen nicht nur binär erfolgen. In verschiedenen Arbeiten zu Diskursen über Flucht und Asyl wurde festgestellt, dass sich Identitätskonstruktionen häufig in einem Dreiecksverhältnis bewegen. In der Zeit der Wiedervereinigung bildete sich ein flexibles Verhältnis von Einheit und Abgrenzung zwischen Ost- und Westdeutschland heraus, in der stets auf die Asylsuchenden als das Dritte Bezug genommen wurde.107 Im Asyldiskurs zeigt sich zudem häufig ein Dreiecksverhältnis zwischen Täter – Opfer – Retter. Deutschland wird als Retter*in der Verfolgten verortet oder als Opfer des Asylmissbrauchs. Die geflüchteten Menschen erscheinen als Opfer oder Täter*innen. Die Konstruktion von Deutschland als Täter*in und von den geflüchteten Menschen als Retter*innen ist nicht vorhanden.108 Abschließend lässt sich festhalten, dass Okzidentalismuskritik nicht den Anspruch hat, »zur Verfasstheit des Anderen Wissen zu produzieren. Okzidentalismuskritik ist mit dem Eigenen, dem okzidentalen Selbst, beschäftigt und untersucht, wann und warum es zu welchen rassisierenden und orientalisierenden Othering-Prozeduren kommt, was sie herstellen und welche Funktion sie im Konzert dominanter Diskurse haben. D.h. Okzidentalismuskritik zielt auf die Analyse der Konstruktion des Eigenen am Anderen.«109 Für die vorliegende Arbeit ergeben sich daraus folgende Schlussfolgerungen. Postkoloniale Perspektiven ermöglichen es, westliche Wissensordnungen und die damit verbundenen Kategorien und Grundannahmen des Sozialen zu hinterfragen. Das westliche bzw. europäische Selbstverständnis ist geprägt durch die Zeit der Kolonialherrschaft
106 Dass die Selbstkonstruktion bereits in den 1990er Jahren vorherrschend anhand von Muslim*innen erfolgte, lässt sich in meiner Analyse und der Literatur so nicht wiederfinden. Türk*innen waren in den 1990er Jahren massiven Othering-Prozessen aufgrund ihrer national-kultureller Zugehörigkeit ausgesetzt. Das alles erklärende Stichwort türkisch wurde erst im 21. Jahrhundert ersetzt durch muslimisch. Yasemin Yildiz, »Immer noch keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie.« In Dietze, Kritik des Okzidentalismus (s. Anm. 19). 107 Nora Räthzel, Gegenbilder: Nationale Identitäten durch Konstruktion des Anderen (Wiesbaden, s.l.: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1997), 210–16. 108 Heike Niedrig und Henri Seukwa, »Die Ordnung des Diskurses in der Flüchtlingskonstruktion.: Eine postkoloniale Re-Lektüre.« Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 5, Nr. 2 (2010): 184–86. 109 Gabriele Dietze, »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung.« In Kritik des Okzidentalismus, 48 Hervorhebung im Original.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
und bildete sich in Abgrenzung zu den kolonisierten Anderen und zur Legitimation dieser Herrschaft heraus. Dieses Wissensarchiv über das Eigene und Andere sowie deren binäres Verhältnis ist nicht überwunden. Diskurse über Migration und zugeschriebene Andersheit greifen auf diese Deutungsmuster und Stereotypisierungen zurück. Tief eingeschrieben in die europäischen Gesellschaften bieten sie nicht nur leicht nachvollziehbare und verständliche Deutungen, sondern wirken in ihrer Essentialisierung und langen Diskursgeschichte auch wie natürlich und schon immer gegeben. Den Fokus nicht erneut nur auf die reproduzierenden Konstruktionen des Anderen zu legen, sondern diese im Verhältnis zum Eigenen zu betrachten, lässt weiterführende Schlussfolgerungen zu. Dadurch kann in den Blick genommen werden, welche Selbstrepräsentationen des europäischen und deutschen Selbst vorhanden sind, wie diese präsentiert werden und welche gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse über das eigene Selbstverständnis auf Konstruktionen des Anderen und auf Diskurse zu Migration zurückgreifen. Des Weiteren werden alternative Deutungsmuster herausgearbeitet, die andere Möglichkeiten der Selbstrepräsentation bieten, ohne auf hierarchische Darstellungen von Differenz zurückzugreifen und andere Zugehörigkeitsordnungen jenseits von Nation, Kultur und Ethnizität bieten. Dabei ist eine intersektionale Perspektive in Wechselwirkung mit Geschlecht, Religion, Beeinträchtigung, Klasse und sexueller Identität unverzichtbar. Die Einführung in Rassismustheorie und die Bedeutung rassifizierender Deutungsmuster entlang von Nation, Kultur, Religion oder Ethnizität für die Analyse des Diskurses erfolgt im nächsten Kapitel.
2.3 Rassismustheorie und Rassismuskritik (Post)koloniale Diskurse wirken auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, Identitätskonstruktionen und Teilhabemöglichkeiten. Diese ordnen sich auch entlang sozialer Gruppenkategorien wie Herkunft, Geschlecht oder Klasse, in dem diese mit bestimmten Zuschreibungen und Normierungen verbunden werden. Rassifizierende Kategorien (wie unter anderem Herkunft, Hautfarbe, Ethnizität oder Kultur) sind im Kontext von Migration besonders relevant. Dabei werden migrationsbezogene Begrifflichkeiten mit bestimmten Zuschreibungen verknüpft, die Differenz und Abwertung in Beziehung zum Eigenen herstellen. Ausgangspunkt der Arbeit ist, dass rassifizierende Deutungsmuster ein Bestandteil von Diskursen über Migration und von gesellschaftlichen Machtverhältnissen sind. Daher geht es nicht darum, herauszufinden, ob Diskurse rassistisch sind, sondern wie diese Deutungsmuster in den konkreten Fällen das Verhältnis von Eigenem und Anderen strukturieren.110 Das Rassismusverständnis, das dieser Arbeit zugrunde liegt, umfasst drei wesentliche Aspekte: Rassismus wird verstanden als modernes und wissenschaftlich legitimiertes Phänomen, als machtvoller Diskurs und als gesellschaftliches Verhältnis. Ein weiterer Aspekt der dabei entstehenden Selbst- und Fremdzuschreibungen und Identitätskonstruktionen wurde bereits aus postkolonialer Perspektive erläutert. Anschließend wird auf das Konzept der Rassismuskritik eingegangen. 110
Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale : Rassismus und Kämpfe der Migration, 2. Aufl. (Münster: Verl. Westfälisches Dampfboot, 2012), 25.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Der moderne europäische Rassismus entstand in der Kolonialzeit als Legitimation von Ausbeutung und Gewalt sowie als Wissenschaft vom Menschen, die durch Klassifizierung, Ordnung und Unterscheidung Hierarchisierungen vornahm. Rassismus kann daher nicht als Sonderfall gesehen werden, sondern muss als Bestandteil von Moderne und Demokratie anerkannt werden. Er ist zudem eng verbunden mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten, die homogene Nationen anstrebten und »Vermischung« als Verfall oder Bedrohung darstellten.111 Die Wissenschaft trug in entscheidendem Maße dazu bei, dass Ungleichbehandlung und Abwertung bestimmter, zuvor konstruierter Gruppen trotz Entstehung der Menschenrechte legitimiert wurde und prägte einen bestimmten Blick auf die Welt.112 In der Kolonialzeit wurden die Unterschiede anhand von körperlichen, biologischen Merkmalen begründet, später entwickelten sich Differenzkonstruktionen aufgrund sozialer, kultureller und religiöser Merkmale.113 Der Nationalsozialismus in Deutschland war durch einen massiven biologistischen Rassismus geprägt, indem biologisch begründete Hierarchisierungen von »jüdischen, muslimischen, schwarzen und slawischen Menschen, Sinti und Roma [vorgenommen wurden], die alle in den vom Nationalsozialismus propagierten ›Rassen‹-Kategorien zu finden waren und bis heute wirken«.114 Eine Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen und globalen Zusammenhängen wie dem atlantischen Sklavenhandel, dem europäischen Kolonialismus, dem Nationalsozialismus oder den Apartheitsregimen, aber auch Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen und Widerstand zeigt die zugrunde liegende Verbindung von Unterscheidungsdiskursen, Wissen, Macht, Herrschaft und Gewalt.115 Daher kann davon ausgegangen werden, dass Rassismus sowohl von grundsätzlichen Strukturprinzipien, als auch von historisch und kontextuell spezifischen Ausprägungen gekennzeichnet ist, die in ihrer jeweiligen spezifischen Dynamik, Artikulation und Verankerung in gesellschaftlichen Verhältnissen berücksichtigt werden müssen.116 Dabei ist die gleichzeitige Ein- und Ausschließung
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Ebd., 21. Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus: Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2004), 92–96; Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, hg. v. Claus Melter und Paul Mecheril, 2. Auflage, Reihe Politik und Bildung Band 47 (Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2011), 28–9; Paul Mecheril und Karin Scherschel, »Rassismus und ›Rasse‹.« In Melter; Mecheril, Rassismustheorie und -forschung (s. Anm. 150), 41–3. Étienne Balibar, »Gibt es einen ›Neo-Rassismus‹?« In Rasse, Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten, hg. v. Étienne Balibar und Immanuel M. Wallerstein, Sechste Auflage (Hamburg: Argument Verlag, 2018). Helma Lutz und Rudolf Leiprecht, Über die Multiplizität von Rassismus: Kommentar zur RfM-Debatte 2021 (Berlin, 2021), zuletzt geprüft am 17.06.2022, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/upl oads/2021/10/RfM-Debatte-2021.-Welche-Rassimusforschung-braucht-Deutschland.-Komment ar-von-Helma-Lutz-und-Rudolf-Leiprecht-1.pdf, 2. Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken; Said, Orientalismus; Paul Gilroy, The black Atlantic: Modernity and double consciousness, [Nachdr.] (Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 2000). Robert Miles, Rassismus: Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs (Hamburg: Argument Verlag, 2018), 104–7.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
ein wesentliches Kennzeichen von Rassismus, welche sich in einer Verbindung von Exklusion, Anpassungserwartung und Teilhabeversprechen zeigt.117 Rassifizierende Deutungsmuster sind Teil eines machtvollen Diskurses, einer Wissensordnung, die Wirklichkeit auf der Grundlage von Differenz konstruiert.118 Rassismusrelevante Diskurse beinhalten stets naturalisierende bzw. essentialisierende Gruppenkonstruktionen. Die jeweilige Gruppe wird ausgehend von biologischen, kulturellen, sozialen oder religiösen Merkmalen markiert und mit bestimmten Eigenschaften in Abgrenzung zur eigenen Gruppe verknüpft. Dieser Prozess kann auch als Rassifizierung beschrieben werden um hervorzuheben, dass es sich um einen sozialen Prozess handelt und rassifizierte Differenz diskursiv hergestellt wird.119 Rassismus stellt wie alle großen Klassifikationssysteme der Differenz (Geschlecht, Klasse etc.) ein Bedeutungssystem dar, welches die Welt strukturiert und klassifiziert und damit großen Einfluss auf unsere menschliche Vorstellungsfähigkeit hat.120 Es ist intersektional verknüpft mit anderen Ungleichheitsverhältnissen hinsichtlich Geschlecht und sexueller Identität, Gesundheit und Körper, sozialer Herkunft und sozialem Status. Die Etablierung, Durchsetzung und Infragestellung dieser Konstruktionen sind abhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die in diesen Diskursen ausgehandelt werden, wobei Diskriminierungsverhältnisse nicht nur intentional reproduziert und beeinflusst werden.121 Die Konstruktion von sozialer Wirklichkeit durch Sprache ist eine wesentliche Voraussetzung für die Existenz von Rassismus. Rassismus hat als machtvolle, diskursive Konstruktion von Wirklichkeit reale Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit und -chancen aller Menschen. Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Dies verdeutlicht, dass niemand außen steht und Rassismus und das damit verbundene Zugehörigkeitsregime in allen Bereichen der Gesellschaft wirkmächtig ist. Rassismus legitimiert »mithilfe von naturalisierten Gruppenkonstruktionen ökonomische, politische und kulturelle Dominanzverhältnisse«122 . Rassismus ist demnach immer eine Markierung von Unterschieden, die der eigenen Gruppe dient und ihr Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen ermöglicht, die anderen Gruppen dadurch verwehrt bleiben. Rassismus reguliert den Zugang zu Ressourcen und die Chancen gesellschaftlicher Teilhabe und wirkt auf individueller, interaktionaler, institutioneller und struktureller Ebene. Es hat somit nicht nur einen Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse,
Ebd., 101; Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 140–2. Stuart Hall, »Rassismus als ideologischer Diskurs.« In Theorien über Rassismus; Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 150–4; Claudia Machold, »(Anti-)Rassismus kritisch (ge-)lesen. Verstrickungen und Reproduktion als Herausforderung für die pädagogische Praxis. Eine diskurstheoretische Perspektive.« In Rassismuskritische Bildungsarbeit, hg. v. Wiebke Scharathow und Rudolf Leiprecht, 2. Aufl., Reihe Politik und Bildung Band 48 (Schwalbach/ Ts.: Wochenschau Verlag, 2011), 380–2. 119 Maria Alexopoulou, »Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.« Aus Politik und Zeitgeschichte, 38–39 (2018): 19. 120 Stuart Hall und Henry L. Gates, Das verhängnisvolle Dreieck: Rasse, Ethnie, Nation, 1. Auflage, hg. von Kobena Mercer (Berlin: Suhrkamp, 2018), 57. 121 Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 92; Miles, Rassismus, 116–20; Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung. 122 Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, 27.
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sondern beispielsweise auch auf institutionelles Handeln in Bildungsinstitutionen und Behörden und wird in Gesetzen und Vorschriften reproduziert. Für gesellschaftliche Teilbereiche ist dies bereits in verschiedenen Studien analysiert worden, ein umfassendes theoretisches Konzept für Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis steht jedoch noch aus.123 Durch die Forschung der Critical Whiteness Studies richtet sich der Fokus nicht nur auf die Gruppe, die Diskriminierung erfährt, sondern auch auf die selbstverständlichen und damit oft unsichtbaren Weißen Privilegien der Mehrheitsgesellschaft. Es gibt niemanden, der außerhalb rassistischer Machtverhältnisse steht, sodass Personen entweder rassistische Diskriminierungserfahrungen machen oder von ihren Privilegien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Wir-Gruppe profitieren.124 Die Begriffe »Rassismuserfahrungen«125 und »Alltagsrassismus«126 heben die alltägliche Erfahrung von Menschen, die von Rassismus betroffen sind, hervor. Aktuell entwickelt sich eine stärkere Auseinandersetzung darum, was als Rassismus gilt. Der Rassismusmonitor hat folgende Gruppen untersucht, die von Rassismus betroffen sind: »Schwarze Menschen, Muslim*innen, Asiat*innen, Sinti*zze und Rom*nja, Jüdinnen und Juden sowie Osteuropäer*innen«127 . Dieses breite Rassismusverständnis macht die Verortung von Rassismus nicht an bestimmten Gruppen fest, sondern versucht, Kennzeichen von Rassismus zu definieren sowie die Beziehungen verschiedener Rassismusformen und Möglichkeiten eines gemeinsamen Erinnerns zu betrachten. Dazu braucht es die »Zusammenschau der Verflechtungen, nicht den Vergleich von Rassismen in unterschiedlichen Zeiten, Orten oder unterschiedlichen betroffenen Gruppen, sondern deren Analyse als ein in die jeweils untersuchte räumliche Einheit (lokal, national, global) systemisch eingebettetes Phänomen.«128 Beispielsweise hatte der Antisemitismus im 19. Jahrhundert von Anfang an »antislawische und anti-migrantische rassisti-
Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung: Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, 3. Auflage (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden, 2009); Ulrike Hormel, Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft: Begründungsprobleme pädagogischer Strategien und Konzepte (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden, 2007); Claus Melter, Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe: Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit, Internationale Hochschulschriften 470 (Münster: Waxmann, 2006), Zugl.: Oldenburg, Univ., Diss, 2006 u.d.T.: Melter, Claus: ›Wenn Du mich gefragt hättest, hätte ich es Dir erzählt‹. 124 Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, 25–9. 125 Wiebke Scharathow, Risiken des Widerstandes: Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen, Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: transcript-Verl., 2014), Zugl.: Oldenburg, Univ., Diss., 2013, 50. 126 Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. 127 Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) (Berlin, 2022), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.rassismus monitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_Realit%C3%A4ten/DeZI M-Rassismusmonitor-Studie_Rassistische-Realit%C3%A4ten_Wie-setzt-sich-Deutschland-mitRassismus-auseinander.pdf, 20. 128 Maria Alexopoulou, Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu? RfM- Debatte 2021. Initialbeitrag. (Berlin, 2021), zuletzt geprüft am 17.06.2022, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2021/06/Initialbeitrag-2021-Maria -Alexopoulou.pdf, 2. 123
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
sche Implikationen«129 . Des Weiteren sind diese rassifizierenden Gruppenkonstruktionen Teil von historischen Wissensbeständen, die sich auch im biologistischen Rassismus während des Nationalsozialismus finden.130 Der Blick auf die von Rassismus betroffenen Gruppen macht Rassismus zu ihrem Merkmal und zu einem Teil ihrer Geschichte und verschleiert erneut den Blick auf das Eigene, auf die Gesellschaft, die diesen Rassismus hervorbringt. Der Begriff Gadjé-Rassismus ist ein Beispiel dafür, wie der Fokus auf die Ursachen der Gewalt und auf die Täter*innenstrukturen gelegt wird. Gadjé ist ein Wort aus dem Romnes und beschreibt Menschen, die zur Weißen Dominanzgesellschaft gehören und denen ein Gewaltpotential gegen Rom*nja und Sinti*ze innewohnt.131 Zudem verfestigt es die Einteilung in rassifizierende Gruppenkonstruktionen. Im untersuchten Diskurs über Asyl verknüpfen sich Flüchtlingskonstruktionen mit bereits vorhandenen rassifizierenden Deutungsmustern. Die vier identifizierten Rassismusformen antiasiatischer Rassismus, kolonialer bzw. antischwarzer Rassismus, Gadjé-Rassismus und antislawischer Rassismus werden im jeweiligen Kapitel genauer erläutert. Da Rassismus ein Gegenstand ist, der selbst einen Prozess der Erkenntnisproduktion enthält, und Wissenschaft Teil von diesem gesellschaftlichen Verhältnis ist, ist eine Selbstreflektion hinsichtlich der eigenen Involviertheit und der Reproduktion von rassistischen Diskursen erforderlich.132 Dies wird im Ansatz der Rassismuskritik deutlich, der sich am Kritikbegriff von Foucault orientiert: Kritik ist »die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit.«133 Es geht daher um den Anspruch, »Rassismuskritik als die Kunst verstehen, sich nicht dermaßen von rassistischen Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen regieren zu lassen«134 . Das bedeutet, immer wieder die diskursiv hergestellten Wahrheiten zu hinterfragen, ohne der Illusion zu verfallen, von außen auf rassistische Diskurse schauen zu können und nicht mehr davon
Maria Alexopoulou, Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu? RfM- Debatte 2021. Initialbeitrag. (Berlin, 2021), zuletzt geprüft am 17.06.2022, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2021/06/Initialbeitrag-2021-Maria -Alexopoulou.pdf, 5. 130 Helma Lutz und Rudolf Leiprecht, Über die Multiplizität von Rassismus: Kommentar zur RfM-Debatte 2021 (Berlin, 2021), zuletzt geprüft am 17.06.2022, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/upl oads/2021/10/RfM-Debatte-2021.-Welche-Rassimusforschung-braucht-Deutschland.-Komment ar-von-Helma-Lutz-und-Rudolf-Leiprecht-1.pdf, 2. 131 Maria Alexopoulou, Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu? RfM- Debatte 2021. Initialbeitrag. (Berlin, 2021), zuletzt geprüft am 17.06.2022, https://rat-fuer-migration.de/wp-content/uploads/2021/06/Initialbeitrag-2021-Maria -Alexopoulou.pdf, 4; Roxanna-Lorraine Witt, »Gadjé-Rassismus.« In Rassismus. Macht. Vergessen: Von München über den NSU bis Hanau: Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors, hg. v. Onur S. Nobrega, Matthias Quent und Jonas Zipf (Bielefeld: transcript Verlag, 2021). 132 Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 93–94. 133 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Internationaler Merve-Diskurs 167 (Berlin: Merve-Verl., 1992), 15. 134 Paul Mecheril und Claus Melter, »Rassismustheorie- und forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes.« In Melter; Mecheril, Rassismustheorie und -forschung (s. Anm. 150), 14. 129
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regiert zu werden.135 Zur Dekonstruktion und Markierung bestimmter Begriffe soll die Kursivsetzung beitragen. Zudem werden anhand ausgewählter Beispiele Textstellen mit eindeutig rassistischen Begriffen zitiert und die rassistische Ideologie des Begriffs aufgezeigt und damit sichtbar gemacht. Es bleibt jedoch eine Abwägungssache, ob diese Textstellen im Einzelfall notwendig sind, um die Argumentationsmuster und Konstruktionen zu analysieren. Die tief in das kollektive Gedächtnis eingeschriebene, viel weniger offensichtlichen rassistischen und grenzziehenden Deutungsmuster sind jedoch der Fokus der Analyse. Rassismus wird in dieser Arbeit als Analysekategorie verwendet, um rassifizierende Deutungsmuster und Argumentationsfiguren herauszuarbeiten. Gleichzeitig ist Rassismus als Begriff und als Beschreibung von Wirklichkeit auch Teil des untersuchten Diskurses. Rassismus wurde vor 1980 im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs nicht auf migrationsgesellschaftliche Phänomene angewandt – hier wurde von Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit gesprochen, was bestimmte Engführungen mit sich brachte (siehe Kapitel 6.2.2).136 Zudem war der Diskurs über Rassismus auf bestimmte Phänomene reduziert und durch wirkmächtige Distanzierungsmuster geprägt, welche auch in aktuelleren Debatten noch deutlich werden. Sowohl in der Medienberichterstattung über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) als auch in der Debatte nach dem Tod des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd über institutionellen Rassismus in der deutschen Polizei137 wurde die Nutzung des Rassismusbegriffs als »fehlende Sachlichkeit, Übertreibung und Moralismus«138 gewertet. Wissensbestände aus der Rassismusforschung bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung sowie teilweise auch in der wissenschaftlichen Rezeption weitgehend unbenannt. Die Weigerung, Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis in der bundesdeutschen Gesellschaft zu benennen, drückt sich in verschiedenen Verschiebungen, Verkürzungen und Externalisierungen aus.139 Sie
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Claudia Machold, »(Anti-)Rassismus kritisch (ge-)lesen. Verstrickungen und Reproduktion als Herausforderung für die pädagogische Praxis. Eine diskurstheoretische Perspektive.« In Rassismuskritische Bildungsarbeit, 388–9. Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt? Facing problems of race, racism, and ethnic diversity in the humanities in Germany, hg. v. Mahmoud Arghavan, Nicole Hirschfelder und Luvena Kopp, Culture and social practice (Bielefeld: transcript Verlag, 2019). ZEIT ONLINE, »SPD-Chefin relativiert Rassismusvorwurf an die Polizei.« Die Zeit, 11.06.2020. Manuela Bojadžijev, »Wer von Rassismus nicht reden will.« In NSU-Terror, hg. v. Imke Schmincke und Jasmin Siri, 1. Aufl., Politische Soziologie und Soziale Ungleichheit (Bielefeld: transcript, 2014), 146. Astrid Messerschmidt, »Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus.« In Rassismus bildet: Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, hg. v. Anne Broden und Paul Mecheril, 1. Aufl., Soziologische Theorie (Bielefeld: transcript, 2014); Nadine Rose, Migration als Bildungsherausforderung, 1. Aufl., Pädagogik (Bielefeld: transcript, 2014), 184–86; Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, hg. v. Tina Dürr und Reiner Becker, Wochenschau Wissenschaft (Frankfurt: Wochenschau Verlag, 2019), 62–3.
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dienen nicht zuletzt dazu, ein positives, postnationalsozialistisches Bild der deutschen Gesellschaft aufrecht zu erhalten.140 Die Perspektive der Rassismusforschung lässt sich in Abgrenzung zu individualisierenden und externalisierenden Distanzierungsmustern formulieren. Ausgangspunkt ist die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Veränderung. Dabei wird Rassismus als ein Strukturprinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit betrachtet, welches Diskurse, Ideologien, Praktiken, Institutionen und Alltagserfahrungen prägt.141 Rassismus hat »etwas mit dem normalen Funktionieren des sozialen Gefüges« zu tun: »angesichts der historischen Persistenz verschiedener Formationen des Rassismus, angesichts der Funktionsweise der vorhandenen Institutionen sowie angesichts der Verbreitung von rassistischem Wissen [ist es] völlig sinnlos [...], Rassismus weiter als Anomalie zu begreifen.«142 Die Situation der Rassismusforschung in Deutschland mit seiner schwachen Institutionalisierung zeigt die enge Verwobenheit von bereits lange etablierten Wissensordnungen, von aktuellen politischen, wissenschaftlichen und medialen Diskursen und Institutionalisierungsprozessen sowie Zugängen zu symbolischen und materiellen Ressourcen. Diese Verwobenheit von Diskursen, Macht, Wissen und Wissenschaft und ein möglicher Umgang damit sollen anhand der Migrationsforschung im nächsten Abschnitt betrachtet werden. Für die vorliegende Arbeit wird deutlich, dass es notwendig ist, das zugrunde liegende Rassismusverständnis zu definieren, um Rassismus als Analysekategorie nutzen zu können. In öffentlichen Diskursen in der Bundesrepublik gibt es zum einen sehr unterschiedliche Verständnisse von Rassismus, gleichzeitig lässt sich eine Tendenz erkennen, dass die Thematisierung von Rassismus häufig mit Distanzierungen, Emotionalisierungen und Abwehrhaltungen einhergeht. Rassismus wird in dieser Arbeit als ein elementarer Bestandteil gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Wissensordnungen gesehen, wobei die Diskurse und die Zugangs- und Teilhabechancen in Wechselwirkung stehen. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der diskursiven Herstellung von Wirklichkeit und wie in diesen rassifizierende Deutungsmuster sichtbar werden. Es wird betrachtet, wie sich diese Deutungsmuster historisch und kontextbezogen zeigen und wie dabei auf das koloniale Wissensarchiv zurückgegriffen wird. Eine rassismuskritische Herangehensweise versucht somit durch Analyse die Normalisierung und Unsichtbarkeit von Rassismus aufzuzeigen und damit kritisierbar zu machen (siehe Kapitel 1).
140 Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 60–1; Astrid Messerschmidt, »Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus.« In Rassismus bildet, 41–2. 141 Paul Mecheril und Claus Melter, »Rassismustheorie- und forschung in Deutschland. Kontur eines wissenschaftlichen Feldes.« In Rassismustheorie und -forschung, 14–7. 142 Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 93.
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2.4 Reflexive Migrationsforschung in gesellschaftlichen Machtverhältnissen Migration ist keine allgemein gültige Kategorie, sondern wird durch diskursive Herstellung mit Bedeutung versehen. Auch Migrationsforschung ist Teil dieser Bedeutungsproduktion und trägt zur Konstruktion des Gegenstandes bei. Die Themen, Fragestellungen und Perspektiven sowie die Wahl der theoretischen und methodischen Zugänge (re-)produzieren und wirken auf die bestehende Wissensordnung über Migration.143 Obwohl jede wissenschaftliche Disziplin aufgerufen ist, ihre Involviertheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse zu reflektieren, scheint die Migrationsforschung aufgrund ihres häufig politisierten und diskursiv umkämpften Gegenstandes besonders herausgefordert, sich dies immer wieder neu bewusst zu machen.144 Migrationsforschung ist kein neutraler Beobachtungsort, von dem aus objektiv »Migration« untersucht werden kann, stattdessen bringt sie ihren Gegenstand und die damit verbundenen Subjektpositionen, Problembeschreibungen und Lösungsansätze kontinuierlich mit hervor.145 Migration ist untrennbar verbunden mit dem Konzept von Nationalstaaten und den damit verbundenen Zugehörigkeitsordnungen und Selbstbildern.146 Die Kontrolle, Regulation und Dokumentation von Migration kann daher als elementarer Teil staatlicher Ordnung betrachtet werden, die stets mit Herstellung von Ähnlichkeit und Differenz verbunden ist.147 Zudem ist Migrationsforschung angewiesen auf Forschungsgelder und gesellschaftliche Reputation. Migrationsforschung kann schnell zu einer gefragten »Krisenwissenschaft [werden], denn Migration und Integration werden dann zum Synonym für politisch öffentlich kommunizierte Wahrnehmungen der Krise des Zusammenhalts einer wesentlich national verstandenen Gesellschaft. Politische Handlungsfähigkeit wird dann national und europäisch unter anderem durch Forschungsförderung demonstriert.«148 Kijan M. Espahangizi, »Ab wann sind Gesellschaften postmigrantisch?« In Postmigrantische Perspektiven, 46; Rass und Tames, »Negotiating the Aftermath of Forced Migration: A View from the Intersection of War and Migration Studies in the Digital Age,« 28–29. 144 Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 8, 43. 145 Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 25; Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 12 Juliane Karakayalı und Paul Mecheril, »Umkämpfte Krisen: Migrationsregime als Analyseperspektive migrationsgesellschaftlicher Gegenwart.« In Postmigrantische Perspektiven, 229. 146 Michael Bommes, Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft : eine Aufsatzsammlung: IMIS-Beiträge 38 (Osnabrück, 2011), 15–18. 147 Boris Nieswand und Heike Drotbohm, »Einleitung: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung.« In Kultur, Gesellschaft, Migration: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, hg. v. Boris Nieswand und Heike Drotbohm, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik (Wiesbaden: Springer VS, 2014), 3; Andreas Pott, Christoph Rass und Frank Wolff, »Was ist ein Migrationsregime? Eine Einleitung.« In Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, hg. v. Andreas Pott, Christoph Rass und Frank Wolff, Migrationsgesellschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2018), 5–7. 148 Bommes, Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft : eine Aufsatzsammlung, 42. 143
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Die Eingebundenheit der Migrationsforschung in gesellschaftliche Machtverhältnisse ist Teil einer nationalstaatlichen Normalisierungspraxis. Aus einer nationalstaatlichen Perspektive entwickelt sich eine naturalisierte Unterscheidung zwischen Migration und Nicht-Migration. Sie legt Migration als wichtigste Differenzkategorie für Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zugrunde und stellt die Existenzberechtigung von Migrationsforschung dar. Somit ist Migrationsforschung nicht nur Teil dieser Normalisierungsund Unterscheidungspraxis, sondern wird dadurch erst hervorgebracht. Migration wird häufig als erklärende Variable für viele Phänomene genutzt, oft als Krisenerscheinung gerahmt und im politischen, medialen und gesellschaftlichen Diskurs stark emotionalisiert und undifferenziert verhandelt. Wenn diese Annahmen unhinterfragt von der Forschung übernommen werden, bestätigen und verstärken sie die Normalisierungspraxis. Migrationsforschung als Auftragsforschung legt häufig nicht nur diese Differenzlogik zu Grunde, sondern bedient sich des Weiteren nationaler Sichtweisen auf Migration wie statistischer Daten, rechtlicher Kategorisierungen oder ethnischer Gruppen als Analyseeinheiten. Reflexive Migrationsforschung hingegen setzt Migration nicht als zentrales Differenzkriterium, sondern fragt, wann dieses wie relevant gemacht wird und welche Sortiermuster, Kategorisierungen und Grenzziehungen damit verknüpft werden.149 Reflexive Forschung berücksichtigt die eigene Involviertheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse und die nationalstaatliche Prägung der Wissensordnungen über Migration. Durch die Reaktion der Forschung auf die vermehrte Fluchtzuwanderung ab 2015 gerieten diese reflexiven Ansätze jedoch stärker in den Hintergrund. Stattdessen wurde die Notwendigkeit eines neuen Forschungszweiges betont, ohne grundsätzlich an die sich langsam etablierenden Standards einer reflexiven Migrationsforschung anzuknüpfen.150 Die Vertreter*innen einer Flüchtlings- bzw. seit 2019 Fluchtforschung151 heben die Besonderheit von Flüchtlingen hervor, dass diese »aufgrund ihres Verlusts von und auf der Suche nach grundlegenden Rechten und Schutz migrieren«152 , »auf den Schutz ihrer Rechte durch aufnehmende Staaten angewiesen [sind und] [...] deshalb als eine in besonderer Weise vulnerable Gruppe charakterisiert werden«153 können. Neben der sich daran anschließenden, fragwürdigen Trennung von hilfsbedürftigen Flüchtlingen und
149 Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, 13–6; Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 26; Rass und Tames, »Negotiating the Aftermath of Forced Migration: A View from the Intersection of War and Migration Studies in the Digital Age,« 8, 28–30. 150 J. O. Kleist, »Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung.« PERIPHERIE – Politik • Ökonomie • Kultur 35, 138–139 (2015): 154 Kleist nennt es ein zentrales selbstreflexives Element der Flüchtlingsforschung, wer als Flüchtling gilt. Dies kann jedoch nicht als ein common sense der Flüchtlingsforschung bezeichnet werden. 151 Christiane Fröhlich und Ulrike Krause, Flucht- oder Flüchtlingsforschung? Kritische Reflexionen zur Benennung eines Forschungsfeldes (2018), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://blog.fluchtforschu ng.net/flucht-oder-fluchtlingsforschung-kritische-reflexionen-zur-benennung-eines-forschungs feldes/?hilite=%27fl%C3%BCchtlingsforschung%27. 152 Kleist, »Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung,« 153. 153 Albert Scherr und Karin Scherschel, »Einleitung: Flucht und Deportation – was ist das soziale Problem?« Soziale Probleme 26, Nr. 2 (2015): 121.
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unerwünschten Migrant*innen ist nicht nachvollziehbar, warum eine besondere Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit einen eigenständigen Forschungszweig erfordert. Es besteht die Gefahr, bestimmte Zuschreibungen und Grenzziehungen unhinterfragt zu reproduzieren: »Der moderne Flüchtlingsbegriff, der Staaten auffordert, auch Nicht-Staatsangehörigen bestimmte Rechte zu gewährleisten, ist höchst selektiv, historisch und aktuell, und zugleich höchst wirkmächtig. [...] Denn ersichtlich ist es keineswegs selbstevident, warum absolutes Elend im Unterschied zu politischer Verfolgung keinen Anspruch auf Schutz begründen soll. Denjenigen, denen die politische und rechtliche Anerkennung als Flüchtling im Sinne der politischen und rechtlichen Definitionen verweigert wird, wird damit jedoch zugleich Aufnahme und Schutz verwehrt.«154 Flucht wird in dieser Arbeit als eine Form von Migration gesehen, welche in ihrer Wahrnehmung und Kategorisierung gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterliegt. Die politische Reaktion im Aufnahmekontext auf Fluchtmigration stellt die Gewährung oder Verweigerung von Asyl dar. Daher werden als Schwerpunkt Diskurse über Asyl im Aufnahmekontext betrachtet und nicht Fluchtbewegungen an sich. Auch geflüchtete Menschen selbst erfahren häufig erst durch institutionelles Handeln der Aufnahmegesellschaft eine Einordnung in die Kategorie Flüchtling. Eine Asylgeschichte und eine Identität als Flüchtling entstehen somit erst in Europa.155 Die Unterscheidung zwischen Flucht und anderen Migrationsformen wird daher nicht vorausgesetzt, sondern es wird betrachtet, welchen zugewanderten Menschen die Kategorie des Flüchtlings im Diskurs zugeschrieben bzw. verweigert wird, was sich auf Schutzgewährung und Bleiberecht auswirkt. Es zeigt, wie machtvoll diese vermeintlich eindeutige Einteilung ist, welche im Diskurs meist anhand von legitimen und illegitimen Fluchtgründen vorgenommen wird. Der besondere Fokus dieser Arbeit auf Flucht und Asyl ist darin begründet, dass betrachtet werden soll, was in den Zeitungen als solches verhandelt wird und welche Rolle dies für das nationale Selbstverständnis spielt: »Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik eine Garantie für die grundsätzliche Abkehr der Bundesrepublik von einer rassistisch geprägten Vergangenheit, insbesondere vom Nationalsozialismus, dar. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des ›Nichteinwanderungslandes‹ bedeutet hätte und als ein Aufgeben der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden wurde«.156 Diskurse über Flucht und Asyl sind in besonderer Weise mit der Konstruktion des Eigenen verknüpft. Die Asylgewährung offenbart die grundlegenden Strukturen unserer Welt, die auf Nationalstaaten basieren, welche die Souveränität über das eigene Territorium besitzen und Zugehörigkeit auf der Basis von Staatsbürgerschaft gewähren.157
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Ebd., 119. Niedrig und Seukwa, »Die Ordnung des Diskurses in der Flüchtlingskonstruktion.« 184. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 893. Klaus Schlichte, »Flucht und Asyl – zur Genealogie eines Feldes.« In Politik der Unentschiedenheit, 34.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Gleichzeitig werden genau diese Vorstellungen und die binäre Logik von nationaler Zugehörigkeit durch das Asylrecht herausgefordert. Asyl steht stets im Spannungsfeld zwischen Menschen- und Staatsbürgerschaftsrechten und erfordert von Staaten eine Aushandlung, »ob das Wohlergehen von Flüchtlingen politisch und moralisch für nationalstaatliche Politik gleichermaßen relevant sein soll und kann wie das Wohlergehen von Staatsbürger/innen«158 . Anhand der Asylgewährung wird deutlich, ob der Anspruch der universalen Menschenrechte jenseits des Nationalstaats wirklich eingelöst wird.159 Somit »ist die Formulierung und Praxis des Asyls auch immer Aussage einer Gesellschaft über sich selbst«160 . Bezugspunkte dieses Selbstverständnisses sind beispielsweise die Distanzierung vom Nationalsozialismus, die Vorstellung einer ethnisch-homogenen Volksgemeinschaft, die Frage des Einwanderungslandes und der Umgang mit Pluralität und Vielfalt.161 Reflexive Migrationsforschung beschäftigt sich mit den gerade beschriebenen Herausforderungen von Wissenschaft, Teil von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu sein und Kategorisierungen vorzunehmen oder zu bestätigen. Reflexive Ansätze versuchen, die gewohnte Sichtweise auf Migration und die Binarität zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen, zwischen legitimen und illegitimen Flüchtlingen zu hinterfragen sowie die Wechselwirkungen zwischen Migration und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies ist für meine Fragestellung hinsichtlich der Aushandlung des nationalen Selbstverständnisses und der Konstruktion des Eigenen und des Anderen wesentlich. Die im Folgenden dargestellten Gemeinsamkeiten einer reflexiven Migrationsforschung162 werden anhand von den drei Themen Reflexivität, Umgang mit Kategorisierungen und Verständnis von Gesellschaft dargestellt, die in vielen Ansätzen vorkommen und die für die Fragestellung relevant sind. Eine Notwendigkeit zur Reflexivität ergibt sich aus der Einsicht, dass Wissen niemals neutral ist, sondern in Machtverhältnisse eingebunden ist und sich daraus eine Verantwortung in der Wissenschaft ergibt. Um Forschung reflektieren zu können, ist es daher notwendig, die eigene theoretische Perspektive, normative Grundannahmen sowie gegebenenfalls die gesellschaftliche Positioniertheit der Forscher*innen offen zu legen. Damit distanziert sich reflexive Migrationsforschung von Forschung, die versucht, allein
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Scherr und Scherschel, »Einleitung: Flucht und Deportation – was ist das soziale Problem?,« 121. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 104; Scherr und Scherschel, »Einleitung: Flucht und Deportation – was ist das soziale Problem?«. 160 Klaus Schlichte, »Flucht und Asyl – zur Genealogie eines Feldes.« In Politik der Unentschiedenheit, 31. 161 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 101. 162 Boris Nieswand und Heike Drotbohm, Hg., Kultur, Gesellschaft, Migration: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, Studien zur Migrations- und Integrationspolitik (Wiesbaden: Springer VS, 2014); Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich; Paul Mecheril et al., Hg., Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive (Wiesbaden: Springer VS, 2013); Manuela Bojadžijev et al., Hg., Vom Rand ins Zentrum: Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berliner Blätter Heft 65 (Berlin: Panama Verlag, 2014); Naika Foroutan, Juliane Karakayalı und Riem Spielhaus, Hg., Postmigrantische Perspektiven: Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik (Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2018).
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
anhand von empirischen Ergebnissen Wirklichkeit zu beschreiben.163 Des Weiteren wird damit berücksichtigt, das Forscher*innen meist auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Positioniertheit privilegiert sind, was sich auf ihre Wahrnehmung von Wirklichkeit und des Forschungsgegenstandes auswirkt.164 Dies mag ein Grund sein, dass sich partizipative Ansätze in der Migrationsforschung zunehmend etablieren.165 Zwei Ansätze, wie ein solches reflexives Vorgehen aussehen könnte, sollen hier benannt und genutzt werden. Zum einen ist es möglich, anhand von analytischen Konzepten wie beispielsweise zu Mobilität, Ethnizität oder Identität eine Distanzierung zur Normalisierungspraxis und eine Dekonstruktion normativer Grundannahmen zu erreichen.166 Ein anderer Zugang ist es, zuerst einen normativ reflektierten, kritischen Standpunkt einzunehmen, bei dem auch das Ziel der Forschung benannt wird. Ein kritischer Standpunkt würde demnach beinhalten, aufzuzeigen, was Menschen im Hinblick auf die Möglichkeit einer freien und menschenwürdigen Existenz behindert, degradiert und entmündigt. Was dies im Einzelnen beinhaltet, muss jeweils neu definiert werden.167 Eine zentrale Herausforderung für eine (selbst-)reflexive Migrationsforschung ist der Umgang mit Kategorien und Kategorisierungen oder anders formuliert: was bleibt von einer Migrationsforschung ohne Gruppenkonstruktionen? Migrationsforschung steht dabei stets in dem Dilemma, zum einen ihren Gegenstand benennen zu müssen, zum anderen durch Kategorisierungen auch an vorherrschende Zuschreibungen und Differenzkonstruktionen anzuknüpfen und diese zu reproduzieren. Hierbei kann helfen zwischen alltagssprachlichen und analytischen Kategorien zu trennen. Alltagssprachliche Kategorien sind jene aus dem empirischen Datenmaterial und damit Bestandteil des Erkenntnisinteresses. Analytische Kategorien hingegen ergeben sich aus einer theoriebasierten Fragestellung und sind konzeptionelle Instrumente für die Analyse. Reflexive Migrationsforschung zeichnet sich dann dadurch als, dass sie Differenz nicht als gegeben voraussetzt, sondern betrachtet, wie diese Selbst- und Fremdzuschreibungen durch Grenzziehungsprozesse erst hergestellt oder in Frage gestellt werden. Dabei wird nicht nur ein relationales, subjektives und prozessuales Verständnis von Identität zugrunde gelegt, sondern auch migrationsrelevante Kategorien nur als ein Identitätsaspekt unter anderen in intersektionalen Wechselwirkungen mit anderen betrachtet. Des Weiteren bedeutet dies, dass Migrant*innen als handlungsfähige Subjekte mit ihren eigenen Subjektivierungsweisen ernst genommen werden und das Wechselspiel zwischen Ka-
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Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 41–2. 164 Wiebke Scharathow, »Vom Objekt zum Subjekt. Über erforderliche Reflexionen in der Migrationsund Rassismusforschung.« In Broden; Mecheril, Rassismus bildet (s. Anm. 177), 90–4. 165 Hella von Unger, Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis, Lehrbuch (Wiesbaden: Springer VS, 2014); Helen Schwenken, »Epistemologische und methodologische Reflexionen zu partizipativer Forschung.« In Klomann et al., Forschung im Kontext von Bildung und Migration (s. Anm. 119). 166 Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, 19–23. 167 Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 41–3.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
tegorisierung, Selbst- und Fremdzuschreibung sowie Subjektwerdung berücksichtigt wird.168 Als dritter wesentlicher Punkt wird ein Perspektivwechsel von Migration hin zu Gesellschaft als wesentlicher Teil einer reflexiven Migrationsforschung betrachtet. Anstatt Migration als vorherrschendes Erklärungsmuster und als zu erforschende Besonderheit vorauszusetzen, wird die Wechselwirkung zwischen Migration und Gesellschaft in den Blick genommen und die zugrunde liegenden Menschen- und Gesellschaftsbilder offengelegt. Migration wird dann als Ursache, Folge oder Ausdruck gesellschaftlichen Wandels verstanden.169 Dabei kann analysiert werden, wie sich Gesellschaft und Identitäten durch Migration verändert haben und welche sozialen Fragen beispielsweise hinsichtlich Gleichheit und Zugehörigkeit durch die Linse der Migration verhandelt werden. Anstatt von eindimensionalen Gesellschaftsmodellen auszugehen, in die sich Migrant*innen integrieren sollen, wird das Verhältnis von Individuen zu natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen betrachtet und in welchen Kontexten Migration relevant gemacht wird. Rassismus und Diskriminierung werden als Teil eines gesellschaftlichen Verhältnisses gesehen, welches Zugänge und Teilhabe strukturiert.170 Dies drückt sich auch in der Forderung aus, »Gesellschaftsforschung zu migrantisieren«171 und Migration und Heterogenität stärker als Querschnittsthema zu berücksichtigen.172 Dies soll im Folgenden mit dem Ansatz der postmigrantischen Perspektive genauer ausgeführt werden. Diese versucht, »Migration als erklärende Variable für Alterität in Frage zu stellen und den Fokus auf herkunftsübergreifende Erklärungen für gesellschaftspolitische Kernkonflikte um Anerkennung, Chancengerechtigkeit und Teilhabe in pluralen Demokratien zu lenken.
168 Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, 18–22; Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 26; Wiebke Scharathow, »Vom Objekt zum Subjekt. Über erforderliche Reflexionen in der Migrations- und Rassismusforschung.« In Rassismus bildet, 106–8; Melanie Behrens, »Zur Reproduktion von Kategorisierungen in der Migrationsforschung.« In Forschung im Kontext von Bildung und Migration, 65–9. 169 Alejandro Portes, »Migration and Social Change: Some Conceptual Reflections.« Journal of Ethnic and Migration Studies 36, Nr. 10 (2010); Christoph Reinprecht und Rossalina Latcheva, »Migration: Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken.« In Was wir nicht wissen: Forschungs- und Wissenslücken der Migrationssoziologie, hg. v. Christoph Reinprecht und Rossalina Latcheva, Österreichische Zeitschrift für Soziologie Sonderheft 15 (Wiesbaden: Springer VS, 2016), 3–5. 170 Kijan M. Espahangizi, »Ab wann sind Gesellschaften postmigrantisch?« In Postmigrantische Perspektiven, 49; Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Postmigrantische Perspektiven, 270; Boris Nieswand und Heike Drotbohm, »Einleitung: Die reflexive Wende in der Migrationsforschung.« In Kultur, Gesellschaft, Migration, 11–7; Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 25–8. 171 Manuela Bojadžijev und Regina Römhild, »Was kommt nach dem ›transnational turn‹? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung.« In Bojadžijev et al., Vom Rand ins Zentrum (s. Anm. 200), 11. 172 Janine Dahinden, »Migration im Fokus? Plädoyer für eine reflexive Migrationsforschung.« In Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich, 24–5.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Die Hypothese lautet: Der Kernkonflikt heterogener Gesellschaften dreht sich nicht um Migration, sondern um die Aushandlung und Anerkennung von Gleichheit [...]. Die Omnipräsenz des Migrationsdiskurses verdeckt diesen zentralen Aushandlungskonflikt.«173 Postmigrantische Ansätze umfassen ähnlich wie postkoloniale Ansätze keine klar umrissene Theorie. Grundsätzlich geht es darum, Gesellschaften nach erfolgter Migration zu analysieren und anzuerkennen, dass Migration eine bedeutsame und wirkmächtige Kategorie in der Transformation von Gesellschaft und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen darstellt. Dabei werden nicht Personen als Postmigrant*innen beschrieben, um nicht weiterhin Binaritäten und identitäre Zuschreibungen zu reproduzieren, noch ist die Entwicklung hin zu einer postmigrantischen Gesellschaft ein linearer Prozess. Kennzeichnend für eine postmigrantische Gesellschaft ist vielmehr ein Realisierungsprozess zwischen Anerkennung und Ablehnung, dass Gesellschaft von Migration und Pluralität geprägt und gestaltet ist. Die Unbestimmtheit des Begriffs hat auch ihre Stärke, und soll hier auch genutzt werden, um einen Aspekt der postmigrantischen Perspektive zu fokussieren, der für die Fragestellung als besonders relevant erscheint.174 Dieser lässt sich zusammenfassen als Migration als Metanarrativ. Dabei wird davon ausgegangen, dass Migrationsdiskurse so omnipräsent sind, weil sie eine bestimmte gesellschaftliche Funktion erfüllen und darüber gesellschaftliche Aushandlungsprozess stattfinden. Migration wird als Störung der Ordnung bewertet und ermöglicht damit, Wissen und Erfahrungen zu strukturieren, symbolische Grenzen zu ziehen, binäre Strukturen aufrecht zu erhalten und Subjekten bestimmte Positionen in der Gesellschaft zuzuweisen. Die Folge davon ist, dass gesellschaftliche Konflikte um den Zugang zu Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe und Fragen von nationaler Identität, Selbstverständnis und Zugehörigkeit verdeckt und stellvertretend über das Thema Migration verhandelt werden. Insbesondere in den letzten Jahren zeigte sich dies anhand der Polarisierung zwischen einer offenen, vielfältigen Gesellschaft und eine Orientierung an einem konservativen bis völkisch-nationalen Verständnis von Gesellschaft.175 Die Schlussfolgerungen aus einer reflexiven Migrationsforschung liegen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zum einen wurde die eigene Forschungsperspektive und Verortung in der reflexiven Migrationsforschung dargestellt. Grundlegend dafür ist die Bewusstwerdung, dass die eigene wissenschaftliche Disziplin von bestimmten Regelhaftigkeiten, Deutungsmustern und Wissensordnungen geprägt ist. Eine poststrukturalistische Herangehensweise wirft grundlegend die Frage auf, wie Forschung überhaupt über Migration denken und sprechen kann. Forschung wird daher als Konstruktionsprozess betrachtet, der es erforderlich macht, die eigenen Grundannahmen offen zu legen. Eine Herausforderung stellt der Umgang mit Kategorisierungen und 173 174
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Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Postmigrantische Perspektiven, 271. Erol Yildiz, »Ideen zum Postmigrantischen.« In Foroutan; Karakayalı; Spielhaus, Postmigrantische Perspektiven (s. Anm. 20), 20–3; Kijan M. Espahangizi, »Ab wann sind Gesellschaften postmigrantisch?« In Postmigrantische Perspektiven, 35–8. Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Postmigrantische Perspektiven, 276–83.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
mit Begrifflichkeiten in den Quellen dar, da sie benötigt werden, um Dinge, Sachverhalte und Menschengruppen zu beschreiben, gleichzeitig aber stets mit bestimmten Zuschreibungen, Deutungsmustern und Bildern verbunden sind. Es besteht die Gefahr, diese zu reproduzieren oder selbst Essentialisierungen vorzunehmen. Auch die wissenschaftliche Literatur, die für die Kontextualisierung herangezogen wird, liefert nicht nur Informationen für ein besseres Verständnis der Situation, sondern auch bereits bestimmte Deutungsmuster bzw. Distanzierungen davon. Auch hier soll der Konstruktionscharakter mitberücksichtigt werden, in dem Wissen, dass auch ich als Forscherin nicht außerhalb der Wissensordnungen stehe. Für die Analyse erscheint die Verbindung von medialen Diskursen über Asyl und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zentral. Mit der Perspektive auf Migration als Metanarrativ soll betrachtet werden, wann Diskurse über Asyl als Metanarrativ fungieren, welche gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse und Selbstvergewisserungen damit verbunden sind und welche Konstruktionen und Verhältnisse des Eigenen und Anderen dabei relevant werden. Zudem wird in der Analyse berücksichtigt, wo alternative Deutungsmuster sichtbar werden, die Flucht und Asyl nicht in der Funktion als Metanarrativ und als Abgrenzung bzw. zur Herstellung des Eigenen nutzen. Die diskursanalytische Vorgehensweise wird nun genauer erläutert.
2.5 Diskursanalytische Vorgehensweise Diskurse werden als Bedeutungszuschreibungen und kollektive Wissensordnungen verstanden, die zumindest für eine bestimmte Zeit stabilisiert und institutionalisiert werden. Diskursanalyse untersucht diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion, ihre Stabilisierung, ihre Institutionalisierung und Diskontinuitäten. Sie ist jedoch mehr eine Forschungsperspektive als eine spezielle Methode.176 »Methodologische Überlegungen [...] sind sozusagen Baugerüste. [...] Das ist nicht eine allgemeine Methode, die für andere oder für mich definitiv gültig wäre. Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte, weder für mich noch für sonst jemand. Es sind bestenfalls Werkzeuge – und Träume«.177 Dies ist Segen und Fluch zugleich und erfordert von den Forschenden, selbst die geeigneten Werkzeuge auszuwählen und damit das eigene Erkenntnisinteresse und die theoretischen Ansätze in eine Methodologie zu übersetzen.178 Auch postkoloniale Ansätze beschäftigen sich mit Diskursen. Postkoloniale Diskursanalyse betrachtet Selbst- und Fremdbilder in gesellschaftlichen Diskursen. Wesentliches Ziel ist es, die Konstruktion von Stereotypisierungen, Differenzsetzungen und Essentialisierungen zu erfassen und zu analysieren, wie sie gesellschaftliche Wissensordnungen über das Eigenes und Andere prägen.179 Nur wenige Studien zu Selbst176 177 178 179
Keller, Diskursforschung, 7–8. Michel Foucault, Dits et Ecrits.: Schriften 4: 1980–1988, 4 Bde. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005), 53. Reiner Keller et al., Diskurse untersuchen: Ein Gespräch zwischen den Disziplinen, 1. Auflage (Weinheim, Basel: Beltz Juventa, 2020), 29. Birgit Neumann, »Methoden postkolonialer Literaturkritik und anderer ideologiekritischer Ansätze.« In Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse: Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, hg. v. Vera Nünning, Ansgar Nünning und Irina Bauder-Begerow (Stuttgart: Springer
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
und Fremdbildern betrachten jedoch eine längere Zeitspanne und den historischen Wandel der Konstruktionen.180 Orientalismus als zentrales Werk über die Konstruktion des Anderen enthält kaum methodologische Reflexionen. Hinzu kommt, dass sich das diskursanalytische Verständnis bei Said und Foucault stark unterscheiden.181 Said versucht mit seiner Analyse, Kontinuitäten im orientalischen Diskurs über die Jahrhunderte aufzuzeigen und identifiziert dabei Akteure, Interessen und Machtzentren. Foucault hingegen distanziert sich von einer akteurzentrierten Perspektive, betont die Diskontinuitäten, die Kontingenz und die Historizität des Diskurses.182 Während die Fragestellung der vorliegenden Arbeit stark durch eine postkoloniale Perspektive inspiriert ist, orientiere ich mich bei der methodischen Umsetzung stärker an Foucault bzw. daran anschließenden Vorgehensweisen, weil mich Wissensordnungen mit ihren (Dis-)Kontinuitäten interessieren und bestimmte Akteur*innen dafür eine untergeordnete Rolle spielen. Zudem beschäftigt sich die Diskursanalyse in Anlehnung an Foucault mit der Beziehung von Wissen, vermeintlicher Wahrheit und Macht und betrachtet, wie diese mit Differenz und Identität in Verbindung stehen.183 Sie bezieht sich daher auf ähnliche Grundannahmen wie die andere Theoriebezüge. Zusammenfassend ist Diskursanalyse eine Methode zur Untersuchung kollektiver Wissensordnungen und Bedeutungszuschreibungen. Sie beinhaltet Interpretationsarbeit und muss systematisch, transparent, nachvollziehbar und in Abstimmung mit dem Erkenntnisinteresse erfolgen. Im Unterschied zu anderen Ansätzen qualitativer Forschung geht es nicht um die Rekonstruktion subjektiver Sinnzuschreibungen und das Herausarbeiten verborgener Absichten, sondern um die Analyse von Regelmäßigkeiten. Im Folgenden soll auf einige Begriffe eingegangen werden, die in der Analyse nützlich sind, um bestimmte Strukturen und Charakteristika des Diskurses zu benennen. Der Diskurs als Ganzes wird als eine Wissensordnung verstanden. In dieser Wissensordnung finden sich unterschiedliche Deutungsmuster, die in Diskursen aktualisiert werden oder neu entstehen und meist massenmedial vermittelt sind. Deutungsmuster beschreiben die zugrunde liegenden Interpretationsschemata des Diskurses. »Der Begriff des Deutungsmusters bezeichnet dann grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahelegen, worum es sich bei einem Verlag, 2010), 274ff; Siehe auch Karlheinz Barck, »›Entkolonisierung des Geistes‹ als ›Reise nach innen‹. Notizen nach der Lektüre von Edward W. Saïds Studie ›Kultur und Imperialismus‹.« Neue Bildende Kunst. Zeitschrift für Kunst und Kritik, Nr. 5 (1993), Online unter: http://universes-in-univers e.de/magazin/marco-polo/d-barck.htm. 180 Michael C. Frank, »Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults ›Archäologie‹ in der postkolonialen Theorie.« In PostModerne De/Konstruktionen, 153. 181 Said bezieht sich zwar in Orientalismus an zwei Stellen explizit auf Foucault, vertritt aber ein ganz anderes Diskursverständnis: »[S]uch texts can create not only knowledge, but the reality they appear to describe. Such knowledge produces a tradition, or what Foucault calls a discourse« Edward W. Said, Orientalism (Harmondsworth, 1995), 94. 182 Michael C. Frank, »Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults ›Archäologie‹ in der postkolonialen Theorie.« In PostModerne De/Konstruktionen, 139ff. 183 Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungsprogramms, 1. Aufl. (Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 2005); Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung; Inga Truschkat und Inka Bormann, Hg., Einführung in die erziehungswissenschaftliche Diskursforschung: Forschungshaltung, zentrale Konzepte, Beispiele für die Durchführung (Weinheim: Beltz Juventa, 2020).
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Phänomen handelt.«184 Asylmissbrauch ist beispielsweise ein zentrales Deutungsmuster des untersuchten Diskurses. Die Deutungsmuster beinhalten meist verschiedene Kollektivsymbole, die aus Bildern, Symbolen und Metaphern bestehen, welche eine bestimmte Deutung von der Wirklichkeit beinhalten und meist auf Grenzziehungen zwischen innen und außen beruhen.185 Weit verbreitete Kollektivsymbole im Diskurs über Flucht und Asyl sind Wassermetaphern oder die Nation als Boot (siehe Kapitel 3.2.3). Als weiterer analytischer Begriff soll leerer Signifikant erläutert werden. Leere Signifikanten sind Wörter, deren Bedeutung so stark verallgemeinert und von konkreten Vorstellungen entkoppelt wurde, dass sie eigentlich nur noch eine leere Hülle darstellen, die mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt werden. Leere Signifikanten wie beispielsweise Demokratie oder Freiheit sind gerade durch ihre Unbestimmtheit ein wesentlicher Bestandteil von Bedeutungssystemen.186 Auch Begriffe, die eine geschlechtsspezifische oder rassifizierende Differenz ausdrücken, können die Funktion eines leeren Signifikanten im Diskurs einnehmen.187 Als letztes Konzept soll das diskursive Ereignis eingeführt werden. Reale werden zu diskursiven Ereignissen, wenn ihnen medial eine erhöhe Aufmerksamkeit zuteil wird und sie als außergewöhnlich markiert werden. Es gibt dabei Positionen im Diskurs, die im Gegensatz zu den kollektiv anerkannten und häufig institutionalisierten Deutungsmustern stehen.188 »Diskursive Ereignisse zeichnen sich durch eine erhöhte Konflikthaftigkeit aus, weil sie zum einen häufig Fragestellungen behandeln, die fundamental für das Selbstverständnis einer Gesellschaft sind, und zum anderen eine Wegkreuzung markieren, die dem zukünftigen Handeln alternative Routen eröffnet. Sie bilden Kristallisationspunkte in der kontinuierlichen Produktion von Diskursen.«189 Für die Analyse wurden mit der SZ und der FAZ zwei der auflagenstärksten, bundesdeutschen Tageszeitungen ausgewählt, die den Qualitätsmedien zuzuordnen sind und damit als Leitmedium der öffentlichen Kommunikation verstanden werden können.190 Redaktionen produzieren und reproduzieren Wissensbestände und sind daher eine besonders geeignete Quelle zur Rekonstruktion von gültigem Wissen und gesellschaftli-
184 Reiner Keller, »Wissenssoziologische Diskursforschung und Deutungsmusteranalyse.« In Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen, hg. v. Diana Lengersdorf und Sylka Scholz, Geschlecht und Gesellschaft Bd. 54 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2014), 156. 185 Siegfried Jäger und Jens Zimmermann, Hg., Lexikon kritische Diskursanalyse: Eine Werkzeugkiste, 1. Auflage, Edition DISS 26 (Münster: Unrast, 2010), 72. 186 Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, 3 Aufl. ([s.l.]: Turia + Kant, 2018), 65–67. 187 Hall und Gates, Das verhängnisvolle Dreieck, 62. 188 Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse: Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991–1999 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2002), 62–63. 189 Ebd., 62. 190 Es gibt keine allgemeinen Kriterien, wie Qualitätsmedien definiert sind. Aspekte sind beispielsweise differenzierte, seriöse Berichterstattung, starke Spezialisierung der Redaktionen, Mitgestaltung von Meinungs- und Willensbildungsprozessen. Vgl. Roger Blum, »Einleitung. Leidende Leuchttürme. Über die Unentbehrlichkeit von Qualitätsmedien.« In Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation: Vergangenheit und Zukunft der Qualitätsmedien, hg. v. Roger Blum, Mediensymposium (Wiesbaden: Springer VS, 2011).
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cher Wissensordnungen.191 Diskursanalysen von massenmedialen Daten werden häufig durchgeführt, ohne dass das Medium theoretisch und konzeptionell ausreichend berücksichtigt wird, obwohl massenmedialen Daten, in diesem Fall Zeitungsartikel, eine stark formalisierte und Regelhaftigkeiten unterworfene Art der Kommunikation darstellen.192 Dies wurde oben schon genauer betrachtet (Kapitel 2.1). Es wird nun versucht, die Charakteristika der beiden Zeitungen kurz zu umreißen, auch wenn dies nur eine sehr grobe Kategorisierung darstellt, und sowohl der Bandbreite als auch der zeitlichen Entwicklung nicht gerecht wird. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die 1949 in Frankfurt gegründet wurde, wird dabei eher als bürgerlich-konservativ beschrieben, wobei es zwischen dem konservativen Politik-, liberalen Wirtschafts- und linksliberalen Feuilletonteil deutliche Unterschiede gibt. Weitere Kennzeichen der FAZ sind ihr Schwerpunkt auf Wirtschaft, viele Auslandskorrespondent*innen und viele Gastbeiträge und Rezensionen, die die Zeitung für Kultur und Wissenschaft bedeutsam machen. Die Leser*innen sind überdurchschnittlich gebildet und finanzstark. Die Süddeutsche Zeitung, die 1945 in München gegründet wurde, kann als sozial- bzw. linksliberal beschrieben werden. Kennzeichen sind der ausführliche Kulturteil und die regionale Verortung in Bayern. Bis in die 1990er Jahre kam die Hälfte ihrer Leser*innen aus Bayern. 1988 gaben 82 % der Bundestagsabgeordneten an, regelmäßig die FAZ zu lesen, sowie 70 % die SZ.193 Dies lässt auf eine enge Beziehung zwischen den beiden Zeitungen und Politiker*innen schließen, weil nicht nur die Zeitungen über Politik berichten, sondern auch Politiker*innen sich anhand der beiden Zeitungen informieren. Die Analyse von vergangenen Diskursen bringt einige Besonderheiten mit sich. Foucault versuchte mit seiner historischen Arbeitsweise der »Genealogie« sichtbar zu machen, dass scheinbar selbstverständlich und natürlich erscheinende Wahrheiten und Ordnungen aus einer historisch-spezifischen Entwicklung resultieren, die auch ganz anders hätte sein können. Dabei werden Diskontinuitäten und Brüche besonders betrachtet.194 Die Nutzung historischen Datenmaterials kann zunächst helfen, eine Distanz zu schaffen und die Vertrautheit der Argumentationen und Deutungsmuster und die vermeintliche Natürlichkeit diskursiver Konstruktionen zu unterbrechen.195 Gleichzeitig erfordert eine Diskursanalyse historischer Daten eine umfassendere Kontextualisierung, da nur so Bedeutung, Zusammenhänge und zeitliche Entwicklungen
Keller, Diskursforschung, 72–77; Johannes Angermuller und Veit Schwab, »Zu Qualitätskriterien und Gelingensbedingungen in der Diskursforschung.« In Diskursforschung, 647–9. 192 Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse.« In Diskursforschung, 411; Tim Karis, »Massenmediale Eigenlogiken als diskursive Machtstrukturen.« In Mediendiskursanalyse, 47–8 Pundt, Medien und Diskurs, 131–33. 193 Hoeres, Zeitung für Deutschland, 291, 421–422, 430–433; Lutz Hachmeister, »Süddeutsche Zeitung.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.mediadb.eu/forum/zeitungsportraets/sueddeutsch e-zeitung.html; Kurt Kister und Joachim Käppner, Hg., 75 Jahre Süddeutsche Zeitung: Geschichte & Geschichten : SZ (München: Süddeutsche Zeitung, 2020), 4–5. 194 Yasemine Chehata, Fabian Kessl und Nils Wenzler, »Gouvernementalität.« In Truschkat; Bormann, Einführung in die erziehungswissenschaftliche Diskursforschung (s. Anm. 221), 53–4. 195 Philipp Sarasin, »Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft.« In Keller et al., Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (s. Anm. 42), 57–8. 191
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
diskursiver Konstruktionen analysiert und verstanden werden können.196 Ähnlich wie eine theoretische Fundierung der Bedingungen und Besonderheiten massenmedialer Diskurse ist auch das Verhältnis von Text, Kontext und Diskurs noch wenig beleuchtet worden.197 Die Kontextualisierung spielt in diskursanalytischen Arbeiten meist eine untergeordnete Rolle. Beim Nachdenken über den Kontext ergeben sich dabei zwei Probleme: Wenn soziale Wirklichkeit erst sprachlich hergestellt wird, bedeutet dies, dass es nur einen über meist sprachliche Zeugnisse vermittelten Zugriff auf die Vergangenheit gibt. Es gibt daher nicht auf der einen Seite die »Realität« und auf der anderen Seite den »Diskurs«.198 Daran anschließend stellt sich die Frage, ob Kontext eigentlich außerhalb des Diskurses steht und wie sich das Verhältnis des Datenmaterials zum Kontext darstellt.199 Für die vorliegende Studie waren folgende Überlegungen handlungsleitend. Wissenschaftliche Literatur, die zum Verstehen des Kontextes genutzt wird, beinhaltet ein höheres Abstraktionsniveau und bietet damit Hintergrundinformationen für die Einordnung der Texte. Gleichzeitig sind auch wissenschaftliche Quellen nicht »objektiv«, sondern auch Teil von Diskursen. Somit kann auch von Diskursivität oder sogar »Fiktionalität«200 vergangener Wirklichkeit gesprochen werden. Kontextualisierungen haben daher nicht das Ziel, Realität zu beschreiben und diese mit dem analysierten Diskurs vergleichen zu können. Kontext steht somit nicht außerhalb des Diskurses, sondern bietet eine Orientierung und muss gleichzeitig auch einer »Quellenkritik«201 unterzogen werden. Dies ist besonders auffällig bei zeitgenössischer wissenschaftlicher Literatur, die durch den medialen Diskurs der Zeit beeinflusst wird und die verwendeten Begriffe und Deutungsmuster aufgreift. So setzte sich der Begriff des »Asylanten« nicht nur in Politik und Medien durch, sondern fand auch bei NGOs, Kirchen und in der Wissenschaft Verbreitung.202 Für meine Vorgehensweise bedeutete dies, mich zunächst mit meinem Datenmaterial auseinanderzusetzen, um nicht die Wissensordnungen und Bedeutungszuschreibungen aus der Literatur unreflektiert zu übernehmen. Vor dem Schreiben der abschließenden Analyse war es unbedingt notwendig, mir Wissen zu den Ereignissen und Zusammenhängen anzueignen. Diese stellen jeweils den ersten Teil der Analysekapitel dar. Meine Vorgehensweise beinhaltet vier Analyseschritte, die sich aus unterschiedlichen diskursanalytischen Ansätzen zusammensetzen: Zusammenstellung des Daten-
196 Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 128–29. 197 Stefan Meier, Martin Reisigl und Alexander Ziem, »Vom (Kon-)Text zum Korpus.: Ein diskursanalytisches Kamingespräch.« In Angermuller et al., Diskursforschung (s. Anm. 10). 198 Marian Füssel und Tim Neu, »Diskursforschung in der Geschichtswissenschaft.« In Angermuller et al., Diskursforschung (s. Anm. 10), 146; Philipp Sarasin, »Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft.« In Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 74–5. 199 Stefan Meier, Martin Reisigl und Alexander Ziem, »Vom (Kon-)Text zum Korpus.« In Diskursforschung, 452. 200 Philipp Sarasin, »Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft.« In Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, 74. 201 Marian Füssel und Tim Neu, »Diskursforschung in der Geschichtswissenschaft.« In Diskursforschung, 146. 202 Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 209–15.
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66
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
korpus, Struktur- bzw. Inhaltsanalyse, Kodierung und Kategorienbildung (Feinanalyse) und Herausarbeiten der Regeln der diskursiven Bedeutungsproduktion.203 Um die Regelhaftigkeiten eines Diskurses zu erkennen und herausarbeiten zu können, braucht es relativ große Datenmengen, die zugleich eine Herausforderung von Diskursanalyse darstellen. Die Zusammenstellung der Daten sollte nach theoriegeleiteten Kriterien erfolgen.204 Ziel der vorliegenden Studie ist es, kollektive Wissensordnungen des Eigenen und Anderen im Asyldiskurs zu rekonstruieren. Medien, in diesem Fall Tageszeitungen, bieten einen Zugang zum öffentlichen Diskurs. Da es vor allem darum ging, die Kontinuitäten und Brüche des Diskurses über einen längeren Zeitraum sichtbar zu machen, musste auf eine breite Auswahl verschiedener Diskursfragmente verzichtet werden. Die Konzentration auf zwei Tageszeitungen ermöglichte eine Herausarbeitung der jeweiligen Konstruktionen und die Verortungen der beiden Zeitungen zueinander, welcher Rückschlüsse auf die Entwicklung des gesamten Diskurses zulässt. Aufgrund des induktiven Verfahrens wurden daher zunächst alle Zeitungsartikel der SZ und der FAZ nach 1945 erfasst, die die Begriffe Asyl*, Flüchtling* und Deutschland beinhalteten. »Deutschland« wurde aufgenommen, um den Bezug zum Eigenen sicherzustellen. Nach einer ersten Sichtung der Artikel und der wissenschaftlichen Literatur wurde 1977 als Startpunkt einer intensiveren gesellschaftlichen Auseinandersetzung identifiziert.205 1999 wurde als Endpunkt definiert, um die Entwicklungen nach der Grundgesetzänderung und die Debatten um den Kosovo-Konflikt und das Staatsbürgerschaftsrecht zu berücksichtigen, jedoch nicht das diskursive Ereignis des 11. Septembers 2001 mitaufzunehmen. Der Datenkorpus beinhaltete damit 2.810 Artikel, davon 1.294 von der FAZ und 1.516 von der SZ. Die folgende Grafik zeigt die Anzahl der Artikel pro Jahr:
203 Keller, Diskursforschung, 82–88; Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose, »Kodierende Verfahren in der Diskursforschung.« In Handbuch Diskurs und Raum, 379–82; Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 90–91; Wodak und Reisigl, Discourse and discrimination. 204 Keller, Diskursforschung, 82–86. 205 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 78; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 63.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Abbildung 1: Anzahl der Artikel pro Jahr
Im Vergleich mit den Asylantragszahlen ließ sich daran bereits ablesen, dass bis Anfang der 1990er Jahre die Zahl der Veröffentlichungen anstieg, wenn auch die Asylantragszahlen stiegen. Dies lässt auf einen größeren Bedarf an gesellschaftlicher Aushandlung schließen. Nach der Änderung des Asylgrundrechts blieb das Thema gesellschaftlich relevant, obwohl die Antragszahlen sanken. Dies war auch eine erste Bestätigung, dass die Zusammenstellung des Datenkorpus recht erfolgreich war.
Abbildung 2: Asylanträge in der BRD (Erst- und Folgeanträge)206
206 Eigene Darstellung. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021,« 5.
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
Da die Relevanzsetzungen und die Auswahl der Feinanalysen aus dem Diskurs heraus identifiziert werden sollten, wurde zunächst eine Struktur- und Inhaltsanalyse durchgeführt.207 Dabei wurden alle Artikel gelesen und die jeweiligen Themen des Artikels festgehalten. Dadurch konnte ein Überblick über den Diskurs, seine Bandbreite, Inhalte und diskursive Ereignisse erlangt werden. Es wurden dabei 145 Themen und Unterthemen identifiziert. Die quantitative Analyse ergab eine Übersicht über die dominanten Themen und zeitlichen Entwicklungen des untersuchten Diskurses. Da die Strukturanalyse nur einer ersten Übersicht über den Diskurs diente, wurde auf eine erneute Sortierung der Themen und Sichtung aller Artikel verzichtet. Die folgende Grafik zeigt in Prozent die häufigsten Themen des Diskurses. Abschiebung dominiert mit 16,5 % deutlich vor anderen Themen.
Abbildung 3: Dominierende Themen der Artikel in Prozent
Da es jedoch deutlich mehr Artikel in den 1990er Jahren gab, zeigt eine zeitliche Verteilung ein etwas anderes Bild. Die Betrachtung des häufigsten Themas pro Jahr ergibt eine zeitliche Übersicht über dominante Themen. Die folgende Tabelle zeigt das jeweils häufigste Thema pro Jahr, in wie vielen Artikeln das Schlagwort vergeben wurde und wie viel Prozent dies von der Gesamtzahl der Artikel ausmacht.
207 Für alle Artikel wurde Datum, Titel, Inhaltsangabe und angesprochene Themen erfasst. Die Tabelle wurde in Access erstellt, um auch quantitative Abfragen zu einzelnen Themen durchführen zu können. In Anlehnung an Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 95–98; Keller, Diskursforschung, 87.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
Tabelle 1: Häufigstes Thema pro Jahr in absoluten Zahlen und in Prozent Jahr
Anzahl der Artikel
In FAZ
In SZ
Häufigstes Thema
In Anzahl
In Prozent
1977
13
4
9
Unterbringung
5
70
1978
22
6
16
Unterbringung, Asylverfahren
5
23
1979
46
19
27
Vietnamesen
17
37
1980
81
32
49
Unterbringung, Asylmissbrauch
20
25
1981
38
21
17
Unterbringung
9
24
1982
30
13
17
Unterbringung
9
30
1983
32
17
15
Auslieferung
10
31
1984
34
19
15
DDR
10
29
1985
44
23
21
Unterbringung
10
23
1986
107
47
60
Unterbringung
23
21
1987
42
18
24
Integration, Unterbringung
7
17
1988
56
23
33
Aussiedler (siehe Kapitel 7.2.1)
10
18
1989
83
41
42
Unterbringung
15
18
1990
41
0
41
Unterbringung
15
37
1991
70
45
25
Unterbringung
19
27
1992
261
107
154
Grundgesetzänderung
79
30
1993
310
147
163
Grundgesetzänderung
78
25
1994
186
67
119
Abschiebung
65
35
1995
204
88
116
Abschiebung
86
42
1996
250
113
137
Bürgerkriegsflüchtlinge
67
27
1997
205
100
105
Bürgerkriegsflüchtlinge
46
22
1998
328
177
151
Abschiebung
71
22
1999
313
159
154
Kosovo
81
26
Tendenziell lassen sich damit drei Zeitabschnitte mit dominanten Themen identifizieren. Von 1977 bis 1991 stand das Thema Aufnahme und Unterbringung und die damit verbundenen Probleme im Vordergrund. 1992 und 1993 war die Grundgesetzänderung das zentrale Thema, ab 1994 ging es stärker um Abschiebung sowie um die Bürgerkriegsflüchtlinge. Dies erklärt nun auch, warum die Asylantragszahlen zwar nach 1993 zurückgingen, die Veröffentlichungen jedoch weiter auf einem hohen Niveau blieben. Die Gliederung in diese drei Zeitabschnitte wurde für die Feinanalyse übernommen. Um die Regeln des Diskurses zur Konstituierung von Bedeutung und der Herstellung von sozialer Wirklichkeit zu untersuchen, kann Kodieren und Kategorienbildung helfen, um Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten. Die Markierung, Ordnung und Klassifikation von Textstellen ermöglicht es, die in den Texten (re)produzierte diskursive Ord-
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70
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
nung sichtbar zu machen.208 Die konkrete Vorgehensweise soll im Folgenden beschrieben werden. Da der Datenkorpus zu groß war, um alle Artikel umfassend zu analysieren, wurden sieben Fallstudien ausgewählt, anhand derer die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen analysiert werden sollten. Die Fallstudien beinhalten ein Thema, das zu einem bestimmten Zeitpunkt im Diskurs sehr präsent war.209 Es lag die Vermutung nahe, dass es vermehrte gesellschaftliche Wahrnehmung des Themas zu diesem Zeitpunkt gab und somit auch einen Bedarf an gesellschaftlicher Aushandlung. Für den ersten Zeitraum bis zur Grundgesetzänderung wurden Artikel zu den Themen Asylmissbrauch (1977–1982), Vietnames*innen (1977–1982), DDR (1986), für den zweiten Zeitraum Anschlag und Ausländerfeindlichkeit (1991–1993) sowie Grundgesetzänderung (1991–1993) und für den dritten Zeitraum Bürgerkriegsflüchtlinge (1992–1997), kurdische Flüchtlinge und Kirchenasyl (1993–1999) sowie Einwanderungsland und Staatsbürgerschaft (1995–1999) ausgewählt. Dazu wurden zunächst alle Artikel gelesen mit der Frage, welche Konstruktionen des Eigenen und des Anderen ersichtlich werden. In Anlehnung an die Discourse Historcial Analysis (DHA) waren folgende Fragen dabei hilfreich:210 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
12.
Was ist »Asylmissbrauch«/»Ausländerfeindlichkeit« etc. (je nach Thema des Kapitels)? Welche Begriffe und Bezeichnungen finden sich im Text für das Eigene und Andere? Welche Kollektivsymbole (z.B. Flut, Boot ist voll) werden im Text genutzt? Werden die genannten Personen oder Gruppen mit einer bestimmten ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit dargestellt? Werden sie mit bestimmten Zuschreibungen verknüpft? Gibt es Unterscheidungen zwischen verschiedenen Gruppen oder Differenzmarkierungen auf der Basis kultureller, biologischer oder religiöser Merkmale? Gibt es Gruppen, denen ein (dauerhaftes) Bleiberecht zugestanden wird? Was sagt der Text über die nationale Identität und das Selbstbild Deutschlands? Gibt es Aussagen zu Integration oder Einwanderungsland? Werden Bezüge zur deutschen Geschichte allgemein oder explizit zum Nationalsozialismus hergestellt? Gibt es weitere Diskursverschränkungen? Gibt es eine Verknüpfung (Intersektionalität) mit anderen Differenzkategorien (Geschlecht, Behinderung/Gesundheit, Alter, sozialer Status/Herkunft, sexuelle Identität)? Wird ein bestimmtes Verständnis von Migrationssteuerung deutlich?
208 Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose, »Kodierende Verfahren in der Diskursforschung.« In Handbuch Diskurs und Raum. 209 Die dominantesten Themen Unterbringung und Abschiebung wurden anhand verschiedener Beispiele berarbeitet, da sie sonst zu umfangreich gewesen wären. Für jede Fallstudie wurden 50 – 200 Artikel analysiert. 210 Ruth Wodak und Katharina Köhler, »Wer oder was ist ›fremd‹? Diskurshistorische Analyse fremdenfeindlicher Rhetorik in Österreich.« SWS-Rundschau 50, Nr. 1 (2010): 38.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
13. Gibt es andere Gruppen, die auch als Andere markiert werden? Im welchen Verhältnis stehen sie zum Eigenen? 14. Was definiert der Artikel als Problem? Welche Akteure werden benannt? Wer ist zuständig für die Lösung des Problems? Was gibt es für Lösungsansätze? Welche Folgen hat es, wenn das Problem nicht gelöst wird?
Anschließend wurden Kategorien entwickelt, die jeweils die Konstruktionen des Eigenen oder des Anderen beschreiben, wie beispielsweise Rechtsstaat oder außereuropäische Herkunft. Im nächsten Schritt wurden alle Artikel kodiert, das heißt, es wurden alle Textstellen gesammelt, die etwas über die identifizierten Kategorien oder allgemein etwas über das Eigene und das Andere aussagen. Dadurch konnten auch die Häufigkeit von bestimmten Konstruktionen und zeitliche und die beide Zeitungen betreffende Veränderungen erfasst werden. Die ständigen Wiederholungen, die eine Tageszeitung auszeichnet, wurden sichtbar. Berücksichtigt wurde auch, jedoch nur bei besonderer Auffälligkeit, die Diskursposition des Schreibenden sowie Ressort und Gattung der Artikel. Dies wird damit begründet, dass es um die kollektiven Wissensordnungen des Diskurses in seiner Gesamtheit geht und nicht um die Betrachtung einzelner Redakteur*innen oder Ressorts. Abschließend geht es um die Beantwortung der Fragestellung und die Beschreibung der Wissensordnungen über das Eigene und das Andere. Durch die Fallstudien kann sowohl eine minimale als auch eine maximale Kontrastierung erreicht werden, die sowohl spezifischen Diskursen und Teilphänomenen als auch der Breite des vorhandenen Diskursmaterial und ihren Regelmäßigkeiten gerecht wird. Die abschließende Analyse dient der Herausarbeitung der Regelmäßigkeiten des Diskurses durch Abstraktion des Ausgangsmaterials. Dabei können auch Ursachen, Rahmenbedingungen, Wirkungen und Diskontinuitäten spezifischer Diskursverläufe berücksichtigt werden.211 Qualitätskriterien von Diskursanalyse sind die Verständlichkeit, das Nutzen vorhandener theoretischer und methodischer Ansätze bei gleichzeitiger Innovation und Weiterentwicklung sowie Begründung ihrer Relevanz und die Verbreitung der Ergebnisse.212 Die Ergebnisse einer Diskursanalyse sind niemals objektiv, sondern eine mögliche Rekonstruktion des Diskurses, die von der Fragestellung, dem Vorwissen und Vorverständnis der Forschenden abhängig ist. »Aus diskurstheoretischer Perspektive ist dies insofern problematisch, als dass dadurch Bedeutungsspielräume reduziert und bestimmte Bedeutungen – vor allem in der Ergebnisdarstellung – festgeschrieben werden.«213 Dies gilt insbesondere für die Migrationsforschung, weil Ergebnisse zu einer hegemonialen Bedeutungsfestschreibung beitragen können (siehe Kapitel 2.4). Daher geht es nicht darum, »eine bestehende Wahrheit durch eine bessere oder andere zu ersetzen, sondern
211 212 213
Keller, Diskursforschung, 109–11. Johannes Angermuller und Veit Schwab, »Zu Qualitätskriterien und Gelingensbedingungen in der Diskursforschung.« In Diskursforschung, 648. Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose, »Kodierende Verfahren in der Diskursforschung.« In Handbuch Diskurs und Raum, 386.
71
72
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
vielmehr den Prozess des Problematisierens, Hinterfragens und Reflektierens von Denkordnungen offenzuhalten – sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch über sie hinaus.«214 Das Hinterfragen der Denkordnungen wird nun im letzten Kapitel versucht, indem die Entwicklung der Migrationsforschung und ihre grundlegenden Perspektiven und aktuelle Studien zum Verhältnis des Eigenen und Anderen dargestellt werden.
2.6 Entwicklung der Migrationsforschung und aktueller Forschungsstand In der Betrachtung des Forschungsstands wird zunächst auf die Entwicklungen des wissenschaftlichen Diskurses über Rassismus und Migration in der Bundesrepublik eingegangen, da sie Teile des Archivs sind, auf deren Basis sich die betrachteten medialen Diskurse über Flucht und Asyl entwickelt haben. Da in jedem der Analysekapitel ein umfassender Forschungsstand zum Kontext und zur Diskursentwicklung beschrieben wird, soll anschließend hier exemplarisch auf einige Forschungsergebnisse hingewiesen werden, die für die Fragestellung der Konstruktion des Eigenen und Anderen in Migrationsdiskursen aufschlussreich sind. Die Bundesrepublik wurde wesentlich von Ein- und Auswanderungsprozessen und der Heterogenität ihrer Gesellschaft geprägt. Aus postkolonialer Perspektive lässt sich jedoch kritisieren, dass diese Verflochtenheit der bundesdeutschen Geschichte mit Migrationsprozessen kaum in die Geschichtsschreibung und kollektive Erinnerung eingegangen ist. Stattdessen wurde stets von einem homogenen, auf Abstammung basierenden Gesellschaftsmodell ausgegangen, welches durch Migrationsprozesse in seiner Stabilität und Identität bedroht werden würde.215 Ein historischer Rückblick auf wissenschaftliche Diskurse über Migration ermöglicht es, verschiedene Deutungsmuster und somit bestehende Wissensordnungen über Migration einzuordnen. Dominante öffentliche und wissenschaftliche Diskurse prägten lange Zeit eine Perspektive auf Migration als Abweichung bzw. als Problem. Die drei wesentlichen Forschungsrichtungen, die dieses Deutungsmuster nutzen, waren zum einen die seit den 70er Jahren entstehende Ausländerforschung216 , in der Migrant*innen als defizitäre oder ethnisch-kulturelle Andere konstruiert wurde sowie die Integrationsforschung217 , die von einseitigen Anpassungs-
214 Annika Mattissek und Paul Reuber, »Ins Spiel der Wahrheit eintreten: Die Herstellung von Wissen und Macht in der Diskursforschung.« In Glasze; Mattissek, Handbuch Diskurs und Raum (s. Anm. 13), 468. 215 Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Postmigrantische Perspektiven, 279–80; Erol Yildiz, »Ideen zum Postmigrantischen.« In Postmigrantische Perspektiven, 23; Bojadžijev, Die windige Internationale : Rassismus und Kämpfe der Migration, 77–79. 216 Hartmut M. Griese, Hg., Der gläserne Fremde: Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1984). 217 Hans Joachim Hoffmann-Nowotny und Peter Heintz, Soziologie des Fremdarbeiterproblems: Eine theoretische und empirische. Analyse am Beispiel der Schweiz. (Stuttgart: Enke, 1973); Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie: Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten; eine handlungstheoretische Analyse, Soziologische Texte N.F., 119 (Darmstadt: Luchterhand, 1980), Teilw. zugl.: Bochum, Univ., Habil.-Schr; Hartmut Esser, »Ethnische Kolonien: Binnenintegration oder gesellschaftliche Isolation?« In Segregation und Integration: Die Situation von Arbeitsmi-
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
prozessen der Zugewanderten ausging.218 Multi- und interkulturelle Ansätze versuchten zwar die Defizitperspektive zu überwinden, stellten jedoch die kulturelle Differenz essentialisierend in den Mittelpunkt.219 Weitere Kritikpunkte sind die westlich zentrierte und hegemonial männliche Perspektive auf Migration.220 Ein besonderer Schwerpunkt der Forschung lag auf den türkischen Migrant*innen, da ihnen besondere Probleme bei der Integration zugeschrieben wurden. Dies diente auch dazu, auf der Basis von kultureller und religiöser Differenz das nationale und europäische Eigene hervorzuheben.221 Es entstand ein »Archiv immer neuer, aber praktisch gleich lautender Erzählung über diverse migrantische Welten, [die] die Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migranten«222 gleich mitkonstruiert. Diese kurze Beschreibung der Migrationsforschung beschreibt lediglich Tendenzen, auf die sich in den folgenden theoretischen Ansätzen meist abgrenzend bezogen wurde. In den 1990er Jahren begannen transnationale und systemtheoretische Ansätze, die dominanten Konstruktionen und Deutungsmuster von Migration zu hinterfragen. Transnationale Ansätze stellten dabei vor allem die Annahme einer linearen Migration vom Herkunft- zum Aufnahmeland in Frage und betonen die vielfältigen transnationalen Beziehungen und Netzwerke, die aufgrund von Migrationserfahrungen entstehen.223 Eine Folge davon war die Kritik am »methodologischen Nationalismus«, der die
granten im Aufnahmeland, hg. v. Jürgen H. P. Hoffmeyer-Zlotnik (Mannheim: Forschung Raum und Gesellschaft e.V, 1986). 218 Die ersten Assimilationstheorien, wie unter anderem auch Eisenstadt gehen von einer einseitigen Anpassungsrichtung der Migrant*innen in die Gesellschaft aus. Shmuel. N. Eisenstadt, »Analysis of patterns of immigration and absorption of immigrants.« Population Studies 7, Nr. 2 (1953); Eine der bekanntesten klassischen Assimilationstheorien ist der »race relations cycle« von Park/Burgess, die davon ausgehen, dass Migrant*innen vier Phasen der Assimilation durchlaufen (contact- competition- accomodation- assimilation). Robert E. Park und Ernest W. Burgess, Introduction to the Science of Sociology: Including the original index to basic sociological concepts, 3th ed., rev., 2nd impr, hg. von Morris Janowitz, The Heritage of Sociology (Chicago, Ill. a.o.: Univ. of Chicago Press, 1972); In Anlehnung daran formuliert Gordon sieben Phasen der Assimilation, durch die sich Einwandernde an die Mehrheitsgesellschaft anpassen. Milton Myron Gordon, Assimilation in American life: The role of race, religion, and national origins (New York, N.Y.: Oxford Univ. Press, 1964). 219 Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 15–6. 220 Christoph Reinprecht und Rossalina Latcheva, »Migration: Was wir nicht wissen. Perspektiven auf Forschungslücken.« In Was wir nicht wissen, 2. 221 Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 15. 222 Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 24. 223 Auf Englisch erstmalig erschienen 1992: Nina Glick-Schiller, Linda Basch und Cristian SzantonBlanc, »Transnationalismus : ein neuer analytischer Rahmen zum Verständnis von Migration.« In Transkulturalität: Klassische Texte, hg. v. Andreas Langenohl, Ralph J. Poole und Manfred Weinberg, Basis-Scripte Band 3 (Bielefeld: transcript, 2015); Linda G. Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc, Nations unbound: Transnational projects, postcolonial predicaments, and deterritorialized nation-states (London: Routledge, 1994); Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt: Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften, 3. Auflage, Edition Suhrkamp 2521 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2015).
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74
Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
scheinbar grenzenlose Bedeutung von Nationalstaaten und Grenzen für die Untersuchung von Migration in Frage stellte.224 Daran anknüpfend entwickelte sich auch Kritik an der ethnischen Brille bzw. der methodologischen Ethnizität225 sowie das Konzept der Autonomie der Migration226 und der Migrations- und Grenzregimeforschung227 , welche die Handlungsfähigkeit der Migrant*innen mitberücksichtigte. Beim systemtheoretischen Ansatz hingegen ging es darum, den Fokus von den Migrant*innen und ihrer erforderlichen Integration hin zu gesellschaftlichen Strukturen zu verschieben und aufzuzeigen, dass alle Individuen in einer Gesellschaft ständige Inklusions- und Exklusionsprozesse in gesellschaftlichen Teilsystemen durchlaufen. Auch die Normativität der Migrationsforschung wurde diskutiert.228 Der Beginn und die Entwicklung der Rassismusforschung in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik ist eng mit Diskursen über Migration verbunden.229 Wesentlich war eine Distanzierung von Ansätzen der Migrations- und Integrationsforschung, in denen die Grenzziehung zwischen Zugewanderten und Einheimischen als gegeben voraussetzten und Probleme in einer fehlenden Anpassung der Zugewanderten und als verständliche Ausländerfeindlichkeit der Bevölkerung verorteten (siehe Kapitel 6.2.2).230 Die vor224 Andreas Wimmer und Nina Glick-Schiller, »Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration : an essay in historical epistemology.« In The transnational studies reader: Intersections and innovations, hg. v. Sanjeev Khagram (New York, NY: Routledge, 2008). 225 Nina Glick-Schiller, »Beyond Methodological Ethnicity: Local and Transnational Pathways of Immigrant Incorporation.« Willy Brandt Series of Working Papers, Nr. 2 (2008); Nina Glick-Schiller, »Das transnationale Migrationsparadigma: Globale Perspektiven auf die Migrationsforschung.« In Nieswand; Drotbohm, Kultur, Gesellschaft, Migration (s. Anm. 185); Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration. 226 Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali, Papers and Roses. Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte. (2001), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.kanak-attak.de/ka/text/pap ers.html Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali, »Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode.« In Turbulente Ränder. 227 Andreas Pott, Christoph Rass und Frank Wolff, Hg., Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Migrationsgesellschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2018); Bernd Kasparek, Hg., Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, 2. Aufl., Grenzregime/Sabine Hess … (Hg.); 1 (Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2012). 228 Michael Bommes, Migration und nationaler Wohlfahrtsstaat: Ein differenzierungstheoretischer Entwurf (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1999); Bommes, Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft : eine Aufsatzsammlung. 229 Annita Kalpaka und Nora Räthzel, Hg., Rassismus und Migration in Europa: Beiträge des Kongresses »Migration und Rassismus in Europa«, Hamburg, 26. bis 30. September 1990, 1. Aufl., Argument-Sonderband N.F., 201 (Hamburg: Argument-Verl., 1992); Annita Kalpaka und Nora Räthzel, Hg., Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein (Berlin: Express-Ed, 1986); Rudolf Leiprecht, ›… da baut sich ja in uns ein Hass auf …‹: Zur subjektiven Funktionalität von Rassismus und Ethnozentrismus bei abhängig beschäftigten Jugendlichen; eine empirische Untersuchung, 2. Aufl., Edition Philosophie und Sozialwissenschaften 19 (Hamburg: Argument-Verl., 1992), Zugl.: Tübingen, Univ. Diss., 1989. 230 Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 62–5; Nora Räthzel, »30 Jahre Rassismusforschung. Begriffe, Erklärungen, Methoden, Perspektiven.« In Skandal und doch normal: Impulse für eine antirassistische Praxis; [… Colloquium im November 2011 in Würzburg unter dem Titel »Aktuelle Formen des Rassismus – Rassismusforschung auf dem Prüfstand«, hg. v. Margarete Jäger und Heiko Kauffmann, Edition DISS 31 (Münster: Unrast-Verl., 2012), 193.
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
herrschende Reduktion von Rassismus auf bestimmte Phänomene und die Distanzierungsmuster im öffentlichen Diskurs erschwerten die Etablierung einer Rassismusforschung in Deutschland.231 Anfang der 1990er Jahre stieg die Zahl der Veröffentlichungen sprunghaft an und erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt 1993 mit 115 Veröffentlichungen, welche auf den Anstieg rassistischer Gewalt zurückzuführen ist. Daran wird deutlich, dass Rassismusforschung in Deutschland von ereignisgetriebener Forschung geprägt ist, wie etwa an 9/11, der Sarrazin-Debatte, dem NSU-Verfahren oder dem »langen Sommer der Migration« 2015. Die Veröffentlichungen lieferten zwar empirische Ergebnisse, blieben aber theoretisch eher unterentwickelt. Ab 2000 wurden auch stärker die US-amerikanische Critical Race Studies und Critical Whiteness Studies in Deutschland rezipiert. Bis heute gibt es keine Entwicklung einer eigenständigen, international bekannten Rassismustheorie in Deutschland, noch eine systematische Untersuchung rassistischer Strukturen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.232 Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Rassismusforschung in Deutschland eine schwache Institutionalisierung und disziplinäre Fragmentierung an Universitäten aufweist.233 Die Beschreibung des Forschungsfeldes erfolgt nun anhand einiger wesentlicher Studien. Jesus Manuel Delgado beschäftigte sich als einer der ersten mit dem Gastarbeiter in der Presse. Er analysierte Zeitungsartikel in lokalen Tageszeitungen in NRW von 1966 – 1969. Mit seiner überwiegend quantitativ ausgerichteten Inhaltsanalyse identifizierte er vier Arten von Artikeln: Sensation-Kriminalität, Good-will, Sachberichte, Arbeitsmarktberichte. Ein Drittel aller Berichte thematisierte die Kriminalität der Gastarbeiter, wobei Familienehre als besonderes Tatmotiv hervorgehoben wurde. Als ein zentrales Ergebnis benennt die starke Differenzmarkierung zwischen Eigenem und den Gastarbeitern als Andere: »Die häufige Wiederholung der negativen Aspekte im Verhalten der ausländischen Arbeitnehmer führt zu einer Einteilung der Gesellschaftlichen Gruppen in ›Angepaßte‹ und ›Unangepaßte‹, Einheimische und Ausländer. Statt sozialer Kommunikation bewirkt sie soziale Entfremdung. Statt mitmenschlicher Integration gruppenfeindliche Diskrepanz«.234 Viele Arbeiten, die sich mit dem Asyldiskurs in den 1990ern beschäftigten, nutzen eine eher quantitative oder auch diskurslinguistische Herangehensweise, beispielsweise durch das Identifizieren von Themen oder Argumenten, die anschließend in ihrer Häufigkeit erfasst werden.235 Die Arbeit von Martina Althoff hingegen ist erhellend hinsicht231
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Astrid Messerschmidt, »Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus.« In Rassismus bildet; Rose, Migration als Bildungsherausforderung, 184–86; Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 62–3. Nora Räthzel, »30 Jahre Rassismusforschung. Begriffe, Erklärungen, Methoden, Perspektiven.« In Skandal und doch normal; Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 77–90. Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 59–62, 69–70. J. Manuel Delgado, Die ›Gastarbeiter‹ in der Presse: Eine inhaltsanalytische Studie (Opladen: Leske, 1972), 128. Josef Klein, »Asyl-Diskurs. Konflikte und Blockaden in Politik, Medien und Alltagswelt.« In Sprache im Konflikt: Zur Rolle der Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen, hg. v. Ruth Reiher, Sprache, Politik, Öffentlichkeit 5 (Berlin, Boston: De Gruyter, 1995); Siegfried Jäger, BrandSätze: Rassismus im Alltag, 4., gegenüber d. 2., durchges. Aufl., unveränd. Aufl., DISS-Studien
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Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen
lich ihrer Analyse des Diskurses über Rostock-Lichtenhagen, wo sie eine Verschiebung der Opferrolle von den Asylsuchenden zu den Anwohner*innen herausarbeitete. Sie kam zudem in ihrer Analyse des Asyldiskurse 1949 bis 1993 zu einem ähnlichen Ergebnis, dass sich während der 1970er Jahre der Diskurs und die genutzten Begrifflichkeiten grundlegend änderten.236 Nora Räthzel verfolgte eine ähnliche Forschungsfrage zum teilweise gleichen Forschungsstand. Sie arbeitete die Dreieckskonstruktion zwischen den Asylsuchenden, Ost- und Westdeutschland im Asyldiskurs heraus und wie sich darin das neue deutsche Eigene formierte (siehe Kapitel 7.2.2).237 Serhat Karakayali betrachtete die Bedeutung von illegalisierter Migration für die Konstruktion einer europäischen Identität in den 1990er Jahren (siehe auch Kapitel 7.2.2).238 Zwei wichtige Studien zeigen die Notwendigkeit, die Bilder in medialen Diskursen über Migration und in der Konstruktion des Eigenen mitzuberücksichtigen. Sebastian Lemme analysierte dominante Deutungsmuster in der deutschen Medienberichterstattung zwischen 2006 und 2015 und die damit verbundenen Konstruktionen des Eigenen und Anderen. Die Studie zeigte, dass die Bilder in medialen Migrationsdiskursen häufig durch »eine essentialisierende sowie kollektivierende Markierung von Differenz und ›Andersheit‹ gekennzeichnet [sind und] dass sich dieses visuelle Othering in der Medienberichterstattung vor allem durch eine Entpersonalisierung und Vereinheitlichung etabliert.«239 Für den Asyldiskurs nach 2015 zeigte er auf, wie in einem Teil der Darstellungen persönliche Interaktionen zwischen geflüchteten und einheimischen Menschen im Vordergrund standen und Empathie herstellten. Dabei wurde häufig das Engagement der Mehrheitsgesellschaft hervorhoben. Lisa-Katharina Weimar betrachtete Pressefotografien im Kontext von Migration von den 1950er bis in die frühen 1990er Jahre und ihre Bedeutung für gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse. Sie zeigte, wie Fotografien Identifikationsangebote und Differenzkonstruktionen beinhalten und das Eigene und Andere im Diskurs herstellen. An verschiedenen Stellen wird auf ihre Ergebnisse in der Analyse Bezug genommen.240 Simon Goebel nahm politische Talkshows von 2011 bis 2015 als Teil des medialen Diskurses in den Blick und wie sie Narrative über Flucht in Kontexten von Kultur, Identität, Ökonomie oder Kontrolle erzeugten. Er zeigte auf, wie bereits die Zusammensetzung
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(Duisburg: DISS, 1996); Martin Wengeler, Topos und Diskurs: Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Reihe Germanistische Linguistik 244 (Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2003); Thomas Niehr, Der Streit um Migration in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und Österreich: Eine vergleichende diskursgeschichtliche Untersuchung, Sprache, Literatur und Geschichte Bd. 27 (Heidelberg: Winter, 2004). Martina Althoff, Die soziale Konstruktion von Fremdenfeindlichkeit (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1998), 169–175, 233. Räthzel, Gegenbilder. Serhat Karakayali, Gespenster der Migration: Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2008). Lemme, Visualität und Zugehörigkeit, 263. Lisa-Katharina Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl: Selbstverständnis und visuelle Inszenierung von den späten 1950er bis zu den frühen 1990er Jahren, 1st ed. 2021, Springer eBook Collection (Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2021).
2. Theoretische Verortung, Methodologie und Forschungsstand
der Gäste die Entwicklung des Gesprächs stark beeinflusste. Inhaltlich dominierten erneut die Themen Bedrohung, Missbrauch und Identität, wobei es vor allem zu Reproduktion einer ethnisch-nationalen Zugehörigkeit kam und mehrheimische Menschen als anders und nicht-zugehörig markiert wurden.241 Shadia Husseini de Araújo drehte die Perspektive des Eigenen und Anderen um und analysierte die diskursive Konstruktion imaginativer Geographien in den arabischen Printmedien. Dabei zeigten sich interessanterweise keine ortsgebundenen, binären Identitätskonstruktionen von Eigenem und Anderem. Sie identifizierte vier Verhältnisse zwischen dem Eigenen und Anderen: anti(post)koloniale Verortung, Viktimisierung des Eigenen, Objektivierung des Eigenen, Idealisierung des Anderen.242 Dies soll dies als Anregung genutzt werden, die Verhältnisse des Eigenen und Anderem im Asyldiskurs herauszuarbeiten. Zum anderen wirft dies die Frage auf, ob es vor allem westliche Identitätsdiskurse sind, die diese binären Konstruktionen beinhalten. Die vorgestellten Studien zeigen, dass eine okzidentalismuskritische Perspektive auf mediale Asyldiskurse und ein reflexiver Ansatz in der Migrationsforschung sich in den letzten Jahren begonnen hat, zu etablieren. Dies erweitert die Analysen, die stärker die Konstruktionen des Anderen herausarbeiten. Diese mit innovativen Forschungsmethoden verbundenen Studien ermöglichen neue Sichtweisen auf Identitätskonstruktionen und das Verhältnis von Migration und Gesellschaft. Dazu soll diese Studie auch beitragen.
241 Simon Goebel, Politische Talkshows über Flucht: Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse; eine kritische Analyse, Cultural Studies Band 49 (Bielefeld: transcript, 2017), 295–97. 242 Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 303.
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A Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990): »Das Asylrecht wird missbraucht.«
Im ersten Zeitabschnitt der Untersuchung von 1977–1990 entsteht die Vorstellung des Asylmissbrauchs und es entwickelt sich das Deutungsmuster des Misstrauens im Diskurs über Asyl. Unter Berücksichtigung dieses langen Vorlaufs lässt sich nachvollziehen, wie es möglich wurde, 1993 das Asylgrundrecht einzuschränken. Gleichzeitig ist auch das Deutungsmuster der Großzügigkeit weiterhin im Diskurs vorhanden, wird aber nur bestimmten Gruppen wie den vietnamesischen Boat People zugestanden. Die Entstehung des Asylgrundrechts wurde häufig mit den Erfahrungen im Nationalsozialismus und mit der Überwindung von Rassismus in Verbindung gebracht. Die Großzügigkeit und die grundgesetzliche Verankerung sei Ausdruck einer besonderen moralischen Verantwortung der Bundesrepublik. Gleichzeitig verstand sich die Bundesrepublik nicht als Einwanderungsland und erwartete auch, dass die Arbeitsmigrant*innen, die in den 1950er bis 1970er Jahren nach Deutschland kamen, wieder zurückgehen würden. Als sich die Migrationsverhältnisse Ende der 1970er Jahren ändern und sowohl Zahlen steigen, als auch mehr außereuropäische Flüchtlinge kommen, gerät die Asylzuwanderung immer mehr in den Fokus der Migrationspolitik. Zur selben Zeit entwickelt sich ein neues Deutungsmuster des Missbrauchs, das beinhaltet, dass Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen und das großzügige Asylrecht ausnutzen. Innerhalb dieser 13 Jahre bis zur Grundgesetzänderung gibt es 17 Asylrechtsänderungen, in denen versucht wurde, das Asylrecht unterhalb des Grundgesetzes einzuschränken. Im Kapitel 3 wird betrachtet, wie die Vorstellung des Asylmissbrauchs entsteht. In Kapitel 5 wird der Diskurs im Sommer 1986 betrachtet, da sich zu dem Zeitpunkt das Sagbarkeitsfeld verengte und die Grundgesetzänderung bundespolitisch sagbar wurde. In Kapitel 4 wird die Struktur des Deutungsmusters Großzügigkeit anhand der Boat People betrachtet, die im Rahmen einer kontrollierten und begrenzten Aufnahme in die Bundesrepublik kamen und im Diskurs eine andere Konstruktion erfuhren. Doch auch hier gab es Grenzen der Aufnahmebereitschaft.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
In den 1970er Jahren beginnt die intensive Auseinandersetzung um die Beibehaltung oder Einschränkung des Asylgrundrechts in der Bundesrepublik. Zur selben Zeit steigen die Asylantragszahlen und die Herkunftsländer der Asylsuchenden verändern sich. Es entsteht ein neues Deutungsmuster im Asyldiskurs, das eng mit der Vorstellung des Asylmissbrauchs1 verknüpft ist. Es beinhaltet die Vorstellung, dass Menschen nicht aufgrund politischer Verfolgung, sondern aus wirtschaftlichen Gründen in Deutschland Asyl beantragen, um Sozialhilfe zu beziehen oder zu arbeiten. Der Diskurs um den Asylmissbrauch beginnt in den beiden untersuchten Zeitungen FAZ und SZ 1977, daher ist dies auch der Startzeitpunkt der Untersuchung. Asylpolitik und Asylgewährung sind Teil der politischen und sozialen Kultur der Bundesrepublik.2 Die Auseinandersetzung um die Asylgewährung berührt dabei stets die politisch-moralischen Grundlagen der Bundesrepublik sowie das eigene Selbstverständnis: »Zugleich ist die Formulierung und Praxis des Asyls auch immer Aussage einer Gesellschaft über sich selbst«3 . Die Asylgewährung offenbart die grundlegenden Strukturen unserer Welt: »Es bleibt die Dominanz der Vorstellung von Bevölkerung, Territorialität und Souveränität in der verstaatlichten Welt erkennbar«4 . Gleichzeitig werden genau diese Vorstellungen und die binäre Logik von nationaler Zugehörigkeit durch das Asylrecht herausgefordert. Anhand der Asylgewährung wird deutlich, ob der Anspruch der universellen Menschenrechte jenseits des Nationalstaats wirklich eingelöst wird, sodass das Asylrecht als ein Gradmesser für Humanität und Rechtsstaatlichkeit betrachtet wer-
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Ähnlich wie bei Begriffen wie Asylant und Ausländer, die ich kursiv und nicht gegendert schreibe, weil ich mich auf die Konstruktion im Diskurs und nicht auf die Menschen, denen diese Begriffe zugeschrieben wurden, beziehe, markiere ich mit Asylmissbrauch, dass ich mich auf die diskursiven Konstruktionen beziehe und nicht auf Asylzuwanderung an sich. Der Begriff Asylmissbrauch wird im Diskurs abwertend und delegitimierend verwendet und ist mit rassistischen Vorstellungen verknüpft. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 16–17. Klaus Schlichte, »Flucht und Asyl – zur Genealogie eines Feldes.« In Politik der Unentschiedenheit, 31. Ebd., 34.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
den kann.5 Bezugspunkte dieser politischen Kultur sind beispielsweise die Distanzierung vom Nationalsozialismus, die Vorstellung einer ethnisch-homogenen Volksgemeinschaft, die Frage des Einwanderungslandes und der Umgang mit Pluralität und Vielfalt.6 Mit dem Deutungsmuster des Misstrauens lässt sich eine grundlegende Verschiebung des Diskurses beobachten. Dies erforderte neue Verortungen des Eigenen und ging einher mit dichotomen Konstruktionen der Anderen in echte und unechte Flüchtlinge.
3.1 Kontextualisierung 3.1.1 Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz durch den Parlamentarischen Rat Das als großzügig und international einzigartig beschriebene deutsche Asylrecht und seine Verankerung im Grundgesetz werden oft in enger Beziehung zur Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, der individuellen Emigrationserfahrung der Abgeordneten und der Aufarbeitung des Nationalsozialismus dargestellt und interpretiert.7 In der Geschichte des Asylrechts spielen diese Deutungsmuster immer wieder eine Rolle und werden in verschiedenen Perspektiven aufgegriffen und genutzt. Die Konflikte um die Asylgewährung bewegen sich dabei stets zwischen zwei Polen: auf der einen Seite steht die Forderung nach einem großzügigen Asylrecht, das als endgültiger Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und als humanitäre Verpflichtung auf Basis der Menschenrechte gesehen wurde. Auf der anderen Seite steht die Asylgewährung im Widerspruch zu einem Konzept von deutscher Zugehörigkeit, das auf Abstammung und Ethnizität basierte. Die Anwesenheit von Fremden könnte die historische, kulturelle und ethnische Identität der Deutschen bedrohen. Das Asylrecht war somit eine Besonderheit deutscher Migrationspolitik, die eine privilegierte Zuwanderung ansonsten nur für deutsche Volkszugehörige ermöglichte. Das Asylrecht wurde zwar grundgesetzlich verankert, die Asylpraxis wurde jedoch durch das gesellschaftliche und politische Selbstverständnis beeinflusst und fand in unterschiedlichem Ausmaß Zustimmung in der Bevölkerung.8 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Artikel 16 des Grundgesetzes (GG) »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« für den deutschen Kontext eine außergewöhnliche Neuerung »sowohl in der deutschen Verfassungstradition als auch in der Praxis der
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Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 104; Scherr und Scherschel, »Einleitung: Flucht und Deportation – was ist das soziale Problem?«. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 101. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 120. Patrice G. Poutrus, »Refugee Reports: Asylum and Mass Media in Divided Germany during the Cold War and Beyond.« In Migration, memory, and diversity: Germany from 1945 to the present, hg. v. Cornelia Wilhelm, Studies in contemporary European history Volume 21 (New York, Oxford: Berghahn, 2017), 86; Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 893.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Aufnahme von Flüchtlingen«9 darstellte. Er ermöglichte bei Anerkennung eine nahezu rechtliche Gleichstellung mit Inländer*innen hinsichtlich sozialer Absicherung, Arbeitsmarktzugang und Familienzusammenführung. Die häufig damit verbundene Annahme, das deutsche Asylrecht sei ein einzigartiges oder sogar das großzügigste Asylrecht der Welt ist jedoch in Frage zu stellen. Die Frage der Asylgewährung im Spannungsfeld zwischen universeller Gültigkeit von Grundrechten und exklusiver Souveränität des Nationalstaats findet sich in der Geschichte vieler europäischer Länder.10 Es gab kein europäisches Land, welches das Asylrecht so uneingeschränkt in der Verfassung verankerte, die Asylpraxis wurde jedoch sehr unterschiedlich gestaltet.11 Da das Asylgrundrecht offen formuliert war, definierte es keine formale und inhaltliche Abgrenzung des Personenkreises. Somit kam der exekutiven Praxis wie der Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens und der Definition von politischer Verfolgung eine wesentliche Bedeutung zu. Diese kontinuierliche Aushandlung, im Zusammenspiel mit Gerichten und Politik, definierte erst, wie großzügig das Asylrecht in der Realität gestaltet werden konnte.12 Die Judikative überprüfte zwar jeweils die Verfassungskonformität der einfachen Asylgesetze, die endgültige Entscheidung konnte jedoch ein paar Jahre in Anspruch annehmen.13 Beispielsweise wurde 1977 eine Vorprüfung beim Grenzübertritt eingeführt, die erst 1981 vom Bundesverfassungsgericht wieder aufgehoben wurde.14 Im Februar 1949 einigte sich der Parlamentarische Rat ohne Gegenstimmen auf ein unbeschränktes Asylgrundrecht, das über das Völkerrecht hinausging. Die Verankerung im Grundgesetz sollte das Asylrecht als grundlegendes Element der Bundesrepublik, ihres demokratischen Verständnisses und ihrer humanitären Verpflichtung deutlich machen und vor Eingriffen des Gesetzgebers schützen.15 In den der Entscheidung vorangehenden Debatten innerhalb des Parlamentarischen Rats gab es jedoch auch Bedenken hinsichtlich einer unbeschränkten Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz und Vorschläge, wie dies begrenzt werden könnte, entweder durch eine zahlenmäßige Begrenzung, eine Begrenzung auf deutsche Volkszugehörige oder auf bestimmte (politische) Fluchtgründe und politische Gesinnungen. Carlo Schmid, Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und des Hauptausschusses beschrieb damals Asylgewährung als eine »Frage der Generosität und wenn man generös sein will, muß man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben. Das ist die an-
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Poutrus, Umkämpftes Asyl, 21. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 854–5. Hans-Peter Schneider, »Das Asylrecht zwischen Generosität und Xenophobie: Zur Entstehung des Artikels 16 Absatz 2 Grundgesetz im Parlamentarischen Rat.« In Jahrbuch für Antisemitismusforschung, hg. v. Wolfgang Benz (Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 1992), 218. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 26–33; Franz Nuscheler, Internationale Migration: Flucht und Asyl, Grundwissen Politik 14 (Opladen: Leske + Budrich, 1995), 139. Bettina Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik: Von der Krise des Asylrechts zur Perfektionierung der Zugangsverhinderung, 1. Aufl. (Münster: Verl. Westfälisches Dampfboot, 1995), 97. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 77. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 20ff.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
dere Seite davon und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes«.16 Genau an dieser Frage kristallisierte sich letztlich später die Debatte des Asylmissbrauchs heraus, die in der Einschränkung der Generosität durch die Grundgesetzänderung mündete und bestimmte Gruppen von vorneherein ausschloss. In der beginnenden Auseinandersetzung um die Änderung des Asylgrundrechts Anfang der 1980er Jahre wurde von Gegner*innen und Befürworter*innen mit der historischen Entstehung und der Intention der »Väter und Mütter des Grundgesetzes« argumentiert.17 Dabei kann festgehalten werden, dass die Entstehung des Asylrechts von der Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und eigenen Flucht- und Exilerfahrungen geprägt war.18 Eine weitere Motivation war es, einen Nachweis dafür zu liefern, dass der Nationalsozialismus überwunden sei und die Bedeutung von Demokratie, Völkerrecht und Menschenrechte zu demonstrieren. Zudem wurde bei der Formulierung des Asylgrundrechts die Situation des geteilten Deutschlands berücksichtigt, sodass damit auch ein Verantwortungsgefühl für die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ausgedrückt wurde.19 Erst im Laufe der Zeit wurde dies inhaltlich voneinander getrennt, da die Aufnahme von Deutschen durch das Recht auf Freizügigkeit bereits abgedeckt war. Im Rückblick gab es sehr unterschiedliche Auslegungen, warum das Recht auf Asyl als ein subjektives und einklagbares Recht ohne Einschränkung in der Verfassung verankert wurde. Dabei wurden je nach Position auf unterschiedliche Zitate aus dem Parlamentarischen Rat zurückgegriffen. Während der Diskussion um die Grundgesetzänderung wurde zudem stets diskutiert, ob damals schon abzusehen war, was dieses Asylgrundrecht in der Praxis bedeuten würde. Der Berliner Innensenator Heinrich Lummer, der den Asylmissbrauch in den 1980er Jahren als zentrales Problem betrachtete,20 , betonte: »Wenn die Herren, die damals entschieden haben, auch nur geträumt oder geahnt hätten, welche Auswirkungen dieser Artikel haben würde, dann wäre er nie ins Grundgesetz gekommen.«21 Der Staats- und Völkerrechtler Otto Kimminich hingegen ist überzeugt, dass der Parlamentarische Rat sich bewusst für ein Asylrecht entschieden hat und »sich offenbar durchaus der Tatsache bewußt [war], daß sie mit dieser Vorschrift den politisch Verfolgten aus allen Teilen der Welt Zuflucht anboten«.22 16 17
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Michael F. Feldkamp, Hg., Hauptausschuß (München: R. OLDENBOURG VERLAG, 2009), 540. Jochen Hofmann, »Die Erarbeitung von Art.16 GG in Herrenchiemseer Verfassungskonvent und Parlamentarischem Rat.« In Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention: 4. Expertengespräch für Aylrichter, hg. v. Otto-Benecke-Stiftung e.V., 1. Aufl., Reihe Asylrecht H. 15 (Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges, 1990), S. 72f. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 854; Nuscheler, Internationale Migration, 136. Peter Steinbach, »Asylrecht und Asylpolitik: Zur historisch-politischen Dimensionierung eines aktuellen Problems.« In Die zweite deutsche Demokratie: Ursprünge, Probleme, Perspektiven, hg. v. Rainer A. Roth, Böhlau-Politica 9 (Köln: Böhlau, 1990), S. 214 Heinrich Lummer, Asyl: Ein missbrauchtes Recht (Berlin: Ullstein, 1996). Jochen Hofmann, »Die Erarbeitung von Art.16 GG in Herrenchiemseer Verfassungskonvent und Parlamentarischem Rat.« In Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention, 72. Otto Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, Erträge der Forschung 187 (Darmstadt: Wissenschaftl. Buchges, 1983), 98.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Der Parlamentarische Rat, der 1948 das Grundgesetz entwickelte und beschloss, bestand aus 65 Abgeordneten der Parlamente der Bundesländer.23 In der Diskussion über das Asylrecht gab es keine einheitlichen parteipolitischen Positionen bzw. einen großen parteiübergreifenden Konsens.24 Die Flucht- und Exilerfahrung der Abgeordneten wird an vielen Stellen betont. Das Asylgrundrecht sei »von Emigranten für Emigranten geschaffen«.25 In den Protokollen wird zumindest deutlich, dass die Abgeordneten, die selbst während dem Nationalsozialismus ins Ausland flüchten mussten, in ihrer Argumentation auf ihre persönlichen Erfahrungen verweisen.26 Friedrich Wilhelm Wagner (SPD) beispielsweise nennt die Möglichkeit im Aufnahmeland zu arbeiten als essentiell: »Was er [Heinz Renner] gesagt hat, hat seine Begründung in einer zum Teil sehr bitteren Erfahrung, die wir draußen gemacht haben. Wir waren sehr glücklich, daß wir draußen unterkamen und daß wir Hitler und seinen Henkersknechten entkommen konnten. Aber es war sehr bitter für die Tausenden, als sie draußen waren mit Asylrecht, aber ohne die Möglichkeit zu arbeiten und sich zu ernähren.«27 Anhand einiger zentraler Mitglieder des Parlamentarischen Rats soll nun der unterschiedliche Erfahrungshintergrund deutlich gemacht werden. Carlo Schmid (SPD) wurde eine wissenschaftliche Karriere im Bereich der Rechtswissenschaften verwehrt, weil er sich klar gegen den Nationalsozialismus positionierte. Während des Krieges war er im Kriegsverwaltungsrat in Lille tätig, wo er mit dem französischen Widerstand kooperierte. Herrmann von Mangoldt (Christlich Demokratische Union Deutschland (CDU)), Vorsitzender der Ausschuss für Grundsatzfragen, ging einen ähnlichen beruflichen Weg wie Carlo Schmid und studierte, promovierte und habilitierte in Rechtswissenschaften. 1934 trat der dem Bund nationalsozialistischer Juristen bei und hatte während des Nationalsozialismus Professuren in Tübingen, Jena und Kiel inne. Inhaltlich setzten sich beide trotz der unterschiedlichen Lebenswege für ein unbeschränktes Asylrecht ein. Zwei Abgeordnete verfügten selbst über Erfahrungen im Exil. Heinz Renner (Kommunistische Partei Deutschland (KPD), war nach einer Banklehre 23
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Davon waren jeweils 27 Abgeordnete von der SPD und der CDU/Christlich-sozialen Partei Deutschlands (CSU), 5 von der Freien Partei Deutschlands (FDP) und jeweils 2 von Deutscher Partei und Zentrum und KPD. Im Voraus wurde ein »Ausschuß von Sachverständigen für Verfassungsfragen« einberufen, der im August 1948 auf Schloss Herrenchiemsee eine Vorlage für die Arbeit des Parlamentarischen Rats entwickelte. Die eigentliche Verfassungsarbeit wurde in sechs Fachausschüssen geleistet, wobei das Thema Asyl dem Fachausschuss Grundsatzfragen und Grundrechte unter dem Vorsitz von Herrmann von Mangoldt (CDU) zugeordnet wurde. Des Weiteren gab es einen Hauptausschuss unter dem Vorsitz von Carlo Schmid (SPD) und einen allgemeinen Redaktionsausschuss, der die verschiedenen Entwürfe zu einem Gesetzesentwurf zusammenfügte. Da die verschiedenen Aspekte, die im Fachausschuss diskutiert wurden, im Hauptausschuss in verdichteter Form dargelegt werden, stammen die folgenden Zitate alle aus dem Hauptausschuss.Jochen Hofmann, »Die Erarbeitung von Art.16 GG in Herrenchiemseer Verfassungskonvent und Parlamentarischem Rat.« In Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention. Hans-Peter Schneider, »Das Asylrecht zwischen Generosität und Xenophobie.« In Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 227. Ebd., 221. Peter Steinbach, »Asylrecht und Asylpolitik.« In Die zweite deutsche Demokratie. Feldkamp, Hauptausschuß, 1413f.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
in der Kommunal- und Landespolitik tätig. Er floh bei der Machtergreifung zunächst ins Saarland und 1935 dann weiter nach Paris, wo er sich in der Exil-KPD engagierte. 1939 wurde er in Frankreich inhaftiert und 1943 nach Deutschland ausgeliefert, wo er bis zum Ende des Krieges inhaftiert war. Friedrich Wilhelm Wagner (SPD), war Jurist und Reichstagsabgeordneter, als er 1933 verhaftet wurde. Ihm gelang die Flucht und er kam 1935 ebenfalls nach Paris. Anschließend betrieb er ein Anwaltsbüro für Asylangelegenheiten in Straßburg und pflegte Kontakt zu zahlreichen Exilorganisationen. 1941 reiste er nach New York aus. Auf ihre gemeinsame Zeit in Paris gehen sie auch in den Sitzungen ein. Heinrich von Brentano (CDU), Mitbegründer der hessischen CDU und als Rechts- und später als Staatsanwalt während des Nationalsozialismus tätig, war einer von denjenigen, die sich am deutlichsten für eine Einschränkung des Asylrechts einsetzten.28 Somit kamen Abgeordnete zusammen, die sehr unterschiedliche Erfahrungen in den letzten Jahren gemacht hatten. Auch wenn viele nicht direkt verfolgt wurden, bedeutete die Machtergreifung Hitlers häufig den Verlust des Arbeitsplatzes und ein Rückzug aus Politik und Öffentlichkeit. Anhand von Zitaten sollen im Folgenden einige Aspekte der Diskussion im Parlamentarischen Rat aufgegriffen werden. Eine zentrale Auseinandersetzung betraf die Frage, ob das Asylrecht einer Begrenzung bedürfe. Dies wurde beispielsweise hinsichtlich der politischen Gesinnung der Verfolgten und dem damit verbundenen Demokratieverständnis diskutiert, zum Beispiel wie mit »Faschisten, die in Italien politisch verfolgt werden«29 , umgegangen werden sollte. Hermann Fecht (CDU) sagte dazu: »Wir wären unter Umständen genötigt, Massen aufzunehmen, die mit unserer Auffassung und unserem Gesetz vollständig in Widerspruch stehen«.30 Brentano (CDU) äußerte die Befürchtung: »daß wir etwa in Deutschland zur Oase auch derjenigen politisch Verfolgten werden, die ihre Tätigkeit, die sie zum Abwandern aus ihrer Heimat veranlaßt hat, auch hier fortsetzen werden, nämlich den Kampf gegen die Demokratie.«31 Renner (KPD) kritisierte die Vorstellung, dass sich politische Gesinnung so klar einteilen ließe und wies darauf hin, dass die Sicht der politisch Verfolgten und ihrer Herkunftsländer sehr unterschiedlich ist: »Was der eine als Demokratie ansieht, ist dem anderen das Gegenteil. Ich lasse durchaus offen, welche Meinung richtig ist. Ich rede nur schlechthin von der Tatsache, daß jedes Land seine Regierungsform als demokratisch anspricht. Nur diejenigen, die gegen die dort existierende Staatsordnung angehen, verstoßen dann nach Auffassung der dort herrschenden Gewalt gegen die Demokratie. Sie müssen aus diesem Grund das Land verlassen. Sie sind also in jedem Fall, vom Standpunkt ihres Heimatlandes gesehen, als Kämpfer gegen die Demokratie in dem jeweiligen Land anzusprechen. Daß man aber im 20. Jahrhundert als politisch reifer Mensch und Demokrat überhaupt den
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Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, »Beobachtungen. Der Parlamentarische Rat 1948/49.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.parlamentarischerrat.de/mitg lieder_891.html. Feldkamp, Hauptausschuß, 539. Ebd. Ebd., 1415.
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Gedanken aussprechen kann, es sei notwendig, das Asylrecht einzuengen, das geht weit über mein Begriffsvermögen hinaus.«32 Im Zitat wird deutlich, dass Demokratie sehr unterschiedlich definiert werden kann und meist das Eigene als demokratisch verortet wird. Die Bundesrepublik war mit der Frage der politischen Gesinnung beispielsweise Ende der 1990er Jahre konfrontiert, als kurdische Flüchtlinge aus der Türkei nach Deutschland kamen. Diese wurden als unterdrückte Minderheit oder Terrorist*innen bewertet (siehe Kapitel 9.3.1). Die Einschränkung des Asylrechts wurde mit großen Bedenken betrachtet, weil es einer Abschaffung gleichkäme. Ähnlich wie Renner warnte Wagner (SPD): »Ich glaube, man sollte da vorsichtig sein mit dem Versuch, dieses Asylrecht einzuschränken und seine Gewährung von unserer eigenen Sympathie oder Antipathie und von der politischen Gesinnung dessen abhängig zu machen, der zu uns kommt. Das wäre dann kein unbedingtes Asylrecht mehr, das wäre ein Asylrecht mit Voraussetzungen, mit Bedingungen, und eine solche Regelung wäre in meinen Augen der Beginn des Endes des Prinzips des Asylrechts überhaupt. Entweder wir gewähren Asylrecht, ein Recht, das, glaube ich, rechtshistorisch betrachtet, uralt ist, oder wir schaffen es ab.«33 Von Mangoldt (CDU) argumentierte ähnlich: »Ich brauche hier nur darauf hinzuweisen, wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, [...] um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werde. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.«34 Renner (KPD) führte dies nochmal aus: »Ein letztes Wort. Man soll sich hüten, den Begriff ›politischer Emigrant‹ irgendwie einzuengen. Die Praxis hat bewiesen, daß ein großer Teil der in der Nazizeit aus Deutschland geflüchteten Emigranten im Asylland von Deutschland her mit irgendeiner kriminellen Beschuldigung belastet wurde. [...] Man hat es also in den allermeisten Fällen verstanden, den Begriff politischer Emigrant mit dem Begriff krimineller Flüchtling zu vermengen. Deswegen muß man jede Einengung des Begriffs politischer Emigrant vermeiden. Man muß schlechthin von politischer Emigration und politischem Asylrecht sprechen, sonst gerät man in Teufels Küche«.35 Es zeigt sich, dass viele grundlegende Fragen der Asylgewährung schon damals diskutiert wurden. Schon damals wurde angesprochen, wer und was politische Verfolgung bzw. legitime Fluchtgründe definiert, wie dies eingeschränkt oder kontrolliert werden kann und welche Auswirkungen Grenzkontrollen haben können. Einigen war bewusst, dass der Begriff Flüchtling schnell mit negativen Zuschreibungen verknüpft wird und dass eine Kriminalisierung dazu führen kann, Menschen das Asylrecht zu verweigern. Des 32 33 34 35
Ebd., 1416. Feldkamp, Hauptausschuß, 1413. Ebd., 540. Ebd., 1418.
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Weiteren wurde mit der Frage der Gesinnung auch diskutiert, welche Bedeutung die politische Einstellung der Flüchtlinge und das politische System des Herkunftslandes haben und wie sich diese Aspekte in Deutschland auswirken können. Weniger betrachtet wurden die gesellschaftlichen Auswirkungen und die Haltung der Bevölkerung zu einer Flüchtlingsaufnahme in Deutschland. Das Asylrecht wurde ohne Einschränkung ins Grundgesetz aufgenommen, um eine großzügige Asylgewährung zu garantieren. Dies hatte jedoch zur Folge, dass es einen großen Interpretationsspielraum für die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Asylbehörden gab, wer als Flüchtling und was als politische Verfolgung wahrgenommen wird. Dies soll im Folgenden genauer betrachtet werden.
3.1.2 Rechtliche Ausgestaltung und Aufnahmepraxis bis in die 1970er Jahre Die offene Formulierung des Asylgrundrechts erforderte eine rechtliche Ausgestaltung und eine Definition von politischer Verfolgung, die erstmalig in der Asylverordnung 1953 entwickelt und 1965 im Ausländergesetz neu geregelt wurde. Die Ausgestaltung und Aufnahmebereitschaft wurde beeinflusst durch aktuelle Fluchtbewegungen und die damit verbundenen Vorstellungen und Zuschreibungen. Sowohl die öffentliche Wahrnehmung von Asyl als auch die Aufnahmepraxis war bis in die 1970er Jahre stark von Flüchtlingsgruppen geprägt, die vor dem Kommunismus flohen, wie etwa aus Ungarn oder der damaligen Tschechoslowakei. Die Rechtsnorm für die rechtliche Ausgestaltung war neben dem Anspruch auf Asyl im Grundgesetz die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK).36 Die Unterzeichnung der GFK war für die Bundesrepublik ähnlich wie das Asylgrundrecht außenpolitisch mit dem Ziel einer neuen Selbstdarstellung nach 1945 verbunden, sie spielte jedoch eine untergeordnete Rolle in der Entstehung eines neuen nationalen Selbstverständnisses und war weniger emotional besetzt. Daher muss zwischen der öffentlichen und juristischen Bedeutung der beiden Rechtsnormen unterschieden werden. Juristisch kristallisierte sich ein grundlegender Unterschied in der Auslegung des deutschen Asylgrundrechts und der GFK heraus. Während für das Asylgrundrecht die Motivation des Verfolgerstaats entscheidend ist und die subjektive Furcht vor Verfolgung nicht ausreicht, steht bei der GFK die begründete, subjektive Furcht vor Verfolgung aufgrund von »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung« im Vordergrund. Für die Anerkennung ist relevant, ob die Verfolgung die betreffende Person in ihren Eigenschaften oder Überzeugungen trifft. Eine Bewertung des Staates und seiner Verfolgungsaktivitäten findet nicht statt.37 Bis in die 1990er Jahre lassen sich vier Phasen der Asylpraxis umreißen. Die erste Asylverordnung, die sich nur auf die GFK beschränkte, wurde 1953 auf Drängen der Alliierten verabschiedet. Die deutsche Bundespolitik betonte vor allem, dass die Asylge-
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Auf die Entstehung der GFK wird hier nicht im näher eingegangen. Siehe zum Beispiel Otto-Benecke-Stiftung e.V., Hg., Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention: 4. Expertengespräch für Aylrichter, 1. Aufl., Reihe Asylrecht H. 15 (Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges, 1990). Peter Nicolaus, »Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention – eine vergessene Begriffsbestimmung des Flüchtlings?« In Otto-Benecke-Stiftung e.V., Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention (s. Anm. 297), 45–61.
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währung nicht den Interessen der Bundesrepublik entgegenstehen dürfe. Für die wenigen Anträge auf Grundlage des Asylgrundrechts waren die lokalen Ausländerbehörden zuständig, die dies sehr unterschiedlich auslegten.38 In der zweiten Phase wurde Asyl nach dem 1965 verabschiedeten Ausländergesetz und einer zweigleisigen Anerkennungsgrundlage gewährt. Dabei wurde sowohl politische Verfolgung nach dem Grundgesetz als auch subjektive Verfolgungsgründe nach der GFK anerkannt. Das neue Ausländergesetz führte zu lange andauernden Verfahren und ermöglichte als Abschiebeschutz die Ausstellung einer Duldung.39 In der dritten Phase nach dem Asylverfahrensgesetz von 1982 etablierte sich der Ansatz, dass die GFK gänzlich im Asylgrundrecht enthalten sei. Dies hatte die Folge, dass subjektive Furcht vor Verfolgung nicht mehr anerkannt wurde, jedoch der Abschiebe- und Ausweiseschutz bei fehlender Anerkennung ausgeweitet wurde. 1986 wurden zudem die Nachfluchtgründe eingeschränkt, dies sind Verfolgungsgründe, die erst nach der Flucht entstanden sind. Während auch unpolitische Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten aufgrund der politischen Motivation des Verfolgerstaats anerkannt wurden, wurden insbesondere »selbstgeschaffene« Nachfluchtgründe, wie der Beitritt zu einer Exilorganisation nicht berücksichtigt. Schätzungen gehen von etwa 100.000 sogenannten defacto-Flüchtlingen Ende der 1980er Jahre aus, die aufgrund dieser Einschränkungen keine Anerkennung bekamen. In der vierten Phase mit dem Ausländergesetz von 1991 wurde auch auf Druck des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) die GFK wieder stärker berücksichtigt und subjektive Verfolgungsgründe mitaufgenommen.40 Abschließend lässt sich festhalten: »Einen konsistenten juristischen Begriff des politisch Verfolgten gibt es also nicht. Immer wieder unterlag der jeweilige Verfolgtenbegriff [...] weitergehender Präzisierung, mal mit der Folge seiner Erweiterung, häufiger seiner Einengung. Der in der politischparlamentarischen Asyldebatte oftmals vorgetragene Verweis auf den vermeintlich ›echten‹ Flüchtling, den die höchstrichterliche Rechtsprechung zu definieren hätte, führt also in die Irre.«41 Die Asylantragszahlen bewegten sich bis in die 1970er Jahre mit wenigen Ausnahmen im niedrigen vierstelligen Bereich pro Jahr.42 Lediglich durch die Aufnahme der geflüchteten Menschen aus Ungarn und der Tschechoslowakei überschritten die Antragszahlen kurzfristig die Zehntausend. Die Flüchtlinge, die 1956 aus Ungarn flohen, wurden in deutschen Medien und in der Bevölkerung mit großer Sympathie betrachtet. Die ungarische Regierung war aus dem Warschauer Pakt ausgetreten und hatte ihre Neutralität 38 39 40
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Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 857ff. Ebd., 883. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 109–12; Peter Nicolaus, »Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention – eine vergessene Begriffsbestimmung des Flüchtlings?« In Vierzig Jahre Asylgrundrecht. Verhältnis zur Genfer Flüchtlingskonvention, 55–61. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 12; Eine ähnliche Debatte um den »echten« Flüchtling gab es auch bei den DDR-Flüchtlingen vgl. Volker Ackermann, »Der ›echte‹ Flüchtling« (Zugl.: Düsseldorf, Univ., Habil.-Schr., 1992/93, Rasch, 1995). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021,« 5.
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erklärt, was den Einmarsch sowjetischer Truppen zur Folge hatte. Die Flüchtlinge wurden als Verbündete im Kampf gegen Kommunismus und für Freiheit und Demokratie gesehen und häufig mit den deutschen Vertriebenen verglichen.43 Vonseiten der Politik gab es jedoch zunächst eine große Zurückhaltung, sodass nur Deutsche und jene mit Bezug zu Deutschland aufgenommen werden sollten. Erst auf Druck der Öffentlichkeit und der Unterstützung der Vertriebenenverbände erklärte sich die Politik zur Aufnahme bereit, sodass mehr als 10.000 Flüchtlinge ab November 1956 aufgenommen wurden. Das Bundesvertriebenenministerium übernahm sowohl die Interessenvertretung als auch die Eingliederungshilfe für die Aufgenommenen.44 1966 entschied die Bundesinnenministerkonferenz, Flüchtlinge aus dem Ostblock nicht abzuschieben, sondern ihnen bei Nichtanerkennung eine Duldung mit Arbeitserlaubnis auszustellen, die dann in eine Aufenthaltserlaubnis münden konnte. In den 1970er Jahren wurde eine drohende Strafe wegen »Republikflucht« aus den Ostblockstaaten als politische Verfolgung anerkannt. Durch diese Maßnahmen stieg die Anerkennungsquote der Ostblockflüchtlinge von 20 auf 90 Prozent.45 Somit erfuhren auch die Flüchtlinge, die im Kontext des Prager Frühlings und der gewaltsamen Niederschlagung durch sowjetische Truppen 1968 flohen, eine große Aufnahme- sowie Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Etwa 15.000 Flüchtlinge wurden aufgenommen. Hinsichtlich des Deutungsmusters und der Zuschreibungen gab es viele Überschneidungen mit den ungarischen Flüchtlingen.46 Eine Bewertung der Asylaufnahmepraxis in den 1950er bis 1970er Jahren fällt unterschiedlich aus. Auf der einen Seite wird sie als liberale, rechtsstaatlich und humanitär geprägte Asyl- und Aufnahmepraxis beschrieben47 , auf der anderen Seite als restriktive Asylpraxis, die durch Gerichte immer wieder korrigiert werden musste und sich bei wenigen Gruppen großzügiger erwies.48 Die zögerliche bis ablehnende Haltung wurde in den ersten zehn Jahren damit begründet, genug mit eigenen Flüchtlingen und Vertriebenen, sowie Displaced Persons beschäftigt zu sein. Dazu trug auch der Nachkriegsmythos der deutschen Gesellschaft bei, Deutsche als Opfer zu betrachten.49 In Politik und Öffentlichkeit wurde die Aufnahme von Flüchtlingen als Belastung in einer Zeit von Ressourcenknappheit und als Gefahr für den inneren Frieden wahrgenommen und nicht als Zeichen von Humanität oder Solidarität. Dennoch gab es eine bemerkenswerte Wandlung im Umgang mit den Ostblockflüchtlingen und eine Tendenz zur 43 44
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Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 90–92; Patrice G. Poutrus, »Refugee Reports.« In Migration, memory, and diversity, 88–92. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 42–49; Patrice G. Poutrus, »Migrationen: Wandel des Wanderungsgeschehens in Europa und die Illusionen staatlicher Regulierung in der Bundesrepublik.« In Das Ende der Zuversicht? : die siebziger Jahre als Geschichte, hg. v. Konrad H. Jarausch (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008), 163; siehe auch Sándor Csík, »Die Flüchtlingswelle nach dem Ungarn-Aufstand 1956 in die Bundesrepublik.« In Almanach II, hg. v. Klaus Rettel (Berlin: Selbstverlag der DeutschUngarischen Gesellschaft e. V., 2003). Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 115. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 57–58; Patrice G. Poutrus, »Refugee Reports.« In Migration, memory, and diversity, 93–4. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 38; Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 114–15. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 56–57. Ebd., 26–33.
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Ausweitung des Flüchtlingsschutzes bei den chilenischen Flüchtlingen. Dies bedeutete jedoch nicht eine grundlegende veränderte Wahrnehmung von Migration in Politik und Öffentlichkeit.50 Die Asylgewährung stand zum einen mit der Struktur der Asylpolitik in der Bundesrepublik im engen Zusammenhang. Durch die föderale Struktur lag die Umsetzung und Finanzierung von Asylaufnahme bei den Ländern und Kommunen, die dadurch eher eine restriktivere Asylpraxis fordern.51 Zum anderen war Asylgewährung auch immer das Ergebnis von politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Teil nationaler Selbstvergewisserung.52 Während es zu Beginn darum ging, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren und zu demonstrieren, dass die Bundesrepublik sich westlichen, demokratischen Werten verpflichtet fühlt, ging es nach 1963 stärker darum, die Solidarität mit den geflüchteten Menschen aus den kommunistischen Ostblock-Staaten zu zeigen. Gleichzeitig spielten die Erinnerungen an die Vertriebenen als deutsche Flüchtlinge im kollektiven nationalen Gedächtnis eine Rolle.53 Die Aufnahme der chilenischen (kommunistischen) Flüchtlinge kann als ein Zeichen verstanden werden, dass es über den Antikommunismus hinaus eine Bereitschaft gab, Menschen Schutz vor Diktatur und Verfolgung in der Bundesrepublik zu bieten.54 Die Universalisierung der Asylgewährung setzte sich jedoch in den 1970er Jahren nicht fort. Stattdessen kam es zu einem Wandel der Migrationsverhältnisse und auf diskursiver Ebene zur Entstehung des Asylmissbrauchs, welcher mit einer Spaltung in echte und unechte Flüchtlinge einherging.
3.1.3 Asylgeschichte der 1970er und 1980er Jahre – Wandel der Migrationsverhältnisse In den 1970er Jahren erfolgte ein »mehrdimensionale[r] Wandel der Migrationsverhältnisse«55 und »ein gravierender Einschnitt«56 im Asylgeschehen. Dies umfasste sowohl den Umfang und die Struktur der Asylzuwanderung als auch die Auseinandersetzung und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sowie die Reaktionen der Politik. Auch der weitere gesellschaftliche Kontext wie etwa der Anwerbestopp und das Attentat während der Olympiade in München 1972 müssen dabei berücksichtigt werden. Asylpolitik wurde von einem Expert*innenthema zum zentralen Gegenstand medialer, gesellschaftlicher 50
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Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 857, 863 Hinzu kam, dass durch Zwangsmigration und Wanderungsbewegungen nach 1945 eine nie da gewesene Homogenität in den europäischen Staaten entstanden war, die in Deutschland als Normalfal betrachtet wurde; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 61–62. Ursula Münch, »Asylpolitik in Deutschland -Akteure, Interessen, Strategien.« In 20 Jahre Asylkompromiss: Bilanz und Perspektiven, hg. v. Stefan Luft und Peter Schimany, Edition Politik 16 (Bielefeld, Berlin: transcript-Verl; De Gruyter, 2014), 72. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 873; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 16–17. Patrice G. Poutrus, »Refugee Reports.« In Migration, memory, and diversity. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 65–71; Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 879–80. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 887. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 63.
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und politischer Auseinandersetzungen und dominierte sowohl die Innenpolitik als auch Wahlentscheidungen auf Bund- und Länderebene.57 In diesem Kontext entsteht die Vorstellung des Asylmissbrauchs, das sich ab 1977 als Deutungsmuster des Misstrauens im Asyldiskurs entwickelt. Die Veränderung bezieht sich zum einen auf die Asylzuwanderung selbst. Die Asylantragszahlen stiegen und die Herkunftsländer und Fluchtmotive änderten sich. Während die Antragszahlen bis 1973 überwiegend zwischen 2.000 und 5.000 Anträgen pro Jahr lagen, verdoppelten sich diese jährlich von rund 16.000 im Jahr 1977 auf mehr als 100.000 Anträge im Jahr 1980.58 Bereits seit Anfang der 1970er Jahre veränderte sich die Struktur der Herkunftsländer durch einen Anstieg von Flüchtlingen aus dem Globalen Süden. Dies ist auch auf den Zugang zu modernen Transport- und Kommunikationsmitteln zurückzuführen. Die Zahl der Flüchtlinge aus Osteuropa blieb überwiegend konstant. Ihr Anteil sank jedoch von 90 % in den 1950er und 1960er Jahren auf ein Viertel Ende der 1970er Jahre. Die Zahl der Flüchtlinge aus dem Globalen Süden, zunächst aus dem Nahen Osten wie etwa palästinensische Flüchtlinge, dann auch vermehrt aus asiatischen und afrikanischen Ländern, wie zum Beispiel aus Pakistan, Äthiopien und Ägypten stieg hingegen konstant an. 1977 betrug der Anteil von Asylsuchenden aus dem Globalen Süden 75 %. Dabei vergrößerte sich zunehmend auch die Zahl der Herkunftsländer von 68 im Jahr 1970 auf 101 im Jahr 1980, was sich durch den erhöhten Rechercheaufwand auch auf die Dauer der Asylverfahren auswirkte. Des Weiteren änderten sich auch die Fluchtmotive. Während zuvor die politische Verfolgung im Vordergrund stand, waren es jetzt Verfolgung aufgrund bestimmter Eigenschaften und Flucht aufgrund von Bürgerkriegen, Folter oder Staatenlosigkeit. Diese Asylsuchenden wurden nicht anerkannt, sie konnten jedoch auch nicht zurückgeschickt werden, sondern wurden als de facto Flüchtlinge geduldet.59 Dies führte dazu, dass die offiziellen Anerkennungszahlen sanken und damit als wichtiges Indiz für den Asylmissbrauch genutzt werden konnten. Bei einer Berücksichtigung der Gerichtsentscheidungen und Abschiebehindernisse, läge die Anerkennungsquote etwa bei einem Drittel aller Asylanträge.60 Eine weitere Deutung sieht den Grund bereits in der Genfer Flüchtlingskonvention und der daran anknüpfenden Asylpolitik, die eine spezifische Ausrichtung auf Ostblockflüchtlinge hatte: »Diese Verengung hatte zur Folge, dass man in der deutschen Öffentlichkeit und Politik den Veränderungen mit Blick auf die Herkunftsländer ab Anfang der 1970er Jahre weit57
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Poutrus, Umkämpftes Asyl, 78; Im Bundestag gab es von 1958 – 1972 lediglich 35 Debatten, die sich mit Asyl beschäftigten. Allein 1980 gab es 40 Debatten. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 32. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021,« 5. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 114–20; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 63; Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge (München: C.H. Beck, 2001), 264–65. Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl: Eine Bestandsaufnahme, Orig.-Ausg, Beck’sche Reihe 1072 (München: C.H. Beck, 1994), 110–11; Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 142–46.
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gehend verständnislos gegenüberstand. Die anfängliche Engführung eines eigentlich grenzenlos gültigen Asylgrundrechts auf Ostblockflüchtlinge stellt eine der Wurzeln für die Wahrnehmung von ›Asylmissbrauch‹ dar«61 . Es gab jedoch noch weitere Veränderungen, die zu diesem Wandel beitrugen. Hier ist zum einen der Anwerbestopp der Gastarbeiter 1973 zu nennen, womit Asyl neben Familienzusammenführung zum einzigen legalen Zuwanderungsweg wurde. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Migrationspolitik wurde Asylpolitik zum einzigen Bereich, indem Politik noch Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit zeigen konnte.62 Zum anderen hatte der Angriff auf die israelischen Athlet*innen während der Olympiade in München 1972 Auswirkungen auf das Asylgeschehen. Personen mit Bezug zur »arabischen Welt« wurden unter einen generellen Terrorismusverdacht gestellt. Sowohl Flüchtlinge als auch Studierende waren damit konfrontiert, dass ihr Aufenthalt nicht verlängert wurde. »Die Tatsache, dass das Aufenthaltsrecht für diese Menschen auf der auch juristisch fragwürdigen Basis ihrer vermeintlich einheitlichen Herkunft aufgehoben wurde, führte zu keiner intensiven öffentlichen Auseinandersetzung über die völker- und menschenrechtlichen Grundlagen für ein solches [...] Vorgehen.«63 Der Terroranschlag konnte vielmehr als Beweis gesehen werden, dass Zuwanderung aus dem Globalen Süden eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellt und möglichst eingeschränkt werden muss.64 Der Spiegel veröffentlichte eine Ausgabe zu »Ausländer in der Bundesrepublik« mit dem Titel des Leitartikels: »Der Araber – dem ist nicht zu trauen«, indem die Anwesenheit von Ausländern aus bestimmten Herkunftsländern mit einer Terrorismusbedrohung gleichgesetzt wurde.65 Die Reaktionen der Politik waren ab 1977 bis zur Grundgesetzänderung 17 Asylrechtsänderungen, die versuchten, den Gebrauch des Asylrechts einzuschränken bzw. den vermeintlichen Missbrauch des Asylrechts zu bekämpfen. Diese setzen an unterschiedlichen Ebenen an: es ging dabei um die Verhinderung der Einreise durch Visumszwang und Grenzkontrollen, um die Verkürzung und Vereinfachung des Asylverfahrens und Abschreckungsmaßnahmen durch Verschlechterung der Lebensverhältnisse.66 Die Asylrechtsänderungen brachten nicht das erwünschte Ergebnis zur Reduzierung der Asylantragszahlen. Hinsichtlich der Dauer der Asylverfahren stellte sich sogar ein gegenteiliger Effekt ein. Des Weiteren verschärften die Veränderungen die negative Wahrnehmung von Asylbewerber*innen. Die Asylrechtsänderungen umfassten mit dem Ziel der Abschreckung und Integrationsverhinderung beispielsweise die Verteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer während des Verfahrens, die Unterbringung in Sammelunterkünfte, ein Arbeitsverbot und Verteilung von Lebensmittelgutscheinen. Durch die61 62 63 64 65 66
Ursula Münch, »Asylpolitik in Deutschland -Akteure, Interessen, Strategien.« In 20 Jahre Asylkompromiss. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 72, 95. Ebd., 63f. Ebd., 64. o. A., »Der Araber – dem ist nicht zu trauen.« DER SPIEGEL, Nr. 39 (1972). Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 105–8; Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 120.
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se Maßnahmen entstanden hohe Kosten für Länder und Kommunen, die wiederum als Begründung dafür dienen konnten, das Asylrecht einzuschränken. Die Einrichtung von neuen Unterkünften rief zudem Protest bei der Bevölkerung hervor. Die Maßnahmen bestätigten das Bild des faulen Asylanten, der den deutschen Sozialstaat ausnutzt, sowie die Vorstellung des gefährlichen oder gewalttätigen Fremden, welche durch Konflikte in den beengten Unterkünften hervorgerufen wurde. Somit entwickelte die Situation eine zum Teil hausgemachte Eigendynamik, da mit jeder Asylrechtsänderung neue Probleme hinsichtlich der langen Verfahren und der Wahrnehmung der Bevölkerung entstanden.67 Die ersten Änderungen waren damit »nur der Anfang einer [...] fortgesetzten Reihe von Eingriffen in das bundesdeutsche Asylverfahren, das seitdem fast ununterbrochen als veränderungsbedürftig empfunden wurde.«68 Anhand der ersten drei Asylrechtsänderungen sollen beispielhaft die Maßnahmen und Ansätze deutlich gemacht werden. Im Juli 1978 wurde das erste Asylbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Es führte den Begriff des offensichtlich unbegründeten Asylantrags ein, bei dem die Rechtsmittel zum Widerspruch stark verkürzt wurden. Durch Ausnutzung aller Rechtsmittel konnte das Asylverfahren zu dieser Zeit bis zu sechs Jahre dauern, was als eine Gefahr für eine Sogwirkung betrachtet wurde, da durch einen Asylantrag ein sechsjähriger Aufenthalt in Deutschland möglich wurde. Durch Aufhebung der Widerspruchsausschüsse beim Bundesamt sollte das Verfahren beschleunigt werden, dadurch verlagerten sich die Verfahren aber zu den Verwaltungsgerichten, sodass kaum ein Effekt eintrat. Bereits 1979, bevor überhaupt ersichtlich war, ob das Gesetz wirkt, wurde von der CDU ein neuer Gesetzesentwurf eingebracht. Das zweite Asylbeschleunigungsgesetz 1980 war restriktiver und umfassender und senkte die Ansprüche an ein rechtsstaatliches Verfahren, wie etwa die Ersetzung der Anerkennungsausschüssen durch Einzelentscheider*innen. 1982 wurde dies mit einem neuen Asylverfahrensgesetz weiter vorangetrieben. Zudem wurde in die Lebenssituation von Asylsuchenden durch Gemeinschaftsunterbringung, Residenzpflicht und Kürzung der Geldleistungen massiv eingegriffen.69 Weder die grundsätzliche Frage der de facto Flüchtlinge noch der Umgang mit Altfällen wurde neu geregelt. Die Annahme, dass ein Großteil der Asylsuchenden keine wirklichen Anerkennungsgründe vorweisen könne und das Asylrecht nur ausnutzen möchte, führte zu einer starken Einschränkung der Grundrechte. »Das Argument, mit dem man [...] Bedenken über die Zulässigkeit persönlichkeitsbeschränkender administrativer Maßnahmen zu entkräften suchte, war die Behauptung, daß nur ›Scheinasylanten‹ von diesen Eingriffen betroffen seien; den tatsächlich politisch Verfolgten stünde das bundesdeutsche Asylrecht nach wie vor offen. Diese Menschen würden auch angesichts ihres persönlichen Schicksals gerne vorübergehende
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Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 265, 271. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 45. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 44ff.
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Einschränkungen auf sich nehmen, solange sie vor politischer Verfolgung geschützt seien.«70 Auch wenn bestimmte Gesetze wie beispielsweise die Vorprüfung bei Grenzübertritt 1981 sowie Folter als nicht ausreichender Anerkennungsgrund 1990 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurden, entwickelte auch die bundesdeutsche Rechtsprechung in den 1980er Jahren restriktivere Tendenzen. Zudem dauerte es meist einige Jahre, bis Asylantragsteller*innen den Weg durch die Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht durchliefen.71
3.2 Beschreibung des Diskurses 3.2.1 Die Entstehung und Entwicklung des Diskurses um den Asylmissbrauch Im letzten Kapitel wurde dargestellt, wie sich das Asylgeschehen in den 1970er Jahren veränderte und einige strukturelle, kontextuelle und politische Gründe und Zusammenhänge genannt, die zu dieser Veränderung beitrugen. Der Diskurs um den Asylmissbrauch entwickelte jedoch eine Eigendynamik und Eigenlogik, die nun stärker in den Fokus gerückt werden soll. Anschließend werden grundlegende Kollektivsymbole und Deutungsmuster des Fluchtdiskurses sowie der Begriff des Asylanten näher betrachtet. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass es wenige Studien gibt, die sich expliziter mit dem Diskurs um Asylmissbrauch in den 1970er und 80er Jahren auseinandersetzen.72 Lediglich aus juristischer Perspektive gab es eine intensivere Auseinandersetzung.73 Aktuellere empirische Analysen fehlen vollständig. Das Deutungsmuster des Misstrauens, die Charakteristika und die damit einhergehenden Verschiebungen im Diskurs sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Der Begriff Asylmissbrauch und das damit verbundene Deutungsmuster des Misstrauens entwickelten ab Ende der 1970er Jahre ein umgangssprachliches und alltagstheoretisches Eigenleben.74 Zunächst ausgehend von der Wortbedeutung ist Missbrauch,
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Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 87–88. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 80. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland; Gottfried Köfner und Peter Nicolaus, Hg., Probleme des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland: Dokumentation einer wissenschaftlichen Konferenz, Entwicklung und Frieden 28 (München: Kaiser, 1983); Astrid Bröker und Jens Rautenberg, Die Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des sogenannten ›Asylmißbrauchs‹, X-Publikationen (Berlin: EXpress-Edition, 1986), Universität Bochum, Diplomarbeit, 1985; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts; Ulrich O. Sievering, Hg., Praxisprobleme im Asylverfahren: Das Recht auf politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Verfassungsauftrag u. Verwaltungsaufgabe, Arnoldshainer Texte 6 (Frankfurt a.M.: Haag und Herchen, 1982); Wolfgang G. Beitz und Fritz Franz, Hg., Grenzfragen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 3. erg. Aufl., Reihe Asylrecht 7 (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1982). Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 127.
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wenn etwas »(absichtlich) falsch, in übertriebenem Maße oder unerlaubt«75 gebraucht wird. Interessant ist dabei, dass in der Definition die Absicht nicht zwingend gegeben sein muss, Asylmissbrauch jedoch überwiegend als bewusste Handlung dargestellt wird. Aus juristischer Perspektive wurde die Existenz von Asylmissbrauch stark in Frage gestellt. Asyl ist zunächst ein Grundrecht, welches allen Menschen offensteht. Das Asylverfahren überprüft, ob die Grundlage dafür gegeben ist, sich auf dieses Recht zu berufen. Aus juristischer Perspektive gilt: »Da aber das Grundrecht auf Asyl nicht erst durch die Anerkennungsentscheidung geschaffen wird [...], gibt es in Wirklichkeit keine ›Asylbewerber‹, sondern nur Asylberechtigte und Nichtasylberechtigte«76 . Der Missbrauch eines Grundrechts ist in Artikel 18 GG genauer definiert: »Wer die Freiheit der Meinungsäußerung [...] oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.« Somit kann aus verfassungsrechtlicher Sicht nur von einem Missbrauch des Asylrechts gesprochen werden, wenn sich dies gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet und dies kann nur vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden. Es könne somit lediglich von einem »Asylverfahrensmissbrauch« gesprochen werden, weil das Verfahren genutzt wird, um in der Bundesrepublik zu bleiben.77 Auch dies wurde 1981 von Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen: »Der Gesetzgeber ist seiner Aufgabe, eine dem Grundrecht auf Asyl angemessene Verfahrensregelung zu treffen, durch Einführung eines Anerkennungsverfahrens nachgekommen. Angesichts dieser Rechtslage läßt es sich [...] nicht [damit] vereinbaren, [...] Asylbegehren als offensichtlich rechtsmißbräuchlich außer acht [zu] lassen«78 . Daraus folgt, dass es das Asylgrundrecht in Verbindung mit der Rechtsstaatlichkeit erforderlich macht, in einem Verfahren zu prüfen, ob das Recht auf Asyl im Einzelfall gegeben ist. Unbegründete Anträge können »nicht durch die Verwendung des Begriffs des ›Asylrechtsmißbrauchs‹ gelöst werden«.79 Aus juristischer Sicht gibt es somit keinen Tatbestand des Asylmissbrauchs. Der öffentliche und politische Diskurs um Asylmissbrauch hatte dennoch Einfluss auf das Verfahren. Ein Richter am Verwaltungsgericht Wiesbaden erklärte, dass das Ziel »die rasche, unkomplizierte Aussonderung der überwiegenden Mehrzahl der Asylbewerber als Wirtschaftsflüchtlinge und Scheinasylanten [ist]«.
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Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »Missbrauch.« In Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, zuletzt geprüft am 25.11.2021, https://www.dwds.de/wb/missbrauchen#d-1-1. Otto Kimminich, Die Grundrechte: Art. 16 GG; Verbot d. Entzuges d. dt. Staatsangehörigkeit, Verlust d. Staatsangehörigkeit, Auslieferungsverbot, Asylrecht, Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Hamburg Heitmann, 1984); zitiert in: Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 213. Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, 149–53; Bröker und Rautenberg, Die Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des sogenannten ›Asylmißbrauchs‹, 161–62. Verfassungswidrigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Ausländerbehörden wegen offensichtlich rechtsmißbräuchlichen Asylanträgen, 56 216, 216 (Bundesverfassungsgericht 25.02.1981). Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, 153.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Dementsprechend wird von ihm, dem Richter, erwartet, daß er [...] seinen Beitrag zu dem auf asylrechtliche Generalprävention ausgerichteten Maßnahmebündel leistet.«80 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass auch ohne juristischen Tatbestand des Asylmissbrauchs, dieser dennoch als grundlegendes Deutungsmuster des Misstrauens Teil des öffentlichen Diskurses und die Grundlage asylpolitischer Entscheidungen war. Asylmissbrauch etablierte sich als selbstständiges politisches Schlagwort, das keiner näheren Erklärung mehr bedurfte und als Legimitation für immer restriktivere Maßnahmen ausreichte. Eine Auseinandersetzung mit Fluchtgründen und politischen Situationen in den Herkunftsländern war somit nicht mehr notwendig.81 Die Annahme, dass es möglich ist, Zuwanderung durch Asylgesetzgebung zu steuern ist ein zentrales Element des Diskurses. Es wird davon ausgegangen, dass aufgrund schnellerer Verfahren oder Gemeinschaftsunterbringung Menschen abgeschreckt werden, nach Deutschland zu kommen und einen Asylantrag zu stellen.82 Des Weiteren werden alle abgelehnten Asylbewerber*innen als Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet, die eine klar zu definierende und abgrenzbare Gruppe darstellen und das Verfahren in missbräuchlicher Weise in Anspruch genommen haben.83 Politische Verfolgung sei im Asylverfahren eindeutig festzustellen. Der mediale Diskurs war gekennzeichnet durch »die Polarisierung der sogenannten ›wenigen echten‹ Asylbewerber mit den sogenannten Scheinasylanten, sowie durch die jahrelange heftige Diskussion über den Mißbrauch deutscher Großzügigkeit, durch die Übertreibung der Probleme zu notstandsähnlichen Dimensionen und das ständige Reden von den ins Land stürzenden Asylantenfluten, gegen die dringend Dämme errichtet werden müßten«.84 Die Undifferenziertheit und polarisierende Vereinfachung verhinderte Empathie und Einfühlung für die Lebenssituation geflüchteter Menschen und verschob den Fokus des Asyldiskurses von Menschen, die Schutz suchen, zu Menschen, die missbräuchlich handeln und eine Bedrohung für die Bundesrepublik darstellen.85 Die Verengung des Diskurses hatte zur Folge, dass die Reaktion und der Umgang damit zunehmend weniger Spielräume und Handlungsalternativen aufwies und das Denken »monokausaler« wurde.86 »Insgesamt zeichnete sich bei der Art und Weise, wie in der Bundesrepublik Deutschland über asylpolitische Belange diskutiert wird, schon früh die Gefahr ab, daß nicht die exekutiven und legislativen Maßnahmen das Grundrecht auf Asyl ge-
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Sievering, Praxisprobleme im Asylverfahren, 80. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 211. Ebd., 226–27. Gottfried Köfner, »Politik und Asylrecht: Rechtspolitische Entwicklungen und metajuristische Einflüsse auf die Praxis in Verwaltung und Rechtssprechung.« In Köfner; Nicolaus, Probleme des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland (s. Anm. 352), 56. Ebd., 75. Ebd., 56–7. Ebd., 75.
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fährden, sondern daß die asylfeindliche Stimmung in Staat und Gesellschaft auf Dauer rechtsverhindernd wirkt.«87 Dies zeigt nicht nur die Verwobenheit von öffentlichem Diskurs, politischen Entscheidungen und rechtlicher Ausgestaltung, sondern auch den Einfluss der diskursiven Konstruktionen. Auf zwei Ereignisse im Sommer 1983 soll nun noch hingewiesen werden, die die dominante Deutung des Asylmissbrauchs in Frage stellten und die Negativaufmerksamkeit von Asylsuchenden hin zu einer Kritik an der deutschen Asyl- und Auslieferungspraxis lenkten.88 Im August 1983 wurde der Toscani-Bericht des UNHCRs veröffentlicht, der kritisierte, dass in der Bundesrepublik im europäischen Vergleich einmalige Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylsuchende durchgesetzt werden. Diese bezogen sich insbesondere auf die Unterbringung und Versorgung von Menschen im Asylverfahren, die Höhe der Sozialleistungen, das Arbeitsverbot sowie die damit einhergehende seelische Belastung. Zudem wurde auf die Privilegierung von Ostblockflüchtlingen hingewiesen.89 Die nach einer ersten Empörung vonseiten der Bundesregierung entstehenden Gespräche mit dem UNHCR veränderten jedoch nichts an der Lebenssituation der Asylbewerber*innen.90 Ebenfalls im August 1983 nahm sich Cemal Kemal Altun während einer Gerichtsverhandlung das Leben, indem er aus dem Fenster des Gerichtssaals im sechsten Stock sprang. Er saß zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Monate in Auslieferungshaft, da in der Türkei ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Obwohl er im Juni bereits als Flüchtling anerkannt worden war, der UNHCR interveniert hatte und Altun eine Beschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission eingelegt hatte, hielt die Bundesrepublik daran fest, ihn auszuliefern. Bereits am selben Tag fand eine große Demonstration in Berlin statt. Anschließend wurde eine Kommission gegründet, um das Auslieferungs- und Asylrecht besser zu harmonisieren. Daraus gingen jedoch keine rechtlichen Änderungen hervor. Cemal Kemal Altun gilt als erster politischer Flüchtling, der sich aufgrund des Asylsystems in Deutschland und aus Angst vor Auslieferung und Folter das Leben nahm.91 Es widersprach dem Deutungsmuster des Misstrauens, dass von ihm als Opfer deutscher Asylpolitik gesprochen und seine persönliche Geschichte erzählt wurde.92 1996 wurde ein Denkmal vor dem Verwaltungsgericht in Berlin eingeweiht mit der Inschrift »Cemal Kemal Altun stürzte sich am 30. August 1983 als politischer Flüchtling hier aus
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Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 110. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 60. Pierre Simonitsch, »Sozialfragen und Menschenrechte: Asyl – umstrittene Abschreckungsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland.« Vereinte Nationen : Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen : German review on the United Nations, Nr. 1 (1984): 32. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 64. Umbruch Bildarchiv e.V., »Erinnerung an Cemal Kemal Altun.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, http s://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/cemal_kemal_altun.html; Asyl in der Kirche e.V., Hg., Zuflucht gesucht – den Tod gefunden: Cemal Kemal Altun 1960–1983 (Berlin, 2003), https://flu echtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/altun.pdf, zuletzt geprüft am 26.01.2022; Wolf R. von Hase, »Denkmal für einen Asylbewerber.« Betrifft Justiz, Nr. 48 (1996). Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 204–5.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
dem Fenster des Verwaltungsgerichts aus Angst vor Auslieferung in den Tod. Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten.«93 In beiden Fällen gab es eine breite mediale Berichterstattung, in den beiden untersuchten Zeitungen finden sie jedoch keine Erwähnung und sind nicht Teil der Analyse.94 Es trat »der Konflikt zwischen der menschenwürdigen Behandlung der Asylbewerber und der bundesdeutschen ›Abschreckungspolitik‹ in einer bis dahin nicht dagewesenen Schärfe zutage.«95 . Die scheinbar eindeutige Grenzziehung zwischen echten und unechten Flüchtlingen und die Überzeugung, an einer Abschreckungsund Abschottungspolitik festzuhalten, kam zumindest kurzfristig ins Wanken. Eine detaillierte empirische Untersuchung steht dazu noch aus.
3.2.2 Kollektivsymbole im Diskurs über Flucht und Asyl Beim Sprechen über Migration und insbesondere im Fluchtdiskurs wird häufig auf bestimmte Kollektivsymbole zurückgegriffen. Diese Bilder, Symbole und Metaphern sind Teil von Deutungsmustern, die den Diskurs strukturieren und ermöglichen es, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen und die Welt beziehungsweise bestimmte Sachverhalte zu ordnen. Da Kollektivsymbole mit konzeptuellen Metaphern und bildlichen Vergleichen arbeiten, sprechen sie bestimmte Gehirnareale für beispielsweise Bewegungsabläufe, Gefühle oder andere Sinneseindrücke an. Auf drei dieser Kollektivsymbole, die im Fluchtdiskurs auftauchen, soll im Folgenden eingegangen werden. Diese sind die Nation als Boot, Zuwanderung als Strom und Migrant*innen als Fremdkörper bzw. Parasit. Die Aussage »Das Boot ist voll« beschreibt die Nation als Boot auf dem Meer. Dabei ist es kein Schiff, sondern ein Boot, welches eher mit klein, wenig stabil und der Möglichkeit zu kentern assoziiert wird. Weder Nachbarländer noch Fluchtursachen sind Teil der Symbolik. Flüchtlinge werden zur Bedrohung oder zu Täter*innen, die die Funktionsfähigkeit des Bootes gefährdet. Das Kollektivsymbol knüpft an die Vorstellung an, dass die Nation ein geschlossenes Gefäß oder ein Container ist, dessen Fassungsvermögen begrenzt und nicht ausbaufähig ist. Die Vorstellung eines Containers zeigt sich auch in den Begriffen Ein-Wanderer und Aus-Länder. In diesem Bild werden Ressourcen als Raum verstanden. Die Annahme, es sei kein Platz für Flüchtlinge, bezieht sich daher nicht nur auf Quadratmeter, sondern auch auf die zur Verfügung stehende Ressourcen. Diese wirken dadurch jedoch ebenfalls begrenzt und Zugewanderte werden nicht als Personen gesehen, die auch Ressourcen mitbringen. Ein Gefühl von Enge und Platzmangel entsteht.96
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»Gedenkstein für Cemal Kemal Altun.« Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschic hte/persoenlichkeiten-und-gedenktafeln/artikel.125468.php. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 56ff. Ebd., 63f. Cord Pagenstecher, »»Das Boot ist voll« – Schreckensvision des vereinten Deutschland*.« In Das Jahrhundert der Bilder: 1949 bis heute, hg. v. Gerhard Paul (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 607; Elisabeth Wehling, Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Edition medienpraxis 14 (Köln: Herbert von Halem Verlag, 2016), 169–73.
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Des Weiteren wird Zuwanderung als Wassermasse, Strom, Welle oder Flut beschrieben. In diesem Bild ist die Bevölkerung in Deutschland das Opfer, während die Flüchtlinge als Wassermasse und Naturgewalt die Bedrohung darstellen, die selbst keiner Gefahr ausgesetzt sind. Die Menschlichkeit, Individualität und Gefühle von geflüchteten Menschen bleiben unsichtbar. Wasser hat keine Gefühle wie Angst, Schmerz oder Hoffnung. Das Bild erzeugt Empathie lediglich für die ansässige Bevölkerung. Die damit verbundene Handlungsaufforderung ist, Deiche zu bauen und Schotten zu schließen. Die Vorstellung eines permanenten Stroms vermittelt auch einen Kontrollverlust. Fluchtbewegungen werden entpolitisiert und naturalisiert. Durch die Begriffe und kollektiven Bilder werden die geflüchteten Menschen entmenschlicht und rechtfertigen drastische Maßnahmen, die eher an Katastrophenschutz als an das Recht auf Asyl und Schutz erinnern.97 Das dritte Kollektivsymbol ist Zuwanderung als Schmarotzer, Parasit oder Fremdkörper. Hier wird die Nation als Person dargestellt und geflüchtete Personen als Schmutz oder Krankheiten. Dies wird nicht immer explizit gemacht, wird aber bei Begriffen wie »Einschleusen« und »Einschleppen« oder bei der Gefahr von Kriminalität und Terrorismus mittransportiert. In Anlehnung an das damals viel diskutierte Waldsterben wurde neben ökologischer, auch von sozialer Verschmutzung gesprochen.98 Des Weiteren lassen sich auch militärische Begriffe wie »Einfallstor«, »Flanke« oder »Invasion« finden, die einen Handlungsbedarf aufgrund der Notsituation und die Notwendigkeit eines gewaltsamen Eingriffs nahelegen. Das deutsche Asylrecht wirkt dann wie ein nicht funktionsfähiges Tor, das sich nicht schließen lässt. All diese Symbole und Sinnbilder beinhalten verständliche und kollektive Vorstellungen, die die Subjektivität und Affekte einer Gesellschaft betreffen und daher so wirkmächtig sind.99 Zahlen und Statistiken vermitteln dabei vermeintliche Objektivität. Jedoch werden auch sie symbolisch verwendet und mit einer bestimmten Deutung versehen, dass etwa die Belastungsgrenze erreicht ist. Diese Kollektivsymbole basieren auf einer Grenzziehung zwischen innen und außen, zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Sie markieren, »wer zur eigenen Gruppe gehört und bei wem dies nicht der Fall ist [...]. Die Innenwelt, also ›der Westen‹ oder ›Deutschland‹, wird in der Regel als Flugzeug, Auto, Schiff, 97
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Wehling, Politisches Framing, 174–76; Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl: Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Dietrich Thränhardt (Freiburg i.Br.: Lambertus, 1988), 51–4; Anne Schult, »Wellen, Ströme, Fluten. Zur politischen Geschichte aquatischer Metaphern.« Geschichte der Gegenwart, 11.04.2021, zuletzt geprüft am 24.06.2022, https://geschichtedergegenwart.ch/we llen-stroeme-fluten-zur-politischen-geschichte-aquatischer-metaphern/#:~:text=Zur%20politis chen%20Geschichte%20aquatischer%20Metaphern&text=Neben%20den%20viel%20diskutie rten%20%E2%80%9ECoronawellen,stets%20in%20den%20Medien%20pr%C3%A4sent. Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl, 51–4; Wehling, Politisches Framing, 176–79. Ute Gerhard, »›Fluten‹, ›Ströme‹, ›Invasionen‹ – Mediendiskurs und Rassismus.« In Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft: Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Manfred Heßler, Reihe »Völkervielfalt und Minderheitenrechte in Europa« 3 (Berlin: Hitit, 1993), 245–6.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Haus etc. codiert. Für die Außenwelt gelten solche Symbole wie etwa Ungeziefer, Stürme, Fluten, Gifte etc. Dem eigenen System kommt damit ein Subjektstatus im Sinne einer autonomen, zurechnungsfähigen, quasi-juristischen Person zu. Es ist ein Körper mit Kopf, der sich Therapien gegen Krankheiten überlegen kann; [...] es ist ein Haus mit Bewohnern, die die Tür zumachen können usw. Dieser Subjektstatus gilt aber nicht für das Außen, das als Chaos, Krankheit, Naturgewalten etc. codiert wird.«100 Der Asyldiskurs beinhaltete zwei dichotome Konstruktionen von geflüchteten Menschen abhängig von legitimen oder illegitimen Fluchtgründen. Sie werden dann als Opfer oder als Täter beschrieben. Wenn diese ins Verhältnis zum Eigenen gesetzt werden, entsteht ein Beziehungsdreieck mit einer »Funktion für die national kodierte Selbstdeutung«: »Denn in der Dreiecksbeziehung ›Täter-Opfer-Retter‹ kommt ›Deutschland‹ entweder die Position des ›Retters‹ (der ›wirklich Verfolgten‹) oder des ›Opfers‹ (von ›Asylmissbrauch‹) zu, unter keinen Umständen jedoch die Position des ›Täters‹.«101 Diese Leerstelle erschwerte Kritik am Asylsystem im Diskurs und verhinderte die Wahrnehmung von geflüchteten Menschen als handlungsfähige Subjekte. Die Entstehung und Verbreitung des Begriffs Asylant trug zur Festschreibung von bestimmten Bildern und Zuschreibungen im Diskurs bei, was im Folgenden näher betrachtet wird.
3.2.3 Der Begriff Asylant, seine »biologische Spur« und Funktion im Diskurs Der Begriff des Asylanten als »politisches Schlagwort mit ausgeprägter Öffentlichkeitswirkung und entsprechender emotionaler Besetzung«102 entwickelte sich ab 1977 neben dem Begriff Wirtschaftsflüchtling und galt vor allem den geflüchteten Menschen aus dem Globalen Süden.103 Er war mit bestimmten Herkunftsländern und Zuschreibungen verknüpft. Die Entstehungsgeschichte und die rassifizierenden Zuschreibungen werden nun näher betrachtet. In den Institutionen Ende der 1960er Jahre gab es bereits das Deutungsmuster des Misstrauens, dies war jedoch nicht vorherrschend wie in den 1970er und 1980er Jahren.104 Während der Begriff des Asylanten sich erst Ende der 1970er Jahre entwickelte, tauchte der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings schon Anfang der 1960er Jahre auf.105 Er wurde für Jugoslaw*innen verwendet, die zu diesem Zeitpunkt die größte Gruppe an Asyl-
100 Jäger und Zimmermann, Lexikon kritische Diskursanalyse, 72. 101 Niedrig und Seukwa, »Die Ordnung des Diskurses in der Flüchtlingskonstruktion.« 185. 102 Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 209. 103 Sprachwissenschaftlich wurde dem Begriff »Asylant« eine Assoziation zu »Obdachlosenasyl« zugeschrieben. Zudem würde die Endung »-ant« eine Abweichung von der Norm beschreiben wie etwa Ignoranten, Spekulanten, Simulanten und würde häufig im psychatrischen Kontext genutzt. Vgl. Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl; Gerhard Strate, »›Asylant‹ oder ›Asylsuchender‹?« In Sievering, Praxisprobleme im Asylverfahren (s. Anm. 353). 104 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 56. 105 Zum Beispiel: »Denn nach dem Spruch der ›Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge‹ ist er kein politischer Emigrant, sondern nur ein ›vor den begrenzten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in Jugoslawien Geflüchteter‹, ein sogenannte: ›Wirtschaftsflüchtling‹, wie
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suchende darstellte, jedoch nur zu einem Zehntel anerkannt wurden. Die Nutzung des Begriffs wurde jedoch von verschiedenen Seiten deutlich kritisiert. Des Weiteren gab es die Begrifflichkeit des Missbrauchs des Gastrechts. Dies bezog sich jedoch auf einzelne anerkannte Flüchtlinge, die politisch motivierte Kriminalität in Deutschland ausübten.106 Der Begriff des Asylanten tauchte 1976 zum ersten Mal im Bundestag, 1977 zum ersten Mal in deutschen Zeitungen auf.107 Er verbreitete sich so rasant, dass er ab 1980 zunehmend die Begriffe Flüchtling und Asylbewerber nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien, in der Wissenschaft, sowie in Veröffentlichungen der Kirchen und NGOs ersetzte. Auch der Begriff des Scheinasylanten etablierte sich, der bis heute die häufigste Kollokation mit dem Wort Asylant darstellt.108 Während sich von Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre das Deutungsmuster des Misstrauens und die damit verbundenen Begrifflichkeiten langsam entwickelten und der Ton – auch aufgrund sinkender Antragszahlen – anschließend etwas moderater wurde, wurde an diesem Deutungsmuster 1986 erneut angeknüpft und konnte in kürzester Zeit reaktiviert werden (siehe Kapitel 5).109 Die quantitativen Höhepunkte des Begriffs Asylant sind Anfang der 1990er Jahre im Kontext der Grundgesetzänderung. Detaillierte Analysen zur Begriffsgeschichte stehen noch aus und können hier nicht realisiert werden. Der Begriff des Asylanten mag sprachwissenschaftlich zu kritisieren sein, diskursanalytisch interessanter sind die damit verbundenen Zuschreibungen und die Funktion im Diskurs. Begriffe, die Zuwanderungsgruppen beschreiben, benennen die Zuwanderungsform oder den rechtlichen Status und nicht die Herkunft oder das Aussehen der Personen. Dies führt dazu, dass sich rassifizierende Hierarchisierungen hinter scheinbar legitimen Kriterien von Migrationspolitik verstecken. Der Begriff des Ausländers beispielsweise enthielt eine biologistische Bedeutungsdimension, weil nur bestimmte Gruppen aufgrund von Herkunft, Kultur und Religion als Ausländer beschrieben wurden.110 Daran wird deutlich, dass Migrationsdiskurse »weiterhin mit dieser offensichtlich schwachen, unbegründeten, unvertretbaren und fast, aber eben nur fast gänzlich ausradierten ›biologischen‹ Spur operieren«.111 In rassistischen Diskursen wird körperliche Differenz zu einem leeren Signifikanten, der mit Bedeutung versehen und mit sozialen, kulturellen oder intellektuellen Differenzen verknüpft wird. Diesen
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fast tausend andere Jugoslawen, denen jedes Jahr in Zirndorf, (…) die Anerkennung als politischer Flüchtling versagt wird. hwr, »Flüchtlinge 1. und 2.Klasse.« Die Zeit, 09.02.1962. Gottfried Köfner, »Politik und Asylrecht.« In Probleme des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 62–4; Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 206–8. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortverlaufskurve für ›Asylant‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355). Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortprofil für ›Asylant«.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355). Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 209–15. Alexopoulou, »Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«. Hall und Gates, Das verhängnisvolle Dreieck, 66.
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Prozess bezeichne ich als »Rassifizierung«, weil dadurch in den Vordergrund rückt, dass es sich um einen sozialen Prozess handelt und rassifizierte Differenz diskursiv erst hergestellt wird.112 Auch der Begriff des Asylanten enthält eine solche biologisierende Spur, die über die Verbindung von Herkunftsland mit (fehlender) politischer Verfolgung unsichtbar gemacht wird.113 Asylant tauchte überwiegend im Plural auf und wurde häufig mit Flut- und Wassermetaphern verknüpft. Es war jedoch kaum von Ostblock- oder Vietnamasylanten die Rede, was deutlich macht, dass neben der Herkunft auch das politische System und die Fluchtgründe eine Rolle spielten. Bereits 1980 hatte sich eine Spaltung von zwei Gruppen durchgesetzt, die Asyl in Deutschland beantragten: Flüchtlinge sind wenige, kommen aus östlicher Richtung und aufgrund politischer Verfolgung, Asylanten kommen in Massen aus dem Süden und haben keine anerkannten Asylgründe. Dabei werden Flüchtlinge als Weiß, individuell, hilfsbedürftig und freiheitsliebend konstruiert und Asylanten als People of Color (PoC)114 , fremd und gefährlich.115 Asylant übernahm damit eine bestimmte Funktion im Diskurs: »Ob böse Absicht oder mehr Ausrutscher – das Unwort hätte sich niemals durchsetzen können, wenn nicht sein Effekt äußerst erwünscht gewesen wäre. Dieser Effekt bestand darin, einen Teil der Flüchtlinge zu ›Nicht-Flüchtlingen‹ zu machen, die Flüchtlinge aufzuspalten nach Herkunftsländern.«116 Die Gefahr von Ausländerfeindlichkeit ist ein wesentliches Element des Diskurses und ist eng verknüpft mit der Vorstellung, dass nun fremdere Menschen nach Deutschland kommen. Die Annahme einer größeren Differenz von geflüchteten People of Color war dabei unter Asylbefürworter*innen und -gegner*innen gesellschaftlicher Konsens. Folgendes Zitat einer Tagung vom Katholischen Arbeitskreis Entwicklung und Frieden 1983 macht dies deutlich: »Die Restriktionen mehren sich, seitdem fremdrassige Flüchtlinge die Mehrheit der Asylbewerber stellen. Diese Personengruppen weisen große kulturelle und ethnische Unterschiede zur deutschen Bevölkerung auf und lassen deshalb den zuständigen Stellen eine Integration nicht im Bereich des Möglichen erscheinen. Im Vergleich zu ande112 113
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Alexopoulou, »Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,« 19. Detaillierter in folgendem Artikel: Nadine Sylla, »Die »biologische Spur« in der Flüchtlingskonstruktion: Mediale Fluchtdiskurse in den 1970er und 1980er Jahren.« In Migrations- und Fluchtdiskurse im Zeichen des erstarkenden Rechtspopulismus, hg. v. Schahrzad Farrokhzad et al., 1. Auflage, Springer eBook Collection (Wiesbaden: Springer Verlag, 2021). »People of Color ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als weiß, deutsch und westlich wahrgenommen werden und sich selbst nicht so definieren. Schwarz, Weiß und PoC sind dabei politische Begriffe. Es geht nicht um Hautfarben, sondern um die Benennung von Rassismus und den Machtverhältnissen in einer mehrheitlich Weißen Gesellschaft.«Neue Deutsche Medienmacher*innen, »People of Color.« Zuletzt geprüft am 02.07.2022, https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/people-of-color-poc/. Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl, 50–1; Jürgen Link, »Über den Anteil diskursiver Faktoren an neorassistischen Proliferationen.« In Kalpaka; Räthzel, Rassismus und Migration in Europa (s. Anm. 267), 337; Ute Gerhard, »›Fluten‹, ›Ströme‹, ›Invasionen‹ – Mediendiskurs und Rassismus.« In Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, 241. Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl, 61.
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ren hochentwickelten westlichen Industriestaaten kann die Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet nicht als ausländerfreundliches Land gelten.«117 Die Differenz wird als Tatsache dargestellt, lediglich die Frage der Integration bleibt ein wenig offen. Es wird nicht ausgeführt, was Deutschland tun könnte, um ein ausländerfreundliches Land zu werden. Ausländerfeindlichkeit wurde damit zu einer nachvollziehbaren Reaktion oder einem natürlichen Abwehrinstinkt gegen die steigende Zahl von offensichtlich und wahrnehmbar Fremden. Die Ursache von Ausländerfeindlichkeit ist dann nicht in den rassistischen Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft zu suchen, sondern in den Asylanten, die das Asylrecht missbrauchen und sich auch optisch von den echten Flüchtlingen unterschieden. So würden wirklich politisch Verfolgte keine Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft hervorrufen. Die Fremdheit und Differenz wird damit essentialisiert und als Alleinstellungsmerkmal hervorgehoben.118 In der politischen Debatte wurde Ausländerfeindlichkeit unter gegenseitigen Schuldzuweisungen als Konsequenz der fehlgeleiteten Asylpolitik dargestellt.119 In der Analyse werden daher sowohl die rassifizierenden Zuschreibungen von Flüchtlingen und Asylanten betrachtet als auch die Nutzung und Funktion von Ausländerfeindlichkeit im Diskurs.
3.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und der SZ Die Analyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend sind. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese sollen im Folgenden in Form einer Selbstaussage in der Sprache des Diskurses formuliert werden, um dann auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail einzugehen. Wir haben ein großzügiges Asylrecht, welches aus der nationalsozialistischen Vergangenheit resultiert. Durch Asylmissbrauch wird unsere Großzügigkeit ausgenutzt, die langen Asylverfahren und Sozialleistungen verschärfen das Problem noch. Die Zuwanderung verursacht Überforderung und Chaos in Behörden, Kommunen und in der Bevölkerung. Es droht ein Kontrollverlust. Die Asylanten kommen aus armen, außereuropäischen Ländern. Sie werden nicht politisch verfolgt, sondern kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Kriminelle Akteure im In- und Ausland nutzen ihre Not, um sich zu bereichern. Besonders Pakistani missbrauchen das Asylrecht. Unsere Gesellschaft ist durch die Andersartigkeit der Flüchtlinge bedroht, die Bevölkerung fühlt sich durch ihre Anwesenheit überfremdet.
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Franz Böckle, »Eröffnung und Begrüßung.« In Köfner; Nicolaus, Probleme des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland (s. Anm. 352), 12. Weiter wird gesagt: Für Fluchtbewegungen als »Dauerproblem (…) [bedarf es] menschlich tragbarer und wenn möglich optimaler Lösungen«. Die Tagung setzt hier an und will Asylrecht und -praxis wissenschaftlich erforschen. Alexopoulou, »Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland«. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 252–57.
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Für die Analyse wurden 51 Artikel analysiert, davon 21 aus der FAZ und 30 aus der SZ. Die überwiegende Mehrheit ist zwischen 1977 und 1980 erschienen, wenige weitere Artikel 1981 und 1982. Der Diskurs ähnelt sich stark in den beiden Zeitungen, lediglich bei der Frage der Rechtsstaatlichkeit und einer Grundgesetzänderung gibt es deutliche Unterschiede. Die FAZ verknüpft das Thema Asyl stärker mit Extremismus und Kriminalität.120 In der SZ wird ausführlicher über einen Hungerstreik berichtet, mit dem Flüchtlinge eine humanere Unterbringungssituation fordern. Hier tauchen sie zumindest indirekt als handelnde Subjekte auf, auch wenn sie nicht selbst im Artikel zu Wort kommen.121 Auf diese beiden Aspekte kann nicht ausführlich eingegangen werden, sie sollen jedoch benannt werden.
3.3 Das Eigene 3.3.1 Asylmissbrauch im Wirtschaftswunderland Die Auseinandersetzung um den Asylmissbrauch beginnt in beiden Zeitungen im Jahr 1977. In den ersten Artikeln wird dieser benannt, erklärt und in Frage gestellt. Sehr schnell wird Asylmissbrauch jedoch allgemein als Problem anerkannt und nur wenige juristisch gebildete Stimmen kritisieren die Annahme, dass ein Missbrauch existiert (siehe Kapitel 3.3.3). Zentral ist dabei der finanzielle Aspekt, dass die Asylantragstellung in Deutschland das Recht auf Sozialhilfe und Erwerbstätigkeit ermöglicht. In der SZ wird im Januar 1977, in der FAZ im August 1977 zum ersten Mal über Asylmissbrauch berichtet. »Doch gibt es auch die Behauptung, bei der Mehrzahl der Asylsuchenden handle es sich um ›Asylschwindler‹, also um Ausländer, die politische Gründe vortäuschen, um in der Bundesrepublik besser leben zu können. Den Beweis bleiben die Verfechter dieser Ansicht schuldig. Die Bestimmungen des sehr gründlichen Anerkennungsverfahrens sprechen eher dagegen. Tatsache ist allerdings: Etliche begründen ihr Asylgesuch damit, daß es ihnen in ihrer Heimat wirtschaftlich schlecht gehe.«122 »Über die Handhabung des Asylrechts zu schreiben und über die Motivationen der Menschen, die sich durch die Asylverheißung des Grundgesetzes (Artikel 16 Absatz 2 Satz 2) angezogen fühlen, ist schwierig. [...] Jede Seite bringt ernst zu nehmende Argumente vor. Wer auch würde den Stab brechen wollen über Männer und Frauen, die in Scharen etwa dem unruhe- und krisengefährdeten arabischen Raum den Rücken kehren und Zuflucht in der Bundesrepublik mit der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Dasein suchen? Sollte man der großen Mehrheit von ihnen nur deshalb feindlich ge-
120 Friedrich K. Fromme, »Was der Staat gegen gewalttätige Ausländer tun könnte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.02.1979; Thomas Meyer, »Überall die Asylantenfrage.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.1980. 121 Wulf Reimer, »Human durch Härte?« Süddeutsche Zeitung, 09.10.1981. 122 Helmut Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum.« Süddeutsche Zeitung, 02.04.1977.
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sinnt sein, weil sie keine politische Verfolgung vor dem Bundesamt [...] oder den zuständigen Verwaltungsgerichten begründen können?«123 In beiden Artikeln wird erst eine Haltung zum Phänomen des Asylmissbrauchs gesucht und versucht, dies aus verschiedenen Blickwinkeln und differenziert zu beleuchten. Es ist eine Vorsicht vor einfachen Antworten und klaren Beschuldigungen zu sehen. Wenig später ist es nicht mehr sagbar, Asylmissbrauch an sich in Frage zu stellen, sondern dieser wird allgemein als Problem anerkannt. Es gehe darum eine »Lösung des von allen Beteiligten anerkannten Problems des Mißbrauchs des Asylrechts«124 zu finden. »Alle Regierungschefs seien sich darin einig, daß die Flut der Schein-Asylanten eingedämmt werden müsse.«125 Auch folgendes Zitat liest sich wie eine Tatsachenbeschreibung, die fast ironisch und in bildhafter Sprache den Asylmissbrauch beschreibt: »So einfach erreichen Ausländer in der Bundesrepublik ein Privileg auf Abruf: den Status eines Asylbewerbers. Er allein schon bedeutet für bewegliche Leute in unterentwickelten Ländern einen derartigen sozialen Aufstieg, daß viele im Alter zwischen 20 und 25 Jahren nur allzu leicht ihrer Heimat den Rücken kehren. ›Politisches Asyl‹ bedeutet für sie ein Zauberwort wie ›Sesam öffne dich‹ mit dessen Hilfe sie auf alle Fälle für ein paar Jahre der heimischen Not entfliehen.«126 Deutschland wird in den Artikeln als »gelobtes Land«127 , »Wirtschaftswunderland«128 , als »das reiche Wirtschaftswunderland«129 , »Traumland«130 , »reiches Abendland«131 und »vermeintliches Wunderland«132 beschrieben und dies wird auch als Grund für den zunehmenden Asylmissbrauch gesehen. »Die Ursachen für den Mißbrauch sieht er [bayerische Staatsekretär Wilhelm Vorndran] in der vermuteten günstigen Arbeitsmarktlage und dem umfassenden System der sozialen Sicherung der Bundesrepublik.«133 Die Zuwanderung würde weiter steigen, »wenn sich draußen herumspricht, daß die deutsche Sozialhilfe höher ist als der Arbeitslohn in vielen Ländern«.134 Die Beschreibungen des Eigenen beziehen sich überwiegend auf materielle Umstände und markieren den Gegensatz zwischen der Armut in den Herkunftsländern und dem Wohlstand in Deutsch-
Claus-Einar Langen, »Schwierigkeiten bei der Anwendung des Asylrechts.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.1977. 124 Hermann Rudolph, »Baum vorerst gegen verschärftes Asylrecht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.1979. 125 Bonner Redaktion, »Flüchtlingsstrom bereitet Sorge.« Süddeutsche Zeitung, 01.03.1980. 126 Theo Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird.« Süddeutsche Zeitung, 25.02.1980. 127 Friedrich K. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.05.1980. 128 Hans Haibach, »Von Kabul nach West-Berlin mit Schleppern.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.1978. 129 Christian Schneider, »Das Bedenkliche an tauben Ohren.« Süddeutsche Zeitung, 30.08.1978. 130 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 131 Volker Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal.« Süddeutsche Zeitung, 15.07.1980. 132 Helmut Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag.« Süddeutsche Zeitung, 22.02.1982. 133 Birgit Matuscheck, »Bonn soll für Asylbewerber zahlen.« Süddeutsche Zeitung, 18.04.1977. 134 Redaktion Rhein-Ruhr, »Gegen Mißbrauch des Asylrechts.« Süddeutsche Zeitung, 09.12.1978. 123
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land. Als zentrales Merkmal des Wohlstands wird die soziale Absicherung angeführt, die es in vielen anderen Ländern in diesem Ausmaß nicht gibt: Viele kommen um »Arbeit, guten Lohn, Sicherung für Krankheit und Alter, oder besser noch großzügige Unterstützung«135 zu finden. »Die Sozialhilfe, die etwa einem Pakistaner hier während seines Asylverfahrens zuteil wird, beträgt etwa das Doppelte von dem, was er mit Arbeit in seiner Heimat erreichen kann«136 . Die Sozialhilfe sei sogar höher als »das Einkommen eines Staatssekretärs in Bangla Desh«137 . Dabei werden Unterschiede in den Lebenshaltungskosten nicht berücksichtigt. Die Sozialleistungen sind neben den langen Verfahren ein Hauptgrund für den Asylmissbrauch: »die nach internationalen Maßstäben attraktive deutsche Sozialhilfe mache die Bundesrepublik zu einem ›wahren Mekka‹ für Wirtschaftsasylanten«138 . Durch die Absicherung durch den Wohlfahrtsstaat bestehe keine Notwendigkeit zu arbeiten, sondern als Asylbewerber könne man sich im »sozialen Netz«139 ausruhen. Dies wird oft als Gegensatz zur deutschen Bevölkerung dargestellt, die erwerbstätig ist und Steuern zahlt. Es sei »auf Dauer nicht mehr tragbar, daß [...] Wirtschaftsflüchtlinge auf Kosten deutscher Steuerzahler verköstigt werden.«140 Es werden klassistische Differenzen bei der Sichtweise auf Asylmigration genutzt. »Arbeiter*innen«, »denen aufgrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation unseres Landes Opfer abverlangt werden müssen«141 , hätten wenig Verständnis für Asylsuchende »die nichts anderes im Sinn haben als die Bundesrepublik auszubeuten und auf Kosten des Fleißes ihrer arbeitenden Bevölkerung, wie immer es damit heute bestellt sein mag, angenehm zu leben«142 . »›Lassen Sie die Arbeitslosenzahlen bei uns‹, wirft der Schwabe einen düsteren Blick in die Zukunft, ›noch eine Weile steigen: das gibt Klassenhaß.«143 Rassismus wird als ein Problem von weniger privilegierten Menschen konstruiert, die befürchten, aufgrund von Asylmigration finanziell benachteiligt zu werden. Deutschland wird zum einen als Wirtschaftswunderland dargestellt, andererseits müssen auch ständig Maßnahmen getroffen werden, dass dies so bleibt. Der Wohlstand trägt nicht zur Sicherheit und Beruhigung bei, sondern ist fragil und verursacht Verlustängste und Bedrohungsgefühle. Die beginnende Rezession Anfang der 1970er Jahre verschärft sich Anfang der 1980er Jahre mit sinkenden Wachstumsraten und einer Arbeitslosenquote von knapp 9 %.144
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Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Friedrich K. Fromme, »Notfalls Grundgesetzänderung zum Asylrecht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.1979. 137 Karl Feldmeyer, »Dregger fordert Verschärfung des Asylrechts.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.04.1980. 138 Ebd. 139 Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. 140 dpa, »Dauerstreit um die Asylanten«. 141 Hans Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.1984. 142 Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. 143 Reimer, »Human durch Härte?«. 144 Dieter Grosser, Hg., Bundesrepublik und DDR: 1969–1990, Reclams Universal-Bibliothek 17011 (Stuttgart: Reclam, 1996), 84–85, 137.
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Zuwanderung kann zu einem Ventil werden, diese Bedrohung zu benennen oder zu bekämpfen. »So manche sind beunruhigt darüber, daß zu viele Fremde in die Bundesrepublik einströmen und die nicht mehr unbegrenzt wachstumsfrohe Wirtschaft belasten.«145 »Beinahe jedermann hat das Gefühl, daß trotz des von der Welt bestaunten Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik Deutschland irgendetwas nicht stimmt, das Glück seine Haken, die Medaille ihre Kehrseite hat. Ein Teil dieser Kehrseite (es gibt deren anderen, die in uns selbst liegen) ist das Ausländerproblem.«146 Nach Simone Wolken hat die Betonung der finanziellen Aspekte der Asylzuwanderung eine bestimmte Funktion im Diskurs: »Durch die Reduzierung der Fluchtmotive auf wirtschaftliche Gründe wird das ›Problem‹ von der hohen moralisch-rechtsstaatlichen Ebene des Asylgrundrechts heruntergeholt und reduziert auf die Ebene des reinen Bereicherungsdranges der Asylbewerber an der Industrienation Bundesrepublik Deutschland.«147 Lediglich in einem Artikel werden die Überforderung und die Bedrohung des eigenen Wohlstands angezweifelt: »Wer wagt die Behauptung, dieser Staat sei mit der Aufnahme von einigen zehntausend politisch Verfolgten überfordert? Ein Staat, dessen Bürger in dunkler Vergangenheit auf die Asylbereitschaft anderer Länder angewiesen war?«148 Die symbolische Bedeutung des Asylgrundrechts und die Verbindung zum Nationalsozialismus sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
3.3.2 Das Grundrecht auf Asyl Das Asylrecht hat nicht nur Verfassungsrang, sondern auch einen hohen symbolischen Stellenwert für das Eigene. Das Asylgrundrecht ist damit etwas, was Deutschland ausmacht und das Eigene auszeichnet. Dabei lässt sich der symbolische Stellenwert nicht ohne den Bezug zum Nationalsozialismus denken. Ein zentrales Deutungsmuster ist, dass das Asylrecht aus den verschiedenen Erfahrungen im Nationalsozialismus entstanden ist und als Nachweis für dessen Überwindung angesehen wird. Dem Asylrecht wird eine hohe moralische Bedeutung zugeschrieben, was den Diskurs darüber und die Forderungen nach möglichen Einschränkungen beeinflussen. In beiden Zeitungen wird deutlich, dass die Erfahrungen im Nationalsozialismus und die Intention des Parlamentarischen Rats zentrale Aspekte im Diskurs sind sowie als Orientierung und Begründung für die Ausgestaltung und Einschränkung des Asylrechts dienen. Auffällig sind die Nutzung von Superlativen, die das deutsche Asylrecht im Vergleich zu anderen Ländern beschreiben und die pathetische, umschreibende Sprache hinsichtlich der deutschen Vergangenheit. Die Deutungen in den Artikeln sind jedoch sehr unterschiedlich bis gegensätzlich und zeigen, dass Nationalsozialismus als leerer Signifikant für 145 Friedrich K. Fromme, »Wenn Wehner schreibt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.1980. 146 Wolfgang Philipp, »Asylmißbrauch – ein Problem der Wirtschaft.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04.1980. 147 Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 140. 148 Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag«.
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verschiedene Positionen genutzt wird. So wird beispielsweise in manchen Artikel darauf hingewiesen, dass andere Länder deutsche Flüchtlinge während des Nationalsozialismus gerne aufgenommen haben, in anderen wird gesagt, sie wären abgelehnt worden. Des Weiteren wird diskutiert, ob die Folgen des Asylgrundrechts damals absehbar waren. Die Grundgesetzänderung liegt außerhalb des Sagbaren und wird mit sehr vorsichtigen Andeutungen in der FAZ aufgegriffen. Das Eigene wird hinsichtlich des Asylrechts beschrieben als »besonders gastfreundlich«149 und »großzügig«150 . Die Bundesrepublik sei »das einzige Land der Welt, das in seiner Verfassung ein Grundrecht auf Asyl für Verfolgte proklamiert«151 . Es besitze »das liberalste Asylrecht aller Staaten der Erde [...], das zudem Verfassungsrang habe«152 , das Asylrecht sei zudem eines »der vornehmsten Rechte einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung«153 . Es reicht damit nicht, dass das deutsche Asylrecht großzügig ist, sondern es muss das großzügigste Asylrecht aller Länder sein. Dies entsprach nicht der Realität (siehe Kapitel 3.1). Aus dieser vermeintlichen Großzügigkeit wird abgeleitet, warum gerade Deutschland von einem Asylmissbrauch besonders betroffen ist. Lediglich an einer Stelle wird angezweifelt, »ob die Rolle des internationalen Vorbildes, die wir uns selbst zuzuerkennen nicht müde werden, von uns zu Recht beansprucht werden kann.«154 Während das Asylrecht die Bundesrepublik zu einem glänzenden moralischen und menschenrechtlichen Vorbild macht, wird die Zeit des Nationalsozialismus im Gegensatz dazu als »dunkle Vergangenheit«155 und »lange[r] Schatten des Dritten Reiches«156 beschrieben. Es sei somit »eine moralische Verpflichtung der Bundesrepublik, diesem Recht und seiner Verwirklichung mit aller Kraft zu dienen.«157 Auffällig sind hier die pathetische, bildliche und dramatisierende Wortwahl, die dem Ganzen eine hohe Bedeutung verleiht und die Vermeidung des Begriffs Nationalsozialismus. Die Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz wird stets mit der Erfahrung im Nationalsozialismus verbunden: »Unter dem Eindruck eigenen Erlebens während der NaziHerrschaft schrieben die Verfassungsväter in das Grundgesetz: ›Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‹ (Artikel 16 Absatz 2 Satz 2).«158 Es wurde daher »bewußt als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen«159 und sei »eine spezifische Reaktion des Grundgesetzgebers von 1949 auf die nationalsozialistische Vergangenheit.«160 Diese Erfahrung
149 Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. 150 Ernst Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff.« Süddeutsche Zeitung, 25.04.1978. 151 Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. 152 Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. 153 Thomas Meyer, »Die Asyl-Affäre weitet sich aus.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.1979. 154 Friedrich K. Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.1980. 155 Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag«. 156 Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. 157 Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. 158 Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. 159 Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. 160 Fromme, »Was der Staat gegen gewalttätige Ausländer tun könnte«.
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im Nationalsozialismus wird jedoch sehr unterschiedlich beschrieben. Auf der einen Seite bezieht sie sich auf die Aufnahme deutscher Flüchtlinge in anderen Ländern, woraus das Asylrecht als eine Art Gegenleistung abgeleitet wird: »Die vielen deutschen Emigranten während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gewährte Zuflucht im Ausland begründe über alle rechtlichen Aspekte hinaus zudem eine moralische Verpflichtung der Bundesrepublik«.161 Man sei auf »die Asylbereitschaft anderer Länder angewiesen«162 gewesen. Die »Väter des Grundgesetzes« hätten »an die vielfältige Asylsuche von Deutschen im Ausland gedacht [...] [an] die vielen, die aus dem von den Nationalsozialisten beherrschten Deutschland im Ausland Schutz gesucht und gefunden hätten.«163 Im kompletten Gegensatz dazu wird als Erfahrung auch die fehlende Bereitschaft der anderen Länder beschrieben, deutsche Flüchtlinge aufzunehmen. Das Asylrecht wurde in die Verfassung aufgenommen, weil politisch »Verfolgte in Nachbarländern oft verschlossene Grenzen vorfanden.«164 »Dazu hat beigetragen die Erfahrung deutscher Emigranten des Dritten Reiches, aber auch die Erinnerung an das Elend jener Juden, die niemand aufnehmen wollte auf ihrer Flucht vor Hitler.«165 Hier sei auf die rassistische Unterscheidung zwischen »deutsche[n] Emigranten« und »Juden« hingewiesen, die als zwei gegensätzliche Gruppen konstruiert werden, Jüd*innen können demnach nicht deutsch sein. Das folgende Zitat geht in seiner Auslegung noch etwas weiter: »Das war ein – damals als unverbindlich erscheinender – Tribut des Grundgesetzgebers an die Vergangenheit. Im Jahre 1949 gab es nicht den Mut, daran zu erinnern, daß die demokratischen Nachbarstaaten Deutschlands sich in der NS-Zeit durchaus nicht immer menschenfreundlich verhielten gegenüber denen aus Deutschland, die vor 1945 mit Gründen Asyl begehrten.«166 Die Schlussfolgerungen aus der fehlenden Hilfsbereitschaft anderer Länder sind somit unterschiedlich: Entweder man soll aus dieser Erfahrung lernen und es besser machen oder man soll sich gerade deshalb nicht verpflichtet fühlen, auch heute Flüchtlinge aufzunehmen. Als Distanzierung von dieser historischen Bedeutung des Asylrechts wird als Argument angeführt, dass Deutschland damals ein anderes Land war und die Folgen des Asylgrundrechts nicht absehbar waren: Zudem »hätten die Verfassungsväter auch das reale Bild Deutschlands von 1949 vor Augen gehabt. Es sei gewiß nicht das eines Land gewesen, das Ziel der Sehnsüchte von Millionen von Menschen hätte werden können.«167 Es »gab keinen Anlass zur Sorge, eines Tages könnten ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ aus fernen Gegenden einer damals noch weit entfernten Welt am Wohlstand der Bundesrepublik teilnehmen wollen.«168 Die Forderung zur Distanzierung geht auch mit der Forderung einher, nationalsozialistische Vergangenheit und Asylrecht zu entkoppeln. Es wird so 161 162 163 164 165 166 167 168
Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag«. Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert«. Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert«. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«.
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dargestellt, als wäre eine Veränderung des Asylrechts aufgrund des Bezugs zum Nationalsozialismus tabuisiert: »Der lange Schatten des Dritten Reiches ist es nun aber auch gewesen, der bisher befangen machte vor der Einsicht, daß jetzt in der Bundesrepublik Lager für Asylsuchende notwendig sind.«169 Wer das Asylrecht einschränken wolle, müsse damit rechnen, »als menschenfeindlich und vergangenheitsschuldunbewußt«170 zu gelten. Zusammenfassend wird an den verschiedenen, teilweise konträren Deutungen deutlich, dass die Bezugnahme auf die deutsche Geschichte eine wichtige Orientierung bietet und in irgendeiner Weise Glaubwürdigkeit vermittelt. Gleichzeitig kann sie für jede Argumentation genutzt und verändert werden. Eine differenziertere Auseinandersetzung, was damals war und wie sich dies auf das Asylgrundrecht auswirkte, findet dabei in den Zeitungen nicht statt und ist auch nicht das Ziel. Die Analyse zeigt, dass das Sagbarkeitsfeld noch relativ offen ist und unterschiedliche Deutungen nebeneinander existieren, ohne dass sie in Konkurrenz miteinander wahrgenommen werden. Eine Änderung des Grundgesetzes ist Ende der 1970er Jahre hingegen kaum denkbar und sagbar. Erst 1986 wird sie auf Bundesebene als eine realistische Möglichkeit diskutiert. In der FAZ finden sich jedoch in den Artikeln von Friedrich Karl Fromme schon von 1979 bis 1980 Forderungen, zumindest über eine Grundgesetzänderung nachzudenken. Fromme war von 1974 bis 1997 Leiter des Ressorts Innenpolitik mit einem besonderen Schwerpunkt auf Rechtspolitik.171 Seine Dissertation zeigt seine intensive Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz und der deutschen (Rechts-)Geschichte.172 Fromme formuliert in den Artikeln keine klare Forderung, das Grundgesetz zu ändern, sondern nur Andeutungen, dass es gut wäre, über eine Grundgesetzänderung nachzudenken: Die »Entwicklung zwinge dazu, auch eine Grundgesetzänderung in den Kreis der Überlegungen einzubeziehen«173 , »daß im politischen Bereich sondiert werden sollte, ob eine Neigung bestehe, den Grundgesetzartikel 16, was das Asylrecht angeht, mit einem Gesetzesvorbehalt zu versehen.«174 »Deshalb verdient die Anregung ernsthafte Prüfung, daß der Grundgesetzartikel 16 durch einen Gesetzesvorbehalt ergänzt werden sollte.«175 Das Nachdenken über die Grundgesetzänderung sei eine »weithin tabuierte Frage«176 . 169 Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. 170 F. A. Z. Bonn, »Wehner sieht Einigkeit im Kabinett zum Asylrecht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.06.1980. 171 Günther Nonnenmacher, »Eine journalistische Instanz.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.01.2007 Im Nachruf wird beschrieben: »Die rechts- und justizpolitische Berichterstattung als journalistische Disziplin hat, (…) Fromme recht eigentlich erfunden. (…) Ein Verfassungsrichter hat einmal konzediert, dass ohne Frommes Darstellung und Deutung höchstrichterlicher Urteile das Bundesverfassungsgericht nicht den Einfluss gewonnen hätte, den es heute auch in der öffentlichen Wahrnehmung hat.«. 172 Dissertation von 1958: Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz: Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, 3. Auflage, Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht (Berlin: Duncker & Humblot, 1999). 173 Fromme, »Notfalls Grundgesetzänderung zum Asylrecht«. 174 Fromme, »Was der Staat gegen gewalttätige Ausländer tun könnte«. 175 Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. 176 Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert«.
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Eine Grundgesetzänderung lasse sich politisch nicht umsetzen, dies sei jedoch notwendig und der Wunsch der Bevölkerung. »Man weiß, daß das von einem Gesetzesvorbehalt freie Asylrecht ein zeitbedingtes Unikum im Grundgesetz ist. Man weiß auch, daß eine Verfassungsänderung im Volke nicht auf Ablehnung stoßen würde. Dennoch scheut man zurück.«177 »Was das Volk will und was im Parteivolk verlangt wird, geht eben zu weit auseinander; was nötig wäre, ist eine altmodische Frage.«178 Das Argumentationsmuster »Der Wille des Volkes« finden sich sowohl 1986 als auch Anfang der 1990er Jahre in den Diskursen um die Grundgesetzänderung wieder (siehe Kapitel 5 und 7). Bemerkenswerterweise sind es nach 1980 andere Autor*innen in der FAZ, die über das Asylrecht schreiben.
3.3.3 Rechtsstaatlichkeit Rechtsstaatlichkeit ist ein elementarer Bestandteil des Eigenen und der Maßstab, an dem sich jede Veränderung des Asylrechts und die Asylpraxis messen lassen müssen. Ein Rechtsstaat ist demnach ein »Staat, in dem Regierung und Verwaltung nur im Rahmen der bestehenden Gesetze handeln dürfen. Die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger müssen garantiert sein, staatliche Entscheidungen müssen von unabhängigen Gerichten überprüft werden können. Das Rechtsstaatsgebot gehört zu den grundlegenden Prinzipien unseres Staates.«179 Gleichzeitig wird in der folgenden Definition schon ein Grundproblem deutlich: Die Grundrechte der Bürger*innen werden geschützt, inwieweit dies jedoch für alle Menschen gilt, wird nicht berücksichtigt oder ausgeführt: »Die Bürgerinnen und Bürger werden so vor staatlicher Willkür, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen geschützt.«180 Rechtsstaatlichkeit wird im untersuchten Diskurs jedoch nicht nur als hohes Gut dargestellt, sondern auch als Ursache für die langandauernden Verfahren und den Asylmissbrauch. Die Ansprüche an ein rechtsstaatliches Verfahren werden mit jeder Asylrechtsänderung mehr gesenkt, insbesondere durch die Einführung von offensichtlich unbegründeten Anträgen. Es betrifft somit die Frage, wie wir unseren eigenen Regeln treu bleiben, für wen diese Regeln gelten und wie diese Regeln definiert, ausgehandelt und verändert werden können. Die Wahrnehmung und Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit unterscheiden sich in den beiden Zeitungen. Während die SZ den Rechtsstaat als Garant für ein angemessenes Verfahren zur Überprüfung von politischer Verfolgung betrachtet, wird in der FAZ die Rechtsstaatlichkeit als Hürde empfunden, die Bundesrepublik in geeigneter Weise vor Zuwanderung zu schützen. Dass der Begriff des Missbrauchs
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Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Fromme, »Wenn Wehner schreibt«. Eckart Thurich, pocket politik. Demokratie in Deutschland (Bundeszentrale für Politische Bildung, 2011), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16 548/rechtsstaat, 44. 180 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, »Rechtsstaatlichkeit.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.bmz.de/de/entwicklungspolitik/rechtsstaatlichkeit# :~:text=Rechtsstaatlichkeit%20bedeutet%2C%20dass%20Regierung%20und,Willk%C3%BCr% 2C%20Diskriminierung%20und%20Menschenrechtsverletzungen%20gesch%C3%BCtzt.
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juristisch nicht haltbar ist, wird von Juristen in beiden Zeitungen benannt, hat jedoch keine Auswirkungen auf den Diskurs. In beiden Zeitungen wird Asylmissbrauch als Problem wahrgenommen. Die mehrjährigen Asylverfahren werden zudem als eine Ursache gesehen, die sich durch steigende Zahlen »zum Teil bis zu acht Jahren«181 noch mehr verlängern werden. »Die lange Dauer der Asylverfahren hat diesem Mißbrauch Vorschub geleistet.«182 »Solche Zeitspannen mußten in armen Ländern geradezu zwangsläufig als Einladung zum Missbrauch des Asylrechts verstanden werden«.183 Das rechtsstaatliche Verfahren, das auch als »mühseliger und langer Verfahrensweg«184 beschrieben wird, wird als eine Ursache des Problems gesehen: Ein »Überangebot an Rechtsbehelfen verlängert die Verfahren in unzumutbarer Weise«185 . »Hauptursache ist ein vielstufiges Verwaltungs- und Rechtsverfahren.«186 Die Notwendigkeit, die Verfahren zu reformieren, wird daher in beiden Zeitungen gesehen. In der FAZ wird jedoch die Frage aufgeworfen, ob die »Rechtswegegarantie des Artikels 19 des Grundgesetzes überdacht werden [muss].«187 Es wird zugespitzt veranschaulicht, was das Festhalten an einer umfassenden Rechtsstaatlichkeit bedeutet: »daß die einschlägige Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in gar keiner Weise darauf vorbereitet ist, mit den jetzt sichtbar werdenden Massenphänomenen fertig zu werden. Die weitgehende Ausgestaltung des Asylrechts als schlechthin vorbehaltloses Verfassungsgrundrecht reduziert gegenwärtig die Souveränität des Parlaments und der anderen Verfassungsorgane gegenüber asylsuchenden Ausländern weitgehend. Auch wenn in einem Jahr 2 Millionen Asylbewerber erscheinen sollten, müßten sie nach geltender Rechtspraxis zunächst einmal zur (oft jahrelangen) Prüfung ihres Vorbringens hereingelassen, untergebracht und von der Sozialhilfe versorgt werden.«188 Der Staat, seine gesetzgebende und rechtsprechende Gewalt werde, um einem rechtsstaatlichen Verfahren zu entsprechen, gegenüber Zuwanderung handlungsunfähig und ohnmächtig. Dies habe Auswirkungen auf unterschiedlichen Ebenen: »Der fortdauernde Mißbrauch eines Rechts diskreditiere es, beeinträchtige den Rechtsfrieden, schmälere das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und fördere radikale Tendenzen«189 .
Hermann Rudolph, »Das Asylverfahren soll beschleunigt werden.« Süddeutsche Zeitung, 26.05.1978. Petra Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.1979. Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Fromme, »Notfalls Grundgesetzänderung zum Asylrecht«. Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. Weiter heißt es: »Wer alle Möglichkeiten nutzt, dem steht folgende Instanzenreihe zur Verfügung: Vorprüfung, Anerkennungsverfahren, Widerspruchsverfahren (beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf, sodann Klage beim Verwaltungsgericht Ansbach, Berufung zum bayerischen Gerichtshof, eventuell Revision zum Bundesverwaltungsgericht und am Ende womöglich noch Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht.« ebd. 187 Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert«. 188 Philipp, »Asylmißbrauch – ein Problem der Wirtschaft«. 189 Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«.
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In der SZ wird auch die Notwendigkeit einer Reform gesehen, gleichzeitig gibt es Bedenken, dass politisch Verfolgte keine Anerkennung mehr bekommen könnten: »Das Asylrecht für wirklich Verfolgte nicht verkümmern zu lassen, bleibt dem Rechtsstaat aufgegeben«.190 Es brauche eine »rechtsstaatlich einwandfreie Antwort«191 . »Diese gründliche Prüfung soll gewährleisten, daß kein wirklich politisch Verfolgter abgewiesen wird. Denn das politische Asyl in der Bundesrepublik ist keine Gnade, die von der Gunst einer politischen Stimmung oder von finanziellen und technischen Voraussetzungen abhängt, sondern ein Grundrecht für jeden politisch Verfolgten. Erhält ein Bewerber einen negativen Bescheid, so kann er ihn deshalb über die Verwaltungsgerichtsinstanzen anfechten.«192 Der Rechtsstaat wird hier als handlungsfähig und stark dargestellt, der Grundrechte und die Möglichkeit einer Überprüfung vor Gericht garantiert. Es dürfe weder vom Wohlwollen, von der aktuellen Situation noch vom Zufall abhängen, ob Menschen in Deutschland Asyl bekommen. Das Wort Gnade wird dabei in ablehnender Weise verwendet: »Mit den neuen Verwaltungsvorschriften würde das Asylrecht noch mehr zur ›Asylgnade‹ verkommen.«193 Die Rechtsstaatlichkeit müsse auch für Asylsuchende gewahrt und garantiert sein. »Die vorgesehene ›Beschleunigung des Asylverfahrens‹ wird durch eine starke Beschneidung des Rechtsschutzes angestrebt. Das geht so weit, daß die Bezeichnung ›Rechtsschutz zweiter Klasse für Asylbewerber‹ [...] das Ausmaß der Reform mittlerweile eher kaschiert als treffend kritisiert.«194 Obwohl es beim Asylrecht und der Rechtsstaatlichkeit um ein grundlegend juristisches Thema geht, bestimmen Jurist*innen kaum den Diskurs. Dies soll am Beispiel des Begriffs Missbrauch erläutert werden. In beiden Zeitungen kommen bekannte Juristen zu Wort, die die Nutzung des Begriffs Asylmissbrauch kritisieren oder anders deuten. Diese werden zwar zitiert, aber wirken sich nicht auf den Gesamtdiskurs aus, wie in einem Artikel auch beschrieben wird: »Die Richter [des Bundesverfassungsgerichts] fassen den Begriff ›politische Verfolgung‹ sehr weit. [...] Vorerst werden die Stimmen der Verwaltungsrichter und Rechtswissenschaftler nicht gehört.«195 Der Richter Fritz Franz, als »einer der besten Kenner des deutschen Asylrechts« beschrieben, wird wie folgt zitiert: »›Die Demontage des Asylrechts hat einen neuen Tiefpunkt erreicht.‹ Die Verfassungsgarantie stehe ›zur Disposition der unteren Verwaltung‹. Grenzbeamte und Sachbearbeiter hätten es, klagt Franz, nun in der Hand nach eigenen Gutdünken zu verfahren und mit der Mißbrauchsklausel selbst Mißbrauch zu treiben: ›Die humanitäre Zielsetzung der Asylverheißung droht in bürokratischer Alltagspraxis zu ersticken.‹«196
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Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. azo, »Falsche Flüchtlinge im Visier.« Süddeutsche Zeitung, 30.03.1979. Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. Helmut Kerscher, »Tiefer Eingriff in das Asylrecht zu Unzeit.« Süddeutsche Zeitung, 20.12.1980. Kerscher, »Tiefer Eingriff in das Asylrecht zu Unzeit«. Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Professor Otto Kimminich, eingeführt als »Mitverfasser eines namhaften Kommentars zum Grundgesetz« differenziert zwei Formen von Missbrauch. Zum einen seien es unbegründete Anträge, die in Zirndorf bearbeitet und abgelehnt werden können, diese dürften jedoch nicht schon von den Grenzbehörden abgelehnt werden. Zum anderen könne das »Asylbegehren [...] aber auch einen Mißbrauch darstellen. Dann handle es sich um Mißbrauch eines Grundrechts, über dessen Verwirkung nicht etwa irgendeine Stelle der Exekutive, sondern gemäß Artikel 18 des Grundgesetzes nur das Bundesverfassungsgericht zu befinden habe.«197 Missbrauch kann daher nur von der höchsten juristischen Instanz überhaupt bewertet werden. Wolfgang Zeidler, Vizepräsident des Bundesfassungsgerichts geht noch weiter. »Zeidler wandte sich mit Nachdruck dagegen, daß mit Bezug auf die Asylbewerber – viele von ihnen kämen hierher als Opfer von Schlepperorganisationen – von einem ›Mißbrauch des Asylrechts‹ gesprochen werde. Richtiger sei, daß die Rechtsordnung der Bundesrepublik mit dem Schicksal der Flüchtlinge selbst Mißbrauch treibe. Vielen werde von der derzeitigen Praxis, die sich aus dem geltenden Recht ergebe, Unbill zuteil. Es gehe nicht an, Menschen ›über Jahre hinweg in einer persönlichkeitszerstörenden Gammelatmosphäre und Ungewißheit über ihren weiteren Lebensweg schmoren zu lassen‹. Nach spätestens einem halben Jahr, eher früher, müsse dem Asylbegehrenden eine Entscheidung zuteil werden.«198 Die Kritik richtet sich somit zum einen an die Idee, Asylentscheidungen bereits an der Grenze zu treffen und die Asylsuchenden gar nicht ins Land zu lassen sowie an die langandauernden Asylverfahren. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass nur das Bundesverfassungsgericht Missbrauch eines Grundrechts feststellen kann. Es wird in allen Zitaten deutlich, dass die Nutzung des Begriffs Missbrauch als nicht angemessen wahrgenommen und die Kritiker sich davon deutlich distanzieren. Rechtsstaatlichkeit ist im Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge auch ein zentrales Element des Eigenen (siehe Kapitel 9.3.1).
3.3.4 Folgen des Asylmissbrauchs in den Kommunen, Behörden und Gerichten Die Situation der steigenden Antragszahlen und des Asylmissbrauchs wird als dramatisch und existenziell wahrgenommen. Dies sollen folgende Zitate zunächst verdeutlichen: »Die Folgen sind einschneidend: Die Behörden werden von der Antragsflut erdrückt; die Verwaltungsgerichte sind noch weniger als zuvor in der Lage, Klage- und Berufungsverfahren in absehbarer Zeit zu bearbeiten; die Möglichkeiten der Länder, Asylbewerber aufzunehmen, sind bald erschöpft; das Sammellager in Zirndorf mußte am 1. August geschlossen werden, weil es den Strom der Einwanderer nicht mehr auffangen konnte; Bürgerinitiativen sehen in Erholungsgebieten den Fremdenverkehr durch
Fernando Wassner, »Touristen, Gastarbeiter, Asylbewerber.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.07.1980. 198 Fromme, »Änderung des Asylrechts gefordert«. 197
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Ausländerquartiere beeinflußt; der Beginn einer Fremdenfeindlichkeit zeichnet sich ab.«199 »Aber heute sei das Asylrecht ›inzwischen zur Persiflage in vielen Fällen‹ geworden. Wir seien in der Bundesrepublik ›in manchen Bereichen an der Grenze dessen angelangt, wo es um unsere Existenz geht‹.«200 Die Asylantragszahlen sind erstmal abstrakte Meldungen in der Zeitung. Ihre Dramatik gewinnen sie erst in der Verknüpfung mit konkreten Situationen und Sachverhalten. Diese lassen sich vor allem an den verschiedenen Schritten des Asylverfahrens beobachten. Im Folgenden wird zunächst die Berichterstattung über Überbelegung und fehlende Unterbringungsmöglichkeiten näher beleuchtet und anschließend der Kontrollverlust und die Überlastung in Behörden und Gerichten. Unterbringung ist bei der Strukturanalyse das häufigste Thema in den 1970er und 1980er Jahren. Durch die Einführung der Gemeinschaftsunterkünfte dominieren in der Berichterstattung 1982 Bilder von der Lebenssituation in den Unterkünften.201 In meiner eigenen Untersuchung liegen die prozentualen Höhepunkte ebenfalls 1982 bei 50 % aller untersuchten Artikel der SZ und 1985 bei 40 % aller Artikel der SZ. Auffällig ist, dass die SZ wesentlich mehr von der Mikroebene und durch regionale Berichterstattung von der Unterbringung vor Ort berichtet. Dabei dominieren Artikel, die von Unterbringungsproblemen berichten, insbesondere der Widerstand von Kommunen und Einwohner*innen, wenn eine neue Unterkunft eingerichtet werden soll. Die Auswirkungen der Asylzuwanderung werden hier konkret, sowohl in der Zeitung als auch in der realen Begegnung mit der einheimischen Bevölkerung. Die kontinuierliche Berichterstattung über die Unterbringung wirkt wie eine dauerhafte Problemanzeige, dass die Asylzuwanderung scheinbar unlösbare Probleme verursacht. Die vorgestellte gesellschaftliche Ordnung und die Sicherheit der Bevölkerung scheinen bedroht.202 Im Folgenden soll auf drei wesentliche Aspekte näher eingegangen werden, die die Folgen des Asylmissbrauchs auf unterschiedlichen Ebenen zeigen: die Überbelegung des bundesdeutschen Aufnahmelagers in Zirndorf, die Frage der angemessenen Unterbringung in Gemeinschaftsunterbringungen oder Sammellagern sowie die Ängste und Abwehr der Bevölkerung. Die Schließung des zentralen Bundesaufnahmelagers in Zirndorf im Januar 1977 aufgrund von Überbelegung war ein erstes sichtbares Zeichen der zunehmenden Asylanträge. Die Zustände werden als dramatisch dargestellt: das Aufnahmelager sei »wegen ›unerträglicher Überbelegung‹ bis auf weiteres geschlossen worden.«203 Ein »geordneter Betrieb« sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, es führe »zu einer absolut unzumutbaren Belastung der Bevölkerung und zu einer unvertretbaren Sonderbelastung des Freistaates Bayerns und der unmittelbar betroffenen Träger der Sozialhilfe«204 . Ein Mitar-
199 200 201 202 203
Langen, »Schwierigkeiten bei der Anwendung des Asylrechts«. dpa, »Dauerstreit um die Asylanten«. Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 192, 204. Ebd., 181. Christian Schneider, »Ausländerlager in Zirndorf wegen Überfüllung geschlossen.« Süddeutsche Zeitung, 12.01.1977. 204 o. A., »Ausländerlager in Zirndorf wird geschlossen.« Süddeutsche Zeitung, 26.07.1977.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
beiter des Lagers wird zitiert: »›So etwas wie jetzt haben wir noch nie erlebt‹, klagt der Portier, der seit fünf Jahren an der Pforte Dienst versieht. Von einer ›Normalbelegung‹ sei überhaupt keine Rede. Er und die übrigen 34 Beamten und Angestellten weisen auf unhaltbare gesundheitsgefährdende Zustände hin.«205 Es wird auf eine Seuchengefahr hingewiesen: »Angesichts zunehmender Häufigkeit verschiedener Erkrankungen unter den Asylbewerbern sei das bisher angewendete Verfahren des Verschickens nach Zirndorf ohne vorherige Untersuchung im Interesse der Bevölkerung, des Lagerpersonals und nicht zuletzt der Asylbewerber selbst nicht mehr länger verantwortbar.«206 Auffällig ist hier, dass die Probleme der Überbelegung und Schließung des Lagers für den Freistaat Bayern, den Landkreis und die Bevölkerung im Vordergrund stehen. Die Auswirkungen für die Asylsuchenden sind zweitrangig. Die Beschreibungen lassen dramatische Umstände vermuten, die Zahlen sprechen aus heutiger Sicht eine andere Sprache. »Am 11. Januar 1977 wurde das Lager wegen Überfüllung zum ersten Mal geschlossen. 570 Menschen drängten sich um die Jahreswende in den Räumen, die Platz für höchstens 400 bieten.«207 An anderer Stelle wird beschrieben, dass »der Bundesanteil des Lagers mit mehr als 100 % überbelegt war.«208 Aufgrund der fehlenden Kapazitäten in Zirndorf werden die Asylsuchenden direkt auf die Bundesländer verteilt. Damit sind alle Bundesländer und die jeweiligen Kommunen aufgefordert, Unterbringungsmöglichkeiten bereitzustellen. Daraus entwickelt sich zum einen eine Diskussion um die Art der angemessenen Unterbringung. »Im Wortschatz der Fachleute lautet das Problem: zentrale oder dezentrale Unterbringung – im Klartext: Sammellager ja oder nein?«209 Als Argumente für eine »Sammelunterbringung« werden neben einer leichteren Versorgung vor allem die Abschreckung weiterer Asylsuchender genannt. »Dabei würden es nicht wenige gerne sehen, wenn diese Sammellager so angelegt und ausgestattet würden, daß es sich in Pakistan und anderswo schnell herumspricht, wie schlecht man als Asylbewerber in der Bundesrepublik lebt. ›Die hätten am liebsten ein Baracken-Lager ganz weit draußen in der Prärie mit Stacheldraht und Wachtürmen‹, beantwortet ein Beamter des Sozialministeriums die verschiedenen Vorschläge.«210 Abschreckung war ein zentrales Ziel der Asylrechtsänderung. Es wurde davon ausgegangen, dass die Lebenssituation von Asylsuchenden der Bundesrepublik sich herumspräche und deshalb weniger Menschen nach Deutschland kämen. Die andere konkrete Auswirkung der steigenden Antragszahlen zeigt sich in den Behörden und Gerichten. Ähnlich wie beim Thema Unterbringung ist nicht die Frage, ob Kapazitäten ausgebaut oder Verwaltungsabläufe verändert werden müssen. Die hohen Asylantragszahlen werden als das eigentliche Problem gesehen. Insgesamt gibt es vier Artikel, die sich das deutsche Asylsystem auf der Mikroperspektive anschauen, dabei
205 206 207 208 209 210
Hubert Neumann, »Zirndorf als Seismograph der Weltpolitik.« Süddeutsche Zeitung, 30.07.1977. o. A., »Ausländerlager in Zirndorf wird geschlossen«. Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. Matuscheck, »Bonn soll für Asylbewerber zahlen«. dpa, »CSU sieht sich bei Asylanten um.« Süddeutsche Zeitung, 20.07.1978. Schneider, »Das Bedenkliche an tauben Ohren«.
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zwei über Ausländerbehörden in Stuttgart und Westberlin und jeweils einen Artikel über eine Asylunterkunft im Saarland und über die Tätigkeit des Verwaltungsgerichts in Düsseldorf. In den genannten Berichten über Behörden und Gerichte steht jedoch nicht die Situation der Asylbewerber*innen im Vordergrund, sondern es wird vielmehr die Situation und Arbeitsbelastung der Behördenmitarbeiter*innen thematisiert. Die Situation der Asylbewerber*innen wird wie bei Zirndorf von außen beobachtet und mit immer gleichen Bildern beschrieben: sehr viele fremd aussehende Menschen stehen in langen Reihen vor den Behörden. In den Verwaltungsbehörden begegnen sich zum ersten Mal Asylsuchende und Einheimische. Und auch die schreibenden Journalist*innen können sich hier konkret über die Asylsituation in Deutschland informieren. Daher wird im Folgenden betrachtet, in welcher Beziehung das Eigene und Andere hier gestellt wird. Die Situation der Sachbearbeiter*innen steht im Vordergrund. Dabei dominiert ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Obwohl für sie offensichtlich ist, dass die meisten nicht politisch verfolgt sind, müssen sie dennoch ihre Arbeit machen. »Die Mitarbeiter der Behörde fühlen sich hilflos gegenüber den Forderungen jener, die von morgens bis abends ihr Amt belagern. Die tägliche Sisyphusarbeit erzeugt ein Gefühl von Ausgeliefertsein, der ständige Blick in dunkelhäutige Gesichter eine Angst vor ›Überfremdung‹«.211 Überfremdung beschreibt die Vorstellung, dass bei zu vielen als fremd wahrgenommenen Menschen im eigenen Land eine imaginäre Normalität des Eigenen mit ihren Traditionen und Werten verloren geht. Überfremdung kann im Diskurs den Gegenpart eines wünschenswerten Selbstbildes einnehmen, in das alle Probleme der eigenen Gesellschaft verschoben und projiziert werden können. Der Begriff wurde im Nationalsozialismus auch in Bezug auf die jüdische Bevölkerung genutzt und taucht 1981 im Heidelberger Manifest auf.212 In diesem Beispiel wird dies in Form eines biologistischen Rassismus über äußere Merkmale begründet. Weitere Zitate der Angestellten drücken Resignation und Ohnmacht aus. »›Da sitzt man auf der Asylstelle und muss Glück haben, wenn einmal ein richtiger Asylant kommt‹, sagt eine der Bearbeiterinnen in Stuttgart, ›das ist dann ein Erfolgstag‹.«213 Dies ist eng verbunden mit der Vorstellung des Betrugs und Missbrauchs: »98 Prozent von denen sind doch sowieso nur Scheinasylanten.«214 »Wir werden hier den ganzen Tag angelogen.«215 »›Wie heißt denn der mit dem Turban?‹, will die Kammer wissen. Die Berichterstatter prüfen die Pässe, schauen sich die Kläger an. ›Paß stimmt, Bild stimmt, mehr können wir nicht tun.‹«216
211 212
Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. Patrick Kury, Über Fremde reden: Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900 – 1945, Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich 4 (Zürich: Chronos-Verlag, 2003), Zugl.: Basel, Univ., Diss., 2002, 73–78; Andreas Wagner, »Das »Heidelberger Manifest« von 1981.« In Manifeste: Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, hg. v. Johanna Klatt und Robert Lorenz, Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung Band 1 (Bielefeld: transcript, 2011], 2011)Zum Heidelberger Manifest siehe auch 4.3.3. 213 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 214 Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. 215 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 216 Lothar Bewerunge, »Paß stimmt, Bild stimmt – mehr können wir nicht tun.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.1980.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
In allen Artikeln wird eine Krisenstimmung beschrieben, bei der die Angestellten und das ganze System bereits am Limit sind und niemand sagen kann, wie lange es überhaupt noch aufrechterhalten werden kann: »›Wenn das so weitergeht, haben wir in diesem Jahr 10 000‹, klagt Oberbürgermeister Manfred Rommel, ›es wird bald ein unglaubliches Spektakel geben.‹ [...] Und die Behörden, Ausländeramt und Sozialamt, können fast nur noch zählen und zahlen. ›Wir schaffen es einfach nicht mehr‹, stöhnen die Mitarbeiter hier wie dort.«217 »In der Mittagspause erläutern die Richter, mit Anzeichen der Erschöpfung, sich den Schweiß von der Stirn wischend, so gehe das nun Tag für Tag seit Monaten. Man habe begonnen, die Verfahren zu bündeln, weil sonst alles hier zusammenbreche. [...] Wann denn die Urteile zugestellt würden, will ein Anwalt wissen. Die Antwort ist hilflos: ›Das kann ich überhaupt nicht sagen, wir sind völlig überlastet‹, meint Richter Siemens.«218 Die Asylsuchenden hingegen erscheinen als anonyme und fremd wirkende Masse, als »sich windende Menschenschlange«219 als »Menschenknäuel.«220 Sowohl ihre Kleidung als auch ihre Hautfarbe und Sprachnutzung werden beschrieben. Es seien so viele, dass sie nicht alle ins Gebäude passen. Drinnen herrsche ein ähnlich großes Gedränge, die Flure sind überfüllt und die Menschen müssten mit langen Wartezeiten rechnen: »Überfüllte Flure. Beängstigendes Gedränge. Hunderte Kopf an Kopf.«221 »drinnen Schlange in verstopften, verqualmten Gängen, [...] dichtgedrängt in stickiger Luft in den Wartesälen«222 »unendliche Geduld bei drückender Schwüle, verbrauchter Luft«223 . Sie kommen selbst nicht zu Wort. Die Wartenden müssen die ganze Nacht anstehen, sind völlig durchnäßt und erleichtern sich im Hausflur, weil es nirgendwo eine Toilette gibt: »Ein Polizist zeigt auf zwei Kollegen, die vor dem Eingang eines gegenüberliegenden Neubaus Posten stehen, und sagt: ›Wat mein’Se, warum die wohl dasteh’n? Die pass’n jetzt uff, daß keener von den Türken wieder in’n Hausflur scheißt, weil se nich‹ wissen wohin, wenn se hier die janze Nacht ansteh’n. Hier möchte‹ ick nich woh’n.‹«224 Es wird kein Wort darüber verloren, wie sich die Wartenden fühlen, sondern der Fokus wird daraufgelegt, welche Probleme sie verursachen. Die Wahrnehmungen als dreckig und unsauber werden von Behördenseite erst verursacht und hergestellt, anstatt eine menschenwürdige Art des Wartens zu installieren. In einem Artikel wird die eingenommene Perspektive kritisiert: »Dass die Zahlen ständig steigen, hat dazu geführt, daß die Ausländer von den Behörden und Politikern nur noch als Masse gesehen und behandelt werden. Verbitterung auf beiden Seiten ist
217 218 219 220 221 222 223 224
Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Bewerunge, »Paß stimmt, Bild stimmt – mehr können wir nicht tun«. Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«.
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die Folge«225 . Es wird betont, dass es schwierig sei, bei dieser Arbeit gegenüber den Asylsuchenden empathisch zu bleiben. »Manche Beamte und Angestellte in der Ausländerbehörde meinen, sie seien hier zum ›Strafbataillon‹ abkommandiert. Andere versuchen immer noch den Menschen hinter dem Aktenzeichen zu sehen.«226 Doch gerade in diesem Artikel ist die Beschreibung, wie die Asylsuchenden in der Ausländerbehörde behandelt werden, entmenschlichend. Menschen werden darin zu einem Verwaltungsvorgang. »Was hier von 170 Beamten und Angestellten geordnet wird, das sind Ausländer. Bis zu 1300 am Tag. [...] In dem Gebäude der Ausländerbehörde in der Puttkammerstraße werden sie erfaßt, gespeichert, bearbeitet, einsortiert, aussortiert.«227 Noch deutlicher wird dies in der konkreten Erfassung, die mehr an eine Pferdeauktion oder eine Inhaftierung von Straftäter*innen, als einen behördlichen Vorgang erinnert: »Als der Gerufene im Zimmer steht, wird er an den Schultern gepackt, vor eine Meßlatte neben der Tür und dann vor einen Blechschrank bugsiert. Dann setzt sich der Beamte zwei Meter vor ihm an einen Schreibtisch und trägt, immer wieder zu dem regungslos Dastehenden aufblickend, in einen Vordruck ein: Körpergröße, Gestalt, Kopfform, Haar- und Augenfarbe, Form der Ohren. Plötzlich murmelt der Mann am Schreibtisch auf englisch ›teeth‹ und zeigt solange seine Zähne, bis der zunächst irritierte Türke kapiert und auch sein Gebiß freilegt. Anschließend wird Aygün auf einen Drehstuhl gesetzt und dreimal photographiert: von vorn, von rechts, von links mit einer Nummer unterhalb des Kinns. ›B05574 – der Polizeipräsident Berlin‹. Schließlich werden ihm noch die Fingerabdrücke genommen. Danach Händewaschen, nach sechs Minuten der nächste: ›Abdul Hamam‹.«228 Eine verbale Kommunikation findet nicht statt, auch auf Englisch begnügt man sich mit Ein-Wort-Sätzen. Die Angestellten werden als Opfer dargestellt, die Asylsuchenden erscheinen als gesichtslose Masse und ohne Anspruch auf Asyl. Die Gefühle der Angestellten haben Priorität: »Eine jüngere Beschäftigte beim Ausländeramt erntete großen Beifall, als sie dem Innensenator ins Gesicht sagte: ›Unser Recht auf Sicherheit und Ordnung hat Vorrang vor dem Grundrecht auf Asyl.‹«229 Insbesondere in der Berichterstattung über die Situation der Ausländerbehörden und Gerichte werden die Antragstellenden als Objekte dargestellt: »Für innere und äußere Feinde werden oft Symbole verwendet, die ihnen den Subjektstatus absprechen: Ungeziefer, wilde Tiere, Fäkalien«.230
225 226 227 228 229 230
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 137.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
3.4 Das Andere 3.4.1 Bezeichnungen und Kollektivsymbole Im Kapitel über das Andere soll zunächst betrachtet werden, wie die Menschen bezeichnet werden, die nach Deutschland kommen und Asyl beantragen. Auffällig ist, dass es wenig Bezeichnungen gibt, die nicht wertend sind oder keine Binarität zwischen dem echten und unechten Flüchtling beinhalten. Entweder ist dies im Begriff selbst schon abzulesen oder wird als Adjektiv verstärkt oder ergänzt. Quantitativ dominieren die Begriffe Ausländer und Asylant. Die Menschen, denen das Recht auf Asyl abgesprochen wird, werden als »Wirtschaftsflüchtlinge«231 oder »Scheinasylanten«232 bezeichnet. Vereinzelt finden sich auch andere Komposita wie »Wirtschaftsasylanten«233 und »Scheintouristen«234 . Dies wird teilweise noch verstärkt durch Adjektive wie bei »Masse der bloßen Wirtschaftsflüchtlinge«235 , »reine Wirtschaftsflüchtlinge«236 und »eindeutige Scheinasylanten«237 . Es lässt sich zudem eine Tendenz ablesen, dass die Begriffe Ende der 1970er Jahre zunächst in Anführungszeichen genutzt werden, wie beispielsweise als »Strom der sogenannten ›Scheinasylanten‹«238 oder »›Asylschwindler‹, also um Ausländer, die politische Gründe vortäuschen«239 . Im Jahr 1980 werden diese Begriffe besonders oft und ohne Distanzierung genutzt. 1982 finden sich dann ausführlichere Kritik an den Begriffen. Etwas weniger wertend ist der Begriff des Ausländers, obwohl dieser auch die nicht-deutsche Herkunft betont und unabhängig von der Eigenschaft Asyl zu suchen die Menschen beschreibt. Dieser Begriff wird teilweise auch mit Adjektiven ergänzt wie etwa in »unerwünschten Ausländern«240 , »außereuropäischen Ausländern«241 oder »asylsuchende Ausländer«242 . Auch Asylbewerber werden als »unecht«243 beschrieben. Dieser Gruppe gegenübergestellt werden die Menschen, denen das Recht auf Asyl zugesprochen wird. Dabei dominiert die Bezeichnung »politisch Verfolgte«244 oder auch »wirklich politisch Verfolgte«245 . Des Weiteren werden Adjektive genutzt, um den Asyl-
231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245
Bonner Redaktion, »Flüchtlingsstrom bereitet Sorge«. azo, »Falsche Flüchtlinge im Visier«. Feldmeyer, »Dregger fordert Verschärfung des Asylrechts«. azo, »Falsche Flüchtlinge im Visier«. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Bewerunge, »Paß stimmt, Bild stimmt – mehr können wir nicht tun«. Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Bonner Redaktion, »Sofortmaßnahmen der Bundesregierung gegen den Mißbrauch des Asylrechts.« Süddeutsche Zeitung, 19.06.1980. Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. Peter Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde.« Süddeutsche Zeitung, 27.08.1981. Wilhelm Hilpert, »Pakistani sind schwer unterzubringen.« Süddeutsche Zeitung, 14.02.1978. Schneider, »Ausländerlager in Zirndorf wegen Überfüllung geschlossen«. Philipp, »Asylmißbrauch – ein Problem der Wirtschaft« Claus-Einar Langen, »Schwierigkeiten beim Nachprüfen politischer Verfolgung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.02.1980. Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. Kerscher, »Tiefer Eingriff in das Asylrecht zu Unzeit«.
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anspruch auszudrücken wie etwa in »die ›echten‹ Asylbewerber«246 , »die ›echten‹ Asylanten«247 , »ein richtiger Asylant«248 oder ein »politischer Asylant«249 . Dazu gehören auch die »Flüchtlinge aus Ostblockländern«250 , die auch als »Asylsuchende aus Ostblockländern«251 , oder an einer Stelle als »Ostblockasylanten«252 bezeichnet werden. Des Weiteren wird auch ein Gegensatz zwischen den neu Ankommenden und denen, die schon länger da sind, den »rechtschaffenen Ausländern«253 oder »ansässigen Ausländern«254 hergestellt. Hier wird auch darauf verwiesen, dass die Herkunftsländer sich ändern, »es seien immer mehr gekommen, die nicht aus Mitteleuropa stammen«.255 Weitere Begriffe sind »Fremde«256 , »Einwanderer«257 und Menschen wie zum Beispiel »Menschen aus den Krisengebieten«258 , »Menschen in der Dritten Welt und in den Entwicklungsländern«259 oder »Menschen, die wegen ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt werden«260 . Der Begriff Emigranten wird nur für deutsche Emigranten261 oder »Ostemigranten«262 benutzt. Eine eindeutig negative Konnotation des Begriffs Asylant lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht feststellen, da dieser auch für Menschen mit Asylanspruch genutzt wird. Zudem wurde er in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen, sodass er auch von Asylbefürworter*innen genutzt wurde, wie etwa von einem »Arbeitskreises Asylanten«263 . Es ist jedoch eine deutliche Tendenz ersichtlich, Asylant mit dem Phänomen des Asylmissbrauches in Verbindung zu bringen. Der Begriff taucht öfter in den Überschriften der Zeitungsartikel als im Text auf. Eine Vermutung ist, dass davon ausgegangen wurde, dass eine Überschrift mit dem Wort Asylant eher das Interesse weckt.264 In der SZ wird die Frage um die Konnotation des Begriffs aufgegriffen: 246 Fromme, »Notfalls Grundgesetzänderung zum Asylrecht«. 247 Thomas Meyer und Karl Feldmeyer, »Baum will mit einem Sofortprogramm die Flut der Asyl-Bewerber eindämmen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.06.1980. 248 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 249 Bonner Redaktion, »Sofortmaßnahmen der Bundesregierung gegen den Mißbrauch des Asylrechts«. 250 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 251 Meyer, »Die Asyl-Affäre weitet sich aus«. 252 Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag«. 253 Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. 254 Thomas Eyerich, »Sorgen mit dem fremden Mitbürger.« Süddeutsche Zeitung, 09.09.1980. 255 Ebd. 256 Fromme, »Wenn Wehner schreibt«. 257 Langen, »Schwierigkeiten beim Nachprüfen politischer Verfolgung«. 258 Neumann, »Zirndorf als Seismograph der Weltpolitik«. 259 Hubert Neumann, »Neun von zehn Asylanten müssen wieder gehen.« Süddeutsche Zeitung, 14.11.1980. 260 dpa, »Dauerstreit um die Asylanten«. 261 Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. 262 Schneider, »Das Bedenkliche an tauben Ohren«. 263 Reimer, »Human durch Härte?«. 264 dpa, »CSU sieht sich bei Asylanten um« dpa, »Dauerstreit um die Asylanten« Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut« Meyer, »Überall die Asylantenfrage« Neumann, »Neun von zehn Asylanten müssen wieder gehen« mes, »Asylanten müssen künftig zwei Jahre auf Arbeitserlaubnis warten.« Süddeutsche Zeitung, 10.09.1981.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
»Ist eigentlich ›Asylant‹ schon ein Schimpfwort? Vermutlich gibt es genügend griffigere Ausdrucksformen von dumpfen Vorurteilen gegenüber Ausländern. ›Negativ besetzt‹ ist jeder mit Asyl gebildete Begriff allemal, dazu bedarf es keiner Meinungsumfrage. Dafür haben schon die anhaltenden Horrormeldungen über die ›Flut‹ oder den ›Strom‹ von ›Wirtschaftsflüchtlingen‹ und ›Scheinasylanten‹ gesorgt.«265 »Daß es hier um das Schicksal vieler Mitmenschen, oft um Leben und Tod geht, kann nicht mit den Schlagwörtern ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ und ›Scheinasylanten‹ weggewischt werden.«266 Dabei werden auch die Wassermetaphern in Anführungszeichen gesetzt, die sonst selbstverständlich zur Beschreibung von Asylmigration genutzt werden. Für die Zuwanderung werden (Hoch-)Wassermetaphern verwendet, insbesondere Zustrom, Strom oder Flut sind häufig genutzte Begriffe. Sie werden mit Adjektiven kombiniert, die die Zunahme des Stroms beschreiben. Hochwasser ist mit der Vorstellung von Bedrohung und menschlichem Leid verknüpft. Die Zuwanderung wird beschrieben als »enorm angeschwollene[r] Strom von Menschen aus aller Welt«267 »starke[r] Zustrom von Asylbewerbern«268 , »Wilde[r] Zustrom unechter Asylbewerber«269 sowie »Anwachsende Flut von Asylbewerbern«270 . Auch bei einer Reaktion auf die vermehrte Zuwanderung werden Wassermetaphern verwendet. Es sollen »alle Schleusen«271 geschlossen werden, es sei notwendig, »den Zustrom von Ausländern in die Bundesrepublik zu hemmen«272 und die »Flut der Asylbewerber ein[zu]dämmen«273 . Des Weiteren wird dies als »Eindämmung des überhand nehmenden Zustroms«274 oder als »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«275 beschrieben. Neben den zugewanderten Menschen werden auch die Asylanträge als Flut bezeichnet. »Die Behörden werden von der Antragsflut erdrückt«276 , es seien »nicht mehr zu bewältigenden Flut von Asylverfahren«277 . Neben der Beschreibung Wirtschaftsflüchtling, welcher die finanziellen Interessen der Zugewanderten in den Vordergrund stellt, beinhalten die anderen Bezeichnungen häufig die Beschreibung echt, richtig, eindeutig, bzw., unecht und Schein-. Dies sind Begriffe, die allgemein verständlich sind und kein Wissen über Asylrecht erfordern. Sie
265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277
Kerscher, »Diskussion um Asylanten mit falschem Zungenschlag«. Kerscher, »Tiefer Eingriff in das Asylrecht zu Unzeit«. Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. Eyerich, »Sorgen mit dem fremden Mitbürger«. Philipp, »Asylmißbrauch – ein Problem der Wirtschaft«. Meyer und Feldmeyer, »Baum will mit einem Sofortprogramm die Flut der Asyl-Bewerber eindämmen«. Diehl-Thiele, »Geschäfte mit dem Asylrecht«. Lölhöffel, »Gewissensüberprüfung am Schlagbaum«. Meyer und Feldmeyer, »Baum will mit einem Sofortprogramm die Flut der Asyl-Bewerber eindämmen«. Ebd. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Langen, »Schwierigkeiten bei der Anwendung des Asylrechts«. Kerscher, »Tiefer Eingriff in das Asylrecht zu Unzeit«.
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erwecken jedoch den Eindruck einer Eindeutigkeit und Kategorisierbarkeit von politischer Verfolgung. Es ist bei diesen Beschreibungen nicht mehr erforderlich, sich mit den individuellen Beweggründen auseinanderzusetzen, da von Anfang an klar ist, dass kein Anspruch auf Asyl besteht. Diese vermeintliche Eindeutigkeit von fehlender politischer Verfolgung trägt zur Ablehnung in der Bevölkerung bei. »Mit Türken, Libanesen und Pakistani, deren Fluchtgründe nicht so deutlich gemacht wurden, wollte man hingegen nichts zu tun haben.«278 Damit geht einher, dass die Feststellung von politischer Verfolgung und ihre Schwierigkeiten kaum Gegenstand der Debatte ist. Die Problematik wird an manchen Stellen kurz erwähnt, es wird jedoch an keiner Stelle erläutert, wie ein Asylverfahren und die Feststellung eines Asylanspruchs verlaufen. »Die eine [Schwierigkeit] liegt in den schwer durchschaubaren Verhältnissen in der Heimat der Asylbewerber. Wie soll exakt nachgewiesen werden, ob ein Asylant in Pakistan oder Eritrea wirklich individueller Verfolgung unterlag?«279 »Wie aber kann die ›Verkürzung der Verfahren‹ in Akkord gebracht werden mit der Forderung, die ›echten‹ Asylbewerber müßten mit hinreichender Sicherheit aus der Masse der bloßen Wirtschaftsflüchtlinge herausgepickt werden?«280 Als Kollektivsymbol für das Asylverfahren und die Entscheidung, wer asylberechtigt ist, wird häufig das Bild verwendet, die Spreu vom Weizen zu trennen.281 Neben der Binarität der Beschreibungen tragen auch die Wassermetaphern zu einer Distanzierung und Entindividualisierung bei. Oben wurde schon beschrieben, welche Auswirkungen Wassermetaphern haben, sie beschreiben Zuwanderung als Naturgewalt, gegen die es nötig sei, Deiche zu bauen, sie führen zu Entmenschlichung und verhindern Einfühlung. Die Verfolgung und Fluchtgründe der Menschen haben in diesem Bild keinen Platz. Die Analyse der Artikel zeigt, dass Wassermetaphern durchgängig und unkommentiert verwendet werden. Sie stellen die große Zahl der Asylsuchenden als gesichtslose Masse in den Mittelpunkt, die stets noch weiter zunehmen kann und nicht kontrollierbar wirkt. Insbesondere bei Beschreibungen wie wilder, starker, anschwellender Strom werden Bilder von schnell fließenden, über die Ufer tretenden Flüssen aufgerufen. Dabei werden Gefühle mittransportiert wie die Angst vor Überschwemmung oder Platzmangel.
3.4.2 Außereuropäische Herkunft Der Asylant, der Asylmissbrauch begeht, ist in beiden Zeitungen eng mit einer sogenannten außereuropäischen Herkunft verknüpft. Konstruktionen des Eigenen und des Anderen sind räumlich verortet. Sie scheinen sich auf objektiv wahrnehmbare Räume zu beziehen, dabei sind auch diese Teil der Identitätskonstruktionen und werden diskursiv hergestellt.282 Im Analysematerial tauchen verschiedene geografische Verortungen auf, die mit biologistischen und kulturalistischen Rassekonstruktionen verknüpft werden. Bevor
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Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde«. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Fromme, »Dämme gegen die Asylanten-Springflut«. Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 63–64.
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auf diese eingegangen wird, soll zunächst das Auftauchen rassistischer Begrifflichkeiten betrachtet werden. Textstellen, die nach heutigem Verständnis als offensichtlich rassistisch beschrieben werden können, sind im Analysematerial dieses Kapitels vermehrt vorhanden. Die detaillierten und abwertenden Beschreibungen des Aussehens können vielleicht auch darauf zurückgeführt werden, dass es ungewohnt war, viele Menschen aus anderen Weltregionen zu sehen, sodass das ganze rassistische Repertoire aktiviert wurde. Sie dienen auch dazu, die Fremdheit hervorzuheben. In den 1980er Jahren setzte bereits ein langsamer Sprachwandel ein und Selbstbezeichnungen begannen sich zu etablieren.283 In der FAZ wurde das N-Wort 1982 bereits in Anführungszeichen gesetzt, sodass die Nutzung und Distanzierung des Begriffs zeitgleich stattfanden.284 Im Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) sinkt der Gebrauch ab Ende der 1960er Jahre kontinuierlich, in den 1990er Jahren taucht er überwiegend als wörtliche Rede oder direktes Zitat auf.285 Das Zitieren des Begriffs und den damit verbundenen diskriminierenden Äußerungen wird in folgendem Beispiel, aber auch in den anderen Kapiteln nicht als problematisch empfunden. Das Setzen in Anführungszeichen wird als ausreichende Distanzierung empfunden. Der rassistische Gehalt wird nicht näher erläutert und daher reproduziert. In dieser Arbeit werden daher auch nicht alle auftauchenden Begriffe genannt, sondern anhand von Beispielen werden die damit transportierten Bilder analysiert und sichtbar gemacht. In den Artikeln taucht N. zum einen als vermeintlich neutrale Beschreibung auf, zum Beispiel es kämen N. aus Ghana.286 Zum anderen wird ein Abgeordneter der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU) zitiert, dass er »nichts dafür übrig habe, wenn die Bundesregierung auf deutschem Boden orientalische Siedlungen und Negerkrale bauen lasse [...] [und] die Identität der Deutschen im eigenen Land gefährde«.287 Ein Kral beschreibt eine Siedlungsform im südlichen Afrika. In diesem Fall werden Vorstellungen von Natur, Rückständigkeit, Ursprünglichkeit und Primitivität hervorgerufen.288 Es muss nicht weiter erklärt werden, dass die Bewohner*innen keine politische Verfolgung erleben, weil die Existenz von politischen Strukturen implizit negiert wird. Im Zitat wird kritisiert, dass die Anpassung lediglich von deutscher Seite komme und die Ankommenden ihre Gewohnheiten leben können.
283 Susan Arndt, »Neger_in.« In Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache; ein kritisches Nachschlagewerk, hg. v. Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard, 1. Aufl. (Münster: Unrast-Verl., 2011), 655–6. 284 Hoeres, Zeitung für Deutschland, 237–39. 285 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortverlaufskurse für ›Neger‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355) In den 1960er Jahren wurde der Begriff viel im Kontext der Berichterstattung über das Civil Rights Movement in den USA genutzt. . 286 Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. 287 Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde«. 288 Ingrid Jacobs und Anna Weicker, »Afrika.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563), 202.
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Des Weiteren sind exotisierende Formen von Rassismus als Faszination des vermeintlich Anderen zu finden:289 »Dort werden die Dunkelhäutigen von den deutschen Kindern auf liebenswerte Art bestaunt und umworben. [...] Achmed, der mit seinem schwarzen Lockenkranz aussieht wie der Mohr im Bilderbuch [...]«290 . M. ist die älteste deutsche Bezeichnung für Schwarze291 Menschen als Andere und hat Eingang in Kinderlieder, Lebensmittelwerbung und Straßennamen gefunden. Im Bilderbuch des Struwwelpeters werden freche Kinder gewarnt, wenn sie nicht brav sind, werden sie schwarz wie ein M. Damit wird Schwarzsein als etwas Schreckliches und als Mittel der Sanktionierung dargestellt.292 Auch wenn die Nutzung des Begriffs und Intention unterschiedlich sein mag, wird die im kollektiven Gedächtnis verankerte negative Bedeutung und Differenzherstellung zum Eigenen stets aktiviert. Im Folgenden werden Konstruktionen näher betrachtet, die mit der außereuropäischen Herkunft verknüpft werden. Die außereuropäische Herkunft, die sich auf die Länder des Globalen Südens bezieht, wird explizit mit fehlenden Fluchtgründen verbunden. Damit wird davon ausgegangen, dass es außerhalb von Europa keine politische Verfolgung gibt. Es erfolgt eine Homogenisierung verschiedenster Länder und Regionen, deren wichtigstes Kennzeichen es ist, außereuropäisch oder nichteuropäisch zu sein. »Die Herkunft der Asylsuchenden ist in den letzten Jahren anders geworden. 1969 stellten die Europäer einen Anteil von 95 Prozent, 1977 war ihr Anteil auf 24 Prozent gesunken«293 Dies erinnert an die Binarität in »the West and the Rest«.294 »Obwohl der Anteil der außereuropäischen Bewerber in Zirndorf mittlerweile auf über 80 Prozent angestiegen ist, liegt die Anerkennungsquote bei dieser Gruppe bei nur etwa zwei Prozent. Nach Meinung des Sozialministeriums beweist diese geringe Quote, daß bei Nichteuropäern wirtschaftliche Überlegungen weit mehr im Vordergrund stehen als politische Gründe.«295 Man sei »mit den enormen Problemen konfrontiert, die [...] aus dem Mißbrauch des Asylrechts durch die vorwiegend orientalische ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ entstehen.«296
289 Chandra-Milena Danielzik und Daniel Bendix, »Exotik/exotisch.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563). 290 Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. 291 »Schwarz ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit beispielsweise afrikanischen, karibischen oder afro-US-amerikanischen Vorfahren. Schwarz wird in diesem Zusammenhang immer groß geschrieben, um deutlich zu machen, dass damit keine Hautfarbe beschrieben wird. Schwarz ist vielmehr eine politische Selbstbezeichnung, die gemeinsame Erfahrungen sowie die gesellschaftspolitische Position und die Lebensrealität von Menschen beschreibt, die von Anti-Schwarzem Rassismus betroffen sind.« Neue Deutsche Medienmacher*innen, »Schwarze Menschen.« Zuletzt geprüft am 02.07.2022, https://glossar.neuemedienmacher.de/?s=Schwarz&post_type=encycloped ia. 292 Susan Arndt und Ulrike Hamann, »Mohr_in.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563), 650–2. 293 Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. 294 Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität. 295 Schneider, »Ausländerlager in Zirndorf wegen Überfüllung geschlossen«. 296 Philipp, »Asylmißbrauch – ein Problem der Wirtschaft«.
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Orientalisch steht als Erfindung des Westens für alles, »was es selbst nicht ist«297 und transportiert damit ähnliche Vorstellungen wie außereuropäisch. Ostblockflüchtlinge werden hingegen als europäisch wahrgenommen und es wird ihnen, auch aufgrund des Ost-West-Konfliktes, kollektiv eine politische Verfolgung zugeschrieben. »Die Quote von zehn Prozent der wirklich politisch Verfolgten nimmt sich noch bescheidener aus, wenn man berücksichtigt, daß daran etwa zu 70 Prozent die Flüchtlinge aus Ostblockländern beteiligt sind – allesamt wegen der Verfolgungsgefahr im Fall ihrer Rückkehr sofort asylberechtigt.«298 Als zwei Asylsuchende aus der Tschechoslowakei in Bayern an der Grenze abgewiesen werden, bekommt dies als »Asyl-Affäre« medial viel Aufmerksamkeit. Es »müsse sichergestellt werden, daß Asylsuchende aus Ostblockländern grundsätzlich anders behandelt werden müßten als Antragsteller aus anderen Ländern.«299 Lediglich an einer Stelle wird vorsichtig angefragt: »Sind uns Nicht-Verfolgte aus einem Land, das unserer politischen Anschauung widerspricht, willkommen, Verfolgte aus Ländern, mit denen die Bundesregierung eng zusammen arbeitet, so peinlich, daß dies sich auf Entscheidungen auswirkt?«300 Die Differenz wird zum einen über biologistische Rassekonstruktionen hergestellt, indem das Aussehen, die Hautfarbe, die Kleidung und Sprache hervorgehoben wird. »Es sind Türken in ausgebeulten Hosen und abgetragenen Jacken, verhüllte Frauen, Pakistanis in ihrer Shalva und den Camis, dem weiten, lose fallenden Hemd und den flatternden Hosen, es sind Araber, N.[...] aus Ghana, Vietnamesen, Kambodschaner. Die Hautfarben der Menschen in der Menge sind braun, gelb, schwarz und ihre Sprachen Urdu, Hindi, Englisch, Bengali, Türkisch, asiatische und afrikanische Dialekte.«301 »Ein Sprachengewirr, das an den Turmbau zu Babel erinnert: Bengali, Urdu, Punjabi, Uranshavi, Hindi, Englisch und manches mehr wird hier gesprochen, denn außer den Pakistani strömen auch Inder, Palästinenser und Angehörige afrikanischer Staaten – Liberia, Angola, Ghana – über Berlin in die Bundesrepublik ein. Alle Hautschattierungen zwischen schwarz und weiß.«302 Die Homogenisierung der Länder als außereuropäisch geht einher mit »groben Stereotypisierungen und Fehlinformationen [sowie] aktiv aufrecht erhaltene[r] Ignoranz«.303 Bei fehlendem Wissen über die Sprachen der Menschen werden diese als afrikanische oder asiatische Dialekte beschrieben. Dabei wird ein ganzer Kontinent als Container oder als Land repräsentiert, der die gleichen Sprachen, Traditionen und Geschichte beinhaltet. So wurde »ein ›Psychosoziales Zentrum‹ für Flüchtlinge aus nichteuropäischen Ländern« in Frankfurt eingerichtet, mit »jeweils einem Psychologen aus Afrika und Asi-
297 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 24. Auflage, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 39 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020), 10. 298 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. 299 Meyer, »Die Asyl-Affäre weitet sich aus«. 300 Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. 301 Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. 302 Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. 303 Ingrid Jacobs und Anna Weicker, »Afrika.« In Wie Rassismus aus Wörtern spricht, 200.
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en«.304 Es zeugt von großer Ignoranz oder Unwissenheit davon auszugehen, dass ein Mensch einen ganzen Kontinent mit den verschiedenen Ländern, Traditionen und Sprachen repräsentieren und therapieren kann. Außereuropäisch oder nichteuropäisch als Negation beschreibt damit einen Nicht-Ort, die Abwesenheit von Europa, einen leeren Fleck auf der Landkarte. Es markiert das Fremde, Unbekannte und kann als Leerstelle beliebig gefüllt werden. Eine Einfühlung und Identifizierung mit »Menschenschlangen« von außereuropäischen Menschen ist nicht erwünscht: »Die Szene [...] erinnert an Nachkriegszeiten, in denen man auf diese Weise Lebensmittelkarten und Bezugsscheine erstand. Die vorbeieilenden Passanten brauchen in den meist dunkelhäutigen Gestalten sich jedoch nicht selbst zu erkennen. Pechschwarze Haare, gekräuselt oder gewellt, breite Nasen und wulstige Lippen oder schmale Nasen und tiefe Furchen in Stirn und Wangen verraten, daß ihre Besitzer eigentlich zu einem anderen Teil der Welt gehören: zu Kleinasien, Afrika, Indonesien, zum indischen Subkontinent.«305 Hier wird zusätzlich ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild, welches zudem sehr abwertend formuliert ist, mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Weltregion verknüpft, die dort hingehören und vielleicht auch dortbleiben sollen. Während die Beschreibungen des Äußeren sich eher auf Menschengruppen beziehen, findet sich dies stellenweise auch über einzelne Personen: »Ein paar Türen weiter ist das Zimmer, in dem sich die Ghanesen eingerichtet haben. Dort liegt gegen vier Uhr nachmittags ein kräftiger junger Mann, dichtes Kraushaar über dem breiten Gesicht mit den wulstigen Lippen, noch im Bett. Widerwillig steht er auf.«306 Die abwertende Beschreibung des Äußeren geht einher mit einer Beschreibung der Charaktereigenschaften wie Faulheit und Passivität. Des Weiteren finden sich auch kulturalistische Konstruktionen, die die Differenz über eine fremde Kultur oder Mentalität herstellen. Die Differenz wird beschrieben als »fremde Mentalität«307 »fremdartige Sitte[n]«308 , als »Menschen eines ganz anderen Kulturkreises«309 . Dies wird auch anhand des unterschiedlichen Lebensstandards und der Entwicklung verdeutlicht. Ein »Großteil der Asylsuchenden findet sich in der neuen Umgebung nicht auf Anhieb zurecht. Vieles ist ihnen fremd. Einige sehen zum ersten Mal in ihrem Leben eine europäische Toilette ›zum Draufsetzen‹. [...] Manche hätten anfangs Angst vor der Waschmaschine, erzählt er. Erst als eine mutige Araberin sich an das Gerät wagte, trauten sich auch die anderen Frauen.«310
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dpa, »Im Asyl nicht auf der Fluchtbleiben.« Süddeutsche Zeitung, 20.07.1979. Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. dpa, »Im Asyl nicht auf der Fluchtbleiben«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. dpa, »Soviel Asylbewerber wie Dorfbewohner.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.1980. dpa, »Bedrückende Enge im gelobten Land.« Süddeutsche Zeitung, 01.08.1980.
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Die Folgen davon sind, dass die Menschen sich hier nicht zurechtfinden, Entwurzelung und Entfremdung erfahren und sich nicht anpassen (können). Die »fremde Mentalität der Menschen und die Gesellschaftsordnung der hochindustriellen Bundesrepublik [bereitet] große Probleme. Die Aufgabe, die persönliche nationale Identität als Flüchtling in der Fremde zu wahren, aber sich dennoch in der neuen Gesellschaft zurechtzufinden, bedeutet für viele Südamerikaner, Asiaten und Afrikaner noch ein kaum zu bewältigendes Problem.«311 Das Einfinden in die neue Umgebung wird jedoch teilweise als unmöglich befunden: »Im Saarland waren es vor allem die Inder, die merkten, daß ihnen eine Anpassung kaum möglich sein werde.«312 Oder es wird festgestellt, dass das mit der Integration »nichts wird, weil die meisten Ausländer an ihren Gebräuchen festhalten«313 . Eine Schlussfolgerung daraus ist die Regionalisierung, das heißt die Forderung, Menschen in der Nähe ihrer Heimatländer unterzubringen. Es sei besser, »daß man Menschen nach Möglichkeit nicht in gänzlich anderen Kulturkreisen ansiedele, dies berge die Gefahr der Entwurzelung, des Identitätsverlusts und der Entfremdung«.314 Abschließend kann daher festgehalten werden, dass nicht nur die fehlende politische Verfolgung, sondern bereits die Anwesenheit von Nichteuropäern als Problem und Ursache für gesellschaftliche Konflikte wahrgenommen wird: »Sozialer Sprengstoff entsteht nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass früher 70 bis 80 Prozent der Asylbewerber aus europäischen Ländern kamen, während es heute 80 Prozent aus außereuropäischen Ländern sind.«315
3.4.3 Pakistani als Prototyp des Asylmissbrauchs Eine Gruppe, die besonders mit Asylmissbrauch Ende der 1970er Jahre verknüpft wird, sind Menschen aus Pakistan. In den Bundestagsdebatten gab es im Laufe der Jahre mehrere Gruppen, denen dies besonders zugeschrieben wurde: Pakistan und Indien (1977–1979), Türkei (1979–1980), Tamilen aus Sri Lanka (1981–1985), Ghana (ab 1982). Es waren alles außereuropäische Länder, keine Ostblockstaaten und sie wiesen höhere Antragszahlen in den genannten Jahren auf.316 In den untersuchten Zeitungsartikeln spiegelt sich dies nicht so eindeutig wider. Die Bezugnahme auf Pakistan ist jedoch in beiden Zeitungen ersichtlich. Der Diskurs darüber lässt sich mit folgendem Zitat beschreiben: »Die angeblich große Zahl potentieller Einreisewilliger, die Einreise über Ost-Berlin, die Angabe der deutschen Sozialhilfe als einzige Einreisemotivation und das völlige
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dpa, »Im Asyl nicht auf der Fluchtbleiben«. Michaely, »Deutschland ist sehr gut Land«. Skierka, »Sechs Minuten Zeit für ein Schicksal«. Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. Müller-Meiningen jr., »Mißbrauchtes Asylrecht gerät zum sozialen Sprengstoff«. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 147–49.
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Desinteresse an eventuell vorliegenden potentiellen Fluchtgründen wurden [...] zum Charakteristikum der Debatten um Pakistanflüchtlinge.«317 Die pakistanischen Flüchtlinge sind im Diskurs überwiegend nur Objekte des Asylmissbrauchs. Geschäftemacher und Schlepper werben Pakistani an, nach Deutschland zu kommen, versprechen ihnen ein gutes Leben und verdienen damit selbst viel Geld. Pakistani kommen selbst kaum zu Wort um die Gründe darzulegen, warum sie nach Deutschland gekommen sind. Sie werden als wenig gebildet, ahnungslos und hilflos dargestellt. Ihre Asylbegründungen habe ihnen jemand vorgegeben, ohne dass sie das Asylrecht verstehen. Wie Pakistani zum Prototyp des Asylmissbrauchs werden, zeigt folgendes Beispiel, in denen doppelt auf Pakistani verwiesen wird: »Die Bundesrepublik sieht sich [...] Belastungen dadurch ausgesetzt, daß Ausländer – etwa aus Pakistan – einreisen unter dem Vorwand, hier Asyl zu suchen. [...] Die Sozialhilfe, die etwa einem Pakistaner hier während seines Asylverfahrens zuteil wird, beträgt etwa das Doppelte von dem, was er mit Arbeit in seiner Heimat erreichen kann.«318 Zentrale Annahme ist, dass Flüchtlinge aus Pakistan nicht politisch verfolgt sind. »Was jetzt auf Berlin zurollt, sieht nach regelrechtem Menschenhandel aus. Schon bei den Asylsuchenden aus dem Nahen Osten war es schwer, deren politische Verfolgung nachzuprüfen. Bei den jetzt eintreffenden Pakistani kristallisiert sich immer mehr heraus, daß sie eher der Armut ihres Landes als polizeistaatlicher Willkür entfliehen wollen.«319 »Das Unbehagen der Öffentlichkeit hat weitgehend seine Ursache in den Zweifeln am Verfolgten-Status der Pakistani. Die Ausländerbehörden in Rathäusern und Landratsämtern glauben Anhaltspunkte dafür zu haben, daß sich diese Ausländer in der Bundesrepublik ein besseres Leben versprechen und nach Arbeit suchen.«320 Dabei werden in den Artikeln einige Gründe genannt, warum sie verfolgt sein könnten, es wird jedoch angezweifelt, dass dies der Fall ist. »Die meisten Pakistani behaupten, der verbotenen Awami-Partei angehört zu haben. [...] Werden die Pakistani aber nach Programm und Ziel der Partei befragt, stoßen die Berliner Beamten in der Regel auf völlige Unkenntnis. Viele von ihnen wissen noch nicht einmal was mit dem Namen Bhutto anzufangen.«321 »Hinzu trete ›als politische Asylbegründung‹ die Mitgliedschaft in der ›Pakistan’s People Party‹. In Gesprächen habe sich gezeigt, daß ›99 Prozent‹ der aufgegriffenen Pakista-
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Ebd., 150. Fromme, »Notfalls Grundgesetzänderung zum Asylrecht«. Willi Kinnigkeit, »Irrfahrt ins gelobte Land.« Süddeutsche Zeitung, 09.12.1977. Hilpert, »Pakistani sind schwer unterzubringen«. Kinnigkeit, »Irrfahrt ins gelobte Land«.
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ner überhaupt nicht wüßten, was Asylrecht sei, heißt es in dem Bericht. Asyl sei ›eine Art Arbeits- und Aufenthaltsform‹.«322 Die Ursache der steigenden Antragszahlen aus Pakistan wird in der Anwerbung durch Schlepper*innen gesehen, die mit deutschen Anwält*innen zusammenarbeiten. »Nicht Krisenherde oder eine zunehmende politische Verfolgung in Teilen der Welt, sondern raffinierte Geschäftemacher haben den Strom Asylsuchender anschwellen lassen. Sie haben im Grundrecht auf Asyl eine sprudelnde Einnahmequelle entdeckt. Vermutlich wären diese Kräfte, auf deren Konto zum Beispiel eine ausschließlich aus Gewinnsucht organisierte Einwanderung von Pakistanern geht, weniger erfolgreich, stünden ihnen nicht deutsche Rechtsanwälte zur Seite.«323 »Skrupellose Geschäftemacher versprechen ihnen goldene Berge. [...] Verständlich, daß der Senat mißtrauisch ist: Angeblich erscheinen in pakistanischen Zeitungen Anzeigen, die den ›Auswanderungswilligen‹ in Deutschland den Himmel auf Erden versprechen.«324 Pakistani sind zum einen die Opfer, auch als »arme Schlucker«325 bezeichnet, zum anderen aber auch die Täter*innen, die »bei ihren Landsleuten«326 abkassieren. In Berlin herrsche bereits »Bandenkrieg« zwischen einzelnen Schleppergruppen.327 Die Pakistani, die Asylanträge stellen, kämen aus »den unteren Schichten des Volkes«328 . »Die jungen Pakistani, meist Analphabeten, beherrschen auch keine Fremdsprache«329 . Auf die Spitze getrieben wird dies in folgendem Zitat: »Die Ausreisewilligen verkauften zu diesem Zweck ihre gesamte Habe, nicht selten auch Frauen und Kinder und borgten sich von Freunden und Verwandten Geld. Solchen Menschen bleibe nach einer Rückkehr nur der Weg in die industriellen Zentren des Landes, weil sie jede Brücke zu ihrer Familie abgebrochen hätten und die totale soziale Ächtung fürchten müßten.«330 Pakistani werden zum einen als arm, unwissend und ungebildet dargestellt. Im letzten Zitat wird ihnen aber auch unterstellt, dass ihnen materielle Bereicherung über alles geht, sodass sie sogar Frauen und Kinder verkaufen. Diese Annahme wirkt völlig absurd, es ist aber anscheinend zu dieser Zeit möglich, solche Zuschreibungen in der Zeitung zu veröffentlichen und verweist wieder auf die Unwissenheit und Ignoranz hinsichtlich des Nicht-Europas. An einer Stelle werden die wenigen Asylanerkennungen von Pakistani als Nachweis für Asylmissbrauch angeführt. 322 323 324 325 326 327 328 329 330
Haibach, »Von Kabul nach West-Berlin mit Schleppern«. Langen, »Schwierigkeiten bei der Anwendung des Asylrechts«. Kinnigkeit, »Irrfahrt ins gelobte Land«. Ebd. Ebd. Haibach, »Von Kabul nach West-Berlin mit Schleppern«. Ebd. Hilpert, »Pakistani sind schwer unterzubringen«. Haibach, »Von Kabul nach West-Berlin mit Schleppern«.
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»So wurde 1975 in zwei und 1976 in vier Fällen vom Bundesamt Asyl gewährt, obwohl in beiden Jahren insgesamt 4029 Pakistaner die Anerkennung als politisch Verfolgter beantragt hatten. Wie ein Staat ausgenutzt wird, der großzügig bereit ist, schutzlos gewordenen Menschen eine zweite Heimat zu geben, läßt sich deutlicher nicht veranschaulichen.«331 Die Annahme der fehlenden politischen Verfolgung wirkt sich auch auf die Unterbringung von Pakistani aus. So titelt die SZ: »Pakistani sind schwer unterzubringen«332 und »Protest gegen geplantes Pakistani-Lager«.333
3.4.4 Ausländerfeindlichkeit aufgrund von Asylmissbrauch Ausländerfeindlichkeit ist im Gegensatz zu einigen anderen Kapiteln hier kein dominierendes Thema, es taucht jedoch an verschiedenen Stellen auf und soll daher mitbetrachtet werden. Neben der Thematisierung von Ausländerfeindlichkeit werden der Widerstand in Kommunen und in der Bevölkerung und die damit verbundenen Konstruktionen des Anderen betrachtet. Die Existenz von Ausländerfeindlichkeit wird tendenziell eher verneint, gleichzeitig gibt es einen Konsens darüber, dass es schlimm wäre, wenn sich Ausländerfeindlichkeit entwickeln würde. Es wird jedoch nicht genauer definiert, was Ausländerfeindlichkeit eigentlich ist. Die Ursache der Ausländerfeindlichkeit wird in der Asylzuwanderung und im Asylmissbrauch gesehen. Ausländerfeindlichkeit als Problem müsse ernstgenommen und konsequent bekämpft werden. Die Bekämpfung setzt jedoch nicht bei der Mehrheitsgesellschaft an, sondern bei der Steuerung von Zuwanderung. Dies diene auch dazu, Integration zu fördern und bereits etablierte Menschen mit Migrationserfahrung und wirklich politisch Verfolgte zu schützen. Bei der Thematisierung von Ausländerfeindlichkeit an konkreten Orten wird dies stets verneint. «Philipp, [...] weist den Verdacht von Ausländerfeindlichkeit weit von sich.‹«334 »Die 170 Einwohner von Johannesbrunn [...] sind eigentlich alles andere als ausländerfeindlich.«335 Das Sprechen über Ausländerfeindlichkeit könne sogar kontraproduktiv sein: »dass ›wir nach meinem Eindruck vor lauter Gerede um die angebliche Ausländerfeindlichkeit unserer Bevölkerung auf dem besten Wege sind, tatsächlich eine solche Ausländerfeindlichkeit erst zu verursachen und herbeizureden‹.«336 Es gibt eine hohe Schwelle, bis etwas als Ausländerfeindlichkeit bezeichnet wird. Beunruhigung oder Vorbehalte gegen Fremde gehören nicht dazu, selbst Brandanschläge werden nicht als tatsächliche Ausländerfeindlichkeit betrachtet: »Allerdings wiesen Brandanschläge oder Wandschmierereien darauf hin, daß es sich hierbei ›um eine potentielle Gefahr der Ausländerfeindlichkeit
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Langen, »Schwierigkeiten bei der Anwendung des Asylrechts«. Hilpert, »Pakistani sind schwer unterzubringen«. George Deffner, »Protest gegen geplantes Pakistani-Lager.« Süddeutsche Zeitung, 13.07.1978. Josef Philipp war Bürgermeister der bayerischen Großgemeinde Kallmünz. Christian Feldmann, »Der Flüchtling wird zum Schwarzen Peter.« Süddeutsche Zeitung, 15.02.1979. 335 dpa, »Soviel Asylbewerber wie Dorfbewohner«. 336 Eyerich, »Sorgen mit dem fremden Mitbürger«.
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handelt‹, die es rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln zu bekämpfen gelte.«337 Wenn der Asylmissbrauch jedoch nicht wirksam bekämpft werde, werde dies bald der Fall sein: »Die zentrale Rolle spiele in der Ausländerproblematik der starke Zustrom von Asylbewerbern in der Bundesrepublik [...]. Gegen Asylmißbrauch und illegalen Aufenthalt in der Bundesrepublik sei ›konsequentes Vorgehen‹ nötig. Hier sei ein Entstehen von Ausländerfeindlichkeit am ehesten zu befürchten. [...] Wenn es in diesem Bereich zu keiner zufriedenstellenden Lösung komme, sei mit einem ›Übergang von der potentiellen zur tatsächlichen Ausländerfeindlichkeit‹ zu rechnen.«338 Die Asylzuwanderung wird als das zentrale Problem gesehen, das Ausländerfeindlichkeit verursacht, im Gegensatz zu bereits ansässigen Ausländern. »Auch Bundeskanzler Schmidt habe sich immer wieder über die Jahre dafür ausgesprochen, daß der Zustrom aus dem Ausland begrenzt bleiben müsse, damit die Integration der bereits in der Bundesrepublik lebenden Ausländer nicht gefährdet werde.«339 »Zudem belaste ›der verbreitete Mißbrauch des Asylrechts auf gefährliche Weise‹ nicht nur das Ansehen der wirklich verfolgten Schutzsuchenden, sondern auch das der vielen in Deutschland lebenden ›rechtschaffenen Ausländer‹.«340 Dies sei auch darauf zurückzuführen, dass die Menschen aus anderen Herkunftsländern kämen: »Es sei zu berücksichtigen, daß sich in den vergangenen Jahren die Struktur der in Deutschland ansässigen Ausländern verändert habe; es seien immer mehr gekommen, die nicht aus Mitteleuropa stammen«.341 Ähnlich wie bei der Zweiteilung in echte und unechte Flüchtlinge wird hier eine Unterscheidung zwischen Ausländern und Asylanten gemacht, was die Ausländer plötzlich weniger fremd erscheinen lässt. Während die Diagnose Ausländerfeindlichkeit sehr zurückhaltend gestellt wird, wird über Vorbehalte und Widerstand in der Bevölkerung kontinuierlich berichtet, was wie eine ständige Problemanzeige das Thema Asyl in der Zeitung wachhält. Dabei sind es nicht konkrete Ereignisse, sondern vor allem die Befürchtungen und Zuschreibungen, wie Asylsuchende vermutlich sind, die das Andere konstruieren. Sowohl bei Kommunalpolitiker*innen als auch bei der ansässigen Bevölkerung stößt die Einrichtung einer Unterbringung auf Widerstand. Häufig werden Einwohner*innenzahlen und Unterbringungszahlen verglichen, dabei scheint jeder Flüchtling einer zu viel zu sein, sei es in einem kleinen Dorf oder in der Stadt. »Er hält eine Eingliederung von 70 Flüchtlingen in einer 200-Seelen-Gemeinde, in der es ein einziges Wirtshaus und [...] ja nicht einmal ein Kino gebe, schlicht für unmöglich.‹«342 »417 Asylbewerber sind derzeit hier untergebracht, und es sollen noch mehr werden. Bei 500 muß dann aber Schluß sein. [...] Doch die Neuburger Bevölkerung hat schon jetzt genug, entgegnet ihm der örtliche CSU-Abgeordnete Dr. Richard Kessler, weil so viele Asylanten für
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Ebd. Ebd. mes, »Asylanten müssen künftig zwei Jahre auf Arbeitserlaubnis warten«. Haibach, »Lummer regt Nachdenken über Asylrecht und seine Anwendung an«. Eyerich, »Sorgen mit dem fremden Mitbürger«. Feldmann, »Der Flüchtling wird zum Schwarzen Peter«.
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die 25 000 Einwohner zählende Stadt einfach unzumutbar seien.«343 Folgender Vergleich verdeutlicht, wie negativ bzw. gefährlich eine Unterbringung für Asylsuchende wahrgenommen wird: »Man habe genug ›Umweltbelastungen‹, so etwa die Frauenhaftanstalt, eine Sondermüllanlage und ein geplantes Kernkraftwerk.«344 Die Situation spitze sich dabei immer mehr zu: »Hervorgehoben werden muß jedoch, daß sich die Widerstände in den Gemeinden und bei der Bevölkerung nachhaltig verstärkt hat (sic!).‹«345 Im August 1981 wird ein Gebäude angezündet, das für eine Unterbringung vorgesehen war.346 Dabei wird das Problem nicht in den Vorbehalten der Menschen gesehen oder in den fehlenden Kapazitäten für Unterbringungsmöglichkeiten, sondern in den steigenden Asylzuwanderungszahlen. »Bayerns Sozialminister Fritz Pirkl, der nicht eben zu Kraftausdrücken neigt, konnte nicht mehr länger an sich halten. ›Ja, sollen wir sie denn auf den Mond schließen?‹, fragte er bitter in die Runde. Nichts macht die Ratlosigkeit und den Hader deutlicher. [...] Schuld an dem ganzen Ärger ist der sprunghaft angestiegene Zustrom von Asylbewerbern, der die Aufnahmebehörden vor schier unlösbare Aufgaben stellt.«347 Als wesentlicher Grund für die Ablehnung in der Bevölkerung wird die Kriminalität angeführt. »Wilde Gerüchte von 150 männlichen Pakistani geisterten durch die Gemeinde, von arbeitslosen Asozialen, die den ganzen Tag im Wirtshaus sitzen und den Ort unsicher machen. ›Wir befürchten ein Ansteigen der Kriminalität‹, bekannte Bernhard Loild, Bürgermeister der Großgemeinde Bernhardswald. [...] Und im übrigen glaubt er das nicht, daß Ausländer so friedlich sein können.«348 Die Zuschreibungen sind immer ähnlich: vor allem viele Männer, die zudem auch nicht arbeiten, verursachen Probleme, es gibt Gewalt untereinander, Gewalt gegenüber deutschen Frauen sowie Diebstähle.349 Konkrete Vorkommnisse werden dramatisch dargestellt, ein Mundraub führt zu einer Kriegserklärung: »In Wernberg-Köblitz [...] droht der offene Krieg zwischen Arabern und Pakistani, die in einer mittelalterlichen Burg hausen, auf der einen und den Oberpfälzern auf der anderen Seite. Seit ein Dörfler Araberkinder, die er beim Obststehlen ertappte, handgreiflich deutsches Eigentumsdenken demonstrierte, und aufgebrachte Ausländer ihm diesen Übergriff heimzahlten, will der Bürgermeister die Burg lieber für die Gemeinde kaufen und darin ein Museum mit Weinstube einrichten.«350
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dpa, »CSU sieht sich bei Asylanten um«. Schneider, »Das Bedenkliche an tauben Ohren«. Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde«. Ebd. Schneider, »Das Bedenkliche an tauben Ohren«. Feldmann, »Der Flüchtling wird zum Schwarzen Peter«. dpa, »CSU sieht sich bei Asylanten um«. Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde«.
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
Lediglich an einer Stelle wird eine Idee entworfen, wie es zu einer Annäherung kommen könnte: Es »werde im Laufe der Zeit mit Hilfe einer intensiven Aufklärungsarbeit in Johannesbrunn wenigstens zu mehr Verständnis für die Probleme der anderen Seite kommen. [...] [Es] sei jedoch keineswegs eine optimale Lösung, ein kleines Dorf im Verhältnis von eins zu eins mit Menschen eines ganz anderen Kulturkreises zu mischen.«351 Insgesamt wird viel weniger über reale Vorkommnisse berichtet als über Befürchtungen, was alles passieren könnte. Diese werden zwar manchmal relativiert, werden aber dennoch kontinuierlich benannt und bleiben im Diskurs präsent. »Das ursprüngliche Wohlwollen der Bürger schwinde zunehmend, die Angst vor Fremden wachse und besonders Frauen fühlten sich manchmal schon bedroht, wenn auch oft unbegründet.«352 »Auch das Argument des Regierungsmannes, die 250 Asylanten [...] hätten sich bei ihren Mitbürgern doch tadellos eingeführt und die erwarteten Messerstechereien und Vergewaltigungen seien ausgeblieben, ließ die Kürner kalt.«353 »Von den ›rassistischen Äußerungen‹ des Abgeordneten Stein wollte sich die Bezirksausschußvorsitzende und SPD-Rätin Inge Deckert deutlich distanzieren. Es gehe nicht an, eine Bedrohung für Frauen und Kinder von der Tatsache abzuleiten, daß es sich um Ausländer und Analphabeten handle.«354 Es wirkt so, als ob die Ablehnung im medialen Diskurs mitverursacht und verstärkt wird, indem über mögliche Gefahren kontinuierlich berichtet wird.
3.5 Fazit In diesem Kapitel wurde die Entstehung und Entwicklung des Diskurses um den Asylmissbrauch betrachtet. Der Begriff und das damit verbundene Phänomen des Asylmissbrauchs werden erfunden und entwickeln sich anschließend sehr rasch zu einem Deutungsmuster des Misstrauens. Es kann schnell nicht mehr in Frage gestellt werden, dass es Asylmissbrauch wirklich gibt. Er wird verknüpft mit bestimmten Herkunftsregionen, Aussehen und Verhaltensweisen und suggeriert eine Eindeutigkeit in der Feststellung von politischer Verfolgung, zwischen echten und unechten Flüchtlingen. Die Konstruktion der Asylsuchenden im Diskurs führt zu einer Distanzierung und verhindert eine Einfühlung in die Lebensschicksale und -situation der Menschen. Stattdessen werden sie als gesichtslose Masse dargestellt, die sich am Wohlstand der Bundesrepublik und ihrem großzügigen Asylrecht bereichern möchte. Die Binarität zwischen echten und unechten Flüchtlingen ist ein wesentliches Element im Diskurs. Das Asylrecht wird in der Wahrnehmung zu etwas, das hohe Kosten verursacht und den inneren Frieden gefährdet. Seine Bedeutung als Schutzfunktion gerät völlig in den Hintergrund. 351 352 353 354
dpa, »Soviel Asylbewerber wie Dorfbewohner«. dpa, »CSU sieht sich bei Asylanten um«. Feldmann, »Der Flüchtling wird zum Schwarzen Peter«. Deffner, »Protest gegen geplantes Pakistani-Lager«.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
Zum Abschluss sollen die herausgearbeiteten Konstruktionen des Eigenen und Anderen zusammenfassend dargestellt werden. Im Diskurs zeigt sich die symbolische Bedeutung des Asylrechts für die Überwindung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Erfahrungen während des Nationalsozialismus als Entstehungsgrund für das Asylrecht verleihen diesem eine große Bedeutung. Die Erfahrung wird zum leeren Signifikanten, da diese sehr unterschiedlich definiert wird, von willkommener Aufnahme in anderen Ländern bis Abwehr. Es wird die Frage aufgeworfen, ob es nötig ist, das Asylgrundrecht von seiner Entstehungsgeschichte zu entkoppeln. Eine weitere zentrale Konstruktion des Eigenen ist Rechtsstaatlichkeit. Das rechtsstaatliche Verfahren wird als eine Ursache des Asylmissbrauchs betrachtet. Während in der FAZ Rechtsstaatlichkeit als Hindernis dargestellt wird, die Bundesrepublik in geeigneter Weise vor Zuwanderung zu schützen, wird in der SZ der Rechtsstaat als Garant für ein angemessenes Verfahren zur Überprüfung von politischer Verfolgung betrachtet. Somit berührt die Debatte um den Asylmissbrauch nicht nur das Asylgrundrecht, sondern auch die Rechtsweggarantie in Art. 19 GG. Jurist*innen, die darauf hinweisen, dass es aus juristischer Sicht keinen Asylmissbrauch gibt, finden kaum Gehör und Berücksichtigung im Diskurs. Auf der Mikroebene in Behörden, Gerichten und Unterkünften werden mit einer maximalen Dramatisierung die Folgen des Asylmissbrauchs versinnbildlicht. Es dominieren Beschreibungen von Kontrollverlust, Überforderung und Chaos. Es findet eine Einfühlung in die Situation der Angestellten statt, die Perspektive der Asylsuchenden bleibt unberücksichtigt. Sie bleiben eine gesichtslose Masse. In den Konstruktionen der Anderen dominieren wertende und dichotome Begriffe. Mit dem Asylmissbrauch sind besonders die Bezeichnungen Wirtschaftsflüchtling und Scheinasylant verbunden, die zunächst in Anführungszeichen genutzt werden und dann in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen werden. Wassermetaphern wie Flut und Strom betonen die Masse und rufen ein Bedrohungsgefühl hervor. Der Asylmissbrauch wird im Diskurs mit einer außereuropäischen Herkunft verbunden. Die Fremdheit und Differenz wird hergestellt über biologistische und kulturalisierende Beschreibungen. Außereuropäisch als Negation wird so zum Nicht-Europa, zur Leerstelle, die mit fehlender Verfolgung und anderen Zuschreibungen gefüllt werden kann. Pakistani sind zu Beginn des Untersuchungszeitraums der Prototyp des Asylmissbrauchs, die wissentlich oder durch Schlepper verführt Asylbetrug begehen. Um nach Deutschland zu kommen, würden sie sogar Frauen und Kinder verkaufen. Die Fremdheit der Neuankommenden verursacht Konflikte und es gibt Widerstand in der Bevölkerung und in den Kommunen, diese Fremden, die vielleicht gewalttätig und kriminell sind, aufzunehmen. Ausländerfeindlichkeit wird überwiegend negiert. Viele Aspekte, die später Gegenstand ausführlicherer Auseinandersetzung werden, sind im Diskurs schon vorhanden, wie etwa die Grundgesetzänderung (siehe Kapitel 7), Rechtsstaatlichkeit (siehe Kapitel 9.3.1) und Ausländerfeindlichkeit (siehe Kapitel 6.3.2). Das Sagbarkeitsfeld ist jedoch noch weit und es ist noch offen, wohin sich der Diskurs entwickeln wird. Hinsichtlich des Asylmissbrauchs hingegen lässt sich im untersuchten Material innerhalb kürzester Zeit eine Diskursverengung beobachten, die eine Infragestellung des Phänomens nicht mehr zulässt. Der Asylant ist tief in das kollektive Bewusstsein eingedrungen. Das Deutungsmuster des Misstrauens ist eines der fünf zentralen Deutungsmuster des Diskurses. Es setzt sich nicht nur bis in die 1990er Jahre fort,
3. Die Erfindung des Asylmissbrauchs
sondern ebnete auch den Weg für die Grundgesetzänderung. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit, das sich zur gleichen Zeit im Diskurs über die Boat People finden lässt, wird im nächsten Kapitel betrachtet.
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4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
Die Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge, die auch als Boat People1 bezeichnet werden, stellt je nach Perspektive eine Ausnahme oder einen Wandel in der deutschen Migrationsgeschichte dar. Sie waren die ersten Flüchtlinge aus dem Globalen Südens, die mit einer Anzahl von ca. 30.000 – 40.000 und breiter politischer Zustimmung und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in die Bundesrepublik aufgenommen wurden. Dabei wurde davon ausgegangen, dass die Vietnames*innen für immer in Deutschland bleiben würden, was nicht zuletzt die umfangreichen Integrationsförderungen zeigen. »Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab es eine Gruppe von Migrant_innen, die, ohne das Abstammungsprinzip ius sanguinis zu erfüllen, noch vor Betreten des deutschen Staatsgebietes das Anrecht auf unbefristete Bleibe und staatsbürgerliche Rechte und Pflichten erwerben konnten«.2 Dies geschah in einer Zeit, in der zum ersten Mal das Asylrecht verschärft wurde und in der Berichterstattung Asylmissbrauch und Wirtschaftsflüchtlinge dominierten. Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der beiden Migrationsbewegungen und vielmehr noch ihre Konstruktionen im Diskurs werden im Folgenden näher betrachtet. 1
2
Der Begriff Boat People reduziert die geflüchteten Menschen aus Vietnam auf ihre Fluchterfahrung über das Meer und hebt in emotionalisierender Weise die Hilflosigkeit und Rettungsbedürftigkeit hervor. Mit der Kursivsetzung möchte ich anzeigen, dass es nicht angemessen ist, Menschen dauerhaft als Bootsmenschen zu bezeichnen und ihre Fluchterfahrung zu betonen. Gleichzeitig hat es sich auch als Selbstbezeichnung etabliert. Der Fokus liegt auf den Konstruktionen und Zuschreibungen, die mit diesem Begriff verbunden sind. Alternative Begriffe sind »Vietnames*innen« oder »vietnamesische Flüchtlinge,« wobei damit auch die chinesische Minderheit aus Vietnam eingeschlossen ist. Dies zeigt, dass auch nationale Kategorisierungen nur eine Annäherung sind, Menschengruppen zu bezeichnen. Vgl. Kien N. Ha, »Rassismus Sucks – Eine Einleitung.« In Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and beyond, hg. v. Kien N. Ha (Berlin: Assoziation A, 2012), 9; Pipo Bui, »Stigma, Herkunftsnarrative und partielle Maskierung.« In Unsichtbar: Vietnamesisch-deutsche Wirklichkeiten, hg. v. Bengü Kocatürk-Schuster et al., 1. Auflage, Migration im Fokus Band 3 (Köln: Ed. DOMiD, 2017). Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.: Die Aufnahme der Boatpeople als migrationspolitische Zäsur.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 59 Hervorhebung im Original.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
Die bundesdeutsche Aufnahme fand erst in den letzten Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit und ist kaum in die deutsche Migrations- oder Erinnerungsgeschichte eingegangen, obwohl es deutliche Parallelen in der deutschen und vietnamesischen Geschichte gibt. Umfassendere Studien zu diesen Fluchtbewegungen beziehen sich auf die Aufnahme in die Vereinigte Staaten von Amerika (USA) oder Ostasien.3 Durch die deutsche Wiedervereinigung trafen mit den westdeutschen Boat People und den ostdeutschen Werkvertragsarbeitern zwei Gruppen von Vietnames*innen aufeinander, die sich hinsichtlich ihrer politischen Einstellung, ihrer Migrationsgeschichte und den Bedingungen im Aufnahmekontext stark unterschieden. Dies setzte sich auch nach der Wiedervereinigung fort, da die westdeutschen Vietnames*innen über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügten, was den ehemaligen Arbeitsmigrant*innen in der DDR lange verwehrt blieb. Erst 1997 wurde eine Bleiberechtsregelung beschlossen.4 Die deutschvietnamesische Geschichte »gehört zu einer der unverarbeiteten Geschichten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der deutschen Nachkriegsgeschichte ist es sehr verwunderlich, da die vietnamesische Community so stark mit der Geschichte dieses Landes verbunden ist, aber trotzdem gleichzeitig im kollektiven Gedächtnis kaum verankert. Gleichzeitig muss aber auch beachtet werden, dass nahezu keine einzige Migrationsgeschichte [...] als gemeinsame Geschichte verankert ist.«5 Aktuell leben etwa 167.000 Menschen mit vietnamesischer Migrationsgeschichte in Deutschland und stellen somit die größte Gruppe aus südostasiatischen Ländern dar.6 In den letzten Jahren wurde sowohl von vietnamesischen Organisationen7 , als auch im Kontext der Willkommenskultur nach 2015 in Medien und Wissenschaft die Aufnahme der Boat People aufgegriffen.8 Durch die Corona-Pandemie sind die Ausprägungen und 3
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Nghia M. Vo, The Vietnamese boat people, 1954 and 1975–1992 (Jefferson, N.C: McFarland & Co, 2006) Yuk Wah Chan, The Chinese/Vietnamese diaspora: Revisiting the boat people, Routledge Contemporary Asia Series (Milton Park, Abingdon, Oxon: Routledge, 2011); Sophia Suk-mun Law, The invisible citizens of Hong Kong: Art and stories of Vietnamese boatpeople, Bordertown thinker series (Hong Kong: Chinese Univ. Press, 2014). Nguyen Dan Thy, »Zwei Communities: Theorie und Erfahrung.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 309–10; Kimiko Suda, Sabrina Mayer und Christoph Nguyen, »Antiasiatischer Rassismus in Deutschland.« Aus Politik und Zeitgeschichte 70, 42–44 (2020): 42; Almuth Berger, »Nach der Wende: Die Bleiberechtsregelung und der Übergang ins vereinte Deutschland.« In Erfolg in der Nische? Die Vietnamesen in der DDR und in Ostdeutschland, hg. v. Karin Weiss und Mike Dennis, Studien zu Migration und Minderheiten Bd. 13 (Münster: LIT, 2005). Nguyen Dan Thy, »Zwei Communities.« In Unsichtbar, 304. Suda, Mayer und Nguyen, »Antiasiatischer Rassismus in Deutschland,« 41. Zum Beispiel vom Vietnam-Zentrum Hannover: Heiko Arndt, Vietnamesen in Deutschland: Geflohen, geworben, geeint (Hannover: IIK-Verl., 2012). Christina Rogers, »Von Vietnam zum Sommer der Migration: Eine Kontextualisierung deutscher ›Willkommenskultur‹.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635). Rupert Neudeck und Christel Neudeck, Hg., Was man nie vergessen kann: Erinnerungen vietnamesischer Bootsflüchtlinge (Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2017) Bettina von Clausewitz Zeitungsartikel z.B.: Benno Müchler, »Als Deutschland sein Herz für Boatpeople entdeckte.« Die Welt, 01.09.2015; Josef Joffe, »›Wir schaffen das‹ vor 37 Jahren.« Die Zeit, 15.02.2016; Jana Anzlinger, »Vietnamesische ›Boatpeople‹: ›Wir sind Deutschland so dankbar‹.« Süddeutsche Zeitung, 16.09.2018
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
Wirkungsweisen des antiasiatischen Rassismus stärker in den Blick geraten, die auch im Diskurs über die Boat People eine zentrale Rolle spielen.
4.1 Kontextualisierung 4.1.1 Fluchtbewegungen aus Vietnam Vietnam gehörte mit Kambodscha bis zum Zweiten Weltkrieg zur französischen Kolonie Indochina. Während der südliche Teil Vietnams Kolonie im eigentlichen Sinne war, standen die beiden anderen Teile nur unter französischem Protektorat. In den Unabhängigkeitskämpfen nach dem Zweiten Weltkrieg begann die USA Frankreich militärisch zu unterstützen. 1954 wurde bei den Genfer Friedensvereinbarungen eine Teilung des Landes beschlossen, der Norden gründete in Hanoi einen kommunistisch orientierten Staat, während in Saigon im Süden die Republik Vietnam ausgerufen wurde. Die kriegerischen Auseinandersetzungen gingen jedoch weiter. Der Norden wurde unterstützt durch die Sowjetunion, der Süden durch die USA und weitere westliche Mächte.9 So ging es nicht nur um Vietnam, sondern um den Einfluss der Großmächte in Asien. Die westliche Einmischung war in den USA selbst und auch in Deutschland umstritten. Dies zeigt, wie schwierig eine Beschreibung und Bewertung dieser komplexen Ereignisse zu dieser Zeit und auch im Nachhinein ist.10 Der Fokus liegt nun auf den Ereignissen, die die Fluchtbewegungen beförderten und beinhaltet daher eine bestimmte Perspektive in der Darstellung. Nach Abzug der amerikanischen Truppen verlor das südvietnamesische Regime und Saigon wurde am 30. April 1975 durch die kommunistischen Truppen eingenommen.11 Am 02. Juli 1976 wurde nach fast 30 Jahren Krieg um die Unabhängigkeit, Vorherrschaft und Einheit Vietnams die Sozialistische Republik Vietnam gegründet.12 Die daraufhin ausgelösten Fluchtbewegungen hatten vielfältige Ursachen auf sozioökonomischer, politischer und militärischer Ebene. Während 1975 direkt nach Ende des Krieges ein kleinerer Personenkreis aus Militär, Regierung und der südvietnamesischen Oberschicht floh, setzten ab 1978 mehrere größere Fluchtbewegungen ein, die durch unterschiedliche Entwicklungen ausgelöst wurden. Dabei war die Flucht immer eine Aushandlung, da es bedeutete, Familie, Freund*innen und Eigentum zurücklassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Viele hatten Vietnam bis dahin noch niemals verlassen und
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Nadine Mensel, Der Entwicklungsprozess der Sozialistischen Republik Vietnam: Erfolge und Herausforderungen durch staatlich gelenkte Entwicklung (Wiesbaden: Springer VS, 2013), Zugl.: Chemnitz, Techn. Univ., Diss., 2012, 127–32. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 152; Frank Bösch, »Engagement für Flüchtlinge: Die Aufnahme vietnamesischer ›Boat People‹ in der Bundesrepublik.« Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14, Nr. 1 (2017): 14; Frank Bösch, Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann (München: C.H. Beck, 2020), 199–200. Mensel, Der Entwicklungsprozess der Sozialistischen Republik Vietnam, 127–32. Uta Beth, Anja Tuckermann und Jörg Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹: Junge VietnamesInnen in Deutschland (Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, 2008), 12.
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sprachen keine Fremdsprache.13 Eine unmittelbare Fluchtursache war die Furcht vor der Einweisung in so genannte Umerziehungslager. Diese hatten einen gefängnisähnlichen Charakter, waren auf unbestimmte Dauer angelegt und beinhalteten sowohl Zwangsarbeit als auch politische Indoktrination.14 Mehr als 400.000 sowohl vermeintliche als auch tatsächliche Anhänger des südvietnamesischen Regimes wurden interniert, wie viele das Lager lebend verlassen durften, ist nicht bekannt.15 Als weitere Fluchtursache ist der gewaltsame Konflikt zwischen Kambodscha und Vietnam ab Dezember 1978 zu nennen. Zum einen flohen viele vor der Einberufung zum Militärdienst. Zum anderen floh ein Teil der chinesischen Minderheit in Vietnam aufgrund von Diskriminierung, weil China auf der Seite Kambodschas stand. Ende 1978 waren 70 % der Flüchtlinge chinesischer Herkunft. Weitere Fluchtgründe waren sozioökonomische Repressionen. Durch die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Enteignung von Unternehmer*innen wurden viele Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt. Zudem blieb vielen jüngeren Menschen der Zugang zum höheren Bildungssystem verwehrt, dafür reichte es aus, dass eine Person in der Verwandtschaft der letzten drei Generationen mit antikommunistischer Einstellung identifiziert wurde. Des Weiteren wurden alle religiösen Aktivitäten unter staatliche Kontrolle gestellt, sodass auch Geistliche, Mönche und Nonnen sich gezwungen sahen zu fliehen.16 Nicht zuletzt verursachten die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen Hungersnöte und eine Verschlechterung des Bildungs- und Gesundheitssystems. Durch die Zwangsumsiedelung hatten viele zwar ein Stück Land bekommen, verfügten aber über keine Erfahrung in der Landwirtschaft. Die große Vielfalt an Fluchtgründen spiegelte sich auch in der Heterogenität der Fluchtbewegungen wider, wobei die Minderheit der Chines*innen und die Mittelschicht aus den Städten tendenziell früher flohen als die ländliche Bevölkerung. 70 – 80 % der Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, fühlten sich dem Buddhismus zugehörig, 15 – 20 % dem Katholizismus.17 In der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurden die Flüchtlinge jedoch vor allem als Vietnames*innen wahrgenommen. Die Flucht über das Meer war aus verschiedenen Gründen gefährlich. Die Boote waren meist nicht hochseetauglich, in Küstennähe konnten sie von der vietnamesischen Polizei aufgegriffen und zurückgebracht werden, während sie auf dem offenen Meer von Piraten und Plünderern überfallen werden konnten. Hinzu kam ein Versorgungsmangel an Trinkwasser und Nahrungsmitteln aufgrund der langen Verweildauer auf dem Schiff. Nach dem internationalen Seevölkerrecht mussten Handelsschiffe Seenotrettung leisten und das Land, unter dessen Flagge das Schiff fuhr, war verpflichtet, die Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei blieb es Definitionssache, wann tatsächlich bereits Seenot vorlag oder dies bereits absehbar war.18 Nach Angaben des UNHCR flüchteten von 1975 bis 1995 13 14 15 16 17 18
Vo, The Vietnamese boat people, 1954 and 1975–1992, 73. Phi H. Su und Sanko Christina, »Vietnamesische Migration nach Westdeutschland: Ein historischer Zugang.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 12. Mensel, Der Entwicklungsprozess der Sozialistischen Republik Vietnam, 128. Martin Baumann, Migration – Religion – Integration: Buddhistische Vietnamesen und hinduistische Tamilen in Deutschland (Marburg: Diagonal-Verl., 2000), 29–30. Phi H. Su und Sanko Christina, »Vietnamesische Migration nach Westdeutschland.« In Unsichtbar, 14–22. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 32.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
knapp 800.000 Vietnames*innen als Boat People über das Meer in die Nachbarländer und fanden Aufnahme in anderen Ländern. Der größere Teil im Umfang von 550.000 verließ bis 1984 das Land. Weitere 43.000 flohen über Land nach Thailand.19 Die Zahl derer, die ihr Land verließen, liegt vermutlich wesentlich höher. Schätzungen gehen davon aus, dass 400.000 bis 500.000 Menschen bei der Flucht übers Meer starben.20 Gleichzeitig gab es auch große Fluchtbewegungen über Land aus Kambodscha und Laos, die jedoch kaum Aufnahme in die Bundesrepublik und Aufmerksamkeit im medialen Diskurs fanden und daher nicht näher erläutert werden. Mehr als 1,4 Millionen Menschen wurden in anderen Ländern aufgenommen, davon mehr als 800.000 in den USA, jeweils 137.000 in Kanada und Australien und 95.000 in Frankreich. Deutschland hat im Rahmen des offiziellen Resettlements des UNHCR 19.000 Menschen aufgenommen, insgesamt lag die Zahl bis Mitte der 1980er Jahre bei etwa 36.000 Menschen, bis zu Wende erhöhte sich die Zahl auf 45.000.21 Davon wurden knapp 10.000 von der privaten Rettungsinitiative Deutsche Not-Ärzte Komitee Cap Anamur22 gerettet und mithilfe staatlicher Strukturen nach Deutschland gebracht. Diejenigen, die nicht die Möglichkeit bekamen, in ein Drittland umzusiedeln, verblieben meist jahrelang in Lagern in Malaysia, Thailand, Hong Kong, Indonesien und auf den Philippinen ohne Zukunftsperspektive oder gesellschaftliche Teilhabe. Der Verbleib in den Nachbarländern wurde als Regionalisierung des »südostasiatischen Flüchtlingsproblem«23 bezeichnet und angestrebt. Die Nachbarländer Vietnams waren jedoch ab Juni 1979 nur noch mit Aufnahmegarantie eines Drittstaats bereit, vorübergehend Flüchtlinge aufzunehmen. Dort verbrachten sie meist drei bis sechs Monate, bis die Formalien geregelt waren.24
4.1.2 Aufnahme in die Bundesrepublik Die Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge wird zwar häufig als Erfolgsgeschichte erzählt, dennoch war auch die Bereitschaft zur Aufnahme nicht auf allen Ebenen und durchgehend gegeben. Vielmehr war es kontinuierlicher Aushandlung unterworfen und wurde nur durch das Engagement einzelner überhaupt möglich. Die Bundesrepublik verfolgte bis 1978 das Ziel, finanziell zu helfen, was charakteristisch für ihr Vorgehen hinsichtlich humanitärer Hilfe war und sie erklärte sich lediglich bereit, 3.000 Flüchtlinge aufzunehmen. In der internationalen und nationalen Presse waren jedoch die Situation der Boat People und die Bilder von überfüllten Booten 1978
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UNHCR, »The State of The World’s Refugees 2000 – Chapter 4.« 98, zuletzt geprüft am 23.02.2019. Beth, Tuckermann und Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹, 16. UNHCR, »The State of The World’s Refugees 2000 – Chapter 4,« 99. Beth, Tuckermann und Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹, 16–17; Phi H. Su und Sanko Christina, »Vietnamesische Migration nach Westdeutschland.« In Unsichtbar, 9,19 Das Komitee wechselte mehrmals seinen Namen, hier werden die Begriffe Komitee Cap Anamur oder nur Cap Anamur genutzt, da diese in der Öffentlichkeit auch am meisten vertreten waren. Sie beziehen sich auf den Namen des ersten Rettungsschiffs. Michael Blume, »Flüchtlinge aus Südostasien.« In Flucht und Asyl: Berichte über Flüchtlingsgruppen, hg. v. Andreas Germershausen und Wolf-Dieter Narr (Berlin: Ed. Parabolis Verl.-Abt. d. Berliner Institutes für Vergleichende Sozialforschung, 1988), 147. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 32.
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sehr präsent. Besonders wahrgenommen und berichtet wurde über das Schicksal der Menschen auf dem Schiff Hai Hong im November 1978. Das Schiffswrack, auf dem sich mehr als 2.500 Menschen befanden, trieb seit Wochen mit Motorschaden auf dem Meer und wurde zwar mit Wasser und Nahrungsmitteln vom Festland versorgt, bekam aber keine Anlegeerlaubnis von Malaysia. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht beschloss daraufhin, 1.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Sein Staatsekretär Wilfried Hasselmann übernahm die Organisation und flog, begleitet von 19 Journalist*innen nach Malaysia. Als er am 03. Dezember 1978 mit den ersten Flüchtlingen zurückkehrte, wurde die Ankunft am Flughafen medienwirksam inszeniert. Das Engagement Albrechts und die mediale Berichterstattung ebneten den Weg für ein größeres Engagement in Politik, Medien und Zivilgesellschaft. Bis heute gibt es in Hannover eine große vietnamesische Community und eines der größten buddhistischen Zentren in Europa mit der Pagode Vien Giac.25 Die oppositionelle Unionsfraktion drängte daraufhin Außenminister Genscher (Freie Demokratische Partei (FDP)) zur Aufnahme. Weitere CDU-Politiker*innen begannen sich zu engagieren und gründeten beispielsweise das Vietnam-Büro e.V., das politisches und zivilgesellschaftliches Engagement vermischte. Die SPD hingegen blieb eher zögerlich, da die Solidarität mit dem kommunistischen Regime in Vietnam lange vorherrschend war. Grundsätzlich lässt sich die Solidaritätsbewegung für die Boat People jedoch keiner klaren politischen Richtung zuordnen, was sie auszeichnet und vielleicht auch so erfolgreich machte.26 Neben den Aktionen von Politiker*innen gab es auch das Engagement zivilgesellschaftlicher Initiativen, wie die Rettungsaktionen durch das Deutsche Not-Ärzte-Komitee Cap Anamur und der Zeitung Die Zeit, die dazu beitrugen, dass eine größere Zahl von Flüchtlingen aufgenommen wurde und eine Weigerung politisch kaum noch möglich war.27 Da sich die Nachbarländer Vietnams im Juni 1979 weigerten, noch weitere Flüchtlinge aufzunehmen, wurde durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) am 20. – 21. Juli 1979 eine Indochinakonferenz einberufen. Dort wurde ausgehandelt, dass die Nachbarländer Flüchtlinge aufnehmen würden, wenn sich Drittstaaten zur vorübergehenden Aufnahme bereit erklärten.28 Insgesamt konnten 260.000 ResettlementPlätze gefunden werden. Unter dem internationalen Druck erklärte sich schließlich auch Deutschland bereit, 10.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Das Aufnahmeverfahren der Bundesrepublik war komplex. Da auch die Bundesländer zustimmen mussten, war die Aufnahme von Länder- und Parteiinteressen abhängig. Anstatt die Kontingente grundsätzlich zu erhöhen, wurde stets bei jeder Aufnahme neu verhandelt. Vietnamesische Flüchtlinge wurden aufgenommen, wenn bereits Familienangehörige in Deutschland waren, wenn es Arbeitsbeziehungen nach Deutschland gab oder bei Seenotrettung durch ein Schiff unter deutscher Flagge. Da der Umfang aller drei Kriterien
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Arndt, Vietnamesen in Deutschland, 7,18; Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 16–20. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 83–87. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 20–22. Michael Vössing, »Competition over Aid? The German Red Cross, the Commitee Cap Anamur, and the Rescue of Boat People in South-East Asia, 1979–1982.« In Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, hg. v. Johannes Paulmann, Studies of the German Historical Institute London (London, Oxford, New York: German Historical Institute; Oxford University Press, 2016), 345.
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schwer zu kalkulieren war, war die Aufnahme weiterer Flüchtlinge stark eingeschränkt. Diese wurden in den Aufnahmelagern der Nachbarländer durch die deutsche Botschaft und Hilfsorganisationen ausgesucht. Die Bundesländer hingegen forderten, selbst Flüchtlinge aussuchen zu dürfen, um mehr qualifizierte Personen aufzunehmen. Dies wurde jedoch verweigert und man versuchte, einen Querschnitt des Lagers hinsichtlich Alter, Bildung und Wartezeit in der Auswahl abzubilden. Die Ausreise wurde durch das Auswärtige Amt organisiert.29 In Deutschland kamen die Flüchtlinge zunächst in zentrale Durchgangslager und wurden dann auf die Kommunen verteilt. Integration, darunter Sprachförderung und Beihilfen zu Eingliederung, war von Anfang an ein elementarer Bestandteil der Aufnahme und stellte den größten Kostenpunkt dar. Es wurden in allen Bundesländern verbindliche und umfangreiche Sprachkurse eingerichtet, die allein 1979 mit knapp 200 Millionen Deutsche Mark (DM) veranschlagt wurden, anschließend mit weiteren 30 Millionen pro Jahr. Man ging davon aus, dass die Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland bleiben würden und bewertete Deutschkenntnisse als wichtige Voraussetzung und Investition für die soziale und berufliche Eingliederung. Obwohl sie als Kontingentflüchtlinge anerkannt waren, stellten viele Flüchtlinge Asylanträge, um die vollen sozialen Leistungen zu bekommen. Dies wurde am im August 1979 durch eine Gleichstellung mit anerkannten Flüchtlingen verändert, um die Asylverfahren zu entlasten. Somit bekamen auch die Kontingentflüchtlinge eine fünfjährige Arbeitserlaubnis und Anspruch auf Leistungen nach dem BAföG und Eingliederungshilfen.30 Mit dem »Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge«, das im August 1980 verabschiedet wurde und von allen Fraktionen mitgetragen wurde, wurden den Flüchtlingen ein unbefristeter Aufenthalt und eine langfristige Zukunftsperspektive in Deutschland ermöglicht. Auch wenn die Integrationsmaßnahmen und Gesetzesänderungen sich zunächst an vietnamesische Flüchtlinge richteten und sie daher eine politisch unterstützte und damit privilegierte Aufnahme erfuhren, profitierten auch andere Kontingentflüchtlinge und anerkannte Flüchtlinge von der Integrationsförderung und der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Flüchtlingshilfe.31 Im Jahr 1981 weigerten sich die Bundesländer, ihre Kontingente weiter zu erhöhen. Darin spiegelt sich die »doppelte migrationspolitische Strategie«32 der Bundesrepublik wider, die zwar humanitäre Hilfe leisten wollte, dennoch an dem Grundsatz festhielt, kein Einwanderungsland zu sein. Im Juni 1981 wurde daher beschlossen, dass eine Bergung durch systematische Such- und Rettungstätigkeit nicht zulässig ist und im März 1982 dahingehend ausgeweitet, dass nur bei einstimmiger Zustimmung der Bundesländer Seenotflüchtlinge aufgenommen werden würden. Im Juni 1982 musste auch die Cap Anamur ihre Arbeit aufgeben und fuhr mit den letzten 285 geretteten Flüchtlingen zurück nach Hamburg. Das Komitee begann jedoch Mitte der 1980er Jahre eine erneute
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Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 31–33. Ebd., 34–35. Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar, 56–9. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 36.
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Rettungsaktion, da weiterhin Vietnames*innen über das Meer flüchteten, dies medial jedoch sehr viel weniger wahrgenommen wurde.33
4.1.3 Das Engagement des Komitees Cap Anamur Die Geschichte der vietnamesischen Boat People und ihre Aufnahme in der Bundesrepublik lässt sich nicht ohne die Aktivitäten des Komitee Cap Anamur erzählen. Das Komitee hat nicht nur ein Drittel der aufgenommenen Boat People gerettet und dafür gesorgt, dass diese in Deutschland aufgenommen wurden, sondern spielte auch eine zentrale Rolle in der Aushandlung des nationalen Selbstverständnisses. Dabei brachte das Komitee Cap Anamur selbst seine Sichtweisen in den Diskurs ein und verstand es, sein Engagement medienwirksam darzustellen. Es wurde aber auch zu dem Kristallisationspunkt, anhand dessen das Eigene verhandelt wurde. Am Beispiel der Rettungsaktivitäten der Cap Anamur wurde ausgehandelt, welche Fluchtgründe legitim sind, wer das Recht haben soll, in die Bundesrepublik zu kommen, wer über dieses Recht entscheidet und was Humanität und moralische Verantwortung angesichts des Bekenntnisses als Nichteinwanderungsland bedeutet. Rupert Neudeck, der Gründer des Komitees Cap Anamur floh selbst mit sechs Jahren am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Danzig. Er promovierte über politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus und war als Journalist beim Deutschlandfunk tätig. Als er in Paris mit der dortigen Rettungsinitiative Un bateau pour Vietnam in Kontakt kam und zudem die Möglichkeit hatte, das Schiff der Initiative Ile de Lumière und die Flüchtlingsinsel Pulau Bidong vor der malaysischen Küste zu besuchen, beschloss er, selbst aktiv zu werden. Zunächst gab es Überlegungen, sich der französischen Initiative anzuschließen. Neudeck war jedoch davon überzeugt, dass ein neues, nationales Projekt mehr Spenden hervorrufen würde und gründete eine eigene Initiative. Diese nannte sich zunächst Deutsches Komitee Not-Ärzte. Relativ schnell setzte sich jedoch der Name Cap Anamur durch, weil so das erste Schiff hieß, mit dem das Komitee seine Tätigkeiten begann. Das Komitee Cap Anamur finanzierte sich fast ausschließlich aus Spenden und mithilfe von ehrenamtlichen Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Schiffspersonal. Sie begannen im September 1979 mit Krankenversorgung auf dem Schiff Cap Anamur in Pulau Bidong. Auf dem Rückweg retten sie die ersten Boat People und veränderten daraufhin ihre Zielsetzung. Ab Februar 1980 bis 1982 retteten sie 9.507 Menschen aus dem Meer und erwirkten eine Aufnahme in Deutschland, weitere 35.000 versorgten sie medizinisch auf dem Meer. In einer zweiten Aktion bis 1986 retteten sie weitere 888 Menschen.34 Das Komitee Cap Anamur folgte dem Prinzip der radikalen Humanität. Damit distanzierte es sich von politisch oder weltanschaulich geprägten großen Hilfsorganisationen mit der Behauptung, unpolitisch zu sein und auf schnelle und unbürokratische Art und Weise dort hinzugehen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Handlungsleitend war der Satz von Albert Camus: »Man muss wählen: Wissen oder Heilung«. Da33 34
Ebd., 38. Michael Vössing, »Competition over Aid?« In Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, 350–3.
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hinter steckte die Annahme, dass zu viel Wissen die Hilfe gefährde, wie etwa das Nachdenken über die Ursachen der Hilfebedürftigkeit oder der Erfolg von Hilfe. Es verhindere, die dringendsten Bedürfnisse wahrzunehmen. Daher ging der Ansatz der radikalen Humanität davon aus, dass der innere Impuls, Leben zu retten, in jedem Menschen aktiviert werden könne. Jedes individuelle Leben zähle und mache einen Unterschied. Fragen von Nachhaltigkeit, der Veränderung von Strukturen und des politischen Kontextes wurden ausgeblendet, wie etwa, was mit den Menschen nach ihrer Rettung passierte. Die Rettung von Menschen auf dem Meer bot sich dabei geradezu an, weil ohne viele Worte die Lebensbedrohlichkeit vermittelt werden konnte und das Schiff ein deutlicher Beweis des Handelns und eine überzeugende Lösung symbolisierten. Der Ansatz der Humanität stieß daher in Deutschland auch auf eine breite gesellschaftliche und überparteiliche Basis. 1979 wurden 6 Millionen DM, 1980 20 Millionen DM an das Komitee Cap Anamur gespendet, was Neudeck als Plebiszit für seine Tätigkeit wertete.35 Obwohl das Konzept und die Praxis als unpolitisch beschrieben wurden, waren Neudeck und die Initiative ein politischer Akteur in der Bundesrepublik, da sie bewirkte, dass die Aufnahmekontingente mehrere Male erweitert wurden. Politik kann als »an bestimmten Leitideen ausgerichtetes Handeln«36 beschrieben werden, woran deutlich wird, dass die Cap Anamur sehr wohl politisch war, weil sie bestimmte Leitideen vertrat und diese auch gegen Widerstand durch setzte. Sie stellte die Souveränität des Nationalstaats durch ihre Rettungsaktionen in Frage und konstruierte auf Basis der Spenden eine Art demokratische Legitimation. Auch von Seiten der Nachbarländer wurde die Rettung als ein politisches Handeln wahrgenommen, da es Vietnam erleichterte, destabilisierende Akteure leichter loszuwerden, die Nachbarländer zur Aufnahme verpflichtete und regionale Machtbalancen beeinflusste.37 Neudeck wusste die Logik der etablierten Massenmedien zu bedienen, Journalist*innen waren an Bord des Schiffes gern gesehene Gäste, Ärzt*innen berichteten nach ihrem Einsatz und die geretteten Flüchtlinge trugen Cap-Anamur-T-Shirts. Durch Schallplatten, Konzerte und Wohltätigkeitsveranstaltungen wurde die Rettungsaktion zudem in der Konsumgesellschaft verankert. Viele Zeitungen ermöglichten kostenlose Spendenaufrufe in ihren Zeitungen.38 All dies zeigt, dass das Handeln der Cap Anamur nicht nur humanitären Interessen folgte, sondern auch durch organisationale Eigeninteressen, Interessen einzelner Akteure, nationalen Interessen und Interessen der Spender*innen beeinflusst wurde. 1979 wurde in den Medien einstimmig positiv über die Aktion berichtet, obwohl oder weil keine Rettung auf dem Meer stattfand; direkt nach der Rettung der ersten Menschen auf dem Meer begann auch die Kritik. Diese beinhaltete zum einen den Vorwurf, Fluchtbewegungen erst hervorzurufen, zum anderen Menschen zu retten,
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Patrick Merziger, »The ›radical humanism‹ of ›Cap Anamur‹/›German Emergency Doctors‹ in the 1980s: a turning point for the idea, practice and policy of humanitarian aid.« European Review of History: Revue européenne d’histoire 23, 1–2 (2016): 173–75. »Politik. Online Wörterbuch Wortbedeutung.« Zuletzt geprüft am 04.06.2019, https://www.wort bedeutung.info/Politik/. Merziger, »The ›radical humanism‹ of ›Cap Anamur‹/›German Emergency Doctors‹ in the 1980s: a turning point for the idea, practice and policy of humanitarian aid,« 180. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 28.
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die nur aus wirtschaftlichen Gründen fliehen würden. Das Komitee Cap Anamur hatte aus der Perspektive der radikalen Humanität keine Antwortmöglichkeit darauf. Die Mitglieder des Komitees betonten, sie wüssten nicht, warum die Leute flöhen, sondern sähen nur die Not und das Leiden der Menschen. Man dürfe daher nicht wählerisch sein, noch könne man auf dem Meer eine Fallanalyse betreiben.39 Der Vorwurf der Sogwirkung entbehrte jeglichem Wissen. 1980 flohen laut Auswärtigem Amt 75.000 Menschen über das Meer, 5.223 wurden in Deutschland aufgenommen, davon wurden 5.068 von der Cap Anamur gerettet. Setzt man diese Zahlen nebeneinander, wird schnell klar, dass die Cap Anamur kaum als Pullfaktor für diese umfassenden Fluchtbewegungen bezeichnet werden kann.40 Die Herangehensweise der Cap Anamur rief dennoch widersprüchliche Reaktionen hervor und war insbesondere von etablierten Hilfsorganisationen und vielen Politiker*innen nicht gern gesehen. Es wurde ihr vorgeworfen, unqualifiziert zu arbeiten, Ereignisse zu verdrehen und durch ihre Rettungsfahren die Fluchtbewegungen erst mitzuerzeugen. Die Regierung zeigte sich erst kooperativ und ermöglichte eine enge Zusammenarbeit von Bürokratie und Zivilgesellschaft. Nach und nach wendete sich jedoch auch die politische Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Aus Angst vor negativer Presse ließ Außenminister Genscher die Cap Anamur jedoch verhältnismäßig lange gewähren.41 Besonders auffällig in der öffentlichen Debatte um das Engagement der Cap Anamur sind die gegensätzlichen Positionen von Rupert Neudeck und dem Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Jürgen Schilling. Das Deutsche Rote Kreuz, das mit den Schiffen Helgoland und Flora medizinische Hilfe und Versorgung mit Nahrungsmittel im südchinesischen Meer leistete, jedoch keine Menschen aufnahm, war einer der größten deutschen Wohlfahrtsverbände und finanzierte sich aus staatlichen Geldern und Spenden. Die Cap Anamur handelte aus Sicht von Schilling unprofessionell und unverantwortlich. Neudeck und Schilling standen jedoch nicht in Konkurrenz aufgrund ihrer Organisationen, sondern unterschieden sich zutiefst in ihrer Weltanschauung. Neudeck verstand sich als Humanist und Kosmopolit, der daran glaubte, dass durch spontane und unbürokratische Aktionen die Welt ein bisschen besser würde. Nationale Zugehörigkeit spielte für ihn dabei keine Rolle.42 Schilling hingegen vertrat eine rassistische und soziobiologische Sichtweise (siehe Kapitel 4.3.3).43 Es sei keine Lösung, Millionen auszugeben, um Asiat*innen in eine fremde Umgebung und Kultur zu bringen, stattdessen solle an regionalen Lösungen gearbeitet werden. Die Vietnames*innen seien genauso unfähig, sich in Deutschland zu integrieren wie pakistanische Asylbewerber*innen – eine Gruppe, die damals als besonders negativ hervorgehoben wurde (siehe Kapitel 39 40 41 42 43
Merziger, »The ›radical humanism‹ of ›Cap Anamur‹/›German Emergency Doctors‹ in the 1980s: a turning point for the idea, practice and policy of humanitarian aid,« 176. Michael Vössing, »Competition over Aid?« In Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, 360. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 29–30. Michael Vössing, »Competition over Aid?« In Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, 347–350,365. Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Erw. Neuausg., Erstausg., [4. Aufl.], Edition Suhrkamp Neue historische Bibliothek 1267 = N.F., 267 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996), 304.
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3.4.3). Er schlug vor, falls die Nachbarländer nicht bereit seien, Flüchtlinge aufzunehmen, könnten auch spezielle Territorien in der Region geschaffen werden. Die Politik sei lediglich unfähig und feige, die Migrationsbewegungen zu stoppen.44 Während der Konflikt sich zunächst daran entfachte, wie den Flüchtlingen am besten zu helfen sei, verlagerte sich dieser immer stärker auf eine grundsätzlichere Ebene der Einwanderungsund Migrationspolitik: »The debate on immigration, which initially formed a backdrop to the struggle between the aid organizations, had now come to the fore, pushing humanitarian concerns in the background«.45 Hier zeigt sich, wie das Paradigma des Nichteinwanderungslandes selbst bei der humanitären Aufnahme verhältnismäßig weniger Menschen kurze Zeit in den Hintergrund geriet und dann wieder wirkmächtig wurde.
4.2 Beschreibung des Diskurses 4.2.1 Das Deutungsmuster der Großzügigkeit Der Diskurs über die Boat People zeichnet sich aus durch die veränderte Rolle der Medien, die sich vom Berichterstatter zum politischen Akteur wandelten, die emotionalisierte Berichterstattung und die Ausblendung derer, die zurückblieben. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit bezog sich stark auf das eigene Selbstverständnis und die eigene Geschichte und stellte eine emotionale Nähe und Verbundenheit mit den Vietnames*innen her. Durch diese vielschichtige Kontextualisierung wurde es möglich, vom Selbstverständnis eines Nichteinwanderungslandes abzuweichen: »Die Entscheidung, Boatpeople aufzunehmen, stand zwar im Widerspruch zu der deutschen Migrationspolitik, die auf Einwanderungsabwehr ausgerichtet war, sie konnte aber über die beiden Faktoren der antikommunistischen Schicksalsgemeinschaft und dem humanitären Anspruch überlagert werden. Somit wurde eine Legitimation konstruiert, die dazu führte, Menschen ohne ethnischen oder historischen Bezug zum bundesdeutschen Staat aufnehmen und integrieren zu wollen.«46 Die Aufnahmebereitschaft hielt jedoch nicht auf Dauer an. Die damals sehr präsenten Argumentationsfiguren von wirtschaftlichen Fluchtgründen und einer Sogwirkung wurden auf die Aufnahme der Vietnames*innen übertragen und die Unterscheidung zwischen Asylanten und Boat People begann zu verschwimmen. Die Aufnahme der Vietnames*innen ist ohne mediale Berichterstattung und visuelle Darstellungen der Not und der Rettung nicht denkbar. Die große mediale Darbietung mit aufwühlenden Bildern trug wesentlich zur Emotionalisierung des Themas in der Öffentlichkeit bei und hatte einen großen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft. Das Schiff Hai
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Michael Vössing, Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik: Die Institutionalisierung der westdeutschen humanitären Hilfe während des Vietnamkriegs (1965–1973), Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018), 355–60. Michael Vössing, »Competition over Aid?« In Dilemmas of humanitarian aid in the twentieth century, 364. Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar, 53.
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Hong und die Flüchtlingsinsel Pulau Bidong wurden dabei zu Sinnbildern einer Tragödie, deren Darstellungen starke Emotionen von Mitleid, Ekel oder Empathie hervorriefen.47 Über die Ankunft der ersten Vietnames*innen wurde in fast allen Zeitungen ausführlich berichtet. Obwohl es eine vergleichsweise kleine Gruppe war, bekam sie eine große Medienöffentlichkeit. In den ersten Jahren der Aufnahme sorgte vor allem die Tätigkeit des Cap Anamur dafür, dass das Thema auf der Tagesordnung blieb.48 Ohne Medien wären die Flüchtlinge in der Bundesrepublik nicht wahrgenommen und letztlich nicht aufgenommen worden. Die Medien berichteten dabei nicht nur, sondern ergriffen Partei, warben um Unterstützung und wurden selbst zum politischen Akteur.49 Am deutlichsten wird dies an der Wochenzeitung ZEIT, die 2,2 Millionen DM Spenden sammelte und damit ein zusätzliches Aufnahmekontingent für 274 Menschen ermöglichte. Sie inszenierten dabei selbst die Ereignisse, über die sie exklusiv berichteten. Josef Joffe, damals Redakteur bei der SZ, beschrieb dies als Wechsel vom Beobachter zum Mitspieler: »Haben wir die kühle Objektivität des Beobachtens geopfert? Gewiss doch; wir haben auch Emotionen mobilisiert, was Journalisten eigentlich nicht tun sollten. Aber so wurde die ›Erfolgsstory‹ erst möglich.«50 Die Beschreibung als Erfolgsgeschichte oder auch als Paradebeispiel für Menschlichkeit ist nur glaubwürdig, wenn die Zurückbleibenden systematisch ausgeblendet werden. Deutschland nahm weniger als 1 % der Flüchtlinge auf.51 Es wurde nicht thematisiert: »Wer verdient Glück, wer nicht? Wer verdient Empathie, wer nicht?«52 Die Inszenierung der Rettung und das humanitäre Handeln in der Bundesrepublik standen im Vordergrund. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit knüpfte stark an das eigene Selbstverständnis an und gaben der Aufnahme eine positive Konnotation. In den medialen Bildern wurde die »Flüchtlingsaufnahme als gesellschaftlich zu bewältigen und als Narrativ mit positivem Ausgang visualisiert, welches zudem das eigene Gut-Sein, den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung und die eigene Überlegenheit in Form von Handlungsfähigkeit«53 bestätigte. Die Aufnahme wurde durch die Herstellung verschiedener Verbindungen gerahmt. Dazu gehörte der Antikommunismus, die Verbindung zu Ereignissen deutscher Geschichte, das Selbstverständnis der globalen Verantwortung des Westens und nicht zuletzt das Bild der Vietnames*innen, das in der deutschen Gesellschaft vorherrschte. Der Antikommunismus hatte sich bereits bei der Aufnahme der DDR-Flüchtlinge und der Ostblockflüchtlinge als legitimer Grund für die Aufnahme erwiesen. Die Boat People waren somit ein weiterer Beweis für die Missstände in den sozialistischen Ländern und die ethische Überlegenheit des Westens.54 Ministerpräsident Albrecht beschrieb die Auf47 48 49 50 51 52 53 54
Bengü Kocatürk-Schuster, »Die Wirksamkeit der emotionsgeladenen Berichterstattung über Pulau Bidong.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 49. Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar, 55. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 16, 23. Josef Joffe, »Flüchtlingshilfe: ›Wir schaffen das‹ vor 37 Jahren.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 69. Bengü Kocatürk-Schuster, »Die Wirksamkeit der emotionsgeladenen Berichterstattung über Pulau Bidong.« In Unsichtbar, 49. Ebd. Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 167. Christina Rogers, »Von Vietnam zum Sommer der Migration.« In Unsichtbar, 75.
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nahme der vietnamesischen Flüchtlinge als Verantwortung des Westens: »Ich meine, daß dies eine Frage an die ganze freie Welt ist. Es wäre eine Schande, wenn die freie Welt Menschen, die deshalb, weil sie auf der Seite des Westens gestanden haben, [...], wenn sie diese Menschen ihrem Schicksal überließen und niemand bereit wäre, sie aufzunehmen.«55 Die Aufnahme wurde auch in den Kontext einer Menschenrechtspolitik und einer globalen Verpflichtung des Westens gesetzt, bei dem symbolisch wirkmächtige Aktionen wie die Rettung auf dem Meer ins Bild passten. International wurde erwartet, dass Deutschland sich zur Aufnahme bereit erklärte. Nicht zuletzt war das Bild entscheidend, das in der deutschen Bevölkerung von den Vietnames*innen vorherrschte. Sie galten als fleißig und gebildet, zudem als glaubhaft politisch verfolgt und wurden daher als anpassungs- und integrationsfähig angesehen.56 Die Flucht der Boat People wurde zudem mit Ereignissen in der deutschen Geschichte verknüpft, wie mit den Schießbefehle an der deutsch-deutschen Grenze oder mit den Erfahrungen der Vertriebenen. Als weiterer medialer Faktor kann die US-Serie Holocaust benannt werden, die im Januar 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde und die einen emotionalen und persönlichen Zugang zur Verfolgung der Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus wählte. International wurde der Holocaust zum geschichtspolitischen Argument zu helfen und nicht die Geschichte der unterbliebenen Hilfeleistung zu wiederholen.57 So wurde das Auffanglager auf Pulau Bidong mit den Konzentrationslagern verglichen. Die Bilder des Leidens wurden zu bereits bekannten Leidensbildern in Beziehung gesetzt, wobei der Holocaust als Symbol für das am schlimmsten vorstellbare Verbrechen und für den Genozid stand. Die Vergleiche zeigen, wie stark das Leiden der Menschen auf dem Meer wahrgenommen wurde und eine persönliche Betroffenheit auslöste. Die Vergleiche stellen bestimmte Deutungen in den Vordergrund, die die Geschichte des Nationalsozialismus einseitig erzählt und auf Seiten der Opfer verortet. Sie erzeugen einen Handlungsdruck zu helfen. Grundsätzlich ist zu fragen, ob Vergleiche für menschliches Leid angemessen sind und ob sie zu einer Sensibilisierung und Empathie beitragen.58 Die emotionalisierte visuelle Darstellung des Leidens als Charakteristika des Diskurses wirft weitere Fragen auf: Welche Bedeutung und welche Folgen hat es, dass menschliches Leid medial vermittelt und übertragen wird? Was bedeutet es, Bilder von Grau-
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Am 24.11.1978 im heutejournal, zitiert in: Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar, 53. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge,« 22. Ebd., 25; Bösch, Zeitenwende 1979, 382–86. Lasse Heerten, »A wie Auschwitz, B wie Biafra: Der Bürgerkrieg in Nigeria (1967–1970) und die Universalisierung des Holocaust.« Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8, Nr. 3 (2011): 413; Kien N. Ha, »Die Ankunft der vietnamesischen Boat People.« Decolonizing Hamburg, zuletzt geprüft am 04.06.2019, https://hhpostkolonial.wordpress.com/2014/06/11/die-ankunft-de r-vietnamesischen-boat-people/; Kien N. Ha, »Die Ankunft der vietnamesischen Boat People. Konjunkturen und Anomalien einer exzeptionellen Flüchtlings- und Integrationspolitik.« In Asiatische Deutsche Extended: Vietnamesische Diaspora and Beyond, hg. v. Kien N. Ha, Erweiterte Neuauflage (Berlin, Hamburg: Assoziation A, 2021), 135.
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samkeiten zu betrachten und ist es möglich, diese zu erfassen und sich anzueignen?59 Die hervorgerufenen Affekte und Effekte von Bildern sind komplex und lassen sich nicht auf Mitgefühl und Erschrecken oder Gleichgültigkeit und Abstumpfen reduzieren. Die Konventionen von Bilddarstellungen werden auch durch einen kolonialen Diskurs bzw. einen kolonialen Blick strukturiert. Während in Bezug auf die eigenen Toten Diskretion gewahrt wird und sie nicht mit unverhülltem Gesicht gezeigt werden, wird diese Distanz in Ländern des Globalen Südens nicht gewahrt. »So besteht das postkoloniale Afrika im öffentlichen Bewusstsein der reichen Länder [...] hauptsächlich aus einer Abfolge unvergesslicher Fotos von Opfern mit weit aufgerissenen Augen. [...] Diese journalistische Gepflogenheit steht in der Tradition der jahrhundertealten Praxis, exotische – also kolonialisierte – Menschen auszustellen [...]; denn der andere, selbst wenn er kein Feind ist, gilt uns nur als jemand, den man sehen kann, nicht als jemand, der (wie wir) selbst sieht.«60 Die Bilder fokussieren nicht nur die Grausamkeit und die Machtlosigkeit der Ohnmächtigen, sondern reduzieren Menschen auch auf Fallbeispiele und nehmen ihnen ihre Individualität und Würde. Sie transportieren damit eine doppelte Botschaft, weil sie zum einen Leiden kritisieren, zum anderen es aber im Globalen Süden verorten und ihr mit der ständigen Reproduktion eine Gewöhnlichkeit und Unveränderbarkeit geben. Damit wird die Differenz zwischen dem Eigenen und Anderen verstärkt, das Leiden der Anderen wird normalisiert. Doch selbst Empathie und Mitgefühl konstruiere ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Eigenen und Anderen: »Wenn wir nun darüber nachdenken, welche Gefühle statt dessen wünschenswert sind, dann wäre es wohl zu einfach, sich für das Mitgefühl zu entscheiden. Die imaginäre Nähe zum Leiden anderer, die uns Bilder verschaffen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen, in Großaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden Leidenden und dem privilegierten Zuschauer, die in sich einfach unwahr ist – nur eine Täuschung mehr, was unsere wirklichen Beziehungen zur Macht angeht. Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und Ohnmacht.«61 Die Betroffenheit konstruiert damit eine Wir-Gruppe, die Mitgefühl empfindet und helfen will, jedoch stets auf der Seite der Opfer verortet ist. Als es technisch möglich wurde, im Krieg zu fotografieren, gab es die Hoffnung, dass durch die Darstellung von Kriegsfolgen Aufklärung betrieben werden könne und sich Krieg in Zukunft verhindern ließe. Diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet und macht auch deutlich, dass Erfahrungen sich nur bedingt visuell vermitteln lassen: »›Wir‹ – zu diesem ›Wir‹ gehört jeder, der nie etwas von dem erlebt hat, was sie durchgemacht haben – verstehen sie nicht. Wir begreifen nicht. [...] Wir können uns nicht vorstellen, wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist; und wie normal er wird.«62 Die Analyse zeigt, dass auch die mediale Bericht-
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Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten (München: Hanser, 2003), 111. Ebd., 84–86. Sontag, Das Leiden anderer betrachten, 118–19. Ebd., 146.
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erstattung über die Boat People dem menschlichen Leiden nicht gerecht werden kann, dass sie aber gleichzeitig zumindest kurzfristig sehr viel Hilfsbereitschaft mobilisierte.
4.2.2 Der Begriff Boat People und seine Funktion im Diskurs Die Bezeichnung der flüchtenden Vietnames*innen als Boat People trug zu einer bestimmen Wahrnehmung bei. Er stellte die existenzielle und lebensbedrohliche Notsituation der Menschen auf dem Meer in den Mittelpunkt. Weder der politisch-ideologischen Kontext noch die Fluchtgründe werden thematisiert. Es geht weder darum, woher die Menschen kommen, noch wohin sie gehen, weshalb sie nicht als Bedrohung empfunden werden. Der Begriff fokussiert die Momentaufnahme in einem Boot auf dem Meer als eine Art Zwischenraum. In diesem Zwischenraum sind die Menschen von der Welt im Stich gelassen worden und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt, sie warten ohnmächtig auf Rettung. Durch die Dekontextualisierung wirken sie, als wären sie staaten-, grenzen- und wurzellos, lediglich auf ihr Mensch-sein reduziert. Es wird dabei nicht angezweifelt, dass sie unverschuldet in diese Notlage geraten sind, stattdessen werden sie als Opfer dargestellt. Die Vorstellung, vom Ertrinken und Verdursten bedroht zu sein, weckt Urängste und Empathie für die Boat People und zeigt einen klaren Handlungsbedarf auf: die Rettung.63 Dabei sind nicht alle vietnamesischen Flüchtlinge über das Meer geflüchtet, sondern sie kamen teilweise auch über Familienzusammenführungen in die Bundesrepublik. Obwohl die Flucht über das Meer nur ein Aspekt der Fluchtgeschichte ist, wird sie dennoch zum zentralen Element. Dabei sind die Konnotationen mit dem Begriff durchaus unterschiedlich, während mit dem Begriff »thuyen nhan«, das heißt übersetzt, »die, die mit dem Boot flohen« die Flucht in die Geschichte der Vietnames*innen einging, ist der Begriff Boat People im deutschen kollektiven Gedächtnis vor allem mit den Rettungsfahrten der Cap Anamur verbunden.64 Damals wurde »eine heute immer wieder rekurrierte Figur der Zeitgeschichte geschaffen, die symbolisch für das Leid und ohnmächtige Warten auf eine Einreiseerlaubnis auf Frachtschiffen oder in überfüllten Lagern stand. Als die Boote kaum noch zählbar waren [...], etablierte sich der Begriff der ›Boatpeople‹ oder auch ›Bootsmenschen‹ bald in den Medien, auf politischer Ebene und bis heute im kollektiven Gedächtnis als Selbstzuschreibung«.65 Während die Visualisierung der Menschen als Boat People mit dazu beitrug, eine überparteiliche und gesellschaftlich breite Zustimmung zur Aufnahme zu ermöglichen, wurde
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Vgl. Bösch, »Engagement für Flüchtlinge« Pipo Bui, »Stigma, Herkunftsnarrative und partielle Maskierung.« In Unsichtbar; Kien N. Ha, »Rassismus Sucks – Eine Einleitung.« In Asiatische Deutsche; Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar; Lea Renard, »Mit den Augen der Statistiker: Deutsche Kategorisierungspraktiken von Migration im historischen Wandel.« Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15, Nr. 3 (2018). Pipo Bui, Envisioning Vietnamese migrants in Germany: Ethnic stigma, immigrant origin narratives and partial masking, Forum europäische Ethnologie 3 (Münster: Lit-Verl., 2003), Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2001, 98–99. Julia Kleinschmidt, »Eine humanitäre Ausnahmeleistung.« In Unsichtbar, 53–4.
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der Begriff später auch als Selbstbezeichnung genutzt und stellte unter den geflüchteten Vietnames*innen ein Gemeinschaftsgefühl und eine gemeinsam geteilte Geschichte her. Dies kann als ein »migrantisches Herkunftsnarrativ« beschrieben werden, welches die ganze Migrationsgeschichte vom Aufbruch, über die Erfahrungen auf der Flucht bis zum Ankommen umfasst: »Das Boatpeople-Narrativ nahm in den frühen 1980er Jahren Form an [...] Zum Ende der 1980er Jahre hatten ethnische und migrantische Organisationen einen narrativen Bogen entwickelt [...]. Anders ausgedrückt: Diese vietnamesischen Migrant_innen litten unbeschreiblich und waren dankbar dafür, ihre Erlösung im Westen zu finden«.66 Das Leiden und die Lebensgefahr, die Rettung und Integrationsmaßnahmen sowie die Dankbarkeit der Vietnames*innen sind dabei zentrale Elemente. Der Begriff Boat People hatte im Diskurs mehrere Funktionen. Zum einen wurde damit ein bestimmtes Bild transportiert, das die Aufnahmebereitschaft und Solidarität in der deutschen Gesellschaft stärkte. Er diente zugleich als Abgrenzung zu den eher negativen konnotierten Begriffen wie Asylant oder Asylbewerber. Im weiteren Verlauf etablierte er sich zudem als Selbstbezeichnung, welche die Anwesenheit und Teilhabe an der deutschen Gesellschaft legitimierte. In den 1990er Jahren, als Vietnames*innen im öffentlichen Diskurs verstärkt mit Zigarettenschmuggel in Verbindung gebracht wurden, diente das Narrativ auch der Abgrenzung und Rechtfertigung: »Sie stellen die Bewältigung beinahe unbezwinglicher Herausforderungen in den Vordergrund, um sich einen Platz in der Aufnahmegesellschaft verdient zu machen [...] und geben Antwort auf die Frage, die fortwährend von Angehörigen der Aufnahmegesellschaft denjenigen gestellt wird, die sie als anders identifizieren: ›Woher kommst du?‹«67 »Einzeln betrachtet dient jedes der Narrative dazu, einem deutschen Publikum zu erklären, wie es dazu kam, dass Leute aus Vietnam legitim in Deutschland leben.«68 Auf der einen Seite ist der Begriff ist stark emotional aufgeladen und wurde politisch instrumentalisiert. Er geht einher mit stereotypen Bildern und Viktimisierungen. Auf der anderen Seite beinhaltet er als Selbstbezeichnung als Aspekte von Selbstermächtigung und Selbstbestimmung und erinnert daran, dass es auf dem Mittelmeer und bei den Rohingya aus Burma bis heute Boat People gibt, die ihr Leben auf der Flucht riskieren bzw. verlieren.69
4.2.3 Zuschreibungen im antiasiatischen Rassismus Rassismus legitimiert »mithilfe von naturalisierten Gruppenkonstruktionen ökonomische, politische und kulturelle Dominanzverhältnisse«70 . Rassismus weist historisch 66 67 68 69 70
Pipo Bui, »Stigma, Herkunftsnarrative und partielle Maskierung.« In Unsichtbar, 186–7. Ebd., 179. Ebd., 189. Kien N. Ha, »Rassismus Sucks – Eine Einleitung.« In Asiatische Deutsche. Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, 27.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
und kontextuell verschiedene Ausprägungen und Formen auf, die ihre jeweilige spezifischen Dynamik, Artikulation und Verankerung in gesellschaftlichen Verhältnissen beinhaltet.71 Rassismus gegen asiatisch gelesene Menschen und die damit verbundenen Zuschreibungen entwickelten sich seit dem 13. Jahrhundert. Die Beschreibung asiatisch stellt dabei eine Homogenisierung von Menschen eines ganzen Kontinents dar, bei der bestimmte Länder aus Süd- und Ostasien stellvertretend für ganz Asien stehen. Der Rassismus, der sich aufgrund der Corona-Pandemie gegen asiatische Menschen verschärfte, macht deutlich, wie historische Konstruktionen und Zuschreibungen im Diskurs reaktualisiert werden. Das koloniale Narrativ der »Gelben Gefahr«72 wurde in der Geschichte auf verschiedene Phänomene übertragen, wie die Bedrohung durch chinesische Einwanderung in die USA, die Angst vor einer wirtschaftlichen Vormachtstellung oder die Entstehung und Verbreitung von Epidemien. 2020 wurden asiatische Lebens- und Essgewohnheiten als Ursache für die Entstehung des Corona-Virus dargestellt.73 Im Folgenden sollen die Charakteristika von antiasiatischem Rassismus näher beleuchtet werden. Um das Phänomen zu beschreiben und die verschiedenen Ausprägungen deutlich zu machen, werden auch rassistische Zuschreibungen genannt, um diese in der Analyse identifizieren zu können. In der Ausschreibung eines Kleinkunstabends wird die Erfahrung, asiatisch zu sein, wie folgt beschrieben: »Hier ist dein ›Lieblingsasiate‹, zurückhaltend und schüchtern. Ich weiß, es ist schon ›ne Weile her, dass ich mich gemeldet habe, aber ich hatte viel zu tun. Musste Blumen und Chinanudelboxen verkaufen, Nägel machen… und tagtäglich Leuten mein freundliches Lächeln servieren. Dein SUPER (EAST) ASIA halt. Naja, du gehst nicht ans Telefon ran – wie immer – willst meine Gedanken, Geschichten und Meinungen nicht hören, findest sie unwichtig. ES REICHT! Hier ist ›ne Nachricht für dich. Also hör mir zu…«74 Generelle Stereotype von Asiat*innen sind Zuschreibungen wie Freundlichkeit, Leistungsbereitschaft und Zurückhaltung. Sie »sind arbeitsam, freundlich und sehr reserviert«75 , »leise, bescheiden und hart arbeitend«76 sowie »fleißig, anpassungsfähig, höflich«.77 Eine Folge davon ist die im Zitat beschriebene Kommunikationsrichtung und Unsichtbarkeit, die Asiat*innen den Subjektstatus abspricht. Die Kehrseite der Anpassung und Freundlichkeit ist die Zuschreibung, undurchschaubar, trickreich und
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Miles, Rassismus, 104–7. Die Beschreibung von Asiat*innen mit der Farbe gelb geht vermutlich darauf zurück, dass chinesische Kaiser die Farbe gelb trugen und dies auf die Hautfarbe von Asiat*innen übertragen wurde. Gelbe Hautfarbe ist eine Konstruktion und gibt es genauso wenig wie rote, schwarze oder weiße Haut. Sebastian Bischoff, »Anti-Asiatischer Rassismus – was ist das?,« zuletzt geprüft am 09.02.2022, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/was-ist-anti-asiatischer-ras sismus/. Suda, Mayer und Nguyen, »Antiasiatischer Rassismus in Deutschland,« 39–42. »Voicemail #1: Spoken Word, Music and Comedy.« korientation e.V., zuletzt geprüft am 08.02.2022, https://www.korientation.de/voicemail-1/. Beth, Tuckermann und Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹, 15. Pipo Bui, »Stigma, Herkunftsnarrative und partielle Maskierung.« In Unsichtbar, 175. Marie Thérèse Bui Cong Tang, Die zweite Heimat: Zur Integration vietnamesischer Flüchtlinge in Frankfurt a.M. und Umgebung 1979 – 1994 (Freiburg i.Br.: Lambertus, 1996), 49.
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gerissen zu sein, sowie nicht ehrlich zu sagen, was sie fühlen oder denken.78 Im antiasiatischen Rassismus findet eine spezifische Form der Sexualisierung statt, in der Asiatinnen sexualisiert und infantilisiert werden, Asiaten hingegen desexualisiert und feminisiert.79 Auffällig ist in den Zuschreibungen, dass viele davon positiv konnotiert sind. Insbesondere die wiederkehrende Zuschreibung von Anpassungs- und Integrationsfähigkeit bedürfen als »kulturessentialistische Auffassungen einer kritischen Betrachtung«80 , weil auch diese Zuschreibungen homogenisieren und reduzieren. Die Annahme, dass sich »die positive Stereotypisierung des zurückhaltenden, höflichen, fleißigen Asiaten [...] in Deutschland erst vor wenigen Jahren etabliert«81 hat, lässt sich mit der Geschichte der Boat People leicht widerlegen. Während jedoch in den 1980er Jahren eher positive Stereotypisierungen dominierten, trat nach der Wiedervereinigung das Narrativ des vietnamesischen Zigarettenverkäufers in den Vordergrund und stigmatisierte alle Vietnames*innen zu Kriminellen. Die Beteiligung von Vietnames*innen am illegalen Handel von Zigaretten war jedoch unter anderem eine »Folge von Handlungen und Unterlassungen der Bundesregierung, die einen legalen Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis verwehrten«.82 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts veränderten sich die Zuschreibungen zu einem »strahlenden Beispiel gelungener Integration [...] Sie werden als fleißig, friedlich und gut an die Anforderungen der deutschen Gesellschaft angepasst gesehen.«83 Dazu hat vor allem der überdurchschnittliche Bildungserfolg vietnamesischer Schüler*innen im deutschen Schulsystem beigetragen.84 Dies wird auch als »model minority stereotype«85 beschrieben. Die Reduktion auf positive Stereotype stellt genauso wie negative Zuschreibungen eine Form von Diskriminierung dar, die Menschen in ihren Chancen und Handlungsmöglichkeiten einschränkt.86 Es stellt an Asiat*innen die Erwartung, überdurchschnittlich leistungs- und anpassungsfähig zu sein, um akzeptiert zu werden und dazuzugehören. Integration wird dann zu einem »paradoxen Phänomen«87 , da auf der einen Seite Forderungen der Angleichung formuliert werden, auf der anderen Seite diese Teilhabeversprechen nur zum Teil eingelöst werden können. Studien in den USA zeigen, dass 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87
Mita Banerjee, »Von Fröschen und Hunden: Soko Leipzig und das (V)erkennen der vietnamesischen Diaspora in Deutschland.« In Ha, Asiatische Deutsche (s. Anm. 635), 66. Suda, Mayer und Nguyen, »Antiasiatischer Rassismus in Deutschland,« 40. Phi H. Su und Sanko Christina, »Vietnamesische Migration nach Westdeutschland.« In Unsichtbar, 20. Tran Quynh, »Wenn positive Stereotypisierung reduziert.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 229. Pipo Bui, »Stigma, Herkunftsnarrative und partielle Maskierung.« In Unsichtbar, 180. Ebd., 174. Aladin El Mafaalani und Thomas Kemper, »Bildungserfolgreich trotz ungünstiger Rahmenbedingungen.« In Kocatürk-Schuster et al., Unsichtbar (s. Anm. 635), 217–8. Yuen-Yung S. Chan, »The heathen, the plague, and the model minority: Perpetual self-assessment of Asian Americans as a panoptic mechanism.« Critical Research on Religion, Nr. 3 (2021): 275. Tran Quynh, »Wenn positive Stereotypisierung reduziert.« In Unsichtbar, 235. Paul Mecheril, »Die Unumgänglichkeit und Unmöglichkeit der Angleichung: Herrschaftskritische Anmerkungen zur Assimilationsdebatte.« In Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft: Multikulturalismus – Neo-Assimilation – Transnationalität, hg. v. Hans-Uwe Otto und Mark Schrödter, Neue Praxis Sonderheft 8 (Lahnstein: Verl. Neue Praxis, 2006), 131.
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von Asiat*innen im Beruf Passivität und reibungsloses Funktionieren erwartet wird und sie daher weniger Chancen haben, eine Führungsposition zu bekommen.88 Somit ist die Einteilung in legitime und illegitime Flüchtlinge für beide Gruppen diskriminierend. Die Mehrheitsgesellschaft beansprucht die Deutungshoheit, Kategorisierungsprozesse vornehmen zu dürfen. Herkunftsländer werden mit bestimmten Eigenschaften verknüpft, die Gruppen werden homogenisiert und naturalisiert.89 Auch positive stereotype Zuschreibungen stellen eine Form der Grenzziehung zwischen Eigenem und Anderen dar und verhindern Individualität und Selbstbestimmung. Die Boat People wurden vor allem als eine Gruppe wahrgenommen, die Führung, Erziehung und Schutz brauche.90 »Auch eine positive Wahrnehmung im Einwanderungsland schützt nicht vor rassistisch motivierter Diskriminierung.«91 Dies wird sichtbar am Brandanschlag 1980 in Hamburg, bei dem zwei vietnamesische Flüchtlinge ums Leben kamen sowie an der rassistischen Gewalt in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Anfang der 1990er Jahre (siehe Kapitel 6). Die stereotype Beschreibung der gelungenen Integration ignoriert nicht nur die staatliche Integrationsförderung und die Aufnahmebereitschaft, die den Boat People im Gegensatz zu anderen Gruppen zuteil wurde, sondern auch die persönlichen Erfahrungen und den erlebten Rassismus der Vietnames*innen.92
4.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ Die Aussagenanalyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend sind. Es geht darum, »was (jeweils gültiges) Wissen überhaupt ist, wie jeweils gültiges Wissen zustande kommt, wie es weitergegeben wird, welche Funktionen es für die Konstituierung von Subjekten und die Gestaltung von Gesellschaft hat und welche Auswirkungen dieses Wissen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung hat.«93 Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen.94 Diese werden nun in Form einer Selbstaussage in der Sprache des Diskurses formuliert, bevor auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail eingegangen wird.
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Tran Quynh, »Wenn positive Stereotypisierung reduziert.« In Unsichtbar, 231. Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, 29. Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 167. Tran Quynh, »Wenn positive Stereotypisierung reduziert.« In Unsichtbar, 228. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 87. Siegfried Jäger, »Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse.« In Keller et al., Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (s. Anm. 42), 81. Laura Stielike, Entwicklung durch Migration? Eine postkoloniale Dispositivanalyse am Beispiel KamerunDeutschland, Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: transcript Verlag, 2017), 77.
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Die Aufnahme und Integration der Vietnames*innen erfolgt kontrolliert und geplant in mehreren Phasen.Von großer Bedeutung für eine gelungene Integration ist die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung.Wir bieten den Flüchtlingen Schutz,aber nur wenn sie politische Fluchtgründe haben. Wir können nicht alle aufnehmen, denn wir sind kein Einwanderungsland. Die Boat People waren auf ihrer Flucht auf dem Meer in Lebensgefahr.Bei der Ankunft in Deutschland entsteht der Eindruck, also ob sie aus einer ganz anderen Welt zu uns kommen und sie sehr viel Schreckliches erlebt haben. Sie zeichnen sich durch eine große Lern- und Integrationswilligkeit aus, brauchen aber umfangreiche Erklärungen, wie Deutschland funktioniert. Der Weg in die Selbstständigkeit ist schwierig.
Für die Analyse wurden 39 Artikel, davon 16 in der FAZ und 23 in der SZ analysiert. Die Mehrzahl ist zwischen Dezember 1978 und 1980 erschienen. Ab 1980, als die Diskussion um die Cap Anamur einsetzt, gibt es keinen Artikel über die Boat People, der sich nicht auch mit diesem Thema beschäftigt. Der Diskurs in den beiden Zeitungen überschneidet sich stark. Lediglich das Thema der Integration wird in der FAZ nur während des Ankommens aufgegriffen und nicht als längerfristiger Prozess gesehen und begleitet. Der Erfolg wird vorausgesetzt. In der SZ wird Integration stärker als ein Prozess gesehen und auch die Schwierigkeiten, Probleme der Überbetreuung bzw. Undankbarkeit von Seiten der Vietnames*innen werden thematisiert. Die Konstruktionen werden nun im Detail näher analysiert.
4.3 Konstruktionen des Eigenen 4.3.1 Integration als staatlich organisierter Vier-Stufen-Plan Bei der Aufnahme der Boat People wird im selben Zug über eine langfristige Integration nachgedacht. Integration beginnt direkt nach der Ankunft und wird verstanden als linearer und steuerbarer Prozess, der in mehreren Phasen durchlaufen werden kann. Die Vietnames*innen selbst sind nur Objekte dieses Prozesses, eine individuelle Gestaltung oder Mitbestimmung des Prozesses findet keine Berücksichtigung. Integration wird dabei kaum genauer definiert, es scheint für alle klar zu sein, was es bedeutet. Es gibt verschiedene Bewertungen, ob die Integration gelingen wird bzw. gelungen ist. Bei der Ankunft wird ein Plan gemacht, wie die Integration ablaufen soll. »Den Konstrukteuren des Vietnam-Plans schwebt eine Eingliederung in den Arbeitsprozess gegen Ende des Jahres 1979 vor. Es wird nicht leicht werden.«95 Dieser ist je nach Region unterschiedlich gestaltet, beinhaltet aber immer das Erlernen der deutschen Sprache, den Auszug aus den Gemeinschaftsunterkünften, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis hin »zur Sozialisation in unmittelbarer deutscher Umgebung«96 . »Seit zwei bis fünf Monaten sind sie in Deutschland unterwegs. Die erste Phase des bayerischen Drei-Stufen-
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Josef Schmidt, »Die vier Phasen für Familie Hua.« Süddeutsche Zeitung, 02.07.1979. Ebd.
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Plans zu ihrer Integration haben sie bereits hinter sich [...]. Ehe sie nach ein bis zwei Jahren in die Endphase mit der Fähigkeit, den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, gelangen, müssen sie die zweite Stufe des Planes – Sprach- und Integrationshilfe in Heimen – hinter sich bringen.«97 . »Deutsch sollten sie einigermaßen können, damit die Phase 4 erfolgreich abgeschlossen werden kann: Eingliederung in den Arbeitsprozeß‹«98 . Lediglich an einer Stelle wird genauer definiert, was Integration bedeutet: »Das Integrationsprogramm stützt sich auf die (den persönlichen, vorderhand illusorischen Rückkehrwünschen entgegengesetzte) Annahme, daß die Flüchtlinge für immer hierbleiben, daß man von ihnen aber keine vollständige Hinwendung zum Deutschtum erwarten kann. In ihrem Fall bedeutet Integration also nicht Anpassung oder Unterordnung, sondern soziale, materielle und mitmenschliche Eingliederung … unter Wahrung ihrer kulturellen und persönlichen Eigenart und Identität.«99 Selbst in diesem Definitionsversuch bleibt Integration ein sehr vager Begriff, der sowohl eine berufliche und gesellschaftliche Eingliederung vorsieht, aber keine Assimilation. Die so beschriebene kulturelle und persönliche Eigenart wird in den beschriebenen Integrationsplänen nicht erwähnt. Mitbestimmung und Gestaltungsspielraum ist nicht vorgesehen, stattdessen wird ein Plan für alle entwickelt, dessen Stufen nacheinander absolviert werden müssen. Zunächst wird die Integration – auch aufgrund der ersten Erfahrungen – mit guten Erfolgsaussichten beschrieben, was unter anderem auf die Eigenschaften der Vietnames*innen zurückgeführt wird. Die »Integrationsaussichten stehen nach den ersten Erfahrungen gut.«100 »Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung ist aufgrund von Erfahrungen davon überzeugt, daß eine dauerhafte Eingliederung der Indochina-Flüchtlinge ›ohne größere Schwierigkeiten gelingen wird‹.«101 »Was die Integrationsfähigkeit der Vietnamesen angeht, da ist Minister Hasselmann, [...] zuversichtlich. Er glaubt, ›daß alle rasch Fuß fassen werden‹ – worin er sich durch Lerneifer und Arbeitswilligkeit der Flüchtlinge bestärkt sieht.«102 Die bereits zu Beginn erzählte Geschichte einer erfolgreichen Integration wird anderen Zuwandergruppen gegenübergestellt, die sich nicht integriert haben. »Die Bundesrepublik, so lautet ein Grundsatz der offiziellen Politik in Ausländer- und Flüchtlingsfragen, sei kein klassisches Einwanderungsland [...] Gleichwohl hat sich die Bundesrepublik in den letzten 30 Jahren als ein ›Zuwandererland‹ bewähren müssen. Die Integrationsprobleme aus dieser Wanderungsbewegung [...] sind heute keineswegs gelöst.«103 Man müsse lernen, »aus den Erfahrungen, die mit deutschen Spätaussiedlern gemacht wurden: ›Wenn es an der Spra-
Hermann Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher.« Süddeutsche Zeitung, 15.09.1979. 98 Schmidt, »Die vier Phasen für Familie Hua«. 99 Hermann Unterstöger, »Bayern kein Paradies für Vietnamesen.« Süddeutsche Zeitung, 18.06.1982. 100 Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«. 101 Unterstöger, »Bayern kein Paradies für Vietnamesen«. 102 Wolfgang Teerstegen, »Vietnam-Flüchtlinge sollen sich bald wie zu Hause fühlen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.03.1979. 103 Martin E. Süskind, »Von Integration redet man später.« Süddeutsche Zeitung, 16.08.1979. 97
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che mangelt, kommen die Probleme unweigerlich später.‹«104 Somit würden die Vietnames*innen aufgrund ihrer positiven Eigenschaften und ihrer Anpassungsbereitschaft keine Ausländerfeindlichkeit hervorrufen: »Im übrigen treffe das Argument nicht zu, die Vietnamesen trügen an der wachsenden ›Ausländerfeindlichkeit‹ in der Bundesrepublik Mitschuld; gerade sie fügten sich rasch ein und seien bereit, unter jeder Bedingung zu leben.«105 Als Ursache von Ausländerfeindlichkeit wird hier das Verhalten der Ausländer gesehen und nicht die Einstellungen und Strukturen der Mehrheitsgesellschaft. Bedenken gegenüber der Erfolgsgeschichte tauchen zu Anfang nur vereinzelt auf. »So gut wie schön. Das Schicksal der Aufzunehmenden wird freilich, wie überall in der westlichen Welt, trist sein, denkt man allein an die sprachlichen Barrieren, die es außerordentlich erschweren, die Menschen zu integrieren, ihnen Arbeitsplätze zu beschaffen.«106 Zudem gäbe es »kaum Erfahrungen über die bestmöglichen Integrationsmöglichkeiten einer solch großen Anzahl von Flüchtlingen eines fremden Kulturkreises«107 . Die möglichen Probleme werden auf den »Wechsel in den neuen Kulturkreis«108 zurückgeführt und die Frage aufgeworfen, ob eine »Aufnahme in einem Land innerhalb ihres eigenen Kulturkreises«109 oder eine »asiatische Heimat«110 nicht eigentlich die bessere Lösung für die Vietnames*innen wäre. Der dominante Diskurs über kulturelle Differenz entsteht in den 1980er Jahren und ist gekennzeichnet davon, dass Migrant*innen nicht mehr nur unter ökonomischen Aspekten der Arbeitsmarktintegration wahrgenommen werden, sondern auch als kulturell Fremde, woraus Integrationsprobleme abgeleitet werden.111 Nachdem in den ersten Jahren der Eindruck entsteht, dass Deutschland Meister*in darin ist, Integrationsprozesse zu planen und zu strukturieren und Vietnames*innen erfolgreich (passiv) integriert werden, findet sich in der SZ 1980 auch Kritik an den Integrationsplänen und an der Integrationsfähigkeit der Vietnames*innen. Die Überbetreuung, Bevormundung und »Geborgenheit«112 der Aufnahmeunterkünfte verursacht nun Probleme, da sie den Weg in die Selbstständigkeit erschweren. »Bislang ist für ihn alles ziemlich glatt gelaufen. 24 Stunden am Tag wurden Nguyen und seine Familie im Heim mit allem Lebensnotwendigen versorgt. ›Sie brauchten nur das Licht anzudrehen und alles wurde bezahlt‹ – so umschreibt ein Beamter eines der Probleme der Vietnamesen
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Schmidt, »Die vier Phasen für Familie Hua«. Klaus Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik.« Süddeutsche Zeitung, 19.11.1981. Ernst Müller-Meiningen jr., »Keine Asyl-Show.« Süddeutsche Zeitung, 29.12.1978. gw., »Stadt nimmt weitere hundert Flüchtlinge aus Vietnam auf.« Süddeutsche Zeitung, 16.08.1979. hls., »Gründung einer Flüchtlingsstiftung angeregt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.1979. Thomas Meyer, »›Geisterstreit‹ um ›Geistermillionen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.1979. hls., »Gründung einer Flüchtlingsstiftung angeregt«. Thomas Höhne, Thomas Kunz und Frank-Olaf Radtke, Zwischenbericht Bilder von Fremden : Formen der Migrantendarstellung als der ›anderen Kultur‹ in deutschen Schulbüchern von 1981 – 1997, Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft, Reihe Forschungsberichte; 1 (Frankfurt a.M.: Inst. für Schulpädagogik und Didaktik der Elementar- und Primarstufe, 1999), 9; Siehe auch Tarek Badawia, ›Der dritte Stuhl‹: Eine Grounded Theory-Studie zum kreativen Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz (Frankfurt a.M.: IKO – Verl. für Interkulturelle Kommunikation, 2002). Jörg Brenner, »Ist das der Sommer in Deutschland? Die Vietnamesen im Lager Friedland.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.1979.
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auf dem Weg zur Selbstständigkeit.«113 »›Aber wenn die Schutzglocke weg ist, beginnen die Probleme‹, sagt ein Mitarbeiter des bayerischen Arbeitsministeriums.«114 »›Niemand kann nach einem Jahr frei schwimmen, wenn er sich bislang nur mit einem Rettungsring über Wasser gehalten hat‹, sagt ein Sozialbeamter zu den Schwierigkeiten beim Erreichen der dritten Eingliederungsstufe, die das Stehen auf eigenen Beinen vorsieht.«115 In den Zitaten klingt an, dass man den Vietnames*innen von Anfang an mehr Mitbestimmung, Verantwortung und Eigeninitiative hätte überlassen sollen, dann wäre nun der Schritt in die Selbstständigkeit auch nicht so schwierig. Der Diskurs über die Integration zeigt starke paternalistische Züge, der die Vietnames*innen als Objekte der Integration wie hilflose Kinder und nicht wie eigenständige Subjekte darstellt. Dadurch können sie als wenig bedrohlich und anpassungsfähig wahrgenommen werden. Für ein verweigertes Einwanderungsland ist der Diskurs um die Integration bemerkenswert, weil von einer Erfolgsgeschichte ausgegangen wird und Differenz in diesem Fall nicht im Vordergrund steht und kein Integrationshindernis darstellt. Stattdessen werden die förderlichen Eigenschaften für die Integration hervorgehoben. In diesem Verständnis lässt sich Integration, staatlich organisiert und gesteuert, innerhalb weniger Jahre vollziehen. Eine Auseinandersetzung, was Integration eigentlich konkret bedeutet und wie die Vietnames*innen das selbst sehen, findet nicht statt.
4.3.2 Hilfsbereitschaft der Bevölkerung als Naturereignis Ein weiterer Aspekt in der Konstruktion des Eigenen im Diskurs über vietnamesischen »Flüchtlinge« ist die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Die Hilfsbereitschaft, die als materielle und persönliche Unterstützung geleistet wird, wird als notwendige Bedingung für die Integration dargestellt. Gleichzeitig wirkt sie wie ein Naturereignis, welches nicht von außen beeinflussbar ist. Eine grundlegende Annahme ist die Hilflosigkeit der Vietnames*innen und die großen Unterschiede in der vietnamesischen und deutschen Lebensrealität. Daher sei der Unterstützungsbedarf für die Vietnames*innen, sich hier zurecht zu finden sehr hoch und es brauche von deutscher Seite viel Verständnis und Geduld. Hilfsbereitschaft wird als eine zentrale Voraussetzung dargestellt, damit die Aufnahme und Integration gelingen kann: »Eine positive Einstellung und der Wille zur Mithilfe bei der Integration dieser Flüchtlinge muß vor allem aus der Bevölkerung kommen.«116 »Zwar bestehe [...] die berechtigte Aussicht auf eine erfolgreiche Integration, doch bleibe das Verständnis und die Mithilfe der Bevölkerung der wichtigste Faktor für die Eingliederung.«117 »Entscheidend für die Eingliederung habe sich dabei – neben dem Sprach-
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Sabine Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring: Nach dem Abebben der großen Welle von Anteilnahme ist das Leben der früheren Boat people in der neuen Heimat von Hilflosigkeit geprägt.« Süddeutsche Zeitung, 30.12.1980. Ebd. Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«. Ebd.
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unterricht – vor allem das notwendige Verständnis in der Bevölkerung erwiesen, ›ohne das die Flüchtlinge einfach nicht weiterkommen.‹«118 Zu Beginn der Aufnahme wird stets betont, wie groß die Hilfsbereitschaft ist. »An der Bereitschaft, den Vietnamflüchtlingen zu helfen, scheint es hierzulande nicht zu mangeln. Täglich sind neue Nachrichten über private und öffentliche Initiativen zu vernehmen.«119 »Das ›Vietnam-Büro‹ berichtet von einer großen Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung und Initiativgruppen in den Städten und Gemeinden.«120 »Die Hilfsbereitschaft der Bürger der Bundesrepublik sei vorbildlich.«121 »Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist groß, wenn auch nicht immer wirkungsvoll«.122 In der FAZ wird nur am Anfang und auf sehr positive Art und Weise über die Aufnahme und Integration berichtet, sie thematisiert kaum die Schwierigkeiten, die erst im Laufe der Zeit bei der Eingewöhnung entstehen. In der SZ hingegen werden die Möglichkeiten der Hilfsbereitschaft und der notwendige lange Atem bereits zu Beginn in Frage gestellt: »Zu fragen ist also: Wird der Hilfs- und Aufnahmebereitschaft angesichts von Not und Elend ein vergleichbares Maß an Integrationsbereitschaft folgen?«123 Später tritt genau das ein, was damals befürchtet wurde: »›Die spontane Hilfsbereitschaft ist weg‹, hat man in Landshut nach der ersten Euphorie registrieren müssen.«124 Euphorie ist verbunden mit den Worten Ausgelassenheit und Leidenschaft, wird aber häufig im negativen Sinne wie hier genutzt: Euphorie verfliegt, wird gedämpft, ist übertrieben oder fehl am Platz.125 Hilfsbereitschaft wird in beiden Zitaten als eine Affektreaktion auf das durch die Medien sichtbar gemachtem Leid beschrieben und nicht als bewusste und nachhaltige Reaktion, die aus innerer Überzeugung geschieht. Hilfsbereitschaft wird sowohl in ihrer Anwesenheit als auch in ihrer Abwesenheit als etwas wahrgenommen, das einfach geschieht und weder beeinflussbar noch steuerbar ist. Sie wird beschrieben als »Welle der Hilfsangebote«126 , die nicht abebbt, als eine »großen Welle von Anteilnahme«127 , die sichtbar wird.128 Es wird jedoch an keinem Punkt diskutiert, wie diese Hilfsbereitschaft, die als entscheidende Voraussetzung für die Integration dargestellt wird, gefördert oder erhalten bleiben kann, sie wird mehr als Naturereignis betrachtet. Es wird jedoch eine Wechselwirkung zwischen der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und dem Verhalten derjenigen, denen die Hilfe zuteilwerden soll, beschrieben: »Dabei wird die Hilfsbereitschaft umso größer, je mehr man die Dankbarkeit und die 118
George Deffner, »Schutzpatrone der Südasiaten: Erster Tätigkeitsbericht des Münchner Vereins BA VI.« Süddeutsche Zeitung, 26.02.1980. 119 Süskind, »Von Integration redet man später«. 120 ckn., »Schnelle Aufnahme der Flüchtlinge möglich.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.1979. 121 hls., »Gründung einer Flüchtlingsstiftung angeregt«. 122 Thea Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.1979. 123 Süskind, »Von Integration redet man später«. 124 Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. 125 Universität Leipzig, »Wortschatz Leipzig: Euphorie.« Zuletzt geprüft am 01.03.2022, http://corpor a.informatik.uni-leipzig.de/de/res?corpusId=deu_newscrawl_2011&word=Euphorie. 126 Teerstegen, »Vietnam-Flüchtlinge sollen sich bald wie zu Hause fühlen«. 127 Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. 128 Wolfgang Teerstegen, »Viele wollen den Flüchtlingen aus Vietnam helfen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1978.
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Bescheidenheit der Flüchtlinge erkennt. Kaum ist aus ihnen herauszufragen, was sie am nötigsten brauchen.«129 »Rosenbauer lobte die allgemein große Bereitschaft der Südostasien-Flüchtlinge zur Integration. Sie hätten sich als anpassungsfähig und zuverlässig erwiesen und sich auf die Schwierigkeiten, die sie erwarteten, eingestellt. Dazu habe auch die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung beigetragen, die jetzt aber nachlasse.«130 Das Ausmaß der Hilfsbereitschaft kann erhalten bleiben, wenn die Vietnames*innen dankbar, anpassungsfähig, zuverlässig und bescheiden sind und keine eigenen Forderungen stellen oder Erwartungen entwickeln. Die Hilfsbereitschaft setzt sich aus mehreren Aspekten zusammen. Zum einen sind materielle Hilfen zu nennen: »Sieht man einmal von den seelischen Belastungen ab, so hat Nguyen doch wenigstens materiell nicht notleiden müssen.«131 Es geht sowohl um Geldspenden, die in außerordentlich großer Zahl auf verschiedenen Hilfskonten eingehen, als auch um Spenden von Kleidern, Möbeln sowie technischen Geräten. »Eine Schulklasse bringt Spielzeug. Eine Firma liefert zehn neue Fahrräder ab«.132 Die Bereitschaft, Kleider zu spenden ist so groß, dass in den Zeitungen ausschließlich darüber berichtet wird, dass bereits genug Kleiderspenden eingegangen sind: »Mehr als zweihundert Zentner warme Kleider warteten schon, als die Gäste Mitte Dezember eintrafen.«133 »Freiwillige in der ›Kleiderkammer‹ sind glücklich, als die Verteilung beginnt – sie können die Masse der Spenden kaum noch unterbringen. Im Kreuzgang stapeln sich Möbel. Wer erst auf eigenen Füßen steht, kann eine Einrichtung mitnehmen.«134 Zu helfen und etwas Menschlichkeit zu zeigen wird damit ganz leicht: »Menschlichkeit im Kleinen kann von jedermann geübt werden: Mit einer Nähmaschine für Tran Thi Xuan Huong, mit einem Fernsehgerät für Diep Kim Hoang oder mit einem Fußball für die Jungmannschaft von der Ringstraße 14.«135 Die Spenden werden im Diskurs überwiegend positiv bewertet. Es gibt jedoch auch Artikel, wo sie ironisch-distanziert mit dem Begriff der »Nächstenliebe« verknüpft werden und in Frage gestellt wird, wie viel Nächsten- oder Eigenliebe wirklich dahinter steckt: »Sicherlich sei es auch nicht leicht, christliche Nächstenliebe zu praktizieren, wenn man mit ansehen muß, wie in den örtlichen Radiogeschäften von den Flüchtlingen teure Stereoanlagen erworben werden, wo man doch gerade geglaubt habe, ein großes Werk der Barmherzigkeit getan zu haben, indem man einen abgetragenen Wintermantel spendet.«136 »Die Angst, in Sachen Nächstenliebe von der Konkurrenz überrundet zu werden, und das Wissen um die Werbewirksamkeit von Geschenkaktionen haben nämlich bei den Landshuter Kaufhäusern geradezu einen Wettbewerb der Hilfsbereitschaft bewirkt«137 .
Jutta Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.1979. 130 Martin Rehm, »Flüchtlinge aus Vietnam wollen Fuß fassen.« Süddeutsche Zeitung, 16.06.1981. 131 Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. 132 Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen«. 133 Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. 134 Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen«. 135 Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«. 136 Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. 137 Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«.
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Neben materieller Hilfe sind weitere Aspekte der Hilfsbereitschaft die persönliche Unterstützung und der Kontakt zwischen Einheimischen und vietnamesischen Flüchtlingen. Darüber wird deutlich weniger berichtet und es wird auch unterschiedlich ausgelegt, ob diese Unterstützung ausreichend vorhanden ist. »›Wir haben soviel menschliche Wärme erfahren‹, sagt einer der vietnamesischen Sprecher an einem Dankabend, zu dem die Flüchtlinge eingeladen haben.«138 Die Bedeutung des Kontaktes mit der Bevölkerung geht soweit, dass durch ihren Kontakt sogar Traumatisierungen abgebaut werden können. »Um das Trauma abzubauen, wird in Aachen eine möglichst weitgehende Zusammenarbeit mit der Bevölkerung gefördert.«139 Ein Deutsch-Vietnamese, der schon lange in Deutschland lebt, sieht gerade persönliche Unterstützung als notwendig an. Technische Geräte und ein hoher Lebensstandard seien nicht das Wesentliche, sondern könnten zu Desorientierung führen. »Psychologische und menschliche Unterstützung und Hilfeleistung fehlt, die behutsame Vorbereitung auf die neue Umgebung. [...] Was sind materielle Güter, wenn man die geistige Basis verloren hat [...] Wenn meine Landsleute sich selbst überlassen bleiben, beginnen sie aus Unwissenheit die Technologie anzubeten.«140 Ausgangspunkt für den großen Bedarf an Unterstützung ist, dass es eine angenommene Differenz zwischen der Lebensrealität der Vietnames*innen in ihrem Heimatland und der Lebensrealität in Deutschland gibt, die alle Lebensbereiche umfasst. Alles funktioniert anders, alles erfordert eine Einweisung und Erklärung: »Drei Monate sind eingeplant, um die Neubürger einzugewöhnen. Nicht nur Sprachkenntnisse sind zu vermitteln. Die Warnung vor Ratenkäufen ohne finanzielle Sicherheit gehört ebenso zur Schulung wie der Umgang mit deutschen Ämtern, Hygieneeinrichtungen, die Selbstbedienung in den Läden.«141 »Nguyen bekam auch Unterricht in ›deutscher Lebensweise‹: Man zeigte ihm, wie man einkauft und ein Bankkonto eröffnet, warnte ihn vor Kreditaufnahme ohne Absicherung und vor Vertretern, die ihm einen Kaufvertrag unterjubeln wollen, den er später vielleicht nicht erfüllen kann.«142 . Grundsätzlich kann anscheinend nicht davon ausgegangen werden, dass die Vietnames*innen in der Lage sind, Transferleistungen von ihren Erfahrungen auf den deutschen Kontext selbst zu vollziehen, im Gegensatz zu beispielsweise den Pol*innen, die schneller aus der staatlichen Obhut entlassen werden. »Aber jene aus Polen werden nach einer knappen Woche Friedland verlassen. Die Vietnamesen bleiben noch bis Ende September. Draußen wären sie hilflos. Alles ist für sie fremd, vor allem die Sprache, viele können nicht einmal Englisch.«143 Die umfassende Einweisung kann nicht von professionellen Fachkräften allein gestemmt werden, sondern erfordert die Mithilfe der Bevölkerung. Wesentlich für jegliche Form der Unterstützung ist »ausdauerndes«144 und »notwendiges«145 Verständnis und Geduld, da Integration ein längerer Prozess ist. In dem 138 Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. 139 Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen«. 140 Ekkehard Müller-Jentsch, »Menschen in München. Ein Vietnamese will Landsleuten helfen.« Süddeutsche Zeitung, 15.02.1980. 141 Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen«. 142 Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. 143 Brenner, »Ist das der Sommer in Deutschland?«. 144 Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«. 145 Deffner, »Schutzpatrone der Südasiaten«.
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vorliegenden Integrationsverständnis bleiben die Vietnames*innen Objekte des von der Aufnahmegesellschaft vorgegebenen Integrationsprozess.
4.3.3 Radikale Humanität und die Grenzen der Aufnahmebereitschaft Im Diskurs über die Boat People nimmt die Tätigkeit der Cap Anamur einen zentralen Platz ein. Die ausführliche Berichterstattung von der Aktivität der Cap Anamur im südchinesischen Meer beginnt in beiden Zeitungen 1980. Bereits zu dieser Zeit wird in Frage gestellt, ob eine solche Hilfe positiv oder problematisch zu bewerten ist. Die Diskussion um legitime Fluchtgründe und eine mögliche Sogwirkung durch die Cap Anamur ist nicht nur ein Grund, warum überhaupt so intensiv über die Tätigkeit berichtet wird. Vielmehr wird anhand der Cap Anamur das gesellschaftliche Selbstverständnis zwischen Humanität und Grenzen der Aufnahmebereitschaft ausgehandelt. Daher liegt der Fokus nun auch nicht auf der Tätigkeit der Cap Anamur, sondern auf den dabei sichtbar werdenden Aushandlungen des Eigenen. Zunächst gab es eine hohe Identifikation mit der Aufnahme der Boat People, weil es das Selbstbild von Menschlichkeit und moralischer Verantwortung bestätigte. Es »lief eine ›Welle der Hilfsbereitschaft‹ durch das Volk. Spenden in Millionenhöhe gingen auf dem Konto des Komitees ein, und Politiker bis hinauf zum Bundeskanzler priesen sich glücklich, in einem Land zu leben, das diese Menschen vor dem Tod des Ertrinkens rette und ihnen Asyl gewähre.«146 Das Paradigma des Nichteinwanderungslandes kann kurze Zeit außer Kraft gesetzt werden, bis sich ab 1980 immer mehr Kritik entwickelt. Sie bezieht sich zum einen auf den Verdacht, die Flüchtlinge hätten gar keine legitimen, sondern nur wirtschaftliche Fluchtgründe und die Rettungsaktionen der Cap Anamur würden Fluchtbewegungen erst hervorrufen. Des Weiteren wird betont, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, die Aufnahmekapazitäten begrenzt seien und das Engagement der Cap Anamur die staatliche Souveränität übergehe. Nicht zuletzt tragen föderale Konflikte zu einer Beendigung der Hilfe bei, weil der Bund auf die Aufnahmebereitschaft der Bundesländer angewiesen ist. Anhand der Diskussion um die Cap Anamur werden verschiedene Aspekte des nationalen Selbstverständnisses ausgehandelt: wann und wie Deutschland verpflichtet ist zu helfen, welche Not und welche Fluchtgründe dabei legitim sind, inwiefern Aktionen geduldet werden können, die die staatliche Souveränität in Frage stellen, welche Art von Hilfe geleistet werden soll und woher die Legitimation dafür kommt. An einigen Stellen werden Überschneidungen zum Diskurs über den Asylmissbrauch deutlich, wie etwa bei der Frage nach legitimen Fluchtgründen, nach fehlenden Unterbringungskapazitäten und fehlenden finanziellen Mitteln der Länder sowie der Sorge vor Entstehung von Ausländerfeindlichkeit. Eine zentrale Figur ist der DRK-Generalsekretär Jürgen Schilling, der die Ansichten des Heidelberger Manifests, wie die »Unterwanderung des deutsche Volkes«147 vertritt und sich gegen jegliche Aufnahme fremder Flüchtlinge sich positioniert. Obwohl die Vorwürfe von Rupert Neudeck vehement zurückgewiesen werden und auch in den Zeitungen in Frage gestellt werden, lassen sich
146 Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. 147 o. A., »Heidelberger Manifest.« Die Zeit, 05.02.1982.
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die Zweifel im Diskurs nicht mehr auflösen. Im November 1981 endet die Bereitschaft der Bundesrepublik, weitere Boat People von der Cap Anamur aufzunehmen. Die Delegitimierung der Rettungsaktionen erfolgt über die Vermutung wirtschaftlicher Fluchtursachen und einer Sogwirkung durch die Cap Anamur. Den Flüchtlingen, die schon früher geflohen sind, werden politische Fluchtgründe zugeschrieben, den späteren jedoch nur wirtschaftliche. »Während jene, die bei den ›Flüchtlings-Wellen‹ seit dem Jahre 1978 kamen, [...] politische Flüchtlinge waren, ist eine solche Kennzeichnung heute nicht mehr so eindeutig zu treffen.«148 »Schließlich wurde bemängelt, [...] es handele sich seit einiger Zeit um ›Wirtschaftsflüchtlinge‹, nicht um solche politischer Art.«149 In den meisten Fällen wird die Einteilung jedoch zurückgewiesen: »Angesichts der Gefahren, in die sich die Flüchtlinge begäben, sei auch eine Teilung in ›politische‹ und ›wirtschaftliche‹ kaum möglich.«150 »Mißtrauisch werden Flüchtlinge aus Vietnam eingeteilt in wirtschaftliche und politische, in ehrbare Leute und Ganoven.«151 »Und spätestens seit der aberwitzigen Differenzierung zwischen ›politischen Flüchtlingen‹ und ›Wirtschaftsflüchtlingen‹ wird darüber Klage geführt, daß das Schiff ein ›Magnet‹ sei und Vietnamesen zur Flucht erst ermuntere.«152 Die Vermutung der Flucht aus wirtschaftlichen Gründen geht einher mit dem Vorwurf, die Fluchtbewegungen würden durch die Cap Anamur erst hervorgerufen. Solange sich ein Rettungsschiff im Südchinesischen Meer befände, würden Menschen weiter flüchten. Dies wird in vielen Artikeln aufgegriffen, aber distanziert als Vorwurf oder Kritik und nicht als Tatsache dargestellt. »Der Hauptvorwurf gegen die Cap Anamur lautete, sie fördere die Fluchtbewegung, rufe diese eigentlich erst hervor, indem sie in einem bestimmten Seegebiet kreuze und ihre Position von anderen Stellen über Funk durchgegeben werde.«153 »Die Kernkritik, noch vor dem Argument von den eigensüchtigen Fluchtmotiven, ist immer der Verdacht, das Schiff übe eine Sogwirkung aus, locke die Leute überhaupt erst aufs Meer.«154 »Die Fahrt eines Rettungsschiffes ins Südchinesische Meer, so die Bedenken, rufe Einwanderungsströme geradezu hervor. Dank Kurzwellensendungen und Postkarten der Geretteten wisse man in Südvietnam über die Routen der ›Cap Anamur‹ ziemlich genau Bescheid.«155 »Übleres kam: die ›Cap Anamur‹ locke Tausende in winzigen Booten aufs Meer, mache sich für den Tod Hunderter mitschuldig.«156 148 Erhard Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.1981. 149 Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. 150 Günter Bannas, »Die Rettungsfahrten der ›Cap Anamur‹ gehen dem Ende zu.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.1981. 151 Gerd Kröncke, »Humanität im Schatten des Mißtrauens.« Süddeutsche Zeitung, 29.08.1981. 152 Erhard Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.1982. 153 Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. 154 Kröncke, »Humanität im Schatten des Mißtrauens«. 155 Erhard Haubold, »›Wir liegen im Hafen, und draußen ertrinken sie‹: Ein Besuch auf dem Rettungsschiff ›Cap Anamur‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.1980. 156 Günter Bannas, »Die ›Cap Anamur‹ scheiterte an ihren Erfolgen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.1982.
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Obwohl sich der Verdacht nicht bestätigen lässt und »Mitglieder des Bundestages, die im Sommer in Südostasien waren, berichteten, daß das Schiff dort völlig unbekannt sei«157 , entfaltet er seine Wirkung und beeinflusst »den Meinungsbildungsprozess in den Landesregierungen«158 . Sowohl die legitimen Fluchtgründe als auch die Sogwirkung – sei es durch die Cap Anamur oder durch die deutschen Sozialleistungen ähneln in ihrer Argumentation stark dem Diskurs über den Asylmissbrauch, der zur gleichen Zeit stattfindet. Grundlegende Annahmen sind die klare Einteilung in legitime und illegitime Fluchtgründe und die Beeinflussung von Migration durch Pull-Faktoren. Während zunächst eine klare Unterscheidung zwischen Wirtschaftsasylanten und Flüchtlingen aus Vietnam getroffen wird, wird diese Kategorisierung hier aufgeweicht. So ist es nicht weit zu der Forderung, dass auch hier ein »Mißbrauch bei der Aufnahme durch die Bundesrepublik«159 verhindert werden muss. Jürgen Schilling ist eine zentrale Figur, was die Kritik an der Cap Anamur und ihre Sogwirkung betrifft. In einem Artikel in der ZEIT macht er seinen Standpunkt deutlich, bei dem er sich stark auf das von 15 Professor*innen herausgegebene Heidelberger Manifest bezieht.160 Das Heidelberger Manifest warnte vor der Überfremdung des deutschen Volkes und vertrat einen biologischen Rassismus.161 Schilling setzt sich für eine »Repatriierung« aller Ausländer ein, die zu fremd sind: »Es ist also ein Gebot des Grundgesetzes, den gefährlichen Tendenzen einer Verschmelzung extrem fremder Minderheiten entgegenzuwirken, die das Profil der deutschen Nation nachhaltig verändern.«162 . Er kommt in vielen Artikel zu Wort: »Jürgen Schilling [...] sagt, daß das Rettungsschiff ›zusätzliche Flüchtlinge produziert‹, daß man ›Scheinasylanten aus Eritrea die kalte Schulter zeigt, Schein-Asylanten aus Vietnam aber mit der Hilfe des Schiffs die Tür öffnet. [...] der Bonner Regierung werde ›per Privatinitiative die Pistole auf die Brust gesetzt‹. Schließlich: würde das Schiff vor der Küste Kubas kreuzen, dann sprängen die Leute auch dort hinein«163 »Noch deutlicher wird der DRK-Generalsekretär Jürgen Schilling, der von einem ›besorgniserregenden humanitären Aktionismus‹ spricht und fragt, ›ob es sich um Flüchtlinge oder freiwillige Auswanderer handele, die durch die Präsenz einer Rettungsschiffes zu ihrem Schritt erst veranlaßt werden«.164 In den Zitaten von Schilling geht es stets um die Sogwirkung und die fehlenden Fluchtgründe, die auch durch den Begriff Scheinasylant verstärkt werden und kaum um die eigentlichen Motive seiner rechtsextremistischen Ideologie. Nur an einer Stelle wird er zi-
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Bannas, »Die Rettungsfahrten der ›Cap Anamur‹ gehen dem Ende zu«. Ebd. Rehm, »Flüchtlinge aus Vietnam wollen Fuß fassen«. Andreas Wagner, »Das »Heidelberger Manifest« von 1981.« In Manifeste, 307. o. A., »Heidelberger Manifest«. Jürgen Schilling, »Sind wir fremdenfeindliche, provinziell, vermufft oder gar rassistisch?« Die Zeit, 21.11.1980. 163 Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. 164 Haubold, »›Wir liegen im Hafen, und draußen ertrinken sie‹«.
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tiert, dass es auch um die »›Überfremdung‹ der Bundesrepublik«165 gehe. Schilling trug stark dazu bei, dass die Cap Anamur ihre Vertrauenswürdigkeit verlor und sich die Auseinandersetzung um die Aufnahme an den Aktionen der Cap Anamur fest machte. Das Engagement der Cap Anamur wird jedoch auch an anderer Stelle als Einwanderungspolitik wahrgenommen, welches nicht nur die staatliche Souveränität untergräbt, sondern auch Ausländerfeindlichkeit hervorrufen kann. »Vor allem stößt man sich in Kreisen der Bundesrepublik daran, daß eine Initiative ohne Legitimation und ohne Verantwortung für die Folgen eine ›Notaufnahmepolitik‹ betreibe, die einer ›Einwanderungspolitik‹ gleichkomme. [...] Die Auffassung, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, sieht man weniger in finanziellen Schwierigkeiten begründet (das freilich auch), sondern mehr in gesellschaftlichen. Vorerst vereinzelte Proteste unter dem Stichwort ›Ausländer raus‹, so befürchtet Bonn, könnten eskalieren. [...] Deshalb sei es im Blick auf die deutsche, aber auch auf die ausländische Bevölkerung unverantwortlich, auch aus humanitären Gründen neue Ausländergruppen in die Bundesrepublik zu bringen, wie es die Cap Anamur tue.«166 Als weiterer Einflussfaktor sind die Bundesländer zu nennen, die immer weniger bereit sind, Kontingente an Flüchtlingen aufzunehmen. Dies wird vor allem in der SZ problematisiert: »Es scheint so, als sei es fast ein größeres Abenteuer, in den komfortablen Amtsstuben hiesiger Behörden Plätze für die Schiffsbrüchigen zu finden, als sie aus dem Südchinesischen Meer zu retten«167 . »Bund und Länder haben sich so hoffnungslos zerstritten über Aufnahmegarantien, Überweisungsquoten und Asylantenkapazitäten, dass Franz Alt, einer der Initiatoren des Flüchtlingsschiffs, nur noch der Vergleich einfällt, die Menschen drohten ›zum zweiten Mal zu ertrinken – dieses Mal im BundLänder-Gerangel‹.«168 Hier wird im Sinne der radikalen Humanität argumentiert, dass Rettung von Menschenleben nicht an der Bürokratie scheitern darf. Auch Neudeck und seine Initiative kommen selbst in vielen Artikeln zu Wort und reagieren auf die Vorwürfe mit Argumenten der radikalen Humanität. Neudeck betont: »Man warf uns also vor, daß wir Menschen gerettet haben«169 sowie »Helfen wird immer schwerer gemacht«170 . Humanität bedeute, dass »sich ›keiner, aber wirklich keiner anmaßen darf zu sagen: Der muß ertrinken, der soll ertrinken, der nicht‹.«171 . »›Außerdem‹, sage Neudeck zu diesen ›irrsinnigen Argumenten‹, können wir nicht einen, den wir auffischen, fragen, aus welchen Gründen er geflohen ist und ihn zurück ins Wasser stoßen, wenn er unbefriedigend antwortet.«172 Bei einer Vergegenwärtigung der Zahlen – von 1980 bis 1982 wurden durch die Cap Anamur 9500 Menschen in die Bundesrepublik aufgenommen – wird deutlich, dass es nicht um die Aufnahme dieser Menschen geht. Vielmehr berührt die Diskussion den Kern des eigenen Selbstverständnisses, wie und warum Menschen 165 166 167 168 169 170 171 172
Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. Bannas, »Die Rettungsfahrten der ›Cap Anamur‹ gehen dem Ende zu«. Michael Stiller, »Ein Kampf mit Piraten und Behörden.« Süddeutsche Zeitung, 17.07.1986. Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?«. Kröncke, »Humanität im Schatten des Mißtrauens«. Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«.
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in die Bundesrepublik aufgenommen werden, trotz der Vorstellung ein Nichteinwanderungsland zu sein. Diese Vorstellung ist so stark, dass selbst bei ertrinkenden Menschen Selbstschutzmechanismen greifen. Wirtschaftliche Gründe und Sogwirkungen dienen als Legitimation, da in diesem Bild ja sonst alle Menschen nach Deutschland kommen wollen würden. 1982 wird in der FAZ die Entwicklung des Diskurses beschrieben und auf die mediale Inszenierung, auf die intensive Auseinandersetzung und die starke Kehrtwende hingewiesen: »Mit der Ankunft der Cap Anamur geht ein Unternehmen zu Ende, das ein Jahr für Unruhe gesorgt hatte. In den Berichten wiederholten sich die Begriffe ›umstritten‹ und ›Streit um die Aufnahme von Vietnamesen‹ [...] Freilich war sie nicht von Anfang an ›umstritten‹. Vielfach wurden die Flüchtlinge in der Bundesrepublik überschwänglich begrüßt, begleitet von den Fernsehkameras und denen, die sich dort gerne bewegen. Das Verständnis für ihre Flucht war damals, 1979, allenthalben groß.«173
4.3.4 Der Brandanschlag in Hamburg und die Dethematisierung rassistischer Gewalt Ein einziger Artikel in der SZ berichtet über ein Ereignis, das heute als der erste polizeilich dokumentierte und gerichtlich verfolgte rassistisch motivierte Mordanschlag nach 1945 gilt, damals jedoch kaum Aufsehen erregte.174 Die beiden Mordopfer, der 22-jährige Nguyễn Ngọc Châu und der 8-jährige Đỗ Anh Lân, dessen Name im Artikel jedoch nicht genannt wird, waren erst seit kurzer Zeit in Hamburg angekommen, Châu durch die Cap Anamur.175 Sie starben durch einen Brandanschlag, der auf das Flüchtlingsheim verübt wurde, in denen die beiden wohnten. Die Täter*innen, Mitglieder des Deutschen Aktionsgruppe um den Rechtsextremisten Manfred Roeder, waren seit Anfang des Jahres 1980 in ganz Deutschland unterwegs, um Brandanschläge zu verüben. Als sie zufällig im Hamburger Abendblatt über die Aufnahme neuer Flüchtlinge in der Halskestraße lasen, die von Hessen verlegt worden waren, beschlossen sie dort einen Anschlag zu verüben.176 Die verbleibenden Bewohner*innen werden weder über den Hintergrund der Tat informiert noch zur Gedenkfeier eingeladen. »Es gab keine offiziellen Informationen, man hat es nur vorm Hörensagen mitbekommen. Ich durfte die beiden nicht besuchen.«177 Die Mutter Đỗ Anh Lâns, der nach dem Mord die Einreise in die Bundesrepublik gestattet wird, berichtet, dass sie oft nicht ausreichend informiert wurde, beispielsweise weder über den Termin der Gerichtsverhandlung noch über die Einebnung des Grabes.178 Für sie hat der Mord lebenslange Folgen: »Mein Sohn dachte, er sei in Deutschland sicher vor 173 174 175 176 177 178
Bannas, »Die ›Cap Anamur‹ scheiterte an ihren Erfolgen«. Kien N. Ha, »Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (+ Hamburg 1980): Keine Zweiklassengesellschaft in der Kultur- und Erinnerungspolitik!« In Ha, Asiatische Deutsche Extended (s. Anm. 692), 142. Kien N. Ha, »Rassismus Sucks – Eine Einleitung.« In Asiatische Deutsche, 10–1. Frank Keil, »Der blanke Hass: Anschlag auf Flüchtlinge.« Die Zeit, 23.02.12; rup, »Asylbewerber nach Hamburg geschickt.« Hamburger Abendblatt, 21.08.1980. Bengü Kocatürk-Schuster et al., Hg., Unsichtbar: Vietnamesisch-deutsche Wirklichkeiten, 1. Auflage, Migration im Fokus Band 3 (Köln: Ed. DOMiD, 2017), 167. Minh Thu Tran und Vanessa Vu, »Hamburg 1980: Als der rechte Terror wieder aufflammte.« 28.12.2021, Rice and Shine. DEr Podcast für vietdeutsche Perspektiven, zuletzt geprüft am
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Bomben – und dann töteten sie ihn in Deutschland mit einer Bombe?«179 Seit 2014 gibt es die »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân« die jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung am Todestag veranstalten und fordern, die Halskestraße, in der sich die Unterkunft befand, umzubenennen.180 Im Artikel in der SZ wird sachlich und distanziert über das Ereignis berichtet. Über die Opfer erfährt man nur folgendes: »Die beiden Vietnamesen wurden durch die sich explosionsartig ausbreitenden Flammen im Schlaf überrascht. Der 22jährige Ngoc Chau erlag am Freitagmorgen im Krankenhaus seinen Verletzungen. Er war Mitte April von dem deutschen Flüchtlingsschiff Cap Anamur an Bord genommen worden. Sein 18jähriger Mitbewohner, der sich seit einem Jahr in Hamburg aufhält, schwebt noch in Lebensgefahr.«181 Im Artikel wird dann über die Konflikte zwischen den Bundesländern über die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen berichtet. Es hatte »Auseinandersetzungen zwischen Hamburger und hessischen Behörden gegeben.« Der Anschlag wird nicht als rassistische oder rechtsextremistische Tat verstanden, obwohl dies die naheliegende Deutung bei einem Anschlag auf eine Asylunterkunft ist. Dies müsse zuerst gründlich untersucht werden. »In dem Wohnheim hielten sich zur Zeit des Anschlags 211 vietnamesische Flüchtlinge und 29 Zigeuner auf. Über die Motive der Tat liegen der Polizei noch keine Erkenntnisse vor. An der Außenwand des Hauses wurden jedoch Parolen wie ›Ausländer raus‹ entdeckt. Ob der Anschlag den Vietnamesen oder den Zigeunern galt, konnte ebenfalls noch nicht geklärt werden. [...] Starke Anhaltspunkte sprächen dafür, daß der Anschlag in Lörrach von Rechtsextremisten verübt worden sei. Solche Erkenntnisse ›in dieser Intensität‹ lägen über den Hamburger Anschlag zur Zeit nicht vor.«182 Obwohl auf zwei weitere Anschläge verwiesen wird, findet keine Benennung des Rassismus statt. Der einzige empathische Satz ist das Zitat eines Politikers: »Bundesinnenminister Gerhard Baum brachte die ›tiefe Betroffenheit‹ der Bundesregierung zum Ausdruck und nannte es beschämend, daß es in der Bundesrepublik Sprengstoffanschläge gegen Personen gäbe, die Schutz vor politischer Verfolgung suchten.«183 Durch die sachliche und unpersönliche Berichterstattung wird keine Empathie mit den Opfern hervorgerufen. Der Brandanschlag bewirkt auch lediglich eine Betroffenheit und keine Schlussfolgerungen, wie darauf zu reagieren sei. Der Artikel ist ein Beispiel für die »unsichtbar gemachte Geschichte gesellschaftlich marginalisierter Menschen«, die Ausdruck einer »systematischen Entthematisierung rassistischer Weltbilder, Struk-
17.02.2022, https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-12/rassismus-mord-hamburg-vietnam-rice-an d-shine-podcast. 179 Vanessa Vu, »Warum hat Deutschland Do Anh Lan vergessen?« Die Zeit, 21.06.2018. 180 »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.« https://inihalskestrasse.bla ckblogs.org/die-initiative/. 181 k, »Vietnamese bei Brandanschlag getötet.« Süddeutsche Zeitung, 23.08.1980. 182 Ebd. 183 Ebd.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
turen und Praktiken«184 war und sowohl das gesellschaftliche Bewusstsein als auch die journalistische Aufmerksamkeit prägte. Eine ähnliche Struktur weist die Erinnerung an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen auf. Bis heute ist der rassistische Mord nicht Teil der hamburgischen oder deutschen Erinnerungskultur und erst 2020 wurde nach Auflösung der Gräber ein Gedenkstein auf dem Friedhof errichtet. Die Ablehnung der Straßenumbenennung wurde unter anderem damit begründet, dass die vietnamesischen Namen als fremd und für eine deutsche Straße unpassend empfunden wurden. Es zeigt, wie weit der Weg auch heute noch ist, bis Vorstellungen von Zugehörigkeit jenseits von rassistischen Kriterien in das eigene Selbstverständnis integriert sein werden.185
4.4 Konstruktionen des Anderen 4.4.1 Auf der Flucht: In Lebensgefahr, aber auch politisch verfolgt? Die Perspektive auf die Vietnames*innen und ihre Beschreibungen wandeln sich, abhängig davon, wo sie sich befinden. Wenn über Vietnames*innen im Südchinesischen Meer berichtet wird, steht die Lebensgefahr und das Ausgeliefertsein gegenüber den Elementen im Vordergrund. Bei der Ankunft in Deutschland werden physische Merkmale und das äußere Erscheinungsbild wesentlich stärker hervorgehoben. Da es noch kaum Erfahrungen mit Vietnames*innen in Deutschland gibt und die Ankommenden auch eher zurückhaltend Auskunft geben, kann auch fast ausschließlich nur auf äußere Merkmale zurückgegriffen werden. Es wird ihnen jedoch zugeschrieben, dass sich die Erfahrungen von der Flucht auf ihren Gesichtern eingezeichnet haben. Die Perspektive hingegen, die den Ankommensprozess beschreibt, thematisiert stärker die vermeintlichen Eigenschaften der Vietnames*innen, wie Integrations- und Arbeitswilligkeit, Anpassungsfähigkeit und Bescheidenheit. Bei allen drei Perspektiven bleiben die Vietnames*innen überwiegend passiv, während für sie gesorgt wird und über sie entschieden wird. Erst als angenommen wird, dass der Integrationsprozess nun langsam abgeschlossen ist, ändert sich die Perspektive. Nun kommen einzelne Vietnames*innen stärker als Individuen zu Wort und formulieren eigene Erwartungen, dies wird jedoch auch als Anspruchsdenken und als Folge der Überbetreuung eingeordnet. Die Konstruktion der Anderen, die sich auf der Flucht befinden, beinhaltet zwei unterschiedliche Aspekte. Zum einen wird die lebensbedrohliche Situation auf dem Meer in sich wiederholenden Beschreibungen und Metaphern dargestellt. Sie stellen die existenzielle Notsituation in den Mittelpunkt, rufen Empathie und Erschrecken bei den Leser*innen hervor und lassen nur eine mögliche Reaktion zu: die Rettung dieser Menschen. Zum anderen wird auf die Fluchtgründe der Menschen eingegangen, warum sie geflohen sind und sich nun in Lebensgefahr auf dem Meer befinden. In der Auseinandersetzung um legitime und illegitime Fluchtgründe entsteht hingegen eine distanzierte
184 Kien N. Ha, »Rassismus Sucks – Eine Einleitung.« In Asiatische Deutsche, 11. 185 Kien N. Ha, »Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (+ Hamburg 1980): Keine Zweiklassengesellschaft in der Kultur- und Erinnerungspolitik!« In Asiatische Deutsche Extended, 144–5.
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Betrachtung, die nicht allen Flüchtenden eine rettende Aufnahme zugesteht. Die unterschiedlichen bis hin zu gegensätzlichen Definitionen und Zuschreibungen, was politische Verfolgung ist, zeigen nicht nur die Unkenntnis über die Situation vor Ort, sondern auch, dass Fluchtgründe nicht nach bestimmten Merkmalen wie Herkunft, Alter oder Klasse kategorisierbar sind. Die beiden Konstruktionen stehen nebeneinander, da angesichts der Notsituation auf dem Meer, die Frage nach legitimen Fluchtgründen kaum sagbar ist. »Dürfe man von ›freiwilligen Auswanderern‹ sprechen bei Menschen, welche von den Gefahren auf hoher See [...] wüßten, dennoch aber die Flucht auf alten Flußkähnen riskierten?«186 Die Lebensgefahr auf dem Meer reicht als legitimer Fluchtgrund für eine Aufnahme jedoch nicht aus, zugespitzt könne diese auch selbstverursacht sein, um eine Aufnahme zu erwirken. Die Konstruktionen der Flüchtlinge auf dem Meer ähneln sich in stereotyper Weise. Die Flüchtlinge befinden sich in kleinen, überfüllten und hochseeuntauglichen Booten, oft als »Nussschalen« bezeichnet und sind dem Tode nahe. Es gehe darum, »…die ›Boat people‹ aufzufischen, die sich in Nußschalen auf das offene Meer hinausgewagt hatten, vom Verhungern, Verdursten, Ertrinken bedroht und Überfällen von Piraten ausgesetzt«187 . Stets befinden sich auch Frauen und Kinder, Kleinkinder und schwangere Frauen an Bord. »In einer der Nußschalen fanden die Helfer des deutschen Schiffes drei sterbende Kleinkinder.«188 Bei der Rettung haben sie meist schon mehrere Fluchtversuche hinter sich, wurden durch Piraten ausgeraubt, verletzt oder missbraucht, haben Familienmitglieder auf der Flucht verloren und Menschen sterben sehen. »›Es war furchtbar. Acht Leute sind auf offener See an Unterernährung gestorben. Wir hatten nur ein paar Kanister Wasser und zu wenig Nahrungsmittel dabei‹, berichtet einer.«189 Das Boot »mag 15 Meter lang sein, liegt sehr tief im Wasser und ist mit einer unübersehbaren Menschenmenge besetzt [...] Die Flüchtlinge hatten gewußt, daß sie nun eines langsamen, qualvollen Todes würden sterben müssen«190 . Es werden stets die gleichen Bilder beschrieben, die die existenzielle und lebensbedrohliche Notsituation der Menschen auf dem Meer in den Mittelpunkt stellen. In den sich immer wieder wiederholenden stereotypen Darstellungen von Erfahrungen existenzieller Bedrohung und riesigem Leid scheint sich jedoch mit der Zeit eine Normalisierung einzuschleichen: »Acht von zehn Bootsbesatzungen, die er aufnehme, seien ausgeraubt und vergewaltigt worden, sagt Kapitän Klaus Buck. Diese Art von Verbrechen sei inzwischen ziemlich normal.«191 Ein Element des Diskurses ist sexualisierte Gewalt. »Besatzungsangehörige des Thaiboots J15 hatten zwei Frauen vor aller Augen vergewaltigt.«192 »›Und als die Piraten nichts Wertvolles mehr fanden, nahmen sie meine Frau‹, berichtet Vu Dinh Nam. ›Es war dunkel, wahrscheinlich konnte man nicht sehen, daß sie schwan-
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Haubold, »›Wir liegen im Hafen, und draußen ertrinken sie‹«. Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. Haubold, »›Wir liegen im Hafen, und draußen ertrinken sie‹«. Walter M. Skarba, »Ihre Leibspeise ist Leberkäs mit Reis.« Süddeutsche Zeitung, 03.02.1979. Johann F. König, »Nur jeder dritte kommt durch…: Mit der ›Cap Anamur‹ auf der Suche nach vietnamesischen Boat People.« Süddeutsche Zeitung, 12.04.1980. Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?«. König, »Nur jeder dritte kommt durch…«.
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ger war. Sie haben sie nicht zurückgebracht und ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.‹ Nach Ermittlungen des UN-Hochkommissariats für das Flüchtlingswesen in Bangkok sind im vorigen Jahr vor der Südküste Thailands 590 vietnamesische Frauen vergewaltigt worden.«193 Sexualisierte Gewalt, insbesondere gegen schwangere Frauen und vor den anderen Bootsinsassen dient hier als Illustration, welches Leid die Menschen erleben. Gleichzeitig bleiben eine Distanz und eine Anonymität des Leidens. Vu Dinh Nam und seine Frau sind im Artikel nur zwei von vielen, die dieses Leid erleben und sie verbleiben Teil einer Masse. Gewalt gegen Frauen wird in den Darstellungen zu einer Alltäglichkeit im Südchinesischen Meer, ohne dass die Ursachen oder Folgen für die Betroffenen näher betrachtet werden. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass diese Erfahrungen spurlos an den Frauen vorbeigehen: »Unter Traumata scheint dennoch niemand zu leiden, nicht einmal Tran Ti Thu Ha, die vor 26 Landsleuten, die hilflos zusehen mußten, mißbraucht wurde.«194 In der Berichterstattung über die Rettung auf dem Meer wird selten auf die Fluchtgründe eingegangen, zu offensichtlich ist die Notwendigkeit der Rettung. Mit der Debatte um die Cap Anamur entstehen verschiedenste Beschreibungen der Fluchtgründe. Die Unwissenheit oder Leerstelle in der Berichterstattung trägt dazu bei, dass Thesen über Fluchtgründe und politische Verfolgung aufgestellt werden können, ohne dass diese belegt oder widerlegt werden können. Politische Verfolgung wird neben dem Antikommunismus an Ethnizität, Klasse und Alter festgemacht. Zudem gibt es keinen gemeinsamen Konsens darüber, was politische Fluchtgründe sind. So wird beispielsweise Flucht zur Verweigerung des Militärdiensts oder vor Zwangsumsiedlung sowohl als politischer, als auch als unpolitischer Fluchtgrund eingeordnet. Flucht vor dem Kommunismus wird als legitime politische Begründung betrachtet. »Sie geben als Motiv ihrer Flucht denn auch an, daß sie dem gefährlichen [...] Militärdienst entgehen wollten, daß sie desertiert seien, daß sie im Westen eine bessere Ausbildung und bessere Jobs zu erhalten hofften. Nur selten kommen Antworten wie ›Flucht vor dem Kommunismus‹.«195 Die Flucht vor dem Kommunismus ist jedoch eine wesentliche Grundlage für die Aufnahmebereitschaft: ein »überschwängliche[s] Wohlwollen, [...] das durchaus auch weltanschauliche Gründe hatte, waren diese Menschen doch aus einem kommunistischen Land geflohen.«196 An verschiedenen Stellen wird der Vergleich mit anderen Ländern hergestellt, wie etwa mit Eritrea, Kuba197 oder dem Nahen Osten198 und die Frage aufgeworfen, welche Unterschiede es gibt, die eine solch unterschiedliche Behandlung mit Rettung aus dem Meer und Anerkennung als Kontingentflüchtling rechtfertigen. Der chinesischen Minderheit werden mal politische, mal wirtschaftliche Fluchtgründe zugeschrieben. 193 194 195 196 197 198
Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?«. Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?«. Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. Stiller, »Ein Kampf mit Piraten und Behörden«. Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. Ernst Müller-Meiningen jr., »Unterschiedliche Regeln für Flüchtlinge.« Süddeutsche Zeitung, 06.09.1979.
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»Während jene [...] Angehörigen der chinesischen Minderheit und der vietnamesischen Bourgeoisie politische Flüchtlinge waren, ist eine solche Kennzeichnung heute nicht mehr so eindeutig zu treffen.«199 »Als hingegen sehr eindeutiger Fall von politischer Verfolgung und mithin des Anspruchs auf Asyl gelten die Vietnamflüchtlinge. [...] Im Zusammenhang mit ›normalen‹ Asylbewerbern, etwa aus dem Nahen Osten, werde der Begriff ›wirtschaftliche Flüchtlinge‹ sehr großzügig verwendet. Man könne da leicht mit sich selbst ins Gehege kommen; denn schließlich wären dann Angehörige des chinesischen Mittelstands, die in Vietnam ihre Existenz verloren und deshalb das Land verlassen haben auch nur ›wirtschaftliche‹ und nicht politische Flüchtlinge. Der Hinweis ist berechtigt.«200 Des Weiteren gibt es die These, dass nur die Mittel- und Oberschicht über politische Fluchtgründe verfügte, die »einfachen Schichten (Fischer und Bauern ohne Fremdsprachenkenntnisse)«201 , deren Anteil im Laufe der Jahre immer weiter zunehme, würden hingegen lediglich der Armut entfliehen wollen. Die Festmachung der legitimen Fluchtgründe am sozialen Status wird auch kritisiert: »In der Konsequenz lautet diese unmenschliche Logik: Die gebildete Klasse hatte einst ein Anrecht auf Rettung, die Armen sollen jetzt in den elenden Verhältnissen bleiben, in denen sie leben.«202 Als dritte Kategorie wird auch Alter angeführt. »Das Gros der Ankömmlinge besteht inzwischen nämlich aus Jugendlichen im Alter von zwölf bis fünfundzwanzig Jahren, die beim Zusammenbruch des früheren Regimes vor sechs Jahren zum Teil noch Kinder waren, denen deshalb kaum eine politische Verfolgung oder die Einweisung in ein Umerziehungslager droht.«203 Familien, die lediglich ihre Kinder schickten, würden damit eindeutig nur wirtschaftlichen Gründen wie eine bessere Zukunft verfolgen. Diskriminierungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt werden nicht als politische Fluchtgründe angesehen. Zusammenfassend zeigt sich, dass zum einen nicht klar definiert ist, was politische Verfolgung bedeutet, außer dass sie die Legitimation und Grundlage für eine Aufnahme in die Bundesrepublik darstellt. Zum anderen sind nicht ausreichend Hintergrundinformationen über den Kontext und die Fluchtbewegungen vorhanden, sodass das Sagbarkeitsfeld über Fluchtgründe der Vietnames*innen kaum begrenzt ist. Der Beginn der Auseinandersetzung um legitime Fluchtgründe war ein Wendepunkt in der Entwicklung des Diskurses: »In den seit annähernd zwei Jahren [...] geführten Auseinandersetzungen (...), markiert der Widerstand der Eringer eine Wende. Bislang teilte man hierzulande die Asylsuchenden rigoros in zwei höchst unterschiedlich bewertete Gruppen ein. Die Vietnamesen, die unter Einsatz ihres Lebens [...] die unter kommunistische Herrschaft geratene Heimat verließen, konnten auf Wohlwollen und Entgegenkommen zählen. Mit Türken,
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Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. Müller-Meiningen jr., »Unterschiedliche Regeln für Flüchtlinge.«. Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«. Dreher, »Schiffbruch an den Klippen der Politik«. Haubold, »Fragen zum Rettungsschiff ›Cap Anamur‹«.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
Libanesen und Pakistani, deren Fluchtgründe nicht so deutlich gemacht wurden, wollte man hingegen nichts zu tun haben.«204 Dabei wird nicht gesagt, dass die Letztgenannten keine Fluchtgründe haben, sie wurden nur in der Berichterstattung nicht dargestellt. Mit dem Wendepunkt beginnt die Unterscheidung aufzuweichen und die Abwehrhaltung wird auch auf Vietnames*innen übertragen. Im Artikel werden weitere Aspekte des Diskurses um Asylmissbrauch aufgegriffen, wie die Gefahr für deutsche Frauen und der drohende Verlust von Identität und Arbeitsplätzen.«205
4.4.2 Bei der Ankunft: vom Elend gezeichnet Die Ankunft am Flughafen wird medienwirksam inszeniert. Politiker*innen und Journalist*innen haben sich versammelt, um die Vietnames*innen willkommen zu heißen. Dabei scheint alles berichtenswert, das Aussehen, die Gangart und die Verhaltensweisen der Ankommenden. Die Menschen, deren Leid sich auf den Gesichtern eingezeichnet hat, werden als Gegensatz zur deutschen Wirklichkeit konstruiert, die von Sicherheit, Frieden und Wohlstand geprägt ist. Die drei Artikel, die die Ankunft der ersten Vietnames*innen in Niedersachsen206 am 03.12.1978 und in Bayern207 am 17.01.1980 thematisieren, ähneln sich in ihren Konstruktionen über die Ankommenden. Auch sie sind mit stereotypen Bildern in das kollektive Gedächtnis über die Geschichte der Boat People eingegangen: »Manche erinnern sich noch, wie die VietnamesInnen – sommerlich bekleidet, ihre ganze Habe in Plastiktüten – im Winter aus dem Flugzeug stiegen und von MitarbeiterInnen der Wohltätigkeitsvereine in Decken gehüllt wurden, bevor man sie in Bussen in die Auffangheime brachte.«208 In allen drei Artikeln werden die Flüchtlinge mit Spannung erwartet, die Ankunft gleicht einem medialen Großereignis im »gleißende[n] Licht der Fernsehscheinwerfer«209 . Die Beschreibungen der Ankunft lassen sich mit dem Begriff der Willkommenskultur beschreiben. »Willkommenskultur« beschreibt eine Inszenierung des Eigenen im Moment des Ankommens hilfsbedürftiger Anderer. Diese Inszenierung ist ein einseitiges und selbstbezogenes Anliegen der Mehrheitsgesellschaft, bei dem die Erfahrungen und Perspektiven geflüchteter Menschen nicht relevant sind, sondern diese zu Objekten deutscher Politik und zivilgesellschaftlicher Hilfe gemacht werden. Sie sind willkommen als Opfer, die deutsche Kompetenz und Fürsorge benötigen und nicht als Subjekte mit politischen Rechten. Der Fokus liegt auf den Deutschen und ihren Kapazitäten, Menschen willkommen zu heißen und mit der Anwesenheit Fremder in ihrem
204 Schmitt, »Brände und flammende Reden gegen Fremde«. 205 Ebd. 206 Wolfgang Teerstegen, »Ankunft in einem Land, in dem Friede herrscht: Eine neue Heimat für zunächst 163 vietnamesische Flüchtlinge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.1978; Josef Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte.« Süddeutsche Zeitung, 04.12.1978. 207 Walter M. Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«: Die ersten Flüchtlinge aus Kambodscha in Riem eingetroffen.« Süddeutsche Zeitung, 18.01.1980. 208 Beth, Tuckermann und Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹, 16. 209 Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«.
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Land zurecht zu kommen.210 Die mediale Wahrnehmung und die eigene Darstellung als helfend ist dabei zentral. »Unter dem Dröhnen der Triebwerke tippelt jetzt als erster Flüchtling ein kleines vietnamesisches Mädchen mit einer Betreuungsschwester die Gangway herab. Fest klammert sie eine große, rothaarige Puppe an sich und schaut verschreckt in die Fernsehkameras und klickenden Objektive. Als Staatssekretär Rosenbauer das Mädchen auf den Arm nimmt, kullern auch ein paar Tränen über die Wangen.«211 Auf das Unverständnis der Journalist*innen trifft somit die geringe Bereitschaft der Vietnames*innen ein Interview über ihre Fluchtgeschichte zu geben: »Die als erste angesprochene Frau, mit 76 Jahren das älteste Mitglied einer neunköpfigen Familie, ist aber wenig zum Reden aufgelegt«.212 »Ob er froh sei, in Deutschland zu sein? ›Wir wollen nur leben, sonst nichts‹, antwortet der Mann mit versteinertem Gesicht.«213 . Die mit Spannung erwarteten Flüchtlinge, über die schon so viel in den Zeitungen berichtet wurde und die nun endlich in Deutschland ankommen, reagieren erstmal nicht so, wie von ihnen erwartet wird. Die Empathie und Nähe bzw. die Sensationslust, die durch die Berichterstattung entstand, lässt sich nicht ohne weiteres auf persönliche Beziehungen übertragen. Beim Ankommen werden sie als »ratlos und schüchtern«214 , »verschreckt«215 und »mißtrauisch«216 beschrieben. Die Bedürfnisse der Ankommenden nach der Flucht und der Flugreise – wie etwa des kleinen Mädchens – werden nicht wahrgenommen, die Neugier über die Neuankommenden hat Vorrang. »Wie werden sich die Menschen fühlen nach allen Strapazen, die 72 Kinder und 91 Erwachsene und Heranwachsende, die angekündigt sind? Was werden sie empfinden bei der Ankunft in dem fernen, fremden Land, das ihnen versprach, ihrer Odyssee ein Ende zu machen? [...] Sie blicken gespannt zu der Tür, die sich gleich auftun muß vor den Heimatlosen, die eine neue Heimat suchen.«217 Die Ankunft in der Bundesrepublik wird minutiös beschrieben, die Wartenden, die Atmosphäre am Flughafen und schließlich das Erscheinen der vietnamesischen Flüchtlinge. Nachdem lange von ihnen von weit weg berichtet wurde, sind sie nun plötzlich mit eigenen Augen zu betrachten und es wird detailliert auf das Aussehen, Kleidung, 210 Michael Haller, »Die Willkommenskultur der Medien: Wunschbild, Leitbild, Zerrbild.« In Migration, Integration, Inklusion: Medienethische Herausforderungen und Potenziale für die digitale Mediengesellschaft, hg. v. Marlis Prinzig, Nina Köberer und Michael Schröder, Kommunikations- und Medienethik 8 (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2018), 183; Anton Sahlender, »Zwischen Willkommenskultur und Diskriminierung. Medien auf der Suche nach Wahrhaftigkeit.« In Zum Umgang mit Migration: Zwischen Empörungsmodus und Lösungsorientierung, hg. v. Ursula Gross-Dinter, Florian Feuser und Carmen R. Méndez-Sahlender, Edition Kulturwissenschaft 125 (Bielefeld: transcript Verlag, 2017), 233. 211 Heinz Rosenbauer ist Staatssekretär im bayerischen Sozialministerium. Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«. 212 Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. 213 Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«. 214 Ebd. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Teerstegen, »Ankunft in einem Land, in dem Friede herrscht«.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
Körperhaltung und Gangart eingegangen. Die Artikel sind voller Differenzkonstruktionen: »Wie klein sie sind, wie dürr, wie unscheinbar, die dunkelhaarigen Männer und Frauen, die Jungen und Mädchen, die von ihren Müttern getragenen Jüngsten, die da, in wärmende Wolldecken gehüllt, auf Sandalen in die Halle treten!«218 »In dichter Folge verlassen jetzt Kambodschaner – alle mit tiefdunklem Teint – den Düsenclipper.«219 Neben Beschreibung der Haar- und Hautfarbe ist es die schmale, zierliche Körperform und die Geschlechtslosigkeit, die den Ankommenden zugeschrieben wird. »Als erster betritt ein hochgewachsener Mensch die Halle, den Kopf und die schmalen Schultern mit einer grauen Decke verhüllt, so daß nicht zu erkennen ist, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt; dieser Gestalt folgt klein, verhutzelt und an ihren Haaren erkennbar eine Frau, die unter der Last der Decke fast zusammenbricht«220 . Es entsteht der Eindruck, dass sie mit allerletzter Kraft aus dem Flugzeug aussteigen, selbst die Decken sind eine große Last für die schmalen Gestalten. Als zweiter Aspekt neben dem äußeren Erscheinungsbild wird das erlittene Leid der Menschen hervorgehoben, das sich vermeintlich an den Gesichtern ablesen lässt, aber auch an der ärmlichen Kleidung und der Unterernährung. Die Wartenden sind betroffen »über die Armseligkeit dieser offensichtlich größtenteils unternährten Gestalten«.221 »Aber mehr als die dürftige Kleidung erschüttert die Ahnung von erlittenem Schrecken, der in die Züge dieser Menschen eingegraben ist – Strandgut des Vietnamkriegs drei Jahre nach dessen Beendigung.«222 »Den Erwachsenen stehen die Strapazen der Vergangenheit noch im Gesicht geschrieben«.223 Die Gesichter sind gezeichnet von den schlimmen Erfahrungen beziehungsweise das Leiden ist auch das, was die Wartenden am Flughafen mit den Ankommenden verbinden und in sie einschreiben. Die Erfahrung des Krieges und der Flucht unterscheidet sie von den Menschen in Deutschland: »Kurz nach sieben öffnet sich die Verbindungstür [...] und gibt den Blick auf eine Szene frei, wie es sie in Deutschland nicht mehr gegeben hat, seitdem in den ersten Nachkriegsjahren die Elendszüge der Heimkehrer aus Sibirien ankamen«224 . »So schlurfen sie, einer nach dem anderen, auf Pantoffeln oder abgetragenen Sandalen wie die apokalyptische Nachhut einer Katastrophe in den eleganten Saal.«225 Die Ankunftshalle des Flughafens wird beim Anblick der Flüchtlinge zum eleganten Saal. Südostasien und Deutschland werden als zwei Welten gegenübergestellt, in der einen herrscht Chaos, Krieg, Verfolgung, Lebensgefahr, während die andere von Sicherheit, Frieden, Ordnung und Wohlstand geprägt ist. Ein Artikel in der FAZ ist überschrieben mit »Ankunft in einem Land, in dem Frieden herrscht«226 . Diese positive Stimmung prägt auch den ganzen Artikel. »Sie wenigstens
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Ebd. Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«. Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. Teerstegen, »Ankunft in einem Land, in dem Friede herrscht«. Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«. Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. Ebd. Teerstegen, »Ankunft in einem Land, in dem Friede herrscht«.
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gehören zu den Glücklichen«, haben »das Schlimmste nun doch überstanden« und können »mit Zuversicht und Mut« ein neues Leben aufbauen. Ministerpräsident Albrecht begrüßt sie mit den Worten: »Sie kommen jetzt in ein Land, in dem sie frei leben können, in dem Frieden herrscht«227 . Die Flüchtlinge sind nun in Deutschland und haben eine neue Heimat gefunden, damit wird alles gut. Deutschland wird in beiden Zeitungen als neue Heimat für die Heimatlosen228 präsentiert, die in Deutschland »eine neue Heimat finden sollen«229 . Dieses Motiv der neuen oder zweiten Heimat wird sowohl in späteren Artikeln als auch in anderen Veröffentlichungen als Titel wieder aufgegriffen.230 Der Artikel der SZ ist überschrieben mit »Der Zug der Elenden in der Kälte«231 und die klimatischen Veränderungen stehen auch im Text im Vordergrund und werden als wesentlicher Unterschied betont. »Als sie in Hannover aussteigen, zeigt das Thermometer zwei Grad über dem Gefrierpunkt. Damit sie sich nicht erkälten, werden sie von den Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes vor dem Flugzeug mit Decken ausgestattet.«232 Auch ihre Kleidung ist nicht für die Kälte geeignet: »Die Kinder tragen zumeist Trainingsanzüge, manche Erwachsene Schlafanzüge, die Frauen dünne Kleidchen, die wenigsten haben Strümpfe.« Die Betonung der Klimaunterschiede geht soweit, dass Kinderwägen benötigt werden, »weil die vietnamesische Art, Kinder zu tragen, mit unserem Klima nicht harmoniert«233 . Herkunft wird dabei mit der Anpassung an ein bestimmtes Klima verbunden, als wesentliche Differenz, an die sich die Vietnames*innen dauerhaft nicht gewöhnen werden: »›Im Grunde ist Deutschland so wie ganz Europa keine Gegend, in der wir richtig leben können.‹ Das Wetter drückt auf sein Gemüt.«234 Es wird zwar thematisiert, dass viele noch Familienmitglieder in Vietnam haben oder auf der Flucht verloren haben, dies wird jedoch kaum problematisiert, weil es das Märchen der wunderbaren Rettung trüben würde: »Nicht alle Familien, die wir heute aufgenommen haben, sind vollständig [...] eine Frau mußte zum Beispiel ihren Mann ›sozusagen als Geisel‹ in einem Gefängnis ihrer Heimat zurücklassen, nur sie selbst durfte mit ihren Kindern das Land verlassen.«235
4.4.3 Im Ankommen: integrationswillig – undankbar – wiedergeboren Die Artikel, die über das Ankommen berichten, sind ebenfalls von großer Neugier geprägt, jedes Detail über die Anderen scheint berichtenswert. Die Vietnames*innen selbst werden als Neues, Fremdes betrachtet und bleiben Objekte der Berichterstattung.
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Ebd. Skarba, «Wir wollen leben, sonst nichts«. Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring« Bui Cong Tang, Die zweite Heimat; Katja Illgen, Hg., »Zweite Heimat«: Vietnamesen berichten über ihr Leben in Deutschland 1980 – 1995, Thüringen gestern & heute 28 (Erfurt: Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen, 2007); Beth, Tuckermann und Metzner, ›Heimat ist da, wo man verstanden wird‹. Schmidt, »Der Zug der Elenden in die Kälte«. Ebd. Ebd. Müller-Jentsch, »Menschen in München. Ein Vietnamese will Landsleuten helfen«. Walter M. Skarba, »Einzug der Vietnamesen in Thalkirchen.« Süddeutsche Zeitung, 16.02.1979.
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Es sind die deutschen Ansprechpersonen in den Unterkünften und bei den Behörden, die das Eingewöhnen und die Eigenarten der Vietnames*innen beschreiben. Neben der Integrationswilligkeit und die dafür notwendigen Eigenschaften wie Anpassungsund Leistungsbereitschaft werden sie als hilflos und fürsorgebedürftig dargestellt. Sie werden nicht als erwachsene eigenständige Personen unterstützt, sondern infantilisiert und bevormundet. Die Freundlichkeit und Distanziertheit der Vietnames*innen ruft auch Misstrauen hervor, und wird als Emotionslosigkeit und Undurchschaubarkeit konstruiert. Erst im Laufe des Ankommens und mit Forderungen nach mehr Selbstbestimmung wird Individualität sichtbar. Die Entwicklung einer Anspruchshaltung entspricht jedoch nicht den deutschen Vorstellungen des Integrationsprozesses. Im Laufe der 1980er Jahre entsteht eine fast religiöse kollektive Erinnerung über die Rettung durch die Cap Anamur, die die Boat People als Wiedergeborene beschreibt. Die große Bereitschaft zur Integration und die dafür förderlichen Eigenschaften reichen von Leistungsbereitschaft und Fleiß, über Dankbarkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung bis hin zu Sauberkeit. In Bayern sagen die Kinder schon Grüß Gott zu Begrüßung, denn das »das Lernvermögen der Kinder ist unwahrscheinlich groß«236 ; in Ostfriesland sagen die Vietnames*innen »schon lange [...] ›moin‹, wenn sie einen Laden betreten.«237 Dies dient als wichtiger Nachweis für eine begonnene Integration, ebenso wie der Wunsch, mehr Deutsch zu lernen. »Darüber, daß der Unterricht in den Volkshochschulen ›nur‹ 20 bis 25 Wochenstunden beträgt, haben sich einige Sprachschüler [...] schon beklagt: sie seien es gewohnt, täglich acht Stunden zu arbeiten; wenn sie das vorerst nicht im Beruf tun könnten, dann wollten sie doch wenigstens so lange Deutsch lernen.«238 . Die Fähigkeit zu Ordnung und Sauberkeit scheint eine wichtige Voraussetzung für Anerkennung und Zugehörigkeit zu sein. »Die Heimleitung ist voll des Lobes, nie sah man so bescheidene Gäste. Sie helfen mit, wo sie können und die kinderreichsten Familien sind die eifrigsten. Die Teppichböden der Ferienhäuser sind fleckenlos wie am ersten Tag und das findet im sauberen Ostfriesland höchste Anerkennung.«239 Zwischen Deutschen und Vietnames*innen gäbe es viele Gemeinsamkeiten: »Die Tatsache, daß die Ostfriesen, die wie Vietnamesen zurückhaltend sind, nicht viele Worte machen, trägt eher zu gegenseitiger Sympathie bei als zu Mißverständnissen.«240 Schließlich ist Tee auch »das Lieblingsgetränk der Ostfriesen wie der Vietnamesen«.241 Auffällig ist hier, dass die positiven Eigenschaften zugleich Selbst- und Fremdzuschreibungen sind und so eine Gemeinsamkeit hergestellt wird. Ein weiterer Aspekt der Konstruktion sind die großen Familien und der Familienzusammenhalt sowie patriarchale Strukturen. Auf die großen Familien wird immer wieder im Zusammenhang mit der Unterbringung hingewiesen: »Die engen Familienbande, die die meisten der Flüchtlinge verbinden, haben die Landesregierung dazu bewogen, dafür
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Skarba, »Ihre Leibspeise ist Leberkäs mit Reis«. Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. Teerstegen, »Vietnam-Flüchtlinge sollen sich bald wie zu Hause fühlen«. Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. Ebd. Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«.
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zu sorgen, daß die Familien in den Aufnahmegemeinden auf jeden Fall zusammenbleiben können – auch dann, wenn zu einer solchen Familie zum Beispiel zwanzig Personen gehören.«242 »Die zahlreichen Kinder – einige Familien haben bis zu acht Sprößlinge – halten sich am liebsten im Gang auf.«243 Die Beschreibungen ihrer Bedürfnisse und der Bedarfen an Fürsorge erinnern an eine Eltern-Kind-Beziehung. »›Schwierigkeiten gab’s anfangs mit der Portionsgröße, außerdem musste alles stäbchengerecht zugeschnitten sein. Vor allem haben die Vietnamesen viel Durst‹, dem jetzt mit großen Thermos-Kannen von Jasmin-Tee Rechnung getragen wird.«244 Es entsteht der Eindruck, dass sie nicht selbst mit einem Messer ihr Essen kleinschneiden können und sie verdursten, wenn ihnen kein Tee hingestellt wird. Es wird versucht eine »Mischung aus asiatischer und bayerischer Küche«245 zu kochen, »einheimische Hausfrauen beschaffen sich chinesische Kochbücher«.246 Auch die Beschreibung, dass Leberkäse mit Reisrand ihr Lieblingsgericht ist und ihnen nicht selbst die Möglichkeit gegeben wird zu kochen, gleicht einer Infantilisierung. Sie gehen mit ihren Kindern abends schlafen, denn das »Schlafbedürfnis [...] schien in den ersten Wochen grenzenlos zu sein.«247 Der antiasiatische Rassismus, der sich bereits in den Zuschreibungen der Anpassungsbereitschaft ausdrückt, ist auch in folgendem Stereotyp präsent: Vietnames*innen zeigen nicht, was sie fühlen und denken, sie seien undurchschaubar. »›Heimweh haben wir eigentlich immer‹, sagt eine junge Vietnamesin stellvertretend für ihre Landsleute. Tränen allerdings hat ein Betreuer nur einmal bei einer Mutter erlebt, als ein Kind ins Krankenhaus musste. Gefühle werden von den Asiaten Außenstehenden gegenüber offenbar nicht gezeigt.«248 Es wird zum einen angenommen, dass Gefühle versteckt werden, zum anderen wird ihnen auch eine Gefühlskälte zugeschrieben: »Kennen sie Heimweh? Zumindest zeigen sie es nicht.«249 Denn »die Asiaten seien so leiderprobt, daß sie bald danach schon wieder lachen können.«250 Freundlichkeit und Lächeln wird als Unterwürfigkeit interpretiert: »Sind die Eindrücke der Flucht, die Leiden im berüchtigten Lager Pulai Bidong schon vergessen? Welche Gedanken verbirgt verbergen das Lächeln der Frauen, die die Flure säubern, und die fast servile Hilfsbereitschaft der Männer beim Obstpflücken? Lächelnd erkundigt sich Liu Mau, ob sein Onkel unter den Flüchtlingen ist, und lächelnd geht er hinaus, obwohl ihn die Antwort enttäuscht.«251 Deutungen reichen von Wesenszügen der Gleichgültigkeit, Gefühlskälte, Ausgeglichenheit bin hin zu bewusst versteckten Gedanken und Gefühlen: »Wer durchschaut schon das Lächeln, das er aufsetzt, wenn er auf eine Frage keine Antwort weiß.«252 Dies zeigt, überspitzt gesagt, dass ihnen jegliches Verhalten negativ ausgelegt werden kann. 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252
Teerstegen, »Vietnam-Flüchtlinge sollen sich bald wie zu Hause fühlen«. Skarba, »Ihre Leibspeise ist Leberkäs mit Reis«. Ebd. Ebd. Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. Ebd. Skarba, »Ihre Leibspeise ist Leberkäs mit Reis«. Burhardt, »›Moin‹ sagen die Flüchtlinge schon lange«. Unterstöger, »Vietnamesen und Mainburger kommen sich näher«. Windandy, »Das Lächeln der Frauen, die die Flure putzen«. Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«.
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Als die Vietnames*innen beginnen anzukommen, entwickeln sie eigene Vorstellungen und Erwartungen. Dies wird jedoch als undankbar und unangemessen gesehen. Hier findet sich zum ersten Mal so etwas wie Individualität, während in den anderen Artikeln zwar vereinzelt Vietnames*innen zitiert werden, die jedoch stets als ein Beispiel für alle Vietnames*innen herhalten und damit keine persönliche Meinung oder Geschichte zur Geltung kommt. Die Anspruchshaltung stehe im Zusammenhang mit der engen Betreuung, weil Erwartungen geweckt werden, die dauerhaft nicht so erfüllt werden: »Eine ›Überbetreuung‹ und zusätzliche finanzielle Hilfen sollte man vermeiden, meinte Rosenbauer. Dadurch würde auf die Dauer die Bereitschaft der Flüchtlinge, auf eigenen Füßen zu stehen, beeinträchtigt. Teilweise gebe es bei ihnen ›ein großes Anspruchsdenken‹ und ›falsche Vorstellungen über die Leistungsfähigkeit und die Leistungsverpflichtung der Bundesrepublik‹«253 . Daher solle aus dem »Füllhorn«254 mit Bedacht gegossen werden. Herrn Nguyen und seiner Situation wird ein ganzer Artikel gewidmet, allerdings wird eher Missverständnis und Distanz und kaum Empathie hervorgerufen. Herr Nguyen, der dreimal seine Arbeitsstelle wechselte und gerne etwas mit Flugzeugen arbeiten möchte, weil er dies auch in Vietnam gemacht hat, wird kritisiert, weil er zu hohe Erwartungen hat und sich mit weniger zufrieden geben soll: »Kann Herr Nguyen überhaupt begreifen, was man ihm immer wieder klarzumachen versucht, daß nämlich die Lage am Arbeitsmarkt ungünstig ist, daß viele Firmen zur Zeit überhaupt niemanden einstellen und daß er sich glücklich schätzen müßte, weil er zum dritten Mal einen Arbeitsplatz bekommen hat, wenn auch in einer Metallwarenfabrik?«255 »Neun Mark in der Stunde genügen ihm nämlich nicht. [...] Zur Zeit ist Nguyen deshalb arbeitslos.«256 Daran wird deutlich, dass die Vietnames*innen hier zwar heimisch und selbstständig werden sollen, aber ihnen dennoch ein bestimmter Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird, den sie respektieren sollen. So wird auch von ihnen erwartet, sich fortzubilden: »Herr und Frau Nguyen sollen sich in der Volkshochschule fortbilden, sagte die Betreuerin, aber sie hat den Verdacht, daß der Unterricht geschwänzt wird.«257 Die unterschiedlichen Vorstellungen werden als Missverständnisse beschrieben: »Allmählich wird angesichts gegenseitiger Mißverständnisse Ungeduld spürbar«258 . Im Artikel wird die Integrationserfolgsgeschichte in Frage gestellt und aufgezeigt, dass es beim Ankommen um viel mehr geht, als um Sprache und Erwerbstätigkeit: »Aber ansonsten fühlt er sich verlassen. ›Ich will deutsche Freunde‹, sagt er. Daß er bei Siemens Kegelmeister seiner Abteilung ist, macht ihn stolz, hat ihm aber bislang nicht geholfen, Anschluß an eine Sportmannschaft zu finden, wo er gerne Tischtennis spielen möchte. ›Ich nicht wissen, wo‹, sagt er hilflos.«259 Zumindest aus heutiger
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Rehm, »Flüchtlinge aus Vietnam wollen Fuß fassen«. Ebd. Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«. Ebd. Ebd. Ebd. Reuter, »Noch braucht Nguyen den Rettungsring«.
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Sicht ist daraus zu lesen, dass Integration ein komplexerer Prozess als ein allgemeiner Drei-Stufen-Plan ist und dass statt Bevormundung Kommunikation und das gemeinsame Entwickeln von Zielen dafür zentral ist. Dies ist jedoch so nicht Teil des Sagbarkeitsfeldes. Im Laufe der 1980er Jahre entsteht eine kollektive Erinnerung an das Erlebte, an das beispielsweise am Bundestreffen der Cap-Anamur-Flüchtlinge erinnert wird. Besonders auffällig ist, dass die Rettung eine religiöse Konnotation bekommt. Bereits 1982 berichtet die FAZ von einem Lied, dass die geretteten Menschen gedichtet haben: »Das glorreiche und große Schiff ist unser Wohltäter. Es gibt jedem Flüchtling auf dieser Welt Hoffnung [...] Große Cap Anamur, ich werde sie kaum vergessen, ihre Großzügigkeit und Güte uns Flüchtlingen gegenüber war so tief wie der Ozean. Ich werde nichts vergessen, denn die Cap Anamur bedeutet die Wende aus einer dunklen und schlechten Zeit in eine bessere Zukunft«.260 Es erinnert mit seiner religiösen Sprache stark an ein Gebet und setzt die Cap Anamur fast einem Gott gleich, der allen Flüchtlingen Hoffnung und Zukunft verspricht, obwohl nur eine verschwindend geringe Anzahl von der Cap Anamur gerettet wurde. Es ist ein biblisches Bild, das ein Schiff ausgesendet wird, um die verlorenen Seelen zu retten.261 Die Beschreibung der Vietnames*innen im Artikel über das erste Bundestreffen geht sogar noch weiter, indem sie schon in der Überschrift als Wiedergeborene bezeichnet werden. Im Text erläutert Rupert Neudeck: »Die Menschen haben das Schiff erfahren wie eine Institution der religiösen Wiedergeburt«.262 Es entsteht der Eindruck, als sei die Cap Anamur mächtiger als der Tod, da die Flüchtlinge bereits dem Tode geweiht wurden und ihnen durch die Cap Anamur ein neues Leben geschenkt wurde. Dazu tragen auch die emotionalen Beschreibungen bei: die sonst so fröhlichen Menschen ringen um Fassung, »vielen stehen die Tränen in den Augen«, das Treffen gibt die Gelegenheit »zu schier endlosen, bewegenden, von Tränen und Emotionen getragenen Danksagungen«263 für Neudeck. Er wird dabei zum Helden oder in religiöser Sprache zum Propheten dieser neuen Religion gemacht. Damit ist die Geschichte der Boat People eine Geschichte mit Happy End264 , die es erforderlich macht, vieles ungesagt zu lassen. Es wird nicht thematisiert, dass die Vietnames*innen nicht gerne ihr Land verlassen haben und vieles zurücklassen mussten, dass fast jede Familie Familienmitglieder verloren hat, dass einige unter Traumatisierungen leiden265 und dass auch das Ankommen hier von »struktureller Benachteiligung und rassistischer Diskriminierung«266 geprägt ist. Im Artikel wird ein typisches Beispiel von einem sogenannten Wiedergeborenen dargestellt: Tuan, der damals ohne Hoffnung und ohne Essen und Trinken in einem kleinen Boot auf dem Meer trieb, lebt heute »als Pflegesohn in einer deutschen Professorenfamilie, bereitet sich auf das
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Haubold, »Die letzte Fahrt der ›Cap Anamur‹?«. Bui, Envisioning Vietnamese migrants in Germany, 102. o. A., »Tausendfacher Dank der Wiedergeborenen.« Süddeutsche Zeitung, 29.09.1986. Ebd. Bui, Envisioning Vietnamese migrants in Germany, 104. Suk-mun Law, The invisible citizens of Hong Kong, 118. Christina Rogers, »Von Vietnam zum Sommer der Migration.« In Unsichtbar, 70.
4. Die Rettung der Boat People – radikale Humanität und ihre Grenzen
Abitur vor und möchte später einmal etwas studieren, das mit Elektronik zu tun hat.«267 Die Wiedergeburt ist etwas Neues, bei der man nicht zurückschaut, sondern neue Chancen ergreift und hart für seinen Erfolg arbeitet. Die Situation und der Aufenthalt der Herkunftsfamilie bleiben unerwähnt. Hier klingt zudem schon ein neues Narrativ an, dass sich erst 20 Jahre später voll entfaltet: der überdurchschnittliche Bildungserfolg der Vietnames*innen. Die Geschichte der Boat People etabliert sich als migrantisches Herkunftsnarrativ und Rechtfertigung für die Anwesenheit in der Bundesrepublik. Die Erfolgsgeschichte wird fortgeschrieben.
4.5 Fazit Die Aufnahme der vietnamesischen Boat People wird in der neueren Literatur als Besonderheit und Erfolgsgeschichte dargestellt, weil in diesem Fall das Paradigma des Nichteinwanderungslandes außer Kraft gesetzt und den Boat People ein Bleiberecht zugestanden wurde. Der Diskurs über die Boat People unterschied sich zunächst deutlich vom Diskurs über Asyl. Aufnahme und Integration wurden positiv gesehen und von der einheimischen Bevölkerung unterstützt. Zuwanderung wurde nicht als Bedrohung wahrgenommen und das Eigene wurde als Retter*in in der Not inszeniert. Die Vietnames*innen werden als Opfer dargestellt und ihre vielen positiven Eigenschaften wie Zurückhaltung und Leistungsbereitschaft betont. Die diskursive Rahmung, die die gefährliche Flucht vor dem Kommunismus, die kontrollierte Aufnahme und schnelle Integration sowie die Integrationsfähigkeit des Vietnames*innen beinhaltete, ermöglichte diese großzügige Aufnahmebereitschaft und den Aufgenommenen eine Zukunftsperspektive. Dennoch ist das Deutungsmuster der Aufnahme als Erfolgsgeschichte zumindest teilweise in Frage zu stellen. Die Bundesrepublik inszenierte eine Willkommenskultur und nahm gleichzeitig weniger als ein Prozent der Flüchtenden auf. Nach einem Jahr reaktivierte sich der Selbstschutzmechanismus des Nichteinwanderungslandes. Dies zeigte sich in der Auseinandersetzung um legitime Fluchtgründe und eine mögliche Sogwirkung durch die Rettungsaktionen der Cap Anamur. Das eigene Selbstverständnis stand im Spannungsfeld zwischen humanitärer Verantwortung und der Angst vor Verlust der eigenen Identität. Es änderte sich nicht grundlegend etwas im Verständnis als ethnischhomogener Nationalstaat, deren Zugehörigkeit nur über Abstammung erreicht werden kann und dessen sozialer Frieden durch die Anwesenheit Anderer bedroht ist. Des Weiteren ist auch die Erfolgsgeschichte der Integration bei der Berücksichtigung des antiasiatischen Rassismus in Frage zu stellen. Die Zuschreibungen der Vietnames*innen basieren durchgängig auf Passivität, sie werden umsorgt und bevormundet und bleiben Objekte des Rettungs- und Integrationsprozesses. Zudem wird von ihnen erwartet, zurückhaltend, anpassungsfähig und dankbar zu sein. Ihre individuellen Erfahrungen und Vorstellungen sind nicht Teil des Diskurses. Der Preis der Integration und Zugehörigkeit ist der Verzicht auf Individualität, Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit beziehungsweise Irritationen und Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. 267 o. A., »Tausendfacher Dank der Wiedergeborenen«.
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Das Deutungsmuster der Großzügigkeit im Diskurs über die vietnamesischen Boat People kann im Verhältnis Retter*in – Opfer beschrieben werden. Das Eigene als Retter*in oder Helfende ist eng verbunden mit der medialen Berichterstattung über die Hilfe. Das Eigene wird präsentiert in einer aktiven und überlegenen Position, indem es hilft, entscheidet, organisiert und plant. Integration wird als linearer und steuerbarer Prozess mit mehreren Phasen verstanden, den die Vietnames*innen durchlaufen müssen. Wesentliche Ziele, um integriert zu sein und dazuzugehören sind Deutschkenntnisse und Erwerbstätigkeit. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, die im Gegensatz dazu als Naturereignis und als nicht steuerbar dargestellt wird, wird begeistert präsentiert, jedoch auch mit der Sorge, wie lange sie anhält. Der Tod zweier geflüchteter Vietnamesen bei einem Brandanschlag in Hamburg zeigt nicht nur die Bedrohung aller geflüchteter Menschen durch den Rechtsextremismus, sondern vielmehr auch die Unfähigkeit, Rassismus in dieser Gesellschaft zu benennen und zu bekämpfen. Die Konstruktionen der Anderen sind auf der Flucht von Leiden, Hilflosigkeit und existenzieller Not geprägt. Die Beschreibungen der Fluchtgründe hingegen sind so divers und gegensätzlich, dass sie einen leeren Signifikanten im Diskurs darstellen. Bei der Ankunft in Deutschland, welche medienwirksam inszeniert wird, erfolgt die größte Differenzkonstruktion zum Eigenen anhand der Leiderfahrung, welche ihre Gesichter gezeichnet hat, aber auch anhand von biologistischen Beschreibungen ihres Aussehens. Sie wirken wie ungefragte Statist*innen in einem Film. Beim Ankommen hingegen wird Nähe hergestellt über ihre Hilfsbedürftigkeit und über positive Eigenschaften wie Zurückhaltung, Freundlichkeit und Sauberkeit, die sie mit den Deutschen gemeinsam hätten. Die Entwicklung von eigenen Vorstellungen zum Beispiel bei der Berufswahl wird als Anspruchsdenken und Undankbarkeit abgelehnt. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Aufnahme der Boat People angesichts des Diskurses um den Asylmissbrauch wie eine Kontrastfolie wirkt, wie Migrationspolitik auch gestaltet werden könnte. Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch auch Ähnlichkeiten wie die Auseinandersetzung um legitime Fluchtgründe und die Angst vor Überfremdung. Im Diskurs über den Asylmissbrauch erfolgt die Fixierung und Festschreibung des Anderen als Täter*in, im Diskurs über die Boat People geschieht dies als passive und hilflose Opfer. In beiden Fällen determiniert es die Beziehung zwischen Eigenem und Anderem und verengt das Sagbarkeitsfeld. Das Eigene als großzügige Retter*in erschwert kritische Betrachtungen des eigenen Handelns und benötigt stets die Presse als Bestätigung. Der mediale Diskurs trug auf der einen Seite dazu bei, dass die Aufnahme in die Bundesrepublik erfolgte. Zum anderen wurde die Aufnahme dadurch zu einem öffentlichen Ereignis, welche das Leiden, die Verhaltensweisen und Eigenarten der Vietnames*innen mit wenig Rücksicht auf Intimsphäre im Rampenlicht verhandelte.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
In Gesellschaften, die sich selbst als nationale, abgeschlossene Container verstehen, entsteht Beunruhigung, wenn dieser Container ein Schlupfloch1 aufweist, durch das Menschen ohne Kontrolle und Steuerungsmöglichkeit hineinkommen können. Das vorliegende Kapitel zeigt, wie stark diese Container-Vorstellungen die kollektiven Wissensordnungen über Migration prägen, wie sehr sich Nationalstaaten über ihre Grenzen und deren Kontrolle definieren und das Eigene bei empfundenem Kontrollverlust erschüttert wird. Des Weiteren wird in diesem und den beiden folgenden Kapiteln deutlich, dass bei den Konstruktionen des Eigenen in den 1980er und 1990er Jahren das sich verändernde und ambivalente deutsch-deutsche Verhältnis mitberücksichtigt werden muss. Im Sommer 1986 entwickelte sich eine emotionalisierte Debatte über die Einreise von Asylsuchenden über die DDR nach Westberlin, welche als Einreise durch das Schlupfloch Berlin im Diskurs bezeichnet wurde. Seit 1984 reisten immer mehr Flüchtlinge über die DDR in die Bundesrepublik ein, 1986 waren es zwei Drittel aller Asylsuchenden, die über den Ostberliner Flughafen Schönefeld nach Westberlin kamen.2 Sie nutzten dabei einen Grenzübergang, der auf Seiten der DDR nur für ausländische – meist außereuropäische – Flüchtlinge und kaum für DDR-Bürger*innen durchlässig war. 1986 stiegen die Antragszahlen nach 1980 zum zweiten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auf knapp 100.000.3 Auch die Anzahl der veröffentlichen Artikel in den beiden Zeitungen erreichte mit 107 Artikeln in diesem Jahr ihren vorläufigen Höhepunkt, was einen Bedarf an medialer Aushandlung andeutet. Als ein Faktor der Zuspitzung ist der Wahlkampf für die Bundestagswahl im Januar 1987 zu sehen, bei dem die Parteien gezwungen waren, Lösungen für das Asylantenproblem zu präsentieren. Zu dieser Zeit wurde eine Änderung des Asylgrundrechts auf bundespolitischer Ebene Bestanteil des Sagbarkeitsfeldes. Die Zuwanderung von geflüchteten Menschen bekam in jenem Jahr eine kollektiv geteilte Rahmung anhand der Begriffe Asylantenfrage beziehungsweise Asylantenproblem. Das Schlupf1
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Der Begriff Schlupfloch transportiert diese Vorstellung von Nationalstaaten als Container mit geschlossenen Wänden, in welchen Zuwanderer*innen durch Löcher »eindringen« und als Bedrohung wahrgenommen werden. Staadt, »Geschlossene Gesellschaft,« 48; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen zu Asyl,« 5. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen zu Asyl,« 5.
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loch beschreibt dabei die Wahrnehmung, dass an Deutschlands Grenze ein Loch besteht, durch das Menschen in die Bundesrepublik kommen können. Aufgrund des besonderen Status von Westberlin konnte die Bundesrepublik die Grenze auf ihrer Seite nicht schließen, was als Kontrollverlust und Handlungsunfähigkeit beschrieben wurde. Das Misstrauen gegenüber der DDR, Zuwanderung bewusst zu fördern, und die Sorge um Westberlin bewirkten eine Diskursverschränkung von Asyl und dem deutsch-deutschen Verhältnis, sodass das Eigene anhand von zwei verschiedenen Differenzkonstruktionen ausgehandelt wurde: der DDR und den Flüchtlingen als Andere. Die politischen Ereignisse um das Schlupfloch Berlin und auch der Diskurs darüber sind bisher kaum wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse der Analyse weisen jedoch darauf hin, dass dies ein ergiebiger und für die Asylgeschichte der Bundesrepublik wichtiger Forschungsgegenstand ist.
5.1 Kontextualisierung 5.1.1 Ausländerpolitik in den 1980er Jahren und die Asylmigration nach Westberlin Als Anfang der 1980er Jahre die Asylantragszahlen sanken, veränderte sich der Fokus der politischen und öffentlichen Wahrnehmung von der Asyl- zur Ausländerpolitik. Beim Regierungswechsel 1982 definierte die schwarz-gelbe Koalition die Ausländerpolitik als eine von vier Schwerpunkten ihres Dringlichkeitsprogramms. Dieser umfasste die drei Ziele: Integration ermöglichen, Zuzug begrenzen, Rückkehr erleichtern. Zudem betonte Bundeskanzler Helmut Kohl, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Dass die Zuwanderung der Gastarbeiter kein vorübergehendes Phänomen war, sickerte zwar langsam ins politische Bewusstsein, wurde öffentlich aber nicht transparent gemacht. In Bevölkerungsumfragen stieg die Forderung nach Rückkehr der Gastarbeiter in der Zeit von 1978 bis 1983 von 39 auf 80 Prozent.4 »Dass eine große Anzahl der ›Gastarbeiter‹ als Einwanderer dauerhaft bleiben und die Zusammensetzung der Bevölkerung dadurch ethnisch heterogener werden würde, überstieg den zeitgenössischen Vorstellungshorizont der politischen und gesellschaftlichen Mehrheit und erschien auch wegen des vorherrschenden ethnisch-nationalen Selbstverständnisses [...] kaum politisch vermittelbar«.5 Der Integrationsdiskurs, der insbesondere über Menschen mit türkischem Migrationshintergrund geführt wurde, basierte auf der Idee kultureller Differenzen, die die Probleme
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Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945: 1971–1989, hg. v. Christoph Boyer (Baden-Baden: Nomos, 2008), 621–8. Monika Mattes, »Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.« In Oltmer, Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert (s. Anm. 22), 850f.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
des Miteinanders erklärten.6 In der Ausländerpolitik stand zudem vor allem die Zuwanderungsverhinderung und Rückführung und kaum das Zusammenleben oder eine Integrationsförderung im Mittelpunkt. Dies verstärkte sich Mitte der 1980er Jahre, als die Asylantragszahlen erneut stiegen und sich in den Debatten beide Migrationsphänomene vermischten. Während jedoch die Rückführung von Gastarbeitern und die Verhinderung des Familiennachzugs kaum möglich waren, wurde Asylpolitik das Handlungsfeld, auf dem Entscheidungswillen gezeigt werden konnte.7 Auffälligerweise werden die beiden Migrationsphänomene in den analysierten Zeitungen selten miteinander betrachtet. Nur an wenigen Stellen finden sich Bezüge, wie beispielsweise der Hinweis, dass bereits bei den Gastarbeitern die Integration gescheitert sei. Mit den steigenden Zahlen begannen erneut die Forderungen nach Asylrechtsänderungen, bei der auch eine Grundgesetzänderung auf bundespolitischer Ebene in Betracht gezogen wurde.8 Die Änderungsforderungen berührten sowohl die Definition der politischen Verfolgung als auch Asyl als ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht und stellten somit beide Rechtsgrundlagen infrage.9 Trotz vehementer Kritik, die aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft kam, gelang es der Union mit Unterstützung der FDP 1986 ihre Forderungen weitgehend umzusetzen. Die SPD und die FDP hatten mit dem Zugeständnis gehofft, die öffentliche Auseinandersetzung um die Grundgesetzänderung zu beenden und negative Auswirkungen auf das Wahlergebnis der Bundestagswahl 1987 zu verhindern.10 Der nun fast zehn Jahre andauernde Diskurs um Asylmissbrauch und die kontinuierliche Markierung und Problematisierung des Andersseins von Ausländern trugen zu unterschiedlichen Entwicklungen bei. Zum einen lässt sich ein Erstarken von rechten Parteien und Positionen, wie etwa die des Heidelberger Manifestes sowie eine Zunahme von rassistischen Anschlägen (allein 60 bekannte im Jahr 1986) beobachten. Zum anderen entwickelte sich auch eine Gegenreaktion in der Zivilgesellschaft, wie etwa die Gründung von Pro Asyl e.V. und der Flüchtlingsräte in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Ende der 1980er Jahre war Asyl zu einem hochexplosiven und emotionalisierten Thema in der Bundesrepublik geworden.11 Die Verengung und Zuspitzung des Diskurses erfolgten 1986 anhand der Diskussion um das Schlupfloch Berlin. Ein großer Anteil der Menschen, die in der Bundesrepublik einen Asylantrag stellten, reiste über den Flughafen Schönefeld in Ostberlin und den Bahn-
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Rita Chin et al., After the Nazi Racial State: Difference and Democracy in Germany and Europe. (Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2009). Poutrus, Umkämpftes Asyl, 95. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 106–7; Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 70ff. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 71. Christoph E. Palmer, Der Bundestagswahlkampf 1986/1987: Eine systematische Darstellung der Wahlkampfführung der Bundestagsparteien und der Rahmenbedingungen der Wahl, Europäisches Forum 10 (Frankfurt a.M.: Lang, 1993), Zugl.: Hohenheim, Univ., Diss., 1992, 106–7. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 621, 643; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 99–100.
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hof Friedrichstraße mit einem Transitvisum in den Westen ein. Der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße, auch als Palast der Tränen bezeichnet, weil er die Unmöglichkeit der Ausreise aus der DDR und die Trennung vieler Familien symbolisierte, wurde für Flüchtlinge aus dem Globalen Süden zur offenen Tür in die Bundesrepublik. Bereits in den 1970er Jahren gab es ein Bewusstsein über diese Art der Einreise bei der Westberliner Polizei. 1985 reiste ein Drittel aller Asylsuchenden über Ostberlin ein, 1986 stieg der Anteil auf zwei Drittel.12 Zur gleichen Zeit fokussierte sich die Auseinandersetzung um Asyl immer stärker auf die Einreise über die DDR. Im Juli 1985 wurde eingeführt, dass tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka nur noch mit einem gültigen westdeutschen Visum über Ostberlin in die BRD einreisen können. »Charakteristisch für die Behandlung der Flüchtlinge aus Sri Lanka [...] war bei Regierung und Opposition die Unterstellung eines ›Asylmißbrauchs‹ [...] allein aufgrund der Einreise über Ostberlin ohne jede weitere Begründung bezüglich der Fluchtursachen oder der Situation in Sri Lanka.«13 Die Zuwanderung über Ostberlin wurde nicht nur als innen- und außenpolitisches Problem wahrgenommen, sondern es wurde auch befürchtet, mit der Einführung von Grenzkontrollen den völkerrechtlichen Status der DDR und Westberlins zu verändern. Da die Bundesrepublik und die Alliierten die innerdeutsche Grenze nicht anerkennen wollten, war es ihnen auch nicht möglich, von westdeutscher Seite Grenzkontrollen einzuführen. Die Kontrolle wurde nach innen verlagert, indem in den U- und S-Bahnen von der Friedrichstraße kommend Personen mit zugeschriebenem ausländischem Aussehen kontrolliert wurden. 1984/85 wurden 15.000 Personen aufgrund racial profiling kontrolliert. Die Beschwerden von Berliner*innen mit türkischer Migrationserfahrung ständig in der Bahn kontrolliert zu werden, wurden mit Hinweis auf die notwendige Bekämpfung von internationalem Terrorismus abgewiesen. Durch das Profiling stieg die Zahl der Asylanträge noch an, da die Einreisenden gezwungen waren, einen Asylantrag zu stellen und nicht in andere Länder weiterreisen konnten.14 1986 erreichte die SPD in Verhandlungen mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) der DDR die restriktivere Ausstellung von Transitvisa nur bei Vorliegen eines Visums für die BRD. Die Verhinderung der Einreise sollte sich zunächst auf den Iran, Libanon und Ghana beziehen, um Diskriminierungsvorwürfe einzelner Länder abzuwehren und dennoch knapp zwei Drittel der Einreisenden zu erfassen. Die DDR erklärte sich bereit, nur noch Transitvisa auszustellen, wenn ein Visum für die BRD sowie eine persönliche Gefährdung oder weitere humanitäre Gründe vorlägen. Zudem sicherte die SED zu, Werbung der Fluglinie Interflug so zu verändern, dass kein Hinweis auf den Transit nach Westberlin mehr gegeben werde.15 12 13
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Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 69 Siehe dazu auch; Lummer, Asyl. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 170 Die Tamilen waren eine der Flüchtlingsgruppen mit den meisten Negativzuschreibungen in der deutschen Öffentlichkeit. Die kollektive Verfolgung, Misshandlung und Hinrichtung der tamilischen Minderheit in Sri Lanka nach dem Regierungswechsel im September 1982 wurde hingegen kaum registriert, S. 170–180. Lauren K. Stokes, »Honeckers fliegender Teppich: Racial Profiling im Kalten Krieg.« Die Zeit, 30.07.2020, 32/2020. Staadt, »Geschlossene Gesellschaft,« 50–53.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
Die geheimen politischen Verhandlungen zwischen SPD und SED, die schließlich zu einer restriktiveren Handhabung von Transitvisa führten, waren der Öffentlichkeit nicht bekannt. Anfang September 1986 fand das entscheidende Gespräch unter sechs Augen zwischen Egon Bahr (SPD)16 , SED-Generalsekretär Erich Honecker und dem Sekretär für internationale Beziehungen Herrmann Axen statt. Dabei waren die Migrationsbewegungen über Ostberlin zwar Anlass und Gegenstand, es wurden jedoch weiterführende politische Ziele damit verfolgt. Ziel war für beide Seiten ein Regierungswechsel durch die Bundestagswahl 1987, der mit der Lösung des Asylantenproblems erreicht werden sollte, sowie der Wunsch der SED, die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft mithilfe der SPD durchzusetzen. Die SPD befürchtete, dass der CDU die Instrumentalisierung des Thema Asyls zum Wahlsieg verhelfen würde. Die Verhinderung der Asylzuwanderung über Ostberlin wurde aus wahltaktischen Gründen relevant und gab der SED den entscheidenden Trumpf in die Hand.17 Von Seiten der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Johannes Rau wurde die Entwicklung wie folgt beschrieben: Die Asylantenfrage werde missbraucht, um eine ausländerfeindliche Atmosphäre zu erzeugen und die unmöglich zu realisierende Grundgesetzänderung zum Wahlkampfthema zu machen. Die SPD hingegen distanziere sich von den Vorwürfen, die gegen die DDR erhoben werden, und habe sich bemüht, im Sinne guter Nachbarschaft gemeinsame Lösungen anzustreben. Auf die Frage, was die BRD als Gegenleistung bringe, soll Rau geantwortet haben, dass dies keinen Pfennig koste. Während die Vermutungen über die plötzliche Einigung in der FAZ und SZ recht vorsichtig bleiben, wird das Erste Deutsche Fernsehen deutlicher: »Der Kampf um die Bundestagswahl im Januar nächsten Jahres hat begonnen und Erich Honecker ist mit von der Partie, auf seiten der Sozialdemokratie.«18 Kurzfristig verschwand anschließend das Thema Asyl aus der Öffentlichkeit und spielte beim Bundestagswahlkampf keine bedeutende Rolle mehr.19 Dennoch verlor die SPD die Bundestagswahl und musste sich daher auch nicht mit ihren Wahlversprechen gegenüber der SED auseinandersetzen. Die Asylantragszahlen halbierten sich von mehr als 11.000 Asylanträgen im Oktober auf knapp 5.000 Asylanträge im November 1986. Vor allem die Zahlen aus den außereuropäischen Ländern (Iran, Türkei, Libanon, Sri Lanka) gingen zurück, während die Antragszahlen aus den europäischen Ländern fast gleichblieben.20 Dennoch schloss sich das Schlupfloch niemals ganz, selbst im September 1989 gab es noch 294 Grenzübertritte. Schätzungen zufolge kamen so 50.000 bis 100.000 Asylsuchende in die Bundesrepublik.21 Berlin wurde auf ganz unterschiedlichen Ebenen bedeutsam im Asyldiskurs, was auch aus der symbolischen Bedeutung und Geschichte der geteilten Stadt resultierte. 16
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Egon Bahr, der in großem Ausmaß zur Entstehung der Ostverträge beigetragen hatte und 1986 als Abgeordneter im Bundestag saß, wurde von der SPD-Führung als geeignete Person für die Verhandlungen betrachtet. Staadt, »Geschlossene Gesellschaft,« 46–50. Staatliches Komitee für Rundfunk, Redaktion Monitor, Kommentar von Jürgen Engert, 18.09.1986; zitiert in: Staadt, »Geschlossene Gesellschaft,« 56. Palmer, Der Bundestagswahlkampf 1986/1987, 106–7. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 85–87. Stokes, »Honeckers fliegender Teppich«.
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5.1.2 Geschichte und symbolische Bedeutung Berlins Die symbolische Bedeutung Berlins war eine wesentliche Rahmung des Diskurses und führte erst zu einer Dramatisierung und dem Gefühl der Handlungsunfähigkeit. Dies lässt sich nur mit der Geschichte und dem besonderen Status der Stadt nachvollziehen. »Berlin, die ehemalige deutsche Hauptstadt, teilt als die europäische ›Mitte der Mitte‹ das Schicksal der Teilung. Ihr spezifisches Gewicht sollte nicht unterschätzt werden. Derjenige, dem es gelänge, über das ganze Berlin zu verfügen, würde die Gewichte in ganz Deutschland und darüber hinaus neu verteilen. Der beste Anhaltspunkt für die Berlin zugemessene Bedeutung ist, daß dort die wesentlichen Teilnehmer des Kräftespiels unmittelbar präsent sind [...] Die Stadt ist so etwas wie der geometrische Mittelpunkt eines Mobiles. Wer das Mobile dort in Bewegung setzt, setzt alle anderen Teile mit in Bewegung.«22 Der Status von Berlin bekam somit eine symbolische Bedeutung in der Aushandlung des deutsch-deutschen Verhältnisses und der Darstellung des Kräfteverhältnisses im Kalten Krieg. Die Asylzuwanderung über Ostberlin 1986, die objektiv kaum eine Bedrohung für die Veränderung des Status von Westberlin darstellte, wurde jedoch subjektiv so empfunden und emotional aufgeheizt. Westberlin war daher viel mehr war als eine halbe Stadt und ein Anhängsel der BRD, sondern beinhaltete eine große Symbolkraft für die offene deutsche Frage. Bereits in der Entstehung der Bundesrepublik und der DDR spielte Berlin eine entscheidende Rolle. Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen der vier Siegermächte eingeteilt. Berlin sollte, obwohl es im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone lag, gemeinsam durch die Alliierte Kommandantur verwaltet werden. Die Sowjetunion vertrat jedoch den Standpunkt, dass jeder der Siegermächte auf seinem Gebiet auch das Gesellschaftssystem bestimmen solle und errichtete eine Blockade für Westberlin, sodass diese nur noch aus der Luft versorgt werden konnte. Diese sogenannte Luftbrücke dauerte elf Monate. Es herrschte unter den westlichen Alliierten durchaus nicht von Anfang an Einigkeit, ob Westberlin verteidigt und unterstützt werden solle, oder ob ein Rückzug die bessere Lösung sei. Die Blockade war somit der Beginn der symbolischen Bedeutung und der westlichen Zugehörigkeit von Berlin, sowohl für die Westberliner Bevölkerung als auch für die Alliierten, die Westberlin immer stärker als Symbol sahen, Europa gegen den Kommunismus zu halten.23 Westberlin wurde in das Finanz- und Rechtssystem der Bundesrepublik eingliedert, jedoch kein »konstitutiver Teil der Bundesrepublik«24 , weil Berlin weiterhin unter dem Viermächtestatus verblieb. Als weiteres wesentliches Ereignis ist die Zweite Berlinkrise (1958–1961) zu nennen, die mit dem Bau der Berliner Mauer ihr Ende fand. Westberlin wurde in den 1950er Jahren zum wichtigsten Fluchtpunkt und zum Tor in die Bundesrepublik. 1953 kamen 90 %
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Udo Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, Bibliothek Wissenschaft und Politik 36 (Köln: Verl. Wiss. und Politik, 1985), 9. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, 43–58. Ebd., hier S. 54.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
der DDR-Flüchtlinge in Westberlin an. Daraus prägten sich auch die Begriffe »Schaufenster der Freiheit« und »Schlupfloch Westberlin«.25 Die Sowjetunion verfolgte mit der Zweiten Berlinkrise jedoch nicht nur die Verhinderung der Abwanderung in den Westen, sondern wollte Berlin als selbstständige politische Einheit und entmilitarisierte freie Stadt deklarieren, um Berlin als Hauptstadt der DDR etablieren zu können. 1961 wurde die innerdeutsche Grenze auch in Berlin geschlossen. Die Annäherungspolitik von Willy Brandt mit der Formel »Wandel durch Annäherung« resultierte aus der Erfahrung und der Bedrängnis einer ummauerten Stadt. Westberlin wurde in den 1960er Jahren zum »deutschlandpolitischen Labor der Bundesrepublik«, das sich durch eine »selbstbewusste, aber pragmatisch offene Haltung« auszeichnete, »um konstruktiv Lösungen für die von der Mauer eingeschlossene Bevölkerung«26 zu finden. Als Bundeskanzler erreichte Willy Brandt mit der »Neuen Ostpolitik«, dass 1972 der Status von Berlin nach zwölf Jahren politischer Unsicherheit mit dem Viermächte-Abkommen bzw. Berliner Abkommen vertraglich geregelt wurde.27 Dies machte anschließend auch den Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR möglich, der zum ersten Mal die deutsch-deutschen Beziehungen regelte, aber auch die Unstimmigkeiten festhielt. Die DDR verfolgte im Kontakt mit der BRD das Ziel, die völkerrechtliche Anerkennung und die damit verbundene eigenständige Staatsbürgerschaft ihrer Bürger*innen zu erreichen.28 Für die BRD blieb das Ziel der neuen Ostpolitik die nationale Einheit, die auch in der Präambel des Grundgesetzes verankert war: »Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.« Auf westdeutscher Seite lässt sich in den 1980er Jahren sowohl neue Hoffnung auf Wiedervereinigung durch die Friedensbewegung und die Debatte um Abrüstung finden als auch eine stärkere Normalisierung der Teilung.29 Auch die Mauer als Symbol der Teilung erfuhr eine Normalisierung, wie etwa durch ein schwächeres Bewusstsein für die Brutalität und den Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze.30 Die Geschichte Westberlins macht deutlich, dass die Auseinandersetzung um die Zuwanderung von Asylsuchenden über die DDR nicht losgelöst von der deutsch-deutschen Frage und der damit verbundenen symbolischen Bedeutung Westberlins erfolgen konnte. Der Schutz von Westberlin konnte auch 1986 noch als hohe Priorität präsentiert werden. Zudem wurde die Suche nach Lösungen symbolisch und emotional aufgeladen und als Gradmesser für die deutsch-deutschen Beziehungen betrachtet. Berlin wurden
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Ebd., 132. Frank Wolff, »In der Teilung vereint: Neue Ansätze der deutsch-deutschen Zeitgeschichte.« Archiv für Sozialgeschichte 58 (2018): 367. Marie-Luise Recker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Orig.-Ausg., 2., überarb. und erw. Aufl., Beck’sche Reihe C.-H.-Beck-Wissen 2115 (München: Beck, 2005), 68–71. Bernd Faulenbach, »Zur retrospektiven Beurteilung des deutsch-deutschen Verhältnisses 1972–1990.« In 2 x Deutschland: Innerdeutsche Beziehungen 1972 – 1990, hg. v. Andreas H. Apelt, Robert Grünbaum und Jens Schöne (Halle, Saale, Halle (Saale): Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt; Mitteldt. Verl., 2013), 15–21. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, 9–11. Hermann Wentker, »Der Westen und die Mauer.« In Revolution und Vereinigung 1989/90: Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, hg. v. Klaus-Dietmar Henke, Orig.-Ausg, dtv premium 24736 (München: Dt. Taschenbuch-Verl., 2009), 207–9.
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verschiedene Funktionen der deutsch-deutschen Frage zugeschrieben wie der »Pfahl im Fleische der DDR«, das »Schaufenster des freien Westens«31 , das »Licht, am Ende eines langen Weges, den die Nation zu gehen hat«32 , das »Schlupfloch« in den Westen, der »Katalysator für die Überprüfung geltender Grundsätze und Methoden im Umgang mit der Sowjetunion und der DDR«, die »Frontstadt« zur Abwehr und Bekämpfung des Kommunismus33 , und laut Ernst Nolte die »offene Wunde«34 der deutschen Teilung. Der Begriff der »offenen Wunde Berlin« veranschaulicht diese symbolische Bedeutung. Anhand der Metapher wird bildlich deutlich, dass die Hoffnung auf eine deutsche Einheit weiter bestehen bleibt. Solange Berlin als geteilte Stadt unter dem Vier-Mächte-Status existierte, solange die Wunde der deutschen Trennung nicht verheilte, solange blieb Berlin Symbol eines vorübergehenden Zustandes und der Hoffnung auf deutsche Einheit. Der Begriff wurde während der deutschen Teilung vor allem von jenen genutzt, die an dieser Möglichkeit festhalten wollten. Der Spiegel veröffentlichte 1983 eine Rede des DDR-Schriftstellers Stefan Heym in München mit dem Titel: »Die Wunde der Teilung eitert weiter«: »Und in diesem Wirrwarr, in dem alles in Bewegung ist und nichts bleibt, wie es gestern war, soll just die Zweiteilung Deutschland mit der zweigeteilten Stadt Berlin auf immer festgeschrieben sein? [...] Der Schrägstrich durch Deutschland markiert eine offene Wunde: wir können noch so viel Antibiotika darauf streuen, sie wird weiter eitern. [...] Die Teilung Deutschlands als ein vorübergehendes Phänomen betrachten, heißt, sich Gedanken zu machen, wie denn diese Teilung zu überwinden wäre«.35 Auch er verweist auf die zweigeteilte Stadt Berlins, die nicht als Dauerzustand hingenommen werden soll und nutzt dafür das deutliche Bild der eiternden Wunde als produktive Erinnerung. Berlin war für beide Seiten eine offene Wunde. Für die DDR war Berlin »mit seiner freiheitlichen Existenz des Westteiles und mit der davon ausgehenden Ausstrahlung faktisch ›Pfahl im Fleisch‹ der kommunistischen Herrschaft in der DDR. Die Stadt war aber ebenso die ›offene Wunde‹ der BRD, die immer wieder das Drama der deutschen Teilung vor Augen führte.«36 Berlin und die Mauer hatten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes, ein identitäts- und ordnungsstiftendes Element für die bundesdeutsche Gesellschaft. Sie waren Mittelpunkt und Leerstelle zugleich und erforderten nach dem Mauerfall den Beginn einer neuen »gesellschaftlichen und weltpolitischen Standortsuche der Deutschen.«37 In der Beschreibung
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Eberhard Schulz, Die deutsche Nation in Europa. Internationale und historische Dimensionen. (Bonn, 1982), 207. Johann B. Gradl und Christian Hacke, Hg., Stets auf der Suche: Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik (Köln: Verl. Wissenschaft und Politik, 1979), 142. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, 73,146,148. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg (Stuttgart, 1985), 400. Stefan Heym, »»Die Wunde der Teilung eitert weiter«.« DER SPIEGEL 1983, Nr. 45. Redaktion Zukunft braucht Erinnerung, »Mauerbau und Berlinkrise – Berlin im Zentrum des OstWest-Konfliktes und des Kalten Krieges.« Zuletzt geprüft am 17.04.2019, https://www.zukunft-br aucht-erinnerung.de/mauerbau-und-berlinkrise-berlin-im-zentrum-des-ost-west-konfliktes-un d-des-kalten-krieges/. Ebd.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
des Diskurses wird zunächst auf die Besonderheiten des Asyldiskurses eingegangen, um dann die hier bedeutsamen Konstruktionen von Eigenem und Anderen im deutschdeutschen Verhältnis näher zu betrachten.
5.2 Beschreibung des Diskurses 5.2.1 Charakteristika des Asyldiskurses Asyl war nach der Nuklear-Katastrophe in Tschernobyl 1986 das wichtigste Thema der Medienberichterstattung. Seit Monaten »›strömten‹ und ›fluteten‹ die ›Asylanten‹ [...] ununterbrochen auf Bildschirmen und Papier«38 . Das Deutungsmuster des Misstrauens erschien ab Ende 1985 wieder vermehrt im medialen Diskurs und knüpfte an die Argumentationsmuster von 1977 an. Während sich diese von 1973–1980 erst langsam entwickelten und Prozesse der Enttabuisierung durchliefen, wurden sie nun in ihrem gesamten Spektrum reaktiviert.39 Es ging nicht mehr nur darum, den Asylmissbrauch von Menschen zu verhindern, die keine legitimen Fluchtgründe vorweisen konnten. Vielmehr wurde mit allgemeiner Überlastung argumentiert, daher könne die Bundesrepublik nicht in einer von Krisen geprägten Welt Millionen von Menschen aufnehmen, die nach dem deutschen Asylrecht asylberechtigt wären. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Wolfgang Zeidler, befürchtete, dass eine Milliarde Chines*innen asylberechtigt wären, »wenn man die gewaltsame Familienplanung der chinesischen Regierung als politische Verfolgung auslege.«40 Im medialen Diskurs im Sommer 1986 wird fast täglich die Forderung wiederholt, das Schlupfloch Berlin zu stopfen und das Asylantenproblem zu lösen. Im Diskurs tauchen immer mehr zusammengesetzte Wörter wie Asylantenfrage, Asylantenstrom und Asylantenfluten auf. Die starke Fokussierung auf das Schlupfloch und die nicht schließbare Grenze lässt die Bundesrepublik als ohnmächtig und handlungsunfähig wirken. »Die Bundesrepublik wurde durch diese Interpretation der asylpolitischen Wirklichkeit zu einem von einer unabsehbar großen Zahl von Flüchtlingen heimgesuchten Land, das aus eigener Kraft [...] nicht in der Lage war, diesen Mißstand zu beheben oder zu beenden, da die DDR durch die Erteilung von Transitvisa über Einreise und Nichteinreise bestimmte.«41 Die offene Grenze knüpft an verschiedene Sinnbilder im Asyldiskurs an, die verständliche und kollektive Vorstellungen beinhalten, die die Subjektivität und Affekte einer Gesellschaft betreffen und daher so wirkmächtig sind.42
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Jürgen Link, »Medien und ›Asylanten‹: Zur Geschichte eines Unworts.« In Flucht und Asyl, 50. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 92. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 106. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 82–83. Ute Gerhard, »›Fluten‹, ›Ströme‹, ›Invasionen‹ – Mediendiskurs und Rassismus.« In Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, 245–6.
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»Die Bundesrepublik ist im Verhältnis zu Flüchtlingen und Einwanderern [...] wie ein ›Boot‹, in den ›Fluten‹ mit geöffneten ›Schotten‹ bzw. ›Undichtigkeiten‹; wie ein ›Land‹, bei dem trotz einer ›Belagerung‹ bzw. ›Invasion‹ die ›Einfallstor‹ weit offenstehen; wie ein ›Haus mit einer nicht funktionierenden Tür‹, angesichts eines ›Riesendrängens‹ bzw. ›Ansturms‹; wie ein ›Körper‹, der bedroht ist von ›Krankheiten‹ und ›gefährlichen Giften‹«43 . Es entwickelte sich, auch im Rahmen der anstehenden Bundestags- und Landtagswahlen eine »hysterische Medienkampagne [...] um die Einreise von Flüchtlingen nach Westberlin. [...] Die Bundesrepublik, die für Deutsche immer auf freie Reisemöglichkeiten bestand und die Grenze innerhalb Berlins nicht anerkannte, verlangte nun die Schließung für Flüchtlinge.«44 Die Grenze als »Trennungs- und Kontaktraum«45 war für verschiedene Gruppen auf beiden Seiten unterschiedlich durchlässig und in kontinuierlicher Aushandlung. Die unklare Situation zwischen den zwei Staaten konnten die Asylsuchenden im Sinne der Autonomie der Migration für sich nutzen.46 Die Debatte war von einer zunehmenden Polarisierung und Emotionalisierung sowie von wahltaktischen Überlegungen geprägt, die eine pragmatische Diskussion um Asyl und Einwanderung verhinderte. Asyl wurde zu einem Wahlkampfthema der konservativen Parteien und für die Medien zu einem »Profilierungsobjekt«47 . Die Auseinandersetzung um das Schlupfloch Berlin und die ungeschützte Grenze des Eigenen führten zu einer Verengung des Asyldiskurses und können als wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Änderung des Asylgrundrechts betrachtet werden.48 Die Sprache des medialen Asyldiskurses findet sich auch in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur wieder und zeigt die Wirkmächtigkeit der Bilder.49
5.2.2 Das Eigene und Andere im deutsch-deutschen Verhältnis In diesem und den zwei darauffolgenden Kapiteln entstehen die Konstruktionen des Eigenen und Anderen in einem Dreiecksverhältnis. Sowohl vor als auch nach der Wende weist das deutsch-deutsche Verhältnis eine ambivalente und wechselhafte Beziehung zwischen Nähe und Distanz auf, zwischen Gemeinsamkeiten und Differenz. Die deutsch-deutsche Geschichte und die Veränderungen des Eigenen nach der Wende sind
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Ebd., 246. Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 305. Wolff, »In der Teilung vereint,« 360. Sabine Hess, »Border Crossing as Act of Resistance: The Autonomy of Migration as Theoretical Intervention into Border Studies.« In Resistance: Subjects, representations, contexts, hg. v. Lea Brenningmeyer, Martin Butler und Paul Mecheril, Migration – power – education (Bielefeld: transcript, 2017). Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 306–7. Maren Möhring, »Mobilität und Migration in und zwischen Ost und West.« In Geteilte Geschichte: Ost- und Westdeutschland 1970–2000, hg. v. Frank Bösch, Schriftenreihe/Bundeszentrale für politische Bildung Band 1636 (Göttingen, Bristol, CT: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 395. Palmer, Der Bundestagswahlkampf 1986/1987; Staadt, »Geschlossene Gesellschaft« Sowohl Palmer, als auch Staadt übernehmen die zeitgenössischen Begriffe wie »Asylantenzustrom,« »Asylantenproblem« und »Eindämmung der Asylantenflut« ohne dies zu problematisieren.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
dabei nicht nur Teil der Analyse, sondern müssen auch konzeptionell berücksichtigt werden. Der Referenzpunkt, was als Eigenes betrachtet wird, ändert sich. Das Eigene kann jedoch nach der Wende nicht mit dem vereinten Deutschland gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr darum zu betrachten, wie im Diskurs über Asyl Zugehörigkeit von West- und Ostdeutschen mit und ohne Migrationserfahrung und Asylsuchenden ausgehandelt, hergestellt und verweigert wird (siehe Kapitel 7.2.2). Hinzu kommt, dass in der DDR die Bedeutung des Asylrechts für das eigene Selbstverständnis ein anderes war.50 Ebenso wie die Presse in den Herkunftsländern keinen Eingang in die Analyse findet, werden auch keine ostdeutschen Zeitungen betrachtet. Die Analyse berücksichtigt somit nur die Konstruktionen westdeutscher Medien, die nach der Wende überwiegend die Deutungshoheit im ganzen Land und viele ostdeutsche Redaktionen übernahmen, und lässt keine Aussagen über ostdeutsche Repräsentationen zu.51 Bis heute gibt es eine große Schieflage in der Medienlandschaft.52 Ähnlich wie der koloniale Blick ein eurozentrischer Blick war53 , ist die deutschdeutsche Geschichtsschreibung von einem westlich bzw. westdeutsch-zentrierten Blick geprägt, der an westdeutsche Selbstbeschreibungen und Beobachtungstechniken anknüpft. Daraus resultieren einseitige Erzählungen einer westdeutschen Erfolgs- und einer ostdeutschen Niedergangsgeschichte mit einer möglichen nachgeholten Modernisierung nach der deutschen Einheit. Die Differenz und die Gegensätze stehen im Vordergrund, ohne die vielfältigen Gemeinsamkeiten, Beziehungen und Wechselwirkungen genauer in den Blick zu nehmen.54 Hilfreicher wäre ein Blick, der die deutschdeutsche Geschichte als eine »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte [...] zwischen Abgrenzung und Verwobenheit«55 versteht, die zum Beispiel auch die bis jetzt kaum berücksichtigten deutsch-deutschen Migrationsbewegungen mitbetrachtet.56 Die Abgrenzung nach Osten, die daraus entstehenden Feindbilder und der Antikommunismus prägten das Selbstverständnis der BRD und gaben vielen Bereichen wie beispielsweise im Sport oder Konsum eine politische Bedeutung.57 Die zwei deutschen
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Die DDR-Gesetzgebung enthielt eine reine Kann-Bestimmung in der Aufnahme von Flüchtlingen mit einer sozialistischen politischen Gesinnung. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 864. Thomas Ahbe, »Die Ost-Diskurse als Strukturen der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen: Eine Diskursanalyse zur Konstruktion der Ostdeutschen in den westdeutschen Medien-Diskursen 1989/90 und 1995.« In Die Ostdeutschen in den Medien: Das Bild von den Anderen nach 1990, hg. v. Thomas Ahbe, Rainer Gries und Wolfgang Schmale (Leipzig: Leipziger Univ.-Verl., 2009), 61. Mandy Tröger, Pressefrühling und Profit: Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten (Köln: Herbert von Halem Verlag, 2019). Chakrabarty, Europa als Provinz. Frank Bösch, »Geteilte Geschichte: Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte.« Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12, Nr. 1 (2015): 98–107. Christoph Kleßmann, »Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990.« In Teilung und Integration, 22. Wolff, »In der Teilung vereint,« 379. Siehe beispielsweise Hans J. Lißmann, Hans Nicklas und Änne Ostermann, »Feindbilder in Schulbüchern.« In Friedensanalysen: Für Theorie und Praxis; Vierteljahresschrift für Erziehung, Politik und Wissenschaft, hg. v. Rainer Steinweg, Edition Suhrkamp 784 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975); Hermann Wentker, »Antikommunismus in der frühen Bonner Republik.« In ›Geistige Gefahr‹ und ›Immunisie-
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Staaten und ihre Bürger*innen blieben, nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen Vorgeschichte während der Teilung durch Konkurrenz, Abhängigkeit, Annäherung und Abgrenzung stets eng aufeinander bezogen. Die Bevölkerung beider Staaten teilte einen gemeinsamen Erfahrungsraum während des Ost-West-Konfliktes mit einer Grenze, die unterschiedlich durchlässig zu beiden Seiten war.58 Die wechselnden Sichtweisen auf die DDR und ihre Bevölkerung werden dabei auch anhand der Aufnahmepolitik der Bundesrepublik deutlich. Die Aufnahmebereitschaft gegenüber DDR-Bürger*innen war im Laufe der Zeit einem Wandel unterworfen. Die Bezeichnungen und damit verbundenen Zuschreibungen reichten von Übersiedler und Zuwanderer über DDR-Flüchtling bis hin zu illegalen Grenzgängern, illegalen Flüchtlingen oder Wirtschaftsflüchtlingen.59 Bis zum Bau der Mauer 1961 mussten die Ankommenden ein Aufnahmeverfahren durchlaufen und eine besondere Zwangslage nachweisen. Danach wurden die politischen Motive ihrer Flucht im Anerkennungsverfahren vorausgesetzt. Nach dem Fall der Mauer entwickelte sich eine neue Rahmung als »Übersiedlerproblem« und es wurde diskutiert, ob die Aufnahme von Asylanten, Aussiedlern60 oder Übersiedlern stärker begrenzt werden müsse.61 »So verwirrend das Wechselspiel der Bezeichnungen und Definitionen auch sein mochte – es hatte eine politische, rechtliche und soziale Dimension, die Prozesse der Identitätsfindung [...] erkennen läßt.«62 In der Bundesrepublik war es umstritten, ob überhaupt und in welcher Weise nach dem Nationalsozialismus und durch die deutsche Teilung von Nation und nationaler Identität gesprochen werden kann. Die deutsch-deutsche Teilung ist somit ein zentrales Element des Eigenen, denn es erforderte nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues deutsches Wir zu konstruieren, das eine eigene westdeutsche Identität ermöglichte und dennoch die Offenheit einer deutschen Einheit beinhaltete. »In Anbetracht des in seiner Zeit für Europa einzigartigen Zustandes der deutsch-deutschen Teilung, [kann] speziell die sogenannte Deutsche Frage als Kernpunkt deutscher Auseinandersetzungen um Nation, Nationalismus und Nationalstaatlichkeit gelten.«63 Die westdeutsche Identität bewegte sich dabei zwischen einer Normalisierung der Teilung und der Hoffnung auf ei-
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rung der Gesellschaft‹: Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, hg. v. Stefan Creuzberger und Dierk Hoffmann, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer (München: De Gruyter, 2014); Bösch, »Geteilte Geschichte« Wolff, »In der Teilung vereint,« 363. Wolff, »In der Teilung vereint,« 353–55. Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer: Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961 – 1989, 1. Aufl. (München: Siedler, 2005), 49; Siehe auch: Ackermann, »Der ›echte‹ Flüchtling«. Die Gruppe der sogenannten Aussiedler war sehr heterogen und wurde durch die rechtliche Kategorie für eine privilegierte Aufnahme in Deutschland für sogenannte Volksdeutsche aus Osteuropa zu einer Gruppe zusammengefasst. Mit der Zeit entwickelte es sich auch als Identitätsmerkmal. Jannis Panagiotidis, »Staat, Zivilgesellschaft und Aussiedlermigration 1950–1989.« In Oltmer, Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert (s. Anm. 22), 896, 902. Frank Wolff, Die Mauergesellschaft: Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961–1989, 1st ed. (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019), 318–320, 913–915. Ackermann, »Der ›echte‹ Flüchtling,« 68. Gerrit Dworok, ›Historikerstreit‹ und Nationswerdung: Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts (Köln/Wien: Böhlau Verlag, 2015), 69.
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ne deutsche Einheit.64 Aushandlungsprozesse über Deutschsein und nationale Identität verliefen dabei auch anhand kollektiver Erinnerung, wie beim Historikerstreit 1986 und der Goldhagen-Debatte in den 1990ern.65 Anhand des vorliegenden Beispiels des Schlupflochs Berlin wird die Bezugnahme auf die DDR deutlich und zeigt das Ringen um die Gestaltung einer gemeinsamen Beziehung, die von Annäherung und Schuldzuweisung, Kooperation und Misstrauen geprägt ist. Im Diskurs um Asyl sind das deutsch-deutsche Verhältnis und die bereits gemachten Erfahrungen in der Teilung ein Referenzpunkt für die Deutung und Bewertung von Sachverhalten. Nicht zuletzt zeigt es, dass auch die Bundesrepublik hinsichtlich Westberlins auf die Kooperationsbereitschaft der DDR angewiesen und nicht unabhängig von ihr handlungsfähig war. Beispielhaft soll dargestellt werden, welche Konstruktionen vor und nach der Wende den Diskurs kennzeichneten. Das Verhältnis während des Ost-West-Konfliktes verdeutlicht eine Schulbuchstudie, die sich mit Geschichtsschulbüchern der 1950er bis 1970er Jahre beschäftigt. Schulbücher repräsentieren die gesellschaftlich anerkannten und politisch vertretenen Wissensordnungen einer Nation.66 Der Ost-West-Gegensatz war das zentrale Schema aller Darstellungen, in dessen Muster alle Konflikte zwischen zweier sich ausschließenden Ideologien eingeordnet und vereinheitlicht wurden. Der Gegensatz zwischen freier Welt und kommunistischem Block, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freund und Feind bestimmt als Deutungsmuster alle Darstellungen. Dabei werden historische Kontinuitäten hergestellt, so zum Beispiel, dass es schon immer eine Bedrohung aus dem Osten gab, wie etwa durch Horden wilder Reiter, die als fremdartig, nomadenhaft und grausam beschrieben werden. Die Interaktionen erfolgen wesentlich innerhalb der Blöcke, während Austauschbeziehungen mit dem Feind stets als bedrohlich bewertet werden. Während der Westen in seinem Handlungsmodus als gebend und nützlich für seine westlichen Partnerländer beschrieben wird, ist der Handlungsmodus des Ostens aufzwingend und er berücksichtigt nicht die Interessen der Bevölkerung.67 Die Schulbuchdarstellungen sind stark von stereotypisierenden Darstellungen und eindeutigen Deutungsschemata geprägt. Das positive Selbstbild wird nicht infrage gestellt, dies beginnt erst Ende der 1970er Jahre.68 Trotz neuer Ostpolitik lässt sich 64
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Dworok, ›Historikerstreit‹ und Nationswerdung, 90, 422–432; Ina Dietzsch, »Deutschsein in einem geteilten Land: Das Problem kultureller Zugehörigkeiten.« In Fremde und Fremd-Sein in der DDR: Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, hg. v. Jan C. Behrends, Thomas Lindenberger und Patrice G. Poutrus (Berlin: Metropol-Verl., 2003), 127–8. Dworok, ›Historikerstreit‹ und Nationswerdung, 90, 442; Martin Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse: Eine Debatte über ›Kollektivschuld‹ und ›Nationalcharakter‹ der Deutschen, Journalismus und Geschichte Bd. 3 (Konstanz: UVK Medien, 1999); Norbert Schepers, Einen Nerv getroffen: Debatten zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in den neunziger Jahren in Deutschland, Manuskripte/Rosa-LuxemburgStiftung 48 (Berlin: Dietz, 2005). Thomas Höhne, Schulbuchwissen: Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches, Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft Reihe Monographien 2 (Frankfurt a.M.: Fachbereich Erziehungswiss. der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ, 2003), Zugl.: Frankfurt a.M., Univ., Diss., 2002, 13ff. Hans J. Lißmann, Hans Nicklas und Änne Ostermann, »Feindbilder in Schulbüchern.« In Friedensanalysen, 46–56. Wolfgang Jacobmeyer und Siegfried Bachmann, Hg., Deutschlandbild und Deutsche Frage in den historischen, geographischen und sozialwissenschaftlichen Unterrichtswerken der Bundesrepublik Deutschland
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das Feindbild und die damit verbundene Angst und Unsicherheit nicht leicht abbauen, obwohl die empfundene und tatsächliche Gefährdung weit auseinanderlag. Der Antikommunismus, der das Eigene aufwertete und das Andere herabsetzte, war zwar in den 1950er Jahren von größerer politischer Bedeutung und diente als Integrationsfunktion in das westliche Bündnis und als innergesellschaftliches Bindemittel. Dennoch spielten die damit verbundenen Konstruktionen bis Ende des Ost-West-Konfliktes und darüber hinaus eine wichtige Rolle im Selbstverständnis.69 Während es vor der Wende eine hergestellte Nähe zur ostdeutschen Bevölkerung gab, wurde diese, als sie plötzlich Teil des Eigenen werden sollte, stärker in ihrer Andersartigkeit beschrieben. Die Ostdeutschen wurden von den Medien befragt, erforscht, interpretiert und dem Eigenen gegenübergestellt. Der mediale Diskurs war ein sehr selektiver, der von wenig fundiertem Wissen und einem starken Rückgriff auf Stereotype und Dichotomien ost- und westdeutscher Lebenswelten gekennzeichnet war. Die westdeutsche Lebensrealität wurde auf der Basis westlicher Problemdefinitionen und Wertmaßstäbe als Norm gesetzt.70 Eine zentrale Differenzkonstruktion war Demokratiefähigkeit versus Unterwürfigkeit, sowie individuelle Leistungsfähigkeit versus kollektivistische Passivität. Diese bescheinigte den Ostdeutschen sowohl eine Unfähigkeit zur Demokratie als auch zur Partizipation an einem kapitalistischen System und lieferte in den 1990er Jahren die Grundlagen für die Verortung des Rassismusproblems in Ostdeutschland (siehe Kapitel 6.1.2). Die Westdeutschen wurden als selbstständig und handlungsfähig präsentiert, die Ostdeutschen blieben passiv und handlungsunfähig.71 Ähnlich wie im Zivilisations- und Integrationsdiskurs72 wird das Gleichheitsversprechen nicht eingelöst: »Auf der einen Seite fordert das westdeutsche Selbst das ostdeutsche Selbst auf, sich ihm anzupassen – und ist zugleich ständig damit beschäftigt, es als anders und minderwertig, als ›noch-nicht‹ darzustellen.«73 Die Konstruktion der Andersartigkeit trug sozialrassistische Züge und wurde mit autoritärer Gruppenerziehung und Sozialisation, Prägungen und Mentalität begründet. In dieser Argumentation sind Ostdeutsche steif, altmodisch, verklemmt, naiv, konfliktscheu, immobil, dumpf, duldsam und unfähig in einer Marktwirtschaft zu funktionieren.74 Die Beschäftigung mit der deutsch-deutschen Geschichte und den darin entstandenen Zuschreibungen macht es nachvollziehbar, dass die deutsche Einheit kein einmaliger Akt war, sondern ein langer Weg ist, auf dem bis heute noch Dekonstruktionen und Annäherungen sowie ein Machtausgleich zu leisten sind.
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und der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 bis in die 80er Jahre, Studien zur internationalen Schulbuchforschung 43 (Braunschweig: Georg-Eckert-Inst. für Internationale Schulbuchforschung, 1986), 61. Hermann Wentker, »Antikommunismus in der frühen Bonner Republik.« In ›Geistige Gefahr‹ und ›Immunisierung der Gesellschaft‹, 356. Thomas Ahbe, »Die Ost-Diskurse als Strukturen der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen.« In Die Ostdeutschen in den Medien, 110. Räthzel, Gegenbilder, 196, 214. Paul Mecheril, »Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv.« Aus Politik und Zeitgeschichte 61, Nr. 43 (2011). Räthzel, Gegenbilder, 214. Thomas Ahbe, »Die Konstruktion der Ostdeutschen: Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989.« Aus Politik und Zeitgeschichte, 41–42 (2004): 15–17.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
5.2.3 Überblick über den Diskurs in der FAZ und der SZ Die Analyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend sind. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese werden nun in Form einer Selbstaussage in der Sprache des Diskurses formuliert, bevor auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail eingegangen wird. Wir sind ein wohlhabendes Land, welches für Menschenrechte und ein großzügiges Asylrecht steht. Wir können aber nicht alle aufnehmen, denn wir sind kein Einwanderungsland. Westberlin gehört zu uns, es darf uns nicht verloren gehen, das müssen wir stets mitbedenken und dürfen nichts tun, was das gefährdet. Da wir das Schlupfloch Berlin nicht ohne die DDR schließen können, brauchen wir andere Lösungsmöglichkeiten, vielleicht auch eine Grundgesetzänderung. Bei uns herrscht (noch) Sicherheit und Ordnung, andere hingegen halten sich nicht an die Regeln – wie etwa die DDR. Die große Zahl an außereuropäischen Asylsuchenden ist der Kern des Asylantenproblems. Sie kommen als ständiger Zustrom nach Westberlin geflossen. Viele sind nicht politisch verfolgt, sondern kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Viele der Asylanten werden angelogen und von Schleppern aus finanziellen Gründen ausgenutzt. Für die DDR sind sie passive Manövriermasse, um ihre politischen Ziele zu verfolgen. Sie sind daher auch Opfer und müssen geschützt werden, beispielsweise durch mehr Informationen in den Herkunftsländern, damit sie sich gar nicht auf die weite Reise begeben. Für die Analyse wurden 47 Artikel analysiert, davon 22 aus der FAZ und 25 aus der SZ. Fast alle untersuchten Artikel sind zwischen Juli und Oktober 1986 erschienen. Viele thematisieren gleichzeitig auch die Änderung des Rechts auf Asyl im Grundgesetz. Der Diskurs ähnelt sich stark in den beiden Zeitungen, die Unterschiede sind eher in Nuancen zu finden. Es wird jedoch schon deutlich, dass es in der SZ eine Tendenz für einen Erhalt des Asylgrundrechts gibt. Des Weiteren wird in der SZ kritisiert, dass Asyl als Wahlkampfthema genutzt wird. In der FAZ werden die positiven Selbstdefinitionen expliziter benannt. Die Konstruktionen des Anderen überschneiden sich zu einem großen Teil, in der SZ erscheinen die Iraner*innen jedoch stellenweise auch als politische Subjekte.
5.3 Das Eigene 5.3.1 Weit offenes Zufluchtsland, Wohlstand und Menschenrechte Die Konstruktionen des Eigenen werden zunächst anhand von expliziten Selbstbeschreibungen vorgestellt. Anschließend werden die Aspekte Westberlin, Grundgesetzänderung und Wahlkampf näher beleuchtet. In den Artikeln finden sich deutliche und starke Selbstdefinitionen, die mit den Pronomen »wir« und »uns« die Leser*innen miteinbeziehen und ein gemeinsames Selbstverständnis herstellen. Die Selbstdefinitionen
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ähneln jenen in Kapitel 3.3.1 und sind als vereinfachende und plakative Formeln in der FAZ häufiger zu finden. Ein zentraler Aspekt ist das Alleinstellungsmerkmal des vermeintlich großzügigen deutschen Asylrechts, welches aus der deutschen Geschichte resultiert. Daraus ergibt sich ein Dilemma, auf der einen Seite politisch Verfolgte aufnehmen zu wollen, auf der anderen Seite aber am Paradigma des Nichteinwanderungslandes festzuhalten. Auch die internationale Reputation und der Wohlstand spielen in den Konstruktionen eine Rolle. Die Bundesrepublik Deutschland wird beschrieben als »weit offene[s] Zufluchtsland für wirklich oder vorgeblich Verfolgte aus aller Welt«75 und als »einzige[r] Staat der Welt, in dessen Verfassung es einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf Asyl gebe«76 , die »alles in den Schatten stellt, was andere demokratische Länder für möglich halten.«77 Des Weiteren sei es »eines der dichtest besiedelten Länder auf der Erde, für Wirtschaftsflüchtlinge könne es dort keine Bleibe geben«78 . Das deutsche Asylrecht wird mit Superlativen als besonders großzügig und einzigartig hervorgehoben. Gleichzeitig wird die Forderung aufgestellt, es auf »das europäische Normalmaß«79 zu reduzieren. Ein konkreter Vergleich mit anderen Ländern findet jedoch nicht statt. Durch die Großzügigkeit wirke Deutschland »wie ein Magnet auf alle Länder der Erde«80 und gäbe »jedem Ankömmling aus jedem beliebigen Lande der Welt das Recht [...], sich als politisch verfolgt zu bezeichnen und eine gerichtliche Entscheidung über seinen Asylantrag in aller Ruhe in der Bundesrepublik abzuwarten.«81 Deutschland wird damit für Asylsuchende zum »Land, in dem Milch und Honig fließen«.82 Hier wird zum einen eine Push- und Pulltheorie vertreten, bei der das Grundgesetz eine Sogwirkung verursacht.83 Zum anderen wird undifferenziert von allen Ländern der Welt gesprochen, was den Eindruck verstärkt, dass alle Menschen dieser Erde nach Deutschland kommen wollen. Es entsteht der Eindruck einer unkontrollierbaren Bedrohung. In Anlehnung an die Kollektivsymbolik von Deutschland als »Eigenheim«84 wird dieses Haus als bereits voll beschrieben.
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Friedrich K. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1986. ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern.« Süddeutsche Zeitung, 17.07.1986. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten.« Süddeutsche Zeitung, 11.08.1986. Reuter, »Rätsel um Flüchtlinge im Atlantik gelöst: Die Tamilen kamen aus der Bundesrepublik.« Süddeutsche Zeitung, 16.08.1986. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben«. Günter Bannas, »Kohl: Asyldebatte nicht parteipolitisch führen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1986. Claus Gennrich, »Die Union will die SPD langfristig für eine Änderung des Grundgesetzes gewinnen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.1986. Ralf-Georg Reuth, »Ernüchterung und Schlangestehen im gelobten Land.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.07.1986. Petrus Han, Soziologie der Migration: Erklärungsmodelle, Fakten, politische Konsequenzen, Perspektiven, 4., unveränderte Auflage, UTB Soziologie 2118 (Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft mbH; UVK Lucius, 2016), 12–13. Ute Gerhard, »›Fluten‹, ›Ströme‹, ›Invasionen‹ – Mediendiskurs und Rassismus.« In Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, 245.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
Aufgrund des Asylrechts ist es jedoch nicht möglich, die Tür zu schließen, um zu verhindern, dass Fremde eintreten. In diesem Bild bräuchte es eine neue, funktionierende Tür, um genug Platz und Wohlstand denen zu sichern, die in diesem Haus wohnen und nur Berechtigte, d.h. wirklich politisch Verfolgte überhaupt hereinzulassen. Das Asylgrundrecht ist Ausdruck der »freiheitlichen, humanitären und – nicht zuletzt – christlichen Traditionen im Umgang mit Fremden und Verfolgten«85 . Aufgrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus habe es sich als besonders großzügig entwickelt. »Damit sollte sich die Bundesrepublik nach dem verheerenden politischen und moralischen Zusammenbruch des Dritten Reiches unter die Staaten einreihen, die durch Asylgewährung für politisch Verfolgte einen aktiven Beitrag zur Verteidigung von Menschenrechten und Menschenwürde leisten. Eine Dankesschuld sollte abgetragen werden, indem die Bundesrepublik künftigen Flüchtlingen Asyl etwas großzügiger als andere Staaten gewähren würde.«86 Dennoch hat dies aufgrund des Selbstverständnisses als Nichteinwanderungsland Grenzen, wie zum Beispiel Bundeskanzler Helmut Kohl betont: »Die Bundesrepublik wolle ein Land bleiben, in dem politisch Verfolgte ›Zuflucht und Heimstatt finden können‹. Auf Grund ihrer eigenen Geschichte seien die Deutschen verpflichtet, den in Not geratenen Menschen zu helfen. Allerdings sei die Bundesrepublik kein Einwanderungsland. Deshalb müsse die Pervertierung des Asylrechts unterbunden werden.«87 Anhand des Zitats wird das Spannungsverhältnis deutlich, in dem sich der Diskurs stets bewegt: die moralische und historische Verantwortung politisch Verfolgte aufzunehmen und die Weigerung, Einwanderungsland zu sein. Das Wort Pervertierung weist eine starke negative Konnotation auf, bedeutet »ins Widernatürliche, Verderbte verkehren«88 und knüpft an die Vorstellung des Asylmissbrauchs an. Da das Asylrecht als Beweis für Humanität und Einsatz für Menschenrechte gesehen wird, besteht die Befürchtung, eine Einschränkung würde »unser Ansehen in der Welt aber um vieles, vermindern.«89 Man könne jedoch nicht alle aufnehmen und sei zunächst der eigenen Gesellschaft verpflichtet. Diese Differenzierung dürfe jedoch nicht mit Rassismus in Verbindung gebracht werden. Es wird ein Menschenbild vertreten, »das keinen Unterschied zwischen Schwarz und weiß«90 kennt, jedoch unterschiedliche Abstufungen von Solidarität: »Wenn mir meine Kinder näherstehen als die Kinder meiner Nachbarn, dann bin ich doch nicht nachbarnfeindlich [...] Daß mir mein Volk näherliegt als andere, ist doch nicht ausländerfeindlich.«91 »Die Bundesrepublik sei nicht Einwande-
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Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Klaus Dreher, »Koalition einigt sich auf Maßnahmen zur Eindämmung des Asylantenstroms.« Süddeutsche Zeitung, 28.08.1986. »›pervertieren‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355). Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Karl Feldmeyer, »Angst vor dem Verlust der Mitte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.1986. Bannas, »Kohl: Asyldebatte nicht parteipolitisch führen«.
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rungsland. Diese Haltung dürfe nicht mit Fremdenfeindlichkeit verwechselt werden.«92 Hierin spiegelt sich eine deutliche Abwehrhaltung und ein geradezu vorauseilender Widerspruch in irgendeiner Weise ausländerfeindlich zu sein (siehe Kapitel 6.2.2). Als Argument für die Aufnahme wird angeführt, dass die Bundesrepublik genug Wohlstand habe, um Flüchtlinge aufzunehmen. »Die nicht abzustreitende Zunahme von Asylbewerbern sollte ein so reiches Land wie die Bundesrepublik vor keine grundsätzlichen Aufnahmeprobleme stellen«93 ; »der Wohlstand in unserem Lande hat dadurch nicht gelitten.«94 Dies wird jedoch selten hervorgehoben. Insgesamt sind die Konstruktionen des Eigenen durch ausdrucksstarke Bilder und dramatisierende Darstellungen geprägt. Dennoch wird noch ausgehandelt, wie auf die aktuelle Situation reagiert werden soll und unterschiedliche Positionen sind noch sagbar.
5.3.2 Die bundesdeutsche Sorge um Westberlin und der pragmatische Umgang vor Ort Berlin spielt in den Konstruktionen des Eigenen in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Zum einen geht es um den Status von Westberlin und seine symbolische Bedeutung für das deutsch-deutsche Verhältnis. Es wird der Verdacht oder die Befürchtung geäußert, dass die DDR bewusst die Zuwanderung von geflüchteten Menschen fördert, weil sie den Status von Berlin verändern will. An Berlin und in Berlin wird der Ost-West-Konflikt als reale Bedrohung wahrgenommen und die deutsche Frage verhandelt. Im kollektiven Gedächtnis besteht selbst in den 1980er Jahren noch die Befürchtung, Westberlin und damit das Hoffnungssymbol auf deutsche Einheit zu verlieren. Zum anderen ist Westberlin ganz konkret mit vermehrter Zuwanderung von Ostberlin konfrontiert. Im Gegensatz zu den ansonsten eher dramatisierenden Darstellungen wird von Westberliner Politiker*innen zu Pragmatismus und Deeskalation aufgerufen. In den Artikeln werden ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der DDR und eine Sorge um Berlin deutlich. Der DDR wird hinsichtlich der Zuwanderung eine aktive Steuerungsfunktion zugeschrieben. Sie werbe in den Herkunftsländern mit der Einreise über Ostberlin und einem dauerhaften Aufenthalt in Westdeutschland und organisiere den Transit nach Westberlin. Davon würde sie zum einen finanziell durch die Fluglinie Interflug profitieren, noch stärker würden aber politische Interessen im Vordergrund stehen. Die Meinungen gehen darüber auseinander, wie genau das politische Interesse der DDR aussieht und welche Rolle Moskau dabei spielt. Folgende Ziele der Migrationssteuerung werden der DDR unterstellt: »eine Verbiegung des Status von ganz Berlin im Sinne der politischen Interessen letztlich Moskaus«95 , »der Sektorengrenze eine ›völkerrechtliche Qualität‹ geben, indem sie westliche Stellen dazu veranlassen suche, dort
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Günter Bannas, »Der Kanzler will den Zustrom von Asylbewerbern nicht hinnehmen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.1986. Ralf-Georg Reuth, »Professionelle Schlepper organisieren den Asylantenstrom.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.1986. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben«.
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Polizeikontrollen einzurichten«96 , sowie »daß Westberlin vom Rechtssystem der Bundesrepublik abgetrennt und als ›selbstständige politische Einheit‹ erscheine«97 . Die vermuteten politischen Interessen der DDR beziehen sich somit auf den Status von Berlin und dem damit verbundenen Umgang mit der innerdeutschen Grenze. Dabei wird kaum genauer ausgeführt, was die Veränderung des Status konkret für Konsequenzen hätte, es wird nur stets betont, dass dies nicht passieren dürfe. Die geäußerten Vermutungen drücken ein generelles Misstrauen gegenüber der DDR aus und dass ihre Ziele und Handlungen als undurchschaubar und bedrohlich empfunden werden. Die BRD wird nicht nur durch die DDR und den Umgang mit der innerdeutschen Grenze in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, sondern auch durch den Vier-Mächte-Status von Berlin. Auch Moskau wird als Ursache oder als möglicher Lösungsbringer des Problems gesehen: »Die drei West-Alliierten als Schutzmächte in Berlin hatten der Sowjetunion in der vergangenen Woche ihre Bedenken gegen den anhaltenden Ausländer-Zustrom über Ostberlin erläutert und Moskau zum Eingreifen aufgefordert.«98 Abschließend zeigt dieses Zitat, wie sehr die Berlin-Frage Teil der Auseinandersetzung ist und der unveränderte Status von Berlin wie ein Mantra stets wiederholt werden muss: »In Regierungskreisen verhehlte man am Donnerstag nicht, daß man die nunmehr erreichte Regelung als eine wesentliche Erleichterung für weitere Schritte im Ausbau der Beziehungen beider Staaten ansieht. [...] Insbesondere in allen den Status von Berlin betreffenden Fragen habe sich nichts geändert«99 . Die Verknüpfung der Asylzuwanderung mit dem scheinbar unsicheren Status von Berlin und der damit verbundenen Frage der Machtsicherung verleiht ihr eine schwerwiegende Bedeutung. Die Darstellungen der konkreten Aufnahmesituation in Berlin sind dramatisierend: »Berlin quelle vor Asylbewerbern über«100 , der »Zustrom [...] nimmt bedrohliche Ausmaße an«101 , selbst über die »Beschlagnahme von Privateigentum«102 wird nachgedacht. Neben dem Mangel an Unterbringungen wird auch die Entstehung von Ausländerfeindlichkeit als Problem benannt und in direkte Verbindung mit dem Ausländeranteil gebracht: »Ausländerfeindlichkeit ist ein heißes Eisen in Berlin, wo der Anteil von Ausländern unter der Bevölkerung mit 13 Prozent weitaus über dem übrigen Bundesgebiet liegt.«103 Die Zitate von Berliner Politiker*innen sowie die Berichterstattung der Journalistin Marianne Heuwagen stellen dazu einen Gegenpol dar, weil pragmatische Lösungsansätze und Kontrollmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Dabei wird versucht, die Perspektive zu weiten und die Aufnahme von Flüchtlingen als bundesdeutsche Aufgabe zu sehen sowie die DDR in Schutz zu nehmen. Uneinigkeit besteht darüber, ob Grenzkontrollen Auswirkungen auf den Rechtsstatus von Berlin haben könnten. 96 97 98 99
ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Karl Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.1986. 100 Reuth, »Professionelle Schlepper organisieren den Asylantenstrom«. 101 Karl Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.1986. 102 Ebd. 103 Marianne Heuwagen, »Fremde in der Stadt.« Süddeutsche Zeitung, 24.07.1986.
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Die Artikel von Marianne Heuwagen kennzeichnen sich durch eine empathische und gleichzeitig sachliche Berichterstattung, auch über die Boat People berichtete sie auf diese Weise. Sie wurde später Direktorin des Deutschland-Büros von Human Rights Watch.104 Der Artikel vom 24. Juli 1986 ist geprägt von Deeskalation und Relativierungen. Obwohl der Anlass der Berichterstattung gewalttätige Auseinandersetzungen sind, wird dies als Ausnahme beschrieben: »Eine kleine Gruppe Rechtsradikaler hatte sich mit den Linken, die den Asylanten wohlgesonnen sind, und der Polizei eine Schlacht geliefert, bei der drei Polizeibeamte verletzt wurden. [...] Gewalttätige Auseinandersetzungen wie die vom letzten Wochenende sind tatsächlich in Berlin eher die Ausnahme«105 . Denn die »Hilfsbereitschaft der Berliner Bevölkerung überwiegt«106 und die »Berliner Boulevardpresse« versucht, »nichts zur Verschärfung der Situation beizutragen.«107 Auch der Senat ist »redlich bemüht, pragmatische Lösungsvorschläge für das Asylantenproblem zu finden und die Asylantenfrage aus dem Schlachtfeld politischer Parolen herauszuhalten.«108 Dabei wird auch explizit darauf hingewiesen, dass sich die Berliner Politik damit von der übrigen politischen Debatte unterscheidet: »Was die Frage der Asylanten anbetrifft, handelt der Senat von Berlin weitaus besonnener als die politische Diskussion, wie sie zur Zeit von einigen Politikern des CSU und CDU im Bundesgebiet geführt wird.«109 Wie groß die Bereitschaft ist, Lösungen zu finden, wird an dem Beschluss verdeutlicht, mehr Senatsangestellte für die Asylanträge einzustellen: »Anstelle der Asylbewerber werden diese Senatsangestellten nun in Zelten untergebracht werden müssen.«110 In eine ähnliche Richtung gehen die zitierten Aussagen von Berliner Politiker*innen, die versuchen, zu deseskalieren und das Problem auf Bundesebene zu verorten. Laut dem Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen (CDU) »hat die Asylanten-Frage nichts mit dem Status von Berlin zu tun. [...] im übrigen könne das Problem weder durch ›Schließung der Grenze‹ noch durch ›Manipulationen an den Verkehrswegen‹ gelöst werden und auch nicht dadurch, daß ständig auf die DDR wegen ihrer Verantwortung hinsichtlich des Flughafens Schönefeld eingedroschen werde. Selbst wenn die DDR den Weg über den Flughafen Schönefeld nach West-Berlin durch korrektes Verhalten für die in der Bundesrepublik Asylsuchenden verstopfe, würden sich die Flüchtlinge [...] andere Wege in die Bundesrepublik suchen. Schönefeld sei nicht das Entscheidende«111 Hier wird die DDR als Sündenbock identifiziert, auf den ständig eingedroschen werde, obwohl die Asylantenfrage nicht an der Einreise nach Berlin festzumachen sei. Nach 104 Marianne Heuwagen, »Vom Hudson an die Spree. Im September 2005 eröffnete Human Rights Watch ein Büro in Berlin.« Jahrbuch Menschenrechte 2007, jg (2006). 105 Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. 111 Peter J. Winters, »Diepgen gegen Änderung des Grundgesetzes.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.1986.
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einer Verhinderung der Einreise über die DDR würden sich stattdessen andere Migrationsrouten entwickeln. Die Debatte um die Lösung der Asylantenfrage solle nicht auf Westberlin reduziert werden, sodass der Status von Berlin stark in den Fokus gerät, sondern es läge in der Verantwortung der Bundespolitik. Auch Innensenator und Jurist Wilhelm Alexander Kewenig (CDU) wird in ähnlicher Weise zitiert: »Das Asylantenproblem ist kein Berliner Problem, sondern eines der Bundesrepublik. [...] ›Das hat nichts mit dem Status von Berlin zu tun‹, erklärte Kewenig. Notwendig sei eine bundesweite Lösung der Asylantenfrage sowie die Änderung des Gesetzes über das Asylverfahren.«112 Senator Rupert Scholz (CDU) hingegen warnt vor unvertretbaren Konsequenzen bei der Einrichtung »alliierte[r] Kontrollen gegen den Asylantenstrom [...] Mit der Rechtseinheit von Bund und Berlin, so warnte Scholz, dürfe in dieser ›leichtfertigen Form‹ nicht gespielt werden.«113 Auch hier wird die Sorge um den Status von Berlin deutlich, die als Rahmung in der Debatte stets mitläuft. Insgesamt lässt sich über die Konstruktion des Eigenen sagen, dass gerade aus der Entfernung einer bundesdeutschen Perspektive die Zuwanderung als dramatisch, bedrohlich und unkontrollierbar beschrieben wird und mit einer Sorge um den Status von Berlin einhergeht, während in Westberlin – vermutlich auch gewöhnt an die Ausnahmesituation der geteilten Stadt – sowohl über die Zuwanderung als auch über mögliche Motive der DDR eher deeskalierend und beschwichtigend gesprochen wird. Im Folgenden soll betrachtet werden, wie die Grundgesetzänderung als mögliche Lösung des Problems verhandelt wird.
5.3.3 (Schein-)Zauberwort Grundgesetzänderung Während über die Definition des Asylantenproblems weitgehend Einigkeit herrscht, gibt es über die Lösungsansätze 1986 noch sehr unterschiedliche Perspektiven. Im Jahr 1986 ist die Grundgesetzänderung in jedem zehnten Artikel über Asyl Thema und wird als Lösungsmöglichkeit auch auf bundespolitischer Ebene sagbar. Es finden sich kaum Argumente für eine Grundgesetzänderung im Diskurs, außer dass es angesichts der aktuellen Situation zwingend notwendig sei. Es wird inhaltlich nicht genauer präzisiert, wie diese gestaltet werden könnte. In den Artikeln, vor allem in der SZ, in denen eine Grundgesetzänderung abgelehnt wird, werden umfassende Argumente mit Bezugnahme zum Parlamentarischen Rat aufgeführt. Sie wirken wie eine bewusste Diskursintervention in Reaktion auf die realistischer werdende Möglichkeit der Grundgesetzänderung. Die Grundgesetzänderung selbst wird im Diskurs zum (Schein-)Zauberwort, das die vermeintliche Lösung aller Probleme darstellt und Handlungsfähigkeit der Politik unter Beweis stellt. Es wird zum Code-Wort, ob eine Person restriktivere Maßnahmen im Asylrecht für notwendig hält.114 Vereinzelt finden sich noch Einwände, ob die steigenden Zahlen und der Asylmissbrauch wirklich den Kern des Problems darstellen. Abgesehen davon knüpft die Problemdefinition eng an den Diskurs um Asylmissbrauch Ende der 1970er Jahre an: die »Flut von 112 113 114
Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. Ebd. Kury, Über Fremde reden, 80.
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Wirtschaftsflüchtlingen, die nicht als politisch Verfolgte zu uns kommen«115 , der »offenkundige(n) Mißbrauch des Asylrechts durch Ausländer, die nicht kommen, weil sie verfolgt werden, sondern weil es ihnen wirtschaftlich besser geht«116 und der »rasche Anstieg der Asylbewerber«, der »zum Schrecken der Bürgermeister geworden«117 ist. Das Asylantenproblem umfasst die steigenden, zu hohen Zahlen und die wirtschaftlichen statt politischen Fluchtgründe. Die Schuld für die steigenden Zahlen wird zum einen in den langen Asylverfahren und der fehlenden Durchsetzung der Abschiebung gesehen, zum anderen auch bei der DDR gesucht: »Die ›Flut‹ entsteht durch einen Stau bei uns und durch künstliche Verstärkung des Stroms im Ausland«118 , »weil die DDR durch eine Art doppelten Menschenhandels (um des Geldes und anderer politischer Zwecke wegen) offenbar eine westdeutsche Regierung unter Druck setzen möchte.«119 Zweifel an der eindeutigen Problemdefinition kommen von Seiten der Kirchen, die die Ursache des Asylantenproblems auch auf »das allgemeine politische Klima«120 und »die ›Verteufelung‹ der Asylsuchenden durch Politiker«121 zurückführen und an die »Grundsätze der Menschlichkeit«122 appellieren. Es wird kritisiert, wie auf die aktuelle Situation geschaut und diese bewertet wird. Ein weiterer Widerspruch kommt vom niedersächsischen Minister Hasselmann (CDU), der auch bei der Aufnahme der vietnamesischen Flüchtlinge stark involviert war: »Man verfüge durchaus über ein ausreichendes ›Instrumentarium‹ zur ›angemessenen Bewältigung größerer Zugänge‹, sagt Hasselmann am Mittwoch vor Handwerkern in Salzgitter. Die ›anstößige Situation habe nichts mit dem Grundrecht auf Asyl‹ zu tun. Das Instrumentarium müsse allerdings verbessert werden. Hasselmann sprach von ›hausgemachten Schwierigkeiten‹. Von Übel sei vor allem die Länge des Verfahrens.«123 Hasselmann sieht das Problem nicht in steigenden Asylbewerberzahlen, sondern darin, dass Politik nicht angemessen damit umgeht. Während die Problemdefinition überwiegend anerkannt ist, gehen die Meinungen über die Lösungen noch weit auseinander und sind auch parteipolitisch nicht eindeutig. Die Sagbarkeit einer Grundgesetzänderung ist jedoch im Sommer 1986 auf bundespolitischer Ebene angekommen. Während die Grünen, die FDP und die SPD eine Grundgesetzänderung ablehnen, wird diese von der CSU befürwortet. Sie bestehe auch »wegen der im Oktober bevorstehenden Landtagswahl in Bayern auf eine Änderung des
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sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Helmut Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts.« Süddeutsche Zeitung, 01.08.1986. 120 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 al., »Kiel für die Verschärfung der Asylbeschlüsse.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.1986.
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Grundgesetzes [...], obwohl dafür keine Mehrheit zu sehen sei.«124 Die CDU ist geteilter Meinung. Für die FDP ist klar: »eine Verfassungsänderung steht nicht zur Debatte«125 , weil das Asylrecht als ein »Kern der staatlichen Qualität der Bundesrepublik Deutschland«126 gesehen wird. Gleichzeitig will sie nicht »als Förderer des Asylantenstroms«127 wahrgenommen werden. Den Sichtweisen der FDP werden in der FAZ am 05.September 1986 zwei Artikel gewidmet mit den Titeln »Die FDP findet den Streit über eine AsylGrundgesetzänderung überflüssig«128 und »In der FDP Unmut über die Union«129 . Darin wird die Union von Seiten der FDP hinsichtlich ihrer Wahlkampfführung und der Forderung einer Grundgesetzänderung kritisiert. Die CDU ist sich in dieser Hinsicht nicht einig und vertritt sehr unterschiedliche Positionen: »Der SPD-Vorsitzende Vogel bezeichnete die Stimmenvielfalt innerhalb der Union als ›immer peinlicher‹«130 . Dabei gibt es sowohl grundsätzliche als auch wahltaktische Bedenken gegen eine Grundgesetzänderung. Der Berliner Bürgermeister Diepgen beispielsweise betont, »eine solche Grundgesetzänderung müsse sehr sorgfältig bedacht und diskutiert werden. Dazu sei aber wegen des bevorstehenden Bundestagswahlkampf weder die Zeit noch die Bereitschaft vorhanden.«131 Bei der Bewertung, ob eine Grundgesetzänderung notwendig ist, wird vor allem bei den Gegner*innen, aber auch bei den Befürworter*innen auf die Entstehung des Asylgrundrechts im Parlamentarischen Rat hingewiesen und daraus die entsprechende Antwort abgeleitet. Es wird diskutiert, ob bereits damals das Ausmaß und die Folgen dieses Grundrechts abzusehen waren. Die Bezugnahme auf den Parlamentarischen Rat wird hier zum leeren Signifikanten und mit sehr verschiedenen und widersprüchlichen Deutungen verknüpft.132 In der FAZ wird der Bezug zum Parlamentarischen Rat weniger aufgegriffen und die eigene Positionierung ist weniger transparent. Auffällig hingegen sind zwei Artikel in der SZ am 26. Juli 1986 mit dem Titel »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«133 und eine Woche später am 01. August 1986 mit dem Titel »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«134 . In beiden Artikeln wird an die Intention des Parlamentarischen Rats erinnert und an die Beibehaltung des Asylgrundrechts appelliert. Sie wirken auch aufgrund der zeitlichen Nähe ihrer Erscheinung wie der Versuch einer direkten Diskursintervention. Als Argumente werden angeführt, dass Mitglieder
124 Claus Gennrich, »Die FDP findet den Streit über eine Asyl-Grundgesetzänderung überflüssig.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.1986. 125 Gennrich, »Die Union will die SPD langfristig für eine Änderung des Grundgesetzes gewinnen«. 126 Günter Bannas, »In der FDP Unmut über die Union.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.1986. 127 Gennrich, »Die FDP findet den Streit über eine Asyl-Grundgesetzänderung überflüssig«. 128 Ebd. 129 Bannas, »In der FDP Unmut über die Union«. 130 Gennrich, »Die FDP findet den Streit über eine Asyl-Grundgesetzänderung überflüssig«. 131 Winters, »Diepgen gegen Änderung des Grundgesetzes«. 132 Martin Nonhoff, »Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie – Einleitung.« In Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie: Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, hg. v. Martin Nonhoff, Edition Moderne Postmoderne (Bielefeld: transcript Verlag, 2007), 13. 133 Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. 134 Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«.
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des parlamentarischen Rates selbst politische Verfolgung erfahren hatten, dass das Asylrecht im Grundgesetz verankert wurde, weil es nicht von politischen Stimmungen abhängig sein sollte und dass ein Missbrauch von Rechten nicht bedeutet, dass diese abgeschafft werden müssen. Dies soll nun etwas genauer ausgeführt werden. In den Bezeichnungen fällt auf, dass im Gegensatz zu Anfang der 1980er Jahre nicht nur von Vätern, sondern teilweise auch von »Väter[n] und Mütter[n] des Grundgesetzes«135 gesprochen wird, was einen Wandel im sprachlichen Bewusstsein zur Nennung beider Geschlechter vermuten lässt. Väter und Mütter stellen im Gegensatz zu Mitgliedern direkt eine emotionale Verbindung und ggf. auch Verpflichtung her. Viele der Mitglieder hätten »das Dritte Reich in der Emigration überlebt, weil ihnen als politisch Verfolgten Asyl gewährt worden war. Als es um die Formulierung des Artikels 16 ging, waren diese einstigen ›Asylanten‹ besonders aufmerksam.«136 Auffällig ist, dass dabei der negativ konnotierte Begriff des Asylanten genutzt wird und damit eine Nähe zu den aktuell ankommenden Flüchtlingen hergestellt wird, jedoch gleichzeitig durch die Anführungszeichen ein Unterschied bestehen bleibt. Auch die deutschen Flüchtlinge hatten Angst vor Ablehnung und Ausländerfeindlichkeit: »So fürchteten die Flüchtlinge nicht nur den Einmarsch deutscher Truppen in das Land ihrer Zuflucht, sondern auch die Stimmungswechsel in der Bevölkerung.«137 Hinsichtlich der politischen Stimmung wird herausgestellt, dass das Asylrecht von aktuellen Ereignissen unabhängig sein sollte, was auch damals im Parlamentarischen Rat angesprochen wurde (siehe Kapitel 3.1.1): »Das Asylrecht sollte, solange das Grundgesetz überhaupt gilt, von Stimmungslagen und politischen Wechselfällen nicht berührt werden, sollte ein absolutes Grundrecht sein.«138 »Um einen vorübergehenden Schub von Flüchtlingen einzudämmen, darf weder der Berlin-Status zur Disposition gestellt, noch das Grundgesetz abgeschwächt werden«139 Es gehe dabei auch um »die ›Würde der Verfassung‹«140 . Des Weiteren werden im Artikel Zahlen genannt, um die zugeschriebene Belastung in ein anderes Verhältnis zu setzen: »Seit vierzig Jahren hat sich diese Verpflichtung bewährt. Einige zehntausend politisch Verfolgte konnten sich dadurch retten, daß sie in der Bundesrepublik blieben oder weiterwanderten. Der Wohlstand in unserem Lande hat dadurch nicht gelitten. Von ›Überfremdung‹ kann bei einem gegenwärtigen Flüchtlingsanteil von 0,2 Prozent an der gesamten Bevölkerung [...] nicht die Rede sein.«141 Hier wird auf die Zahl der anerkannten Flüchtlinge statt auf die Zahl der Asylsuchenden Bezug genommen und mit der zeitlichen Perspektive von 40 Jahren betont, dass es schon lange gut funktioniert hat. Als weiteres Argument wird eine bewusste Entscheidung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates hervorgehoben. Sie dürften nicht als »Versammlung naiver Sen-
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Ebd. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Ebd. Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«.
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sibelchen oder als ahnungslose Amateure hingestellt«142 werden, stattdessen seien sie »sich der Risiken einer uneingeschränkten Aufnahme des (mindestens 4 000 Jahre alten) Asylrechts in die neue Verfassung der Bundesrepublik voll bewußt gewesen.«143 »Der Blick in die Protokolle (des Parlamentarischen Rats) erleichtert die Urteilsfindung, läßt sich zum aktuellen Streit um Kurz- oder Weitsichtigkeit der Verfassungsgeber sagen. Und dieser Blick läßt eben nur den Schluß zu: Sie wußten, was sie taten.«144 Da dies mehr eine Behauptung als eine Begründung darstellt, wird die Entscheidung des Parlamentarischen Rats auch als Argument für eine Grundgesetzänderung angeführt, beispielsweise von Bundeskanzler Helmut Kohl: »Die Väter und Mütter unserer Verfassung konnten nicht voraussehen, daß unser Land eines Tages mit einer Flut von Wirtschaftsflüchtlingen konfrontiert werden würde, die nicht als politisch Verfolgte zu uns kommen.«145 Nicht zuletzt wird auch der Vorwurf des Asylmissbrauchs aufgegriffen, und als Argumentationsgrundlage infrage gestellt: »Daß Rechte mißbraucht werden, ist seit jeher üblich und kein Grund sie abzuschaffen. Es gilt den Mißbrauch – so es Mißbrauch ist, wenn einer vor dem Krieg flieht – zu unterbinden. Dazu bieten die vorhandenen Gesetze und Verordnungen genügend Handhaben.«146 Für eine Grundgesetzänderung finden sich sehr viel weniger Argumente im Diskurs, es wird lediglich auf das Asylantenproblem und den Asylmissbrauch verwiesen, die eine Grundgesetzänderung »notwendig«147 machen. Der »Zustrom von Asylanten [kann] nur durch eine Änderung des Grundgesetzes gebremst werden.«148 »Eine Änderung des Grundgesetzes, die notwendig wäre, um den offenkundigen Mißbrauch des Asylrechts [...] verhindern zu können, scheitert jedoch an den Parteien. Eine Grundgesetzänderung benötigt eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag.«149 Dazu sei es erforderlich, daß Union, FDP und SPD ›ohne Voreingenommenheit und Tabus‹ darüber verhandelten.«150 Dabei ist nicht Bestandteil der Debatte, wie eine Grundgesetzänderung inhaltlich konkret aussehen könnte, sie wird lediglich damit assoziiert, die Zahlen zu senken und den Zugang für Unberechtigte zu verhindern. Sie wird von den Befürwortern als einzige mögliche Lösung beschrieben. Die beiden Artikel der SZ, die sich eingehender mit der Entstehung des Asylgrundrechts beschäftigen, wirken dabei wie der Versuch, ein Gegengewicht zu der sich entwickelnden Diskussion zu schaffen. Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) beschreibt die Grundgesetzänderung als ein »Scheinzauberwort«151 , das dem »Zauberwort«152 Asyl entgegengehalten werden soll, aber nicht die gewünschte Wirkung haben wird und daher auch nicht unbedacht als Lösung vorgeschlagen werden
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Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«. Ebd. Ebd. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Günter Bannas, »»Das gemeinsame Wahlprogramm wird eine Änderung des Grundgesetzes befürworten«.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.1986. 148 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. 149 Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. 150 Bannas, «Das gemeinsame Wahlprogramm wird eine Änderung des Grundgesetzes befürworten«. 151 Bannas, »In der FDP Unmut über die Union«. 152 Wurm, »Wenn nur noch gezählt und gezahlt wird«.
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soll. Das Scheinzauberwort zeigt anschaulich die Funktion, die der Lösungsvorschlag einer Grundgesetzänderung im Diskurs übernimmt. Durch einen Zauber soll das fast unlösbar erscheinende Problem, das trotz vielfacher Gesetzesänderungen weiterhin besteht, grundsätzlich aus der Welt geschaffen werden: eine »Grundgesetzänderung, die sich wie eine endgültige Lösung des Asylbewerber-Problems ausnimmt, mag ihre Befürworter als volksnahe und politische Kraftnaturen erscheinen lassen.«153 Politiker*innen können dadurch Handlungsfähigkeit und Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung demonstrieren, ohne dass genauer definiert wird, wie das Asylrecht geändert werden soll.
5.3.4 Kommunikationsregeln im »Asylantenwahlkampf« Eng verbunden mit der Grundgesetzänderung ist der Wahlkampf für die Bundestagswahl im Januar 1987, weil die Parteien herausgefordert sind, ihre Lösungen der Asylantenfrage zu präsentieren. Der Begriff Wahlkampf ist Teil einer militarisierten Sprache und transportiert bereits sprachlich, dass Sieg oder Niederlage und nicht politische Inhalte entscheidend sind. »Von alltäglicher politischer Kommunikation unterscheidet sich Wahlkampfkommunikation darin, dass die Zielsetzung, bei einer bevorstehenden Wahl ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen, eindeutig in den Vordergrund tritt.«154 Die Phase des Wahlkampfes scheint daher auch die ungeschriebenen Regeln für politische Kommunikation in der Demokratie außer Kraft zu setzen bzw. zu verändern. Im Diskurs gibt es eine Auseinandersetzung darüber, welche Regeln in Zeiten des Wahlkampfes gelten und ob Asyl als Thema im Wahlkampf legitim ist. Es wird auf der einen Seite gefordert, darüber zu sprechen, was die Menschen beschäftigt. Daher könnten die Parteien sich nicht selbst aussuchen, was zum Thema im Wahlkampf wird. Zum anderen wird davor gewarnt, dass das Thema Asyl zwar für den Wahlkampf verlockend ist, aber Wahlversprechen in diesem Bereich nicht eingehalten werden können und der Diskurs schnell eine nicht absehbare Eigendynamik und Emotionalisierung entwickeln kann. Das Dorf scheint dabei der Ort der Aushandlung um Asyl zu sein, an dem sich Einheimische und Fremde begegnen und die Bundestagswahl entschieden wird. Während die FAZ sowohl Vor- als auch Nachteile eines Bundestagswahlkampfes über das Asylthema darstellt, positioniert sich die SZ eher gegen Asyl als Wahlkampfthema. Insbesondere die CSU wird mit ihrem Landtagswahlkampf auf Stammtischniveau stark kritisiert. Zunächst gibt es eine Auseinandersetzung darüber, wer ein Wahlkampfthema überhaupt festlegen darf. »Den Streit darüber, ob das Asylrecht und eine dies betreffende Grundgesetzänderung ein ›Wahlkampfthema‹ sei, hält Scholz für ein Scheingefecht. Das Asylthema dränge
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Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Harald Schoen, »Ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung.« In Wahlkämpfe in Deutschland: Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912 – 2005, hg. v. Nikolaus Jackob (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007), 35.
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sich auf, es bewege die Menschen, und die Politiker hätten gar nicht die Möglichkeit, zu entscheiden, ob ein solcher Gegenstand in den Wahlkampf gehöre oder nicht.«155 »Trotzdem scheint es, als ob das Thema Asyl [...] das Wahlvolk mehr berührt als Wirtschaftswachstum oder Arbeitslosigkeit, mehr als die Existenzkrise der Bauern, mehr sogar als Tschernobyl.«156 »Der SPD-Spitzenkandidat Karl-Heinz Hiersemann beschuldigt die CSU, sie überziehe das Land ›mit einer der schmutzigsten Kampagnen, die ich je erlebt habe‹, [Ministerpräsident] Franz-Josef Strauß erwiderte mit hohntriefender Stimme, nicht die Partei, sondern der Bürger bestimme, was Wahlkampfthema sei und was nicht, und die Resonanz beim Publikum scheint ihm recht zu geben.«157 Ähnlich wie beim Scheinzauberwort der Grundgesetzänderung wird von der Auseinandersetzung, ob Asylrecht ein Wahlkampfthema sei, von einem Scheingefecht gesprochen, da es die Menschen bewege und Politik sich daran orientieren müsse. In den entgegengesetzten Deutungen wird davor gewarnt, »das Asylrecht in einer ›ungemein vordergründigen Weise‹ zum Wahlkampfthema zu machen. Von Politikern der CDU und CSU werde die Asylpolitik ›hochgeputscht‹ und ›aufgemotzt‹.«158 Ein Ziel davon sei, »ausländerfeindliche Bürger als Wahlkreuzchenmacher«159 zu gewinnen. Die Bedeutung von Bürger*innen in einer Demokratie wird hier auf das Setzen eines Kreuzchens bei der Wahl reduziert, die durch das Asylthema manipuliert und mobilisiert werden können. Die Positionierung der Parteien hinsichtlich des Asylthemas beinhalte vor allem wahltaktische Überlegungen und das Erreichen von Wähler*innen der Mitte160 oder mit rechten Positionierungen. Nach der Einigung mit der DDR und dem Rückgang der Asylzahlen verschwindet Asyl als Wahlkampfthema fast vollständig: »Das Verebben der Asylbewerberwelle hat dazu geführt, daß das Asylantenproblem sowohl in den Wahlkämpfen zur bayerischen Landtagwahl als auch zur Hamburger Bürgerschaftswahl bei weitem nicht mehr die befürchtete Rolle spielte. [...] Die CSU dringt jedoch weiter auf eine Verfassungsänderung.«161 Im Folgenden soll auf zwei Artikel näher eingegangen werden, die sich explizit mit Asyl als Wahlkampfthema auseinandersetzen. In der FAZ gibt es einen Artikel am 17. September 1986 mit dem Titel »Angst vor dem Verlust der Mitte«, der sich ausschließlich mit den »Chancen und Risiken eines ›Asylantenwahlkampfs‹«162 für die Union aus Sicht des Generalsekretärs Heiner Geißler beschäftigt. Geißler, der die CDU als Partei
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Rupert Scholz war Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben«. 156 Hans Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen.« Süddeutsche Zeitung, 02.10.1986. 157 Ebd. 158 Bannas, »In der FDP Unmut über die Union«. 159 Reuth, »Professionelle Schlepper organisieren den Asylantenstrom«. 160 Feldmeyer, »Angst vor dem Verlust der Mitte«. 161 dpa, »Der Asylantenstrom ist abgeebbt.« Süddeutsche Zeitung, 13.10.1986. 162 Feldmeyer, »Angst vor dem Verlust der Mitte«.
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beschreibt, »die keinen Unterschied zwischen Schwarz und weiß kenne«163 , wird zitiert, dass es aus wahltaktischen Gründen nicht sinnvoll sei, Asyl zum Wahlkampfthema zu machen. Die CDU könne zwar die Forderung einer Grundgesetzänderung aufstellen, diese aber nicht ohne die SPD umsetzen und somit ihr Wahlversprechen nicht realisieren. »Und was denkt sich der Wähler, wenn die Zahl der Asylbewerber unbeschadet aller Bemühungen der CDU, ihren Zustrom einzudämmen, in den nächsten Monaten weiter zunimmt? Wenn in den Dörfern, in denen jetzt zwei oder drei Farbige leben, zu Weihnachten deren acht oder zehn oder zwanzig sind?«164 Farbig ist eine Fremdbezeichnung und Fortführung einer kolonialen Kategorisierung, die Weiß als Normalzustand oder Ausgangsposition definiert, um die Welt aus dieser Ausgansposition einzuteilen.165 An diesen beiden Zitaten wird deutlich, dass der Unterschied zwischen Schwarz und Weiß anscheinend doch nicht so nebensächlich ist, und dass es nicht nur um die Zahl der Asylsuchenden geht, sondern vor allem um jene, die aufgrund ihrer Hautfarbe im direkten alltäglichen Kontakt als fremd wahrgenommen werden. Besonders an einem Weißen Weihnachten als traditionelles und christliches Familienfest stören Schwarze Flüchtlinge diese Idylle. Da die Asylzuwanderung nicht steuerbar ist, will Geißler keinen »Wahlkampf gegen den Rest der Welt« oder »gegen die Asylanten« führen, sondern gegen die SPD und die Grünen. Das Asylthema müsse auf Regierungsebene bearbeitet werden: »Daß ein Mißbrauch des Grundrechts auf Asyl vorliegt, steht für ihn außer Frage, und ›daß es so nicht weitergeht mit den Asylanten, ist auch mir klar‹, bekennt er, bevor er fortfährt. Aber das Thema gehört nicht in den Wahlkampf. Vielmehr muss die Regierung handeln.«166 Dies beinhaltet für Geißler »den Zustrom zu drosseln«167 und die »Abschiebung der NichtAsylberechtigten«168 zu ermöglichen. Im Artikel wird auch benannt, dass eine Thematisierung von Asyl im Wahlkampf starke Emotionen hervorrufen kann und die weitere Entwicklung des Diskurses sowie das Wahlergebnis nicht vorauszusehen und zu kontrollieren ist. »Nicht zuletzt aber fürchtet er die Leidenschaften, die ein auf das Asylthema konzentrierter Wahlkampf wecken könnte. Eine hochgradige Emotionalisierung birgt für die Parteiführung nach Geißlers Ansicht stets das Risiko, die Kontrolle für das Geschehen zu verlieren.«169 In der SZ erscheint ein langer Artikel über den bayerischen Landtagswahlkampf am 2. Oktober 1986 mit dem Titel: »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen.«170 Im Artikel wird kritisiert, dass das Thema Asyl wahltaktisch bewusst eingesetzt wird, beispielsweise an den Schluss der Wahlrede gesetzt wird, um Zustimmung zu erhalten: »Da brauchte der CSU-Vorsitzende nur, unter bedeutungsschwerem Kopfnicken das Wort ›Asyl‹ auszusprechen, und schon brandete der Beifall auf.«171 Die aktuel163 164 165 166 167 168 169 170 171
Ebd. Ebd. Noah Sow, »Farbig/e.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563). Feldmeyer, »Angst vor dem Verlust der Mitte«. Ebd. Ebd. Ebd. Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen«. Ebd.
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le Asylpolitik sei lediglich Teil einer Wahltaktik, Konflikte zu schüren und anschließend Lösungen dafür zu präsentieren: »Aber natürlich ist das Feld, auf dem diese Ernte eingebracht werden soll, vorher sorgfältig bestellt worden. Anfang Juli wurde, um im Bild zu bleiben, ausgesät. Die Bezirksregierungen kündigten an, es sei nun unumgänglich, die Asylbewerber flächendeckend auf alle Landkreise zu verteilen. [...] Daß die ›Umverteilung‹ gerade zu diesem Zeitpunkt erfolgte, hatte aber die Nebenwirkung, daß rechtzeitig zur heißen Phase des Wahlkampfes in jedem Dorf über die Asylanten diskutiert wurde.«172 Auffällig ist, dass sowohl im Artikel der FAZ als auch hier das Dorf als Ort der Aushandlung und Konfrontation benannt wird. Im Dorf begegnen sich Fremde und Einheimische, dort werden die Flüchtlinge als besonders fremd, nicht zugehörig oder als bedrohlich wahrgenommen und um diese Wähler*innenstimmen müssen sich die Parteien besonders bemühen. Des Weiteren wird auch die Sprache von Ministerpräsidenten FranzJosef Strauß »auf Stammtischniveau«173 kritisiert: »Franz-Josef Strauß erweckte bei seinen Bierzeltauftritten mit der ihm eigenen Rhetorik den Eindruck, daß es die sogenannten ›wirklich politisch Verfolgten‹ praktisch gar nicht gebe. Da war die Rede von Leuten, die das Wort ›Asyl‹ nur ›zu stammeln‹ bräuchten, um sich ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik zu erschwindeln, da wurde ironisch gefragt, ob denn überhaupt ein vernünftiger Mensch die Ansicht vertreten könne, daß ›jeder Buschmann‹ einen Anspruch auf Asyl habe.«174 Grundlage von Strauß‹ Argumentation ist, dass Menschen, die hierherkommen, grundsätzlich nicht politisch verfolgt werden, sondern nur Asylmissbrauch begehen würden. Der Begriff Buschmänner unterstreicht dies und transportiert ein ganzes Bündel an Stereotypen über Afrikaner*innen. Sie kommen aus dem Busch, aus einer wilden Natur und leben dort den Tieren ähnlich selbst wild, angsteinflößend, unzivilisiert und halb nackt. Wie viele Fremdbezeichnungen von Afrikaner*innen werden die Menschen in afrikanischen Ländern homogenisiert und vereinheitlicht. Dem Chaos, der Natur und der Regellosigkeit werden, ohne dies explizit zu nennen, die deutsche Zivilisation und Kultur als Norm gegenübergestellt.175 Da diese Bilder im Kopf abgerufen werden, muss nicht weiter erklärt werden, dass diese Menschen keine politische Verfolgung erleben, weil die Existenz von politischen Strukturen und damit auch von Verfolgung negiert wird. Obwohl die Wahlkampftaktik von Strauß kritisiert wird, werden im Artikel seine Argumentationen und rassistischen Begriffe reproduziert. Der Begriff wird bereits im Titel genannt, sodass zu vermuten ist, dass die Nutzung des Begriffs neugierig machen und Leser*innen ansprechen soll. In beiden Artikeln wird davon ausgegangen, dass die Parteien ihr Handeln stärker an Wahltaktik, als an Inhalten oder am Wohl der (geflüchteten) Menschen ausrichten.
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Ebd. Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen«. Ebd. Ingrid Jacobs und Anna Weicker, »Afrika.« In Wie Rassismus aus Wörtern spricht, 200ff.
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Von der Großzügigkeit zur Restriktion (1977–1990)
Das Thema Asyl soll zum Wahlsieg beitragen. Die Aushandlung der Kommunikationsregeln im Wahlkampf berühren auch das zugrunde liegende Demokratieverständnis und die Frage, auf welche Art und Weise und wo politische Aushandlungen stattfinden sollen und wie in einer Demokratie über Zuwanderung und Asyl gesprochen werden darf. Dies macht auch folgendes Zitat deutlich: »Das sind schöne Demokraten, die ausgerechnet das Thema, das die Menschen landauf, landab bewegt, ausklammern wollen.«176 Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass im Diskurs Asyl als ein besonderes Thema wahrgenommen wird, das die Menschen emotional bewegt, schnell eine Eigendynamik entwickelt und als »Profilierungsobjekt«177 genutzt werden kann. Die Schlussfolgerungen, was dies für den Wahlkampf bedeutet, sind unterschiedlich.
5.4 Das Andere 5.4.1 Das Asylantenproblem bzw. die Asylantenfrage Im Folgenden wird auf die Konstruktionen des Anderen eingegangen. In Bezug auf Asyl wurde der Diskurs mit den Begriffen Asylantenproblem bzw. Asylantenfrage gerahmt. Der Begriff Asylant ist dabei mit bestimmten Differenzkonstruktionen hinsichtlich Herkunft, Erscheinungsbild, Sprache und Verhaltensweisen verbunden. Die Iraner*innen sind eine Gruppe, die sehr explizit, aber auch widersprüchlich als eine Gruppe im Diskurs auftauchen und deren Konstruktionen gesondert betrachtet werden. Nicht zuletzt ist die DDR ein zweites Anderes, anhand deren Konstruktionen das deutsch-deutsche Verhältnis verhandelt wird. Im Diskurs über das Schlupfloch Berlin entwickeln sich zwei sprachliche Bilder, die den Diskurs rahmen. Die eine Gruppe mit Asylantenproblem, Asylantenproblematik und Asylantenfrage fasst mit einem Begriff zusammen, dass zu viele Asylsuchende kommen und dies verhindert werden soll. Die andere Gruppe beschreibt mit verschiedenen Wassermetaphern die Zuwanderungsbewegungen. Im Jahr 1986, knapp zehn Jahre nach der Entstehung des Asylanten haben sich feststehende, zusammengesetzte Begriffe etabliert, weitere Wortneuschöpfungen kommen kontinuierlich hinzu. Im Kontext der DDR sind hier beispielsweise »billige Asylantenflüge in das ›Paradies Bundesrepublik‹«178 und »Asylantenbomber«179 zu nennen. Letzteres vergleicht in Anlehnung an die »Rosinenbomber« Flüchtlinge mit Versorgungspaketen, die während der 2. Berlinkrise über Westberlin abgeworfen wurden. Es beinhaltet aber auch das Wort Bombe, welches mit Krieg und Bedrohung verknüpft ist. Beide sprachlichen Bilder sprechen nicht mehr von Menschen, sondern nur noch von einem Problem, einer Frage oder einer Welle. Die individuellen Schicksale und die menschliche Dimension in der Debatte treten dadurch in den Hintergrund. Eine Frage erfordert eine Antwort, ein Problem
176 177 178 179
Günter Bannas und Karl Feldmeyer, »Baum schilt Zimmermann einen Untätigkeitsminister.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.1986. Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 306–7. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Albrecht Hinze, »Zum Abschied ein Gratis-Ticket für die S-Bahn.« Süddeutsche Zeitung, 04.08.1986.
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
eine Lösung, eine Flut einen Damm. Was dies für die Menschen bedeutet, die von dieser Lösung konkret betroffen sind, wird dadurch zweitrangig, sie werden vielmehr gar nicht mehr als Menschen wahrgenommen. Es ist damit auch kaum noch möglich, überhaupt die Problemdefinition infrage zu stellen. In der SZ findet sich an wenigen Stellen Sprachsensibilität bzw. -kritik. Die Begriffe Asylantenproblem und Asylantenfrage stehen häufig im Zusammenhang mit der Einreise über Ostberlin. Das Problem wird fast immer mit dem Begriff der Lösung verknüpft: »pragmatische Lösungsvorschläge für das Asylantenproblem«180 , »Diskussion über die Lösung des Asylantenproblems«181 , »zu einer Lösung des Asylantenproblems beizutragen«182 , »trotz des Drängens auf eine möglichst rasche Lösung des Asylantenproblems«183 »das Asylantenproblem für gelöst zu erklären«184 eine »positive Regelung der Asylantenproblematik«185 zu finden. Die Asylantenfrage findet sich im Kontext des Wahlkampfes wie etwa »Asylantenfrage aus dem Schlachtfeld politischer Parolen herauszuhalten«186 und die »Auswirkungen einer auf die Asylantenfrage ausgerichteten Wahlkampfführung.«187 Auch hier wird von einer »bundesweite[n] Lösung der Asylantenfrage«188 und von einer »umstrittene[n] Asylantenfrage«189 gesprochen. Zweimal findet sich der Begriff bereits im Titel und zeigt die enge Verknüpfung zur Einreise über die DDR und wie sich der Begriff als Schlagwort etabliert hat: »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten.«190 und »Ostberlin lenkt in der Asylantenfrage ein«.191 Die Begriffe Asylantenproblem und Asylantenfrage werden in ihrer Bedeutung fast synonym benutzt und finden sich in beiden Zeitungen vereinzelt bereits ab Beginn der 1980er Jahre, erst 1986 sind sie in fast jedem Artikel, der über die Thematik spricht, zu finden. Danach lässt die Nutzung des Begriffs nach und findet sich nur noch vereinzelt. Dies lässt vermuten, dass die beiden Begriffe vor allem mit der Einreise über die DDR in Zusammenhang standen und daher im Sommer 1986 so häufig auftauchen und danach in unspezifischer Weise vereinzelt weiter genutzt wird. Das Asylantenproblem bezieht sich noch enger auf diesen Kontext, die Asylantenfrage taucht 1992 im Kontext der Grundgesetzänderung nochmal häufiger auf.192 Es überwiegt eine unreflektierte Benutzung des Begriffes, lediglich in der SZ finden sich vereinzelt Anführungsstriche und auch
180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192
Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. Egon Scotland, »›Der Druck im Kessel muß sich noch erhöhen‹.« Süddeutsche Zeitung, 08.08.1986. Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen«. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. Feldmeyer, »Angst vor dem Verlust der Mitte«. Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. Stiller, »Ein Kampf mit Piraten und Behörden«. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. ub./dr./mes, »Ostberlin lenkt in der Asylantenfrage ein: Transit durch die DDR nur noch mit Visum.« Süddeutsche Zeitung, 19.09.1986. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortverlaufskurve für ›Asylantenfrage‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355).
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Sprachkritik, beispielsweise in einem Artikel über die Situation der Flüchtlinge in Giesing: »Diese Giesinger Stimmen, eingeholt an einem heißen Sommervormittag, machen deutlich, wie heftig und zum Teil beängstigend gedankenlos die ›Asylantenfrage‹ zur Zeit behandelt wird, wie stark sich die Diskussion emotionalisiert hat.«193 Die Art und Weise, wie gesprochen wird, wird als gedankenlos und emotionalisiert beschrieben, d.h. ohne Reflexion und sachliche Grundlage. Explizitere Kritik findet sich in einem Artikel im Januar 1987, der jedoch die Ausnahme bleibt: »das Asylantenproblem – ein Wort übrigens, das sie als Mitglied von terre des hommes strikt vermeidet und immer nur von ›Flüchtlingen‹ spricht«.194 Die zwei Begriffe werden auf eine Ebene gestellt, die eigentlich unterschiedliche Dinge beschreiben – Asylantenproblem beschreibt einen Sachverhalt, der Begriff Flüchtlinge bezieht sich auf eine Menschengruppe. Es wird nicht benannt, wie Asylantenproblem sprachlich anders ausgedrückt werden könnte. Die andere Begriffsgruppe, die sich 1986 stärker als zuvor etabliert, ist Asylantenstrom und Asylantenzustrom, weiterhin werden auch die Begriffe Asylantenflut, Asylantenwelle und »Asylantenschwemme«195 genutzt. Die Begriffe stehen meist im Kontext eines Anwachsens oder Abnehmens der Zuwanderungsbewegungen: »wachsender Asylantenstrom«196 , »ungehinderter Asylantenstrom«197 , »Strom der Scheinasylanten«198 sowie das »Verebben der Asylbewerberwelle«199 und das »Ende des Asylantenstroms«200 . Des Weiteren steht die aktive Abwehr häufig im Kontext dieser Begriffe wie die »Eindämmung des Asylantenzustroms«201 und die »Bekämpfung des Asylantenzustroms«202 . Auch hier findet eine Entmenschlichung und Entindividualisierung statt, die Menschen mit Wasserfluten vergleicht, die dann eine Abschottung oder einen Dammbau zum Schutz nahelegen. In den Begriffen wird eine bestimmte Handlungsaufforderung schon mittransportiert. Der Zustrom bezieht sich dabei besonders auf die Zuwanderungsbewegungen über die DDR, wie beispielsweise im »anhaltenden Ausländer-Zustrom über Ostberlin«.203 Dies ergänzt sich bildlich mit dem Begriff des Schlupflochs, durch das die Ströme in die Bundesrepublik fließen können und das verstopft204 werden muss. Die DDR wird dabei auch als »wichtigste Quelle« beschrieben, »durch die der wachsende Asylantenstrom die Bundesrepublik bisher erreicht hat.«205 Auch hier gibt es Distanzierungen mithilfe von Anführungszeichen und zusätzlichen Adjektiven in der SZ wie »bei der sogenannten ›Asylantenflut‹«206 und »eine Welle 193 Stephan Lebert, »›Nach und nach geht die Seele kaputt‹.« Süddeutsche Zeitung, 16.08.1986. 194 Christine Baumgartner, »Angst haben sie nur noch beim Probealarm.« Süddeutsche Zeitung, 06.02.1987. 195 Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. 196 Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. 197 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. 198 al., »Kiel für die Verschärfung der Asylbeschlüsse«. 199 dpa, »Der Asylantenstrom ist abgeebbt«. 200 Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. 201 Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen«. 202 Dreher, »Koalition einigt sich auf Maßnahmen zur Eindämmung des Asylantenstroms«. 203 sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. 204 Winters, »Diepgen gegen Änderung des Grundgesetzes«. 205 Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. 206 Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«.
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der vielbeschworenen ›Asylantenflut‹«207 . Lediglich in diesen beiden Artikeln wird auch nicht der Begriff Asylant, sondern »Asylbewerber«, »Asylberechtigter« und »Armuts- und Kriegsflüchtlinge«208 sowie »Flüchtlinge«209 verwendet. In einem Artikel wird die Symbolik der Begriffe umfassend analysiert: »Wann immer in den letzten Monaten über Flüchtlinge und über Asyl geredet wurde, benutzten die Verfechter weiterer Restriktionen Wörter, die der Beschreibung von Naturkatastrophen entlehnt sind. Asylantenfluten brachen über uns herein, Ströme ergossen sich über unser Land, die Schutzdämme drohten zu bersten unter dem Ansturm der fremden Massen. Manchmal wurde die Sprache auch kriegerisch: [...] ›keine Entwarnung an der Asylfront‹«210 . Der Artikel berichtet über eine Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing, über die Gründung von Pro Asyl und von der Planung, nach dem Berliner Vorbild weitere Flüchtlingsräte einzurichten. Im Zitat werden die sprachlichen Bilder benannt, die im Kontext von Asyl genutzt werden und die laut Artikel das Ziel verfolgen, »schutzsuchende Fremde«211 als Gefahr darzustellen und damit eine Begründung zu haben, das Asylrecht weiter einzuschränken. Das Wissen über die Wirkung der Begriffe und Bilder war im Diskurs vorhanden und Teil des Sagbarkeitsfeldes in der SZ, es verhallte jedoch ohne wirkliche Reaktion im Diskursraum.
5.4.2 Asylanten mit außereuropäischer Herkunft Im Folgenden soll näher analysiert werden, von welchen Personengruppen eigentlich die Rede ist, wenn es um Asylanten geht. Asylanten wird grundsätzlich zugeschrieben, nicht politisch verfolgt zu sein, ohne gültige Einreisedokumente einzureisen und trotz Ablehnung nicht abgeschoben werden zu können. Es wird berichtet, »daß in diesem Jahr wohl an die 100 000 Asylbewerber in unser Land strömen, von denen nur sehr wenige politisch verfolgt sind«.212 »Zunächst müsse ein ›Vollzugsdefizit‹ verringert werden, was darin bestehe, daß fast 70 Prozent der abgelehnten Asylbewerber dennoch ohne Arbeitserlaubnis in den Bundesländern verblieben.«213 Neben dem Vorwurf, aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Hoffnung auf ein besseres Leben zu fliehen, wird die Schuld bei den Schleppern und der DDR gesehen. »Bei dem Zustrom von Asylanten besonders nach West-Berlin handelt es sich [...] um eine ›organisierte Wanderungsbewegung‹, gelenkt von ›Schleppern‹ und angelockt von der Werbung östlicher Fluggesellschaften«214 Asylanten sind somit jene, die Asylmissbrauch begehen und gleichzeitig Opfer, die auf falsche Versprechungen hereingefallen sind. Die Einreise ohne gültige Papiere wird mit wirtschaftlichen Fluchtgründen gleichgesetzt, obwohl es dabei keinen offensichtlichen inhalt207 208 209 210 211 212 213 214
Reinhard Köchl, »Nur nicht auffallen, heißt die Devise.« Süddeutsche Zeitung, 05.09.1986. Kerscher, »Die Verfassungsgeber kannten das Risiko des Asylrechts«. Köchl, »Nur nicht auffallen, heißt die Devise«. Michael Stiller, »Konzertierte Aktion für Asylanten.« Süddeutsche Zeitung, 19.12.1986. Ebd. sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. Gennrich, »Die Union will die SPD langfristig für eine Änderung des Grundgesetzes gewinnen«. Ebd.
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lichen Zusammenhang gibt. Damit erfolgt bereits durch die Einreise eine Delegitimisierung ihrer Anwesenheit. »Arme Menschen, die sich als politisch bedrückt fühlen oder aber nur in wirtschaftlicher Misere leben, geben ihr letztes Geld für diese Reise, von der sie sich Rettung erhoffen und die mit zermürbenden Lageraufenthalten endet.«215 »Die Bundesregierung startet in den Herkunftsländern der Asylsuchenden eine Aufklärungskampagne mit dem Ziel, auf falsche Versprechungen über die Möglichkeiten von Asylbewerbern in der Bundesrepublik hinzuweisen.«216 Die Verknüpfung des Begriffs Asylant mit bestimmten Herkunftsländern und äußeren Merkmalen zeigt, dass mit Asylanten Menschen aus dem Globalen Süden aus Asien und Afrika gemeint sind, die zudem als fremd wahrgenommen werden. Da vor allem außereuropäische Flüchtlinge über den Flughafen Schönefeld in die BRD einreisen, lässt sich vermuten, dass es bei der Asylantenfrage stark darum geht, die Zuwanderung genau dieser Flüchtlinge zu verhindern. Zumindest lässt sich feststellen, dass der Anteil der Flüchtlinge aus dem Globalen Süden nach der Vereinbarung mit der DDR deutlich abnimmt. In folgendem Zitat fällt zudem auf, dass zwischen Asylbewerber*innen und Ostblockflüchtlingen unterschieden wird und schon sprachlich das Recht auf Asyl der einen Gruppe zugeschrieben wird und der anderen nicht. »Mit dem Rückgang der Zahlen im November geht eine Verschiebung unter den wichtigsten Herkunftsländern einher. [...] Iran war in den ersten elf Monaten mit nahezu einem Viertel der Asylbewerber das mit Abstand wichtigste Herkunftsland. [...] Asylbewerber aus Indien, Sri Lanka und Ghana fallen in den November-Statistiken kaum mehr auf. Wegen des Rückgangs der Asylbewerber aus dem Nahen und Mittleren Osten stieg der Anteil der Ostblockflüchtlinge an der Gesamtzahl der Asylbewerber von 19 auf 30 Prozent.«217 Im Folgenden soll ein Überblick über Zitate erfolgen, die bestimmte Herkunftsregionen oder -länder benennen (alle Hervorhebungen Nadine Sylla). Zum einen wird in den Beschreibungen zur Einreise über die DDR unspezifisch von Asien, Orient und Afrika gesprochen: »Etwa siebzig von hundert Asylsuchenden kommen zur Zeit über den DDRFlughafen Schönefeld nach Westberlin. Die DDR-Fluggesellschaft und die sowjetische Aeroflot werben im Orient und in Afrika für billige Asylantenflüge in das ›Paradies Bundesrepublik‹.218 »Zum anderen sind es aber auch jene Asylsuchende ohne bundesdeutsches Einreisevisum, vor allem aus Asien und Afrika, mit deren Durchlaß die DDR Westberliner und westdeutsche Behörden immer mehr in Bedrängnis bringt.«219 Wie unwissend manche Journalist*innen hinsichtlich Geografie sind, oder wie unwesentlich die genaue Herkunft ist, zeigen folgende zwei Zitate: »Der anhaltende und immer stärker werdende Strom von Asylbewerbern, die aus meist südostasiatischen Ländern über die DDR nach West-Berlin und in die Bundesrepublik kommen, nimmt
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Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Reuter, »Rätsel um Flüchtlinge im Atlantik gelöst«. Günter Bannas, »Die Zahl der Asylsuchenden im November halbiert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.12.1986. Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Hinze, »Zum Abschied ein Gratis-Ticket für die S-Bahn«.
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immer besorgniserregender Ausmaße an«.220 Keines der wichtigsten Herkunftsländer liegt in Südostasien, aus Vietnam, Kambodscha und Laos gab es zwar die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen, aber nur eine geringe Anzahl stellte einen Asylantrag oder reiste über die DDR ein. In dem anderen Zitat wird deutlich, dass Afrika als Kontinent als Herkunftsangabe ausreicht und es keiner genaueren Angabe bedarf (siehe auch Kapitel 3.4.2): »In diesem Sommer ist nun offenbar in dieser Grenze ein Schlupfloch für Palästinenser, Libanesen, Afrikaner verschiedenster Nationalität sowie Inder und Pakistaner in eine neue Welt.«221 Bei den konkreten Länderangaben fällt auf, dass Menschen dieser Länder mit einer unberechtigten Einreise über die DDR oder mit Schleppern oder einer nicht zu realisierender Abschiebung verknüpft sind. »Statt dessen wirbt die Fluggesellschaft der DDR beispielsweise in Ghana mit der Transitmöglichkeit nach West-Berlin. Die meisten Asylanten kommen aus Iran, Libanon, Ghana und Indien. ›Asylanten dürfen nicht einfach hereingeschleust werden‹, sagt Schäuble.«222 »Die DDR ›werbe‹ zum Beispiel in Ghana regelrecht um Asylanten, die dann mit der DDR Gesellschaft Interflug [...] nach Ostberlin gebracht und mit der S-Bahn in den Westteil der Stadt abgeschoben würden.«223 »Ein Großteil komme aus Ländern, für die die Anerkennungsquote seit langem weniger als 1 Prozent der Antragsteller betrage. Ein großer Teil der Libanesen und Palästinenser stelle auch nicht mehr Asylanträge«224 . »In Berlin befinden sich zur Zeit 1 600 Palästinenser und Libanesen, die eigentlich abgeschoben werden müßten.«225 In einigen Artikeln wird zudem davon ausgegangen, dass man Asylanten anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes erkennen und von anderen Reisenden unterscheiden kann: »Die zwei Dutzend Menschen, die dies tun, sind durch ihre äußere Erscheinung durchaus zu identifizieren. Sie kommen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Genauer: Die größte Gruppe – Männer, Frauen und Kinder – stammt, wie sich später anhand der Pässe bestätigen wird, aus dem Iran, einige Libanesen sind auch darunter.«226 »Aber unter den Passagieren, die nun die Gangway herabsteigen, ist niemand, der ohne weiteres als ein Reisender erkennbar wäre, der ohne Transit- oder Einreisevisum ankommt und in den Westen weiterwill.«227
220 Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. 221 Ulrich Schulze, »›Windeln und Bisquits – für Zelt 14 bitte‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.07.1986. 222 Gennrich, »Die Union will die SPD langfristig für eine Änderung des Grundgesetzes gewinnen«. 223 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. 224 Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. 225 Heuwagen, »Fremde in der Stadt«. 226 Hinze, »Zum Abschied ein Gratis-Ticket für die S-Bahn«. 227 Ebd.
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»Von den 180 Passagieren der Maschine, mit der er nach Ost-Berlin geflogen sei, seien nur sechs ›normale Passagiere‹ gewesen, also nicht Asylsuchende, die über Schönefeld in den Westen wollten«228 Bei sechs von 180 Passagieren kann man sich durchaus fragen, woran ihre Normalität erkennbar war und anhand welcher Merkmale ihrer äußeren Erscheinung sie identifiziert werden konnten. In keinem der Zitate wird erläutert, an welchen Merkmalen Asylanten erkennbar sind, daher ist davon auszugehen, dass sich bereits ein kollektives Verständnis innerhalb der letzten zehn Jahre entwickelt hat, wie ein Asylant aussieht, sodass dies nicht genauer beschrieben werden muss. Die Erkennungsmerkmale werden in zwei weiteren Artikeln anhand der Kleidung und der fremden Namen festgemacht: »Manche nahmen für die kurze Strecke von vielleicht 1 200 Metern auch ein Taxi. Die Männer sind fast alle gut gekleidet, die Frauen, manche von ihnen schwanger, tragen weite Gewänder, lange Röcke und Kopftücher; viele der Kinder sind barfuß.«229 »Oft reagieren die Wartenden erst beim zweiten oder dritten Mal, denn der Angestellte der Ausländerbehörde tut sich schwer mit den indischen, arabischen und afrikanischen Namen. Hinzu kommt die Müdigkeit. Manch einer ringt da mit dem Schlaf, wie die verschleierte Frau, die in ihren Armen einen Säugling hält, oder der dunkelhäutige Mann aus Ghana mit der bunten Mütze. Wen wundert dies, waren doch die meisten von ihnen tagelang unterwegs.«230 Hier taucht eine stereotype Darstellung von geflüchteten Frauen auf: sie tragen Kopftuch und sind als (werdende) Mütter zu erkennen. Die bunte Mütze des Ghanesen bezieht sich vermutlich auf vorherrschende Rastafari-Bilder, es fehlen nur noch die Dreadlocks in der Beschreibung. Die Berichterstattung über Gewalt in einer Flüchtlingsunterkunft zeigt weitere Zuschreibungen außereuropäischer Flüchtlinge. Die Meldung kommt in der SZ am Ende eines Artikels, der über das Problem der Einreise über die DDR und die Unterbringung in Berlin berichtet. Völlig aus dem Zusammenhang wird über die »Schlägerei i[m] Asylantenlager« in Rheinland-Pfalz berichtet und indirekt vermittelt, dass dies die Konsequenz ist, wenn die weitere Zuwanderung nicht verhindert wird: »Nach Mitteilung der Polizei waren etwa 100 Ghanaer und Libanesen mit Messern, Eisenstangen und Fleischbeilen aufeinander losgegangen. Offenbar habe es sich um einen Machtkampf zwischen zwei Gruppen gehandelt, hieß es von der Polizei. Fünf Asylbewerber seien vorläufig festgenommen worden.«231 Auch in der FAZ wird darüber berichtet, dass es »zu Massenschlägereien zwischen Afrikanern und Orientalen gekommen [ist]. [...] Später entwickelte sich ein Kampf, an dem schätzungsweise hundert Menschen beteiligt waren, und
228 Eckhard Fuhr, »›Reiseberatungsbüros‹ bieten den Asylsuchenden ihre Dienste an.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.08.1986. 229 Schulze, »›Windeln und Bisquits – für Zelt 14 bitte‹«. 230 Reuth, »Ernüchterung und Schlangestehen im gelobten Land«. 231 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«.
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bei dem auch Messer, Zaunpfähle, Kanthölzer und Eisenstangen benutzt wurden.«232 Es wird ein Bild von roher, unkontrollierter und sinnloser Gewalt entworfen, bei dem jeder Gegenstand als Waffe recht war. Die Waffenaufzählungen unterscheiden sich in den beiden Zeitungen. Des Weiteren wird suggeriert, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, in der SZ Menschen aus Ghana und Libanon, in der FAZ vereinfacht als Menschen aus Afrika und dem Orient beschrieben, nicht friedlich zusammenleben können, sondern Konflikte durch rohe Gewalt lösen. Anstatt zu schlichten, begannen die Unbeteiligten sich in den Kampf einzumischen. Die Differenzkonstruktionen und rassistische Zuschreibungen treten hinsichtlich Schwarzer Menschen besonders hervor. Diese Zuschreibungen werden in einigen Artikeln deutlich. »Franz Bodynek hat, wie er sagt, öfters beobachtet, daß sich weiße Mädchen mit den Schwarzen herumtreiben, ›da sollen jetzt sogar ein paar schwanger von denen sein‹. Dies hat nun wirklich nichts mit Rassendiskriminierung zu tun, sagt er, aber Schwarz und Weiß würden nun einmal auch in unserer Zeit nicht so recht zusammenpassen. ›Wir von der Kirche können in Giesing fast nichts tun‹, sagt der Geistliche. ›Wir müßten ja erst missionarisch tätig werden, denn die allermeisten sind ja gar keine Christen‹«233 Hier wird ein kolonialer Diskurs um die Bedrohung der Weißen Frau vor dem fremden, Schwarzen Mann aufgegriffen. Sowohl Beziehungen als auch Kinder zwischen Schwarzen und Weißen Menschen müssen verhindert werden. Die Beschreibung Weiß fällt tatsächlich nur in der direkten Abgrenzung zu Schwarz, als würde dort das Eigene erst sichtbar und benennbar. Dieser Unterschied scheint auch so prägnant zu sein, dass alles andere nebensächlich wird. Verstärkt wird dies durch die Zuordnung des Christentums als Weiße Religion und der Notwendigkeit der Missionierung. Ein anderer Artikel berichtet über eine afrikanische Fußballmannschaft. Obwohl dieser Artikel versucht, positiv über Afrikaner zu berichten, reproduziert er kontinuierlich Stereotype, die dann relativiert oder verneint werden. »Ein Team zum Fürchten sind sie. Nicht etwa, weil sie rüde Treter wären. Im Gegenteil, meist sind sie sanft wie die Gnus der afrikanischen Savanne. Aber am Ball ›explodieren‹ sie. Tore am Fließband schießen sie mit jenen unnachahmlichen Bewegungen, die sie sich aus den Soul-Kneipen auf den Fußballplatz herüberretten«234 . Im Zitat werden Afrikaner mit Gnus und mit Bomben, die explodieren gleichgesetzt und es wird ihnen ein Rhythmusgefühl zugeschrieben. Der Artikel sticht hervor, weil die meist durch die Berichterstattung zu Objekten gemachten Menschen hier selbst zu Wort kommen. Dennoch schreibt der Artikel die Stereotype durch seine expliziten Deutlichmachungen eher noch tiefer ins kollektive Gedächtnis ein, als dass er sie relativiert. Eine wirkliche Nähe zu den Fußballspielern wird durch die Berichterstattung nicht hergestellt, sondern eher der Vorwurf von Bandolo, einem der Spieler, bestätigt, den er als Grund für die Entstehung des Fußballclubs nennt: »Viele von
232 Eckhart Kauntz, »Haftbefehl gegen libanesische Asylanten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.1986. 233 Lebert, »›Nach und nach geht die Seele kaputt‹«. 234 o. A., »›Lauf weg, die Weißen sind hinter dir her‹.« Süddeutsche Zeitung, 06.03.1986.
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uns waren allein. Und es ist auch so, daß Afrikanern alles Schlechte nachgesagt wird. Wir haben uns zusammengetan, um mal zu zeigen, was Afrikaner im Sport können.«235 Die beiden letzten Artikel zeigen, welche Zuschreibungen und inneren Bilder bei den Leser*innen hervorgerufen werden mögen, wenn sie hören, dass nun Schwarze Menschen nach Deutschland kommen. Im Diskurs über das Asylantenproblem ist eine explizite Ausführung über die Folgen aufgrund der Wirkmächtigkeit kolonialer Diskurse nicht mehr notwendig. Es genügt ein Verweis auf das Aussehen und die Herkunft.
5.4.3 Iranische Flüchtlinge als Asylaspiranten, Folteropfer oder politische Subjekte Iran ist 1986 das Land, aus dem die meisten Asylsuchenden kommen. Die Iraner*innen waren nicht nur die zahlenmäßig größte Gruppe, die über die DDR einreiste, sondern tauchten auch im Diskurs mit sehr unterschiedlichen Konstruktionen auf. Iranische Flüchtlinge werden in zwei thematisch verschiedenen Artikelarten angesprochen, die ein unterschiedliches Bild malen und ohne Überschneidung oder Bezugnahme nebeneinanderstehen: es geht zum einen um die Migrationsbewegungen vom Iran über die Türkei und die DDR nach Westberlin, zum anderen um die persönliche Situation iranischer Flüchtlinge in Deutschland. Während beim ersten Thema illegale Einreise und wirtschaftliche Fluchtgründe hervorgehoben werden, wird beim zweiten Thema überwiegend eine empathische Sichtweise für die persönliche Situation der Iraner*innen eingenommen. Bevor auf diese Konstruktionen eingegangen wird, soll kurz der Kontext der Migrationsbewegungen aus dem Iran erläutert werden. Bereits in den 1960er Jahre kamen Iraner*innen zum Studieren nach Deutschland. Während der Iranischen Revolution 1978–79 entwickelte sich eine erste Fluchtbewegung. Eine weitere, teilweise von den gleichen Personen, die mit großer Hoffnung auf Veränderung zurückgekehrt waren, entwickelte sich im Laufe der 1980er Jahre, auch bedingt durch den Iran-Irak-Krieg. 1984 und 1985 wurden mehr als 60 % aller Iraner*innen im Asylverfahren als Flüchtlinge anerkannt. 1986 lag der Anteil der Asylanträge, die von Iraner*innen gestellt wurden, bei 22 %. Dabei gab es einen verhältnismäßig hohen Frauenanteil, weil viele Frauen die rechtlichen und soziokulturellen Einschränkungen im Iran nicht hinnehmen wollten. Der Frauenanteil stieg dadurch von 25 % auf 34 % in den 1980er Jahren. Das Bild, das von den Iraner*innen in Deutschland vorherrschte, war geprägt durch eine hohe Bildungsorientierung, Bleibewunsch, Anpassung- und Integrationsbereitschaft und säkularer Orientierung. Dadurch wurden sie auch nicht als klassische Ausländer mit Integrationsproblemen wahrgenommen. Viele Iraner*innen engagierten sich auch in Deutschland politisch und gründeten Selbstorganisationen, wie etwa den Verein iranischer Flüchtlinge e.V. in Berlin, der bis heute existiert. Besonders viele Iraner*innen gibt es bis heute in Berlin, weil der überwiegende Teil über die DDR einreiste und in
235 o. A., »›Lauf weg, die Weißen sind hinter dir her‹«.
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Westberlin blieb. Alle, die vor dem 31. Dezember 1988 einreisten, erhielten 1993 eine Aufenthaltserlaubnis.236 Ein Teil der Artikel beschäftigte sich mit der Einreise von iranischen Flüchtlingen von der Türkei über die DDR nach Westberlin. Hier liegt der Fokus auf den gefälschten Papieren und die Zusammenarbeit zwischen Flüchtlingen, der Türkei und der DDR um die Einreise möglich zu machen. Auslöser ist vermutlich eine dpa-Meldung am 05. August 1986 über den Handel mit gefälschten Papieren in Istanbul, die in beiden Zeitungen aufgegriffen wird. Die SZ schickt daraufhin einen eigenen Korrespondenten und bringt einen ausführlicheren Bericht am 11. August 1986 mit dem Titel: »Die Menschenschleuse am Bosporus«.237 Der ganze Artikel ist in der Art geschrieben, die an einen Kriminalroman und einen Reisebericht erinnert: es ist ein »kniffliger Reporterauftrag«; der Journalist hat sich »in den zwielichtigen Reisebüros in Aksaray umgehört und bei vielen Tassen heißen Tee und türkischen Kaffee ein ungefähres Bild vermittelt bekommen, wie iranische Flüchtlinge ihren Weg in die Interflug-Maschinen finden.«238 In der FAZ wird ein »Mitarbeiter des hessischen Rundfunks iranischer Staatsangehörigkeit, Ali Sadrzadeh«239 interviewt, der sich in Istanbul selbst als Flüchtling ausgegeben hat, um die Wege nach Deutschland genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Iraner*innen werden teilweise als Opfer von Schleppern dargestellt, teilweise aber auch als Teil der kriminellen Tätigkeiten. Es wird sowohl »von ›skrupellosen Geschäften‹ mit hilflosen Flüchtlingen in Istanbul«240 berichtet, als auch von »iranischen Asylaspiranten«241 und davon, dass ganze Straßenzüge »fest in iranischer Hand« sind: »In so genannten Reiseberatungsbüros, die ganz offen in kleinen Läden untergebracht seien, verkauften Iraner ›Pakete‹ mit allen nötigen Papieren«.242 Istanbul und insbesondere das Viertel Aksaray wird als Ort beschrieben, in dem es für wenig Geld fast alles und so auch die notwendigen Papiere für die Einreise in die BRD gibt: »Schauplatz Aksaray. Ein Stadtviertel Istanbuls, in dem die Billigsthotels überwiegen und die Läden, die ›Polski Slep‹ heißen oder ›Yugoslavia Bazar‹; Busreisende aus Polen und Jugoslawien kaufen dort Billigwaren ein – von der Lederjacke bis zur Jeans. Aber Aksaray ist auch ein Viertel, wo viel Arabisch gesprochen wird – arabische Touristen minderer Einkommensschichten steigen hier ab – und auch Farsi: Die meisten der legal oder illegal durchreisenden Iraner sind hier anzutreffen. Und es ist auch ein Viertel mit Reisebüros, die am Rande der Legalität arbeiten.«243 All diese Beschreibungen lassen den Eindruck entstehen, dass in Istanbul im Gegensatz zu Deutschland Chaos, Unordnung und Kriminalität vorherrscht und dass alle Ira236 Niels Uhlendorf, Optimierungsdruck im Kontext von Migration, Adoleszenzforschung Band 6 (Wiesbaden: Springer VS, 2017), Dissertation, 99; Sahar Sarreshtehdari, »›Das ist so typisch persisch!‹« (Dissertation, Waxmann Verlag), 86–93. 237 Carl E. Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus.« Süddeutsche Zeitung, 11.08.1986. 238 Ebd. 239 Fuhr, »›Reiseberatungsbüros‹ bieten den Asylsuchenden ihre Dienste an«. 240 dpa, »»Skrupellose Geschäfte« mit Flüchtlingen.« Süddeutsche Zeitung, 05.08.1986. 241 Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus«. 242 dpa, »»Skrupellose Geschäfte« mit Flüchtlingen«. 243 Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus«.
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ner*innen, die sich aktuell dort aufhalten, nur darauf warten, nach Deutschland zu fliegen. Der Begriff des Sprungbretts und die unterschiedlichen Schätzungen hinsichtlich ihrer Anzahl verstärken dieses Bild: »Jetzt sind es die iranischen Flüchtlinge, die Istanbul als Sprungbrett in den Westen benutzen. Offiziell wird die Zahl der Iraner, die sich zur Zeit in der Türkei aufhalten, auf 100 000 geschätzt, die inoffizielle Schätzung geht von mindestens 300 000 aus.«244 »Zur Zeit hielten sich etwa 20 000 Iraner in Istanbul auf, die auf ihre ›Abfertigung‹ durch die ›Reiseberatungsbüros‹ warteten.«245 »Berlin-Flüge mit der Interflug seien für die nächsten drei Monate ausgebucht.«246 Die Türkei dient dabei als Drehkreuz, weil sie der einzige Nachbarstaat ist, »der von Iranern kein Einreisevisum fordert. Die Pässe iranischer Reisenden werden – ob sie echt sind oder falsch, muß dahingestellt bleiben – am Grenzübergang lediglich mit einem Einreisestempel versehen.«247 »Wie es hieß, ist die Türkei nicht verpflichtet, Iraner bei sich zu behalten, die über die offene iranisch-türkische Grenze in die Türkei geflohen sind. Aus der Türkei in die Bundesrepublik weiterreisende Iraner gäben den Ausgangspunkt ihrer Reise oft nicht bekannt, da sie damit ihr Recht auf Asyl verlören.«248 In der Berichterstattung stehen die illegalen Einreisewege und die große Anzahl von Iraner*innen im Vordergrund. Es wird kaum über die Fluchtgründe der Menschen berichtet, lediglich auf Vermeidung des Wehrdienstes wird verwiesen. »An diesem Wochenende erreichten weitere 560 Asylbewerber, meist aus dem Iran, West-Berlin, wo nach Auskunft sachkundiger Stellen die Angst vor dem Wehrdienst das Hauptmotiv für die Flucht ins Ausland sein soll.«249 An einer Stelle wird über persönliche Fluchtgründe von einem »Ärzte-Paar aus Teheran« berichtet: »›Nicht aus wirtschaftlichen Gründen, nicht einmal aus Opposition zum Khomeini-Regime; man kann sich arrangieren; wir sind gegangen, um unseren Sohn vor dem Militärdienst und vor dem Einsatz an der irakischen Front zu bewahren.‹ Der Sohn, nicht älter als 14, sitzt still dabei und löffelt ein türkisches Eis.«250 Die Fluchtgründe werden in diesem Beispiel individualisiert, und es wird durch das Bild des Eis essenden Kindes Nähe und Verständnis hergestellt. Auch die hohe Anerkennungszahl bleibt bis auf eine Ausnahme unerwähnt: »Aus der Statistik ergibt sich, daß etwa die Hälfte der Bewerber aus dem Iran anerkannt werden (48,8 Prozent)«251 . Die andere Art von Artikeln berichtet über die persönliche Situation und Fluchtgeschichte von Flüchtlingen in Deutschland. Darin werden politische Fluchtgründe benannt. In einem Artikel in der SZ mit dem Titel »Die Angst will nicht fliehen«252 geht es explizit um Flüchtlinge aus dem Iran, ihre Erfahrungen von Folter und Repression und eine von ihnen organisierte Demonstration in Berlin. Ein weiterer Artikel berichtet über die Anhörung im Bundesamt in Zirndorf und dass iranische Flüchtlinge gute 244 245 246 247 248 249 250 251 252
Ebd. Fuhr, »›Reiseberatungsbüros‹ bieten den Asylsuchenden ihre Dienste an«. Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus«. Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus«. Reuter, »Rätsel um Flüchtlinge im Atlantik gelöst«. Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. Buchalla, »Die Menschenschleuse am Bosporus«. ub./dr./mes, »Ostberlin lenkt in der Asylantenfrage ein«. Marianne Heuwagen, »Die Angst will nicht fliehen.« Süddeutsche Zeitung, 01.08.1986.
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Chancen auf Anerkennung haben.253 In beiden Artikeln werden schwerwiegende Fluchtgründe anhand von persönlichen Geschichten dargestellt. Dabei werden sie nicht nur als Menschen mit persönlichen Schicksalen, sondern auch mit ihrer politischen Meinung zur Situation im Iran und in Deutschland dargestellt. »Das stille Sit-in an der Gedächtniskirche ist ein angemessener Protest für Menschen, die in diesen Tagen persönlich kaum oder gar nicht zu Wort kommen in der erregten Diskussion über den Artikel 16 des Grundgesetzes«254 »Salehi, der vor der Revolution selbst einmal als freier Journalist gearbeitet hat, will reden, damit die Deutschen die Gründe für das Anwachsen des Stroms von Asylbewerbern aus dem Iran erfahren. ›Das Leben im Iran kann man kein Leben mehr nennen‹, sagt er, ›wir haben nur noch geatmet‹.«255 Dann wird explizit darauf eingegangen, was es bedeuten würde, wenn die Einreise über die DDR verhindert wird, obwohl politische Fluchtgründe vorhanden sind: »Schahlo hat aber nun Sorge, daß ihr Mann nicht rechtzeitig hier ankommen wird und daß iranische Asylbewerber demnächst weder in Berlin noch im übrigen Bundesgebiet aufgenommen werden. ›Wir sind doch nicht hier, weil wir einen Löffel mehr essen wollen‹«.256 Bereits 1986 sank die Anerkennungsquote im Vergleich zum Vorjahr deutlich: »Ein Vertreter von amnesty international erklärte am Dienstag vor Journalisten in Berlin, daß die Anerkennungsquote bei iranischen Asylbewerbern, die im letzten Jahr noch 82 Prozent betragen hatte, inzwischen auf 49 Prozent gefallen sei.«257 Die Iraner*innen werde hier als aktiv Handelnde beschrieben und kommen selbst zu Wort. Es wird über ihre Erfahrungen im Iran hinsichtlich Folter, Terror, Unterdrückung und Hinrichtungen berichtet, aber auch ihr Handeln in Deutschland hinsichtlich der Gründung des »Vereins iranischer Flüchtlinge« und der Demonstration vor der Gedächtniskirche in Berlin. Sie fordern unter anderem Wirtschaftssanktionen, um Khomeini Einhalt zu bieten, obwohl im persönlichen Gespräch ersichtlich wird, dass »diese Menschen Angst haben, selbst in der Bundesrepublik.«258 Des Weiteren wird kritisiert, »wie die Iraner von deutschen Behörden behandelt werden, daß man sie am Telephon anschreit, daß in dem langwierigen Verteilungsverfahren Akten hin- und hergeschoben werden und viele Familien unnötigerweise auseinandergerissen werden.«259 In der FAZ wird wesentlich seltener auf der Mikroebene berichtet. In einem Artikel über die Ausländerbehörde in Westberlin mit dem Titel »Ernüchterung und Schlangestehen im gelobten Land«260 geht es um einen iranischen Flüchtling namens Mohammed. Der Nachname wird nicht genannt. Im Artikel werden die Abenteuerlust und ein besseres Leben »in dem Land, in dem Milch und Honig fließen«261 als Fluchtmotiv in den Vordergrund gestellt. Die Flucht wirkt wie der Versuch einer hedonistischen Selbstverwirklichung, auch wenn diese nicht gelingt, ist der Aufenthalt in Westberlin die besse253 254 255 256 257 258 259 260 261
Michael Birnbaum, »Entscheidungsstunden für Schicksale.« Süddeutsche Zeitung, 30.09.1986. Heuwagen, »Die Angst will nicht fliehen«. Ebd. Heuwagen, »Die Angst will nicht fliehen«. Ebd. Ebd. Ebd. Reuth, »Ernüchterung und Schlangestehen im gelobten Land«. Ebd.
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re Alternative zu Krieg. Dieser scheint allerdings nicht zentral zu sein und wirkt auch nicht sehr bedrohlich: »So hatte man sich das ersehnte Land nach den Schilderungen des daheimgebliebenen Freundes doch nicht vorgestellt. Er habe vielmehr davon gehört, ausreichend Geld zu erhalten. Von schnellen Autos, die man sich alsbald würde leisten können, war die Rede gewesen und nicht zuletzt von blonden Frauen. [...] Besser als für Ayatollah in den Krieg zu ziehen ist es hier in West-Berlin allemal.«262 In diesem Artikel wird die Differenz auch über Orient und Okzident konstruiert, beispielsweise in Beschreibungen wie »orientalische Gestik« und es geht schon zu wie an einem »orientalischen Bahnhof«.263 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Konstruktionen von Iraner*innen zweigeteilt sind und getrennt voneinander behandelt werden, es gibt diejenigen, die das Asylrecht ausnutzen und nach Deutschland kommen wollen und es gibt die Iraner*innen in Deutschland, die politische Verfolgung erlebt haben. Es hat, wie bei den Vietnames*innen auch, etwas damit zu tun, wo die Menschen sich befinden und wie nah sie sind. Im Diskurs über die Einreise über die DDR ist es nicht sagbar, dass Iraner*innen politisch verfolgt sind und Asyl in Deutschland benötigen, da es nicht mit dem dominierenden Deutungsmuster in Einklang steht, dass das Schlupfloch gestopft werden muss. Befinden sie sich hingegen schon in Deutschland, werden ihre Erfahrungen im Iran und auf der Flucht mit Empathie wahrgenommen und sie kommen, wie sonst selten im Diskurs als Individuen und politische Subjekte zu Wort. Diese Perspektive ist jedoch ausschließlich in der SZ zu finden, die FAZ schreibt den Diskurs über die Asylaspiranten auch in Deutschland fort. Auffällig ist auch hier, dass es kaum Hintergrundinformationen zur Situation im Iran gibt, Fluchtgründe können je nach Bedarf ohne Kontext politisch oder wirtschaftlich gedeutet werden. Zum Abschluss soll nun die Konstruktion der DDR und die Deutungen und Erwartungen hinsichtlich des deutsch-deutschen Verhältnisses analysiert werden.
5.4.4 Die DDR als Anderes und die Belastung des deutschdeutschen Verhältnisses Die Konstruktion der DDR und das deutsch-deutsche Verhältnis spielen im Asyldiskurs im Sommer 1986 eine wesentliche Rolle. Der DDR wird zugeschrieben, die Einwanderung nach Deutschland bewusst zu fördern und für ihre Interessen nutzen zu wollen. Somit ist sie mitschuldig an der schwierigen Situation in Westberlin und der Bundesrepublik. Die Art, wie die DDR in den untersuchten Artikeln dargestellt wird, zeigt zudem viel über das deutsch-deutsche Verhältnis und wie die DDR selbst zum grundlegenden Anderen des westdeutschen Eigenen wird. Es wird ein allgemeines Misstrauen gegenüber der DDR ausgesprochen und ihr vorgeworfen, sie würde sich nicht an die Regeln halten. Zudem werden verschiedene Erwartungen formuliert, wie die beiden Staaten aufgrund von Nachbarschaft und international gültigen Verhaltensweisen miteinander umgehen sollen, wobei das Verhalten der BRD stets als vorbildlich dargestellt wird.
262 Ebd. 263 Ebd.
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Es geht um ein »gutnachbarlichen Verhältnis«264 , ein »international vorzeigbaren Verhalten«265 , und um eine »vernünftige Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses«.266 Die Einreise über die DDR hingegen stellt eine »Belastung des deutsch-deutschen Verhältnisses«267 und »eine Verletzung internationaler Gepflogenheiten«268 dar. Insbesondere auf die Belastung und Beeinträchtigung wird immer wieder hingewiesen, dass diese unterbunden oder dem ein Ende gesetzt werden muss, da sonst das gute Verhältnis gefährdet ist. Die Belastung darf nicht zu groß werden, gerade weil »sich die deutsch-deutschen Beziehungen nach Ansicht der Bundesregierung in den letzten Jahren trotz der widrigen Umstände eines bisweilen politisch schwierigen Umfeldes positiv entwickelt hätten und daß die Bundesrepublik an einer Fortsetzung interessiert sei. Sie befürchte allerdings, durch die von der Bundesrepublik bedauerte Belastung, die der Asylantenstrom aus der DDR bedeute, beeinträchtigt werden.«269 Häufig wirkt es in den Artikeln so, als müsse man ein Kind an die Regeln des Zusammenlebens erinnern: »Außerdem müsse Ostberlin wohl das im Grundlagenvertrag festgelegte Prinzip der Zusammenarbeit in Erinnerung gerufen werden. Im Interesse der guten Nachbarschaft beider Staaten müsse dieses Prinzip auch bei der Frage der großen Zahl von Flüchtlingen Anwendung finden.«270 Dabei können auch (finanzielle) Angebote helfen, damit die DDR bereit sei, sich an die Regeln zu halten: »in Verbindung mit dem Augenmerk, das auf die eine oder andere vorteilhafte innerdeutsche Regelung gerichtet wird, könne doch die DDR daran hindern, sich auf ein Hin-und-Her-Schiebespiel von Asylbewerbern einzulassen.«271 Die öffentliche Debatte wird durch die deutschdeutschen Beziehungen wesentlich beeinflusst. Die Grenze des öffentlich Sagbaren wird vor allem dadurch markiert, was dem Status von Berlin und einer Wiedervereinigung schaden könnte. Der Umgang mit der Einreise über die DDR ist damit stets mit dem deutschdeutschen Verhältnis verknüpft. Der DDR wird eine Mitschuld an der gestiegenen Einreise über Ostberlin gegeben. Dabei werden unterschiedliche Thesen aufgestellt, wie die DDR die Zuwanderung fördert, obwohl es kaum konkrete Hinweise gibt. Ihre Beteiligung wird in der Anwerbung von Asylanten in den Heimatländern, in der mangelnden Kontrolle möglicherweise gefälschter Papiere und in der Organisation der Weiterreise in den Westen gesehen: »Das Gewähren ›tätiger Hilfe‹ sieht Scholz darin, daß die DDR in fernen Ländern Asylbewerber anwirbt und sie über die Sektorengrenze in West-Berlin oder auch direkt in die Bundesrepublik ausreisen läßt.«272
264 265 266 267 268 269 270 271 272
Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben«. Reuter/dpa, »Asylantenstrom überschwemmt Helmstedt.« Süddeutsche Zeitung, 12.07.1986. Feldmeyer, »Der Zustrom von Asylbewerbern in Berlin nimmt bedrohliche Ausmaße an«. ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. Fromme, »Scholz: Kein Asylrecht für Flüchtlinge, die schon in der DDR Schutz gefunden haben«. Ebd.
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»Statt dessen wirbt die Fluggesellschaft der DDR beispielsweise in Ghana mit der Transitmöglichkeit nach West-Berlin.«273 »Die DDR-Behörden schleusen offenbar jeden in ihrem Lande ankommenden Asylsuchenden nach West-Berlin. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Reisedokumente echt oder gefälscht sind.«274 »Die DDR ›werbe‹ zum Beispiel in Ghana regelrecht um Asylanten, die dann mit der DDR-Gesellschaft Interflug [...] nach Ostberlin gebracht und mit der S-Bahn in den Westteil der Stadt abgeschoben würden. Hennig bezeichnete das Maß als ›übervoll‹ und forderte die DDR auf, mit dieser Praxis unverzüglich Schluss zu machen.«275 Noch plakativer und deutlicher in seiner Schuldzuweisung ist folgendes Zitat: »Etwa siebzig von hundert Asylsuchenden kommen zur Zeit über den DDR-Flughafen Schönefeld nach Westberlin. Die DDR-Fluggesellschaft und die sowjetische Aeroflot werben im Orient und in Afrika für billige Asylantenflüge in das ›Paradies Bundesrepublik‹. Arme Menschen [...] werden im Interesse eines politischen Zieles der DDR um ihre Hoffnungen, ihre Heimat und ihre Ersparnisse betrogen: alles dafür, daß Westberlin vom Rechtssystem der Bundesrepublik abgetrennt und als ›selbstständige politische Einheit‹ erscheine.«276 Während in den oben genannten Zitaten lediglich Ghana erwähnt wird, wird dies in diesem Fall bereits auf den ganzen Orient und Afrika ausgeweitet. Hier erscheinen die geflüchteten Menschen als reine menschliche Verfügungsmasse, mit denen die DDR in Zusammenarbeit mit den Fluglinien ohne Rücksicht auf die menschlichen Schicksale der Betroffenen »Menschenmißbrauch«277 begeht und ihre politischen Ziele verfolgt. Den flüchtenden Menschen wird jede eigene Handlungsfähigkeit abgesprochen. In vergleichbarer Weise berichtet ein Artikel über die Ankunft von Asylsuchenden im Flughafen Schönefeld und von dem organisierten Transit in den Westen. Ähnlich wie bei der »Menschenschleuse am Bosporus«, wird auch Schönefeld als »Menschenschleuse«278 beschrieben. Die Schleuse fügt sich in die Beschreibung von Zuwanderung als Wasserbewegungen ein und suggeriert eine Kontrolle und eine bewusste Öffnung und Schließung von Zugängen. Es findet eine Entmenschlichung statt, da es nur noch um die Bewegung und Steuerung einer anonymen Masse geht. Laut diesem Artikel mit dem Titel »Zum Abschied ein Gratis-Ticket für die S-Bahn« ist die Ankunft der Asylsuchenden in Schönefeld bis zum Übergang in den Westen von DDR-Behörden genauestens durchgeplant und verläuft reibungslos. Alle Beteiligten wissen genau, wann sie was zu tun haben:
273 Gennrich, »Die Union will die SPD langfristig für eine Änderung des Grundgesetzes gewinnen«. 274 Ralf-Georg Reuth, »An gefälschten Reisepapieren stören sich die DDR-Behörden offenbar nicht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.1986. 275 ddp/dpa/Reuter, »Bonn: DDR will Status von Berlin verändern«. 276 Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. 277 Schütze, »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. 278 Hinze, »Zum Abschied ein Gratis-Ticket für die S-Bahn«.
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»Der Wagen stoppt kurz vor einem Wellblechzaun, der hier die Straße zu einer Sackgasse macht. Dort öffnet sich, als sei das Gefährt bereits erwartet worden, ein zweiflügeliges Tor und schließt sich dahinter direkt wieder. Das ist die Hinterpforte zum Sektorengrenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße. Wenige Minuten später geht am Vordereingang – und zwar dort, wo sonst Diplomaten und anderes bevorzugtes Personal passieren – eine blaue Eisentür auf, ein Grenzposten bezieht Stellung, und es erscheinen die ersten Insassen jenes Busses. Unsicher wollen die sich noch einmal ausweisen, doch interessiert sich niemand mehr für ihre Pässe.«279 »Eine ältere grauhaarige Frau in blauer Kittelschürze weiß offenbar Bescheid. Sie ist für die Wartung der Automaten zuständig, öffnet einen der Kästen, entnimmt ihm eine Handvoll Tickets und verteilt sie kostenlos unter den Augen von zwei DDR-Grenzpolizisten.«280 Dies Szene wirkt umso absurder, macht man sich bewusst, wie stark kontrolliert und reguliert die Ein- und Ausreise an der Friedrichstraße und dem sogenannten Tränenpalast für ost- und westdeutsche Bürger*innen war.281 Der Grenzübergang, der von Seiten der DDR streng kontrolliert wurde, wird für die Asylsuchenden nicht nur durchlässig, sondern auch staatlich unterstützt und gefördert. Auf der anderen Seite der Grenze wünscht sich die BRD in diesem einen Fall, dass die Grenze von Seiten der DDR fest verschlossen bleibe, während sie DDR-Bürger*innen jederzeit und gerne aufnehmen. Dieser Zusammenhang bleibt jedoch überwiegend unerwähnt und wird nur an zwei Stellen aufgegriffen. Zum einen gibt es einen Artikel am 19. Februar 1986 in der SZ, demnach nur 30 Personen 1985 die Flucht über die Sperranlagen gelang. Obwohl »Selbstschußanlagen« zurückgebaut wurden, wurden weitere »Beton-Bodenplatten«, »Alarmdrähte« und »Hundelaufanlagen« installiert. »Nach den Worten Zimmermanns belegen diese Zahlen, daß die Absperrungen an der 1 394 Kilometer langen innerdeutschen Grenze weiter perfektioniert worden sind [...] Eine erhebliche Zunahme stellte der Grenzschutz 1985 bei der Zahl der Asylbewerber an der deutschen Grenzen fest. Sie sei um 77,5 Prozent auf 11 254 angestiegen. Die größte Zahl wurde mit 6 976 Antragstellern an der Grenze zur DDR registriert.«282 Dies ist auch der einzige Artikel, in dem DDR-Flüchtlinge und ausländische Flüchtlinge gemeinsam auftauchen, ansonsten scheinen sie in der Wahrnehmung so unterschiedlich zu sein, dass die Zugänge und Barrieren der beiden Gruppen nicht zusammengedacht werden. Die Solidarität mit den DDR-Flüchtlingen scheint nicht ausweitbar auf andere Gruppen, die ebenso aus repressiven Staatssystemen fliehen. An lediglich einer weiteren Stelle weist der Berliner Bürgermeister Diepgen darauf hin: »Dieses Verhalten der DDR belaste das innerdeutsche Verhältnis und sei ein Stück Zynismus gegenüber der eigenen Bevölkerung, sagte Diepgen unter Hinweis darauf, daß die DDR die Mauer für Asylbewerber durchlässig mache, für ihre eigene Bevölkerung aber fest verschlossen halte.«283 Die Sichtweise der DDR ist genauso wie die Sichtweise der geflüchteten Menschen meist nicht Teil der Darstellung, gleichgültig, ob dies Unwissenheit oder Absicht ist. Am 279 280 281 282 283
Ebd. Ebd. Wolff, »In der Teilung vereint«. Reuter, »Zahl der DDR-Flüchtlinge 1985 auf 30 zurückgegangen.« Süddeutsche Zeitung, 19.02.1986. Winters, »Diepgen gegen Änderung des Grundgesetzes«.
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10. August 1986 gibt jedoch das DDR-Außenministerium eine Erklärung heraus, die in Teilen in beiden Zeitungen abgedruckt wird: »In Westberlin können Ausländer ohne Visum einreisen. Bis jetzt ist uns nicht bekannt, ob die drei westlichen Alliierten, die dort das Sagen haben, daran etwas ändern wollen. Es gibt also für die Deutsche Demokratische Republik als Transitland keinen Grund, Ausländern die Durchreise durch die DDR zu verweigern, nur weil sie nach Westberlin wollen. Nun sagt man, unter den Ausländern, die von ihrem Recht Gebrauch machen, nach Westberlin zu reisen, befinden sich pseudo-politische Flüchtlinge, Wirtschaftsasylanten und vieles andere mehr. In dieser Frage eine Entscheidung zu finden, sind selbstverständlich die Grenzbeamten der DDR und das Personal von Interflug und anderen Einrichtungen der DDR überfordert. Es liegt auf der Hand, daß darüber nur jene eine Entscheidung treffen können, die für die Einhaltung der in Westberlin gültigen Gesetze zuständig sind. Die Deutsche Demokratische Republik ist, das sollte auch Herrn Diepgen bekannt sein, der sich gestern so marktschreierisch aufführte, für die volle Einhaltung und Anwendung des vierseitigen Abkommens über Westberlin. Dies hat nahezu 15 Jahre zum Abbau der Spannungen um Westberlin und zur Förderung seiner internationalen Beziehungen geführt. Es gab eine Zeit, in der Westberlin um internationalen Zuzug von Arbeitskräften warb. Daß von über 200 000 ausländischen Bewohnern der 1,9 Millionen Einwohner von Westberlin jetzt viele arbeitslos sind, dafür ist die DDR nicht verantwortlich.«284 Auffällig ist, dass die Rhetorik jener der Bundesregierung ähnelt. In diesem Fall ist es die DDR, die alles richtig macht und sich genauestens an alle Regeln und Abmachungen hält, und nichts dafürkann, dass »pseudo-politische Flüchtlinge« einreisen. Der Begriff des Wirtschaftsasylanten ist bis in die DDR vorgedrungen. Westberlin hingegen habe das aktuelle Problem selbst verschuldet, weil es ausländische Arbeitskräfte anwarb. Eine weitere Abgrenzung geschieht durch die Arbeitslosigkeit, die als Unterscheidungskriterium zur DDR dargestellt wird. Der Artikel der FAZ geht noch etwas genauer auf die Arbeitskräfteanwerbung aus Sicht der DDR ein: »Noch vor Jahren, als in der Bundesrepublik und West-Berlin ein Mangel an Arbeitskräften für schwere und gefährliche Arbeit bestanden habe, seien diese zuhauf gegen billiges Geld in Ländern Asiens und Afrikas angeworben worden. Jetzt, angesichts der schlechten ökonomischen Lage, wolle man diese Menschen wieder loswerden. Aus Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit solle politisches Kapital geschlagen werden. Die DDR werde sich an derartigen Praktiken nicht beteiligen. »»285 Hier wird die BRD beschuldigt, diese Arbeitskräfte zunächst durch schlechte Arbeit und wenigen Lohn auszubeuten, um sie nun, wenn sie nichts mehr nützen, loszuwerden. Hier betont die DDR ihre Verbundenheit mit den Arbeiter*innen und die internationale Solidarität – die sie jedoch selbst häufig auch nur auf dem Papier verwirklichte. Auch die Herkunftsregionen entsprechen nicht der Realität und werden pauschal mit »Asien 284 sza., »Ostberlin verweist in der Asylantenfrage auf die Zuständigkeit der Alliierten«. 285 Peter J. Winters, »Die DDR beruft sich auf das »Völkerrechtsprinzip der Transitfreiheit«.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1986.
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und Afrika« beschrieben, woher ja auch laut anderen Zeitungsartikeln die meisten Asylsuchenden kommen. Als die Einigung mit der DDR gelingt286 und die Zahl der Asylsuchenden deutlich sinkt, nehmen lediglich noch drei Artikel Bezug zum Schlupfloch Berlin. Während in der FAZ die Einigung als eine gemeinsame Leistung der CDU und SPD dargestellt wird, wird in der SZ die Frage aufgeworfen, warum die SPD als Opposition eigentlich die Einigung erzielt. In der FAZ heißt es »Regierung und Opposition haben, wie weiter zu erfahren war, in dieser Angelegenheit eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet.«287 Die SZ beschreibt die Einigung folgendermaßen: »Aber dann zauberten die Genossen urplötzlich ein As aus dem Ärmel. Kanzlerkandidat Johannes Rau verkündete, die DDR habe, auf Drängen der SPD, in der Asylfrage eingelenkt, das ›Schlupfloch‹ Berlin werde zugestopft. [...] Der CSU verschlug es tatsächlich für kurze Zeit die Sprache. Außer der hilflosen Replik von Generalsekretär Gerold Tandler, es handele sich um eine ›plumpe Wahlkampfhilfe der DDR für die SPD‹ drang zunächst kein Wort aus der Parteizentrale.«288 Daran wird deutlich, dass die Einigung als überraschend wahrgenommen wird und die Abmachungen der SPD mit Honecker nicht öffentlich bekannt waren und auch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurden.
5.5 Fazit Die Asylantenfrage, wie die Verhinderung der Zuwanderung über Ostberlin begrifflich gefasst wurde, wurde im Sommer 1986 zu einem breit wahrgenommenen gesellschaftlichen Thema. Der Diskurs über die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin haben retrospektiv weder in den Medien noch in der Wissenschaft vermehrt Aufmerksamkeit bekommen. Auf Grundlage der vorliegenden Analyse kann jedoch festgestellt werden, dass der Sommer 1986 ein entscheidender Wendepunkt im Diskurs um Asyl darstellte, der die Grundgesetzänderung, wenn nicht möglich, dann auf jeden Fall wahrscheinlicher machte. Des Weiteren ist das Schlupfloch Berlin ein Beispiel par excellence dafür, wie Grenzen zu einem Kontakt-, Aushandlungs- und Trennungsraum werden, deren Durchlässigkeit je nach Zugehörigkeit und Gruppenkonstruktion unterschiedlich ist und bewertet wird. Der Diskurs um Asyl spitzte sich anhand der Einreise über die DDR weiter zu und vermischte sich mit Aushandlungen um das deutsch-deutsche Verhältnis. Ein zentrales Element der Zuspitzung war das Empfinden eines Kontrollverlusts und einer Handlungsunfähigkeit aufgrund des nicht zu schließenden Schlupflochs. Die anstehende Bundestagswahl Anfang 1987 führte zu zusätzlichem Druck unter den Parteien, dennoch Lösungen auf die Asylantenfrage zu präsentieren. Im Diskurs wurde an bereits etablierte
286 Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu« ub./dr./mes, »Ostberlin lenkt in der Asylantenfrage ein«. 287 Feldmeyer, »Die DDR sagt zum 1.Oktober ein Ende des Asylantenstromes zu«. 288 Holzhaider, »Ein Reizthema, bei dem auch Buschmänner herhalten müssen«.
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Deutungsmuster des Misstrauens angeknüpft, diese wurden nun aber auf das Schlupfloch Berlin fokussiert. Die wirtschaftlichen und damit illegitimen Fluchtgründe im Asylmissbrauch wurden mit der als illegal beschriebenen Einreise über den Flughafen Schönefeld verbunden. Die überwiegend außereuropäischen Asylanten, bei denen davon ausgegangen wurde, dass sie bereits äußerlich als solche zu erkennen sind, konnten bei diesem gewählten Einreiseweg keine echten Flüchtlinge sein. Es wurde ein Bild entworfen, dass die halbe Welt bereits auf gepackten Koffern sitze, um bald in die Bundesrepublik einzureisen. Istanbul wurde zum Wartesaal für den Zugang zum deutschen Asylrecht und zum Symbol für eine Welt außerhalb von Deutschland, die von Chaos, Unordnung und Kriminalität geprägt ist. Die Einreise über die DDR wurde so stark delegitimiert, dass politische Fluchtgründe von Iraner*innen in diesem Kontext nicht mehr sagbar waren. Erst wenn sie bereits in Westberlin angekommen waren, konnte über Verfolgung und politisches Engagement berichtet werden. Durch die Rahmung des Diskurses als Asylantenfrage oder Asylantenproblem traten das Menschsein und die persönlichen Erfahrungen der Flüchtlinge immer stärker in den Hintergrund. Dies ist vergleichbar mit der Beschreibung von Zuwanderung durch Wassermetaphern, die im Diskurs besonders durch die Begriffe Asylantenzustrom und Asylantenflut auftraten. Mit Asylant hatte sich bereits ein Begriff etabliert, mit dem Menschen das Recht auf Asyl abgesprochen wurden, ohne dass dies näher erläutert werden musste. Nun wurden sie technisch auf eine Frage oder Problem reduziert. Eine Antwort auf die Asylantenfrage kann jedoch im übertragenen Sinne kaum gegeben werden. Aufgrund des besonderen Status von Westberlin war es nicht möglich, Grenzkontrollen auf westdeutscher Seite einzuführen. Da eine fehlende politische Antwort auf die Asylantenfrage im Wahlkampf problematisch war, wurde die Grundgesetzänderung zum Scheinzauberwort, die es ermöglichte, Handlungsfähigkeit und Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung zu demonstrieren. Die Grundgesetzänderung diente dabei als Code-Wort für stärkere Restriktionen, da sie weder inhaltlich konkretisiert wurde noch politische Mehrheiten dafür vorhanden waren. Dies führte zu einer Rückbesinnung, welche Bedeutung das Asylgrundrecht für das Eigene hat. Gleichzeitig war Asylpolitik der einzige Bereich der Migrationspolitik, der überhaupt Gestaltungsspielraum aufwies. Im Wahlkampf wurde das Thema Asyl als ein besonderes politisches Thema wahrgenommen, das Emotionen hervorruft und kaum kontrollierbar ist. Daraus ergaben sich unterschiedliche Schlussfolgerungen, ob Asyl als ein Wahlkampfthema legitim ist und wer ein solches festlegen darf. Die These, dass Migration in gesellschaftlichen Debatten häufig als Metanarrativ dient, lässt sich an diesem Kapitel gut nachvollziehen. Anhand von Asylmigration werden nicht nur die Kommunikationsregeln im Wahlkampf, sondern auch die Verhaltensregeln des deutsch-deutschen Verhältnisses neu ausgehandelt. Aufgrund der gemeinsamen wechselhaften Geschichte waren der Status von Westberlin und der Umgang mit der DDR emotional besetzt. Das Verhältnis des Eigenen und Anderen lässt sich in vorliegendem Kapitel als Dreiecksverhältnis beschreiben. Dabei verschiebt sich die Täter*innenrolle teilweise von den Asylanten hin zur DDR. Die DDR wird als diejenige dargestellt, die Zuwanderungsbewegungen verursacht und steuert. Die Konstruktionen des Asylanten bewegen sich zwischen ahnungslosen Opfern und Mittäter*innen. Asylanten nehmen in der Selbstverge-
5. Die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin
wisserungsdebatte des Eigenen und der Aushandlung des deutsch-deutschen Verhältnisses je nach Perspektive die Rolle des Scheinasylanten, des Opfers von Menschenmissbrauch, des außereuropäischen Fremden, des verfolgten und von Folter bedrohten Flüchtlings oder des politischen Subjekts in Deutschland ein. Das Eigene verbleibt im Opferstatus, das durch das großzügige Asylgrundrecht und die Rücksicht auf Westberlin handlungsunfähig ist. Die DDR und die Asylanten als Andere bleiben zwar im westdeutschen Diskurs überwiegend stumm und haben kaum Einfluss auf den Diskurs. Durch die Zuwanderung und Autonomie der Migration289 wird die Macht und Souveränität des Eigenen dennoch auf anderem Wege infrage gestellt. Diese können vermeintlich durch die Grundgesetzänderung zurückgewonnen werden.
289 Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali, »Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode.« In Turbulente Ränder.
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B Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung (1991–1993): »Deutschland im Staatsnotstand. Der innere Friede ist bedroht .«
Im zweiten Zeitabschnitt der Untersuchung von 1991 bis 1993 verschränken und überlagern sich die Ereignisse. Diese sind zunächst vor dem Hintergrund eines Europas und eines Deutschlands zu sehen, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Fall der Berliner Mauer neu sortieren müssen. Zudem sind die Bezugspunkte des Eigenen neu zu bestimmen, die auch anhand des Asyldiskurses ausgehandelt werden. Der Anfang der 1990er Jahre ist von einem massiven Anstieg rassistischer Gewalt geprägt. Verbunden mit dem weiterhin vorherrschenden Deutungsmuster des Asylmissbrauchs verhindert es eine Empathie und Verantwortungsübernahme für die Opfer. Die westdeutsche Politik weist jede Verantwortung und die Existenz von Rassismus als ein gesamtgesellschaftliches Problem von sich. Das Selbstbild des ausländerfreundlichen Eigenen bleibt bestehen. Stattdessen werden sowohl die Anwesenheit von Flüchtlingen und Schutzsuchenden als Ursache der Gewalt gesehen, als auch das Problem in Ostdeutschland oder bei gesellschaftlichen Randgruppen verortet. Neben den steigenden Zuwanderungszahlen wird die Gewalt als Grund gesehen, dass das Asylrecht eingeschränkt werden muss, da die Bevölkerung mit der Anwesenheit von Schutzsuchenden überfordert ist. Die Situation wird als Krisenzustand bis hin zum Staatsnotstand wahrgenommen, sodass die Grundgesetzänderung immer mehr zur Überlebensfrage der Nation stilisiert wird. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik könne nur durch eine Demonstration von Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit wieder erlangt werden. Auch für die Grundgesetzänderung ist Misstrauen ein zentrales Deutungsmuster, da aus dieser Perspektive nicht wirklich politisch Verfolgten das Asylrecht verwehrt wird, sondern nur jenen, die eigentlich keine legitimen Fluchtgründe vorweisen können.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
Die rassistische Gewalt Anfang der 1990er Jahre, die in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik mit den vier Städtenamen Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen eingegangen ist, wurde mit über 4.700 Anschlägen innerhalb von drei Jahren flächendeckend in ganz Deutschland alltägliche Realität. Sie ging mit einer gesellschaftlichen Akzeptanz einher, die die Gewalt als nachvollziehbare Reaktion auf die Anwesenheit von Ausländern – auch als Ausländerfeindlichkeit beschrieben – einordnete. »Es gibt in allen Gesellschaften ein rassistisches Repertoire. Die Frage ist, inwieweit hat es der intellektuelle oder politische Diskurs geschafft, das existierende rassistische Repertoire so zu ächten, dass es sich aus den öffentlichen Räumen ins Private zurückzieht [...] und sich nicht als Normalität generieren kann. [...] Um den öffentlichen Raum zu besetzen, braucht es den Verlust des intellektuellen Konsenses.«1 Die sich aufdrängende Frage des »Warums?« lässt sich hier nicht abschließend klären, noch können die Ereignisse im Detail nachvollzogen werden, auch weil bis heute der Umfang der wissenschaftlichen Untersuchungen überschaubar geblieben ist. So bleiben bis heute Fragen der Verantwortung von Politik, Verwaltung und Medien vielfach ungeklärt. Erst in den letzten zehn Jahren entwickelte sich zumindest auf lokaler Ebene eine Erinnerungskultur. Der Fokus des Kapitels liegt auf den Anschlägen von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Hünxe, weil diese enger als die anderen Gewalttaten mit dem Diskurs über Asyl verschränkt waren. Es wird dabei herausgearbeitet, wie die rassistische Gewalt eingeordnet, bewertet und legitimiert wurde und welche Auseinandersetzungen um das Eigene hinsichtlich Ausländerfeindlichkeit und Selbsthass dadurch entstanden. Die Diskurse über die Gewalt knüpften dabei an tief verankerte rassistische Denkmuster, insbesondere gegen Rom*nja und Sinti*ze, und an die Asylmissbrauchsdebatte seit Ende der 1970er Jahre an. Auch der Kontext der Wiedervereinigung und die sich neu stellende nationale Frage nahmen Einfluss auf den Diskurs hinsichtlich der Frage
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Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie, X-Texte zu Kultur und Gesellschaft (2019), 150.
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Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung (1991–1993)
von Zugehörigkeit und Deutschsein. Die Konstruktionen der Anderen zeigen die Perspektive der Opfer als Leerstelle. Die Täter*innen der Gewalttaten werden zwar als Andere konstruiert, dennoch wird ihnen Verständnis entgegengebracht.
6.1 Kontextualisierung 6.1.1 Rassistische Gewalt in der Bundesrepublik 1991 – 1993 Die Bundesrepublik erlebte in den Jahren 1991 – 1993 einen massiven Anstieg an rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten, die fast als bürgerkriegsähnliche Zustände beschrieben werden können. Je nach Zählweise war die Anzahl von Gewalttaten 1991 fünfmal bis achtmal so hoch wie 1990.2 Insbesondere die Zahl der Brand- und Sprengstoffanschläge stieg in hohem Maße. In die kollektive Erinnerung sind die Gewalttaten, wie bereits erwähnt, vor allem mit den Ereignissen an diesen vier Orten eingegangen: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln. In den ersten Jahren wurde auch Hünxe häufig noch in dieser Aufzählung genannt. Diese waren jedoch nur die möglicherweise dramatischsten Ereignisse in einer Zeit, in der Menschen, die als fremd und anders wahrgenommen wurden, überall in Deutschland Gewalt ausgesetzt waren. Während dieser drei Jahre gab es mehr als 4.700 Anschläge, durch die 26 Menschen starben und mehr als 1.800 verletzt wurden.3 Die dokumentierten Morde zeigen, dass Menschen nicht nur durch Anschläge in Wohnungen bedroht waren, sondern auch Gewalt auf offener Straße erfuhren, wie beispielsweise Jorge Gomodai, der am 31. März 1991 in Dresden aus der Straßenbahn gestoßen wurde, Agostinho Comboio, der am 16. Juni 1991 in Friedrichshafen erstochen wurde, Dragomir Christinel, der am 15. März 1992 in Saal bei Rostock zu Tode geprügelt wurde sowie Nguyen Van Tu, der am 24. April 1992 durch einen Messerstich in die Lunge in Berlin umkam.4 Die Breite und Massivität des Phänomens spiegelte sich in der Berichterstattung nicht wider, die Morde fanden meist noch nicht mal eine Erwähnung in den beiden Zeitungen. Der Fokus der folgenden Darstellung liegt nun vor allem auf Hoyerswerda, Hünxe und Rostock-Lichtenhagen, weil diese auch in den untersuchten Artikeln des Asyldiskurses im Fokus standen. Bei den vier oben genannten Ereignissen, wurden zwei Ausprägungen zusammengefasst, die sich hinsichtlich der Ereignisse, Rahmenbedingungen und Deutungsmuster
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Thomas Prenzel, »Rostock-Lichtenhagen und die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl.« In 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Kontext, Dimensionen und Folgen der rassistischen Gewalt, hg. v. Thomas Prenzel, Rostocker Informationen zu Politik und Verwaltung 32 (Rostock: Univ. Rostock Inst. für Politik- und Verwaltungswiss, 2012), 13; Matthias Quent, »Sonderfall Ost – Normalfall West? Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern.« In Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«: Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen, hg. v. Wolfgang Frindte et al., Edition Rechtsextremismus (Wiesbaden: Springer VS, 2016), 109. Fabian Virchow, »Rechter Terror(ismus) in Deutschland.« In Schmincke; Siri, NSU-Terror (s. Anm. 176), 73. Frank Jansen et al., »Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung.« Der Tagesspiegel, zuletzt geprüft am 30.08.2019, https://www.tagesspiegel.de/politik/interaktive-kar te-todesopfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
stark unterschieden. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen richteten sich mehrtägige gewalttätige Ausschreitungen gegen Wohnunterkünfte von Asylsuchenden und ehemaligen Werkvertragsarbeitern. Eine vierstellige Zahl an Gewalttäter*innen wurde durch eine unterstützende Zuschauermenge begleitet und teilweise live im Fernsehen übertragen. An beiden Orten erreichten die Täter*innen, was sie wollten: die Bewohner*innen wurden verlegt. Mölln und Solingen hingegen waren geplante und gezielte nächtliche Brandanschläge, bei denen insgesamt acht Menschen mit türkischer Herkunft ums Leben kamen, darunter fünf Kinder. In Mölln starben am 23. November 1992 die zehnjährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayse Yilmaz sowie ihre Großmutter, die 51 Jahre alte Bahide Arslan. In Solingen starben am 28. Mai 1993 die beiden Schwestern Gürsün Ince (26) und Hatice Genç (18), ihre Töchter Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) und deren Cousine Gülüstan Öztürk (12). 14 weitere Familienmitglieder wurden verletzt, teilweise schwer. Ibrahim Arslan, beim Anschlag in Mölln sieben Jahre alt und Mevlüde Genç, die Mutter und Großmutter der Opfer in Solingen engagieren sich bis heute in der Erinnerung an und im Kampf gegen rassistische Gewalt.5 In Hoyerswerda gab es vom 17. – 23. September 1991 mehrtätige gewalttätige Ausschreitungen gegen die Asylsuchenden in der Zentralen Aufnahmestelle Sachsens (ZAst) und gegen ehemalige Werkvertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam in einem in der Nähe liegenden Wohnheim. In Rostock-Lichtenhagen richteten sich die Ausschreitungen ein knappes Jahr später vom 22. – 26. August 1992 gegen die Asylsuchenden der dort ansässigen ZAst und den Vietnames*innen, die im sogenannten Sonnenblumenhaus wohnten. Unter den Asylsuchenden waren viele Sinti*ze und Rom*nja aus Rumänien. In beiden Fällen sammelten sich im Laufe der Tage mehrere tausend Menschen, die mit Steinen und Molotowcocktails die Gebäude bewarfen und sich Kämpfe mit der Polizei lieferten. Es gab zudem eine große Menge an Zuschauer*innen, die die Gewalt befürwortete. Folge der Ausschreitungen war die Verlegung der Menschen, gegen die sich die Gewalt richtete. »Die Angriffe endeten mit der Kapitulation des Staates«6 . Noch stärker als in Hoyerswerda kann in Rostock-Lichtenhagen von einer bewusst herbeigeführten Eskalation und einem Wegschauen der Politik und Verwaltung gesprochen werden. Als sich die Gewalt am Montag, den 24. August 1992 nach der Verlegung der Asylsuchenden stärker gegen die Vietnames*innen richtete und das Wohnheim in Brand gesetzt wurde, hatte sich die Polizei bereits zurückgezogen und die Feuerwehr wurde durch die Gewalttäter*innen gehindert, mit den Löscharbeiten zu beginnen. Die über 100 Menschen in dem umstellten und brennenden Haus retteten sich selbst über das Dach ins Nachbarhaus und entkamen nur so dem Tod.7 Obwohl es bereits kurz danach einige Veröffentlichungen und Filme gab, die die Verantwortung von Politik und Polizei zum Thema 5
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Stadt Solingen, »Dokumentation zum 20. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.solingen.de/C1257EBD00357318/files/doku_20.jahrestag_b randanschlag_ebook_urheber_klingenstadt_solingen.pdf/$file/doku_20.jahrestag_brandansch lag_ebook_urheber_klingenstadt_solingen.pdf?OpenElement; »Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992.« Zuletzt geprüft am 07.04.2022, https://geden kenmoelln1992.wordpress.com/. Räthzel, Gegenbilder, 211. Hajo Funke, Brandstifter: Deutschland zwischen Demokratie und völkischem Nationalismus, 1. Aufl. (Göttingen: Lamuv, 1993), 109–38.
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Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung (1991–1993)
machten, wurden die Ereignisse bis heute nicht richtig aufgeklärt.8 Erst in den letzten Jahren entwickelte sich eine Erinnerungskultur auf lokaler Ebene.9 Die Gewalttaten und die Schritte bis zur Änderung des Asylgrundrechts im Mai 1993 stehen in einem engen Wechselverhältnis. Für die Gewalt in Hoyerswerda und RostockLichtenhagen gab es von Seiten der Politik und in den Medien viel Verständnis. Sie wurde als verständlicher legitimer Unwille gegen die zunehmende Asylmigration gedeutet und hatte massive Nachahmungen zur Folge. Von Seiten der Union wurde darüber hinaus ein direkter Zusammenhang zwischen der Gewalt und der fehlenden Bereitschaft der SPD, das Grundgesetz zu ändern, hergestellt. Die Morde in Mölln im November 1992 wurden dagegen stärker verurteilt und es entwickelten sich deutschlandweit zivilgesellschaftliche Aktionen und Lichterketten als Demonstrationsform gegen Rassismus. Die Gewalttaten riefen eine stärkere Solidarisierung, Empathie mit den Opfern und eine Debatte um die Zugehörigkeit deutscher Ausländer und um Einbürgerungsgesetze hervor. Bundeskanzler Helmut Kohl kam jedoch nicht zur Gedenkfeier nach Mölln, weil er keinen »Beileidstourismus« betreiben wolle. Stattdessen schickte er seinen Außenminister, da bei dem Anschlag türkische Staatsbürger*innen ums Leben kamen und dies somit eine ausländische Angelegenheit sei. Trotz der veränderten gesellschaftlichen Stimmung entschied sich die SPD bei dem Parteitag am 6. Dezember 1992, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen.10 Am 26. Mai 1993 stimmte der Bundestag für die Änderung des 8
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Ebd; Gerd Monheim, Wer Gewalt sät – Von Brandstiftern und Biedermännern – Die Progrome von Rostock 1992 (ARD-Dokumentation, 1993), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.youtube.com/wa tch?v=nE45p6bD5T8; Mark Saunders, The Truth lies in Rostock – Die Wahrheit liegt (lügt) in Rostock (Spectacle London, 1993), https://www.youtube.com/watch?v=5P21AfG6SPE; Jochen Schmidt und Reinhard Kühnl, Politische Brandstiftung: Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging (Berlin: Ed. Ost, 2002); Kamil Taylan, Die Feuerfalle von Rostock. Der Brandstifter, der Jubel und ein verstörtes Land (Phoenix, 2012), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.youtube.com/wat ch?v=qChchIQlJEY. out of focus Filmproduktion & Initiative »Pogrom 91,« »Hoyerswerda -1991.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.hoyerswerda-1991.de/start.html#nach1991; Dokumentationszentrum Soziale Bindung e.V., »Lichtenhagen im Gedächtnis.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://lic htenhagen-1992.de/; Artist Collective SCHAUM, »Gestern Heute Morgen. Fünf Erinnerungsorte für den Progrom von Rostock Lichtenhagen 1992.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, www.rostocklichtenhagen-1992.de/; Stefan Krüskemper, Oskar Ardila und Michaela Nasoetion, »Gedenkstücke. Eine performative künstlerische Intervention zu den Ereignissen in Rostock-Lichtenhagen 1992.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.gedenkstuecke.de/index.html; Düsseldorfer Schauspielhaus, »Democracy Lab: Verblasste und verdrängte Erinnerungen an den rassistischen Brandanschlag von Solingen 1993.« Zuletzt geprüft am 03.11.2021, https://nrweltoffen-solingen. de/Veranstaltung/democracy-lab-verblasste-und-verdraengte-erinnerungen-an-den-rassistisch en-brandanschlag-von-solingen-1993/; Stadt Solingen, »Dokumentation zum 20. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen« Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit Nordrhein-Westfalen, »›Da war doch was‹. Bildungsmaterialien zum rassistischen und extrem rechten Brandanschlag in Solingen 93‹.« Zuletzt geprüft am 26.05.2022, https://brandanschlagsolingen-1993.de/; »Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992«. Thomas Ohlemacher, »»Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen«: Medien, Bevölkerungsmeinung und fremdenfeindliche Straftaten 1991–1997.« In Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien, hg. v. Frieder Dünkel, Schriften zum Strafvollzug, Jugendstrafrecht und zur Kriminologie 6 (Mönchengladbach: Forum-Verl. Godesberg, 1999),
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
Asylgrundrechts (siehe Kapitel 4.1).11 Nur zwei Tage später erfolgte der Brandanschlag in Solingen. Das zeigt, dass »durch die öffentliche Rechtfertigung von [...] rassistischen Angriffen eine Lawine politischer Gewalt ausgelöst worden war, die durch verfassungsrechtliche [...] Verfahren nicht einfach begrenzt oder beendet werden konnte.«12 Die mediale Berichterstattung über Rechtsextremismus und rassistische Gewalt steht stets vor der Herausforderung über das Thema (kritisch) zu berichten, aber somit rechtsextremen Themen auch eine Öffentlichkeit zu bieten. Durch die Orientierung an aktuellen Ereignissen kommen Hintergrundanalysen zu rechtsextremen Strukturen und Organisationsformen sowie die Perspektive der Opfer häufig zu kurz. Zudem wird durch eine personenbezogene Berichterstattung über die Täter*innen das Problem individualisiert.13 In der Rückschau wurde nicht nur die Verantwortung der Politik für die Gewalttaten diskutiert, auch der Einfluss der Medien geriet mit Beschreibungen wie die »Anstifter der Brandstifter«14 oder »Stichflammenjournalismus«15 stärker ins Blickfeld. Obwohl der Zusammenhang zwischen der politischen Asyldebatte, der Zunahme von rassistischer Gewalt und der Medienberichterstattung vielfach erwähnt und betont wird16 , gibt es nur wenige Studien, die diesen empirisch untersuchten. Direkt nach Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen ließen sich ein deutlicher Nachahmungseffekt und ein Anstieg an Gewalttaten beobachten, während es nach Mölln kaum Folgetaten
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54–5; Bernd Winter, Gefährlich fremd: Deutschland und seine Einwanderung (Freiburg i.Br.: Lambertus, 2004), 80–81 Mehmet Daimagüler, Wolfgang Frindte und Jonas Zipf, »Aber das haben wir nicht gesehen. Erinnerungsarbeit und struktureller Rassismus.« In Nobrega; Quent; Zipf, Rassismus. Macht. Vergessen (s. Anm. 169), 285–7; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 168–74; Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft, 148. Der neue Asylrechtsartikel enthielt drei Einschränkungen hinsichtlich sicherer Drittstaaten, sicherer Herkunftsländer und der Einführung eines Flughafenverfahrens. Bertold Huber, »Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung.« In Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes: Entwicklungen in Deutschland u. Europa: Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht, hg. v. Klaus Barwig (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1994). Poutrus, Umkämpftes Asyl, 173. Ralph Weiß, »Rechtsextremismus und vierte Gewalt.« Soziale Welt 45, Nr. 4 (1994): 486–487, 494; Tanjev Schultz, »Rechsextremismus und Journalismus: die Rolle der Medien zwischen Vorbild, Versuchung und Versagen.« In Rechte Gewalt in Deutschland: Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz, hg. v. Sybille Steinbacher, Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte v.16 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2016), 151. Siegfried Jäger, »Die Anstifter der Brandstifter? Zum Anteil der Medien an der Eskalation rassistisch motivierter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland.« In Medien und Fremdenfeindlichkeit: Alltägliche Paradoxien, Dilemmata, Absurditäten und Zynismen, hg. v. Bernd Scheffer (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1997). Hans-Bernd Brosius und Frank Esser, »Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt.« In Rechtsextremismus: Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, hg. v. Jürgen W. Falter, Hans-Gerd Jaschke und Jürgen R. Winkler, Politische Vierteljahresschrift 27 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1996), 216. »Inwieweit solche indirekten Ermunterungen dazu beitrugen, daß die Zahl der gewalttätigen Übergriffe auf Ausländer im Sommer 1991 erstmal ein besorgniserregendes Maß annahm, ist schwer nachweisbar. Daß hierdurch ein politisches Klima entstand, in dem in zugespitzten Situationen vor allem Jüngere zumindest den Eindruck gewinnen konnten, Überfälle auf Ausländer seien legitim und würden womöglich augenzwinkernd geduldet, ist hingegen offenkundig.« Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 302–3.
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Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung (1991–1993)
gab und die Anschläge nach Solingen sogar stärker zurückgingen. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gab es mehrere Tage andauernde Berichterstattungen vor Ort, die Zuschauer*innen waren sozusagen live dabei und sahen sowohl die Gewalttätigkeit als auch ihren Erfolg. Sowohl im politischen als auch im medialen Diskurs gab es eine Ambivalenz zwischen Verständnis und Verurteilung der Gewalt. Sowohl die massive bildliche Übertragung der Gewalt als auch die Legitimation dieser Gewalt mögen dazu beigetragen haben, dass der Nachahmungseffekt so stark war.17 Nach Hoyerswerda wurden bis zu 78 rassistische Gewalttaten an einem Tag registriert.18 In Mölln und Solingen hingegen wurde erst nach dem Ereignis berichtet, die Brandanschläge wurden ohne Medienberichterstattung in der Nacht verübt. Hinzu kam, dass jeweils mehrere Menschen starben und diese Menschen nicht in direkten Zusammenhang mit der Asyldebatte gebracht werden konnten. Anstatt einer Ambivalenz gab es eine klarere Verurteilung der Gewalt.19 Bevölkerungsumfragen erlebten Anfang der 1990er Jahre eine Hochkonjunktur und wurden vielfach im medialen Diskurs zitiert, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen und häufig auftretenden Fehlinterpretationen.20 Ein Ergebnis der Umfragen war, dass von 1991 bis 1993 das Verständnis für politisch motivierte Gewalt und für rechtsextreme Einstellungen sank. Sie zeigen, dass die »öffentliche Artikulierungsfähigkeit«21 und die soziale Akzeptanz gegenüber rassistischer Gewalt sich veränderte.22 Inwiefern auch in den beiden Zeitungen Gewalt legitimiert, bagatellisiert oder umgedeutet wird, wird in der folgenden Analyse berücksichtigt werden. Bevor eine begriffliche Definition von Rassismus und Rechtsextremismus gegeben wird, wird die Problemverortung in Ostdeutschland näher betrachtet.
6.1.2 Rassistische Gewalt als ostdeutsches Problem? Im medialen Diskurs um rechtsextreme und rassistische Gewalt wurde das Problem in den 1990er Jahren häufig einseitig in Ostdeutschland verortet. Bei der Untersuchung von rechtsextremen Einstellungen, Organisationen und Gewalttaten lässt sich nicht mit Eindeutigkeit eine stärkere Ausprägung im Osten Anfang der 1990er Jahre feststellen. Grundsätzlich muss berücksichtigt werden, dass Gewalttaten sehr unterschiedlich waren und nur zum Teil überhaupt als politische Gewalttaten erfasst wurden.23 Während
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Thomas Ohlemacher, »»Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen«.« In Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, 54–8. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, 304. Thomas Ohlemacher, »»Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen«.« In Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, 54–8. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 193. Thomas Ohlemacher, »»Wechselwirkungen nicht ausgeschlossen«.« In Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, 60. Ebd., 61–2. Dorina Feldmann, Christoph Kopke und Gebhard Schultz, »Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Brandenburg: Zur Problematik der statistischen Erfassung politisch motivierter Kriminalität.« In Frindte et al., Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund« (s. Anm. 1192), 341.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
sich der Rechtsextremismus im Westen durch einen wesentlich höheren Organisationsgrad auszeichnete, überwogen im Osten informelle, subkulturelle Milieus und rechtsgerichtete Protestbewegungen mit einer teilweise ausgeprägten Gewaltbereitschaft. Erst Ende der 1990er Jahre war der Anteil an rechtsextremen Einstellungen im Osten höher, was insbesondere auf die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Wende zurückgeführt wird.24 Auf der einen Seite lassen sich spezifische historische Bedingungen für den Rassismus in Ostdeutschland beobachten, auf der anderen Seite übernahm die Verortung in Ostdeutschland auch eine bestimmte Funktion im Diskurs. Die beiden Aspekte werden nun etwas genauer betrachtet. Hinsichtlich der historischen Bedingungen müssen die grundlegenden Veränderungen nach dem Mauerfall berücksichtigt werden. Diese rechtfertigen nicht die Gewalt, aber sie berücksichtigen die gesellschaftliche Krisenstimmung und den Strukturwandel, der viele Ostdeutsche verunsicherte und vor große Herausforderungen stellte. Die Arbeitslosigkeit lag 1992 in Ostdeutschland durchschnittlich bei 15 %, in MecklenburgVorpommern war sie mit 30 % am höchsten. Dies geschah in einer Gesellschaft, die sich zuvor stark über Arbeit definiert hatte und sozial abgesichert gewesen war. Die Geburtenrate sank mit 0,77 Kindern pro Frau auf ein Rekordtief und verdeutlicht die große Verunsicherung.25 Des Weiteren ist der Umgang der DDR mit Zuwanderung zu nennen. In der DDR gab es einen wesentlich niedrigeren Prozentsatz an zugewanderten Menschen, die als sogenannte Werkvertragsarbeiter oder durch politisches Asyl Zugang bekamen. Die Zuwanderung war staatlich streng reguliert. Sie wurden getrennt untergebracht und ihr Aufenthalt war zeitlich begrenzt. Durch die Segregation wurden die Begegnung und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Diversität erschwert. Trotz der Parole der internationalen Solidarität war eine möglichst homogene Nation ein wichtiger Bezugspunkt in der DDR. Dies setzte sich bei der Wiedervereinigung fort, als in dem Versuch eine gemeinsame Zugehörigkeit herzustellen, Menschen mit Migrationserfahrung nicht mitberücksichtigt wurden. Werkvertragsarbeiter wurden auch nach längerer Anwesenheit in Deutschland und/oder bestehenden Arbeitsverträgen nach der Wende abgeschoben oder blieben jahrelang in unklaren Aufenthaltsverhältnissen. Es gab Unterschriftenaktionen der deutschen Arbeitnehmer*innen mit der Forderung einer direkten Entlassung. Hinzu kam, dass bereits Anfang der 1990er Jahre Asylsuchende nun auch in Ostdeutschland untergebracht wurden. Statt Separation gab an vielen Orten eine deutliche räumliche Annäherung, welche zu vermehrten Konflikten führte. Die Asylsuchenden wurden zudem als Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt betrachtet.26 Als weitere Ursachen für den Rassismus in Ostdeutschland werden die fehlende Auseinandersetzung
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Matthias Quent, »Sonderfall Ost – Normalfall West? Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern.« In Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«, 109–10. Richard Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3., überarb. Aufl. (Berlin: Friedrich-EbertStiftung Abt. Dialog Ostdeutschland, 2000), 169–76 Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft, 146, 155. Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus, »Thesenpapier: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern.« In Behrends; Lindenberger; Poutrus, Fremde und Fremd-Sein in der DDR (s. Anm. 965), 332; Almuth Berger, »Nach der Wende: Die Bleiberechtsregelung und der Übergang ins vereinte Deutschland.« In Erfolg in der Nische?
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mit dem Nationalsozialismus, die Sozialisation in einer autoritär verfassten Gesellschaft und ein damit verbundenes mangelndes Vertrauen in die Demokratie angeführt.27 Die Problemverortung im Osten übernahm jedoch eine bestimmte Funktion im Diskurs, indem sie eine Dethematisierung von Rassismus in Westdeutschland ermöglichte.28 Während der Diskurs um die Grundgesetzänderung zur Herstellung einer einheitlichen Nation in Abgrenzung zu den Asylsuchenden als Andere beitrug, stellte die Debatte über die rassistische Gewalt eine stärkere Differenz zwischen Ost und West her. Dadurch entstand ein Dreiecksverhältnis zwischen Ostdeutschland, Westdeutschland und den Asylsuchenden, in dem sich eine Beziehung zwischen Einheit und Abgrenzung von Ost und West herausbildete (siehe Kapitel 7.2.2).29 »Gesellschaftspolitisch ist dieser Diskurs hochproblematisch, weil die Betonung des Sonderfalls Ost die Abgrenzung gegenüber dem vermeintlichen Normalfall West impliziert, in dem keine spezifischen begünstigenden Faktoren des Rechtsextremismus zu finden seien – zumindest keine, die der Erwähnung wert wären, und die folglich auch nicht genannt, diskutiert oder gar aufgearbeitet werden müssten.«30 Dieser Diskurs ist gekennzeichnet durch eine Hierarchisierung, in dem Westdeutschland als das politische, ökonomische, soziale und kulturelle Vorbild für Ostdeutschland dargestellt wird. Die Hierarchisierung zeigt die »unaufgeklärten und uneingestandenen deutsch-deutschen Machtverhältnisse«.31 Diese anzuerkennen, würde bedeuten, »Fragen der politischen Deutungshoheit, der kulturellen Hegemonie und der symbolischen Gewalt zu stellen, die im gesamtdeutschen Politik- und Mediendiskurs praktisch keine Rolle spielen – aber im Gefühlshaushalt der ostdeutschen Gesellschaft umso stärker präsent sind.«32 Dieser Fremdheitsdiskurs über Ostdeutschland und die dortige Verortung von Rassismus und Rechtsextremismus bildete sich Anfang der 1990er Jahre heraus
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Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus, »Thesenpapier: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern.« In Fremde und Fremd-Sein in der DDR; Jürgen Danyel, »Spätfolgen? Der ostdeutsche Rechtsextremismus als Hypothek der DDR-Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur.« In Behrends; Lindenberger; Poutrus, Fremde und Fremd-Sein in der DDR (s. Anm. 965), 33–40. Jürgen Danyel, »Spätfolgen? Der ostdeutsche Rechtsextremismus als Hypothek der DDR-Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur.« In Fremde und Fremd-Sein in der DDR, 32. Räthzel, Gegenbilder, 210–16. Matthias Quent, »Sonderfall Ost – Normalfall West? Über die Gefahr, die Ursachen des Rechtsextremismus zu verschleiern.« In Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«, 101. Stefan Lessenich, »Brauner Osten? Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt.« In Schmincke; Siri, NSU-Terror (s. Anm. 176), 141; Rebecca Pates, »Einleitung – Der »Ossi« als symbolischer Ausländer.« In Der »Ossi«: Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, hg. v. Rebecca Pates und Maximilian Schochow (Wiesbaden: Springer VS, 2013), 9. Stefan Lessenich, »Brauner Osten? Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt.« In NSU-Terror, 141.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
und setzte sich dann nahezu unverändert fort.33 Im Folgenden wird das Verhältnis von Rechtsextremismus und Rassismus sowie der staatliche Umgang mit Gewalttaten und die Bedeutung der Betroffenenperspektive näher betrachtet.
6.1.3 Begriffsdefinitionen und Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus: »say their names« Rassismus bedeutet, »dass bestimmte Menschen oder Gruppen als ungleich oder minderwertig angesehen und deshalb schlechter behandelt werden. Diese Ungleichbehandlung zieht Nachteile und Einschränkungen für die betroffenen Personen oder Gruppen nach sich. Jeder Form von Diskriminierung liegt also eine Unterscheidung, Abwertung und Schlechterbehandlung zu Grunde«34 . Rassismus ist eine Diskriminierungsform, bei der äußerliche Merkmale mit bestimmten hierarchisierenden Zuschreibungen verknüpft werden und dadurch über Zugang und Teilhabe bestimmen. Rassismus ist Bestandteil rechtsextremer Ideologien, die von einer biologistischen Hierarchie zwischen unterschiedlichen Nationen und Menschengruppen ausgehen. Rechtsextremismus ist »eine politische Ideologie, die ihre gesellschaftlichen Vorstellungen auch umsetzen möchte, während der Rassismus eher ein kulturelles Phänomen ist, das Werte, Normen und Praxen in der Gesellschaft prägt. Das bedeutet, dass es zwar Rassismus ohne Rechtsextremismus gibt, nicht aber Rechtsextremismus ohne Rassismus.«35 Rechtsextremismus positioniert sich gegen eine demokratische Verfassung und eine offene Gesellschaft. Er zeichnet sich durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und eine Gewaltaffinität aus. Nach der Bielefelder Mitte-Studie 2020/21 umfasst diese Ideologie sechs Dimensionen, die eine erste Idee vermitteln, welche Einstellungsmuster Rechtsextremismus beinhalten kann. Diese umfassen auf politischer Ebene die Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur, nationaler Chauvinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Auf sozialer Ebene beinhaltet Rechtsextremismus einen völkischen Charakter und die Ideologien Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Sozialdarwinismus.36 Ungleichwertigkeitsideologien hinsichtlich Geschlecht und sexueller Identität finden in der Definition keine Berücksichtigung. Kritisch an der Studie zu betrachte ist, dass der irreführende Begriff der Fremdenfeindlichkeit genutzt wird (siehe Kapitel 6.2.2). Dies macht die Notwendigkeit einer stärkeren Verknüpfung von Rechtsextremismus- und Rassismusforschung deutlich.37 Rassismustheorie spielt bis heute in
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Juliette Wedl, »Ein Ossi ist ein Ossi ist ein Ossi…: Regeln der medialen Berichterstattung über »Ossis« und »Wessis« in der Wochenzeitung Die Zeit seit Mitte der 90er Jahre.« In Ahbe; Gries; Schmale, Die Ostdeutschen in den Medien (s. Anm. 952), 129; Julia Belke, »Das Bild der Ostdeutschen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Eine Diskursanalyse des ARD-Politmagazins KONTRASTE in der Zeit von 1987 bis 2005.« In Ahbe; Gries; Schmale, Die Ostdeutschen in den Medien (s. Anm. 952), 150. Rebecca Pates et al., Antidiskriminierungspädagogik: Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen (Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, 2010), 28. Birgit Rommelspacher, »Was ist eigentlich Rassismus?« In Rassismustheorie und -forschung, 29. Beate Küpper, Andreas Zick und Maike Rump, »Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte 2020/21.« In Die geforderte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, hg. v. Andreas Zick und Beate Küpper (Bonn: Dietz, 2021), 79–81. Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 68.
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der Rechtsextremismusforschung eine untergeordnete Rolle, obwohl Rassismus »eine zentrale Komponente der rechtsradikalen Weltanschauung«38 darstellt. Rassismus wird jedoch in der Mitte-Studie als wichtiges Element benannt: »Zentrales Merkmal des Rechtsextremismus ist die Ablehnung eines Gleichheitsgrundsatzes zugunsten einer ethnisch definierten Nationalzugehörigkeit (›deutsches Volk‹, ›Deutschsein‹), welche sich auf eine rassistisch definierte (›weiße‹) Abstammung gründet.«39 Des Weiteren wird in Anlehnung an das Eisbergmodell berücksichtigt, dass offen erkennbarer Rechtsextremismus die Spitze des Eisbergs ist, aber auch in Zusammenhang und Austausch mit Rechtspopulismus und den Einstellungen und Handlungsweisen der gesamten Gesellschaft steht. Rechtsextreme Gewalt greift rassistische Zuschreibungen und Abwertungen auf, die in der gesamten Gesellschaft vorhanden sind.40 »Die direkte Gewalt und der gezielte Ausschluß wird aber mächtig unterstützt durch eine Normalität, die diese Hierarchien ganz selbstverständlich reproduziert und unsichtbare Mauern errichtet.«41 Für die Forschung zu Rechtsextremismus ist daher nicht zu fragen, welche Probleme Mitglieder rechtsextremer Gruppen haben, »sondern was es ihnen erlaubt, Dominanzverhalten gegenüber bestimmten Menschen exekutieren zu können, [...] weshalb die Aggressionen gegenüber den ›Fremden‹ als ›natürlich‹ erscheinen.«42 Die Ideologien der Ungleichwertigkeit, durch die Täter*innen sich legitimiert fühlen, Gewalt gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen auszuüben, sind somit auch gesamtgesellschaftlich vorhanden.43 Im Kontext der hier untersuchten rassistischen Gewalt darf daher die zu dem Zeitpunkt bereits 15 Jahre andauernde Debatte um Asylmissbrauch und wirtschaftliche Fluchtgründe nicht unterschätzt werden. Nach einer kurzen Atempause, in der das Asylthema aufgrund der Wiedervereinigung in den Hintergrund trat, forderte die Union ab Dezember 1992 erneut eine Änderung des Asylgrundrechts. In Umfragen von Juni 1991 bis Juli 1993 wurde Asyl für bis zu zeitweise 80 % der Bevölkerung als das wichtigste und drängendste Problem benannt.44 Die steigenden Asylzahlen und die niedrigen Anerkennungsquoten wurden verzerrt und dramatisierend dargestellt, sodass etwa die Bild titelte: »Fast jede Minute ein neuer Asylant«45 . Der Diskurs entwickelte eine kaum zu kontrollierende Dynamik, die sich vom Wort in Handlung übertrug.
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Ebd. Beate Küpper, Andreas Zick und Maike Rump, »Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte 2020/21.« In Die geforderte Mitte, 79. Andreas Zick, »Menschenfeindlicher Rassismus und Ungleichwertigkeitszuschreibungen.« In Zick; Küpper, Die geforderte Mitte (s. Anm. 1226), 142. Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht, 1. Auflage (Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1995), 36. Birgit Rommelspacher, »Der Hass hat uns geeint«: Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene (Frankfurt a.M., New York: Campus Verlag, 2006), 140. Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 68. Ulrich Herbert, »›Asylpolitik im Rauch der Brandsätze‹ — der zeitgeschichtliche Kontext.« In 20 Jahre Asylkompromiss: Bilanz und Perspektiven, hg. v. Stefan Luft und Peter Schimany, Edition Politik 16 (s.l.: transcript Verlag, 2014), 94–6; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 164–68. o. A., »Fast jede Minute eine neuer Asylant.« BILD Zeitung, 18.05.1992.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
Rechtsextreme Gewalttaten sind kein Problem des vergangenen Jahrhunderts. In den letzten Jahren gab es in Deutschland so viele wie in keinem anderen europäischen Land. Sie stellen damit die größte Gefahr für die innere Sicherheit dar. Auch rechtsextreme Netzwerke sind stark vertreten und teilweise auch in staatlichen Strukturen zu finden. Umso unverständlicher erscheinen die Vorbehalte und Widerstände in staatlichen Strukturen, sie konsequent zu benennen, aufzudecken und zu bekämpfen.46 Für das vorliegende Kapitel wurde der Analysebegriff der rassistische Gewalt gewählt, um die Ereignisse zu beschreiben und dabei die rassistische Ideologie der Taten sichtbar zu machen. Rechtsextreme Gewalt ist stärker mit einem politischen Motiv verbunden und mehr ideologie- als affektgesteuert und hat eine dauerhafte Machtdemonstration im Sozialraum oder in der ganzen Gesellschaft zum Ziel. Rassistische Gewalt kann sich auch situativ entwickeln, verfolgt kein langfristiges politisches Ziel und die Machtdemonstration ist diffus. Die Täter*innen sind nicht zwangsweise Mitglieder einer rechtsextremen Organisation. Rassistische und rechtsextreme Gewalt richtet sich nicht gegen eine bestimmte Person, sondern gegen bestimmte Gruppen in der Gesellschaft. Dies wird auch als Botschaftstat beschrieben, da es nicht nur konkrete Opfer betrifft, sondern Angst und Verunsicherung bei vielen Menschen auslösen soll. Das Ziel ist es, rassistische Machtasymmetrien durchzusetzen und zu festigen. Dabei sind die Täter*innen davon überzeugt, im Interesse einer größeren schweigenden Weißen Mehrheit zu handeln. Die Anschläge im Untersuchungszeitraum sind damit wohl alle als rassistische, teilweise auch als rechtsextreme Gewalt einzuordnen. Dies lässt sich aber aufgrund der fehlenden Aufarbeitung nicht abschließend klären. Die Erfassung, Kategorisierung und Analyse von rassistischer und rechtsextremer Gewalt steht bis heute vor Herausforderungen und wird je nach politischer Interessenslage skandalisiert oder bagatellisiert. Die Perspektive der Opfer ist dabei noch gänzlich unterbelichtet.47 Die Herausforderung beginnt schon bei der Bezeichnung. Der Begriff Opfer verstärkt die Viktimisierung und beinhaltet kaum Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. Der Begriff Betroffene ist etwas weiter, er verschleiert jedoch, dass alle in unterschiedlicher Weise von Diskriminierung »betroffen« sind. In einer Gesellschaft, die sich auf die Menschenrechte und die Würde des Menschen beruft, ist es die Verantwortung aller, sich gegen Diskriminierung und Gewalt zu positionieren und einzusetzen. Gleichzeitig richtet sich die Ungleichbehandlung und Gewalt gegen bestimmte Gruppen, sodass nur diese die Folgen einer von Diskriminierung geprägten Gesellschaft spüren und einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt sind. In der Geschichte der rechtsextremen und rassistischen Gewalt in Deutschland ist die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen lange eine Leerstelle gewesen. Um Gewalterfahrungen verarbeiten zu können, ist es für Opfer und Angehörige wichtig, die erlebte Gewalt auf eine Ursache zurückführen zu können und dass Schuld und Verantwor-
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Beate Küpper, Andreas Zick und Maike Rump, »Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte 2020/21.« In Die geforderte Mitte, 75; Onur S. Nobrega, Matthias Quent und Jonas Zipf, »Von München über den NSU bis Hanau.« In Nobrega; Quent; Zipf, Rassismus. Macht. Vergessen (s. Anm. 169), 12. Claudia Luzar, »Rechtsextreme Gewalt und ihre Opfer. Das Beispiel Dortmund.« In Steinbacher, Rechte Gewalt in Deutschland (s. Anm. 1203), 171–174, 183–184; Onur S. Nobrega, Matthias Quent und Jonas Zipf, »Von München über den NSU bis Hanau.« In Rassismus. Macht. Vergessen, 12.
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tung deutlich benannt werden. »In der Realität aber wird die behördliche, institutionelle, rechtliche und öffentliche Benennung von Rassismus und die kollektive und individuelle Verantwortungsübernahme bei rassistisch motivierten Anschlägen und Tötungen wie auch rassistischer Diskriminierung noch immer unzureichend bis abwehrend (de)thematisiert.«48 Stattdessen wurden Betroffene entweder vergessen oder wie beim NSU geschädigt, kriminalisiert und der Mittäterschaft beschuldigt. Bis zum Ende des Prozesses waren Richter*innen nicht in der Lage, die Namen der Angehörigen korrekt auszusprechen und einen klaren Unterschied zwischen Islam und Islamismus zu machen. Die Angehörigen hatten aufgrund der Gewalttaten das Gefühl, in Deutschland weder Sicherheit noch Zugehörigkeit zu finden. Hinzu kamen die jahrelange Unklarheit und die psychischen und ökonomischen Folgen der Gewalttaten.49 Der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, bei dem der Täter 10 Menschen tötete, markiert nicht nur einen Wendepunkt in der offiziellen Benennung der Tat als Rassismus, sondern auch unter dem Motto »#saytheirnames« einen Perspektivwechsel vom Täter zu den Opfern. Durch die Gründung der Initiative 19. Februar war es für die Angehörigen möglich, sich zu vernetzen und politisch mit ihren Forderungen sichtbar zu werden. Eine gesellschaftliche Sprecher*innenposition einzunehmen war eine Form der Selbstermächtigung, mit der die Initiative sowohl die kollektive Erinnerung als auch den politischen und juristischen Umgang mit Betroffenen rassistischer Gewalt verändert hat. Durch die Eröffnung der »140qm gegen das Vergessen« wurde ein Raum der Vernetzung, des Erinnerns und Trauerns, des Empowerments und der Heilung geschaffen. Die Initiative erreichte auch, dass ein Opferfonds eingerichtet wurde. Die vier von ihnen formulierte Forderungen Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen zeigen die verschiedenen Ebenen im Kampf gegen rassistische Gewalt. Es macht deutlich, dass Erinnerung ein wesentliches Element davon darstellt und wie wichtig es ist, die mangelnde Aufklärung und das behördliche Versagen öffentlich zu machen. Hanau zeigt auch, wie viele andere Gewalttaten vorher, dass es Aktivist*innen braucht, damit sich der Umgang mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft wandelt. Nach der rassistischen Gewalt Anfang der 1990er mussten noch viele weitere Menschen sterben, bis eine Veränderung langsam möglich wurde.50 Auch wenn die staatliche Reaktion auf die rassistische Gewalt in Hanau zu kritisieren ist, wurden durch die Selbstorganisation neue Wege beschritten. Diese neuen Wege zeigen, wieviel in den 1990er Jahren falsch gelaufen ist, wie die Betroffenen von staatlicher Seite nicht nur alleine gelassen wurden, sondern erneut abgewertet, gedemütigt
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Onur S. Nobrega, Matthias Quent und Jonas Zipf, »Von München über den NSU bis Hanau.« In Rassismus. Macht. Vergessen, 11. Ebd., 15–6; Zu den Erfahrungen der Angehörigen siehe auch: Licht ins Dunkel e.V., »Kein! Schlusstrich. Theaterprojekt zum NSU-Komplex.« Zuletzt geprüft am 27.03.2022, https://kein-schlussstri ch.de/hintergrund/. Onur S. Nobrega, Matthias Quent und Jonas Zipf, »Von München über den NSU bis Hanau.« In Rassismus. Macht. Vergessen, 17–9; Ibrahim Arslan und Onur S. Nobrega, »Seit Mölln, 23. November 1992.« In Nobrega; Quent; Zipf, Rassismus. Macht. Vergessen (s. Anm. 169), 28–31; Für weitere Informationen siehe Initiative 19. Februar Hanau, zuletzt geprüft am 27.03.2022, https://19feb-hanau. org/.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
und als nicht-zugehörig markiert wurden. Angst und Unsicherheit empfanden alle Menschen mit Rassismuserfahrungen, umso mehr, weil offensichtlich wurde, dass sie sich nicht auf staatlichen Schutz verlassen konnten. Es war für viele Menschen ein bis heute nachwirkender tiefer Bruch in ihrem Leben.51 »Die Bilder des Pogroms, das Wissen, wie der Staat und seine Institutionen darauf reagierten bzw. eher nicht reagierten, haben mein Deutschlandbild grundsätzlich in Frage gestellt. Bereits zu wissen, dass Rostock-Lichtenhagen möglich war und ein neues rassistisches Pogrom jederzeit und überall in Deutschland möglich ist, veränderte die Art und Weise, wie ich mich in Deutschland bewege, fühle und lebe.«52 Nachdem der Kontext der rassistischen Gewalt und der Umgang mit Rechtsextremismus betrachtet wurde, soll nun der Diskurs in den 1990er Jahren zu Rechtsextremismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit beschrieben und auf die Bedeutung von Gadjé-Rassismus gegen Sinti*ze und Rom*nja eingegangen werden.
6.2 Beschreibung des Diskurses 6.2.1 Zeitgenössische Diskurse zu Rechtsextremismus und damit verbundene Engführungen Die Betrachtung der Aspekte Rechtsextremismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und ihre Konstruktion im Diskurs ermöglicht es, die jeweilige Funktion, damit verbundene Deutungsmuster und Leerstellen sichtbar zu machen. Eine Beschreibung des Diskurses von 1991 bis 1993 aus der Literatur erfolgt stärker im Kapitel der Grundgesetzänderung (siehe Kapitel 7.2.1). Dort werden auch der Kontext der Wiedervereinigung und der damit verbundene Nationalismus stärker beleuchtet. Die meisten Definitionen von Rechtsextremismus beinhalten Ideologie und Gewalt als zentrale Kennzeichen. Der Aspekt der Ideologie wurde jedoch in den 1990er Jahren eher vernachlässigt. Dies bewirkte einen bestimmten Blick und Umgang mit dem Phänomen und erzeugte Leerstellen hinsichtlich anderer Aspekte. Da sich die wissenschaftlichen und medialen Diskurse stark verschränkten, soll zunächst ein kurzer Forschungsüberblick über Rechtsextremismus dargestellt werden und dann auf gesellschaftliche Deutungs- und Erklärungsmuster eingegangen werden. Forschung über Rechtsextremismus war in 1990ern und ist bis heute in Deutschland stärker etabliert als Forschung zu Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Sie kann jedoch als recht isoliertes Forschungsgebiet beschrieben werden, welches die Ursachen
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Ulrich Herbert, »›Asylpolitik im Rauch der Brandsätze‹ — der zeitgeschichtliche Kontext.« In 20 Jahre Asylkompromiss, 102; Eva Berendsen und Robin Koss, »›Anderen wurde es schwindelig.‹ 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch.« In Schwerpunkt: Kontinuitäten, hg. v. Anja Thiele, Wissen schafft Demokratie 7 (Berlin: Amadeu Antonio Stiftung, 2020). Kien N. Ha, »Rostock-Lichtenhagen war für mich ein erneuter Zivilisationsbruch.« In Ha, Asiatische Deutsche Extended (s. Anm. 692), 168–9.
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und Probleme meist auf bestimmte Gruppen externalisierte und Rassismus als eine analytische Kategorie bzw. als gesellschaftliches Verhältnis ablehnte.53 »Rechtsextremismus als monolithisches Gebäude erscheint im Zeitraum von 1990 bis 2000 vor allem als Konstruktion«54 , welches durch Wissenschaft, Politik, Medien und Alltagsdiskurse geschaffen wurde und mit verschiedenen Interessenslagen zusammenhing: »Erfindet sich diese Gesellschaft also ›ihren‹ überaus funktionalen Rechtsextremismus gerade selbst – unter tatkräftiger Mitwirkung der sozialwissenschaftlichen Deutungsindustrie«55 ? Obwohl ein riesiger Umfang an (vor allem quantitativen) Daten produziert wurde, gab es sehr unterschiedliche und widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Ursachen für Rechtsextremismus.56 Inhaltlich dominierte die Sozialisations- und Desintegrationsthese, die besonders durch Wilhelm Heitmeyer ab 1992 stark gemacht wurde.57 Er vertrat die These, dass ein schneller sozialer Wandel und eine fortschreitende Individualisierung zu Verunsicherung führen und deshalb Halt in rechten Ideologien gesucht werde. Neben den sozialpsychologischen Ursachen wurde Rechtsextremismus auch als eine soziale Bewegung und als ein Jugendphänomen untersucht und sehr häufig in Ost-West-Vergleiche berücksichtigt.58 Weitere Ursachen wurden im Generationenkonflikt, in einer fehlenden oder falschen Erziehung, im Gruppenzwang, in der Fremdenangst oder in der Sozialisation in Ostdeutschland gesehen.59 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass
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Bereits in den 90er Jahren gab es vereinzelt Versuche, stärker den Rassismus- anstatt den Rechtsextremismusbegriff zu etablieren, um eine gesamtgesellschaftliche und strukturelle Perspektive sowie historische Kontinuitäten zu berücksichtigen. Der Rassismustheorie wurde hingegen »Moralismus, Essentialismus und Reduktionismus« vorgeworfen und eine »kaum noch zu operationalisierende Ausweitung der mit dem Begriff belegten Erscheinungen und ihrer Hintergründe.« Kurt Möller, »Rechtsextremismus und pauschalisierende Ablehnungen.« In Frindte et al., Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund« (s. Anm. 1192), 136; Christoph Butterwegge, »Entschuldigungen oder Erklärungen für Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt.« In Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt: Analyse und Argumente, hg. v. Christoph Butterwegge und Georg Lohmann (Opladen: Leske + Budrich, 2000), 15. Wolfgang Frindte et al., »Ein systematisierender Überblick der Rechtsextremismusforschung von 1990 bis 2013.« In Frindte et al., Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund« (s. Anm. 1192), 35. Thomas Kliche, »Interventionen, Evaluationsmaßstäbe und Artefaktbildung.« In Soziologische Dimensionen des Rechtsextremismus, hg. v. Hans-Günther Heiland und Christian Lüdemann, Im Auftrag der Sektion »Soziale Probleme und soziale Kontrolle« der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1996), 77 Zitiert in; Wolfgang Frindte et al., »Ein systematisierender Überblick der Rechtsextremismusforschung von 1990 bis 2013.« In Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«, 35. Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt?, 61. Wilhelm Heitmeyer, Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie: Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher, Jugendforschung (Weinheim: Juventa-Verl., 1992). Wolfgang Frindte et al., »Ein systematisierender Überblick der Rechtsextremismusforschung von 1990 bis 2013.« In Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«, 35, 38–45. Peter K. Fritzsche, »Gewalt zwischen Frust und Lust. Erklärungsansätze der Sozialwissenschaften und Chancen für die politische Bildung.« In Butterwegge; Lohmann, Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt (s. Anm. 1243), 37, 45.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
Rechtsextremismus ein komplexes Phänomen darstellt, dessen Ursachen nicht monokausal hergeleitet und untersucht werden können. Bei den durchgeführten Forschungen gab es jedoch ein Defizit an Theorie und eine enorme Forschungslücke hinsichtlich des Zusammenhangs, wann Rassismus gewalttätig, wann Gewaltpotential rassistisch wird.60 Ab 2000 gab es unter anderem durch die Mitte-Studie und den Ansatz der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (2002 – 2012)61 eine Tendenz, die klare Trennung zwischen Rechtsextremist*innen und dem Rest der Gesellschaft aufzulösen. Diese Tendenz führte jedoch dazu, dass organisierte Gruppen und Milieus aus dem Fokus gerieten und der politische Aspekt des Rechtextremismus (noch) weniger berücksichtigt wurde.62 Je nach Ursachenanalyse, die zur Konstruktion des jeweiligen Rechtsextremismus beitrug, gab es auch verschiedene Ansatzpunkte der Reaktion und Prävention auf rechtsextreme Tendenzen und Gewalt.63 Im Folgenden soll auf vier Erklärungsmuster von Rechtsextremismus eingegangen werden, die gesellschaftlich dominierten. Diese verbinden Rechtextremismus mit Gewalt, Fremdenangst, Orientierungslosigkeit oder ökonomischer Benachteiligung. Medial dominierte in den 1990er Jahren die Verbindung von Rechtsextremismus und Gewalt. Rechtsextremismus wurde daher nur thematisiert, wenn es Ereignisse rechtsextremer Gewalttaten gab und wurde insbesondere mit gewalttätigen, männlichen Jugendlichen assoziiert. Gewalt zieht (mediale) Aufmerksamkeit auf sich, ruft Emotionen von Abscheu bis Unverständnis hervor und stellt ein normenverletzendes und damit erklärungsbedürftiges Phänomen dar. Dominante Deutungen gingen davon aus, dass Gewalttätigkeit eine Reaktion auf die eigene soziale Benachteiligung und Gewalterfahrung darstellen. Damit wurde rechtsextreme Gewalt weniger zu einem politisch-ideologischen Problem als zu einem Problem defizitärer psychosozialer Entwicklungen, was die Abgrenzung zwischen Kriminalität und rechtsextremer Gewalt unklar werden ließ. Die Beschäftigung mit rechtsextremer und rassistischer Ideologie, die sich gesellschaftlich nicht nur in Gewalt äußert, sondern die auch in einflussreichen und privilegierten Kreisen, in politischen Programmen und staatlichen Strukturen zu finden ist, wurde damit vermieden.64 Des Weiteren wurde Rechtsextremismus als Ausdruck von Fremdenangst definiert und teilweise mit Ausländerfeindlichkeit gleichgesetzt. Fremdenangst wurde dabei als etwas natürlich Menschliches und als quasi biologische Reaktion betrachtet. Es gab weder eine Auseinandersetzung darüber, inwiefern Fremdheit gesellschaftlich konstruiert wird, noch wie ein konstruktiver Umgang mit Fremdheit und Unbekanntem aussehen könnte. Aggression und Gewalt wurden stattdessen als natürliche Reaktion gesehen und das Verhältnis zwischen Einheimischen und Fremden auf Instinkte reduziert und 60 61 62 63 64
Friedhelm Neidhardt, »Rechtsextremismus – ein Forschungsfeld.« Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54, Nr. 4 (2002): 782–83. Wilhelm Heitmeyer, Hg., Deutsche Zustände, 1. Aufl., Org.-Ausg, Edition Suhrkamp 2290. Wolfgang Frindte et al., »Vorwort.« In Frindte et al., Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund« (s. Anm. 1192), 9. Peter K. Fritzsche, »Gewalt zwischen Frust und Lust. Erklärungsansätze der Sozialwissenschaften und Chancen für die politische Bildung.« In Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt, 37, 45. Rommelspacher, Dominanzkultur, 97–98, 114–118.
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biologisiert. Rechtsextreme können aus dieser Perspektive als Opfer dargestellt werden, die sich von der Anwesenheit von Fremden überfordert fühlen. Rechtsextremismus als natürliche Fremdenfeindlichkeit ist eine Form der Legitimation und Verharmlosung, da sie als biologische Reaktion gedeutet wird und daher auch nicht verhindert werden kann. Der Auslöser und Verursacher ist und bleibt der Fremde.65 Daran anknüpfend wurde Rechtsextremismus auch als Orientierungs- und Perspektivlosigkeit interpretiert. Rechtsextremismus sei die Folge eines raschen sozialen Wandels, der soziale Desintegration, Vereinzelung und Handlungsunsicherheit hervorrufe. Dies würde im Gegenzug heißen, dass Menschen in gefestigten sozialen Positionen keine Anfälligkeit für rechtsextreme Ideologien aufweisen. Obwohl dieser Zusammenhang empirisch nicht nachgewiesen wurde, war er dennoch sehr populär. Aus einem politischen wurde ein soziales Problem gemacht, wodurch die menschenfeindlichen Ideologien unberücksichtigt blieben. Die Folge dieser These war Anfang der 1990er Jahre, dass die Bearbeitung von Rechtsextremismus an Pädagogik und Soziale Arbeit delegiert wurde, wie etwa in dem von der Bundesregierung aufgelegten »Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt«66 . Die Opfer der Gewalt hingegen erhielten keine Unterstützung. Eng damit verbunden war die Sichtweise, dass Rechtsextremismus aus ökonomischer Benachteiligung resultiert und daher nur Gruppen mit niedrigem sozialem Status, in Arbeitslosigkeit oder mit geringerem Einkommen betrifft, obwohl dies nur ein begünstigender Faktor für rechtsextreme Einstellungen unter anderen ist.67 Durch die These der Orientierungslosigkeit und Desintegration wurde Rechtsextremismus externalisiert und auf bestimmte Gruppen reduziert.68 So wurde rassistische Gewalt als ein Jugendphänomen betrachtet und als verständliche Abwehrreaktion oder Benachteiligung verharmlost.69 Die Auseinandersetzung mit den Ursachen führte zu einer kontinuierlichen Beschäftigung mit den Täter*innen und zu einer Ausblendung der dahinterstehenden Ideologien der Ungleichwertigkeit sowie der Opferperspektiven. Die Berücksichtigung der rassistischen Motive und der Gewalt als politischer Protest gegen die Asylpolitik wurde nicht nur in den wissenschaftlichen, medialen und politischen Diskursen vernachlässigt, sondern auch in den Strafverfahren. Hier »ging ein beachtlicher Teil der Urteile auf die gesellschaftliche Situation oder die politische Motivation der Täter gar nicht ein. Zum Teil führte das soweit, daß die Delikte aus dem Urteilstext nicht einmal mehr als fremdenfeindliche Taten zu erkennen waren.«70 Auch der Begriff Ausländerfeindlichkeit erfüllte eine spezifische Funktion im Diskurs und verhinderte 65 66
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Ebd., 119–21. Das Aktionsprogramm lief von 1992–1996 und durchlief verschiedene Namen und Konzepte bis zum heutigen Programm »Demokratie leben!« seit 2015. Lothar Böhnisch, Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt: Ergebnisse und Perspektiven Bd.2 (Münster: Votum-Verl., 1997). Rommelspacher, Dominanzkultur, 121–25. Annita Kalpaka, Nora Räthzel und Klaus Weber, Hg., Rassismus: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Dritte Auflage 2018, Texte kritische Psychologie 7 (Hamburg: Argument Verlag, 2018). Rommelspacher, Dominanzkultur, 97–98, 114–118. Frank Neubacher, Fremdenfeindliche Brandanschläge: Eine kriminologisch-empirische Untersuchung von Tätern, Tathintergründen und gerichtlicher Verarbeitung in Jugendstrafverfahren, Umwelt, Kriminalität, Recht 4 (Mönchengladbach: Forum-Verl. Godesberg, 1998), Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997, 382.
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eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ideologien und den damit verbundenen politischen Zielen.
6.2.2 Die Begriffe Ausländerfeindlichkeit und Rassismus im Diskurs Rassismus wird in dieser Arbeit als Analysekategorie verwendet, um rassifizierende Deutungsmuster und Argumentationsfiguren herauszuarbeiten. Gleichzeitig ist Rassismus als Begriff und als Beschreibung von Wirklichkeit auch Teil des untersuchten Diskurses. Rassismus wurde jedoch vor allem negierend verwendet und im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs nicht auf migrationsgesellschaftliche Phänomene angewandt – hier wurde von Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit gesprochen, was bestimmte Engführungen mit sich brachte.71 Im Diskurs um die rassistische Gewalt entsteht eine vertiefte Auseinandersetzung darum, ob Deutschland und die aktuelle Gewalt ausländerfeindlich seien. Daher soll hier eine Einordnung der Begriffe Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie ihre Verwendung und Deutungsmuster im Diskurs vorgenommen werden. Die Begriffe Fremdenfeindlichkeit und Überfremdung sowie die damit verbundenen biologistischen Vorstellungen von Nationalstaaten mit homogener Bevölkerung entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verstärkten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts.72 Fremdenfeindlichkeit taucht in sehr geringen Zahlen bereits ab 1949 in westdeutschen Zeitungen auf. Der Begriff der Ausländerfeindlichkeit hingegen entwickelte sich in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren im Kontext der Gastarbeiter. Am häufigsten tauchen beide Begriffe im Untersuchungszeitraum 1993 auf, was die Verknüpfung mit der rassistischen Gewalt verdeutlicht.73 Der Begriff Ausländerfeindlichkeit erfüllte eine bestimmte Funktion im Diskurs, weil er es ermöglichte, sich vom Nationalsozialismus und seiner rassistischen Ideologie zu distanzieren. Die Ungleichbehandlung von Ausländern erschien nachvollziehbar, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Diese Nichtzugehörigkeit wurde jedoch diskursiv hergestellt und politisch entschieden, wie etwa durch die Verweigerung einer erleichterten Einbürgerung. Ausländersein war dabei nur vermeintlich an Staatsbürgerschaft geknüpft. Dahinter versteckten sich biologistische Differenzmarkierungen aufgrund von Herkunft, Hautfarbe und Religion, die mit negativen Zuschreibungen wie wenig gebildet oder kriminell verknüpft wurden. Der Begriff Ausländerfeindlichkeit hebt hervor, dass Ausländer die Ursache der Feindlichkeit darstellen und übernimmt daher die Perspektive der Täter*innen. Es wurde damit nicht nur eine grundlegende Trennung zwischen deutschen Inländern und fremden Ausländern reproduziert. Des Weiteren wurde die Feindlichkeit gegenüber Ausländern als eine natürliche Angst gegenüber dem Fremden dargestellt, die es ernst zu nehmen galt. Es wird davon ausgegangen, dass die
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Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt? Kury, Über Fremde reden, 16–26. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortverlaufskurve für ›Ausländerfeindlichkeit‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355); Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »DWDS-Wortverlaufskurve für ›Fremdenfeindlichkeit‹.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355).
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Ausländerfeindlichkeit abhängig von der Anzahl der Ausländer und ihrer zugeschriebenen Fremdheit steigt. Die Angst wurde biologisiert und individualisiert. Je mehr beispielsweise die Angst vor Fluchtmigration durch die Politik ernst genommen wurde und dies zu Asylrechtseinschränkungen führte, desto mehr wurde diese Angst bestätigt und bestärkt. Ausländerfeindlichkeit wurde häufig als verständliche Reaktion der Bevölkerung gedeutet und damit eine sozialpsychologische Perspektive auf Migration und Rassismus eingenommen.74 Der Fokus der Empathie lag auf der inländischen Bevölkerung und ihrer psychologischen Belastungsfähigkeit. Durch den Begriff der Ausländerfeindlichkeit wurden der Ausländer und seine Differenz erst mitkonstruiert. Die Auswirkungen für die Ausländer und ihre Diskriminierungserfahrungen wurden nicht berücksichtigt. Neben einem großen Verständnis für ausländerfeindliche Gefühle und der Ursachenverortung in der sozialen und ökonomischen Situation der Täter*innen gab es auch eine grundlegende Ablehnung hinsichtlich der Existenz von Ausländerfeindlichkeit.75 Der Begriff war moralisch aufgeladen und wurde häufig als Angriff auf das Selbstbild vom ausländerfreundlichen Deutschen betrachtet.76 Daher muss der Konstruktionsprozess, »an dem die Wissenschaft selbst maßgeblich beteiligt war und ist«77 und die ideologische Annahme der Nichtzugehörigkeit der Betroffenen bei der Wirkung dieses Begriffs berücksichtigt werden. Der Begriff Rassismus wurde lange für den deutschen Kontext lediglich in Bezug auf den Nationalsozialismus verwendet. Es gab auch kaum wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Rassismustheorien.78 Die ersten Veröffentlichungen in den 1980er Jahren nutzen den Begriff der Ausländerfeindlichkeit.79 1986 veröffentlichten Räthzel/Kalpaka ihr Buch »Die Schwierigkeit nicht rassistisch zu sein«, welches eine der ersten theoretischen Verortungen in Deutschland vornahm.80 Im öffentlichen Diskurs war lange Zeit die Annahme vorherrschend, dass diejenigen, die den Rassismusbegriff nutzen, auch biologische Rassekonstruktionen vertreten. Die deutsche Gesellschaft des Rassismus zu beschuldigen war damit wohl einer der härtesten Vorwürfe, den man ihr machen
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Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt?, 54–64; Annita Kalpaka und Nora Räthzel, »Wirkungsweisen von Rassismus und Ethnozentrismus.« In Kalpaka; Räthzel; Weber, Rassismus (s. Anm. 1258), 40–50; Auch die Pädagogik trug zur Konstruktion des Ausländers bei. Kritisch dazu Griese, Der gläserne Fremde. Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt?, 60–2. Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 30. Terkessidis, Die Banalität des Rassismus, 37. Nora Räthzel, »30 Jahre Rassismusforschung. Begriffe, Erklärungen, Methoden, Perspektiven.« In Skandal und doch normal, 198. Georgios Tsiakalos, Ausländerfeindlichkeit : Tatsachen und Erklärungsversuche, Beck’sche schwarze Reihe : BSR (München: Beck, 1983); Lutz Hoffmann und Herbert Even, Soziologie der Ausländerfeindlichkeit: Lutz Hoffmann, Herbert Even; Zwischen nationaler Identität u. multikultureller Gesellschaft (Weinheim & Basel: Beltz, 1984). Kalpaka, Räthzel und Weber, Rassismus Nora Räthzel trug auch durch Übersetzungen von Stuart Halls Aufsätzen entscheidend dazu bei, dass die Rassismustheorien aus dem angloamerikanischen Raum stärker in Deutschland wahrgenommen wurden.
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konnte.81 Die Tabuisierung des Begriffs und die fehlende Auseinandersetzung führten jedoch dazu, dass Alltagsrassismus und institutionelle Formen von Diskriminierung nicht wahrgenommen und Rassismuserfahrungen und Gewalt bagatellisiert wurden. Die Verneinung und Verleugnung von Rassismus ziehen sich wie ein »psychisches Muster«82 durch die Geschichte nach 1945. Die Verengung des Diskurses und die Weigerung, Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis in der bundesdeutschen Gesellschaft zu benennen, drückten sich in verschiedenen Verschiebungen, Verkürzungen und Externalisierungen aus. Dazu gehören die Reduktion auf den Nationalsozialismus, die Ausblendung der deutschen Kolonialgeschichte, die Reduktion auf individuelle Vorurteile oder körperliche Gewalt sowie die Externalisierung auf rechtsextreme und marginalisierte Gruppen.83 Sie dienen nicht zuletzt dazu, ein positives, postnationalsozialistisches Bild der deutschen Gesellschaft aufrecht zu erhalten.84 Die fehlende Auseinandersetzung mit Rassismus setzt sich fort in der Weigerung, Einwanderungsland zu sein und Menschen mit Migrationsgeschichte Zugehörigkeit zu ermöglichen. Sie verhindert eine selbstkritische Auseinandersetzung und mögliche Veränderungen. Ein fehlendes Verständnis von Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis und analytisches Konzept macht viele Formen von Rassismus sowohl unsichtbar als auch unsagbar.85 Bis heute sind Wissensbestände aus der Rassismusforschung in der öffentlichen Wahrnehmung sowie teilweise auch in der wissenschaftlichen Rezeption weitgehend unbekannt.86 Im Kontext der Debatte um die NSU-Morde, deren Aufklärung offensichtlich durch strukturellen Rassismus verhindert wurde und dem Tod von George Floyd in den USA und der sich anschließenden Debatte um institutionellen Rassismus auch bei der deutschen Polizei wurde deutlich, dass im medialen Diskurs der Begriff des Rassismus als polemisch, unsachlich, übertreibend oder moralisch wahrgenommen und daher häufig vermieden wird. Zudem wurde weiterhin davon ausgegangen, dass es Individuen sind, die rassistisch sind. Opfer wurden zu Täter*innen gemacht und Rassismus wurde nicht als ein gesellschaftliches, strukturelles Verhältnis wahrgenommen.87 Die Nutzung von Rassismus als Analysekategorie ermöglicht in dieser Untersuchung zwar nicht, die rassistischen Ideologien der Täter*innen sichtbar zu machen, aber die rassistischen 81 82 83
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Jürgen Danyel, »Spätfolgen? Der ostdeutsche Rechtsextremismus als Hypothek der DDR-Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur.« In Fremde und Fremd-Sein in der DDR, 33. Rita Chin, »Thinking Difference in Postwar Germany: Some Epistemological Obstacles about Race.« In Wilhelm, Migration, memory, and diversity (s. Anm. 288), 213. Astrid Messerschmidt, »Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus.« In Rassismus bildet; Rose, Migration als Bildungsherausforderung, 184–86; Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 62–3. Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 60–1; Astrid Messerschmidt, »Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus.« In Rassismus bildet, 41–2. Maria Alexopoulou, »›Ausländer‹ – a racialized concept?« In Who can speak and who is heard/hurt?, 63–4. Manuela Bojadžijev et al., »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen.« In Leerstelle Rassismus?, 62–3. Manuela Bojadžijev, »Wer von Rassismus nicht reden will.« In NSU-Terror, 145–6.
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Deutungsmuster über die Gewalt im medialen Diskurs zu analysieren. Die Analyse des Diskurses ermöglicht es zudem, den Umgang mit Rassismus in Gesellschaft, Politik und Medien offen zu legen.
6.2.3 Gadjé-Rassismus im Kontext von Rostock-Lichtenhagen Im Kontext der Gewalt in Rostock-Lichtenhagen entwickelten sich Rom*nja und Sinti*ze als Feindbild und dies legitimierte damit die Gewalt als verständliche Abwehrreaktion. Rassistische Zuschreibungen wie beispielsweise Schädlingsmetaphern gegen Sinti*ze und Rom*nja waren bereits in der Gesellschaft vorhanden und wurden nun mit den ankommenden Asylsuchenden aus Rumänien und der Vorstellung des Asylmissbrauchs verknüpft.88 Die Schutzsuchenden wurden dadurch als fremd, kriminell und bedrohlich wahrgenommen und eine Empathie für ihre Situation im Wartestatus vor der ZAst wurde verhindert. Politik und Verwaltung trugen durch ihr Nichthandeln zu der menschenunwürdigen Situation vor der ZAst in Rostock-Lichtenhagen bei. Seit Frühjahr 1992 mussten Asylsuchende aufgrund von Überbelegung bis zu vier Wochen vor der ZAst aushalten, ohne Zugang zu Schlafgelegenheiten, Nahrungsmitteln und sanitären Anlagen. Selbst das Aufstellen eines Toilettenwagens wurde abgelehnt.89 Die daraus resultierende Situation und das Verhalten der Asylsuchenden wurden jedoch nicht auf die Überbelegung zurückgeführt, sondern als grundlegende und essentielle Eigenschaft aller Asylsuchenden gedeutet, was als »explosive Vorurteilsverstärkung« beschrieben werden kann.90 Das verzögerte Eingreifen während der gewalttätigen Ausschreitungen ist zudem auf institutionellen Rassismus in Polizei, Politik und Verwaltung zurückzuführen.91 Diskriminierung gegen Rom*nja und Sinti*ze wird von den Betroffenen als GadjéRassismus bezeichnet. Gadjé ist ein Wort aus dem Romnes und beschreibt Menschen, die zur Weißen Dominanzgesellschaft gehören und denen ein Gewaltpotential gegen Rom*nja und Sinti*ze innewohnt. Gadjé-Rassismus legt im Gegensatz zu anderen Rassismusbegriffen den Fokus auf die Quellen und Ursachen der Gewalt und verschiebt die Perspektive vom Opfer auf die Täter*innenstrukturen. Rom*nja und Sinti*ze werden in dieser Form des Rassismus als Gegenteil der Weißen, bürgerlichen und sesshaften Mehrheitsgesellschaft konstruiert. Die durch Verfolgung erzeugten Lebensumstände werden als kulturelle Andersartigkeit gedeutet.92 Während der Aufklärung wurden die bereits seit dem 15. Jahrhundert existierenden Zuschreibungen von Kriminalität, Mobilität und Ungläubigkeit mit rassifizierenden 88 89 90 91 92
Isidora Randjelovic, »›Zigeuner_in‹.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563), 675. Funke, Brandstifter, 113–14. Ebd., 111. Ebd., 150–56. Roxanna-Lorraine Witt, »Gadjé-Rassismus.« In Rassismus. Macht. Vergessen, 126–131, 141–142; Die Perspektive des Gadjé-Rassismus auf die Weiße Mehrheitsgesellschaft ähnelt vom Ansatz her der Okzidentalismuskritik und lenkt den Blick vom Anderen auf das Eigene. Gabriele Dietze, »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung.« In Kritik des Okzidentalismus.
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und zivilisatorischen Deutungsmustern und Kolonialdiskursen verknüpft.93 Rom*nja und Sinti*ze wurde eine »rassebedingte Asozialität«94 zugeschrieben, die umfassende behördliche Sanktionen und Umerziehungsmaßnahmen zur Folge hatte. Sie endete in den Konzentrationslagern, in denen Rom*nja und Sinti*ze »in doppelter Weise klassifiziert und gebrandmarkt [wurden]: mit einem ›Z‹ (für ›Zigeuner_innen‹) als Zeichen für eine vermeintliche ›rassische Minderwertigkeit‹ und einem braunen Winkel für vermeintlich ›Asoziale‹.«.95 Der Begriff »Zigeuner« ist eine Fremdbezeichnung. Er wurde »nicht nur mit rassifizierenden, sondern zugleich mit sozialen Konnotationen unterlegt und [...] benutzt, um unterschiedliche als mobil verortete Gruppen zu markieren, zu kriminalisieren und auszugrenzen.«96 Die Anwesenheit und Zugehörigkeit vom Rom*nja und Sinti*ze in der Bundesrepublik, ihre Verfolgungsgeschichte und Diskriminierungserfahrungen sind bis heute weitgehend unsichtbar. Erst 1963 wurde vom Bundesgerichtshof anerkannt, dass Rom*nja und Sinti*ze während des Nationalsozialismus rassistisch verfolgt wurden. Die Einrichtung eines Denkmals neben dem Bundestag erfolgte 2012.97 Die Reproduktion und Weiterentwicklung von Gadjé-Rassismus im Kontext von Rostock-Lichtenhagen war besonders in der Lokal- und Boulevardpresse stark ausgeprägt und zeugte von einer massiv vorgenommenen Entmenschlichung.98 Hier schienen hingegen bei den Redaktionen der FAZ und der SZ noch Kontrollmechanismen zu greifen. Es gab zudem eine Tendenz, die Anwohner*innen in Lichtenhagen als Betroffene darzustellen. Sie kamen in den Zeitungen zu Wort und berichteten von der Unordnung, dem Schmutz und dem Chaos, das durch die Asylsuchenden entstand. Um das Ausmaß deutlich zu machen, wird hier eine Aussage aus der Berliner Zeitung vom Würstchenverkäufer Apy zitiert, die auch im Titel des Artikels aufgegriffen wird: »Eine Schande sei das mit ›dem ganzen Gesocks‹ gewesen. Auf dem Rasen hätten die Asylbewerber kampiert und damit das ganze Viertel verschandelt. Ihren Müll hätten die nie in den Container geworfen, wie das der Mitteleuropäer macht. Überhaupt das Thema Ordnung: ›Das sind ja keine Menschen, die Zigeuner, das sind Schweine.‹ Apy ist sich sicher, daß solche Leute auch ›auf dem Rasen bumsen‹ und im nahen Supermarkt ›in die Regale pissen‹. Gesehen hat Apy das nie. Braucht er auch nicht. Das weiß hier jeder.«99 Inhaltlich in eine ähnliche Richtung geht ein Zitat in der SZ, welche von Associated Press (AP) und der Deutschen Presseagentur (DPA) übernommen wurde: »Ein junger Mann sagte über Ausländer: ›Für mich sind das Tiere.«100 Daran wird deutlich, dass sich das
Isidora Randjelovic, »›Zigeuner_in‹.« In Wie Rassismus aus Wörtern spricht. Ebd., 673. Ebd., 674. Ebd., 671. Ebd., 675–6. Zum Beispiel Hans Bentzien, »Möwengrillen in einer Einraumwohnung. Teil 2 unserer Serie: Die Aufnahmestelle für Asylbewerber.« Norddeutsche Neueste Nachrichten, 14.07.1992. 99 Walter Wüllenweber, »›Das sind keine Menschen, das sind Schweine‹.« Berliner Zeitung, 25.08.1992. 100 AP/dpa, »Serie von Anschlägen auf Ausländerheime.« Süddeutsche Zeitung, 27.09.1991. 93 94 95 96 97 98
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Sagbarkeitsfeld hinsichtlich Rom*nja und Sinti*ze und weitergehend gegenüber Asylsuchenden und Ausländern so stark verschoben hatte, dass ihnen gegenüber derart abwertende und entmenschlichende Zuschreibungen vorgenommen werden konnten. Angesichts ihrer langen Verfolgungsgeschichte und dem bis heute fehlenden Bewusstsein über Gadjé-Rassismus in der Gesellschaft ist dies kaum verwunderlich. Es bräuchte hier weitere Forschung, um die Bedeutung dieser Rassismusform für die Entstehung der Gewalttaten, das Wegsehen der Behörden und fehlende Verantwortungsübernahme für die Betroffenen zu betrachten.
6.2.4 Beschreibung des Diskurses in der FAZ und SZ Die Aussagenanalyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend sind. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese werden nun in Form einer Selbstaussage in der Sprache des Diskurses formuliert, bevor auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail eingegangen wird.
Wir sind nicht ausländerfeindlich, sondern ein ausländerfreundliches Land. Die Bevölkerung ist jedoch aufgrund der Zuwanderung und des Asylmissbrauchs verunsichert und überfordert. Dies äußert sich nun in Form von Gewalt. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Gewalt ein spezifisch deutsches Problem ist oder durch übertriebene Selbstkritik und Selbsthass verursacht wird. Die Asylanten sind zwar Zielscheibe, aber auch Ursache der Gewalt, weil sie das Asylrecht und Gastrecht missbrauchen und sich nicht anpassen.Dies darf nicht mehr länger hingenommen werden, auch über eine Grundgesetzänderung muss nachgedacht werden. Es braucht jedoch Verständnis für die Täter, die aufgrund jugendlicher Orientierungslosigkeit, aufgrund sozialer Probleme oder ihrer ostdeutschen Biografie gewalttätig werden.
Für die Analyse wurden 90 Artikel analysiert, davon 50 aus der FAZ und 40 aus der SZ. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle zwischen September 1991 bis August 1993 erschienen. Der Beginn wird durch die rassistische Gewalt in Hoyerswerda markiert, das Ende wenige Monate nach dem Brandanschlag in Solingen und der Änderung des Grundgesetzes im Mai 1993. Die Deutungsmuster hinsichtlich der Ursache und des Umgangs mit Gewalt ähneln sich sehr in den beiden Zeitungen. Die Debatte um deutschen Selbsthass und das damit verbundene Selbstverständnis ist das erste untersuchte Thema, indem sich FAZ und SZ deutlich voneinander unterscheiden. An wenigen Stellen wird in der SZ das grundlegende Deutungsmuster des Misstrauens zu den Ursachen der Gewalt und die Täter*innen-Opfer-Umkehr kritisiert.
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6.3 Das Eigene 6.3.1 »Hoyerswerda ist überall« – die Entwicklung der Berichterstattung Die Ereignisse in Hoyerswerda können nicht nur als »Initialzündung«101 für die Zunahme rassistischer Gewalt betrachtet werden, sondern sorgen auch für eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema in der Öffentlichkeit. Die Berichterstattung über Hoyerswerda ist somit ein Schlüsselmoment für die Entwicklung eines neuen Deutungsmusters. Die dominanten Deutungen entwickeln sich bereits in den ersten Tagen nach den Gewalttaten und legen den Grundstein, wie über die Gewalt in der darauffolgenden Zeit gesprochen wird. Erst später findet sich vereinzelt Kritik an diesen Deutungsmustern und an der Entscheidung der Politik, die angegriffenen Asylsuchenden und ehemaligen Werkvertragsarbeiter zu verlegen. Während der Ereignisse in Hoyerswerda vom 17. – 23. September 1991 finden sich zunächst nur Kurzmeldungen darüber in der SZ.102 Am 23. September gibt es den ersten längeren Artikel103 , in zwei weiteren Artikeln, die sich mit Asyl beschäftigen, wird Hoyerswerda jedoch nicht erwähnt, obwohl der Titel des einen Artikels lautet: »Ratlos vor dem brennenden Haus«104 . Am 24. September, nach Ende der Ausschreitungen wird in der SZ erstmalig auf der Titelseite berichtet105 und ein Kommentar als erster eigener Artikel der Redaktion veröffentlicht.106 Damit vollzieht sich ein Perspektivwechsel, dass Hoyerswerda nicht nur lokale, sondern bundesweite Bedeutung hat. Bereits am 25. September wird in einem Kommentar die Schlussfolgerung gezogen: »Hoyerswerda kann überall sein.«107 In der FAZ wird erstmalig am 23. September über die Ereignisse berichtet108 , am 24. September erscheint ein ausführlicher Kommentar.109 Am 29. September titelt auch die FAZ »Hoyerswerda ist überall«110 . In beiden Zeitungen werden die Kommentare von Politiker*innen ausführlich zitiert und gegenübergestellt.111 Bereits in den ersten Tagen sind alle dominanten Deutungen, die sich nachher im Diskurs durchsetzen, vorhanden. Es wird auf den Asylmissbrauch sowie auf die DDR-Sozialisation und die bestehenden sozialen Probleme der Täter*innen verwiesen. 101 Christoph Hein, »Noch nicht reif.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1991. 102 dpa, »Erneut Skinhead-Überfall auf Vietnamesen in Sachsen.« Süddeutsche Zeitung, 19.09.1991; dpa, »Polizei sichert Ausländerheim nach Übergriffen.« Süddeutsche Zeitung, 21.09.1991. 103 AFP, »Lage in Hoyerswerda vollkommen chaotisch.« Süddeutsche Zeitung, 23.09.1991. 104 Martin E. Süskind, »Ratlos vor dem brennenden Haus.« Süddeutsche Zeitung, 23.09.1991; Josef Joffe, »Fremdenfurcht und die Fakten.« Süddeutsche Zeitung, 23.09.1991. 105 AP/epd/Reuter, »Sachsen quartiert die Asylbewerber um.« Süddeutsche Zeitung, 24.09.1991. 106 Knut Pries, »Progrome als Feierabendritual.« Süddeutsche Zeitung, 24.09.1991. 107 Giovanni Di Lorenzo, »Der Mob siegt in Hoyerswerda.« Süddeutsche Zeitung, 25.09.1991. 108 AFP/Reuter, »Polizei befürchtet weitere Feindseligkeiten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.1991. 109 Georg P. Hefty, »Beifall kann Gewalt sein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.1991. 110 Ruth Lehnen und Jacqueline Vogt, »Hoyerswerda ist überall.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.1991. 111 AFP/AP/dpa, »Vogel wirft der CDU ›Brandstiftung‹ in der Asyldebatte vor.« Süddeutsche Zeitung, 25.09.1991; Günter Bannas, »Politiker verurteilen Gewalttaten in Hoyerswerda.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.1991.
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»Warum das so ist, auch wenn es natürlich nicht alle betrifft, dafür bietet Minister Krause als Erklärung den Mißbrauch des Asylrechts, die sozialen Probleme in Ostdeutschland und ein historisch begründetes Defizit an: ›Das Problem ist, daß wir in der Vergangenheit nicht die Toleranz üben konnten, fremde Kulturen anzunehmen‹.«112 Die Verbindung zum Asylmissbrauch und zur Besorgnis in der Bevölkerung wird vor allem durch die Union propagiert. »Große Teile in der Bevölkerung sind besorgt über den massenhaften Zuzug von Asylbewerbern. Die Politiker in Bund und Ländern müssen deshalb baldmöglichst zu einem Ende der Asyldiskussion kommen und den Mißbrauch des Asylrechts beseitigen.«113 Die Täter*innen werden synonym als »junge Leute« und »Extremisten« bezeichnet.114 Trotz der allgegenwärtigen Floskel, die Gewalttaten aufs Schärfste zu verurteilen, etabliert sich gleichzeitig ein Verständnis für die Täter*innen. »Genauso richtig ist aber auch dies: In Hoyerswerda fallen Opfer über Opfer her.«115 Ein politisches oder rassistisches Motiv wird nahezu von vornherein ausgeschlossen, da die Gewaltausübung im Vordergrund stehe116 und gegen die Treuhandgesellschaft keine direkte Gewalt möglich sei.117 Gleichzeitig ist im Diskurs manches noch kritisierbar, was später Normalität und Realität wird. Dies bezieht sich zum einen auf den Umgang mit den Täter*innen: »Der sächsische Innenminister Rudolf Krause fiel bislang allenfalls durch im Angesicht der Krawalle realitätsfremd wie inhaltsleer klingenden Vorschlag auf, man müsse mit den in einer Diktatur aufgewachsenen Jugendlichen den Dialog suchen«118 . Das Verständnis für und der Dialog mit den Täter*innen wird später zur anerkannten Vorgehensweise. Zum anderen kritisiert die SPD die Union, gibt ihr eine Mitschuld an der Gewalt und schließt eine Grundgesetzänderung kategorisch aus, wie hier beispielsweise Herta Däubler-Gmelin: »Jeder, der heute den Artikel 16 ändern wollte, würde damit einen Kniefall vor den Rechtsextremisten machen«119 Sehr vorausschauend wird dies hingegen im Kommentar in der SZ befürchtet: »Fürwahr, diese [Rechtsextremisten] haben ganze Arbeit geleistet: Hoyerswerda ist ausländerfrei. Der Rechtsstaat hat kapituliert. [...] Jetzt fehlt es nur noch, daß die Ereignisse von Hoyerswerda für eine Änderung des Asylrechts herhalten müssen.«120 Interessant ist dabei, dass in diesen beiden Zitaten die Täter*innen als rechtextrem beschrieben werden, was ansonsten selten vorkommt. Auffällig ist die Darstellung der 70 ehemaligen Werkvertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam. Von Anfang an werden sie nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen, sondern als jene, die im November sowieso in ihre Länder zurückkehren müssen. Es wird unterschwellig suggeriert, dass diese kurze Zeit trotz Gewalt noch auszuhalten sei bzw.
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Pries, »Progrome als Feierabendritual«. Bannas, »Politiker verurteilen Gewalttaten in Hoyerswerda«. dpa, »Polizei sichert Ausländerheim nach Übergriffen«. Heribert Prantl, »Hoyerswerda – die letzte Rache an der DDR.« Süddeutsche Zeitung, 02.10.1991. Hefty, »Beifall kann Gewalt sein«. Prantl, »Hoyerswerda – die letzte Rache an der DDR«. Di Lorenzo, »Der Mob siegt in Hoyerswerda«. Heribert Prantl, »Wer Artikel 16 ändert, macht einen Kniefall vor Rechtsextremisten.« Süddeutsche Zeitung, 25.09.1991. 120 Di Lorenzo, »Der Mob siegt in Hoyerswerda«.
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sie auch früher zurückkehren können: »Die in Hoyerswerda ausharrenden Afrikaner und Asiaten räumen ohnehin spätestens Ende November das Feld, wenn ihre aus DDR-Zeiten stammenden Arbeitsverträge auslaufen. Aber so lange wollen sie dem Terror nicht standhalten.«121 In der Analyse des Eigenen werden die dominanten Deutungen dargestellt. Dennoch soll an dieser Stelle betont werden, dass der Diskurs niemals monolithisch ist, sondern auch immer alternative Deutungsmuster und Kritik beinhaltet. Die Schuld für die Anschläge wurde nicht nur in der Anwesenheit von Fremden und in sozialen Problemen der Täter*innen gesehen. Es gab durchaus Stimmen, die auch die Verantwortung in Politik und Medien benannten. Besonders häufig tritt die Kritik auf, dass die Verlegung der Schutzsuchenden in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen eine »Preisgabe des Rechtsstaats«122 und eine Bestätigung für den Erfolg der Gewalt darstellt. »Erstmals hatten die militanten Fanatiker mit ihren Anschlägen politisch etwas bewegt, nämlich: Hoyerswerda war – wie sie es nannten – ›ausländerfrei‹ geworden.«123 Dies wird auch wie folgt beschrieben: »Die Regierung sollte die Augen nicht davor verschließen, daß es eine Initialzündung für die plötzlich in ganz Deutschland anwachsenden Gewalttaten gab. Die Entscheidung, nach einem erfolgreichen Überfall die Asylsuchenden in Hoyerswerda nicht zu schützen, sondern aus der Stadt auszusiedeln, wurde von den Gewalttätern als Erfolg verstanden, der unmittelbar zu Folgeverbrechen führte.«124 Auch die direkte Verbindung von Gewalt und Grundgesetzänderung wird kritisiert. »Haben wir nicht nach Hoyerswerda und Hünxe unseren großen Parteien gestattet, den Streit um die Abdichtung der Grenzen gegen die Flüchtlinge wichtiger zu nehmen als deren Schutz gegen rechte Gewalt? Hätten wir nicht vorhersehen müssen, daß der schließlich geglückte Angriff auf den Artikel 16 von den Rechtsradikalen als Teilsieg und als Ermutigung zu neuer Offensive gefeiert werden würde?«125 Zudem wird die Bedeutung von Sprache berücksichtigt, die die Gewalt begünstigt hat: »ein an dieser Stelle wirklich unerwartetes Lehrbeispiel dafür, wie fließend der Übergang vom Wort zur Gewalt sein kann.«126 »Nicht nur nach jenen gilt es zu suchen, die in Solingen die Brandsätze warfen, sondern auch nach jenen politischen und publizistischen Biedermännern, die seit Monaten und Jahren die sogenannte ›Ausländerdebatte‹ angeheizt haben.«127
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Pries, »Progrome als Feierabendritual«. Günter Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1992. 123 Günter Bannas, »Der Abzug der Asylbewerber aus Hoyerswerda und Rostock als Ermutigung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.1992. 124 Hein, »Noch nicht reif«. 125 Eberhard Richter, »Mut zur Scham.« Süddeutsche Zeitung, 28.06.1993. 126 Di Lorenzo, »Der Mob siegt in Hoyerswerda«. 127 Patrick Bahners, »Solingen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.06.1993.
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»Doch Richter warnt auch vor denen, ›die eine Situation wie in Lichtenhagen geradezu herbeischreiben‹, die in ihren Schlagzeilen ›neuen Haß in Rostock‹ sähen, um bei einem neuen Ausbruch von Gewalt möglichst hohe Auflagen zu ernten«128 . Nicht zuletzt findet sich an zwei Stellen eine Kritik an der grundlegenden Perspektive, stets die Täter*innen in den Blick zu nehmen und die Opfer zu vernachlässigen: Es gibt »die provozierende Fußnote, die diesen Staat beschuldigt, nichts gegen Rechtsradikalismus zu unternehmen, den Tätern, nicht den Opfern Toleranz entgegenzubringen«129 . »Wieviel ›verkohlte Leichen‹ Weizsäcker und Kohl noch sehen müßten, um sich der Grundrechte zu entsinnen, wollte der Türke Lengiz Onru wissen. Daß sich die Stimmung immer gegen die Opfer und nicht gegen die Täter richte, machte er der ›Vertuschungstaktik‹ der Medien zum Vorwurf.«130 An diesen Zitaten wird deutlich, dass Kritik durchaus sagbar ist und sich beispielsweise hinsichtlich der Verlegung der Asylsuchenden und Werkvertragsarbeitern auch als eine Deutung im Diskurs etabliert. Dennoch findet keine breitere Auseinandersetzung darüber statt, was dies gesellschaftlich, für das Sprechen über Gewalt und für den Umgang mit den Betroffenen bedeutet. Sie bleiben Einzelstimmen im Diskurs. Zum anderen sind diese Zitate überwiegend erst Ende 1992 und im Jahr 1993 veröffentlicht worden, was zeigt, dass das zunächst gesetzte Deutungsmuster sich veränderte. Dabei hatten nicht zuletzt die Anschläge in Mölln und Solingen einen Einfluss, sowie die Grundgesetzänderung, die der Gewalt die Legitimation entzog.
6.3.2 Ablehnung der Gewalt als ausländerfeindlich Im Diskurs wird ausführlich darüber verhandelt, ob die Gewalttaten ein Zeichen für Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft sind. Ähnlich wie im politischen und wissenschaftlichen Diskurs wird auch in den beiden Zeitungen nicht klar definiert, was mit Ausländerfeindlichkeit gemeint ist. Die Nutzung des Begriffs reicht von der Beschreibung einer individuellen Haltung oder Meinung über ein Gefühl bis hin zur Ausübung von Gewalt. Weitere Begriffe, die an wenigen Stellen verwendet werden, sind »Fremdenfeindlichkeit«131 , »Fremdenhass«132 , »Asylantenfeindlichkeit«133 sowie »Abneigung«134 oder »Feindseligkeit«135 gegenüber Asylsuchenden oder Ausländern. Auch die Unterscheidung und Abgrenzung zum Rechtsextremismus ist unklar. Der Begriff Ausländerfeindlichkeit taucht überwiegend in abwehrender, negierender, verharmlosender und relativierender Form in den untersuchten Artikeln auf. Ausländerfeindlichkeit wird als verständliche Abwehrreaktion eingeordnet oder als Angst und Überforderung wahrgenommen. Die Cornelia Bolesch, »Mühsam gebändigte Angst vor rätselhaften Wellen.« Süddeutsche Zeitung, 15.03.1993. 129 Renate Schostack, »Asyl und Menschenjagd.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.1992. 130 Christine Burtscheid, »Bonner Asylpolitik steht am Pranger.« Süddeutsche Zeitung, 07.06.1993. 131 Eike Libbert, »Wie auseinanderwächst, was zusammengehört.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1993. 132 Günter Gillessen, »Deutsche, Juden und Amerikaner.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.1993. 133 Dirk Schümer, »Sturz aus der Normalität.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.1993. 134 Erwin K. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.1993. 135 Albrecht Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹.« Süddeutsche Zeitung, 04.09.1992. 128
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Ursachen werden in der Anwesenheit von und fehlenden Erfahrungen mit Ausländern, in sozialen Problemen der Täter*innen oder in der Asylzuwanderung bzw. im Asylrecht gesehen. Das großzügige Asylrecht dient auch hier als Legitimation, dass Deutschland nicht ausländerfeindlich sein kann. Während die Existenz von Ausländerfeindlichkeit stellenweise anerkannt wird, wenn auch nicht als gesellschaftliches Problem, wird Rassismus fast ausnahmslos in negierender Form genutzt.136 Jürgen Trittin (Grüne), als »Bundesratsminister« eingeführt, beschrieb sein Rassismusverständnis: »Rassismus sei in Deutschland keine Randerscheinung, sondern ein Massenphänomen und als solches nur ›die Zuspitzung des ideologischen Mainstreams der Bundesrepublik‹. Belege dafür seien in Umfragen und Untersuchungen über Straftaten gegen Ausländer zu finden, aber auch in einem ›am Blut‹ orientierten Staatsbürgerschaftsrecht, das den Rechtsstatus von Bürgern biologisch definiere.«137 Dies sorgt bei allen anderen Parteien nur für Empörung und zur Forderung seines Rücktritts, jedoch nicht für eine inhaltliche Auseinandersetzung. Dies zeigt die große Tabuisierung des Begriffs. Ausländerfeindlichkeit wird überwiegend relativiert oder verharmlost. An keiner Stelle wird anerkannt, dass Deutschland ein Problem mit Ausländerfeindlichkeit hat. Stattdessen finden sich Redewendungen wie »latente Fremdenfeindlichkeit«138 , eine »gewisse Ausländerfeindlichkeit«139 , »mit möglicher rechtsextremistischer Motivation«140 und »vom Grundsatz keineswegs ausländerfeindlich«141 . Es wird geschrieben von »Leuten, die eigentlich nicht ausländerfeindlich sind«142 , »daß 99 Prozent der Deutschen doch vernünftig sind«143 , »daß das längst noch keine Ausländerfeindlichkeit ist«144 und »die große Mehrheit nicht ausländerfeindlich«145 ist. Das grundlegende Mantra lautet »Die Bundesrepublik ist ein ausländerfreundliches Land.«146 Die Gewalt wird zwar von politischer Seite stets verurteilt, gleichzeitig aber Verständnis dafür ausgedrückt. Die rassis-
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Stefan Dietrich, »›Ausländerfeindlichkeit in Deutschland ist Produkt einer politischen Kampagne‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.1993. Ebd. Johann M. Möller, »›Über Konfliktpotential informiert‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.1991. Günter Dehn, »›Auf Stufen und Kanten sitzen Asylanten‹.« Süddeutsche Zeitung, 05.02.1992. Friedrich K. Fromme, »Nicht immer ist es Rechtsextremismus.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1991. Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹«. Steffen Uttich, »Noch können die Leute gut und schlecht unterscheiden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.12.1992. Hans-Joachim Leyenberg, »Sportliche Gala gegen Fremdenhaß mit Herz, aber ohne Hand und Fuß.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1993. Bassam Tibi, »Falsche Parallele.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.1993. hsm., »›Ausländerfeindlich ohne Ausländer‹.« Süddeutsche Zeitung, 06.08.1993. Günter Bannas, »Die Bonner Parteien sehen keine Mehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.1991; Walter Boehlich, »Verfassung ohne Hüter.« Süddeutsche Zeitung, 14.10.1994; Dieter Wenz, »Apelle an die Vernunft beim Asylrecht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.1991.
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tische Ideologie der Gewalttaten wird nicht benannt, sondern reproduziert. Folgendes Zitat aus der SZ macht die häufig hergestellten kausalen Zusammenhänge deutlich: »Die Asylproblematik ist kein typisch deutsches Problem, auch sei die Mehrzahl der Deutschen gewiß nicht ausländerfeindlich. Deutschland habe die liberalste Asylgesetzgebung und mehr Asylbewerber als jedes andere europäische Land. An den Gewalttätigkeiten gebe es allerdings nicht das Geringste zu beschönigen und zu entschuldigen. Gewalt löse aber keine Probleme, sondern vergrößere sie nur. Gleichzeitig sei es kein menschenunwürdiges Ansinnen, von den Asylbewerbern zu erwarten, daß sie sich unseren Lebensgewohnheiten sowie unserer Rechtsordnung anpaßten.«147 Ausländerfeindlichkeit bzw. Rassismus als ein gesellschaftliches Problem wird abgelehnt. Die Ursache der Gewalt wird in den steigenden Asylantragszahlen, der zu großzügigen Asylgesetzgebung und dem damit einhergehenden Asylmissbrauch und der fehlenden Anpassung von Asylsuchenden gesehen. Ausländerfeindlichkeit wird dadurch nachvollziehbar und Gewalt als eine verständliche Reaktion gedeutet: »Anlass für den Unmut und Feindseligkeit gegenüber den Asylsuchenden sind scheinbar harmlose Kleinigkeiten, die sich aber doch auf die Dauer und in ihrem Umfang zu starken, schwer erträglich anmutenden Belastungen aufbauen: ›anhaltender, auch nächtlicher Lärm, Schmutz und Abfall, Diebstähle zum Teil größeren Maßstabs, aggressives Betteln‹«148 . Ausländerfeindlichkeit wird als direkte Folge von Zuwanderung beschrieben: »Deutschland könne den Zustrom nicht mehr bewältigen. Wer davor die Augen verschließe, produziere Ausländerfeindlichkeit.«149 Eine Lösung zur Verhinderung von Ausländerfeindlichkeit wird daher in der Beschränkung der Zuwanderung gesehen. »Wie in allen Ländern auch wird die Stimmung in Deutschland bei mehr Ausländern schlechter und bei einer geringeren Zahl besser.«150 Wenn Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleiben wolle, »sei zu verhindern, daß das Asylrecht zu einem ›Einfallstor unkontrollierter Einreise‹ nach Deutschland werde.«151 Die Lösung wird dabei auch in der Grundgesetzänderung gesehen. »›Wer wolle, daß Verfolgte in Deutschland auch in Zukunft Aufnahme fänden, wer nicht wolle, daß Deutschland ausländerfeindlich werde, [...] der muß ja sagen zu einer Ergänzung des Grundgesetzes‹.«152 Aus dieser Perspektive sagt Ausländerfeindlichkeit nichts über die Aufnahmegesellschaft aus, sondern steht nur in Zusammenhang mit den Zuwanderungszahlen und kann auch nur dadurch beeinflusst werden. Ausländerfeindlichkeit wird zum einen als individuelle Meinung über Ausländer dargestellt, wie etwa in diesem Beispiel: »Wilhelm Schulz macht aus seiner Ausländerfeindlichkeit keinen Hehl. ›Die nehmen uns alles weg‹, sagt der Fischer.«153 In überwiegenden
Marianne Heuwagen, »Weizsäcker für Beschleunigung der Asylverfahren.« Süddeutsche Zeitung, 07.09.1992. 148 Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹«. 149 Claus Gennrich, »Widersprüchliche Ansichten zur Asylfrage in der SPD.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.09.1991. 150 Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«. 151 Bannas, »Die Bonner Parteien sehen keine Mehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes«. 152 Wenz, »Apelle an die Vernunft beim Asylrecht«. 153 Hans-Jörg Heims, »Verschanzt hinter der Mauer des Schweigens.« Süddeutsche Zeitung, 26.08.1993.
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Fällen wird aber die Angst und Überforderung der Bevölkerung in den Vordergrund gestellt, die nicht als Ausländerfeindlichkeit verstanden werden dürfe: »Sie verwechseln dabei die Angst der deutschen Bevölkerung vor der Bildung von ethnischen, nicht integrierten Randgruppen mit ›Ausländerfeindlichkeit‹. [...] Man muß deshalb die deutsche Bevölkerung vor einer pauschalen Inkriminierung schützen.«154 Auch daran wird deutlich, dass Ausländerfeindlichkeit vor allem als nicht berechtigte Anschuldigung empfunden wird. Dies führt so weit, dass selbst bei Gewalt gegen Ausländer abgelehnt wird, diese als ausländerfeindlich bzw. rechtsextrem zu beschreiben: »Daß ›Gewalt gegen Ausländer‹ zunimmt, kann damit als belegt angesehen werden. Verkehrt ist aber die verbreitete Annahme, daß sich ›Rechtsextremismus‹ in der Form von Gewalt gegen Ausländer [...] zeige. Verläßlich sind allein die Zahlen über Straftaten, die sich gegen Ausländer richten. Über die Motive kann nur spekuliert werden.«155 Welche Motive sonst eine Rolle spielen könnten, wird nicht thematisiert. Auch folgendes Zitat stellt die Existenz von Ausländerfeindlichkeit grundlegend in Frage: »Lichterketten von Zehntausenden, die gegen ›Ausländerhaß‹ protestieren, sind alltäglich geworden. Aber gibt es das, wogegen sie demonstrieren, in der Wirklichkeit?«156 Die Ablehnung von Ausländerfeindlichkeit bewirkt eine Bagatellisierung der Gewalt und eine Täter-Opfer-Umkehr und verhindert eine Debatte um den gesellschaftlichen Umgang damit. Die Angst um die internationale Reputation als Land, welches aus dem Nationalsozialismus gelernt hat, spielte dabei sicherlich auch eine Rolle.157 Ausländerfeindlichkeit wird im Diskurs häufig als ein Gefühl dargestellt, daher wird darauf im Folgenden detaillierter eingegangen.
6.3.3 Ausländerfeindlichkeit als ein Gefühl der Bevölkerung Die Bevölkerung und ihre Gefühle nehmen eine zentrale Stellung im Diskurs ein. Diese werden vor allem als »Unruhe«, »Beunruhigung«, »Ängste«, »Besorgnis«, »Überforderung« und »Verunsicherung« beschrieben.158 In der SZ dominiert der Begriff der Überforderung.159 Die Bevölkerung wird in beiden Zeitungen homogenisiert, als werde die gesamte Bevölkerung in Deutschland von einem Gefühl geleitet. Obwohl durchaus anerkannt wird, dass dieses Gefühl eine irrationale und emotionale Reaktion auf Zuwanderung ist, werden es als gegeben und nicht beeinflussbar hingenommen. Es geht sogar so weit, dass die Gefühle ernst genommen und nicht kritisiert werden dürfen, sonst würden sie sich nur verstärken. Rationale Argumente könnten daher nichts bewirken. Gewalt wird damit als Folge einer Verunsicherung aufgrund von Zuwanderung und als
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Tibi, »Falsche Parallele«. Fromme, »Nicht immer ist es Rechtsextremismus«. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«. Erhard Haubold, »Das Befinden der Ausländer.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.09.1993. Karl Feldmeyer, »Schäuble dringt auf Verfassungsänderung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.1991; Renate Köcher, »Die Einstellung zur Gewalt ändert sich.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.11.1992; Albert Schäffer, »›Uns steht das Wasser bis zum Hals‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.1992; Renate Köcher, »Besorgnis, nicht Radikalisierung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.1991; Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹« Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹«.
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Versuch einer politischen Einflussnahme gedeutet. Die Vorstellung des Kontrollverlusts spielt auf zwei Seiten eine Rolle. Die Zuwanderung wird von Seiten der Bevölkerung als Kontrollverlust empfunden, nun drohe auch ein Kontrollverlust hinsichtlich der Reaktionen in der Bevölkerung. Diese bedrohliche Situation wird dramatisierend als »Volksaufstand«160 , »Volkszorn«161 , »Pulverfaß«162 , »Alarmzustand«163 oder »Bürgerkrieg«164 beschrieben. Die Gefühle der Bevölkerung werden als Volkswillen gedeutet165 , der von der Politik berücksichtigt werden müsse. Vertrauensverlust und eine Eskalation der Gewalt seien die Folge. Lediglich in der SZ wird teilweise auch dazu aufgerufen, sich für ein friedliches Zusammenleben und gegen Gewalt einzusetzen.166 Die Ursachen und das zugrundeliegende Problem werden einvernehmlich in allen Artikeln in der »ungesteuerte[n] Zuwanderung«167 und im »offenkundigen Mißbrauch des Asylrechts«168 gesehen. Es geht somit um die Anzahl der Asylsuchenden, die fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Zuwanderung und die als nicht legitim empfundenen Fluchtgründe. Eine Reflexion, wie diese drei Aspekte zu bewerten sind, findet nicht statt, diese werden als objektiv vorausgesetzt. Ganz selten finden sich Relativierungen wie in einer »unkontrolliert empfundenen Zuwanderung von Ausländern.«169 Als weiterer Aspekt werden soziale Probleme der einheimischen Bevölkerung hervorgehoben und eine damit verbundene Abstiegsangst. »Zur Unruhe der Bevölkerung tragen auch Neidgefühle und Ängste bei, die vielfach auf Unkenntnis beruhen: ›Die Asylanten nehmen uns die Wohnungen und die Arbeitsplätze weg.‹«170 Eine wesentliche Diskursakteurin hinsichtlich der Stimmung in der Bevölkerung ist Renate Köcher vom Allensbacher Institut für Demoskopie. Das Institut veröffentlicht zu dieser Zeit jeden Monat einen Bericht in der FAZ zu einer im Institut durchgeführten Bevölkerungsumfrage. Diese wird maßgeblich von Renate Köcher verantwortet, die seit 1988 Geschäftsführerin des Instituts ist. Zwischen 1991 und 1993 schreibt sie fünf Artikel, die sich auch mit Asyl und Gewalt auseinandersetzen. Dabei werden die wissenschaftlichen und scheinbar objektiven Ergebnisse ihrer Untersuchungen mit dramatisierenden und emotionalisierenden Deutungen verschränkt. Sie warnt dabei vor der Diffamierung der Bevölkerung als ausländerfeindlich oder rechtsextrem.
160 Heuwagen, »Weizsäcker für Beschleunigung der Asylverfahren«. 161 Claus P. Müller, »In kleinen Gemeinden gibt es Verständnis für die Asylbewerber.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1991. 162 Köcher, »Die Einstellung zur Gewalt ändert sich«. 163 Elisabeth Noelle-Neumann, »Wie belastbar ist die deutsche Demokratie?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1992. 164 Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹«. 165 Heidi Müller-Gerbes, »›Den Willen der Bevölkerung vollziehen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.04.1993. 166 AP, »SPD fordert Krisenrunde beim Kanzler.« Süddeutsche Zeitung, 05.09.1992. 167 Karl Feldmeyer, »Die rechtsradikalen Schläger in Rostock drohen mit Unruhen bis zum 1.September.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.1992. 168 Feldmeyer, »Schäuble dringt auf Verfassungsänderung«. 169 Noelle-Neumann, »Wie belastbar ist die deutsche Demokratie?«. 170 Schäffer, »›Uns steht das Wasser bis zum Hals‹«.
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»Die Diffamierung durch politische Brandstifter, die die Unruhe der Deutschen über diese Entwicklung offen oder unterschwellig mit Ausländerfeindlichkeit gleichsetzen, läßt die Beunruhigung teilweise in Wut umschlagen.«171 »Es ist riskant, die akute Besorgnis der Bevölkerung zu diffamieren und sie in die Nähe der Geisteshaltung extremistischer Gewalttäter zu bringen. Erst wenn die Bevölkerung den Eindruck gewinnt, daß ihre Sorgen in der öffentlichen Diskussion nicht als legitim und ernst zu nehmend angesehen werden, ist eine wachsende Unterstützung für radikale Gruppierungen zu befürchten.«172 Die Bevölkerung darf aus dieser Sicht nicht beschuldigt werden, weil dies die Bereitschaft zu Gewalt nur fördern würde. Die Sorgen müssen ernst genommen werden und werden damit auch legitimiert und verstärkt. Das Hinterfragen der Bedrohungsgefühle ist so nicht möglich. Rassismus als eine Ursache der Gewalt zu benennen, ist im Diskurs dieser Zeit nicht sagbar. Daher wird die Ursache auch nicht in der migrationspolitischen Weigerung gesehen, Deutschland als Einwanderungsland mit migrationsbedingter Diversität anzuerkennen und die damit verbundene notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung zu fördern. Stattdessen wird von den Gefühlen der Bevölkerung auf die Unmöglichkeit eines Einwanderungslandes geschlossen, obwohl dies längst eine migrationsgesellschaftliche Realität darstellt: »Nach Ansicht des Aussiedlerbeauftragten [...] kann Deutschland kein Einwanderungsland werden. In dieser Frage müsse auch auf Ängste in der Bevölkerung Rücksicht genommen werden.«173 Die Lösungsmöglichkeiten für den Umgang mit den Ängsten werden in der Politik gesehen. Dabei ist ein paternalistisches Verständnis vorherrschend, das sich darin ausdrückt, dass es darum gehe, »die Bürger vorzubereiten«174 , »das Unbehagen aufzufangen«175 , »ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln«176 und »das Vertrauen der Bevölkerung [...] zurückzugewinnen«177 . Eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ungleichheitsideologien und eine Sensibilisierung der Bevölkerung werden nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wird die Grundgesetzänderung als Möglichkeit gesehen, Kontrolle zurückzugewinnen, da dies dem Willen des Volkes entspräche: »ein Parlament könne auf Dauer nicht Politik gegen den erkennbaren Willen der Bevölkerung machen.«178 Die »legitimen Interessen der deutschen Bevölkerung«179 müssten berücksichtigt werden. »Die Bürger seien ›in ihrer eindeutigen Mehrheit der Auffassung, und es bezeugt ein merkwürdiges Demokratieverständnis, wenn man glaubt, diesen Mehrheitswillen auf Dauer 171 172 173 174 175 176 177 178 179
Köcher, »Die Einstellung zur Gewalt ändert sich«. Köcher, »Besorgnis, nicht Radikalisierung«. o. A., »Weizsäcker spricht sich gegen Änderung des Asylrechts aus.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.1991. Möller, »›Über Konfliktpotential informiert‹«. Noelle-Neumann, »Wie belastbar ist die deutsche Demokratie?«. Albert Funk, »Konsequente Abschreckung und Gespräche.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.08.1992. Renate Köcher, »Jahr der Enttäuschungen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.1993. Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. Marianne Heuwagen, »Nachbarn, die kein Asyl gewähren wollen.« Süddeutsche Zeitung, 16.10.1991.
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ignorieren zu können.‹«180 Würde dieser Willen weiter ignoriert, würden die Jugendlichen durch Gewalt, »den Willen eines nicht kleinen Teils der Bevölkerung vollziehen.«181 Auch hier wird Gewalt als politische Einflussnahme legitimiert. Lediglich in der SZ finden sich Stellen, die beschreiben, dass die Bevölkerung durchaus durch die Gewalt erschrocken war182 , dass es Engagement der Bevölkerung gegen die Gewalttaten gab183 und dass »Staat und Gesellschaft den Willen zur inneren Verständigung und zur Durchsetzung des inneren Friedens nicht brechen lassen‹. Für die Bürger könne das auch eine Ermunterung sein, ›sich in die Verhinderung ausländerfeindlicher Aktionen einzuschalten‹.«184 Es wird über eine Initiative in Herzogenaurach berichtet, die sich für Flüchtlinge einsetzen und sich auf die Menschenwürde beziehen. »Die Initiative der Herzogenauracher macht deutlich: Es geht auch anders in der Asyldebatte.«185 Abschließend lässt sich festhalten, dass in den beiden Zeitungen nicht reflektiert wird, welche Rolle sie und andere Medien bei der Entstehung von Gefühlen der Bevölkerung spielen.
6.3.4 Gewalt als deutscher Selbsthass Aus der Debatte um Ausländerfeindlichkeit, Gewalt und ihren Ursachen entwickelt sich gegen Ende des Jahres 1992 eine Auseinandersetzung um die Frage, was Deutschsein eigentlich ausmache und ob die Gewalt Ausdruck eines Selbsthasses sei. Es entstehen dabei Fragen, was die Gewalt über das Eigene aussage und wie sie sich in das nationale Selbstverständnis einordne. Die Beschäftigung mit dem Eigenen wird stark aus einer Verteidigungshaltung heraus gestaltet, bei der am liebsten bewiesen werden möchte, dass die Gewalt in keinem Zusammenhang dazu stehe. Kern der stark essentialisierenden Debatte ist, ob Deutschsein eine gewisse Veranlagung oder Neigung zum Rassismus regelrecht natürlich beinhalte und daran anknüpfend, welche Rolle die nationalsozialistische Vergangenheit für das historisch-politische Selbstverständnis spiele. Dies erinnert in mancher Hinsicht an die Auseinandersetzungen während des Historikerstreits und die Goldhagen-Debatte.186 Auffällig sind dabei drei Aspekte: zum einen ist die Debatte um den Selbsthass und das damit verbundene Selbstverständnis das erste untersuchte Thema, indem sich FAZ und SZ deutlich voneinander unterscheiden und dabei auch rechts-links-Einordnungen vornehmen, wie beispielsweise mit dem Hinweis »nur betont linke Autoren«187 würden so etwas behaupten. Das Thema wird in der FAZ sehr viel stärker aufgegriffen und stets in einer Widerspruchsposition, wie es nicht gesehen werden sollte. Zweitens findet in beiden Zeitun180 181 182 183 184 185 186
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AP, »SPD fordert Krisenrunde beim Kanzler«. Müller-Gerbes, »›Den Willen der Bevölkerung vollziehen‹«. Köcher, »Jahr der Enttäuschungen«. dpa/AFP/AP, »Polizei stellt sich auf Gewalt-Wochenende ein.« Süddeutsche Zeitung, 12.09.1992. AP, »SPD fordert Krisenrunde beim Kanzler«. Friedrich Hettler, »Wo Asylanten freundlich empfangen werden.« Süddeutsche Zeitung, 28.11.1992. Dworok, ›Historikerstreit‹ und Nationswerdung; Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, [2. Aufl.] (Berlin: Siedler, 1996); Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«.
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gen unabhängig von der Deutung eine starke Essentialisierung von Deutschsein statt. Es wird überwiegend davon ausgegangen, man könne Deutsche mit anderen Nationen vergleichen und sie mit bestimmten, für sie charakteristischen Eigenschaften beschreiben. »In Wahrheit aber entstehen Nationen nicht einfach so; sie werden gegründet. Und nationale Identitäten bezeichnen darüber hinaus auch keine von und angeborenen Eigenschaften, sondern werden innerhalb von Diskursen und anderen Repräsentationssystemen gebildet und transformiert.«188 Diese Dekonstruktion ist in der gesamten Analyse nicht zu finden und soll daher nochmal explizit benannt werden (siehe auch Kapitel 8.1.2). Drittens lässt sich im Gegensatz zu den vorherigen Kapiteln beobachten, dass die rassistische Gewalt und der sich daran anschließende Diskurs um Ursachen und Schuldige das »mühsam erworbene deutsche Selbstverständnis«189 in Frage stellt oder sogar erschüttert. In den vorangegangenen Kapiteln blieb das positive Selbstbild stets gewahrt. Aus dieser Erschütterung erwächst die Notwendigkeit, sich mit nationaler Identität auseinanderzusetzen: ob Ausländerfeindlichkeit zu einem »nicht mehr ausrottbaren deutschen Kraut«190 geworden ist, ob das »Bild vom ausländerfeindlichen, häßlichen Deutschen Realität«191 geworden ist und so »das Gesicht des wiedervereinigten Deutschlands«192 aussieht. Für die folgende Analyse wurden sechs Artikel, davon vier in der FAZ ausgewählt, wovon drei am 04. Mai 1993 erschienen sind und die anderen im Februar, April und Juni desselben Jahres. Das prägende inhaltliche Motiv, das alle Artikel verbindet, ist der Hass bzw. noch expliziter der Fremdenhass und der Selbsthass. Auf formaler Ebene sind alle Artikel bis auf den von Günter Gillesen, der auch der FAZ-Redaktion angehörte, Gastbeiträge von Professor*innen oder von Autor*innen, die aufgrund ihrer Tätigkeit als »Entwicklungshelferin« (Anna-Maria Kortes-Collert) bzw. Theaterregisseur (Matthias Pees) qualifiziert erschienen, sich zur gesellschaftlichen Debatte zu äußern. Bei der Frage des Deutschseins, welches in anderen Artikeln nur angeschnitten wird, vermeidet die Redaktion offensichtlich eine klare Positionierung und verweist auf (überwiegend wissenschaftliche) Fachautor*innen. Diese beleuchten jeweils aus ihrer Perspektive der Soziologie, des Pressejournalismus, der Politikwissenschaft oder der Psychoanalyse und Psychosomatik den Gegenstand. Die grundlegende Annahme, die in den vier Artikeln in der FAZ zum Ausdruck kommt, ist, dass die Deutschen in einem unangemessenen und außerordentlichen Maße selbstkritisch seien und jegliche Möglichkeit eines positiven deutschen Selbstbildes oder deutschen Nationalismus kategorisch ablehnen. Diese Haltung wird beschrieben als »deutsche Selbstdistanzierung«193 , »ritualisierte Selbstkritik«194 , »Akte einer quälerischen, selbstverliebten Selbstbeschwörung«195 , als Ausdruck eines »›nachgeholten 188 189 190 191 192 193 194 195
Hall und Gates, Das verhängnisvolle Dreieck, 152. Anna-Maria Cortes-Kollert, »Selbsthaß, Fremdenhaß.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.1993. Dehn, »›Auf Stufen und Kanten sitzen Asylanten‹«. Ursula Willke, »Für Bundeswehr-Einsatz in Somalia.« Süddeutsche Zeitung, 14.01.1993. Stephan Lebert, »Die Last der schrecklichen Augustnächte.« Süddeutsche Zeitung, 18.08.1993. Cortes-Kollert, »Selbsthaß, Fremdenhaß«. Ebd. Gillessen, »Deutsche, Juden und Amerikaner«.
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Widerstands‹ gegen sich selbst«196 und als »strikte Leugnung von Nationalbewußtsein«197 . Die Wiedervereinigung trägt dazu bei, sich erneut mit Fragen des Nationalstaats und des deutschem Nationalismus zu beschäftigen. Es wird jedoch deutlich abgelehnt, dass ein »deutscher Nationalstaat [...] zwangsläufig zu Rassismus und Chauvinismus«198 führe und »daß sich die Geschichte jederzeit wiederholen könnte.«199 Dies führe zu »Schwelgen in Schuldgefühlen über die NS-Zeit und [...] exhibitionistische[m] Moralismus«200 . Stattdessen wird die Forderung aufgestellt, dass »die Schuld früherer Deutscher [...] erinnerungsbedürftige Historie werden« müsse und nicht »immerzu weiter der gemeinsamen Gegenwart und Zukunft im Wege stehen«201 dürfe. Diese Selbstkritik und das Fehlen eines positiven Selbstbildes werden auch als Selbsthass bezeichnet. Dieser wirke sich auch auf das Verhältnis zu Fremden aus. Der Selbsthass führe entweder zu Fremdenhass oder zur Idealisierung des Fremden und »überbordende[r] Feindesliebe.« »Je größer der deutsche Selbsthaß, desto stärker die Neigung, das Fremde zu idealisieren.«202 Auch die Ursache der rassistischen Gewalt wird in dieser Form des Selbsthasses gesehen. Was bleibt also, wenn Selbsthass und Schuldgefühle nicht der richtige Weg sind? Es gehe darum, weder in das eine Extrem der Fremdenliebe noch in das andere Extrem des Fremdenhasses zu kippen: »Voraussetzung zu einer unproblematischen Beziehung zu den Fremden ist aber stets die Selbstliebe. Ein Deutscher, der sich selbst und sein Land haßt, kann die Fremden nicht lieben.«203 Ein weiteres Deutungsmuster beinhaltet die These, dass Deutschland kein Land sei, das »gegen rechte Devisen empfänglicher wäre als andere Staaten.«204 Vielmehr sei es »ein gegen Extremisten ziemlich resistenter Staat mit einer äußert nervösen öffentlichen Meinung.«205 Dies schließt an den Diskurs um die Ausländerfeindlichkeit an und der Warnung diese erst herbeizuschreiben. Statt also den »Faschismusverdacht [...] am Leben [zu] erhalten [und zu] aktualisieren«206 , gehe es darum, die natürlichen und nachvollziehbaren Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung anzuerkennen. Es gehe »nicht um ›Fremdenhaß‹, sondern um die Verteidigung der eigenen Identität.«207 Es sei die Angst, »im eigenen Land in die Minderheit zu geraten«208 , »vor der Bildung von ethnischen, nicht integrierten Randgruppen«209 und »vor Überfremdung«210 . Darin drückt
196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210
Ebd. Cortes-Kollert, »Selbsthaß, Fremdenhaß«. Ebd. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«. Gillessen, »Deutsche, Juden und Amerikaner«. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«. Cortes-Kollert, »Selbsthaß, Fremdenhaß«. Tibi, »Falsche Parallele«. Scheuch, »Niemand will gern zur Minderheit gehören«. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Gillessen, »Deutsche, Juden und Amerikaner«. Ebd.
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sich die »Sorge um die nationale Eigenheit«211 aus, die mit der zu großen Anzahl an Fremden verloren gehen könne. Das Wort Überfremdung transportiert die Vorstellung, die eigene Identität und ihre damit verknüpften Traditionen, Normen und Werte zu verlieren, wenn zu viele als fremd wahrgenommene Menschen zuwandern.212 Die Vorstellung einer homogenen deutschen Nation, die auf einer gemeinsamen Abstammung basiert und sich durch verbindende Charaktereigenschaften auszeichnet, liegt dem Diskurs zugrunde. Was jedoch diese nationale Eigenheit oder einen Bezugspunkt positiver nationaler Identität darstellen könne, die dabei verloren gehen könnte, bleibt völlig unklar. Deutschsein wird auf der einen Seite essentialisiert, in dem Sinne, dass davon ausgegangen wird, dass an Deutschsein bestimmte Eigenschaften geknüpft sind. Auf der anderen Seite bleibt es eine Leerstelle, da nur gesagt wird, dass dieses Deutschsein bedroht ist und was Deutschsein nicht beinhalten soll. Die These des Selbsthasses findet sich auch in dem einen Artikel in der SZ und bestätigt die Vermutung, dass dies nicht nur in der FAZ ein Thema gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse war.213 Es bestehe die Gefahr, »aus Selbsthaß Haß auf andere zu projizieren«.214 Der ausführliche Artikel von Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter in der SZ, der zu diesem Thema ein Buch veröffentlicht hat, beginnt zwar auch mit dem Hass, setzt anschließend jedoch einen deutlichen Gegenpol. Hass sei die Unfähigkeit zur Trauer und Selbstkritik. »Sonst bleibt nur die Flucht in den Haß und das blinde Begehren nach Rache an denen, die unser verlogenes großartiges Selbstbild gefährden. So ist die These gemeint: Wer nicht leiden will, muß hassen.«215 Aber aus seiner Sicht können die »Deutschen besser hassen als trauern«216 . Er fordert anzuerkennen, dass die rassistische Gewalt etwas mit dem Eigenen und der deutschen Gesellschaft zu tun haben und die »gewalttätigen Skins« genauso Teil der Gesellschaft seien wie »diejenigen [...], die unter Hitler schuldig geworden sind.«217 In seiner Analyse zeigt er ein Verständnis von Gesellschaft und Nation auf, welches sich durch die Beschäftigung mit den Schattenseiten auszeichnet und diese nicht externalisiert. »Wenn Jugendliche zu Brandstiftern und Mördern werden, dann liegt die Schuld nicht allein bei ihnen, sondern bei uns allen, die Einfluß auf die Erziehung haben [...] Das sollte man nicht nur so verstehen, daß wir bei der Erziehung besser aufpassen sollten,
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Ebd. Kury, Über Fremde reden, 73–78. Wie zum Beispiel auch in dem Lied von den Ärzten »Schrei nach Liebe,« das in Reaktion auf Hoyerswerda am 10.09.1993 erschien: »Du musst deinen Selbsthass nicht auf andere projizieren«. Clara Ott, »Ärzte-Hymne gegen Neonazis von 1993 stürmt die Charts.« Die Welt, 03.09.2015, zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.welt.de/kultur/article145999164/Aerzte-Hymne-geg en-Neonazis-von-1993-stuermt-die-Charts.html#:~:text=September%201993%20ver%C3%B6ff entlichte%20die%20Berliner,und%20ihr%20erstes%20politisches%20Lied. 214 Matthias Pees, »Keine Toleranz mit dem Zeigefinger.« Süddeutsche Zeitung, 04.02.1993. 215 Richter, »Mut zur Scham« So lautet auch der Titel seines Buchs: Horst-Eberhard Richter, Wer nicht leiden will muß hassen: zur Epidemie der Gewalt, 1. Aufl. (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1993). 216 Richter, »Mut zur Scham«. 217 Ebd.
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sondern so, daß wir bei uns selbst nachsehen müssen, was wir an undurchschauter eigener Destruktivität an die Jugendlichen weitergeben, [...] was wir von uns selbst vermitteln.«218 Die undurchschaute Destruktivität kann aus rassismuskritischer Sicht auch als Sozialisation in rassistische Verhältnisse gesehen werden, woraus sich die pädagogische Notwendigkeit zur Selbstreflexion ableiten lässt.
6.4 Das Andere 6.4.1 Schutzsuchende als die Opfer der Gewalt – eine Leerstelle In den 129 untersuchten Artikeln zu rassistischer Gewalt und Ausländerfeindlichkeit bleibt die Perspektive und die Erfahrungen der Opfer zum größten Teil eine Leerstelle. Sie wirken dadurch wie Statist*innen in einem Film, der sich mit deutschen Verhältnissen beschäftigt und in dem gegenseitige Schuldzuweisungen im Vordergrund stehen. Eine Einfühlung mit den Opfern und eine Parteinahme für ihre Belange werden dadurch verhindert. Sie bleiben Fremde, selbst eine Verantwortungsübernahme findet nicht statt. Dies zeigt sich an der Weigerung, den vietnamesischen Werkvertragsarbeitern in Hoyerswerda einen dauerhaften Aufenthalt zu geben oder der Weigerung der anderen Bundesländer, die Asylsuchenden aus Hoyerswerda aufzunehmen. Der häufigste Satz über die Opfer der Brandanschläge lautet: »Es wurde niemand verletzt«.219 »Mehrere hundert Jugendliche haben am Wochenende ein Asylbewerberheim in Rostock angegriffen, die Polizei in stundenlange Straßenschlachten verwickelt und einen Beamten lebensgefährlich verletzt. [...] Unter den Heimbewohnern gab es keine Verletzten.«220 Es geht hierbei jedoch lediglich um eine physische Verletzbarkeit, die seelische und psychische Verletzlichkeit durch rassistische Gewalt wird vollkommen ausgeblendet, obwohl sie mindestens genauso schwerwiegend ist und langfristige Folgen für die Betroffenen haben kann. Lediglich in drei Artikeln, davon zwei in der FAZ, stehen die Erfahrungen, Gefühle und Ängste der Betroffenen im Mittelpunkt und sie kommen selbst in längeren Passagen zu Wort. Häufig wird über die rassistische Gewalt gar nicht berichtet, als Randnotiz oder nur aufgrund des Strafprozesses mit dem Fokus auf die Täter*innen. In der FAZ wird an einer Stelle benannt, dass 23 Menschen zwischen 1989 und 1992 aufgrund rechtsextremer Gewalt starben:221 »Im März des Jahres ermordeten Skinheads in Dresden einen Mocambiquaner; im Juni wurde in Friedrichshafen ein Angolaner von einem Skinhead ermordet; im September kam ein Ghanaer bei einem Brandanschlag in Saarlouis ums Leben.«222 Eine Übersicht in der SZ erfasst einige
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Ebd. o. A., »Wieder Übergriffe gegen Ausländer und Aussiedler.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.10.1991. 220 krp., »Straßenschlacht vor Asylbewerberheim.« Süddeutsche Zeitung, 24.08.1992. 221 Bannas, »Der Abzug der Asylbewerber aus Hoyerswerda und Rostock als Ermutigung«. 222 Ebd.
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Gewalttaten, jedoch nur zwei der Morde.223 Die Folgen für die Opfer und ihre Familien bleiben eine Leerstelle, insbesondere was die Gewalt für sie bedeutet. Viele der Gewalttaten werden offiziell nicht als Rassismus bzw. Rechtsextremismus anerkannt, in den wenigstens Fällen kommt es zu einer Verurteilung. Auch bei Anschlägen mit Verletzten, wie beispielsweise in Hünxe, wird darüber sachlich und emotionslos berichtet: »Die beiden Mädchen, jetzt neun und sieben Jahre alt, sind durch Brandwunden auf Dauer entstellt. Das ältere Kind hatte nach dem Anschlag zwei Wochen in Lebensgefahr geschwebt. Mehr als ein Drittel seiner Haut wies Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf: auch die Lunge war schwer geschädigt. [...] Die Behandlung wird durch die Sozialhilfe finanziert. Die Schwestern und ihre Angehörigen haben in Deutschland als Kriegsflüchtlinge Aufenthalt.«224 Der Schwerpunkt dieses Artikels beschäftigt sich jedoch mit der Frage, inwiefern sie eine Entschädigung erhalten, »weil das Opferentschädigungsgesetz Leistungen an Ausländer nur unter bestimmten Bedingungen zuläßt.«225 Was es für die beiden Kinder und ihre Familie bedeutet, aus dem Libanon zu fliehen und nun in dem neuen Zufluchtsort angegriffen und lebensbedrohlich verletzt zu werden, wird nicht thematisiert. Der Brandanschlag in Hünxe, am ersten Tag der deutschen Einheit, wird im Untersuchungszeitraum häufig neben den anderen vier Orten als Symbol für rassistische Gewalt genutzt. Anscheinend geriet er dann immer mehr in Vergessenheit. Bundespräsident Weizsäcker besuchte am Tag nach dem Anschlag verschiedene Asylheime in Nordrhein-Westfalen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass er nicht die Opfer der Gewaltanschläge traf, sondern in andere Unterkünfte ging. Die Bilder in den Zeitungen zeigten unschuldige, lachende Kinder und einen zugewandten, nahbaren Bundespräsidenten.226 Die FAZ berichtet auf der Titelseite: »Trotz der Übergriffe der letzten Tage müsse festgehalten werden, daß die große Mehrzahl der Deutschen den Ausländern Verständnis entgegenbringe. ›Der Alltag ist stärker von Verständnis bestimmt als von Spannungen oder gar Verbrechen‹, sagte der Bundespräsident. Dies hätten ihm auch alle Flüchtlinge berichtet, die er besucht habe. ›Der normale Alltag, vor allem auch der Kinder, ist nicht von Angst bestimmt.‹«227 Dies wirkt zynisch und ignorant angesichts der Tatsache, dass im gleichen Artikel darüber berichtet wird, dass die beiden libanesischen Mädchen noch in Lebensgefahr schweben und wirft die Frage auf, ob es nicht berechtigt wäre, Angst vor einem Anschlag zu haben. Verstanden zu werden ist zudem noch weit davon entfernt von dazuzugehören und teilhaben zu dürfen. Im Folgenden wird auf die drei einzigen Artikel eingegangen, in denen ansatzweise deutlich wird, was die Bedrohung und Erfahrung von rassistischer Gewalt für die Betrof-
223 AP, »Von Hoyerswerda bis Rostock.« Süddeutsche Zeitung, 26.08.1992. 224 Albert Schäffer, »Die Opfer von Hünxe sollen bald Entschädigung erhalten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.1993. 225 Ebd. 226 Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 300–302. 227 o. A., »Weizsäcker spricht sich gegen Änderung des Asylrechts aus«.
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fenen bedeutet. Der erste Artikel in der FAZ mit dem Titel »Sie kommen mit Motorrädern und machen uns angst [sic!] »»228 zeigt auf, dass die Menschen im Asylheim in beständiger Angst vor einem Anschlag leben. »Zwar habe es noch keine gewalttätigen Übergriffe gegeben, aber fast jeden Abend kommen sie mit höllisch lärmenden Motorrädern. ›Ausländer raus‹, ›Deutschland den Deutschländern‹ rufen sie und fluchen; auf Versuche, ins Gespräch zu kommen, gehen sie nicht ein. Die Polizei reagiere überhaupt nicht, auch könne man sie während den furchterregenden Aktionen nicht rufen, weil es in der Jugendherberge kein Telefon gibt. Und für Präventivschutz sei keinen Handlungsbedarf. Der Spuk dauere immer nur einige Minuten, das angstvolle Warten darauf ziehe sich dagegen unerträglich in die Länge.«229 Von einer »Roma-Familie aus Rumänien«230 wird berichtet, dass sie von dort flohen, weil in vielen Dörfern ihre Häuser angezündet wurden. Nun würden sie hier ähnliche Erfahrungen machen. In einem zweiten Artikel mit dem Titel »Mach‹ ne Fliege, du Asylant«231 berichtet der Autor Sevilay Der von seinen alltäglichen Rassismuserfahrungen und darüber, dass er begonnen habe, sich zu wehren: »Aber das ist mir jetzt auch gleichgültig! So etwas passiert öfter im Leben und nicht nur mir. Es kommt oft zu Schlägereien, weil die Skins uns beweisen müssen, daß sie die Stärkeren sind, und weil sie uns unmißverständlich klarmachen wollen, daß sie uns hier nicht haben wollen. Aber die Deutschen sagen immer noch: ›Wir sind eine ausländerfreundliche Nation!‹ Wie lange noch? Ich fürchte, es wird die Zeit kommen, da wird es in Deutschland heißen: ›Ausländer raus, für immer!‹«232 Daran wird deutlich, wie prekär die Zugehörigkeit und Sicherheit in Deutschland für jene ist, die als Ausländer oder Asylant kategorisiert werden und dass Rassismuserfahrungen unabhängig von der Dauer des Aufenthalts sind. Die SZ berichtet ein Jahr nach den Gewalttaten in Rostock-Lichtenhagen unter dem Titel »Die Last der schrecklichen Augustnächte«233 ausführlich von der Situation von Ausländern, die dortgeblieben sind. Dabei kommt ein Vietnamese zu Wort, der den Brandanschlag im Sonnenblumenhaus miterlebt hat. »Nguyen Do Tinh erinnert sich an die wahnsinnige Angst, die sie hatten, als sich immer mehr Menschen zusammenrotteten und nur lächerlich viel Polizei da war. Und es stimme nicht, sagt er, daß sich die Gewalt anfangs nur gegen die Asylbewerber richtete, ›auch wir waren sofort deren Zielscheibe.‹«234
228 Helmut Britz, »Sie kommen mit Motorrädern und machen uns angst.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.1991. 229 Ebd. 230 Ebd. 231 Sevilay Der, »›Mach ›ne Fliege, du Asylant!‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.09.1992. 232 Ebd. 233 Lebert, »Die Last der schrecklichen Augustnächte«. 234 Ebd.
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»Es waren viele seiner langjährigen Nachbarn, die tagelang johlend Molotow-Cocktails und Steine auf Türen und Fenster warfen. ›ihre haßerfüllten Gesichter werde ich niemals vergessen.‹ Nach einigen Tagen sind Tinh und die anderen Vietnamesen wieder zurück in das verbrannte Haus gezogen. ›Das hat viele damals gewundert, aber wohin hätten wir gehen sollen‹, fragt er. [...] So bleibt er und träumt sogar davon, bald eine Begegnungsstätte zu eröffnen, für Vietnamesen und Deutsche, und zwar auch für solche Deutsche, ›die uns damals töten wollten‹.«235 Eine Frau berichtet: »das Klima der Angst hat sich weiter ausgebreitet. Viele der 2.000 Ausländer haben Angstzustände und Schlafstörungen. Ich selbst bin Ungarin. Ich würde mich nicht mehr trauen, auf der Straße ungarisch zu sprechen.«236 In den drei Artikeln wird deutlich, dass das Leben der Asylsuchenden, aber auch von anderen mehrheimischen Menschen von Angst geprägt ist, verbunden mit der Frage, ob sie in diesem Land wirklich Schutz und eine dauerhafte Perspektive finden können. Dazu kommt die Erfahrung, dass die Polizei keine Unterstützung bietet und sie von den Behörden im Stich gelassen werden. Selbst die Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit wird von den Betroffenen selbst geleistet. Bei aller Empathie für die Betroffenen endet jedoch auch der erste Artikel mit dem Schlusssatz, dass die Gewalt möglicherweise auch bewirken könnte, dass weniger Menschen nach Deutschland flüchten: »aber vielleicht löst sich das Problem bald von selbst: Brandsätze und Steine, Motorradlärm und ausländerfeindliche Parolen könnten die Wirkung haben, daß bald ohnedies viel weniger kommen werden«237 . Dies findet sich auch an anderer Stelle, wie beispielsweise in dieser Buchrezension: »Die Geschichte nimmt ein trauriges, doch nicht hoffnungsloses Ende. Aischas Familie geht in den Libanon zurück, weil auf das Flüchtlingsheim ein Anschlag verübt wurde. Die Freundinnen schreiben sich Briefe und als ein neues fremdes Mädchen in die Klasse kommt, ist neben Steffi noch Platz frei.«238 Dies zeigt, dass die geflüchteten Menschen nicht als Teil der Gesellschaft gesehen werden, die Anspruch auf Schutz haben, sondern rassistische Gewalt eine gesellschaftliche Normalisierung erfahren hat, bei der davon ausgegangen wird, dass sich diese auch in Zukunft fortsetzt. Mit der Rückkehr löst sich auch das Problem der Gewalt. Daher lässt sich zusammenfassen, dass im Diskurs nicht nur die Opferperspektive eine Leerstelle darstellt, sondern von Rassismus Betroffene auch kaum als Menschen und noch weniger als zugehörig wahrnehmbar sind. Sie sind zwar der Angriffspunkt der Gewalt und müssen bei Gewalttaten verlegt werden. Eine Verantwortungsübernahme oder eine sich daraus ableitende Präventionsstrategie, die sich mit den existierenden rassistischen Ideologien in der Gesellschaft beschäftigt, entsteht daraus nicht. Die Forderungen nach Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen, die nach den Gewalttaten in Hanau formuliert wurden, sind nach den Brandanschlägen in Hoyerswerda, Hünxe und Rostock-Lichtenhagen in keiner Weise überhaupt angedacht worden. Die Stimme der Menschen, die Gewalt erfahren haben
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Ebd. Ebd. Britz, »Sie kommen mit Motorrädern und machen uns angst«. Siggi Seuss, »Die Welt der anderen.« Süddeutsche Zeitung, 03.11.1993.
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oder von Rassismus betroffen sind, hat im Diskurs keinen Platz. Nicht mal alle Namen der Menschen, gegen die sich die Gewalt in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen richtete, sind bekannt. Mai-Phuong Kollath, die zum Zeitpunkt der Anschläge in der Nähe des Sonnenblumenhauses in Rostock wohnte und sich als Schauspielerin erneut mit den Gewalttaten auseinandersetze, beschreibt ihre Erfahrung und die Folgen der Gewalt: »[Ich] sprach nach den rassistischen Ausschreitungen mit vielen Landsleuten, die im Sonnenblumenhaus eingeschlossen waren. Dabei stellte ich immer wieder fest, dass sich bei ihnen die schrecklichen Erlebnisse tief eingebrannt haben. Viele sind bis heute nicht bereit, über die Ereignisse zu sprechen. [...] Ich habe meine Rassismus-Erfahrungen damals immer unterdrückt und ignoriert. [...] Ich habe während der Proben viel geweint. [...] Aber seit dem Theaterstück fühle ich mich stärker als zuvor.«239 Es sind Menschen mit Rassismuserfahrungen, denen die Anerkennung und Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft verweigert wird und deren Auseinandersetzung und Engagement die deutsche Gesellschaft einen sich langsam verändernden Umgang mit rassistischer Gewalt verdankt. Eine Gesellschaft, die sich selbst als demokratisch und den Menschenrechten verpflichtet versteht, kann diese Verantwortung nicht allein den Betroffenen überlassen.
6.4.2 Schutzsuchende als Ursache der Gewalt: Asylmissbrauch, Dreck und Kriminalität Die Opfer der rassistischen Gewalt kommen im Diskurs kaum als Opfer vor. Stattdessen werden sie als die eigentlichen Verursacher*innen der Gewalt dargestellt. Wie sehr damit die Deutungen verdreht werden, zeigt dieses Zitat, welches den Schrecken von Rostock-Lichtenhagen auf Seiten der Asylsuchenden verortet und die Gewalt völlig ausblendet: »Die Schreckens-Visionen von Rostock-Lichtenhagen, so heißt es im Dorf, hätten die Runde gemacht: die Furcht vor campierenden Ausländern, die klauten und überall ihren Unrat hinterließen.«240 Diese Situation vor der ZAst in Rostock-Lichtenhagen ist die Folge einer Überbelegung, bei der Politik und Verwaltung bewusst keine Abhilfe schaffen. Die katastrophalen hygienischen Zustände werden jedoch nicht auf die Überbelegung zurückgeführt, sondern als essentielle Eigenschaft der Asylsuchenden gesehen. Generell wird davon ausgegangen, dass die Asylsuchenden die Gewalt hervorrufen würden, weil sie Asylmissbrauch begehen würden, sich nicht anpassten und kriminell seien. Dabei werde nicht nur ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Asylmissbrauch und der Gewalt hergestellt, sondern mangelnde Anpassung und Kriminalität werden zudem als Beweis für den Missbrauch des Asylrechts herangezogen. Die Schlussfolgerung ist, dass die Gewalt durch die Bekämpfung des Asylmissbrauchs beendet werden könne. Dabei wird durchaus relativiert, dass dies nicht auf alle Asylbewerber*innen zutreffe: 239 Mai-Phuong Kollath et al., »Fire and Forget? Deutsch-vietnamesische Perspektiven auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen.« In Ha, Asiatische Deutsche Extended (s. Anm. 692), 179. 240 Heims, »Verschanzt hinter der Mauer des Schweigens«.
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»Das sind freilich nur Einzelfälle.«241 Dennoch präge sich dieses Bild bei der Bevölkerung ein. »Solches nimmt die Bevölkerung pauschal gegen Asylbewerber und andere Ausländer ein.«242 Die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen Gewalt und Asylmissbrauch wird in einigen Zitaten deutlich, in denen die Bundesregierung und weitere Politiker sich zu den Gewalttaten äußern. »Für die Bundesregierung verurteilte Bundesinnenminister Schäuble die Ausschreitungen. ›Große Teile in der Bevölkerung sind besorgt über den massenhaften Zuzug von Asylbewerbern. Die Politiker in Bund und Ländern müssen deshalb baldmöglichst zu einem Ende der Asyldiskussion kommen und den Mißbrauch des Asylrechts beseitigen.‹«243 Dabei werden die Gewalttaten zwar verurteilt, die Ursache wird jedoch auch in der Asylzuwanderung und der Asylpolitik gesehen: »Angesichts der Ausschreitungen von Rostock sagte Gerster, er wolle nicht den Eindruck erwecken, als sei die Asylproblematik die einzige Ursache hierfür. Sie sei aber ein wesentlicher Grund. Die ungesteuerte Zuwanderung, die sich aus dem Asylrecht faktisch ergeben habe, [...] führe zu Eskalation.«244 »Die Bundesregierung verurteilte die Ausschreitungen ›mit aller Schärfe‹. Die Vorgänge seien einer zivilisierten und toleranten Gesellschaft ›unwürdig‹. Daher müsse in der Asylpolitik rasch eine Einigung der politischen Parteien gefunden werden.«245 Es sei daher nur möglich, eine zivilisierte und tolerante Gesellschaft zu erhalten, wenn das Asylrecht geändert werde und somit die Überforderung durch den Asylmissbrauch zurückgehen würde. Noch deutlicher sagte es der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber: »Zuwanderung und Asylmißbrauch hätten jedoch auch mit dazu beigetragen, daß heute ›Radikalinskis und Extremisten ihre Suppe kochen‹«246 . Der Diskurs lässt sich daher zusammenfassen: »Bei allem Abscheu, der zuvor gegen die rassistischen Angreifer geäußert wurde, deren Problemdefinition wird akzeptiert, auch darin sind sich alle einig: Die Zahl der Flüchtlinge ist das Problem, deren Kontrolle die Lösung.«247 Im Folgenden sollen die Zuschreibungen der Asylsuchenden als dreckig und kriminell näher betrachtet werden. Die erste Zuschreibung ist die der fehlenden Anpassung. Sie bezieht sich auf die Verursachung von Lärm, Schmutz und Müll sowie auf den Umgang mit dem Essen in den Unterkünften, das »aus dem Fenster geworfen«248 oder »auf den Boden des Speisesaals«249 gekippt werde. Besonders auffällig ist die immer wieder auftretende Thematisierung von Toiletten und Hygiene. Es wird von der »Verwüstung von Gärten und ihre[r] Verwandlung in Kloaken«250 berichtet, von »Menschen, ›die ganz
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Claus P. Müller, »Zwischen Empörung und Dankbarkeit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.1992. Funk, »Konsequente Abschreckung und Gespräche«. Bannas, »Politiker verurteilen Gewalttaten in Hoyerswerda«. Feldmeyer, »Die rechtsradikalen Schläger in Rostock drohen mit Unruhen bis zum 1.September«. AP/epd/Reuter, »Sachsen quartiert die Asylbewerber um.« Süddeutsche Zeitung, 24.09.1991. Matthias Rüb, »Ministerpräsident Stoiber: Der Staat ist in Gefahr.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.1993. Räthzel, Gegenbilder, 214 Hervorhebung im Original. Stephan Lebert, »Die schlimme Botschaft vom Sündenbock.« Süddeutsche Zeitung, 13.04.1992. Müller, »Zwischen Empörung und Dankbarkeit«. Feldmeyer, »Die rechtsradikalen Schläger in Rostock drohen mit Unruhen bis zum 1.September«.
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anders sind als wir‹, die keine Toiletten mit Wasserspülung kennen und keinen geordneten Umgang mit Abfall«251 . Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl in München führt den Journalisten persönlich in ein Asylheim, um sich die »Katastrophe vor Ort« anzuschauen: »Zwei Treppen höher stinkt es fürchterlich aus einer Toilette. Uhl geht hinein, steht vor der fast überlaufenden Kloschüssel und sagt: ›Man muß das sehen, um zu begreifen, wie schlimm die Lage ist. Einige meiner Leute haben sich schon übergeben, wenn sie hier arbeiten müssen.‹«252 Die ganze Asylaufnahme wird also mit einer verstopften Toilette gleichgesetzt. Die mangelnde Hygiene und die Unsauberkeit werden als grundsätzliche Eigenschaft der Asylsuchenden und in Abgrenzung zu deutschen Hygienevorstellungen dargestellt. Dass dies etwas damit zu tun haben mag, dass viele Menschen sich wenige sanitäre Anlagen teilen oder diese gar nicht zur Verfügung stehen, wird nicht in Erwägung gezogen. Stattdessen wird konstatiert: »Die haben eine andere Lebensart«253 . Neben der Differenz wird die fehlende Bereitschaft hervorgehoben, sich anzupassen: »Doch auch die Kioskinhaberin vermißt bei den Neuankömmlingen die Anpassungsbereitschaft. ›Wir haben uns im Ausland doch auch anders bewegt. Wir sind doch auch nur mit Reiseleitung nach Ungarn gefahren‹«254 . An dieser Stelle werden Flucht und Unterbringung in einer Asylunterkunft mit einer touristischen Reise nach Ungarn verglichen. Es zeigt, wie wenig Einfühlung in die Lebenssituation der Ankommenden stattfindet. Als Schlussfolgerung aus der fehlenden Anpassung wird gezogen, dass bei einem »derartig provokativem Mißbrauch des Gastrechts«255 eine sofortige Ausweisung erfolgen müsse. In der Berichterstattung über die Kriminalität der Asylsuchenden findet sich eine ganze Bandbreite an Delikten, von Diebstahl von Obst oder Hühnern aus den Gärten256 , über Einbruch257 , Vermögensdelikte, »Prostitution, Glücksspiel«258 bis hin zur »Vergewaltigung«259 . Besonders im Fokus stehen Autos, sei es, dass sie gestohlen wurden, keine offizielle Zulassung hätten260 oder von staatlicher Unterstützung bzw. »Taschengeld«261 finanziert würden. Das Auto wird im Diskurs zu einem Kollektivsymbol für Wohlstand, welcher nur den deutschen Steuerzahler*innen rechtmäßig zustünde: »Autos haben sie alle, aber Steuern brauchen sie keine zu zahlen«262 . Besonders auffallend sind die negativen Zuschreibungen gegenüber denjenigen, die als Rumänen oder Sinti und Roma bezeichnet werden. Im Diskurs wird besonders die Kriminalität betont: »Die hohe Kriminalität unter Ausländern und Asylbewerbern ist be-
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Bolesch, »Mühsam gebändigte Angst vor rätselhaften Wellen«. Lebert, »Die schlimme Botschaft vom Sündenbock«. Bolesch, »Mühsam gebändigte Angst vor rätselhaften Wellen«. Ebd. Feldmeyer, »Die rechtsradikalen Schläger in Rostock drohen mit Unruhen bis zum 1.September«. Müller, »In kleinen Gemeinden gibt es Verständnis für die Asylbewerber«. Ebd. Müller, »Zwischen Empörung und Dankbarkeit«. Funk, »Konsequente Abschreckung und Gespräche«. Müller, »In kleinen Gemeinden gibt es Verständnis für die Asylbewerber«. Müller, »Zwischen Empörung und Dankbarkeit«. Christian Marquart, »Zigeunerhaß.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.1992.
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kannt. Dabei stehen die Rumänen mit Abstand an der Spitze.«263 Mit Rumänen wird der rassistische Begriff des Z. vermieden, dennoch ist für alle völlig klar, dass damit Rom*nja und Sinti*ze gemeint sind: »Keiner spricht in Eisenhüttenstadt von Zigeunern. Auch jene Halbwüchsigen [...] geben sich sprachlich korrekt. Es seien Rumänen, die hier raus müßten. [...] Man habe nicht so viel gegen Ausländer oder gegen Flüchtlinge aus dem Balkankrieg. Aber die Sinti und Roma – das seien Scheinasylanten. Dreckig seien sie und unverschämt, klauen und betteln würden sie, und das alles trotz bester Unterstützung durch den Staat. Jeder hier in Eisenhüttenstadt kennt genaue Zahlen, eine ist höher als die andere. ›820 Mark bar auf die Kralle und freie Verpflegung‹, sagt einer. ›Und was kriegen wir?‹ [...] Immerhin: man spricht über Rumänen, nicht über Zigeuner.«264 In diesem Zitat finden sich verschiedenste rassistische Zuschreibungen gegen Rom*nja und Sinti*ze. Dabei wird suggeriert, dass es völlig legitim ist, solche Zuschreibungen zu machen, so lange nicht der rassistische Begriff verwendet wird. Gleichzeitig lautet der Titel des Artikels »Zigeunerhaß« und kehrt die Forderung der sprachlichen Korrektheit ins Lächerliche. Die bereits vorhandenen rassistischen Zuschreibungen gegen Rom*nja und Sinti*ze wurden nun mit ankommenden Asylsuchenden aus Rumänien und der Vorstellung des Asylmissbrauchs verknüpft. Im Jahr 1993 erscheint in beiden Zeitungen jeweils ein Artikel mit ausführlicheren Informationen zur Geschichte der Sinti*ze und Rom*nja von »Verfolgung, Versklavung, Vertreibung und Flucht«265 in Europa und ihrer langen Anwesenheit in Deutschland. Es wird hervorgehoben, dass sie nicht nur als Asylsuchende neu zuwandern, sondern schon lange Teil der deutschen Gesellschaft sind. Dabei wird auch auf die Rassismuserfahrungen verwiesen, denen sie bis heute ausgesetzt sind. Sie werden beschrieben als eine Gruppe, die »seit Generationen in einem Land zuhause ist, in dem sie den alten Vorurteilen nicht entkommt«266 : »Die Leute denken an den Zigeuner, der die Wäsche stiehlt, und das ist es dann. Ich glaube manchmal, da hat sich in den letzten fünfzig Jahren gar nichts geändert.«267 Der interviewte Herr Weiss benennt Rassismuserfahrungen auf vielen Ebenen, die ihn auch gegenüber dem Journalisten vorsichtig machen würden: Er »möchte gar nichts über die eigenen Sitten und Gebräuche erzählen, ›weil die Geschichten immer umgedreht und gegen uns verwendet werden.‹«268 Im anderen Artikel wird die leise Hoffnung benannt, dass sich etwas ändern werde. Diese Aufgabe wird jedoch den Betroffenen zugeschoben: »Doch in ganz Europa wird man künftig mit den Problemen und Forderungen der Sinti und Roma rechnen müssen. Sie melden sich als benachteiligte Minderheit zu Wort und appellieren an das demokratische Selbstverständnis der Europäer.«269
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Libbert, »Wie auseinanderwächst, was zusammengehört«. Marquart, »Zigeunerhaß«. Stephan Lebert, »Die zwei Welten des Herrn Weiss.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1993. Ebd. Ebd. Ebd. Franz Heinz, »Aus Nachbarn wurden Fremde.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.1993.
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Des Weiteren wird in der SZ über den Protest der Roma in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers (KZ) Dachau 1993 berichtet, wo fünfzig Jahre zuvor auch Rom*nja und Sinti*ze getötet wurden.270 Bereits 1980 hatte es einen Hungerstreik von deutschen Sinti*ze auf dem Gelände gegeben, die die Anerkennung des Völkermords im Nationalsozialismus (NS) und die Herausgabe der NS-Akten forderten.271 1993 mussten die Demonstrant*innen jedoch die evangelische Versöhnungskirche räumen. Sie waren mehrere Monate in Süddeutschland unterwegs, bis sie weiter nach Genf zogen, um dort ein Bleiberecht zu erwirken.272 Es gibt weder wissenschaftliche Untersuchungen noch umfangreichere Dokumentationen dazu.
6.4.3 Gewalttäter*innen als Andere Die Berichterstattung über die Täter*innen273 erfolgt anhand von einigen wenigen Deutungsmustern, die zwar an manchen Stellen auch relativiert werden, dennoch die untersuchten Artikel dominieren. Da der Diskurs überwiegend dazu dient, die Täter*innen als Andere darzustellen, die das Problem haben und damit eine Anerkennung als gesamtgesellschaftliches Problem fast durchgehend vermieden wird, wurde die Analyse unter das Kapitel über das Andere eingeordnet. Dennoch bleibt es ambivalent hinsichtlich der Zugehörigkeit, weil durchaus eine Verantwortlichkeit, jedoch keine Mitverantwortung formuliert wird. Die Deutungsmuster über die Täter*innen sind gekennzeichnet durch eine Problemverschiebung nach Ostdeutschland und eine Problemrelativierung der Gewalt als Jugendphänomen sowie durch die soziale Herkunft. Die Ursachen werden damit in der Transformation Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung und in sozialen Problemen der Jugendlichen gesehen, eine Auseinandersetzung mit rassistischen Ideologien und rechtsextremen Organisationen hingegen findet nicht statt. Stattdessen wird hervorgehoben, dass die rassistische Gewalt kein Ausdruck einer gefestigten politischen Haltung sei. Die Berichterstattung ist somit geprägt von Empathie und Verständnis, bis hin zu einer Anerkennung, dass die Täter*innen das vollziehen, was viele denken. Obwohl sie die Täter*innen der Gewalt sind, werden sie als Opfer konstruiert. Dass die Täter*innen vor allem als Jugendliche wahrgenommen werden, machen bereits die genutzten Begrifflichkeiten deutlich. Obwohl auch als »Skinheads«274 oder »Rechtsradikale«275 bezeichnet, dominieren Begriffe wie »ausländerfeindliche Jugend270 Birgit Lotze, »Die Roma wohnen jetzt in Zelten.« Süddeutsche Zeitung, 04.06.1993; Dietrich Mittler, »250 Roma verlassen die KZ-Gedenkstätte.« Süddeutsche Zeitung, 08.07.1993; Claudia Wessel, »Protestmarsch gegen Abschiebung.« Süddeutsche Zeitung, 05.08.1993. 271 Marius Lüdicke, »40. Jahrestag des Hungerstreiks von 12 deutschen Sinti in Dachau.« Pressemitteilung, 03.04.2020, https://zentralrat.sintiundroma.de/40-jahrestag-des-hungerstreiks-von-12deutschen-sinti-in-dachau/. 272 Agnes Andrae, »›Wir bleiben hier – alle!‹.« Heft der Flüchtlingsräte, Nr. 1 (2010). 273 Laut Neubacher, der 104 Urteile mit insgesamt 295 Angeklagten untersuchte, waren die verurteilen Täter*innen ausnahmslos männlich, dennoch gab es auch weibliche Mittäterinnen. Hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft waren sie sehr divers, überwiegend Schüler*innen und Auszubildende, die zuvor noch nie strafrechtlich erfasst worden waren. Neubacher, Fremdenfeindliche Brandanschläge, 379–80. 274 o. A., »Weizsäcker spricht sich gegen Änderung des Asylrechts aus«. 275 AFP/dpd/AP/Reuter, »Welle der Gewalt gegen Flüchtlingsheime.« Süddeutsche Zeitung, 31.08.1992.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
liche«276 , »junge Leute«277 , »junge Männer«278 , »gewalttätige[n] Chaoten«279 , »Störer«, »jugendliche Gewalttäter«280 , »Heranwachsende«, »Burschen«, »Clique«281 , »Randalierer«282 . Das Jugendlich-Sein der Täter*innen wird statt der gewalttätigen Handlung in den Vordergrund gestellt. Die Handlung selbst wird als Randale, »Krawalle«283 , »Jugendrevolte«284 , Störung oder Chaos verursachend verharmlost und die Opfer der Gewalt sowie die dahinterstehende rassistische Ideologie unsichtbar gemacht. Die Konstruktion der ostdeutschen (auch hier meist jugendlichen) Täter*innen bezieht sich zum einen auf die Sozialisation in der DDR, zum anderen auf soziale Probleme der aktuellen Lebenssituation. In Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen wurden nach den Anschlägen Fallstudien und Ursachenforschung vor Ort betrieben. Aus Sicht der westdeutschen Medien bedeutet die Sozialisation in der DDR eine fehlende Erfahrung mit herkunftsbezogener Diversität. Dies wird auf den sehr geringen Ausländeranteil und auf die Segregation der anwesenden Zuwanderer*innen zurückgeführt: »Wegen der jahrzehntelangen Abschottung der DDR nach außen und der Isolierung der Ausländer im Inneren hat auch nicht ansatzweise eine multikulturelle Gesellschaft entstehen können.«285 Dass sich die Bundesrepublik auch nicht als multikulturelle Gesellschaft bzw. Einwanderungsland begreift, wird dabei übersehen. Aber auch ein ostdeutscher Lehrer sieht eine Ursache in der Bildung der DDR: »Diese Jugend kommt aus den sozialistischen Schulen der Margot Honecker. Dort wurde Ideologie gepaukt; Selbstständigkeit, eigenständiges Denken waren keine Erziehungsziele.«286 Stärker jedoch dominiert die Deutung, dass viele Menschen »die Zeit nach der Wende nicht als Befreiung oder gar als Aufbruch, sondern immer mehr als eine weitere Stufe der Demütigung«287 erfuhren. Es sind dabei vor allem wirtschaftliche Probleme, wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, die dabei genannt werden, aber auch die Angst vor sozialem Abstieg. Die zugewiesenen Asylsuchenden würden dabei als Konkurrenz wahrgenommen, die von staatlicher Seite jedoch stärker gefördert und geschützt würden. »Und dann, so der Tenor der Empörung, quartiert man dort auch noch wildfremde Kostgänger ein, die dazu noch Taschengeld vom Staat bekommen. Die Krawalle in Hoyerswerda sind wie ein Brennglas der drängenden Probleme in den neuen Bundesländern«288 : »Die Flüchtlinge würden den Ost276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288
AP/epd/Reuter, »Sachsen quartiert die Asylbewerber um«. dpa, »Kinder bei Brandanschlag schwer verletzt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.1991. o. A., »Weizsäcker spricht sich gegen Änderung des Asylrechts aus«. Köcher, »Die Einstellung zur Gewalt ändert sich«. Johannes Leithäuser, »Polizei und Feuerwehr zeitweise desorientiert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.1992. Albert Schäffer, »Öde im Kopf, Lust an Gewalt und den Brandsatz in der Hand.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.1992. Hinze, »›Wir sind in der Gefahr überzulaufen‹«. Johann M. Möller, »In WK 8 und WK 9 war selten nur die Polizei zu sehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.09.1991. Schäffer, »Öde im Kopf, Lust an Gewalt und den Brandsatz in der Hand«. Albrecht Hinze, »Noch umgeben Wachttürme drohend das Flüchtlingslager.« Süddeutsche Zeitung, 18.04.1991. Libbert, »Wie auseinanderwächst, was zusammengehört«. Möller, »In WK 8 und WK 9 war selten nur die Polizei zu sehen«. Ebd.
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deutschen Wohnraum und Arbeit wegnehmen, hieß es.«289 Die Ursache der Gewalt wird in einem Kampf um Ressourcen und einem Gefühl der Benachteiligung gesehen. Folgende zwei Zitate zeigen, wie sehr auf psychosoziale Probleme verwiesen wird und Gewalttaten damit legitimiert werden, dass die Täter*innen lediglich Zugehörigkeit, Anerkennung und Orientierung suchen: »Sein Bewährungshelfer [...] sagt, Matthias sei von seiner Geschichte ein typischer Jugendlicher in Lichtenhagen. Die Mutter ist Alkoholikerin, der arbeitslose Stiefvater kann ihn nicht leiden, will, daß er verschwindet.«290 »Das sind viele gescheiterte, kaputte Menschen mit Heimkarrieren. Ihnen spuken irgendwelche rechten Ideen im Kopf, aber nur ganz wenige sind ideologische Hardliner. Sie sind arbeitslos, haben keine Selbstachtung.«291 Hier werden auch soziale Herkunft und klassistische Zuschreibungen genutzt, um die Täter*innen als Andere zu verorten. Neben den emotionalisierenden Darstellungen findet sich jedoch in anderen Artikeln auch öfter der kurze, meist etwas sachlichere Hinweis, dass die Gewalttaten ein Problem in beiden Teilen Deutschlands darstellen: »Damit liegt die Quote der ›ausländerbezogenen‹ Brandanschläge in den neuen Ländern, bezogen auf die Einwohnerzahlen, nur wenig höher als die in den alten Ländern.«292 Und es wird kritisiert, die Gewalt nur auf Ostdeutschland zu reduzieren: »Jetzt wird die Rostocker Gewalt zum Anlaß genommen, die Kluft zwischen Ost und West zu vertiefen.«293 »Es sind dieselben Menschen in Ost und West: mit ihrem Fleiß und ihrer Tüchtigkeit, mit Ungenügsamkeit und Anspruchsdenken, Besitzegoismus und Sozialneid, mit ihrer Überheblichkeit und Besserwisserei, mit Radikalismus, Fremdenfeindlichkeit und – welcher Widerspruch – unterentwickeltem Nationalgefühl.«294 Dies knüpft erneut an die Auseinandersetzung um deutschen Selbsthass an. Bei Anschlägen in Westdeutschland kann zwar nicht auf die Sozialisation in der DDR verwiesen werden, die Gewalt wird jedoch weiterhin als ein soziales Problem und als Ausdruck einer jugendlichen Phase gesehen. »Vieles spricht für die Annahme, daß es sich bei Ausschreitungen gegen Ausländer um ein besonderes soziales Problem handelt: Orientierungslosigkeit von arbeitslosen Jugendlichen, unbestimmte Neidgefühle und das Empfinden, in der eigenen Identität gestört zu werden.«295 Vorherrschend ist eine Relativierung des politischen Aspekts der Gewalttaten: »Ein Ziel sei, den harten Kern der rechten Szene von den ›eigentlich unpolitischen und eher zu spontanen Aktionen neigenden Mitläufern‹ zu trennen. [...] Man wolle die Jugendlichen nicht kriminalisieren.«296 Sie seien »keine rechtsradikalen politischen Gewalttäter«297 und »weder
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AP/dpa, »Serie von Anschlägen auf Ausländerheime«. Lebert, »Die Last der schrecklichen Augustnächte«. Lebert, »Die Last der schrecklichen Augustnächte«. Fromme, »Nicht immer ist es Rechtsextremismus«. Libbert, »Wie auseinanderwächst, was zusammengehört«. Ebd. Fromme, »Nicht immer ist es Rechtsextremismus«. Funk, »Konsequente Abschreckung und Gespräche«. Müller-Gerbes, »›Den Willen der Bevölkerung vollziehen‹«.
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verrohte, noch politisch fanatisierte Verbrecher, sondern unreife junge Männer«298 . Durch Gespräche könne erreicht werden, »daß die Jugendlichen ›Frust abbauen‹ könnten, daß sie ihre Vorschläge vorbringen könnten, daß sie ein Gefühl bekämen, ernst genommen zu werden.«299 In den Lösungsvorschlägen wird auch eine Hilflosigkeit im Umgang mit den gewaltbereiten Jugendlichen deutlich. Auch vor Gericht steht das Jugendlich-Sein der Täter im Vordergrund und wirkt sich auf das Strafmaß aus: »Die Vorsitzende der Jugendkammer hob hervor, daß auch in ›bewegten Zeiten‹ das Jugendstrafrecht, [...] nicht dazu dienen dürfe, ›drastische Exempel‹ zu statuieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfe bei der Verurteilung von Jugendlichen der Gedanke der Abschreckung keine Rolle spielen. Der Vorsitzende verwies darauf, daß den Angeklagten ermöglicht werden müsse, ihren Weg zurück in die zivilisierte Gemeinschaft zu finden.«300 Das Verständnis für die Gewalt steht auch in der Verurteilung im Vordergrund. Die Bagatellisierung wird auch in folgendem Zitat deutlich: »Zu ihren Gunsten wurde auch gewertet, daß sie nach der Tat das Gespräch mit den Asylbewerbern gesucht und sich bei ihnen entschuldigt haben«301 . An verschiedenen Stellen scheint durch, dass die Täter*innen durchaus auch als Held*innen wahrgenommen werden. Dies wird zwar von den Autor*innen nicht so gesehen, aber verschiedene Aussagen dazu werden zitiert. Ein Bürger aus Hoyerswerda bestätigt seine Sympathie für die Skinheads: »Sie sind für ihn fast so eine Art Robin Hood, die den Ängsten der Anwohner endlich Nachdruck verleihen.«302 »Und plötzlich konnten sie den Helden spielen, sich das trauen, was alle anderen auch wollten, aber zu feige dazu waren.«303 Selbst vor Gericht wird dies in der Urteilsfindung berücksichtigt: »Richter Dehne sagte dazu, die Angeklagten hätten sich zu ihrer menschenverachtenden Tat sicher auch in dem Bewußtsein bereit gefunden, ›den Willen eines nicht kleinen Teils der Bevölkerung zu vollziehen‹.«304 Lediglich an einer Stelle in der SZ wird die vorherrschende Haltung zu Opfern und Täter*innen kritisiert. Eberhard Richter fordert in einem Gastkommentar die Empathie mit den Opfern und die Anerkennung, dass die Täter*innen ein Teil der deutschen Gesellschaft seien: »Wir haben zu trauern. Das heißt, uns einzufühlen in die Opfer, heißt aber auch, uns die schmerzliche Erkenntnis zuzumuten, daß wir alle damit zu tun haben, was die Täter in Solingen und Mölln angerichtet haben. Die gewalttätigen Skins, die unser Land unsicher machen, sind ein Teil unserer Gesellschaft, für den wir insgesamt mitverantwortlich sind.«305
298 Albert Schäffer, »Jugendstrafen für Attentäter von Hagen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1992. 299 Funk, »Konsequente Abschreckung und Gespräche«. 300 Schäffer, »Jugendstrafen für Attentäter von Hagen«. 301 Ebd. 302 Möller, »In WK 8 und WK 9 war selten nur die Polizei zu sehen«. 303 Lebert, »Die Last der schrecklichen Augustnächte«. 304 Müller-Gerbes, »›Den Willen der Bevölkerung vollziehen‹«. 305 Richter, »Mut zur Scham«.
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6.4.4 Verschiebung von Zugehörigkeiten: »Deutsche Ausländer« Die Grenzlinien der Zugehörigkeit werden während der Auseinandersetzung um die rassistische Gewalt neu verhandelt. Da die Asylsuchenden als vermeintlich ganz Andere dazukommen, werden die Menschen mit Migrationserfahrung in Deutschland als weniger fremd und stärker zugehörig wahrgenommen. Dies wäre nochmal vertiefter anhand der Berichterstattung von Mölln und Solingen zu untersuchen, weil in diesen beiden Fällen die Opfer schon länger in Deutschland lebten. Die Betroffenen der rassistischen Gewalt werden im Diskurs als »Asylanten und Ausländer«306 , »Schein-Asylanten«307 , »Ausländer und Aussiedler«308 oder als »Gemengelage aus Flüchtlingen, Asylanten und Aussiedlern«309 beschrieben. Dies zeigt, dass sich langsam ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es unterschiedliche Zuwanderungsgruppen in Deutschland gibt. Dies geht jedoch oft auch mit einer Hierarchisierung und Bewertung einher. Man muss daher nicht nur »zwischen richtigen Asylbewerbern und ›Scheinasylanten‹ unterscheiden«310 . »Wir haben kein Ausländerproblem, wir haben ein Asylantenproblem.«311 »Doch während die Bevölkerung den farbigen Gastarbeitern noch immer ein gewisses Verständnis entgegenbringt, haben die Asylbewerber [...] das Faß offenbar zum Überlaufen gebracht.«312 »Bei Mitgliedern anderer Kulturkreise falle die Integration schwerer als bei den deutschstämmigen Aussiedlern.«313 Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Asylzuwanderung »mit dem Zuzug von Aussiedlern zusammentrifft und der Bevölkerung noch der Schrecken über den dramatischen Anstieg der Übersiedlungszahlen im ersten Halbjahr 1990 [...] in den Knochen sitzt.«314 Die Bewertungen sind somit auch nicht einheitlich und werden je nach Kontext unterschiedlich vorgenommen. Um eine längere Anwesenheit in Deutschland zu beschreiben, werden neue Begrifflichkeiten wie etablierte Ausländer 315 , »deutsche Ausländer«316 oder »Solinger Türken«317 entwickelt, um diese von den Neuankömmlingen abzugrenzen. »Für diejenigen unter ihnen, die integriert sind, kann man den Begriff ›deutsche Ausländer‹ verwenden. Deutsche Ausländer sind also Menschen, die dieses Land als ihre Wahlheimat lieben, zu seinem Wohl durch Arbeitsleistungen beitragen und sich zu seiner Demokratie bekennen.«318 Die Widersprüchlichkeit der Begriffskonstruktion deutsch und ausländisch wird dabei nicht thematisiert. Um eine Form von Zugehörigkeit zu erreichen, sind
306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318
Köcher, »Besorgnis, nicht Radikalisierung«. Schäffer, »Öde im Kopf, Lust an Gewalt und den Brandsatz in der Hand«. o. A., »Wieder Übergriffe gegen Ausländer und Aussiedler«. mü., »EG über Flüchtlingsproblem uneins.« Süddeutsche Zeitung, 14.09.1992. Uttich, »Noch können die Leute gut und schlecht unterscheiden«. Leyenberg, »Sportliche Gala gegen Fremdenhaß mit Herz, aber ohne Hand und Fuß«. Möller, »In WK 8 und WK 9 war selten nur die Polizei zu sehen«. o. A., »Weizsäcker spricht sich gegen Änderung des Asylrechts aus«. Köcher, »Besorgnis, nicht Radikalisierung«. Seuss, »Die Welt der anderen«. Tibi, »Falsche Parallele«. Schümer, »Sturz aus der Normalität«. Tibi, »Falsche Parallele«.
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
demnach Integration, Erwerbstätigkeit und Bekenntnis zur Demokratie entscheidend. Doch selbst dies genügt nicht, um ganz Deutsch zu werden und dazuzugehören, die Menschen bleiben Ausländer. Die Bedeutung von Erwerbstätigkeit und Steuerzahlungen wird auch im folgenden Beispiel deutlich: »Und selbst die Tatsache, daß allein die Türken bis jetzt 450 Millionen Mark als ›Solidaritätszuschlag‹ berappen, läßt die Solidarität der ›Eingeborenen‹ mit den Fremden ganz offensichtlich nicht wachsen.«319 Ein Begriff, der bereits in den 1980er Jahren geprägt wird und auch hier auftaucht, ist »ausländische Mitbürger«, der eine ähnliche Abstufung von Zugehörigkeit beinhaltet. Die »ausländischen Mitbürger« werden nicht zuletzt als Rechtfertigung genutzt, das Grundgesetz zu ändern. Ein wirkliches Interesse an ihnen besteht jedoch nicht. »Auch im Interesse der ausländischen Mitbürger müsse der Streit jetzt beendet werden, ›damit wir ein ausländerfreundliches Land bleiben‹ können«320 . Dahinter steht die Logik, dass die Gesellschaft nur eine bestimmte Anzahl von Ausländern vertragen könne. Wenn sich einzelne Ausländer schlecht benehmen, wirke sich dies auf alle aus. Nach Mölln und Solingen entwickelt sich sowohl in Politik als auch in der Zivilgesellschaft die Idee, dass die deutsche Staatsbürgerschaft ein klares Zeichen der Zugehörigkeit und gegen die Gewalt setzen könne. Dabei wird plötzlich sagbar, dass die »ausländischen Mitbürger [...] längst ›ein fester Teil unserer Gesellschaft‹« seien. »Es gehe darum, mit den Ausländern ›ein gemeinsames Staatsvolk zu formen‹. [...] [Die] doppelte Staatsbürgerschaft wäre [...] ein Zeichen für die ausländischen Mitbürger, ›daß sie sich auf diesen Staat verlassen können‹.«321 Eine zivilgesellschaftliche Initiative organisiert eine Unterschriftenaktion für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. In ihrer Erklärung heißt es: »Solingen läßt kein weiteres Abwarten zu. Den Rassisten und Gewalttätern muß unmißverständlich klar gemacht werden, daß die Einwanderer zu uns gehören. Ein deutliches Zeichen der Gleichberechtigung muß der Ausgrenzung entgegengesetzt werden«322 . Hier wird ein Bewusstsein dafür deutlich, dass auch die verweigerte Zugehörigkeit zu Rassismus beitrage und der Staat sich hier klarer positionieren könne. Die »Solinger Türken« fordern weitere politische Maßnahmen, »damit aus dem Nebeneinander echte Integration werden kann: kommunales Wahlrecht, doppelte Staatsbürgerschaft, Lehrpläne für gegenseitiges Verständnis in den Schulen.«323 Es entwickelt sich ganz vorsichtig ein Bewusstsein dafür, dass über die Fragen von Zugehörigkeit neu oder anders nachgedacht werden müsse. Es dauert jedoch noch bis 1999, bis eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts – mit großen gesellschaftlichen Konflikten – realisiert werden konnte (siehe Kapitel 10).
319 Dehn, »›Auf Stufen und Kanten sitzen Asylanten‹«. 320 Wenz, »Apelle an die Vernunft beim Asylrecht«. 321 Bernd Heptner, »Eichel: Mit den Ausländern ein gemeinsames Staatsvolk formen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.1993. 322 Ralf-Georg Reuth, »Der Ruf nach einer doppelten Staatsbürgerschaft wird lauter.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.1993. 323 Schümer, »Sturz aus der Normalität«.
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6.5 Fazit Das vorherrschende Deutungsmuster, welches sich zu Beginn der rassistischen Gewalttaten in Deutschland entwickelt und an jenes des Misstrauens anschließt, ist gekennzeichnet durch eine Täter*innen-Opfer-Umkehr. Die Ereignisse und die sich daran anschließende Debatte können als ein Tiefpunkt hinsichtlich der Bereitschaft gesehen werden, sich mit Ursachen und Verbreitung von rassistischen Denkmustern, Strukturen und Praktiken in der deutschen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Stattdessen werden im Diskurs die Opfer als eigentliche Verursacher*innen der Gewalt dargestellt, während den Täter*innen als Opfer der Verhältnisse viel Empathie entgegengebracht wird. Das Deutungsmuster etablierte sich nach den Gewalttaten in Hoyerswerda und bleibt für eineinhalb Jahre kaum veränderbar. Das Sagbarkeitsfeld ist diesbezüglich massiv eingeschränkt und bildet sich in beiden Zeitungen ähnlich ab. Die Erfahrungen der Opfer bleiben in 126 von 129 Artikeln unsichtbar, sie haben im Diskurs keine Stimme. In ähnlicher Weise gibt es keine politische Verantwortungsübernahme für die Betroffenen, sie werden nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Die Betroffenen der Gewalt werden stattdessen im Diskurs als Asylanten konstruiert und mit rassistischen Zuschreibungen verknüpft. Auch die Reaktualisierung des Gadjé-Rassismus taucht in diesem Zusammenhang auf. Die Abwertungen, die bis zum Absprechen ihres Menschseins gehen, führen zu einer verhinderten Einfühlung und größtmöglichen Distanz zu den Opfern. Dabei richtet sich die Gewalt gegen Menschen, die in ihren Heimatländern schon Opfer von Gewalt wurden und denen die Bundesrepublik mit ihrem Asylrecht Schutz vor Gewalt und Verfolgung verspricht. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen von Gewalt- und Rassismuserfahrungen jenseits von physischer Verletzbarkeit nicht berücksichtigt werden, wenn betont wird: »Es wurde niemand verletzt«. Die Gewalttaten waren für viele People of Color ein grundlegender Einschnitt, verbunden mit dem Gefühl, dass sie sich in Deutschland weder sicher noch zugehörig fühlen können. Wesentlicher Bestandteil des Deutungsmusters ist die Vorstellung, dass die rassistische Gewalt durch die Anwesenheit, die vermeintliche Fremdheit und die fehlende Anpassung von Asylanten hervorgerufen wird. Die Gewalt wird als eine natürliche Reaktion gedeutet, die als Ausländerfeindlichkeit verständlich und nachvollziehbar erscheint. Rassismus als die Ursache der Gewalt und als ein gesellschaftliches Problem ist nicht sagbar. Daher ist es auch nicht möglich, rassistische Ideologien der Ungleichwertigkeit zu thematisieren. Die Bekämpfung der Gewalt setzt daher nicht daran an, die Gesellschaft zu verändern, sondern die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren. Des Weiteren wird das Problem externalisiert und die Täter*innen mit den Zuschreibungen ostdeutsch, jugendlich und mit sozialen Problemen als Andere konstruiert. Für die Täter*innen und ihren weiteren Lebensweg wird eine Verantwortung übernommen. Gleichzeitig wird die Senkung der Zuwanderungszahlen als der Wille der Bevölkerung beschrieben. Je nach Demokratieverständnis erfordern der vermeintliche Wille der Bevölkerung und Gewalt als eine politische Ausdrucksmöglichkeit eine andere Reaktion der Politik. Obwohl damit scheinbar Ursache, Schuld und Verantwortung verteilt wurden, brodelt es unter der Oberfläche. Die Gewalttaten erfordern eine erneute Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis und bringen das positive, postnationalsozialistische Selbstbild ins Wanken. Dennoch ist Selbstkritik an der eigenen
6. Das ausländerfreundliche Eigene und die rassistische Gewalt
Gesellschaft schwierig und die Entwicklung eines positiven Selbstbildes jenseits von deutschem Selbsthass kaum möglich. Vorstellungen von einer offenen oder vielfältigen Gesellschaft oder anderen Konzepten von Zugehörigkeit sind nicht vorhanden. Stattdessen dominieren essentialistische Vorstellungen von Deutschsein, die den Deutschen homogenisierend und teilweise auch biologisierend bestimmte Eigenschaften zuschreiben. Die Debatte um deutschen Selbsthass zeigt, wie Migration als Metanarrativ die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis hervorruft und herausfordert. Die Entwicklung eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts war zudem Zeitpunkt noch nicht realisierbar, es ist jedoch ein beginnendes Bewusstsein dafür sichtbar, was Wortschöpfungen wie deutsche Ausländer zeigen. Ende 1992 verändert sich der Diskurs, die Gewalt wird stärker verurteilt und die Zivilgesellschaft positioniert sich mit Lichterketten klarer auf der Seite der Opfer. Der Anschlag in Mölln wird als möglicher Auslöser gesehen. Die Grundgesetzänderung ist jedoch nicht mehr zu stoppen. Das herausgearbeitete Deutungsmuster zur Ursache der rassistischen Gewalt liefert die Rechtfertigung und Notwendigkeit, das Asylgrundrecht einzuschränken. Der Diskurs über die Änderung des Asylgrundrechts wird im nächsten Kapitel genauer betrachtet.
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7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation
Im Jahr 1993 wurde der Artikel 16 GG, in dem die Asylgewährung verfassungsrechtlich verankert ist, geändert und eingeschränkt. Die Änderung des Asylgrundrechts war der Abschluss einer mehr als fünfzehn Jahre andauernden politischen und öffentlichen Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Asylgewährung. Im gleichen Zeitraum stiegen nicht nur die Asylantragszahlen von einem ersten Höhepunkt 1980 auf 100.000 bis 400.000 im Jahr 1992, sondern auch die Fluchtmotive und Herkunftsländer änderten sich.1 Neben dem sich verändernden Wanderungsgeschehen sind auch der Kontext des Anwerbestopps, die Weigerung, sich als Einwanderungsland zu verstehen und auch die großen politischen Veränderungen in Deutschland und Europa zu berücksichtigen. Ende der 1970er Jahre entwickelte sich ein neues Deutungsmuster des Misstrauens, in dem Schutzsuchende als Täter*innen und Bedrohung konstruiert wurden (siehe Kapitel 3). Dies stellte die vorherrschenden Deutungen auf den Kopf, welche das vergleichsweise großzügige Asylrecht als Teil des eigenen Selbstverständnisses verortete, das aus der Erfahrung und Verantwortung aus dem Nationalsozialismus resultiere. Die Anwesenheit von geflüchteten Menschen wurde zudem als Ursache gesehen, dass die rassistische Gewalt in Deutschland Anfang der 1990er Jahre massiv zunahm (siehe Kapitel 6). Asylpolitik wurde von einem Expert*innenthema zum zentralen Gegenstand medialer, gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen und dominierte sowohl die Innenpolitik als auch Wahlentscheidungen auf Bund- und Länderebene.2 Innerhalb dieses Zeitraums (1977–1992) gab es 17 Asylrechtsänderungen, was verdeutlicht, wie kontinuierlich um das Thema gerungen wurde.3 Die Asylgewährung wurde Anfang der 1990er zum drängendsten Thema der deutschen Innenpolitik und wurde jenseits von
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Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, »Aktuelle Zahlen. Asylgeschäftsstatistik Ausgabe Dezember 2021,« 5. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 78; Im Bundestag gab es von 1958 – 1972 lediglich 35 Debatten, die sich mit Asyl beschäftigten. Allein 1980 gab es 40 Debatten. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 32. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 120.
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Migrationspolitik zur »Überlebensfrage der Nation«4 und als Bedrohung der Demokratie und des inneren Friedens wahrgenommen. Der Diskurs war geprägt von einer starken Emotionalisierung, gegenseitigen Schuldzuweisungen und einer zunehmenden Verengung des Sagbarkeitsfeldes, wodurch eine Änderung immer stärker alternativlos erschien. Das Deutungsmuster des Misstrauens entwickelte dabei seine ganze Schlagkraft. Die Wechselwirkungen zwischen Diskurs und der Asylrechtsänderung sind bis heute kaum untersucht.5 Der Beginn der 1990er Jahre ist von vielen Umbrüchen, Veränderungen und Neuorientierungen geprägt, die das Eigene in einen völlig neuen Kontext stellten. Durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs veränderte sich die klare Einteilung der Welt in Freund und Feind. Der beginnende Prozess der Europäisierung stärkte die Beziehung Deutschlands zu den westeuropäischen Ländern, veränderte die Wahrnehmung von (nationalen) Grenzen und erforderte eine neue Aushandlung hinsichtlich des Verhältnisses zu den osteuropäischen Nachbarländern. Nicht zuletzt stellte der Fall der Mauer und der Beitritt der ostdeutschen Länder die Wahrnehmung des nationalen Eigenen in neuer Weise in Frage und stieß einen Prozess der Neuwahrnehmung gesellschaftlicher Selbstverständnisse an. Damit waren auch Fragen verbunden, was Demokratie und gute Politik eigentlich auszeichnet, wie Grenzen im neuen Europa sein sollen, wie auf rassistische Gewalt reagiert werden soll und wie homogen oder vielfältig diese Gesellschaft sein darf. Im Diskurs über die Grundgesetzänderung wurde unterschwellig die Beantwortung der Frage nach der nationalen Identität mitgeführt. Eine Rolle spielten darin die Machtverhältnisse von ostdeutsch-westdeutsch, deutsch-nichtdeutsch, ost- und westeuropäisch, kapitalistisch-kommunistisch, europäisch-außereuropäisch, innen und außen, ohne dass diese offen gelegt worden waren. Daher zeigt sich hier erneut, dass anhand von Migration gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um Gleichheit, Anerkennung und Teilhabe stattfinden und dadurch Zugehörigkeit und nationale Identität hergestellt und in Frage gestellt wird.6
7.1 Kontextualisierung 7.1.1
Politische und gesellschaftliche Situation nach der Wiedervereinigung
Der Übergang in die 1990er Jahre war in Deutschland und Europa von großen Veränderungen geprägt. Begonnen durch den politischen Kurswechsel in der UdSSR mit dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow entwickelten sich nationale Emanzipationsbewegungen, wie die gewerkschaftliche Bewegung Solidarność in Polen und 4 5
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Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 119. Julia Kleinschmidt, »Streit um das ›kleine Asyl‹. ›De-facto-Flüchtlinge und Streit um Abschiebungen als gesellschaftspolitische Herausforderung für Bund und Länder während der 1980er Jahre.« In Den Protest regieren: Staatliches Handeln, neue soziale Bewegungen und linke Organisationen in den 1970er und 1980er Jahren, hg. v. Alexandra Jaeger, Julia Kleinschmidt und David Templin, 1. Auflage (Essen: KLARTEXT VERLAG, 2018), 233. Naika Foroutan, »Was will ein postmigrantische Gesellschaftsanalyse?« In Postmigrantische Perspektiven, 271.
7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation
die Einführung eines Mehrparteiensystems in Ungarn. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in der DDR, in der sich auch zunehmend Bürgerinitiativen und Friedensgebete öffentlich positionierten. Bereits im Sommer 1989 öffnete Ungarn seine Grenze zu Österreich und ermöglichte vielen DDR-Bürger*innen die Ausreise in den Westen. Mehrere tausend DDR-Bürger*innen besetzten nach Schließung der tschechisch-ungarischen Grenze die deutsche Botschaft in Prag und wurden in die Bundesrepublik aufgenommen. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die von der Friedensbewegung in der DDR mit dem Symbol »Schwerter zu Pflugscharen« initiiert wurden, bekamen im September und Oktober 1989 immer mehr Zulauf und erhöhten den Druck auf das SED-Regime.7 Durch ein Missverständnis in einer Presseerklärung zur Lockerung der Ausreisegenehmigungen am 09. November mit der Aussage »sofort, unverzüglich« wurden die Grenzposten an der deutsch-deutschen Grenze geöffnet. Während sowohl von der Regierung als auch von der Opposition und den Bürgerrechtsbewegungen eine Zwei-Staaten-Lösung bevorzugt wurde, veränderten sich die Forderungen auf der Straße immer stärker zu »Wir sind ein Volk«. Hinzu kam die immer deutlicher werdende katastrophale wirtschaftliche Lage in der DDR und ein nicht anhaltender Strom von Ausreisenden in den Westen. Die Bevölkerung in der DDR erhoffte sich durch die deutsche Einheit Reisefreiheit und materielle Verbesserungen. Dass jedoch bereits im darauffolgenden Jahr mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag mit den ehemaligen Siegermächten ein Beitritt der ostdeutschen Bundesländer realisiert werden könnte, hätte kaum jemand für möglich gehalten. Bundeskanzler Helmut Kohl, der eine Vision eines gemeinsamen deutschen Staates unter europäischem Dach entwarf, von dem nun Frieden ausgehen solle, ging von einem Vereinigungsprozess von fünf bis zehn Jahren aus. Die im Grundgesetz verankerte Vorstellung, dass das Grundgesetz nun durch eine gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden würde, wurde jedoch nicht eingelöst, unter anderem deshalb, weil dies für die Bonner Republik zu viele Unwägbarkeiten enthalten hätte. Stattdessen wurde während des Einigungsprozesses immer wieder betont, dass es sich nicht um eine Vereinigung zweier gleicher Staaten handle, sondern um einen Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik.8 Dementsprechend war auch das Machtverhältnis. Der einseitige Anpassungsprozess bewirkte zwar einen gewaltigen finanziellen Transfer von West nach Ost und eine Verantwortungsübernahme für die Lebensverhältnisse und die soziale Sicherung der Menschen im Osten.9 Sie wurde jedoch auf vielen Ebenen als eine Art Kolonialisierung Ostdeutschlands empfunden. Hier sind beispielsweise der Verkauf staatlicher Organisationen an westdeutsche, kapitalstarke Unternehmen durch die Treuhandanstalt zu nennen, die Übernahme der ostdeutschen
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Petra Weber, Getrennt und doch vereint: Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Eine Publikation des Instituts für Zeitgeschichte (Berlin: Metropol, 2020), 1074–94; Hans Karl Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 3., völlig überarb., erw. und aktualisierte Aufl., Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft (München: Oldenbourg, 2000), 275–95. Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 275–312; Weber, Getrennt und doch vereint, 1094–1105. Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit: Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats (München: Beck, 2006), 11–15.
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Zeitungen durch westdeutsche Verlage und die Einsetzung von westdeutschen Führungskräften in Verwaltung, Politik, Justiz und Wissenschaft. Eine Folge ist die fehlende Repräsentanz ostdeutscher Perspektiven in allen wesentlichen Bereichen der Gesellschaft. Die westdeutsche Deutungshoheit über Ostdeutschland spiegelt sich auch in den (Geschichts-)Wissenschaften wider.10 Wie sehr die Konstruktion der Ostdeutschen als Andere an koloniale Diskurse anknüpfte, verdeutlichen nicht zuletzt Begriffe wie »Aufbauhelfer Ost«, deren Lohnzuschläge inoffiziell auch als »Buschzulage« bezeichnet wurden.11 Dabei muss berücksichtigt werden, dass auch der Begriff ostdeutsch eine Konstruktion darstellt. Ostdeutsch beschreibt auf der einen Seite gemeinsame Erfahrungsräume, wie das Aufwachsen in der DDR oder das Miterleben der Veränderungen nach der Wiedervereinigung. Es besteht jedoch auch hier die Gefahr, dass ostdeutsch essentialistisch biologisiert oder kulturalisiert wird. Zum anderen ist es ein Begriff, der häufig mit einem Othering, stereotypisierenden Zuschreibungen und Hierarchisierungen verbunden ist.12 Die deutsche Gesellschaft nach der Einheit bestand im Wesentlichen aus drei Gruppen. Die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft erfuhr am wenigsten Veränderung in dieser Zeit bzw. konnte teilweise auch durch den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer noch profitieren. Sie erlebte sich als ideologische Gewinner*in hinsichtlich ihres politischen und wirtschaftlichen Systems. Die ostdeutsche Gesellschaft hatte hingegen massive Veränderungen miterlebt und ihr wurde von Bundeskanzler Kohl in der Bundestagswahl 1990 blühende Landschaften versprochen. Dies erfüllte sich nicht, stattdessen wurde ein großer Anteil der Bevölkerung arbeitslos, erfuhr eine Dequalifizierung ihrer Berufe und große Unsicherheit hinsichtlich ihrer Zukunft und der sozialen Absicherung. Obwohl eine aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben wurde und viele Menschen durch Weiterbildungsmaßnahmen, Kurzarbeit und Vorruhestand aus der Statistik herausgerechnet wurden, betrug die Arbeitslosigkeit im Osten 1994 mehr als 20 %. Die wirtschaftliche Rezession erfasste jedoch, wenn nicht so massiv, auch den Westen. Der dritte Teil der Gesellschaft waren die zugewanderten Menschen, die zwar zu großen Teilen schon lange in Deutschland waren, jedoch kaum politische Mitbestimmungsrechte besaßen. Somit sind die Erfahrungen und die politischen Meinungen dieser Bevölkerungsgruppen kaum erforscht. Sie wurden sowohl als nicht-zugehörig als auch le10
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Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 315–26; Ilko-Sascha Kowalczuk, »Woanders ist auch Scheiße! Die Auswirkungen der Transformation nach 1990 auf die Gesellschaft in Ostdeutschland.« In (Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil 1 – 1989 bis heute, hg. v. Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick, 2. Auflage, Schriftenreihe Teil 1 (Bonn, Berlin: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2021), 42–6; Naika Foroutan, »Sind Ostdeutsche auch Migranten?« In (Ost)Deutschlands Weg. 35 weitere Studien, Prognosen & Interviews. Teil II – Gegenwart und Zukunft, hg. v. Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick, 2. Auflage, Schriftenreihe Teil 2 (Berlin/Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2021), 194–5; Mandy Tröger, »Verpasste Chancen – die Transformation der DDR-Presse 1989/90.« In Kowalczuk; Ebert; Kulick, (Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil 1 – 1989 bis heute (s. Anm. 1523). Ilko-Sascha Kowalczuk, »Woanders ist auch Scheiße! Die Auswirkungen der Transformation nach 1990 auf die Gesellschaft in Ostdeutschland.« In (Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil 1 – 1989 bis heute, 41–3. Ebd., 37–9.
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diglich als Objekte gesellschaftlichen und staatlichen Handelns wahrgenommen.13 Ihnen wurde klar signalisiert, dass das nicht ihre deutsche Einheit sei. Aus der emanzipativen Vorstellung »Wir sind das Volk« wurde ein exklusives »Einheits-Wir, [das] an bereits bestehende Ideologien der Ungleichwertigkeit«14 anknüpfte und mehrheimische Menschen aus der gesellschaftlichen Solidarität und Empathie ausgliederte. May Ayim, Schwarze Dichterin und Aktivistin beschrieb dies in einem Gedicht: »das wieder vereinigte deutschland feiert sich wieder 1990 ohne immigrantInnen flüchtlinge jüdische und schwarze menschen [...] es feiert in weiß«.15 Die Zunahme der Gewalt bewirkte massive Bedrohungserfahrungen. Viele dachten darüber nach, Deutschland zu verlassen.16 Rassismus und Nationalismus müssen somit als zentrale Bestandteile der deutsch-deutschen Wiedervereinigung berücksichtigt werden. Sie sind jedoch bis heute kaum in das kollektive Gedächtnis über die Zeit des Mauerfalls und der Deutschen Einheit eingegangen.17
7.1.2 Der Weg zur Grundgesetzänderung Die Auseinandersetzung um die Asylgewährung berührte stets die politisch-moralischen Grundlagen der Bundesrepublik sowie das eigene Selbstverständnis: »Zugleich ist die Formulierung und Praxis des Asyls auch immer Aussage einer Gesellschaft über sich selbst«18 . Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte gehörte das Asylgrundrecht wesentlich zu diesem Selbstverständnis, war jedoch auch unterschiedlichen Auslegungen und kontinuierlicher Aushandlung unterworfen.19 Friedrich Wilhelm Wagner (SPD) warnte bereits im Parlamentarischen Rat, dass eine Einschränkung des Asylgrundrechts schnell einer Abschaffung gleichkäme (siehe Kapitel 3.1.1): »Ich glaube, man sollte da vorsichtig sein mit dem Versuch, dieses Asylrecht einzuschränken und seine Gewährung von unserer eigenen Sympathie oder Antipathie und von der politischen Gesinnung dessen abhängig zu machen, der zu uns kommt. Das wäre dann kein unbedingtes Asylrecht mehr, das wäre ein Asylrecht mit Voraussetzungen, mit Bedingungen, und eine solche Regelung wäre in meinen Augen der Beginn des Endes des Prinzips des Asylrechts überhaupt. Entweder wir gewähren Asylrecht,
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Rupp, Politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 313–18. Eva Berendsen und Robin Koss, »›Anderen wurde es schwindelig.‹ 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch.« In Schwerpunkt: Kontinuitäten, 209. May Ayim, Grenzenlos und unverschämt, 1. Aufl. (Berlin: Orlanda-Frauenverlag, 1997), 188. Juliane Lang und Christina Wendt, »›Warnschüsse wären in diesem Fall gerechtfertigt gewesen‹.« In Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt: An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren, 2. Auflage (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015), 18–20; Eva Berendsen und Robin Koss, »›Anderen wurde es schwindelig.‹ 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch.« In Schwerpunkt: Kontinuitäten. Zum 30-jährigen Jubiläum kuratierte das Anne-Frank-Zentrum eine Ausstellung mit gleichnamigem Titel wie folgender Aufsatz: Eva Berendsen und Robin Koss, »›Anderen wurde es schwindelig.‹ 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch.« In Schwerpunkt: Kontinuitäten. Klaus Schlichte, »Flucht und Asyl – zur Genealogie eines Feldes.« In Politik der Unentschiedenheit, 31. Patrice G. Poutrus, »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 893.
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ein Recht, das, glaube ich, rechtshistorisch betrachtet, uralt ist, oder wir schaffen es ab.«20 Bereits in den 1980er Jahren wurde die dauerhafte Beibehaltung des Asylgrundrechts in den Asyldebatten in Frage gestellt. Insbesondere die CSU forderte bei nahezu jeder der 17 Asylrechtsänderungen, dass dies nicht ausreiche und es notwendig sei, das Grundgesetz zu ändern. Während der Debatte zum Schlupfloch Berlin im Sommer 1986 wurde eine Grundgesetzänderung auch auf bundespolitischer Ebene sagbar (siehe Kapitel 5.3.3). In der CDU hingegen herrschte damals noch große Uneinigkeit. Diese lenkte erst Anfang der 1990er stärker auf den Kurs der CSU ein. Die SPD trat zwar für die Beibehaltung des Asylgrundrechts ein, doch auch sie teilte die Vorstellung einer ethnisch homogenen nationalen Gemeinschaft, sodass auch sie die migrationsgesellschaftlichen Veränderungsprozesse als Belastung empfand.21 Oskar Lafontaine, der im Bundestagswahlkampf 1990 Kanzelkandidat für die SPD war, forderte beispielsweise die Senkung der Zuwanderungszahlen, jedoch nicht nur für die Asylzuwanderung, sondern auch für Aussiedler. Dies hatte er bereits 1988 gefordert, was in beiden Fällen Kritik von Parteigenoss*innen hervorgerufen hatte. Dabei wurden verschiedene Zuwanderungsgruppen gegeneinander ausgespielt, was keiner Gruppe letztlich nützte.22 Obwohl die Selbstverständlichkeit des Konsenses, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, ganz langsam zu wanken begann, war es zur Anerkennung und bewussten Gestaltung einer postmigrantischen Gesellschaft noch ein langer Weg, der bis heute anhält.23 Eine offene und gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um ein vielfältigeres Verständnis von Gesellschaft und deutscher Zugehörigkeit, die ost- und westdeutsche, sowie migrationsbezogene Erfahrungen miteinschließen, wurde dabei verpasst. Der Diskurs um die Grundgesetzänderung war »eine der schärfsten und folgenreichsten innenpolitischen Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte«24 , bei der Asylsuchende pauschal des Asylmissbrauchs und Asylbetrugs bezichtigt wurden. Verschiedene Faktoren begünstigten die einseitige und dramatisierende Debatte. Durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs stieg die Zahl der Asylsuchenden, der Aussiedler und Übersiedler*innen aus der ehemaligen DDR stark an. Hinzu kamen auch eine Zunahme von Reisemöglichkeiten und Schlepperorganisationen. 1990 kamen 400.000 als Aussiedler kategorisierte Menschen nach Deutschland, 1992 erreichte auch die Zahl der Asylanträge 400.000. Von 1990 bis 1994 beantragten 1,34 Millionen Menschen in Deutschland Asyl, die Hälfte davon kam aus Jugoslawien, Rumänien und der Türkei und floh aufgrund von Krieg und Verfolgung durch ihren Minderheiten-Status.
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Feldkamp, Hauptausschuß, 1413. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 120; Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945: 1989–1994, hg. v. Gerhard A. Ritter, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 11 (Baden-Baden: Nomos, 2007), 950–1; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 174. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 111–16; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 174–75; Beispielsweise hier: epd/ddp, »Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹ klären.« Süddeutsche Zeitung, 08.11.1988. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 191. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 951.
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Die steigenden Antragszahlen führten zu fehlenden Unterbringungskapazitäten in den Kommunen und einer Überlastung der Verwaltungsgerichte.25 Begründet wurde die Forderung nach einer Einschränkung unter anderem durch die niedrige Anerkennungsquote von unter 5 %. Dabei umfasste diese nur die erste Anerkennung als Flüchtling aufgrund politischer Verfolgung. Diese erhöhte sich durch Widerspruch bei Gericht auf über 20 %, zudem erhielten 20 % einen Duldungsstatus und konnten aufgrund von Gefahr für Leib und Leben nicht abgeschoben werden.26 Die Betonung der einstelligen Anerkennungsquote und die Gleichsetzung einer Ablehnung mit Asylmissbrauch kann als »gezielte und letztlich auch rechtsstaatswidrige Verkürzung der Verhältnisse [beschrieben werden], die nicht auf Aufklärung, sondern auf moralische Empörung abzielte.«27 Obwohl die Meinung innerhalb der Parteien zu Anfang noch heterogen war, spitzte sich die Vorstellung immer mehr zu, die Grundgesetzänderung sei die einzige Lösung zur Regelung der Zuwanderung.28 Anfang der 1990er Jahre wurden zunächst einige andere Gesetze zu Migration verabschiedet. Am 01. Januar 1990 trat das neue Ausländergesetz in Kraft, um das lange gerungen worden war. Es sollte sowohl Integration fördern, wie etwa durch Familienzusammenführung, als auch Zuwanderung einschränken. Die Duldung für maximal sechs Monate wurde eingeführt, die frühestens nach acht Jahren in einen regulären Aufenthalt münden konnte. Das Ausländergesetz stellte jedoch weder einen tragfähigen Kompromiss hinsichtlich der Gestaltung des Asylrechts dar, noch wurde die Einwanderungsfrage grundlegend angegangen.29 Um eine Verfassungsänderung zu verhindern, wurde zudem im Jahr 1991 ein neues Asylverfahrensgesetz entwickelt, bei dem die Kategorie, offensichtlich unbegründet eingeführt wurde, die kürzere Widerspruchsfristen beinhaltete und im Juni 1992 in Kraft trat. Ohne die Wirksamkeit des Gesetzes abzuwarten, forderte die Union kurze Zeit später erneut eine Grundgesetzänderung und versuchte die anderen Parteien unter Druck zu setzen. Die uneingeschränkten Befürworter*innen des Asylgrundrechts kamen immer mehr in die Defensive. Des Weiteren wurde am 15. Juni 1990 das Dubliner Abkommen verabschiedet, bei dem festgelegt wurde, dass das Erstaufnahmeland im Schengen-Verbund für das Asylverfahren zuständig ist. Aufgrund des Grundgesetzes konnte jedoch in Deutschland niemand zurückgewiesen oder überstellt werden Die Grenzkontrollen der Schengenstaaten fielen 1995 weg, das Dubliner Abkommen trat 1997 in Kraft. Die Orientierung an der Genfer Flüchtlingskonvention und der Beitrag zu einer europäischen Harmonisierung des Asylrechts entwickelten sich dadurch zu legitim erscheinenden Gründen für eine Grundgesetzänderung.30 Im Jahr 1991 verschärfte sich der Ton in der Asyldebatte. Im Sommer inszenierte Volker Rühe, damals Generalsekretär der CDU, eine Kampagne zur Grundgesetzänderung,
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Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 96–111; Nuscheler, Internationale Migration, 116–21. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 110–11. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 165. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 114. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 945. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 138–139, 144; Stefan Luft, »Die Europäisierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik.« In Luft; Schimany, 20 Jahre Asylkompromiss (s. Anm. 331), 246–51.
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um diese auch auf lokaler und Landesebene voranzubringen. Er schrieb dazu alle Stadträte und Landtage an und stellte ihnen Argumentationsleitfäden und Musterpresseerklärungen für eine Grundgesetzänderung zur Verfügung. Insbesondere die Kommunen waren an einer Senkung der Zuwanderungszahlen interessiert, da sie einen Großteil der Kosten übernehmen mussten.31 Im September kam es zur rassistischen Gewalt in Hoyerswerda. Volker Rühe setzte daraufhin die SPD unter Druck, dass ohne eine Grundgesetzänderung jede weitere Person, die einen Asylantrag stelle, »ein SPD-Asylant«32 sei. Kennzeichnend »für die asylpolitische Aufgeregtheit [war], daß eine qualifizierte inhaltliche Diskussion nicht zustande kam«.33 Selbst die massive Zunahme der Gewalt wurde nicht als Warnung empfunden, das Sprechen über Zuwanderung zu reflektieren.34 Sowohl die FDP als auch die SPD formulierten mehrmals ihre Grundsätze, wie etwa ein einklagbares, subjektives Recht und eine liberale Tradition, an welchen sie auf jeden Fall festhalten möchten.35 Die SPD befand sich in einer Zwickmühle, da sie auf der einen Seite an internationaler Solidarität und der Verantwortung aus eigenen Exilerfahrungen festhalten wollte, gleichzeitig aber auch Wahlen gewinnen wollte. Dies führte dazu, dass sie im medialen Diskurs als führungs- und konzeptionslos wahrgenommen und ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wurde. Aber auch andere Gruppen setzten sich für den Erhalt des Asylrechts ein, wie etwa die Grünen, die sich für offene Grenzen und Bleiberecht für alle einsetzten, sowie Arbeitgeber*innenverbände, die aufgrund demographischer Gründe eine geregelte Form der Zuwanderung und ein Einwanderungsgesetz forderten. Die FDP willigte im Juni 1992 ein, das Grundgesetz zu ändern. Bei der SPD kam es im August nach der Gewalt in Rostock beim so genannten Petersberger Beschluss zu einer Wende. Dies geschah auch aus dem Gefühl heraus, dass die zögerliche Haltung der SPD in der öffentlichen Debatte als eine Ursache für die Entstehung der rassistischen Gewalt gesehen wurde. Die Zurschaustellung der Fehler der SPD trugen auch dazu bei, von der Uneinigkeit in der Koalition abzulenken, denn die asylpolitischen Konfliktlinien verliefen bis zuletzt nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien und erschwerten eine Einigung.36 Im November 1992 entwickelte die SPD bei einem Sonder-Parteitag einen Vorschlag, der den Asylkompromiss zu einem »Migrationskompromiß«37 umgestaltete. Dabei sollte sowohl die Zuwanderung von Aussiedlern reguliert werden, als auch ein Einwanderungsgesetz entwickelt werden, welches die Zuwanderung steuern und die Einbürgerung erleichtern sollte.38 Kurz darauf, am 23. November, ereignete sich der rassistische Brandanschlag in Mölln. Es gibt die These, dass sich hier die Stimmung in der Bevölkerung veränderte, da es in ganz Deutschland durch Lichterketten und Demonstrationen Solidari31 32 33 34 35 36
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Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 113–15. Nuscheler, Internationale Migration, 134. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 117. Ebd. Ebd., 146. Nuscheler, Internationale Migration, 134–35; Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 954–5; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 145–46. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 123. Ebd., 123–24.
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tätsbekundungen gab. Die Politik hatte jedoch schon längst eine asylrechtliche Einbahnstraße eingeschlagen, auf der es keinen Weg zurück gab.39 Das Asylantenproblem wurde so dominierend, dass der Eindruck entstand, viele weitere innenpolitische Probleme wie die Steuerung von Zuwanderung, aber auch ausreichend bezahlbarer Wohnraum, Bekämpfung der Kriminalität und die Finanzierung der Sozialsysteme könnten durch eine Grundgesetzänderung gelöst werden.40 Um den Druck vor den Verhandlungen um einen Asylkompromiss zu erhöhen, sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von einem drohenden Staatsnotstand. Falls der Entscheidungsprozess von Seiten der SPD weiterhin blockiert werde, würde er nicht davor zurückschrecken, einen Staatsnotstand auszurufen: »wenn die erforderlichen Grundgesetzänderungen mit der SPD nicht zu machen seien, dann werde er sich so verhalten, ›als ob‹ die einschlägigen Grundgesetz-Artikel geändert worden wären. [...] Handlungsgrundlage müssten dann eben ›einfache Gesetze‹ sein, für die im Parlament nur die einfache und nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit wie für eine Verfassungsänderung notwendig wäre«.41 Er argumentierte dabei, dies sei nötig, um eine Gefahr für die freiheitliche, demokratische Grundordnung der Bundesrepublik abzuwehren. Dabei wurde nicht die Gewalt, sondern die Zuwanderung bzw. die Handlungsunfähigkeit der Politik als Verursachung eines inneren Notstands gesehen. Der Bundespräsident Richard von Weizsäcker reagierte darauf und forderte eine Versachlichung der Debatte.42 Dadurch wurde der Umgang mit Asylmigration immer mehr auf eine »Überlebensfrage der Nation«43 und dem Erhalt der nationalstaatlichen Souveränität zugespitzt. Dieses Deutungsmuster bewirkte eine zunehmende Diskursverengung, in der die politischen Handlungsspielräume und die Grenzen der Aufnahmebereitschaft immer enger gezogen wurden. Am 06. Dezember 1992 kam es nach mehrwöchigen Verhandlungen zum Asyl- oder auch Nikolaus-Kompromiss. Es wurde das Konzept der sicheren Drittstaaten und sicheren Herkunftsländer eingeführt. Des Weiteren sollten Regelungen für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, Bleiberecht für Altfälle, Einbürgerung mit Rechtsanspruch und für die Zuwanderung von Aussiedlern gefunden werden. Ein umfassendes Einwanderungsgesetz wurde nicht mitaufgenommen, weil die SPD keinen Gesetzentwurf einbrachte. Obwohl die Einigung erst im Mai verabschiedet wurde, gab es danach keine substanziellen Änderungen mehr. Bereits im November 1992 wurde ein Rücknahme-Abkommen mit Rumänien gegen die so genannte Roma-Wanderung abgeschlossen (siehe auch Kapitel 6.2.3). Bis August 1993 wurden mehr als 28.000 Menschen zurückgeschickt. Im Januar begannen die Verhandlungen mit Polen und Tschechien für eine Rücknahme von Asylsuchenden gegen finanzielle Entschädigung. Polen erhielt dafür 120 Millionen DM, mit der Auflage, die Hälfte des Geldes für technische Geräte für die Grenzsicherung aus
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Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 955–8. Nuscheler, Internationale Migration, 132–33. o. A., »Das ist der Staatsstreich.« DER SPIEGEL, Nr. 45 (1992) siehe auch; Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 122. Nuscheler, Internationale Migration, 133. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 119.
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Deutschland zu beziehen. Das Schengener Abkommen, die Dublin-Verordnung und die bilateralen Übereinkünfte waren erste Schritte zu einer zunehmenden Externalisierung des Flüchtlingsschutzes.44 Am 26. Mai 1993 wurde das veränderte Asylgrundrecht mit 521 zu 132 Stimmen verabschiedet. Währenddessen fanden Demonstrationen im Regierungsviertel in Bonn statt, die den Zugang der Abgeordneten in den Bundestag verhindern wollten. Dies führte dazu, dass einige Abgeordnete mit dem Boot oder dem Hubschrauber in den Bundestag gebracht werden mussten. In medialen Bildern wurden sie teilweise als Held*innen der Demokratie stilisiert.45 Nur drei Tage später ereignete sich der rassistische Brandanschlag in Solingen. Die Änderung des Grundgesetzes wurde von vielen Seiten als Abschaffung bezeichnet, da flüchtende Menschen nur bei Verheimlichung ihres Fluchtweges bzw. illegaler Einreise oder bei Einreise mit dem Flugzeug in Deutschland Asyl beantragen können. Insbesondere die Drittstaaten-Regelung wurde massiv kritisiert und von Seiten des Bundesverfassungsgerichts einer ausführlichen Prüfung unterzogen.46 »Die Bundesrepublik reihte sich nicht nur in die ›Festung Europas‹ ein, sondern ging ihr mit einem ausgeklügelten System der Vorwärtsverteidigung an den vorgeschobenen Grenzen von ›sicheren Drittstaaten‹ voran«.47 Auf der anderen Seite kann konstatiert werden, dass das Asylgrundrecht trotz verzerrter und dramatisierender öffentlicher Diskurse zumindest nicht komplett abgeschafft wurde, was als ein Zeichen für »die fundamentale Verankerung der Menschenrechte in der politischen Kultur der inzwischen vereinigten Bundesrepublik«48 gesehen werden kann. In der 2. Jahreshälfte 1993 halbierten sich die Asylantragszahlen, was die Befürworter*innen als Beweis für die Notwendigkeit der Änderung betrachteten. Im November erschien das »Manifest der 60«, indem sich Migrationswissenschaftler*innen für den Erhalt des Asylgrundrechts und für eine politische Gestaltung von Zuwanderung einsetzten.49
7.1.3 Die Änderungen des Asylgrundrechts Das Asylrecht wurde zwar 1949 verfassungsrechtlich verankert, dennoch war es stetiger Aushandlung durch die exekutive Praxis, der Positionen der Parteien und der Überprüfung durch die Gerichte unterworfen und wurde durch das jeweilige gesellschaftliche und politische Selbstverständnis mitgeprägt.50 Das Grundgesetz setzt einer Verfassungsänderung hohe Hürden. Neben einer Zustimmung des Bundestags und des Bundesrats mit einer Zweidrittelmehrheit wurde in 44
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Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 149–51; Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 98–99, 129–130; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 185–86; Stefan Luft, »Die Europäisierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik.« In 20 Jahre Asylkompromiss, 246–51. Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 309–10. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 125–27. Nuscheler, Internationale Migration, 122. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 184. Nuscheler, Internationale Migration, 128. Patrice G. Poutrus, »Refugee Reports.« In Migration, memory, and diversity, 86; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 26–33.
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Artikel 73 (3) GG eine sogenannte Ewigkeitsgarantie für die Grundlagen der Verfassung festgeschrieben, die nicht geändert werden können. Diese umfassen die Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und sowie Art. 1 und Art. 20 GG. Somit muss bei jeder Grundgesetzänderung überprüft werden, ob diese nicht gegen die dort festgeschriebenen Grundsätze verstößt. Aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik, in der es durch Notverordnungen möglich wurde, dass der Reichspräsident die Regierungsvollmacht an sich nimmt und die Verfassung ändert, sind Verfassungsänderungen nur durch Bundestag und Bundesrat möglich.51 Dennoch kann die Frage aufgeworfen werden, wie stark die Änderung des Asylgrundrechts durch aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse beeinflusst wurde und was dies im Allgemeinen für Verfassungsnormen bedeutet.52 Hinsichtlich des Asylrechts spielt die Menschenwürde in Art. 1 GG eine besondere Rolle, da das Asylgrundrecht Schutz gewähren soll, wenn Gefahr besteht, dass die Menschenwürde verletzt wird. Die Bestätigung des geänderten Asylrechts durch das Bundesverfassungsgericht 1996 kann als Ablösung des Asylrechts von der Menschenwürde gedeutet werden. In der Begründung der Entscheidung finden sich diesbezüglich unterschiedliche Aspekte. Zum einen wurde argumentiert, dass auf der Grundlage der Menschenwürde nicht nur das Recht von Individuen berücksichtigt werden kann, sondern die Freiheit des Einzelnen durch das Wohl der Gemeinschaft begrenzt wird.53 Das Bundesverfassungsgericht setzte zudem die Menschenwürde in das Verhältnis dazu, was andere Menschen im jeweiligen Herkunftsland erleben: dies ist abhängig von der Intensität und Schwere der Verletzung der Menschenwürde und ob diese »darüber hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben«54 . Das Diskriminierungsverbot aufgrund von Herkunft sei zwar Bestandteil des Menschenwürdeschutzes, die menschenunwürdige Behandlung gehe jedoch nicht von deutschen Behörden aus und daher sei Deutschland nicht zuständig.55 Der neue Asylrechtsartikel enthält drei Einschränkungen, wer in Deutschland als politisch verfolgte Person Asylrecht bekommen kann. Diese beziehen sich auf sichere Drittstaaten, sichere Herkunftsländer und die Einführung einer erleichterten Ausweisung bei offensichtlich unbegründeten Fällen. Des Weiteren wurde mit §18a Asylverfahrensgesetz das Flughafenverfahren eingeführt. Der Asylkompromiss wurde zum »Migrationskompromiß«56 , da drei weitere Aspekte neu geregelt werden sollten, dies in der Realität
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Karsten Hoof, »Verfassungsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland.« In Verfassungsentwicklung in Russland und Deutschland, hg. v. Patuchova, Nadezda B. et al. (Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, 2014). Ralf Rothkegel, »Änderungen an der Verfassung – kritische Anfragen.« In Barwig, Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes (s. Anm. 1201), 197. Robert Christian van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, Beiträge zur politischen Wissenschaft 136 (Berlin: Duncker & Humblot, 2005), 23–26. Ralf Rothkegel, »Ewigkeitsgarantie für das Asylrecht?« In Barwig, Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes (s. Anm. 1201), 179. Ebd., 180–2. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 123.
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aber erst Jahre später geschah. Dies war die erleichterte Einbürgerung, eine vereinfachte Aufnahme für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und eine Regulation der Zuwanderung von sogenannten deutschen Volkszugehörigen aus Osteuropa, die nach der Gesetzesänderung als Spätaussiedler bezeichnet wurden. Die Neugestaltung des Staatsbürgerschaftsrechts erfolgte jedoch erst 1999 nach dem Regierungswechsel und mit erneuten emotionalisierten Auseinandersetzungen. Eine Aufenthaltsbefugnis für Bürgerkriegsflüchtlinge wurde aufgrund Bund – Länderkonflikte hinsichtlich der Kostenübernahme mit §32a Ausländergesetz erst 1997 verabschiedet und 1999 für die Kosovo-Albaner*innen das erste Mal angewendet.57 Die meist halbjährige Befristung des Aufenthalts und ein Ausschluss aus dem Asylverfahren bedeutete jedoch eine oft jahrelange Unsicherheit für die Betroffenen (siehe Kapitel 8). Die Zuwanderung von Spätaussiedlern wurde auf 220.000 pro Jahr festgesetzt, was den Zuwanderungszahlen der Vorjahre entsprach.58 Obwohl das Asylrecht als Grundrecht verankert war, die Aufnahme von Aussiedlern sich lediglich aus einer spezifischen historischen Situation ergab und ähnliche Zahlen wie die Asylzuwanderung erreichte, wurde dies von keiner der Parteien als problematisch wahrgenommen. Daher kann festgestellt werden, dass der Asylkompromiss als »ein unausgewogenes und asymmetrisches Konstrukt [erscheint]. [...] Somit wurden in diesem ›Kompromiss‹ zwei ungleiche Rechtsgüter gegeneinander abgewogen. Das Asylrecht wurde mithin deutlich unter Wert ›verkauft‹.«59 Als wichtigste Regelung hinsichtlich Asyls wurde die Drittstaaten-Regelung wahrgenommen. Diese hielt fest, dass Personen, die über einen Staat der Europäischen Union (EU) oder einen sicheren Drittstaat einreisen, in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf Asyl haben. Als sichere Drittstaaten werden Länder bezeichnet, die die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die europäische Menschenrechtskonvention (MRK) ratifiziert haben. Dies waren 1993 neben den EU-Staaten die Länder Finnland, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden und die Tschechische Republik.60 Damit war Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben, sodass Personen bei legaler Einreise auf dem Landweg keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland hatten. Polen ratifizierte erst 1991 die GFK und 1993 die MRK und verfügte bis 1993 über kein geordnetes Asylverfahren. Aber auch Österreich wurde als problematisch empfunden, da es Flüchtlingen zurück nach Ungarn schickte, die die GFK nur auf europäische Flüchtlinge anwendete. Dadurch war die Gefahr gegeben, dass dies zu Kettenabschiebungen führen könnte. Zudem wurde in Österreich sehr viel großzügiger in Abschiebehaft genommen, wodurch grundlegende Rechte im Asylverfahren entzogen wurden. Auch in anderen Ländern war die Umsetzung der GFK 57
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Doris Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland: Eine vergleichende Studie der 1980er und 1990er Jahre, Forschung Politikwissenschaft v.168 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2002), 300–301. Nuscheler, Internationale Migration, 161; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 181; Bettina Höfling-Semnar, »Ignoranz, Realitätsferne und Zugangsverhinderung. Flucht und deutsche Asylpolitik.« In Angeworben – eingewandert – abgeschoben: Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Katja Dominik, Marc Jünemann und Motte, Jan, Reinecke, Astrid, 1. Aufl. (Münster: Westfälisches Dampfboot, 1999), 240–1. Jannis Panagiotidis, »Kein fairer Tausch. Zur Bedeutung der Reform der Aussiedlerpolitik im Kontext des Asylkompromisses.« In Luft; Schimany, 20 Jahre Asylkompromiss (s. Anm. 331), 122. Nuscheler, Internationale Migration, 161.
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nicht einheitlich, wie beispielsweise die Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung oder die Möglichkeit einer Zurückweisung an der Grenze. Die Entscheidung, welches Land als sicheres Drittland oder Herkunftsland bezeichnet wird, konnte mit einfacher Mehrheit im Bundestag verabschiedet werden.61 Die zugrunde liegende Annahme bei Drittstaaten war somit, dass durch den Kontakt mit dem Staatsgebiet eines Drittstaates der Schutzanspruch verfällt. Es wurde dabei nicht berücksichtigt, ob der Drittstaat diesen Schutzanspruch gewährleisten kann.62 2011 wurden Abschiebungen nach Griechenland als sicherer Drittstaat ausgesetzt, da es dort massive Menschenrechtsverletzungen gegen Schutzsuchende gegeben hatte.63 Des Weiteren wurde das Konzept der sicheren Herkunftsländer erfunden. Dies sind Länder nach Art. 16a Abs. 3 GG, »bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet«. Es wird also nicht behauptet, dass in einem Land absolute Freiheit von Verfolgung herrscht, sondern es reicht aus, wenn dies gewährleistet erscheint. Die Anerkennungsquote des jeweiligen Landes ist dabei unerheblich. Die Kategorisierung, die durch den Bundestag mit einfacher Mehrheit vorgenommen werden kann, erleichtert ein schnelles Asylverfahren. Der bzw. die Antragsteller*in hat die Beweislast, ein individuelles Verfolgungsschicksal vorzuweisen.64 Mit dem Flughafenverfahren wurde zudem ein exterritorialer Raum und die »Fiktion einer Nicht-Einreise« geschaffen. Dieser sieht für alle Asylantragsteller*innen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen oder keine gültigen Papiere mit sich führen und mit dem Flugzeug einreisen, ein Schnellasylverfahren vor. Sie werden unter haftähnlichen Bedingungen im Flughafen untergebracht und unterliegen hinsichtlich ihres Asylverfahrens verkürzten Widerspruchsfristen. Damit sollten die als Vollzugsdefizit beschriebenen Probleme bei der Rückführung verhindert werden.65 Im gleichen Jahr wurde auch das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet, dass darauf abzielte, die Situation im Asylverfahren sowohl hinsichtlich Unterbringung als auch der Sozialleistungen möglichst unattraktiv zu machen. Da sie kein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hätten, wurde das Existenzminimum auf 75 % der Sozialhilfe festgelegt. Diese solle möglichst am gleichen Tag und in hohem Maße in Sachleistungen ausgezahlt werden, um Mehrfachmeldungen und Sozialhilfe-Missbrauch zu verhindern.66 Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde 2012 zum Teil als ver-
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Bertold Huber, »Das Asylrecht nach der Grundgesetzänderung.« In Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes, 216–7; Ralf Rothkegel, »Änderungen an der Verfassung – kritische Anfragen.« In Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes, 199; Nuscheler, Internationale Migration, 161–62. Günter Renner, »Asylrechtsreform 1993.« In Barwig, Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes (s. Anm. 1201), 210. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 186. Günter Renner, »Asylrechtsreform 1993.« In Asyl nach der Änderung des Grundgesetzes, 206. Boris Nieswand, »Die Transitzone und die Fiktion der Nichteinreise. Das Flughafenasylverfahren im Zwielicht von Normalität und Ausnahme.« In Migrationsregime vor Ort und lokales Aushandeln von Migration, hg. v. Jochen Oltmer, Migrationsgesellschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2018), 358–62. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 118–21.
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fassungswidrig erklärt mit der Aussage: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«.67
7.2 Beschreibung des Diskurses 7.2.1 Der Diskurs über die Grundgesetzänderung als Schaden für die Demokratie Die Realisierung der Grundgesetzänderung trotz der identitätsstiftenden Funktion des Asylgrundrechts kann nicht losgelöst vom seit Ende der 1970er Jahren entstehenden Diskurs und dem damit verbundenen zugespitzten und einseitigen Deutungsmuster des Misstrauens betrachtet werden. Der Diskurs war geprägt von einseitigen Deutungen, einer starken Emotionalisierung, und einer zunehmenden Eskalation der öffentlichen Auseinandersetzung. Die politische Debatte war zudem gekennzeichnet von gegenseitigen Schuldzuweisungen und einer zunehmenden Einengung von Handlungsspielräumen.68 1992 stimmten 60 % der Deutschen der Aussage zu, dass der Asylmissbrauchs ein Problem von überragender Bedeutung für die Zukunft der Bundesrepublik sei, worauf nur mit einer Änderung des Asylgrundrechts reagiert werden könne.69 Die sich abzeichnende Diskursverengung und -verschärfung wurde schon währenddessen im politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskurs thematisiert. Sie hatte jedoch kaum Auswirkungen auf die sich entwickelnde Dynamik. Es geschah eine »Verzerrung des Asylproblems zum Schreckbild des Asylantenproblems«70 und ein »Terror der Zahlen«71 als politische Methode. Das Deutungsmuster der ganzen Diskussion war der Missbrauch des Asylrechts und der Zweifel an der politischen Verfolgung: »Die vorgegebene Konfliktlinie war durch den Missbrauchsvorwurf vorgezeichnet. Die diskursiven Kämpfe um Migration fanden somit auf einer humanitären Matrix statt [...]. Sowohl die Abwehr als auch die Befürwortung der Migration wurde entlang des Verfolgungsparadigmas strukturiert.«72 Legitime und illegitime Fluchtgründe waren die zentrale Konstruktion, um die Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge vorzunehmen und das Asylrecht ganzen Gruppen von vorne herein abzusprechen. Darüber hinaus wurden viele Asylsuchende aufgrund ihres Fluchtweges formal vom Asylverfahren ausgeschlossen und auf die Zuständigkeit anderer Länder verwiesen. Die Konstruktion der sicheren Herkunftslän-
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Marei Pelzer, »›Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren‹ – Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes und das Urteil des BVerfG.« In Solidarität: Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 2012, hg. v. Klaus Barwig, Stephan Beichel-Benedetti und Gisbert Brinkmann, Schriften zum Migrationsrecht – Band 9 (Nomos Verlagsgesellschaft, 2013). Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 104, 119. Bernhard Blanke, »Zuwanderung und Asyl: Zur Kommunikationsstruktur der Asyldebatte.« Leviathan- Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 21, Nr. 1 (1993): 18–19 Poutrus, Umkämpftes Asyl, 166. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 99–100. Nuscheler, Internationale Migration, 117. Karakayali, Gespenster der Migration, 174–75.
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der ist letztlich eine Fortführung der Vorstellung, von einer bestimmten Herkunft ließe sich auf (il-)legitime Fluchtgründe und damit auf ein Recht auf Asyl schließen: »Das grundlegende Problem ist das folgende: die Grundgesetzänderung basiert auf einem völligen Ignorieren inhaltlicher Kriterien: Weder ist es für den Asylausschluß eines Asylbewerbers relevant, ob er in einem Drittstaat tatsächlich sicher ist oder ob er als Einzelner in einem sicheren Herkunftsland tatsächlich vor Verfolgung geschützt ist – im ersten Fall genügt der Blick auf die Reiseroute, im zweiten das [...] getroffene Gesamturteil über eine bestimmte Personengruppe.«73 Die Diskussion um die Änderung des Asylrechts beinhaltete aufgrund der Entstehungsgeschichte des deutschen Asylrechts und der Verbindung zum Nationalsozialismus »immer auch eine für das Selbstverständnis der Deutschen belangvolle historisch-politische Dimension«74 . Es musste also im Diskurs nachvollziehbar werden, wie an dieser humanitären Verpflichtung und an einem ausländerfreundlichen Image festgehalten werden kann und es dennoch legitim erscheinen lassen, das Grundgesetz zu ändern.75 Dies war sowohl innen- als auch außenpolitisch relevant. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit, das sich aus der Verantwortung aus der nationalsozialistischen Vergangenheit ergab, verschwand dabei immer mehr aus dem Diskurs. Hierbei spielte der Missbrauchsverdacht und damit die Umkehrung von Deutschland vom Täter zum Opfer eine wesentliche Rolle. Des Weiteren entwickelte sich mit dem Bezug zur europäischen Harmonisierung eine neue Sprachregelung, die die unbedingte Notwendigkeit einer Verfassungsänderung legitimieren sollte.76 Das Zusammenwachsen in Europa und die offenen Grenzen waren somit auch mit einer Abgrenzung nach außen verbunden: »Insbesondere im Kontext der Formierung einer europäischen Identität erhält diese Abgrenzung gegenüber einem Kollektiv der Nicht-Europäer ihren politischen Gehalt.«77 Nicht zuletzt hatte der Kontext der Wiedervereinigung und der rassistischen Gewalt einen Einfluss auf den Diskurs (siehe Kapitel 6). So war es unbedingt notwendig, das Selbstbild eines wohlgeordneten demokratischen Staats und einer handlungsfähigen Politik aufrechtzuerhalten.78 Im Diskurs um das Asylgrundrecht wurde jedoch nicht nur die Asylgewährung verhandelt. Vielmehr ging es um die grundlegende und lange unterdrückte Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist und welche Vorstellungen von Gesellschaft, Zusammenleben und Zugehörigkeit sich daraus für die Zukunft ableiten. Diese wurde jedoch nicht explizit gemacht, sondern unterschwellig in den verschiedenen Positionen mittransportiert. Dies erklärt vielleicht, dass Zeitzeug*innen rückblickend die Ausein-
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Bettina Höfling-Semnar, »Ignoranz, Realitätsferne und Zugangsverhinderung. Flucht und deutsche Asylpolitik.« In Angeworben – eingewandert – abgeschoben, 239. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 94. Claudia Finotelli, Illegale Einwanderung, Flüchtlingsmigration und das Ende des Nord-Süd-Mythos: Zur funktionalen Äquivalenz des deutschen und des italienischen Einwanderungsregimes, Studien zu Migration und Minderheiten 15 (Berlin: Lit-Verl., 2007), Zugl.: Münster (Westf.), Univ., Diss., 2006, 60. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 142. Räthzel, Gegenbilder, 211 Karakayali, Gespenster der Migration, 183. Birgit Rommelspacher, »Geleitwort.« In, Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt (s. Anm. 1529), 10.
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andersetzung als ideologische Kämpfe79 und als Glaubenskrieg80 beschreiben, die aus ihrer Perspektive lediglich in einem »Waffenstillstand«81 endeten, jedoch keine Neuorientierung ermöglichten. Andere betonten, dass es kaum als Kompromiss bezeichnet werden kann, da das Asylrecht bis zu Unkenntlichkeit verändert wurde.82 Asylmigration wurde zum einem zum Symbol unerwünschter Zuwanderung.83 Des Weiteren wurde Asylzuwanderung für viele gesellschaftliche Probleme herangezogen und zur »Überlebensfrage der Nation«84 stilisiert, was die Lösungssuche massiv erschwerte. Auch die Suche nach einer neuen nationalen Einheit und der Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschland sowie eine Verortung im sich verändernden europäischen Gefüge war Bestandteil der Auseinandersetzungen. Der Asylkompromiss war zwar bei näherer Betrachtung ein »Migrationskompromiß«85 , da andere Fragen von Zuwanderung fast nebenbei mitverhandelt wurden. Er beinhaltete jedoch keine offene Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis als Einwanderungsland oder etwa Migrationsgesellschaft und die Gestaltung von Migration und Zusammenleben. Die angedachte Erleichterung der Einbürgerung konnte erst im Jahr 2000 mit erneut massiven Konflikten realisiert werden.86 Im Anschluss an die Grundgesetzänderung wurde der Asylkompromiss von verschiedenen Seiten als ein Erfolg dargestellt, da die Zahlen stark zurückgegangen seien und die öffentliche Debatte um das Thema Asyl sich beruhigt habe. Es ist jedoch »zumindest fraglich, ob diese Zahlen einen hinreichenden Beleg für die Regulierbarkeit von Fluchtbewegungen darstellen.«87 Die Verlierer*innen des Asylkompromisses waren die Menschen, die in Deutschland Asyl suchten. Ihnen wurde der Zugang zum und die Lebenssituation im Asylverfahren sehr erschwert. Dennoch ist es vielfach ihnen zu verdanken, trotz einer Lebensrealität, die von Knappheit, Verunsicherung und Furcht gekennzeichnet ist, dass sie auf Missstände im Asylsystem durch Demonstrationen, Hungerstreiks, Berichte und vor Gericht aufmerksam machten und Veränderungen bewirkten.88 Es findet sich jedoch auch die zeitgeschichtliche Deutung, dass der größte
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Jasper von Altenbockum, »Diskussionsbeitrag ›Die offene Wunde‹.« In Luft; Schimany, 20 Jahre Asylkompromiss (s. Anm. 331), 157. Roland Preuß, »Diskussionsbeitrag ›Die Debatte um Zuwanderung in Deutschland‹.« In Luft; Schimany, 20 Jahre Asylkompromiss (s. Anm. 331), 161. Jasper von Altenbockum, »Diskussionsbeitrag ›Die offene Wunde‹.« In 20 Jahre Asylkompromiss, 157. Cornelia Schmalz-Jacobsen, »Diskussionsbeitrag. 20 Jahre Asylrechtsänderung.« In Luft; Schimany, 20 Jahre Asylkompromiss (s. Anm. 331), 133. Finotelli, Illegale Einwanderung, Flüchtlingsmigration und das Ende des Nord-Süd-Mythos, 59. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 119. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 123. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 181–82. Ebd., 188. Julia Kleinschmidt, »Streit um das ›kleine Asyl‹. ›De-facto-Flüchtlinge und Streit um Abschiebungen als gesellschaftspolitische Herausforderung für Bund und Länder während der 1980er Jahre.« In Den Protest regieren, 234; Zum Beispiel »Refugee Movement.« Zuletzt geprüft am 23.04.2022, h ttps://oplatz.net/about/; Napuli Langa, »About the refugee movement in Kreuzberg/Berlin.« movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1, Nr. 2 (2015); Holger Wilcke und Laura Lambert, »Die Politik des O-Platzes: (Un-)Sichtbare Kämpfe einer Geflüchtetenbewegung.« movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1, Nr. 2 (2015); Niels Seibert,
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Schaden der Auseinandersetzung um das Asylgrundrecht jener für die Demokratie war. Der Diskurs um die Grundgesetzänderung habe demokratische Öffentlichkeit und das Vertrauen in die Politik zerstört, alle Regeln einer parlamentarischen Streitkultur verletzt und vor allem kommunikative Schäden hinterlassen.89 Dies sagte etwa der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder im November 1993: »Unbestreitbar ist, daß die Bundesrepublik in dieser Debatte Schaden genommen hat. [...] Schaden hat in dieser Debatte auch die Zukunftsfähigkeit der deutschen Politik genommen.«90 Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Menschen mit rassistischen bzw. rechtsextremistischen Einstellungen die Grundgesetzänderung als ihren Erfolg ansahen. In der Analyse spiegelte sich dies besonders darin wider, wie der Umgang und das Verhalten der Parteien beschrieben wurde.
7.2.2 Nationale Identität im Dreiecksverhältnis und die Europäisierung des Eigenen Das nationale Selbstverständnis musste sich mit dem Fall der Mauer neu formieren und bewegte sich in einem Dreiecksverhältnis zwischen Westdeutschland, Ostdeutschland und den Asylsuchenden. Auch in anderen Kapiteln wird deutlich, dass das Verhältnis von Eigenem und Anderen nicht nur binär gestaltet ist. Im Verlauf des Diskurses um die Grundgesetzänderung wird auch Europa zu einem wichtigeren Bezugspunkt des Eigenen. Nora Räthzel untersuchte das nationale Selbstverständnis im medialen Diskurs im Kontext von Wiedervereinigung, Grundgesetzänderung und rassistischer Gewalt. Die Asyldebatte sei daher Anlasspunkt oder auch Mittel zum Zweck, die deutsche Identität (neu) auszuhandeln und die gesellschaftlichen Umstrukturierungen in ein bestimmtes Deutungsmuster einzuordnen. Bis zu den Ereignissen von Hoyerswerda waren die medialen Diskurse über die Wiedervereinigung und Asyl inhaltlich getrennt. Während zur Wiedervereinigung viel in Form von Essays und Gastbeiträgen veröffentlicht wurde und sich Wissenschaft in die mediale Debatte einbrachte, fokussierte sich die Berichterstattung um Migration auf konkrete Ereignisse und auf Zahlen und beinhaltete keine gesellschaftstheoretischen Auseinandersetzungen mit Einwanderung.91 Unabhängig davon, welche Position im medialen Diskurs zur Grundgesetzänderung eingenommen wurde, war die Vorstellung einer einheitlichen deutschen Nation vorherrschend, die in einen Gegensatz zu den von außen kommenden Flüchtlingen gesetzt wurde. Für die Herstellung einer homogenen Nation stellten diese Dazukommenden stets eine Bedrohung für Stabilität und sozialen Frieden dar.
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Vergessene Proteste: Internationalismus und Antirassismus 1964–1983, 1. Aufl. (Münster: Unrast, 2008), Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2007 [u.d.T.: Seibert, Niels: Die historischen Vorläufer der antirassistischen Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre]; Alexander Clarkson, Fragmented fatherland: Immigration and Cold War conflict in the Federal Republic of Germany, 1945–1980, First edition, Monographs in German history vol. 34 (New York: Berghahn Books, 2015). Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 117; Blanke, »Zuwanderung und Asyl: Zur Kommunikationsstruktur der Asyldebatte,« 17. Gerhard Schröder, »Brauchen wir Zuwanderung?« IMIS-Mitteilungen, Nr. 1 (1993): 9. Räthzel, Gegenbilder, 199–201.
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Durch die Konstruktion einer homogenen Nation angesichts eines bedrohlichen Außens traten die bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland in den Hintergrund. Die Debatte um das Asylrecht und jene um die rassistischen Angriffe bildeten jedoch unterschiedliche Konstruktionen des Eigenen und Anderen heraus. Während die Diskurse um die Grundgesetzänderung zu der Herstellung einer einheitlichen Nation beitrug, stellte der Diskurs über die rassistische Gewalt eine stärkere Differenz zwischen Ost und West her. So bildete sich eine Dreierkonstellation heraus, in der stets auf die Asylsuchenden als das Dritte Bezug genommen wurde und in der sich ein flexibles Verhältnis von Einheit und Abgrenzung zwischen Ost und West herausbildete.92 Ein wesentliches Ergebnis von Räthzels Analyse ist, dass nach dem Fall der Mauer eine Diskursverschränkung zwischen den Diskursen über die Nation und über Ausländer beziehungsweise noch konkreter über Asyl entsteht. Das nationale Selbstverständnis konstruiert sich anhand seines Umgangs mit Migration und mithilfe von Migrationsdiskursen. »Neu ist, daß alle diese Versuche der Neuorientierung sich unmittelbar über das Verhältnis zu verschiedenen Gruppen von Eingewanderten und Flüchtlingen definieren. Ein spezifisches Deutschlandbild wird jeweils dadurch gezeichnet, daß eine spezifische Haltung zu Eingewanderten begründet wird.«93 Sowohl Menschen mit Migrations- als auch mit Osterfahrung stellen aktuell etwa 25 % der bundesdeutschen Gesellschaft dar. Sie sind jedoch nicht annähernd in diesem Umfang in gesellschaftlich wichtigen Positionen repräsentiert, was nicht nur Machtverhältnisse verdeutlicht, sondern auch ein Demokratiedefizit darstellt. Auffällig ist, dass sich aktuelle Zuschreibungen über Ostdeutsche und Migrant*innen bzw. Muslim*innen ähneln.94 Sie werden als intolerant, antidemokratisch, vergangenheitsgewandt und mit größerer Anfälligkeit für Extremismus beschrieben. Dass zwei so unterschiedliche Gruppenkonstruktionen mit ähnlichen Zuschreibungen verknüpft werden, lässt vermuten, dass diese vor allem etwas über die Konstruktionen des Eigenen aussagen. Die Externalisierung unerwünschter Eigenschaften dient nicht zuletzt dazu, die eigene Identität zu stabilisieren und aufzuwerten sowie Privilegien zu sichern.95 Der Diskurs über Ostdeutschland ähnelt zudem in gewisser Weise kolonialen Diskursen. So wurde sowohl Ostdeutschland als auch der Orient als irrational, rechtlos, gewalttätig und maßlos beschrieben.96 Dies zeigt, dass geografische Verortungen Teil von Identitätsbildungsprozessen von Eigenem und Anderen sind, und diese als imagina-
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Ebd., 210–16. Ebd., 253. Differenzkonstruktionen über Religion und insbesondere anhand von Islam und Christentum wurden erst nach dem 11. September 2001 ein zentrales Kritierium. Im Diskurs über Asyl im untersuchten Zeitraum spielt es kaum eine Rolle. Marcel Berlinghoff, Das Ende der »Gastarbeit«: Europäische Anwerbestopps 1970 – 1974, Studien zur historischen Migrationsforschung 27 (Paderborn: Schöningh, 2013), Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2011, 362. Naika Foroutan, »Sind Ostdeutsche auch Migranten?« In (Ost)Deutschlands Weg. 35 weitere Studien, Prognosen & Interviews. Teil II – Gegenwart und Zukunft, 194–8. Christiane Wilke, »Östlich des Rechtsstaats: Vergangenheitspolitik, Recht und Identitätsbildung.« In Der Osten, 172–5.
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tive Geografien oder auch diskursive Konstruktionen verstanden werden müssen, die spezifische Beziehungsmuster, Machtverhältnisse und Grenzziehungen beinhalten.97 Die Beobachtung, dass sich Konstruktionen des Eigenen und Anderen nicht nur auf zwei Gruppen beschränken, sondern sich flexibel und wechselseitig je nach Kontext zu Drittem in Beziehung setzen, lässt sich auch in meinen Analysen feststellen. So geschieht beispielsweise im Diskurs über das Schlupfloch Berlin eine Grenzziehung zur DDR und zu den außereuropäischen Asylanten, ebenso wie sich im Diskurs über die rassistische Gewalt Ostdeutschland und die Asylsuchenden als Andere konstruiert werden. Im Diskurs über die Boat People und die Bürgerkriegsflüchtlinge wird eine Nähe und Empathie hergestellt, die auch durch eine Abgrenzung zu Asylanten, die Asylmissbrauch begehen entsteht. Es lässt sich beobachten, dass allgemein gegenüber Asylsuchenden im ganzen Zeitraum eher Distanzierungs- und Grenzziehungsmechanismen wirken. Lediglich einzelne Gruppen sind daraus ausgenommen. Mitteleuropa wird zunehmend als Teil des Eigenen konstruiert, wobei auch hier interessant ist, welche Länder als zugehörig wahrgenommen werden und wie sich dies über die Zeit veränderte. Die beginnende Europäisierung des Eigenen lässt sich bereits in den 1970er Jahren beobachten, die mit einer Abgrenzung von allem Nicht-Europäischen einherging. Europa beschränkte sich auf Mitteleuropa, sodass Menschen aus Italien oder Spanien als ähnlich fremd und südländisch wie aus der Türkei, Jugoslawien oder Marokko wahrgenommen wurden. Je mehr die Grenzkontrollen abgebaut und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (EG) ermöglicht wurde, desto weniger wurde Migration bzw. Mobilität als politisches Problem gesehen und erfuhr eine gesellschaftliche Normalisierung.98 Durch die Grenzöffnungen und -verschiebungen Anfang der 1990er Jahre sowie dem Schengen-Abkommen, durch das 1995 zunächst zwischen sieben europäischen Ländern nationale Grenzkontrollen aufgehoben wurden, veränderte sich einschneidend der Umgang und die Wahrnehmung von Grenzen in Europa. Durch den Abbau von Grenzen in Europa wurden die geteilten und zu schützenden Außengrenzen zu einem wesentlichen, identitätsstiftenden Merkmal einer neuen europäischen Zugehörigkeit. Die europäische Migrationspolitik betrachtete Mobilität innerhalb des Schengen-Raumes als etwas Erwünschtes und Positives, während außereuropäische Zuwanderung als irregulär und bedrohlich beschrieben wurde. Der Diskurs über illegale Migration diente der Herstellung eines geteilten, imaginierten Raumes und stand »im Zentrum der Neu-Formierung des europäischen Migrationsregimes«99 . Migration begann damit nicht mit der Aufnahme, sondern fand in vielen Politikfeldern Einzug, die sich mit Ursachenbekämpfung, regionaler Flüchtlingsaufnahme und anderen Formen der Deterritorialisierung oder Externalisierung beschäftigten. Das europäische Migrationsregime wurde somit von Anfang als Grenzregime gedacht, da sich alle Abkommen lediglich mit Grenzsicherung, Kontrolle der Migrationswege und Verhinderung illegalisierter Migration beschäftigten. Die Beitrittsfähigkeit eines weiteren Mitgliedlandes wurde unter anderem daran geprüft, ob es in der Lage wäre, die neue Außengrenze ausreichend zu schützen. Die Europäisierung der Migrationssteuerung war damit ein wesentlicher »Teil 97 98 99
Husseini de Araújo, Jenseits vom Kampf der Kulturen, 54–56. Berlinghoff, Das Ende der »Gastarbeit«, 362–63. Karakayali, Gespenster der Migration, 181.
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des europäischen Hegemonialprojektes«100 und begann sich auch auf den deutschen Migrationsdiskurs auszuwirken. Die Harmonisierung des Asylrechts in Europa wurde dabei als Positives und Erstrebenswertes angesehen.101 Die Bedeutung der zunehmenden Europäisierung für die Grundgesetzänderung, lässt sich nicht abschließend beantworten. Es gibt zum einen die These, dass die Aufnahme von Asylsuchenden eigentlich ein deutsches Problem gewesen sei und von dort aus zu einer europäischen Angelegenheit wurde.102 Gegensätzliche Deutungen gehen davon aus, dass erst die Harmonisierung des Asylrechts und die Befürchtung, zu einem europäischen »Asylreserveland« zu werden, die Grundgesetzänderung möglich machten bzw. diese legitimierten.103 Es gibt auch Deutungen, dass es erst durch die Wiedervereinigung möglich wurde, die identitätsstiftende Funktion des Asylrechts zu überwinden und damit eine Angleichung des deutschen Asylrechts an europäischen Standard möglich machte.104 Auch die Veränderungen der osteuropäischen Migrationsbewegungen mögen einen Einfluss darauf gehabt haben sowie die Hoffnung der osteuropäischen Nachbarländer Deutschlands, irgendwann selbst Teil der EU zu werden.105 Erst dies ermöglichte die geographische Verschiebung des Problems nach Osten und zeigt die Machtverhältnisse im sich verändernden Europa.106
7.2.3 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ Die Analyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend ist. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese sollen im Folgenden in einem Überblick formuliert werden, um dann auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail einzugehen. Durch die unkontrollierte Zuwanderung ist unser Land in Gefahr. Die Stabilität unserer Demokratie und der innere Friede sind bedroht. Die Politik ist handlungsunfähig oder denkt nur an ihren eigenen Vorteil. Für eine Grundgesetzänderung sind die europäische Harmonisierung, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Frage des Einwanderungslandes wichtige Bezugspunkte. Die meisten Menschen, die nach Deutschland kommen, missbrauchen das Asylrecht. Bestimmte Gruppen kommen nur nach Deutschland, um sich an der Sozialhilfe zu bereichern. Daher muss
Karakayali, Gespenster der Migration, 197. Ebd., 179–96. Finotelli, Illegale Einwanderung, Flüchtlingsmigration und das Ende des Nord-Süd-Mythos, 61. Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 231. Angela Siebold, ZwischenGrenzen: Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, 1. Aufl. (Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2014), 172 104 Holger Kolb, »Migrationsverhältnisse, nationale Souveränität und europäische Integration: Deutschland zwischen Normalisierung und Europäisierung.« In Oltmer, Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert (s. Anm. 22). 105 Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 143; Siebold, ZwischenGrenzen, 287–94. 106 Blanke, »Zuwanderung und Asyl: Zur Kommunikationsstruktur der Asyldebatte,« 14.
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gehandelt werden, um die wirklich Verfolgten zu schützen. Langfristig ist es vor allem wichtig, Fluchtursachen zu bekämpfen. Um die Kontrolle zurückzuerlangen, brauchen wir eine enge Kooperation mit den osteuropäischen Nachbarländern.
Für die Analyse wurden 214 Artikel untersucht, davon 121 in der SZ und 93 in der FAZ. Der überwiegende Teil ist 1991–1993 erschienen, für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das neue Asylrecht wurden Artikel bis 1996 mitberücksichtigt. Die Berichterstattung ist gekennzeichnet durch tagespolitische Ereignisse und Aussagen von Politiker*innen. Hintergrundartikel oder Gastbeiträge von Wissenschaft oder Zivilgesellschaft hingegen finden sich kaum. Chronologisch gesehen ist dies das erste Mal, dass die FAZ und SZ eindeutig gegensätzliche Positionen einnehmen und die FAZ sich mit CDU/CSU-nahen Positionen für eine Grundgesetzänderung identifiziert, während in der SZ die SPD-nahen Positionen gegen eine Grundgesetzänderung vertreten werden. Die Problembeschreibungen ähneln sich jedoch noch stark, lediglich die Lösungsansätze werden unterschiedlich bewertet.
7.3 Das Eigene 7.3.1 Gesellschaftliche Krisensituation, Bedrohung des inneren Friedens und Handlungsdruck Die Stimmung, die dem Diskurs über die Grundgesetzänderung zu Grunde liegt, ist die einer Krise bzw. des Ausnahmezustandes. Neben der Überforderung und der Besorgnis der Bevölkerung (siehe Kapitel 6.3.3), sind zentrale Beschreibungen dieser Krise, dass die Stabilität der Demokratie und der innere Friede bedroht ist. Um die Krise abzuwenden, wird es als notwendig erachtet, dass die Politik ihre eigene Handlungsfähigkeit und die Kontrolle über die Zuwanderung zurückerlangt. Sonst würden Gewalt und Rechtsextremismus – als Folge der Asylmigration – noch mehr zunehmen. Die folgende Analyse ist die chronologisch gesehen erste, in der sich die beiden Zeitungen sehr unterschiedlich positionieren. Während die FAZ eher unionsnahe Positionen für eine Grundgesetzänderung vertritt, identifiziert sich die SZ stärker mit der SPD. Das Deutungsmuster der Krise, das im politischen Diskurs vorherrscht, wird hingegen in beiden Zeitungen aufgegriffen und bestätigt. Die FAZ nutzt deutliche Worte und Bilder, wie Gift, Sprengstoff oder Brand, um diese Krisenstimmung zu transportieren: durch die Zuwanderung und den Missbrauch werde das »politische Klima in Deutschland vergiftet«107 , es »bringe jedes Recht und die Verhältnisse in Deutschland in Gefahr«108 , beinhalte »›gesellschaftlichen Sprengstoff«109 und verursache »politische
107 Alfred Behr, »›Die Leute haben den Zirkus satt‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.03.1992. 108 Claus Gennrich, »Die Koalition spricht von drohendem Staatsnotstand.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.11.1992. 109 Bernd Heptner, »Kanther hält Änderung des Asylrechts im Grundgesetz für nicht ausreichend.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.1992.
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und soziale Spannungen«110 . Folgendes Zitat bezeichnet in makabrer Weise sowohl die rassistische Gewalt als auch das Asylgrundrecht als »brennendes Problem«: »Die Asylrechtsfrage ist ein brennendes Problem, bei welchem der übertragene Sinn des Wortes von Tag zu Tag mehr in den wortwörtlichen überzugehen droht. [...] Kein Rechtsstaat kann sich dieser Gefahr aussetzen, sie einzudämmen, zu bekämpfen und ihr vorzubauen ist nur kurzfristig die Pflicht der Polizei, auf längere Sicht jedoch die der Politik. Die vom Grundgesetz diktierte Asylpraxis [...] war nahe daran, zu einem Flächenbrand zu werden, der die finanzielle und soziale Leistungskraft des Staates und der Kommunen, das Rechtsgefühl der Bürger und schließlich das Ansehen Deutschlands in der Welt in Mitleidenschaft zieht.«111 Wenn die Asylpraxis mit einem Flächenbrand verglichen wird, wird damit suggeriert, dass sich Deutschland in einer existenziellen und lebensbedrohlichen Notlage befindet, die sich auf alle Bereiche des Lebens in Deutschland auswirken kann. Die brennenden Asylunterkünfte seien eine Folge davon. In der SZ finden sich weniger solche generalisierenden und dramatisierenden Darstellungen. Es wird jedoch etwas konkreter benannt, was ohne eine Grundgesetzänderung droht, wie etwa eine »haltlose politische Situation«112 , dass »das gesamte soziale System nicht mehr haltbar, nicht mehr finanzierbar wäre.‹«113 »Die Infrastruktur der Bundesrepublik würde in Schieflage kommen, wenn es bei dem Zustrom bleibe«114 . Es wird ein stärkerer Bezug zu den finanziellen Möglichkeiten des Sozialstaats hergestellt, unter anderem mit Berichterstattung über SozialhilfeMissbrauch. Die Kollektivsymbole hinsichtlich der Bedrohung des inneren Friedens und der Stabilität der Demokratie finden sich in beiden Zeitungen. Sie werden aus dem politischen Diskurs aufgegriffen und in ähnlicher Weise wiedergegeben. Der innere Friede findet sich in vielen Artikeln, dennoch wird nirgendwo explizit erklärt, was damit gemeint ist und was es bedeuten würde, wenn er verloren ginge. Friede wird definiert als »Zusammenleben in Ruhe und Sicherheit«115 , als Gegenteil zu einem gesellschaftlichen Frieden könnten somit Zustände wie Gewalt, Spaltung, Spannungen, Verunsicherungen, Unruhe oder die Stärkung von »Randgruppen unterschiedlichster Art«116 gesehen werden. Für alle, die von der rassistischen Gewalt betroffen sind, ist der friedliche Zustand bereits beendet. Da jedoch stets von Bedrohung des inneren Friedens gesprochen wird, entsteht der Eindruck, dass das Recht auf inneren Frieden nur für die einheimische, Weiße Mehrheitsgesellschaft gilt. Es geht hier um »eine Ordnung, die die Mehrheitsgesellschaft bestätigt und schützt. Bestätigt in dem Sinn, dass sie in einem positiven 110 111 112 113 114 115 116
o. A., »Der SPD-Asylbeschluß in Auszügen: Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.1992. Hefty, »Kein Anspruch auf das Wunschland«. AFP/AP, »Scharping warnt vor Scheitern.« Süddeutsche Zeitung, 18.05.1993. Ebd. Martin Rehm, »Dem ›Asylschwindel‹ ein Ende setzen.« Süddeutsche Zeitung, 13.04.1992. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »Friede.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355). Eberhard Schwarz, »Aus der ›Ohrfeige‹ eine Lehre ziehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.1992.
7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation
Selbstbild gestärkt wird, dass alles friedlich und demokratisch in dieser Gesellschaft zugehe.«117 Dies zeigt beispielweise die gemeinsame Erklärung der Parteien: »Wie jeder andere Staat muß auch Deutschland Zuwanderung steuern und begrenzen können. Ohne eine solche Möglichkeit werden Ängste und Unsicherheiten verstärkt, die für den inneren Frieden schädlich sind.«118 »Deutschland schotte sich damit ab, bezeichnete er als falsch. Letztlich diene das neue Recht dem inneren Frieden und dem friedlichen Zusammenleben, meinte Schäuble.«119 Der innere Friede blendet sowohl Opfer rassistischer Gewalt als auch den Schutz geflüchteter Menschen systematisch aus, da dadurch das positive Selbstbild infrage gestellt werden würde. »Um das Selbstbild eines wohlgeordneten demokratischen Staats aufrecht zu erhalten, wird in diesem Kontext oft anhaltend Ungerechtigkeit, Inhumanität und Gewalt unter der Wahrnehmungsschwelle gehalten«.120 Einher geht der innere Friede mit der Stabilität der Demokratie. Das Positionspapier der SPD trägt den Titel »Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen«121 . Auch hier wird nicht eindeutig gesagt, was damit gemeint ist. Demokratie erscheint jedoch als etwas sehr Zerbrechliches, und bezieht sich sowohl auf die Legitimität und das Vertrauen der Bürger*innen in die Demokratie, als auch auf die Abwehr von Rechtsextremismus und Gewalt. Demokratie als schützenswertes und bedrohtes Gut übernimmt die Funktion eines leeren Signifikanten im Diskurs, da dieser Forderung jede*r zustimmt und es gleichzeitig sehr vage bleibt.122 Als Ursache findet sich erneut die wachsende Zuwanderung: »Hohe Flüchtlingszahl gefährdet Stabilität der Demokratie«123 . Deutschland sei »durch die hohe und rasch wachsende Zuwanderung überfordert [...] Die damit verbundenen politischen und sozialen Spannungen drohen die Stabilität unserer Demokratie zu untergraben«124 . Des Weiteren wird aber auch die Art des Sprechens als Bedrohung für die Demokratie betrachtet: »›Wer rechtsradikale Methoden kopiert, kann dabei nicht gewinnen; im Gegenteil: Die Demokratie verliert.«125 Die »asylpolitische Debatte« sei eine »Belastung des innenpolitischen Klimas. Der Demokratie drohe Gefahr.«126 An anderer Stelle wird etwas salopp formuliert »›Die elende Debatte muß beendet werden, die bereits jetzt Morde und Totschlag ausgelöst hat.‹«127 Der Schutz der Demokratie lässt sich jedoch auch als Argument gegen eine Grundgesetzänderung nutzen: »Wer leichtfertig ein Grundrecht aufgebe, gefährde die gesamte Demokratie.«128 Birgit Rommelspacher, »Geleitwort.« In Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt, 9. SZ, »Ergebnisse der Verhandlungen zu Zuwanderung und Asyl.« Süddeutsche Zeitung, 08.12.1992. mes, »Mehrheit spricht sich für neues Asylrecht aus.« Süddeutsche Zeitung, 27.05.1993. Birgit Rommelspacher, »Geleitwort.« In Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt, 10. o. A., »Der SPD-Asylbeschluß in Auszügen: Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen«. 122 Laclau, Emanzipation und Differenz, 77. 123 mes, »Mehrheit spricht sich für neues Asylrecht aus«. 124 o. A., »Der SPD-Asylbeschluß in Auszügen: Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen«. 125 Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. 126 Günter Bannas, »Der Demokratie drohte Gefahr.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.1993. 127 Georg P. Hefty, «Nach französischem Vorbild«.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.11.1992. 128 Wolfgang Stock, »Breite Übereinstimmung beim Asylrecht im Bundestag.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.1993.
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Die Krise kann als überwunden angesehen werden, wenn die Kontrolle über die Zuwanderung und Handlungsfähigkeit der Politik zurückgewonnen werden. Während die FAZ von einer Rückgewinnung einer umfassenden Kontrolle ausgeht, wird dies in der SZ angezweifelt. In der FAZ wird von der Steuerung von Migration durch Push- und Pull-Faktoren ausgegangen. Lediglich die »verfassungsrechtliche(n) Fessel des uneingeschränkten individuellen Asylrechts«129 hindere die Bundesrepublik daran. Dann sei es möglich, den »Zugang der Asylbewerber ›steuerbar‹«130 zu machen. Ziel sei »das Management globaler Flüchtlingsbewegungen«131 , welches durch den Begriff des Managements bereits eine ökonomische und eher technische Sichtweise auf Fluchtbewegungen verkörpert. In der SZ wird zwar auch die Notwendigkeit einer Steuerung gesehen, umfassende Kontrollmöglichkeiten jedoch stärker in Frage gestellt und mit einer ethischen Komponente verbunden. Es gehe darum, »künftige Flüchtlingsströme verantwortungsvoll zu steuern und mit einer realistischen Einwanderungspolitik zu verbinden.«132 »Die Menschen werden weiterhin kommen. Die Frage ist nur, durch welches Türl [sic!] sie reinkommen«133 . Die Grundgesetzänderung und die Überwindung der Krise ist eng mit dem Motiv der Handlungsfähigkeit verknüpft. Es wird so dargestellt, als sei alles, was Politik sonst getan hat, ein Nicht-Handeln, weil sich damit die Asylantragszahlen nicht reduziert haben. Es geht somit nicht um allgemeines politisches Handeln, was unterschiedliche Meinungen und eine Kompromisssuche elementar miteinschließen würde, sondern als handlungsfähig wird Politik nur wahrgenommen, wenn sie sich entscheidet, das Grundgesetz zu ändern bzw. wenn Zuwanderungszahlen dauerhaft reduziert wurden. Da keine konkreten Alternativen diskutiert werden, ist die Handlungsfähigkeit nur noch davon abhängig, wann und wie stark das Grundgesetz geändert wird. Die politischen Handlungsspielräume werden somit immer enger und schränken durch die einseitigen Deutungen und den klaren Zielpunkt tatsächlich die Handlungsfähigkeit und das Sagbarkeitsfeld immer mehr ein. Die Thematisierung der Handlungsfähigkeit unterstreicht in der FAZ stark die Krisenstimmung: es gelte »›alles zu tun, damit dieser Rechtsstaat handlungsfähig bleibt und Entschlossenheit zeigt, [...] den Mißbrauch zu beenden.‹«134 Innenminister Schäuble, der als einer der treibenden Kräfte für die Grundgesetzänderung dargestellt wird, formuliert: »›Es ist bereits fünf nach zwölf.‹ Die Menschen hätten den Eindruck, die Politiker würden in dieser Frage nur folgenlos streiten. Es drohe ein Vertrauensverlust für demokratische Parteien.«135 Durch eine fehlende Entscheidungsbereitschaft werde die »deutsche Ohnmacht konserviert«136 und der »Eindruck einer Lähmung 129 130 131 132 133 134 135 136
Eckhard Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.1992. Alfred Behr, »›Aussiedlern bleibt das Tor offen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.03.1992. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«. AFP/AP, »Scharping warnt vor Scheitern«. Heribert Prantl, »Die Genfer Flüchtlingskonvention ist kein Instrument zur Drosselung der Flüchtlingszahlen.« Süddeutsche Zeitung, 11.09.1992. Günter Bannas, »Seiters beklagt Mißbrauch des Asylrechts.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.1992. Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. Karl Feldmeyer, René Wagner und Günter Bannas, »Die Union will sich vom Zeitplan für das neue Asylrecht nicht abbringen lassen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.1993.
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des politischen Handelns verstärkt.«137 »Ein sozialer Notstand sei gegeben«138 , daher sei die Grundgesetzänderung »als letzte(r) Ausweg« zu sehen um »drohenden ›Staatsnotstand‹ abzuwenden.«139 Es entsteht ein Eindruck, die Politik sei wie gefangen und gelähmt und traue sich nicht, die offensichtlichen Schritte zu gehen. Diese Vorstellungen verstärken die Krisenstimmung und das Gefühl der Unsicherheit und des Kontrollverlusts. In der SZ hingegen findet sich diese Zuspitzung der Krisenstimmung nicht so stark wieder, beziehungsweise wird vor allem aufgrund der Angst vor rassistischer Gewalt verbalisiert. »Wenn die Politik nicht handele, werde dies einen starken Zulauf für extreme Gruppen bewirken.«140 Die SPD wird zitiert: »›Wenn wir uns nicht in diesem Jahr mit der CDU/CSU einigen, dann wird der Rechtsradikalismus in einem Maße zunehmen, daß uns Hören und Sehen vergeht.‹«141 Wie dramatisch die Situation der SPD wahrgenommen wird, zeigt auch folgendes Zitat: »Weil man sich nun einmal in den Sumpf manövriert habe, müsse man sich, um zu überleben, ruhig verhalten; wenn die SPD sich jetzt noch bewege, versinke sie vollends.«142 Das Zögern und die Zweifel143 sowie das Problem, keine alternative Lösung zu haben, ziehen sich wieder ein roter Faden durch die Berichterstattung über die SPD. Die Krisenstimmung, die durch die Argumentationsfiguren der Bedrohung des inneren Friedens und der Demokratie, des Kontrollverlusts und der Handlungsunfähigkeit entsteht, bewirkt, dass die Grundgesetzänderung zunehmend zur »Überlebensfrage der Nation«144 aufgebläht wird und immer alternativloser wirkt.
7.3.2 Das Eigene zwischen Europäisierung, Flüchtlingskonvention und Nichteinwanderungsland Im Folgenden wird betrachtet, welche Bezüge und Orientierungspunkte für die Definition des Eigenen auftauchen, um eine Grundgesetzänderung zu legitimieren. Als wichtiger werdender Referenzpunkt kann die zunehmende Europäisierung gesehen werden. Die europäischen Länder werden bei Aufnahme und Asylverfahren immer mehr zum Vergleichspunkt. Das Stichwort »Europäische Harmonisierung« ist mit einer Forderung nach Lastenteilung und einer Notwendigkeit der Absenkung deutscher Asylstandards verbunden. Als weiterer Referenzpunkt ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zu nennen, die Deutschland ratifiziert hat, die aber aufgrund des Asylgrundrechts zuvor kaum eine Rolle in der Rechtsprechung spielte. Diese wird je nach Position sehr unterschiedlich ausgelegt. Nicht zuletzt läuft die Frage nach einem Selbstverständnis als Einwanderungsland und von Zugehörigkeit unterschwellig mit. Renate Köcher, »Vertrauensschwund.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.1993. Gennrich, »Die Koalition spricht von drohendem Staatsnotstand«. Ebd. AFP/Reuter, »Mehrheit der SPD in Hessen gegen Asylgesetz.« Süddeutsche Zeitung, 17.05.1993. AFP/dpa, »Lafontaine: Parteitag wird für neuen Artikel 16 stimmen.« Süddeutsche Zeitung, 28.09.1992. 142 Heribert Prantl, »Ein Fall für das Lehrbuch der Parteipsychiatrie.« Süddeutsche Zeitung, 25.05.1993. 143 mes, »Mehrheit spricht sich für neues Asylrecht aus«. 144 Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 119. 137 138 139 140 141
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Hinsichtlich der europäischen Harmonisierung herrscht Einigkeit in den Artikeln der FAZ und der SZ: »Deutschland nehme gegenwärtig mit 250 000 Asylbewerbern im Jahr mehr als sechzig Prozent aller Bewerber in der Europäischen Gemeinschaft auf. Angesichts dessen müsse das europäische Asylrecht harmonisiert werden. Da sich aber andere Länder weigerten, den deutschen Standard zu übernehmen, müsse das Grundgesetz den europäischen Regelungen angepasst werden.«145 Es brauche die Grundgesetzänderung, »die es Deutschland erlaubt, ohne Sonderstatus, der es zum ›Reserve-Asylland‹ Europas machte, am Schengener Abkommen teilzunehmen.«146 Deutschland könne »nicht weiter die Hauptlast« tragen. »Europaweit sei eine gerechte Lastenverteilung notwendig.«147 Deutschland wird hierbei als Retter*in inszeniert, die die meisten Asylsuchenden in Europa aufnimmt, was im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung jedoch nicht stimmt.148 Die Europäisierung wird als gewichtiges Argument in beiden Zeitungen anerkannt und bekommt vielleicht auch deshalb kaum Raum im Diskurs, da es keinen Aushandlungsbedarf gibt. Die Auslegungen um die Genfer Flüchtlingskonvention gehen hingegen weit auseinander. Einigkeit besteht allein darüber, dass auf Grundlage der GFK Menschen an der Grenze abgewiesen werden dürfen, während das Asylgrundrecht dies nicht erlaube. Dies wird in der SZ jedoch kritisiert: »Das Ergebnis ist freilich bizarr: Während der legal sich an der Grenze meldende Flüchtling nach der GFK zurückgewiesen werden kann, steht derselbe Flüchtling, wenn er statt dessen illegal die Grenze überquert, unter Abschiebeschutz.«149 In der FAZ wird die Konvention nicht als besonders konkret oder bindend beschrieben: »Doch überlasse die Konvention ›das Verfahren zur Anerkennung als Flüchtling den Vertragsstaaten, die das Verfahren für unterschiedliche Flüchtlingsgruppen auch unterschiedlich regeln können‹.«150 »Es ist aber keine Verpflichtung statuiert, einen Verfolgten ins Land zu lassen oder – ihn dort zu behalten.«151 In der SZ hingegen gibt es drei Artikel, die sich explizit mit den Vorgaben der GFK beschäftigen und betonen, dass es auch mit einer Grundgesetzänderung einen Flüchtlingsschutz in Deutschland gibt, der in bestimmten Fällen sogar weiter geht als das Grundgesetz. »Die Reduktion der Flüchtlingshilfe auf einen Gnadenerweis, über den die Behörden je nach Aufnahmekapazität rechtlich frei entscheiden, ist unter heutigen Bedingungen nur unter Aufkündigung der GFK möglich – und dies wird ernsthaft wohl kaum jemand verlangen.«152 Es wird kritisiert, dass die GFK falsch interpretiert wird: »Und alle möglichen Forderungen werden mit dem Hinweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention begründet – gerade so, als sei diese ein Vollzugsplan zur raschen Ausweisung von Flüchtlingen.«153 »Wer meint, Klaus Dreher, »Bundestag für Beschleunigung der Asylverfahren.« Süddeutsche Zeitung, 21.02.1992. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«. mes, »Mehrheit spricht sich für neues Asylrecht aus«. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Johannes Maising, »An der Genfer Flüchtlingskonvention kommt kein Land vorbei.« Süddeutsche Zeitung, 30.04.1992. 150 Günter Bannas, »Individualrecht oder Garantie.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.1992. 151 Ulrich Fastenrath, »Problementschärfung durch Genfer Flüchtlingskonvention.« Frankfurter Allgemeine Zeitung. 152 Maising, »An der Genfer Flüchtlingskonvention kommt kein Land vorbei«. 153 Heribert Prantl, »Wieviel Rechtsschutz braucht der Flüchtling?« Süddeutsche Zeitung, 22.09.1992.
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unter Zuhilfenahme der Flüchtlingskonvention aus dem Asylrecht ein Gnadenrecht machen zu können (und mit dem Wort Gnade letztlich Willkür meint), der täuscht sich.«154 Die GFK wirkt hier im Diskurs wie ein Rettungsanker, als immer deutlicher wird, wie stark das Asylrecht in Deutschland von Einschränkungen bedroht ist. Die gegensätzlichen Positionen aus den beiden Zeitungen stehen nebeneinander, ohne dass aufeinander Bezug genommen wird oder diese aufgelöst werden. Auch das macht deutlich, dass eine sachliche Auseinandersetzung nicht stattgefunden hat. Die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird zwar nicht offen diskutiert, dennoch spielt es eine Rolle beim eigenen Selbstverständnis. In der FAZ werden eher CDU/CSU-nahe Positionen aufgegriffen und zitiert. Diese vertreten die Meinung, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist, jedoch allen Spätaussiedlern mit deutscher Volkszugehörigkeit verpflichtet ist: »unvereinbar mit dem Standpunkt der Union sind die Vorstellungen der SPD, Deutschland zu einem Einwanderungsland zu erklären und ein Einwanderungsgesetz zu schaffen.«155 Jedoch »müsse Deutschland ›selbstverständlich offen sein für alle, die zu unserem Land gehören‹« »Wer als Deutscher nach Deutschland kommt, für den bleibt auch in Zukunft das Tor offen«156 . Dies geht so weit, dass bereits der Begriff »Einwanderung« als bedrohlich wahrgenommen und daher vermieden wird: »Es gibt in der Union allerdings auch erhebliche Bedenken, den Begriff ›Einwanderung‹ überhaupt in die politische Debatte einzuführen. [...] Man fürchte eine psychologische Überforderung der Bevölkerung«157 . Statt eine »multikulturelle Gesellschaft« anzustreben, ginge es vielmehr darum, »das Eigene, auch die eigene ›Identität‹ zu bewahren, ohne der Illusion zu verfallen, man könne in Europa die Türen zusperren.«158 In der SZ hingegen findet sich auch immer wieder die Beschreibung Deutschlands als Einwanderungsland: »›Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß wir ein multikultureller Staat sind und immer waren‹.«159 »Bei sechs Millionen Ausländern im Land müsse endlich akzeptiert werden, daß man es mit Einwanderern und nicht mit zeitweilig hier lebenden Personen zu tun habe.«160 Dies zeigt, dass es bei der Grundgesetzänderung tatsächlich um mehr ging als um eine Neugestaltung des Asylrechts, sondern auch mitverhandelt wurde, in was für einer Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen und wer dabei mitsprechen darf und dazugehört. Während in der wissenschaftlichen Literatur die europäische Harmonisierung als zentraler Grund für eine Grundgesetzänderung angegeben wird, ist diese im medialen Diskurs der beiden Zeitungen nicht viel mehr als eine Floskel. Auch die GFK wirkt mehr als ein Mittel zum Zweck, um die eigene Position zu untermauern und wird wenig differenziert dargestellt. Interessant ist, dass auch der Parlamentarische Rat, der in den 1980er Jahren noch stark als Legitimationsfolie genutzt wurde, und auch die Erfahrungen im Nationalsozialismus kaum noch eine Rolle spielen. Lediglich in der Frage des Ein-
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Ebd. Georg P. Hefty, »Vier Knoten in der Asylrechtsdebatte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.1991. Behr, »›Aussiedlern bleibt das Tor offen‹«. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«. Ebd. Heribert Prantl, »Konzept für ›neue Flüchtlingspolitik‹ gefordert.« Süddeutsche Zeitung, 13.10.1990. AFP/dpa, »Lafontaine: Parteitag wird für neuen Artikel 16 stimmen«.
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wanderungslandes scheinen fundiertere, nicht nur auf die Grundgesetzänderung bezogene, Positionen vertreten zu sein, die jedoch symbolisch so aufgeladen sind, sodass es auch hier nicht zu einer sachlichen Auseinandersetzung kommt. Die emotionale Aufladung mag ein Grund sein, warum die SPD auch nicht in der Lage war, überhaupt einen Vorschlag für ein Einwanderungsgesetz vorzulegen, anhand dessen diskutiert hätte werden können.
7.3.3 Verhalten und Umgang der Parteien In den Artikeln finden sich vielfältige Beschreibungen, wie die Parteien handeln und welche Motive jeweils dahinter vermutet werden. Häufig entsteht der Eindruck, die Partei sei eine Person, die allzu menschlich, irrational, egoistisch und gefühlsorientiert handelt und nicht eine demokratische Partei, die sich für das Wohl aller zuständig fühlt. Durch die Berichterstattung entsteht ein Gefühl des Misstrauens, indem die Parteien als wankelmütig und schwer zu durchschauen erscheinen. Die Beschreibungen enthalten klare Bewertungen, lassen deutlich durchscheinen, ob eine Grundgesetzänderung gewünscht ist oder nicht und beinhalten auch Hinweise auf das jeweilige politische Selbstverständnis und die Vorstellungen eines guten Umgangs der Parteien miteinander. Im Fokus beider Zeitungen steht vor allem die SPD, jedoch mit sehr unterschiedlichen Deutungen. In den Artikeln der FAZ wird nur darauf gewartet, dass die SPD endlich der Grundgesetzänderung zustimmt, während in der SZ stärker das Ringen der SPD in den Vordergrund gestellt wird, Enttäuschung ausgedrückt und bis zuletzt appelliert wird, gegen eine Grundgesetzänderung zu stimmen. In beiden Zeitungen wird die Forderung nach mehr Sachlichkeit in der Debatte formuliert. Der SPD wird in der FAZ vorgeworfen, dass sie »jede Mitwirkung an einer sachgerechten Lösung verweigere«161 , »die Bemühungen der Union blockierten«162 und einen »Eiertanz«163 veranstalte. Es sei notwendig, »die von der SPD selbst aufgebauten Tabumauern«164 und »starren Fronten der Asylpolitik«165 zu durchbrechen. Dabei wird auch auf eine militärische Symbolik zurückgegriffen. Der Grund, warum die SPD nicht der Grundgesetzänderung zustimme, liege an ihren moralischen Vorstellungen. Diese werden mit Worten wie »gesinnungsethischem Wirklichkeitsverlust«166 und »ideologischer Verblendung«167 beschrieben. Es wird eine Umfrage zitiert, die Bevölkerung betrachte »den Widerstand gegen den Asylkompromiß als falsch verstandene Menschlichkeit. Politiker wollten sich wichtig machen oder sozial erscheinen.«168 Es gehe der SPD nicht um den Schutz politisch Verfolgter, zudem entstünden die Motive nicht aus »politischer Überzeugung und schon gar nicht [aus] einem klaren Konzept«169 . Als Teile der SPD eine 161 162 163 164 165 166 167 168 169
Gennrich, »Widersprüchliche Ansichten zur Asylfrage in der SPD«. Alfred Behr, »Teufel: Kurs halten in stürmischen Zeiten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.1992. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«. Günter Bannas, »›Tabumauer der SPD durchbrochen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.03.1992. Fastenrath, »Problementschärfung durch Genfer Flüchtlingskonvention«. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«. Gennrich, »Die Koalition spricht von drohendem Staatsnotstand«. eed., »Wenig Verständnis für Bedenken der SPD.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.1993. Fuhr, »Sie bewegt sich ächzend«.
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Grundgesetzänderung als Möglichkeit sehen, wird dies in einem Artikel mit dem Titel »Sie bewegt sich ächzend« als »klare, ehrliche Kurskorrektur«170 und als Durchsetzung einer »realistische[n] Asylpolitik«171 von der FAZ gewertet. Anfang 1993 wird in einem Zitat allen, die noch an einer Grundgesetzänderung zweifeln, die Vernunft abgesprochen: »Kein vernünftig denkender Mensch könne länger Zweifel an der unverzüglich erforderlichen Umsetzung des Kompromisses zur Änderung des Asylrechtsänderung im Grundgesetz haben.«172 Auf der einen Seite entsteht ein massiver Eindruck von Inkompetenz, innerer Zerrissenheit, Intransparenz und Undurchschaubarkeit. Es wird weder deutlich, welche Position die SPD bis auf eine Blockade der Union eigentlich vertritt, noch warum sie letztlich der Grundgesetzänderung doch zustimmt. Auf der anderen Seite wird ein Gegensatz konstruiert zwischen einer Politik, die sich von moralischen und humanitären Aspekten leiten lässt und jener, die rational und realitätsbezogen handelt. Es wird davon ausgegangen, dass sich die SPD auf erstere bezieht, jedoch wird in Frage gestellt, ob dies nicht nur aus taktischem Kalkül geschieht. Ein moralischer Anspruch sowie Menschlichkeit wird in der FAZ zudem als Orientierung im Asylrecht abgelehnt, obwohl dies der eigentliche Grund der Asylgewährung ist. Dies zeigt, wie sehr durch die Rhetorik des Asylmissbrauchs das Opfer-Retter-Verhältnis grundlegend umgekehrt wird. Von der Union hingegen wurde auch die Zielsetzung einer Asylpolitik »der Humanität und der Vernunft« formuliert173 , die unterstellt, dass es möglich sei, das Asylgrundrecht einzuschränken und gleichzeitig human zu sein bzw. zu wirken. In der SZ finden sich zum einen Zitate von der SPD, die ihre Position und Vorgehensweise rechtfertigen sowie ebenfalls eine Kritik an der SPD, jedoch im Gegensatz zur FAZ im Bezug darauf, zu der Grundgesetzänderung zuzustimmen. In der SZ wird die Unentschiedenheit der SPD als eine Suche nach der besten Lösung und mit einer historischen Verantwortung nach dem Nationalsozialismus erklärt: »›Wir Sozialdemokraten machen es uns schwer.‹ Das habe jedoch nichts zu tun mit einer Verweigerungshaltung. Das Ringen um die richtige Entscheidung hänge zusammen ›mit den historischen Erfahrungen dieser Partei, deren führende Mitglieder in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ins Exil getrieben worden sind‹.«174 Selbst bei der Abstimmung im Bundestag äußert sich die SPD, dass es besser ist zu zweifeln, als es sich zu leicht zu machen: »›Froh und ungeteilt glücklich ist bei uns niemand‹, sagt Klose da – ›im Gegensatz zu jenen im Hause, die immer und zu jedem Zeitpunkt wissen, was gut und richtig ist.‹«175 Hier wird der Zweifel als ein Qualitätsmerkmal beschrieben, eine möglichst gute Entscheidung zu treffen, in dem Bewusstsein, dass jede Entscheidung auch Nachteile hat. 170 Ebd. 171 Ebd. 172 Feldmeyer, Wagner und Bannas, »Die Union will sich vom Zeitplan für das neue Asylrecht nicht abbringen lassen«. 173 Dreher, »Bundestag für Beschleunigung der Asylverfahren«. 174 Ulrich Deupmann, »CDU und FDP setzen weiter auf Verfassungsänderung mit der SPD.« Süddeutsche Zeitung, 16.10.1992. 175 Stefan Kornelius und Ulrich Deupmann, »Der Konvent der Belagerten.« Süddeutsche Zeitung, 27.05.1993.
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In Meinungskommentaren, insbesondere vom Journalist Heribert Prantl, wird das Versagen der SPD mit drastischen Metaphern dargestellt, die eine Kritik an der vermeintlichen Machtlosigkeit und Schuldlosigkeit darstellen. Die SPD habe das Asylgrundrecht auf die Rutschbahn gestellt und damit jegliche Kontrolle darüber abgegeben: »Es ist dies die Klage gegen ein Naturgesetz: Was auf eine Rutschbahn gestellt wird, rutscht eben nach unten.«176 In ihrer Hilflosigkeit könnten sie sich nur noch fragen: »Sollen sie es dabei bewenden lassen, die Hände insoweit in Unschuld zu waschen?«177 Nach der Grundgesetzänderung beschreibt Prantl das Ergebnis für die SPD als komplettes Versagen: »Wie man alles hergibt und nichts dafür erhält«178 . »Die Delegierten reden sich in einem Akt der Selbsttherapie ihre Zweifel am neuen Asylkurs weg.«179 Während die FAZ die Zweifel und den langen Entscheidungsprozess als Schwäche wertet, wird dies in der SZ als notwendig anerkannt. Lediglich mit dem Ergebnis des Prozesses wird deutliche Unzufriedenheit formuliert, als hätte man von der SPD etwas anderes erwartet. Während in der FAZ der SPD aufgrund ihres Zögerns die Schuld für die Krise und die rassistische Gewalt zugeschrieben wird, wird ihr in der SZ die Schuld dafür gegeben, die Grundgesetzänderung nicht verhindert und damit zur Abschottung Deutschlands beigetragen zu haben. In beiden Zeitungen wird sie zur Verliererin. Die Union hingegen wird in beiden kaum kritisiert, in der FAZ, weil sie eine ähnliche Position vertritt, in der SZ, weil keine Auseinandersetzung mit einer so gegensätzlichen Position erforderlich ist. Dies scheint so klar, dass anscheinend kaum Aushandlungsund Thematisierungsbedarf besteht.180 Nicht zuletzt findet sich in der SZ auch eine ausführlichere Auseinandersetzung um das Verhalten »der Politik« im Allgemeinen. »Politik werde manchmal in Bonn nach einer Art Show betrieben, was bei den Wählern Verbitterung auslöse.‹«181 Es wird an verschiedenen Stellen die These aufgestellt, dass es gar nicht mehr um das Asylrecht gehe. Stattdessen werde die Debatte für machtpolitische Strategien genutzt, oder die Parteien seien dem Thema Asyl längst überdrüssig geworden. »Die Hauptsorge der großen Parteien gilt nicht einem fairen Asylverfahren. Es geht ihnen vor allem darum, wer den Lorbeer für die Exekution des alten Asylgrundrechts ernten darf.«182 »Die Regierungsparteien und die SPD haben weder Luft noch Lust, sich länger mit dem Asylrecht zu quälen.«183 »Sehr schnell war erkannt, daß sich der Asylstreit zur politischen Polarisierung eignete.«184 An Heribert Prantl, »Asylkompromiß auf der Rutschbahn.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1993. Heribert Prantl, »Genügt es, die Hände in Unschuld zu waschen?« Süddeutsche Zeitung, 17.05.1993. Prantl, »Ein Fall für das Lehrbuch der Parteipsychiatrie«. Ebd. Die FAZ kritisiert sie 1991, als die Grundgesetzänderung noch nicht unabwendbar wirkt, die Union betreibe eine »Geisterdiskussion um eine Verfassungsänderung« und den Missbrauch der »Asylfrage als Wahlkampfinstrument«. Die SZ schreibt an einer Stelle »Nicht nur die SPD, auch die CDU schlägt ihre Haken, um sich des Rechtsschutzes für Flüchtlinge möglichst schnell zu entledigen. (…) Auch die CDU hat vom unantastbaren, gar vom heiligen Recht auf Asyl gesprochen.« Dieter Wenz, »Appelle an die Vernunft beim Asylrecht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.09.1991; Prantl, »Wieviel Rechtsschutz braucht der Flüchtling?«. 181 Rehm, »Dem ›Asylschwindel‹ ein Ende setzen«. 182 Heribert Prantl, »Bitterer Lorbeer.« Süddeutsche Zeitung, 16.01.1993. 183 Heribert Prantl, »Debatte beginnt, Diskussion zu Ende.« Süddeutsche Zeitung, 22.01.1993. 184 Jürgen Busche, »Es ist ein Trauerspiel.« Süddeutsche Zeitung, 26.05.1993. 176 177 178 179 180
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wenigen Stellen werden Politiker*innen zitiert, die einen sachliche Debatte und einen respektvollen Umgang miteinander fordern: »den gemeinsamen Asylkompromiß zügig und in sachlicher Atmosphäre zu verabschieden.«185 Die Auseinandersetzung um das Verhalten und den Umgang der Parteien miteinander nimmt in der Debatte um die Grundgesetzänderung viel Raum ein und stellt eine indirekte Aushandlung des eigenen politischen Selbstverständnisses dar. Während in der SZ Zweifel und eine länger andauernde Suche nach Lösungen als Teil des politischen Prozesses verstanden werden, und vor allem eine klare moralische Haltung von einer Partei gefordert wird, wird in der FAZ von einer Partei vor allem Rationalität, Pragmatismus, und Schnelligkeit erwartet. Ein moralisches Fundament ist dabei eher hinderlich, was dem Asylgrundrecht jedoch damit seine zugrundeliegende Intention entzieht. Hierbei dient der Asylmissbrauch als Legitimation.
7.3.4 Kritik und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts Die Forderungen, das Grundgesetz zu ändern, blieben nicht ohne Widerspruch. Im Folgenden wird dargestellt, welche Kritik an einer Grundgesetzänderung in den beiden Zeitungen geäußert wird und welche Akteur*innen zitiert werden. Neben der Position der Kirchen und verschiedenen NGOs wie den Flüchtlingsräten, Terre des Hommes und der Wissenschaft, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann, kommen in einer Anhörung vor dem Bundestag Walter Koisser als Vertreter des UNHCR sowie sogenannte »Verfassungsexperten« zu Wort. Nach der Grundgesetzänderung wird das Verfassungsgericht von Seiten der Politik als potenzielle Gefahr gesehen und massiv unter Druck gesetzt, den Asylkompromiss nicht zu kippen. Während in der FAZ vereinzelt Kritik geäußert wird, ohne dass eine einheitliche Argumentationslinie nachzuvollziehen ist, ist Kritik in der SZ sehr präsent. In der FAZ finden sich immer wieder vereinzelt Kritikpunkte, wie dass durch die Grundgesetzänderung es »morgen nicht einen einzigen Flüchtling weniger«186 gäbe, dass man sich dadurch »vor den Karren der Rechten spannen«187 lasse oder nur »von den Versäumnissen konservativer Sozialpolitik«188 ablenken wolle. Dies sind aber nur Einzelstimmen. In der SZ hingegen werden die Pläne für die Grundgesetzänderung an vielen Stellen deutlich als Abschaffung des Asylrechts kritisiert: »Die großen Parteien sollen dies deutlich sagen: Das Asyl steht künftig nur noch aus Gründen der Tradition im Grundrechtsteil der Verfassung.«189
Ulrich Deupmann, »Koalition und SPD für rasche Asylrechtsreform.« Süddeutsche Zeitung, 22.01.1992. 186 Günter Bannas, »Zahl der Asylbewerber im Februar weiter gestiegen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.1992. 187 Roswin Finkenzeller, »Die oberbayerischen Sozialdemokraten stemmen sich gegen zynische und menschenverachtende Positionen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.1992. 188 Ebd. 189 Prantl, »Debatte beginnt, Diskussion zu Ende«. 185
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»Ein scharfes Instrument zur Abwehr von Flüchtlingen. Nach wie vor verbirgt sich diese Absicht freilich in wattierten Worten.«190 »Nach den vorliegenden Gesetzestexten soll nämlich – zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik – ein Mensch, der sich auf ein Grundrecht beruft, völlig rechtlos gestellt werden.«191 Des Weiteren findet sich die Warnung, dass die Grundgesetzänderung die rechte Gewalt nur bestätige: Es wird davor »gewarnt, dem Druck der Rechten nachzugeben. ›Ein panikartiger Zugriff auf Grundrechte löst kein Problem, sondern [...] legitimiert konstitutionell den Schlachtruf der neuen Rechtsbewegung ›Deutschland den Deutschen‹, statt sie politisch zu bekämpfen«192 . Nach Solingen wird darauf hingewiesen, »daß die Asylneuregelung in der rechten Szene als Signal für eine ›ethnische Säuberung‹ Deutschlands verstanden wurde.«193 Trotz dieser deutlichen Worte bewegt sich ab Sommer 1992 die Debatte immer mehr auf eine Entscheidung für die Grundgesetzänderung zu. Die Kritik ist zwar sagbar, wird aber aufgrund der empfundenen Krisensituation als kleineres Übel betrachtet, sodass auch das beste Argument dagegen im Diskurs verhallt. Ein möglicher (letzter) Wendepunkt auf dem Weg zur Grundgesetzänderung stellt die Anhörung von sogenannten »Verfassungsexperten«194 vor dem Rechts- und Innenausschuss sowie der Verfassungskommission dar, in der die Frage aufgeworfen wird, ob wirklich Verfolgte dann noch Schutz erhalten. Die FAZ berichtet in einem, die SZ in drei Artikeln darüber. Die SZ schreibt, dass die Angehörten die Grundgesetzänderung »prinzipiell gebilligt, an Detailregelungen zum Teil aber deutliche Kritik geübt«195 habe, besonders »massive Kritik an der geplanten Drittstaatenregelung«196 . Die FAZ schreibt hingegen: »Während die von der Union benannten Rechtsexperten die Grundgesetzänderung – vorbehaltlich eher praktischer Bedenken – befürworteten, kritisierten die von der SPD vorgeschlagenen Fachleute den Gesetzesentwurf und bestätigten damit die Gegner des Vorhabens in der SPD-Fraktion.«197 Damit unterstellt sie den Rechtsexpert*innen Parteipolitik zu machen und reduziert die Verfassungskonformität der Gesetzesänderung auf eine rein politische Frage. Inhaltlich werden die unterschiedlichen Positionen in den beiden Zeitungen sehr ähnlich dargestellt, in der FAZ werden jedoch erst die zustimmenden Stellungnahmen, dann die ablehnenden zitiert, in der SZ ist es genau andersrum. Allein durch die Bewertung am Anfang und die unterschiedliche Anordnung der Stellungnahmen entsteht ein sehr unterschiedlicher Eindruck. Während in der SZ die Drittstaatenregelung problematisiert und Veränderungsbedarf angezeigt wird, wird in der FAZ davon ausgegangen, dass die Kritiker*innen ja sowieso von der SPD engagiert wurden und daher die Kritik vernachlässigbar ist.
190 191 192 193 194 195 196 197
Ebd. Prantl, »Genügt es, die Hände in Unschuld zu waschen?«. Christian Schneider, »Grüne ermuntern die SPD-Mehrheit.« Süddeutsche Zeitung, 27.10.1992. epd/AFP, »Für ›Europäische Asylkonvention‹.« Süddeutsche Zeitung, 01.06.1993. dpa, »Generelle Zustimmung, Kritik am Detail.« Süddeutsche Zeitung, 12.03.1993. Ebd. dpa/AP, »Richter kritisieren Drittstaatregelung.« Süddeutsche Zeitung, 25.03.1993. Günter Bannas, »Einwände gegen den Asylkompromiß.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.1993.
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Nach der Grundgesetzänderung ist die Debatte jedoch nicht zu Ende, sondern wird fast nahtlos weitergeführt. Darüber wird jedoch in aller Ausführlichkeit nur in der SZ berichtet, mit allein sieben Artikeln im Juli 1993. Es geht dabei um die Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Da der Rechtsweg gekürzt wurde, ist das Bundesverfassungsgericht zur zweiten Instanz in Asylklagen geworden. Allein im Juli entscheidet das Verfassungsgericht in neun Fällen, dabei wurde viermal eine Abschiebung verhindert. Neben fallbezogenen Klagen wird zudem die Asylrechtsänderung auf Verfassungskonformität überprüft. Diese Entscheidung fällt jedoch erst 1996. In den Artikeln der SZ wird die Hoffnung ausgedrückt, dass das Verfassungsgericht die Grundgesetzänderung überprüft, ändert und dem Asylgrundrecht zu seinem Recht verhilft. »Das Grundrecht, das in Bonn nicht ernst genommen wurde – in Karlsruhe wiegt es schwer. [...] Durfte man im Ernst etwas anderes erwarten? Wer denn sonst sollte einem Grundrecht noch zu seinem Recht verhelfen, wenn es nicht das höchste Verfassungsgericht tut?«198 Von Seiten der Politik hingegen werden die Überprüfungen des Bundesverfassungsgerichts mit Misstrauen beobachtet. Es müsse verhindert werden, dass das neue Asylrecht »über den Rechtsweg [...] ausgehebelt«199 , »durch Gerichtsentscheidungen unterlaufen«200 und damit zum neuen »Einfallstor«201 und zur »Schwachstelle«202 werde. Es könne nicht sein, »daß jeder abgelehnte Asylbewerber mißbräuchlich das Verfassungsgericht anrufen kann.«203 Ein »Asylantensturm«204 und ein »Abschiebestau«205 müssten verhindert werden. Des Weiteren dürfe es sich nicht als »Supertatsacheninstanz«206 aufführen und zudem verwirrende Signale senden. Dies bezieht sich vor allem auf die Erwartung, dass das Verfassungsgericht Herkunftsländer eindeutig als sicher oder nicht einteilen soll, was die homogenen Container-Vorstellungen von Herkunftsländern deutlich macht: »,die Signale, die derzeit vom Verfassungsgericht ausgingen, seien ›einigermaßen verwirrend‹. So habe das Karlsruher Gericht mal für und mal gegen Asylbewerber aus Ghana entschieden. ›Nun gibt es entweder Verfolgung in Ghana oder nicht.‹«207 In der SZ wird sowohl der Druck der Politik als auch die Berichterstattung in den Medien kritisiert: Dies grenze an die »Nötigung eines Verfassungsorgans«208 , sie würden als »juristische Kesselflicker«209 und »politische Fußabstreifer«210 ausgenutzt. »Ein Massenblatt hat die völlig unangemessene politische Aufregung darüber hysterisch aufgeblasen. [...] Die Verfassungsrichter erfahren also nun höchstselbst, wie die Asyldebatte funktioniert und welche Auswirkun-
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Heribert Prantl, »Asyl in Karlsruhe.« Süddeutsche Zeitung, 05.08.1993. AP/dpa, »FDP-Politiker: Asylgesetz muß überprüft werden.« Süddeutsche Zeitung, 20.07.1993. AP, »Karlsruhe lehnt Einreise dreier Asylbewerber ab.« Süddeutsche Zeitung, 29.07.1993. Ulrich Deupmann und AP/dpa, »Kanther: Karlsruher Urteile abwarten.« Süddeutsche Zeitung, 30.07.1993. Ebd. AP, »Union: Klagemöglichkeiten einschränken.« Süddeutsche Zeitung, 26.07.1993. Ebd. Ebd. Deupmann und AP/dpa, »Kanther: Karlsruher Urteile abwarten«. AP, »Karlsruhe lehnt Einreise dreier Asylbewerber ab«. tl, »Letzte Krümel.« Süddeutsche Zeitung, 24.07.1993. Heribert Prantl, »Die Paragraphenmauer wackelt – noch – nicht.« Süddeutsche Zeitung, 20.07.1993. tl, »Letzte Krümel«.
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gen sie hat.«211 Als die Debatte um das Verfassungsgericht erneut beginnt, drückt der Journalist Heribert Prantl seine (fast) persönliche Verzweiflung aus: »Sie darf nicht als Auftakt zu einer Neuauflage des unseligen Asylstreits mißbraucht werden. Sie muß als Chance gesehen werden, ihn endgültig zu beenden. Geschähe dies nicht, dann müßte man wirklich an der Politik verzweifeln.«212 Die Hoffnung, dass sich mit der Grundgesetzänderung die scharfen Diskussionen und pauschalen Anschuldigungen gegenüber Asylsuchenden beenden lassen, erfüllt sich nicht. Fast nahtlos wird weiter über den Asylmissbrauch gesprochen. Nicht zuletzt wird die Gewaltenteilung durch die Einmischung der Politik mit der Forderung aufgeweicht, das Verfassungsgericht müsse »den Willen des Gesetzgebers«213 respektieren. Dabei ist es die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Verfassungskonformität insbesondere hinsichtlich Artikel 1 und 20 zu prüfen.
7.4 Das Andere 7.4.1 Asylmissbrauch, politische Verfolgung und Bekämpfung von Fluchtursachen Das Andere erscheint in der Diskussion um die Grundgesetzänderung nur noch als Hintergrundfolie. Lediglich beim Sozialhilfe-Missbrauch, der in der gleichen Zeit debattiert wird, jedoch selten unmittelbar in Zusammenhang zur Grundgesetzänderung gesetzt wird, werden diese Anderen etwas konkreter dargestellt. Drei Argumentationsfiguren rahmen die Konstruktion des Anderen: der Asylmissbrauch, die Frage der politischen Verfolgung und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Sie dienen alle der Legitimation einer Grundgesetzänderung und ergänzen einander: Der Missbrauch könne dadurch bekämpft, der Schutz der wirklich politisch Verfolgten sichergestellt werden und gleichzeitig mehr Geld für Entwicklungszusammenarbeit und die Bekämpfung der Fluchtursachen ausgegeben werden. In der FAZ werden die Begriffe Asylmissbrauch und politische Verfolgung sehr viel häufiger aufgegriffen als in der SZ. Was jedoch genau damit gemeint ist und welche Personen sich hinter diesen Zuschreibungen verbergen, bleibt unklar. Die Existenz von Asylmissbrauch und die Eindeutigkeit von politischer Verfolgung werden dabei nicht in Frage gestellt. Der »massenhafte«214 oder »offenkundige«215 Asylmissbrauch wird als Hauptgrund dargestellt, warum so viele Menschen nach Deutschland kommen und einen Asylantrag stellen. Der Begriff Asylant ist dabei nicht mehr so häufig zu finden, es gibt jedoch weiterhin zusammengesetzte Begriffe wie »Asylantenflut«216 , »Asylantenfragen«217 , 211 212 213 214 215 216 217
Prantl, »Asyl in Karlsruhe«. Ebd. AP/dpa, »FDP-Politiker: Asylgesetz muß überprüft werden«. Hefty, »»Nach französischem Vorbild«. Karl Feldmeyer, »Schäuble dringt auf Verfassungsänderung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.1991. Wolfgang Stock, «Keinen Massenansturm provozieren«.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.10.1991. Rehm, »Dem ›Asylschwindel‹ ein Ende setzen«.
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»Asylantensturm«218 oder »asylantenfreie Zone«219 . Der Begriff des Asylbewerbers überwiegt jedoch. Menschen, die Asylmissbrauch begehen, werden wie folgt beschrieben: Es sind »95 Prozent der Asylbewerber, die das Grundgesetz ausnützen.‹ Sie seien weder verfolgt noch ihr Leben bedroht. ›Sie wollen uns abkassieren und den Sozialstaat solange ausnehmen, wie nur möglich. Damit muß Schluß sein.‹«220 Es betrifft, laut dieser Aussage, die große Mehrheit der Asylsuchenden, die keine legitimen Fluchtgründe vorweisen können und nur aufgrund der umfassenden Sozialleistungen nach Deutschland kommen. Dabei wird die ganze Ausrichtung dieses Grundrechts auf den Kopf gestellt und Schutzsuchende werden zu Täter*innen. Es geht nicht mehr darum, dass Menschen vor Verfolgung Schutz finden sollen, sondern das »Asylrecht müsse als Grundrecht gegen Mißbrauch geschützt werden.«221 Missbrauchen lässt sich definieren als etwas »(absichtlich) falsch, in übertriebenem Maße oder unerlaubt gebrauchen«222 . Wie kann jedoch ein Grundrecht geschützt werden? Asyl ist zunächst ein Grundrecht, welches allen Menschen offensteht. Das Asylverfahren überprüft, ob die Grundlage dafür gegeben ist, sich auf dieses Recht zu berufen. Aus juristischer Sicht gibt es somit keinen Tatbestand des Asylmissbrauchs (siehe Kapitel 3.2.1).223 Im Diskurs wird jedoch die Schlussfolgerung gezogen, dass das Grundrecht, weil es missbraucht wird, stark eingeschränkt bzw. abgeschafft werden muss. Der hohe Wert des Asylrechts soll geschützt werden, indem die Zugangshürden möglichst hochgelegt werden. Durch die Rahmung des Asylmissbrauchs entsteht ein Gefühl des Misstrauens und ausgenutzt Werdens. Die Angst vor Missbrauch und das Gefühl der Bedrohung ist so groß, dass direkt nach der Verfassungsänderung Befürchtungen von neuem Missbrauch formuliert werden: Die Drittstaatenregelung »dürfe unter keinen Umständen durchlöchert werden. Ansonsten würden dem Mißbrauch erneut Tür und Tor geöffnet«224 . Lediglich an einer Stelle findet sich eine Distanzierung vom Begriff Asylmissbrauch von Seiten Walter Koissers: Er »kommt zu dem Ergebnis, daß die Wirkung des geplanten Rechts über die sogenannten Mißbrauchsfälle hinausgehe.«225 Ansonsten ist der Begriff längst etabliert, und wird nicht mehr genauer erläutert oder in Frage gestellt. Als Legitimation für eine Grundgesetzänderung wird der Schutz der wirklich Verfolgten angeführt. »Der massenhafte Mißbrauch des Asylrechts müsse im Interesse der wirklich Verfolgten bekämpft werden.«226 , sonst werde die »Aufnahmebereitschaft für politisch Verfolgte grundsätzlich in Frage«227 gestellt. Wer die wirklich Verfolgten sind, und wie gewährleistet werden kann, dass ihnen weiterhin Schutz gewährt wird, wird
218 219 220 221 222 223 224 225 226 227
AP, »Union: Klagemöglichkeiten einschränken«. Rehm, »Dem ›Asylschwindel‹ ein Ende setzen«. Ebd. Gennrich, »Die Koalition spricht von drohendem Staatsnotstand«. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, »Missbrauchen.« In, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (s. Anm. 355). Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts, 149–53. mes, »Mehrheit spricht sich für neues Asylrecht aus«. Heribert Prantl, »›Völkerrechtlicher Schutz in Frage gestellt‹.« Süddeutsche Zeitung, 11.03.1993. Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. o. A., »Der SPD-Asylbeschluß in Auszügen: Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen«.
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jedoch überhaupt nicht diskutiert, sondern bleibt eine leere Formel. Asylmissbrauch wird damit als Gegensatz zur politischen Verfolgung konstruiert. Die wirklich politisch Verfolgten werden denen gegenübergestellt, die aufgrund von »Hoffnung auf eine ›bessere Lebensperspektive‹«228 und aus »wirtschaftlichen Gründen«229 kommen oder als »Armutsflüchtlinge«230 bezeichnet werden. Dabei wird stets davon ausgegangen, dass es zweifelsfrei möglich ist, politische Verfolgung festzustellen und dass dabei sowohl das Herkunftsland, der Fluchtweg, zum Beispiel Nichtverfolgung bei Einreise mit dem Flugzeug231 , sowie falsche Angaben zur Identität232 untrügliche Indizien für ihre Feststellung sind. Die folgenden Zitate erwägen auch eine Verbindung von fehlender politischer Verfolgung und Kriminalität: »Auch der Gesichtspunkt, ob Asylbewerber aus bestimmten Ländern überproportional kriminell seien, wurde erwähnt.«233 »›Unter Umständen‹ könnten auch Gambia und Senegal erwähnt werden; beide gelten als verfolgungsfrei, und es wurde in der Koalition darauf hingewiesen, daß viele Asylbewerber aus diesen Staaten im Drogengeschäft tätig seien.«234 Dies zeigt, dass die Einteilung nicht allein asylrechtlichen Kriterien folgt. Des Weiteren wird auch im Einzelfall von einer Objektivität, Eindeutigkeit und Kategorisierbarkeit von politischer Verfolgung ausgegangen, die zudem sehr schnell feststellbar ist. »Notwendig ist, daß eindeutig Nicht-Verfolgte – und dieser Tatbestand ist in einem objektivierten kursorischen Verfahren in Stunden festzustellen – aus dem komplizierten Rechtswegeverfahren herausgenommen werden«235 . Durch die Grundgesetzänderung sollen bestimmte Länder als sicher oder »verfolgungsfrei«236 deklariert werden. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass Nationalstaaten wie gläserne Container sind, in dem überall und für alle Menschen die gleichen Bedingungen herrschen und es möglich ist, eine mögliche Verfolgung von außen zu bewerten. Der Grund für die steigenden Asylanträge wurde auch im Wohlstand in Deutschland gesehen: »Der Zustrom an Asyl-Bewerbern begann anzuschwellen, als die Unterschiede zwischen Arm und Reich auf dem Globus immer krasser wurden und [...] die Kenntnis in den elenden Ländern der Welt von dem sagenhaften Wohlstand der Bundesrepublik stetig zunahm.«237 Dies führt zu der dritten Argumentationsfigur: der Bekämpfung von Fluchtursachen, die in den 1990er Jahren an Relevanz gewinnt. Es gehe darum, »die Ur-
228 Bannas, »Seiters beklagt Mißbrauch des Asylrechts«. 229 Deupmann, »Koalition und SPD für rasche Asylrechtsreform«. 230 Bertholt Neff, »Politisch Verfolgte von Armutsflüchtlingen trennen.« Süddeutsche Zeitung, 25.04.1992. 231 Günter Bannas, »Immer mehr kommen mit dem Flugzeug.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.04.1993. 232 »Asylbewerber, die ihre Ausweispapiere vorsätzlich vernichten und falsche Angaben zu ihren persönlichen Daten machen, kommen nicht aus Gründen der politischen, rassischen und religiösen Verfolgung nach Deutschland und müssen deshalb sofort abgeschoben werden.«Hefty, «Nach französischem Vorbild«. 233 Günter Bannas, »Mühe mit den Asyl-Länderlisten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.1993. 234 Günter Bannas, »Koalition und SPD einig über Asyl-Gesetzentwurf.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1993. 235 Bannas, »›Tabumauer der SPD durchbrochen‹«. 236 Bannas, »Koalition und SPD einig über Asyl-Gesetzentwurf«. 237 Busche, »Es ist ein Trauerspiel«.
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sachen der Wanderungsbewegungen zu bekämpfen.«238 Dies sei die »langfristig wichtigste und effektivste Antwort auf den Wanderungsdruck.«239 Der Begriff des Wanderungsdrucks, der in beiden Zeitungen auftaucht, beinhaltet ein eher technisches Pushund-Pull-Verständnis. Es wird an keiner Stelle intensiver diskutiert, wie Fluchtursachen eigentlich bekämpft werden können, sondern bleibt eine Floskel, die jedoch einen zentralen Platz im politischen Diskurs einnimmt. Im Positionspapier der SPD heißt es: »4. Wir brauchen aber ein System von Hilfen das Fluchtursachen bekämpft und den Menschen ein Verbleiben in ihrer Heimat ermöglicht. 5. Wir wollen eine europäische Politik, die Fluchtursachen bekämpft und Asyl und Zuwanderung regelt.«240 Folgende Vorstellungen werden mit der Bekämpfung von Fluchtursachen verbunden: die »Bekämpfung der Armut«241 , Bekämpfung von »Bürgerkrieg, Vertreibung, Hunger, wirtschaftliche[r] Not«242 , des Weiteren müsse das »wirtschaftliche und soziale Gefälle ›zwischen Ost und West‹ [...] abgebaut werden, die Lebensverhältnisse in der Dritten Welt verbessert werden.«243 Diese »Entwicklungshilfe« versucht als erstes Ziel jedoch zu verhindern, »daß sich diese Menschen in Richtung Deutschland in Bewegung setzen«244 und »den Menschen das Bleiben in ihrer Heimat zu ermöglichen.«245 Genauso programmatisch klingt auch die Forderung: »wir dürfen nicht vergessen, daß es gilt, Fluchtursachen zu bekämpfen und nicht Flüchtlinge.«246 Der Begriff der Fluchtursache steht im Widerspruch zu der Annahme, dass die meisten Menschen doch gar nicht fliehen, sondern nur aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Obwohl eine politische Verfolgung den meisten geflüchteten Menschen abgesprochen wird, werden die Migrationsbewegungen hier als Flucht bezeichnet. Die Existenz von Flucht und das damals so bezeichnete Weltflüchtlingsproblem ist sagbar, solange die Lösung nicht die Aufnahme in Deutschland beinhaltet. Die Aufgabe wird an die Politikbereiche Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit delegiert, mit der Vorstellung, mit ausreichend finanzieller Unterstützung könne das Problem vor Ort gelöst werden.247 Während Asylmissbrauch und politische Verfolgung als Gegensätze konstruiert werden, richtet sich somit die eher symbolische Forderung, Fluchtursachen zu bekämpfen an beide Gruppen und hat insbesondere das Ziel, jegliche Zuwanderung zu verhindern. Alle drei Argumentationsfiguren dienen der Legitimation einer Grundgesetzänderung.
238 Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. 239 SZ, »Bei Einreise aus Drittland Asylrecht verwirkt: Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen im Wortlaut.« Süddeutsche Zeitung, 15.10.1992. 240 SZ, »Ergebnisse der Verhandlungen zu Zuwanderung und Asyl«. 241 Behr, »Teufel: Kurs halten in stürmischen Zeiten«. 242 Fastenrath, »Problementschärfung durch Genfer Flüchtlingskonvention«. 243 Bannas, »Asylrechts-Leitsätze von der Koalition beschlossen«. 244 Heptner, »Kanther hält Änderung des Asylrechts im Grundgesetz für nicht ausreichend«. 245 o. A., »Der SPD-Asylbeschluß in Auszügen: Zum Schutz der Demokratie und gegen soziale Spannungen«. 246 Albert Funk, »Drei Kandidaten in der Ahnengalerie.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.1993. 247 Bettina Höfling-Semnar, »Ignoranz, Realitätsferne und Zugangsverhinderung. Flucht und deutsche Asylpolitik.« In Angeworben – eingewandert – abgeschoben, 242.
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7.4.2 Sozialhilfe-Missbrauch Das Thema des sogenannten »Sozialhilfe-Missbrauchs«248 oder auch Sozialhilfe-Betrugs wird in den Artikeln zwar nur lose mit der Debatte um Asylmissbrauch und Grundgesetzänderung verknüpft. Es verstärkt aber das Bild von den Asylsuchenden, die Deutschland nur ausnutzen wollen. Dabei werden besonders Sinti und Roma, Afrikaner und darunter besonders Nigerianer als Betrüger*innen dargestellt. In ähnlicher Weise wurden Schwarze Menschen Ende der 1980er Jahre als Dealer und Ursache des Drogenproblems konstruiert und mit der Änderung des Asylgrundrechts verknüpft.249 Sozialhilfe-Missbrauch bezieht sich darauf, dass Asylsuchende an mehreren Orten einen Asylantrag stellten und dann dort jeweils Sozialleistungen bezogen. Der überwiegende Teil der Artikel wurde zwischen Januar und August 1992 veröffentlicht, davon vier in der FAZ und neun in der SZ, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigte und dabei auch auf stereotype und rassistische Zuschreibungen zurückgreift. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich die SZ grundsätzlich für mehr Wohlfahrtsstaat und Sozialleistungen positioniert, umso dramatischer wird dann der Betrug wahrgenommen. Es wird über den Sozialhilfe-Missbrauch in München, Schleswig-Holstein und Niedersachsen berichtet. Der Sozialhilfe-Missbrauch wird in der FAZ als der Tropfen beschrieben, der das Fass für eine Grundgesetzänderung zum Überlaufen bringt: »Mittlerweile werden die Behörden offen verhöhnt. Neulich gaben einige Nigerianer, deren Identität nicht festgestellt werden konnte, bei der Registrierung Phantasienamen wie ›Icecube‹ (Eiswürfel) an. Einer nannte sich Johnny Walker, ein anderer Jürgen Klinsmann. [...] Wenn alle Stricke rissen, dürfe eine ›Grundgesetzänderung kein Tabu‹ sein. Auf jeden Fall müsse ab sofort zwischen ›Armutsflüchtlingen‹ und politisch Verfolgten unterschieden werden.«250 Hier wird eine Verbindung hergestellt von Menschen ohne Papiere, wirtschaftlichen Fluchtgründen und Betrug. Dabei wird der Sozialhilfe-Missbrauch manchmal als Teil des Asylmissbrauch gesehen251 , an anderer Stelle wird hingegen von »Mißbrauch von Asyl und Sozialhilfe«252 gesprochen. Im Fokus der Berichterstattung der FAZ steht die Situation in Niedersachsen. Die beiden Artikel, die stark von einem Rassismus gegen Sinti*ze und Rom*nja geprägt sind, erscheinen Anfang und Mitte August 1992, das heißt kurz vor der Gewalt in Rostock-Lichtenhagen, bei der auch Gadjé-Rassismus eine Rolle spielte (siehe Kapitel 6.2.3). Es wird berichtet von einem »Aufstand der Städte«, die keine Sinti und Roma mehr aufnehmen, weil vermutet wird, dass diese »seit Wochen auf 248 lufo., »Bundesweiter Zählappell gefordert.« Süddeutsche Zeitung, 03.07.1992 Sowohl Schleswig-Holstein, als auch München führten einen sogenannten »Zähl-Appell« durch, bei dem sich alle Asylbewerber*innen innerhalb zwei Stunden bei den Behörden melden mussten. Kamen diese nicht, wurden sie verdächtigt, sich an mehreren Orten angemeldet zu haben. . 249 Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 260. 250 Roswin Finkenzeller, »Die Last ungewöhnlicher Zustände Asylbewerber auf der Wies’n.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.02.1992. 251 lufo., »Der Norden zählt die Asylbewerber.« Süddeutsche Zeitung, 03.03.1992. 252 Hans-Wilhelm Eckert, »Gegen Mißbrauch von Asyl und Sozialhilfe.« Süddeutsche Zeitung, 01.10.1992.
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der Wanderschaft durch die neuen Bundesländer Richtung Westen seien und sich in zahlreichen Gemeinden in betrügerischer Weise Sozialhilfe erschlichen hätten.«253 Sie werden als »bestimmte Zigeunergruppen« bzw. als illegaler »Zustrom rumänischer Zigeuner vom Stamme der Sinti und Roma«254 bezeichnet. Hier werden eine ganze Reihe von rassistischen Zuschreibungen aufgerufen wie die Nichtsesshaftigkeit, das Betrügen und Verheimlichen, sowie mit dem Begriff des Stammes Traditionalität und Rückständigkeit. Ein rumänischer »Zigeunerführer« soll zudem gedroht haben, »daß sich die 500 000 rumänischen Sinti und Roma nach Deutschland aufmachen würden, falls Bonn nicht Wiedergutmachung für die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen an der Volksgruppe leiste.«255 Es entsteht das Bild eines umherziehenden Volkes, welches unter einem*r Anführer*in vereint ist, der*die entscheiden kann, mit allen seinen Untertanen nach Deutschland zu kommen. Die einzige Macht, die sie besitzen, ist ihre vermeintliche Ungebundenheit und ihre große Anzahl. Diskriminierungserfahrungen im Heimatland und in Deutschland sowie Fluchtgründe werden nicht benannt. Es wird davon ausgegangen, dass sie nur kommen, um sich an der deutschen Sozialhilfe zu bereichern. Die Fremdbezeichnung des Z. wird kontinuierlich genutzt. Ähnlich wie im Kapitel 6 existiert auch hier kein historisches Bewusstsein für die Geschichte der Sinti*ze und Rom*nja und demzufolge auch keine Verantwortungsübernahme. Stattdessen wird im Jahr 1992 zwischen Deutschland und Rumänien ein Rücknahmeabkommen geschlossen, um Sinti*ze und Rom*nja leichter abschieben zu können. Während in der FAZ Sinti*ze und Rom*nja als Prototypen des Sozialhilfebetrugs dargestellt werden, sind dies in der SZ die Schwarzafrikaner oder auch noch spezifischer die Nigerianer. Der kolonialrassistische Begriff Schwarzafrika geht auf die Einteilung des afrikanischen Kontinents in zwei Teile zurück, den nördlichen, zivilisierten und entwickelten weißen Teil, und dem südlichen Teil, in dem Menschen schwarzer Hautfarbe leben, und der als wild, unzivilisiert und träge präsentiert wird. Es findet eine Markierung Schwarzer Menschen und eine geografische Verortung auf dem afrikanischen Kontinent statt, die Weiße Norm aus Weiß-Europa kommend, bleibt ungesagt.256 In den Artikeln werden sie folgendermaßen beschrieben: »fragwürdige[r] Flüchtlinge aus Schwarzafrika«, möglicherweise »ehemalige Söldner des lybischen Diktators Khadafi«257 , »ausweislosen Asylbewerbern [...] aus Nigeria«258 , »Angehörige vieler Stämme – Nigeria umfaßt etwa 40 Volksgruppen«259 . »Rund 90 Prozent der aufgedeckten Fälle betreffen Schwarzafrikaner, in fünf Fällen handelt es sich um Personen, die sich sechsmal meldeten.«260 Der gesamten Berichterstattung liegt die Essentialisierung 253 254 255 256 257 258 259 260
Stefan Dietrich, »Wolfsburg weist Zigeuner ab.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.1992. Ebd. Ebd. Fanon, Die Verdammten der Erde, 138; Noah Sow, »Schwarzafrika.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563). Johann Freudenreich, »In mehreren Gemeinden abkassiert.« Süddeutsche Zeitung, 27.03.1992. Bertholt Neff, »Ein Bundesamt vereitelt Fahndung nach Asylbetrügern.« Süddeutsche Zeitung, 14.07.1992. Johann Freudenreich, »Sozialhilfebetrug – unter 11 falschen Namen.« Süddeutsche Zeitung, 12.08.1992. lufo., »Bundesweiter Zählappell gefordert«.
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zu Grunde, dass es eine Verbindung von Hautfarbe und Nationalität mit fehlender politischer Verfolgung und kriminellen Absichten gibt. Es findet zudem eine starke Homogenisierung aller Menschen statt, die dieser Kategorie zugeordnet werden. Dabei finden sich auch biologistisch-rassistische Zuschreibungen, die das Verhalten auf die Abstammung zurückführen: »Bei den Beschuldigten handelt es sich nach deren eigenen Angaben um Angehörige des Stammes der Yoruba in Westnigeria, der wegen seiner Intelligenz, seiner Körpergröße und wegen seines hitzigen Temperaments bekannt ist. [...] Im Parlament von Ibadan [...] hat es wiederholt Prügeleien zwischen den Abgeordneten gegeben.«261 Der Begriff des Stammes kommt aus der Kolonialzeit, beschreibt primitive im Gegensatz zu zivilisierten Gesellschaften und verortet die damit bezeichnete Gruppe außerhalb von Zeit und staatlichen Strukturen. Er geht häufig einher mit einer starken Homogenisierung.262 Selbst der Hinweis auf das Parlament, in dem Konflikte öfter handgreiflich gelöst werden, impliziert Rückständigkeit und dient der Hierarchisierung. In München wird eine Ermittlungsgruppe eingerichtet, die sich »Arbeitsgruppe Nigerianer«263 nennt und explizit mit einem racial profiling die Aufgabe hat, alle Schwarzen Menschen mithilfe von Fingerabdrücken auf Sozialbetrug zu überprüfen. Lediglich in einem Artikel wird dies hinterfragt: »Die Stadträtin hatte sich nach der Rechtsgrundlage und den Auswirkungen erkennungsdienstlicher Maßnahmen gegen Schwarzafrikaner in einem eigens eingerichteten Kellerraum der Behörde erkundigt.«264 Ansonsten wird dies nicht als ungewöhnlich wahrgenommen, dass Schwarze Menschen mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird. Besonders ausführlich und drastisch wird von dem »Rekordhalter unter den Sozialhilfe-Jägern« berichtet, »ein 28jähriger, der sich elf falsche Namen zulegte, um die Kassen von ebensovielen Sozialämtern zu schröpfen.«265 »Sein Volk gehöre einer animistischen Naturreligion an.«266 »Er sei der Sohn eines Stammeshäuptlings in Nigeria. Nach dem Tod seines Vaters habe er die Thronfolge antreten wollen. Denn nach den Riten seines Stammes hätte er dazu seinen Bruder töten müssen. [...] Wenn er aber verzichtet hätte, hätte sein Bruder ihn töten müssen.«267 Interessant dabei ist die Reproduktion von kolonialen Vorstellungen, wie etwa die Geschichte des Brudermordes. Der Betreffende erzählt eine Geschichte als Asylgrund, von der er ausgeht, dass sie ihm in Deutschland geglaubt wird. Und sie wird ihm geglaubt, da sie stereotypen Vorstellungen von Afrika entsprechen. Lediglich die zeitlichen Ungereimtheiten und der mehrfache Sozialhilfe-Betrug überführen ihn. Die Geschichte mit dem Brudermord hingegen entspricht stereotypen Vorstellungen von Afrika. Da er das Geld an die Schlepperorganisation zur Abzahlung seiner Schulden weitergibt, besitzt er, als er gefasst wird,
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Freudenreich, »In mehreren Gemeinden abkassiert«. Susan Arndt, »Stamm.« In Arndt; Ofuatey-Alazard, Wie Rassismus aus Wörtern spricht (s. Anm. 563). Freudenreich, »Sozialhilfebetrug – unter 11 falschen Namen«. Dieter Fabritius, »Ghanesen-Selbstmord vor dem Stadtrat.« Süddeutsche Zeitung, 22.01.1993. Freudenreich, »Sozialhilfebetrug – unter 11 falschen Namen«. Ebd. Dieter Fabritius, »Von dunklen Riten und einem Brudermord.« Süddeutsche Zeitung, 15.05.1993.
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von den 13.000 DM lediglich noch 500 DM. Die dramatischen Darstellungen suggerieren jedoch, dass der Betrug sich in Millionenhöhe bewegt. 1993 erscheint ein Artikel in der SZ, der die Verbindung von Herkunft, fehlender politischer Verfolgung und Sozialhilfe-Betrug in Frage stellt. »Der Angeklagte Gulled T. (22) gehört sicher nicht zu den Leuten, die es darauf anlegen, als Wirtschaftsflüchtlinge das Asylrecht zu mißbrauchen. Er stammt aus Somalia, wo sein Vater als Opfer des Bürgerkriegs den Tod gefunden hat [...] Er hätte ja nun gerne selbst etwas verdient, sagt er, ›aber wenn ich nach Arbeit suchte, warf man mit Steinen nach mir‹.«268 Hier wird nicht nur deutlich gemacht, dass politische Verfolgung und Sozialhilfe-Missbrauch unabhängig voneinander sind, sondern dass Letzteres auch eine Strategie gegen rassistische Diskriminierung darstellt. Obwohl es wenige explizite Verbindungen zwischen der Grundgesetzänderung und dem Sozialhilfe-Missbrauch gibt, kann durchaus davon ausgegangen werden, dass die Berichterstattung die Konstruktion des Anderen entscheidend mitprägte. Dabei traf es zwei Gruppen, deren Zuschreibungen durch Gadjé- und Kolonialrassismus tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben sind und leicht im Kontext von Asyl aktiviert werden konnten.
7.4.3 Drittstaaten im Osten als Andere Die Drittstaatenregelung galt als »Achillesferse des Asylkompromisses«269 . Während es mit den westlichen Nachbarländern bereits Vereinbarungen gab, mussten diese mit den östlichen Nachbarländern ausgehandelt werden. Da dadurch zwischenzeitlich der gesamte Asylkompromiss zu scheitern drohte, nutzte die Bundesrepublik ihre finanzielle, politische und symbolische Macht, um mit Polen und Tschechien zu einer Einigung zu kommen. Dabei erscheinen die beiden östlichen Länder als Andere, weil sie als Gegensatz zu Deutschland und Westeuropa, ihrem Wohlstand, einem regulären Asylsystem und einer funktionierenden Grenzsicherung dargestellt werden. Die Themen, die in der Berichterstattung angesprochen werden, sind vielfältig. Den beiden Ländern werden finanzielle Unterstützung zum Aufbau eines Asylsystems und einer Grenzsicherung versprochen sowie eine zukünftige Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Diese verbinden sich mit einem Antikommunismus und mit Zuschreibungen eines antislawischen Rassismus. Im antislawischen Rassismus wird Osteuropa als leerer Raum konstruiert, der bevölkert werden muss. Slaw*innen werden als kulturell und/oder biologisch anders und als Volk ohne Geschichte und ohne Fortschritt gesehen. Darin steckt jedoch auch der Anspruch einer westlichen Zivilisierungsmission.270 Die Konstruktion der östlichen Grenze Deutschlands war bereits wesentlicher Teil des Osteuropadiskurses im Kaiserreich: Es gab
268 Erwin Tochtermann, »Empfindliche Strafen für bescheidenen Schaden.« Süddeutsche Zeitung, 19.06.1993. 269 Bannas, »Einwände gegen den Asylkompromiß«. 270 Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten, 233–37.
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»die Vorstellung, dass die Krisen der Gegenwart in einer kriegerischen Auseinandersetzung gelöst werden müssen, in der sich die deutsche und slawische Rasse gegenüberstehen würden. Die Deutschen konstruierten sich demnach selbst als eine Art Schutzwall für Europa vor der Bedrohung durch Unkultur und Chaos. Ihre Grenzlage zu dem verorteten Chaos verstärkte die Bedrohungsängste.«271 In den untersuchten Artikeln entsteht ein Bild von zwei rückständigen, armen, schlecht organisierten Ländern, die gleichzeitig jedoch noch eine Pufferzone zu den anderen, noch problematischeren osteuropäischen Staaten darstellen sollen. Von Seiten Polens wird vor allem die Arroganz und (finanzielle) Überlegenheit Deutschlands kritisiert, auch mit Bezug zur polnisch-deutschen Geschichte und die Frage aufgeworfen, ob Deutschland eine neue Mauer in Europa bauen will. Die beiden Länder sollen die Funktion einer »Gummiwand«, an der die Flüchtlinge abprallen272 beziehungsweise eines »Cordon sanitaire«273 übernehmen, ein Begriff, der ursprünglich eine Schutzzone bei Seuchengefahr beschreibt und im Ost-West-Konflikt Staaten meinte, die zwischen dem Westen und dem Ostblock lagen. Die Frage des Asylrechts wird damit einer Seuchengefahr oder einem drohenden Krieg verglichen. Polen und Tschechien erscheinen dann als letzte Bastion des goldenen Westens und vor der gesegneten Bundesrepublik274 , »hinter dessen Grenzen [...] der Wilde Osten beginnt. Als Gegenleistung dürfen sich Polen, Tschechien und Österreicher einer Art ›Zentraleuropäischen Wohlstandssphäre‹ zugehörig fühlen.«275 Sie brauchen Unterstützung bei der Grenzsicherung – mit in Deutschland produzierter technischer Ausrüstung, denn schon »jetzt befinden sich hunderttausend Russen, Ukrainer, Weißrussen und Balten illegal in Polen.«276 Der Umgang Deutschlands, der von einem großen Machtgefälle zu den beiden Ländern geprägt wird, wird jedoch in beiden Zeitungen deutlich kritisiert: Deutschland würde »›das Asylproblem auf Großmachtart lösen«277 wollen und als »größer gewordene[s] Deutschland« die »klassischen Interessen der Großmacht im Herzen des alten Kontinents«278 vertreten. Es sei vor allem Deutschland, welche durch das Abkommen profitiere und damit die unangenehmen Aspekte des Asylrechts auslagere: »In der Praxis sollen Polen und die Tschechische Republik den Deutschen die Schmutzarbeit abnehmen.«279 »Das heißt: Die Drecksarbeit sollen die Nachbarländer machen. [...] Sie zeigt den Nachbarstaaten, wie Deutschland europäische Partnerschaft künftig definieren will: als das Recht des Stärkeren.«280 Hier werden ziemlich deutliche Worte wie Schmutz- und 271 Ebd., 282. 272 Heribert Prantl, »Wagenburg Deutschland.« Süddeutsche Zeitung, 30.11.1992. 273 Michael Ludwig, »›Bonn will Asylproblem auf Großmachtart lösen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.1993. 274 Georg P. Hefty, »Entlastung und Lastenausgleich.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.1993. 275 Wolfgang Koydl, »Die Deutschen investieren, die anderen parieren.« Süddeutsche Zeitung, 06.02.1993. 276 Ludwig, »›Bonn will Asylproblem auf Großmachtart lösen‹«. 277 Ebd. 278 Koydl, »Die Deutschen investieren, die anderen parieren«. 279 Ebd. 280 Prantl, »Wagenburg Deutschland«.
7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation
Drecksarbeit gewählt, die die Ungleichwertigkeit bei der Vereinbarung zeigen und den Beginn einer Externalisierung der Grenze in Deutschland und Europa markieren. Sehr deutlich wird in folgendem Zitat die Enttäuschung ausgedrückt, dass die deutsch-polnische Zusammenarbeit so einseitig gestaltet wird: »Die polnische Parlamentsabgebordnete Irena Lipowicz schwankt, wenn sie über das neue deutsche Asylrecht spricht, zwischen Enttäuschung, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Drei Jahre lang hat sie in der deutsch-polnischen Parlamentariergesellschaft gearbeitet, um deutsch-polnische Ressentiments abzubauen. Und jetzt? Glaubt Deutschland, daß es mit Geld alles erreicht? Daß es seine Flüchtlinge so exportieren kann wie seine Autos?«281 . In beiden Zeitungen wird Bezug hergestellt zu deutsch-polnischen Geschichte während des Nationalsozialismus und dem Beginn des Krieges 1939: »Die deutsche Bundesrepublik will natürlich weder ›Lebensraum‹ noch den ›Griff zur Weltmacht‹ und ein wohlwollender wirtschaftlicher Einfluß auf Osteuropa ist mit dem Einmarsch deutscher Knobelbecher nicht zu vergleichen. Dennoch bleibt festzuhalten, daß das größer gewordene Deutschland wie selbstverständlich dazu übergegangen ist, das Machtvakuum in Osteuropa auszufüllen.«282 »Vom neuen deutschen Asylrecht spricht sie wie von einem deutschen Überfall.«283 In ähnlicher Weise wird die zunehmende Grenzsicherung mit einem »›Eisernen Vorhang‹ im Herzen Europas«284 verglichen und die Frage aufgeworfen, ob dies der neue Weg in Europa sein wird: »Dies aber hat in einem Europa, das gerade erst die stark gesicherten Grenzen der kommunistischen Staaten losgeworden ist, nicht nur einen praktisch-technischen Aspekt. Wo werde die ›neue Mauer‹ in Europa entstehen, [...] fragte rhetorisch, und wohl nicht zufällig das Wort ›Mauer‹ verwendend, der polnische Bevollmächtigte für Flüchtlinge.«285 Bemerkenswert bei dieser Auseinandersetzung ist, dass polnische Vertreter*innen und Zeitungen in den Artikeln zu Wort kommen. Ihre Kritikpunkte werden auch von den beiden Zeitungen geteilt. Auch wenn dies wenig am Ausgang der Verhandlungen ändert, wird den Nachbarländern durchaus Empathie für ihre Situation entgegengebracht und es gibt ein Bewusstsein für bestehende Machtverhältnisse. Dies steht im Gegensatz zu den geflüchteten Menschen, die kaum diskursive Macht besitzen, um alternative Deutungen und ihre Erfahrungen im Diskurs hörbar zu machen.
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Heribert Prantl, »Der neue Überfall auf Polen.« Süddeutsche Zeitung, 01.03.1993. Koydl, »Die Deutschen investieren, die anderen parieren«. Prantl, »Der neue Überfall auf Polen«. dpa, »Prag befürchtet neuen eisernen Vorhang.« Süddeutsche Zeitung, 11.02.1993. Erik-Michael Bader, »Noch viel Überzeugungsarbeit nötig.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.1993.
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7.5 Fazit In diesem Kapitel wurden die Konstruktionen des Eigenen und Anderen und die damit verbundenen Deutungsmuster im Diskurs über die Grundgesetzänderung untersucht. Die Aushandlungen des Eigenen auf verschiedenen Ebenen stehen dabei stark im Vordergrund, die Konstruktionen des Anderen bleiben schemenhaft und eindimensional. Der Asylkompromiss war zwar bei näherer Betrachtung ein »Migrationskompromiß«286 , da andere Fragen von Zuwanderung fast nebenbei mitverhandelt wurden. Er beinhaltete jedoch keine offene Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis als Einwanderungsland. Eine sachliche und gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um ein vielfältigeres Verständnis von Gesellschaft und deutscher Zugehörigkeit, die ost- und westdeutsche, sowie migrationsbezogene Erfahrungen miteinschließen, wurde somit verpasst. Das Eigene konstruiert sich anhand einer Bedrohungs- und Krisenstimmung. Es entsteht der Eindruck, dass die deutsche Nation kurz vor dem Untergang steht, wenn das Grundgesetz nicht geändert wird. Die Krise, die durch die zunehmende Asylmigration ausgelöst werde, bedrohe die Demokratie und den inneren Frieden. Die Vorstellung, dass der innere Friede gewahrt bleibt, ist nur aufrechtzuerhalten, wenn sich dieser nur an die Weiße Mehrheitsgesellschaft richtet und beispielsweise die rassistische Gewalt dabei ausgeblendet wird. Um das Eigene zu schützen, könne daher nicht mehr auf die Schutzbedürftigkeit anderer Rücksicht genommen werden. In umfassender Weise findet eine Auseinandersetzung darüber statt, was gute Politik und ihre Handlungsfähigkeit ausmachen, ob Zweifel und Meinungsänderungen erlaubt sind und inwiefern moralische Haltungen oder Pragmatismus die Entscheidungen leiten soll. In beiden Zeitungen wird beschrieben, dass der sich lange hinziehende Schlagabtausch zwischen den Parteien zu Misstrauen und einem Verlust von Glaubwürdigkeit führt, sowie ein Gefühl von Intransparenz, Unfähigkeit und Willkürlichkeit politischen Handelns entsteht. Dies kann so gedeutet werden, dass nicht durch die Zuwanderung, sondern durch die politische Auseinandersetzung und die Einseitigkeit und Verengung des Diskurses die Stabilität der Demokratie gefährdet wird. Die Grundgesetzänderung bekommt politisch einen so großen symbolischen Wert, dass es legitim erscheint, das Verfassungsgericht massiv unter Druck zu setzen und damit das Prinzip der Gewaltenteilung zu verletzen. Im Diskurs über die Grundgesetzänderung wird im Vergleich zu den anderen untersuchten Diskursen die größtmögliche Distanz zum Anderen hergestellt. Dass es bei dieser Debatte um Menschen geht und die Entscheidung Auswirkungen auf viele persönliche Schicksale und Lebenswege hat, bleibt ungesagt. Es werden ausschließlich die Folgen für Deutschland in den Blick genommen. In den Artikeln erfolgt keine Einfühlung oder Empathie für Schutzsuchende, weder ihre Individualität noch die Auswirkungen einer Grundgesetzänderung auf persönliche Lebenssituation werden thematisiert. Die Distanzierung wird verstärkt durch die Zuschreibung, Asylsuchende würden Asylmissbrauch und Sozialhilfe-Missbrauch begehen und damit die Großzügigkeit Deutschlands nur ausnutzen. Zudem werden bereits existierende Zuschreibungen aus dem Kolonialund Gadjé-Rassismus aufgegriffen und mit dem Thema Asyl verbunden und aktualisiert. 286 Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl, 123.
7. Die Änderung des Asylgrundrechts als Überlebensfrage der Nation
Schwarze Menschen und Sinti*ze und Rom*nja erscheinen als Betrüger*innen, die sich durch das deutsche Asylrecht und die Sozialhilfe persönlich bereichern wollen, was an das Deutungsmuster der Misstrauens anknüpfte. Durch die Erfindung von sicheren Herkunfts- und Drittländern wird die individuelle Prüfung von Asylgründen/politischer Verfolgung stark eingeschränkt. Herkunftsländer werden zu gläsernen homogenen Containern konstruiert und Nationalität mit Fluchtgründen und möglicher politischer Verfolgung verbunden. Grundlegende Annahme ist die klare Kategorisierbarkeit in echte und unechte Flüchtlinge. Dies geht einher mit einer Externalisierung von Asyl auf die europäischen Nachbarländer. Insbesondere im Umgang mit den osteuropäischen Nachbarländern wird ein Machtverhältnis deutlich, welches auch von antislawischem Rassismus geprägt ist. Die Änderung des Asylgrundrechts kann als ein diskursives Ereignis gesehen werden, weil sich danach der Diskurs grundlegend ändert. In der Debatte um die Grundgesetzänderung wird mehr verhandelt als das deutsche Asylrecht oder die Gestaltung von Migrationspolitik. Sie ist eingebettet in eine Umbruchsituation, die eine Neubestimmung des nationalen Selbstverständnisses herausfordert. Durch den Eindruck einer Bedrohungssituation von außen kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb Deutschlands und Europa entstehen und ermöglicht in Abgrenzung zu den Anderen darzustellen, was diese Zugehörigkeit ausmachen soll. Das positive Selbstbild kann dann als demokratisch, human, homogen und schützenswert wahrgenommen werden. Dazu trug auch der Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge bei, der im nächsten Kapitel untersucht wird.
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C Zurück zu einer (neuen) Ordnung (1994–1999): »Wir helfen, aber nicht allen!«
Im dritten Untersuchungszeitraum von 1994 bis 1999 entstehen in den beiden Zeitungen divergierende Selbstbilder des Eigenen. Das Deutungsmuster des Misstrauens tritt nach dem diskursiven Ereignis der Grundgesetzänderung in den Hintergrund und lässt Raum für neue Aushandlungen und Konstruktionen jenseits der Selbstviktimisierung. Diese werden anhand des Diskurses über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge, in welchem das Deutungsmuster der Großzügigkeit auch eine Rolle spielt und anhand der kurdischen Flüchtlinge untersucht. Abschließend wird anhand der Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts betrachtet, inwiefern die Konstruktionen des Eigenen sich langsam in Richtung Einwanderungsland beginnen zu verändern. Es etabliert sich in der Hinsicht eine neue Ordnung, weil nicht mehr ständig das Asylrecht grundlegend in Frage gestellt wird und sich neue Deutungsmuster entwickeln, wie Asylgewährung gestaltet werden kann. In der FAZ wird erneut das Bild von Deutschland als Retter*in etabliert und ein durchweg positives, humanes Selbstbild gemalt. Dies gilt jedoch nur bestimmten Gruppen und mit einem temporären Aufenthalt. Es wird möglich unter einem restriktiv gestalteten Asylrecht, geringen Asylantragszahlen und einer hart durchgreifenden Abschiebepraxis. Es entsteht ein neues Deutungsmuster, in welchem der Selbstschutz im Vordergrund steht. Ende der 1990er Jahre gibt es insbesondere bei den kurdischen Flüchtlingen zudem eine stärkere Verknüpfung von Kriminalität und Asyl, welche sich auf der europäischen Ebene in Migration als Sicherheitsproblem ausdrückt. In der SZ hingegen entwickelt sich das Deutungsmuster der Selbstkritik, bei dem die Humanität und das neue Asylrecht kontinuierlich hinterfragt und Lücken und Probleme aufgezeigt werden. Dies bezieht sich bei den bosnischen Flüchtlingen auf den fehlenden Status des Bürgerkriegsflüchtlings und bei den kurdischen Flüchtlingen die Bedrohung vor Folter als Asylgrund. Bei Letzteren geht es zudem um die Aushandlung, welche Rolle Zivilgesellschaft und Kirchen bei Fragen von Menschenrechten und Asyl spielen. Sowohl die Diskurse über die bosnischen als auch die kurdischen Flüchtlinge berühren Fragen von der Homogenität von Nationalstaaten und dem Umgang mit Vielfalt und Minderheiten.
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
Im Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge1 , die aufgrund des Jugoslawienkonflikts in Deutschland und in anderen europäischen Ländern Schutz suchten, werden grundlegende Annahmen des Asyldiskurses und darüber hinaus sichtbar. Erstens bezieht sich dies auf die essentialistischen Konstruktionen von Ethnizität 2 und die Vorstellung, dass Nationalstaaten mit einer möglichst homogenen Bevölkerung mehr Stabilität und Frieden bieten. Damit verbunden ist die Konstruktion des Balkans3 und seiner abgestuften Zugehörigkeit zu Europa. Zweitens wurden die Geschlechterkonstruktionen im Asyldiskurs durch die geschlechtsspezifische Verfolgung in Bosnien erschüttert. Drittens ist die Vorstellung eines temporären Aufenthalts für Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylsystems zu nennen, der es Deutschland ermöglichte, Humanität bei der Aufnahme zu praktizieren und dabei gleichzeitig schon an den Erhalt der Rückkehrfähigkeit zu denken. Während die Vorstellung des gesellschaftlich homogenen Nationalstaats und die Problemkonstruktion von Vielfalt fast unangetastet bestehen blieb, gab es über Geschlecht und Rückkehrforderungen stärkere Aushandlungsprozesse, in denen sich die FAZ und die SZ unterschiedlich positionierten. Der Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge ist zudem in einer Zeit verortet, die stark von Abschottung und einer negativen Wahrnehmung von Zuwanderung geprägt ist. Dies wird sowohl in den Diskursen zur Grundgesetzänderung als auch über die rassistische Gewalt Anfang der 1990er Jahre ersichtlich (siehe Kapitel 6 und 7). Die Aufnahmebereitschaft und die Wahrnehmung der Bürgerkriegsflüchtlinge erfährt dabei 1
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Da es mir hier um die Konstruktion von Begriffen wie in diesem Fall Bürgerkriegsflüchtlinge geht, schreibe ich diesen Begriff kursiv und beziehe mich dabei auf die Konstruktion im Diskurs und nicht auf die Menschen, denen diese Begriffe zugeschrieben wurden. Bürgerkriegsflüchtling wäre zudem der rechtliche Status gewesen, der ihnen nach dem Asylkompromiss zugestanden hätte, der jedoch erst 1997 aufgrund von Bund-Länder-Konflikten rechtlich konkretisiert wurde. Ethnizität ist ein Begriff aus dem Quellenmaterial, dass ich kursiv verwende, da er meist essentialistische und rassistische Vorstellungen und die Annahme einer natürlichen Differenz beinhaltet (siehe 9.1.2). Der Balkan entstand als Fremdbezeichnung und ist ähnlich wie der Orient als diskursive Konstruktion mit Grenzziehungen und essentialisierenden Zuschreibungen verbunden (siehe 9.2.1).
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Zurück zu einer (neuen) Ordnung (1994–1999)
eine andere Rahmung, die große Ähnlichkeiten mit dem Diskurs über die Boat People aufweist (siehe Kapitel 4). Nicht zuletzt ist der untersuchte Diskurs chronologisch gesehen der Erste, indem in den beiden Zeitungen gegensätzliche Konstruktionen insbesondere des Eigenen auftauchen. Das übermächtige Deutungsmuster des Misstrauens tritt nach der Grundgesetzänderung in den Hintergrund und lässt Raum für neue Eigenkonstruktionen jenseits von Selbstviktimisierung.
8.1 Kontextualisierung 8.1.1 Postjugoslawische Kriege – ethnische oder ethnisierte Konflikte? Der Zerfall beziehungsweise die Aufteilung Jugoslawiens in einzelne Nationalstaaten war ein mit Gewaltausübungen verbundener Prozess, der sich über die 1990er Jahre bis ins neue Jahrtausend erstreckte. Die Ursachen waren vielfältig, es gab jedoch Deutungsmuster, die dominierten und auch als Legitimation von der internationalen Gemeinschaft genutzt wurden: »Der Kampf um die historische Deutungshoheit bildet den Kern bei der Frage, was Jugoslawien eigentlich war und welche Faktoren zu seinem Zerfall beigetragen haben.«4 Hier sind besonders die Rolle des Nationalismus und der ethnischen Zugehörigkeit zu nennen. Daher wird im Folgenden der Schwerpunkt auf die Herstellung und Bewertung von Ethnizität in Jugoslawien und ihrer Bedeutung während des Konfliktes gelegt. Zudem ist es fast nicht möglich, über solche komplexen Ereignisse zu berichten und allen Parteien dabei gerecht zu werden, was folgendes Zitat verdeutlicht: »Allein mit der Wortwahl zur Beschreibung dieser Geschehnisse können verschiedene Auffassungen zum Ausdruck gebracht werden. So hat Kroatien aus der Sicht der einen dieses Territorium ›befreit‹, während es aus der Sicht von anderen ›erobert‹ oder ›besetzt‹ wurde. Entsprechend ist die serbische Bevölkerung ›freiwillig gegangen‹ oder aber sie wurde ›gewaltsam vertrieben‹.«5 Der Fokus der Kontextualisierung liegt auf den Kriegsereignissen in Bosnien unter Berücksichtigung der gewaltsamen Konflikte in Kroatien (1991–1995), da diese eng miteinander verflochten waren. Der Konflikt um den Kosovo wird nicht mehr im Detail dargestellt, weil sich die Analyse des Kapitels auf die Berichterstattung über die kroatischen und bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge bezieht. Der Kosovo-Konflikt weist jedoch sowohl
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Boris Previšić und Svjetlana L. Vidulić, »Einleitung.« In Traumata der Transition: Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls, hg. v. Boris Previšić und Svjetlana L. Vidulić, [1. Auflage], Kultur – Herrschaft – Differenz 20 (Tübingen: A. Francke Verlag, 2015), 9. Es wird somit versucht, eine Kontextualisierung des Diskurses zu leisten, in dem Bewusstsein, dass dies kaum angemessen möglich ist und manchmal Nuancen über die Bewertung eines Sachverhalts entscheiden. Dabei wird teilweise stärker eine subjektive Sicht von den Bosniak*innen eingenommen, da die im Fokus des Kapitels stehen. Irena Ristić, »Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität: Ist die Pflicht zum Erinnern eine Pflicht zum Vergessen?« In Previšić; Vidulić, Traumata der Transition (s. Anm. 1803), 225.
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
hinsichtlich der Ereignisse, der Aufnahme und der Berichterstattung über die Flüchtlinge große Parallelen auf und wäre eine eigenständige Analyse wert. Jugoslawien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung von Josip Broz Tito zur Sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawiens mit den sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien. Der jugoslawische Kommunismus war gekennzeichnet durch eine Blockfreiheit und eine Annäherung an den Westen, unter anderem durch die Anwerbeverträge mit der Bundesrepublik, wodurch mehr als eine halbe Million jugoslawischer Gastarbeiter 6 nach Deutschland kamen. Die Ursachen für den Zerfall Jugoslawiens waren vielfältig. Bereits 1974 wurde durch eine Verfassungsänderung die Dezentralisierung weiter vorangetrieben. Tito, der das Land mit den drei ideologischen Säulen Partisanenmythos, Antifaschismus und brüderliche Einheit der Völker zusammengehalten hatte, starb 1980. Zu der wirtschaftlichen und politischen Krise im Land und den Verteilungskämpfen zwischen den Republiken kamen die internationalen Veränderungen mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes.7 Die Entwicklungen in Jugoslawien sollen hier jedoch weder vereinfacht als anthropologische Ausnahme des Balkans noch als Folge verspäteter Nationenbildung eingeordnet werden.8 »Vielmehr ist nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu fragen. So zeichnet sich insbesondere der Titoismus als utopischer Raum aus, der sich auch explizit der Überwindung des Nationalen im Zeichen einer übergeordneten und internationalen Solidarität verschrieben hat. [...] Diese Faktoren kontrastieren umso mehr mit den nationalistischen Diskursen, die in den 80er Jahren Schule machen, und mit den postjugoslawischen Kriegen. Die Transition ist somit nicht einfach eine Wegstrecke von A nach B, sondern umfasst Progressions- wie Regressionsbewegungen.«9 Der Wunsch nach Unabhängigkeit der Teilrepubliken beziehungsweise nach dem Erhalt Jugoslawiens war unter anderem an die Verteilung der eigenen ethnischen Gruppe im Land geknüpft. Während der Anteil der eigenen ethnischen Gruppe in Slowenien (90 %) und Kroatien (75 %) relativ hoch war, war er in Serbien (66 %, 40 % der serbischen Bevölkerung lebten in anderen Regionen) und Bosnien (44 %) deutlich geringer.10 Insbesondere die Teilrepublik Serbien begann bereits in den 1980er Jahren, anknüpfend an die Minderheitensituation im Kosovo, durch nationalistische Propaganda und »ethnonationale
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Der Anteil der weiblichen Arbeitsmigrantinnen, die in den 1950er bis 1970er in die Bundesrepublik kamen, lag bei etwa 30 Prozent. Monika Mattes, »Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 834. Holm Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen.« Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 32 (2008): 9–11 Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten: Ethnische Säuberungen im modernen Europa, 1. Aufl., Synthesen Bd. 5 (s.l.: Vandenhoeck Ruprecht, 2011), 242–44. Boris Previšić und Svjetlana L. Vidulić, »Einleitung.« In Traumata der Transition, 14. Ebd. Marie-Janine Calic, »Gescheiterte Idee: Gründe für den Zerfall Jugoslawiens.« In Bosnien-Herzegowina, hg. v. Agilolf Keßelring, 2., durchges. und erw. Aufl. (Paderborn: Schöningh, 2009), 138.
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Mobilisierung«11 eine Bedrohungssituation für alle Serb*innen zu inszenieren und sich für eine großserbische Lösung einzusetzen.12 »Die Ursachen sind jedoch nicht primär in ethnischen Spannungen zu suchen; vielmehr sind diese Spannungen eine Folge des Zerfalls.«13 Im Juni 1991 erklärten die Parlamente in Slowenien und Kroatien nach einem eindeutigen Volksentscheid ihre Unabhängigkeit. Während Slowenien diese nach 10-tägigen Kampfhandlungen durchsetzen konnte, begann in Kroatien zwischen der kroatischen und der serbischen Volksgruppe ein Krieg, der bis Ende 1995 dauern sollte. Kroatien verfolgte dabei nationalistische Ziele und verstärkte die Diskriminierungen gegen die 600.000 Serb*innen in Kroatien. Diese bekamen Unterstützung von der jugoslawischen Volksarmee (JVA), besetzten ein Drittel des Territoriums, vertrieben mit deren Hilfe einen großen Teil der kroatischen Bevölkerung und erklärten sich als Republik Srpska Krajina für unabhängig.14 Auch die Unabhängigkeitserklärung Bosniens am 06. April 1992 war der Beginn des Krieges und einer humanitären Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Die serbischen Gruppen waren daran interessiert, möglichst große Teile Bosniens zu erobern und diese an Serbien anzuschließen. Innerhalb weniger Monate kontrollierten sie zwei Drittel des Territoriums und vertrieben die ansässige Bevölkerung. Die Kampfsituation war unübersichtlich, es waren allein 83 paramilitärische Einheiten der verschiedenen Gruppen in Bosnien tätig. Diese erste Phase des Bosnienkrieges verzeichnete die höchste Zahl an zivilen Opfern und war geprägt durch inszenierte und öffentliche Gewalt in Form von Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Leichenschändungen, die Vertreibung der Frauen und Kinder und die Internierung der wehrfähigen Männer in Lagern.15 Die serbischen Gruppen nahmen sich jedoch nicht als Aggressor wahr, sondern sahen dies als Verteidigung ihrer Heimat und Familie und als Abwehr einer tödlichen Bedrohung gegen das serbische Volk.16 Das militärische Ungleichgewicht entstand neben der Unterstützung der serbischen Gruppen durch die JVA mit Waffen und Munition auch durch wirtschaftliche Sanktionen und das Waffenembargo des Westens, welches sich nachteilig auf die bosniakischen und kroatischen Gruppen auswirkte. In der zweiten Phase ab Sommer 1992 begann der bewaffnete Widerstand der kroatischen und bosniakischen Gruppen, der Kampf um Sarajewo und die Eskalation des Konfliktes zwischen den bosniakischen und kroatischen Gruppen. Während die serbischen Gruppen militärisch erfolgreich waren, verloren sie jedoch zunehmend den Rückhalt der
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Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 12. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 245. Boris Previšić und Svjetlana L. Vidulić, »Einleitung.« In Traumata der Transition, 16. Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 15–16; Annegret Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration: Eine Analyse ausgewählter Politikfelder, Forschung zur Europäischen Integration 8 (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004), 56–57; Sarah Reichel, Anspruch und Wirklichkeit der EU-Krisenbewältigung: Testfall Balkan, 1. Auflage (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2010), 14–18. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 244–46. Marie-Janine Calic, »Der jugoslawische Nachfolgekrieg 1991–1995.« In Keßelring, Bosnien-Herzegowina (s. Anm. 1809), 71–2.
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internationalen Medien und Politik. Die tägliche Übertragung der Belagerung von Sarajewo schuf eine Weltöffentlichkeit, die nicht mehr gleichgültig bleiben konnte. Die UN schaltete sich ein. Bereits 1992 wurde mit dem Vance Owen Plan versucht, eine territoriale Einteilung vorzunehmen. Dies verstärkte jedoch den Wunsch aller Parteien, Land zu erobern und die Bevölkerung der anderen Gruppen zu vertreiben. In der dritten Phase verbündeten sich erneut bosniakische und kroatische Gruppen. 1995 gelang es kroatischen Gruppen die Krajina-Region einzunehmen, was mit Kriegsverbrechen an der serbischen Bevölkerung einherging. Durch die militärische Kooperation und die Luftangriffe des Atlantischen Bündnis (NATO) verringerte sich die militärische Überlegenheit der serbischen Gruppen. Um die Ausgangsposition in den Friedensverhandlungen zu verbessern, konzentrierten sie ihre Gewalttaten nun auf die drei ostbosnischen Enklaven Srebrenica, Zepa und Gorazde im serbischen Gebiet. Sie verübten Massenmorde, Misshandlungen und Vertreibungen an den 30.000 Bewohner*innen Srebrenicas und Zepas vor den Augen der Blauhelm-Soldat*innen. In einem Massaker wurden fast 7.000 wehrfähige Jugendliche und Männer getötet und in Massengräbern vergraben, welches das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges darstellt. Dennoch wurden den Serb*innen auf der Konferenz ein großer Teil der eroberten Gebiete inklusive der zwei Enklaven zugesprochen. Während die Vertreibungen und Gewalttaten an der Bevölkerung zu Beginn des Krieges nicht vorauszusehen waren, wird der internationalen Gemeinschaft hingegen 1995 eine Mitschuld aufgrund der fehlenden Verhinderung der Gewalttaten in Srebrenica, Zepa und in der Krajina gegeben.17 Im Oktober 1995 wurde in Dayton (USA) ein Friedensabkommen verhandelt, welches im Dezember desselben Jahres in Paris von allen drei Parteien unterzeichnet wurde. Bosnien sollte damit zu einem konföderativen Staat mit zwei Entitäten werden: einer bosnisch-kroatischen Föderation und einer serbischen Republik. Im Anhang 7 verpflichteten sich die Kriegsparteien, Flüchtlinge unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit in ihren Heimatort zurückkehren zu lassen. Dies war eine neue Idee, da zuvor die Vertreibung als Lösung zwischenstaatlicher Konflikte akzeptiert wurde. In der Realität konnte dies jedoch nicht umgesetzt werden.18 Der Misserfolg in der Konfliktprävention und Konfliktlösung der internationalen Gemeinschaft und der EU führte zu den größten Fluchtbewegungen in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Ende des Bosnienkrieges im Dezember 1995 hatte mehr als die Hälfte der 4,4 Millionen Einwohner*innen Bosniens ihr Zuhause verloren, darunter 1,3 Millionen Binnenvertriebene, 500.000 Flüchtlinge in den Nachbarländern und 700.000 in der EU, darunter 350.000 in Deutschland. Hinzu kamen 350.000 Binnenvertriebene in Kroatien und 200.000 Menschen aus Kroatien, die ins Ausland flohen.19
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Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 242–54; Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 14–18; Für den nachfolgenden Umgang in Serbien und in der internationalen Gemeinschaft siehe Daniela Mehler, Serbische Vergangenheitsaufarbeitung: Normwandel und Deutungskämpfe im Umgang mit Kriegsverbrechen, 1991–2012, OPEN Library (Bielefeld, Germany: transcript Verlag, 2015). Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 17. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration, 77–79.
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Während des Krieges waren ethnische Konflikte und »jahrhundertelanger Hass« eine für viele einleuchtende Erklärung für den Ausbruch des Krieges.20 Hierbei spielten neben der Vorstellung von einer Nation als möglichst homogene Abstammungs- und Kulturgemeinschaft auch die stereotypen Vorstellungen des Balkans eine Rolle, der als unzivilisiert sowie besonders brutal konstruiert wurde.21 Die Geschichte Jugoslawiens ist jedoch ein Paradebeispiel dafür, dass Ethnizität eine gesellschaftliche Konstruktion darstellt, die sich durch Hervorhebung, Umdeutung oder Nationalisierung verändert und politisch instrumentalisiert wird. Zudem entspricht die komplexe Wirklichkeit selten einfachen Kategorisierungen.22
8.1.2 Die Bedeutung von Ethnizität und ethnischer Homogenität in Jugoslawien und Europa Die Konstruktion von Ethnizität spielte im Jugoslawienkonflikt eine bedeutsame Rolle. Dies ist nicht Bestandteil der Analyse. Vielmehr wird betrachtet, welche Konzepte von Ethnizität im bundesrepublikanischen Asyldiskurs aufgegriffen und zum Eigenen in Beziehung gesetzt wurden. Daher wird im Folgenden genauer ausgeführt, was der Begriff Ethnizität beinhaltet, wie der Umgang mit Ethnizität in Jugoslawien war und wie sich die Vorstellung von nationaler Homogenität, die sich auch im Begriff der ethnischen Säuberung ausdrückt, auf die Wahrnehmung des Krieges auswirkte. Der Begriff der Ethnizität hat mehr oder weniger den Begriff der Rasse abgelöst, ohne dass dadurch eine biologistisch-rassistische sowie hierarchisierende Vorstellung von der Einteilung von Menschengruppen grundlegend überwunden werden konnte. Ethnizität wird zwar auf der einen Seite durch kulturelle Aspekte wie Sprache, Traditionen und Ritualen definiert. Gleichzeitig ist damit die Vorstellung von Gemeinsamkeiten aufgrund von Aussehen, geografischem Bezugspunkt und gemeinsamer Geschichte verbunden. Diese Vorstellung und das daraus entstehende Gefühl der Verbundenheit ist so machtvoll, dass es nicht als Konstruktion wahrgenommen wird. Stattdessen wird damit eine Beständigkeit der Natur, Eindeutigkeit und natürliche Vererbung verbunden. Ethnizität als Signifikant für kulturelle Differenz steht stets in der Gefahr, »die Kultur in Richtung der Natur abgleiten zu lassen.«23 Der Begriff der Ethnizität wird in den untersuchten Artikeln ausschließlich, in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema teilweise homogenisierend und essentialisierend genutzt. Ethnizität kann somit die durch Rasse hervorgerufenen Probleme der Annahme einer natürlichen Differenz nicht lösen.24 Differenzen werden dabei nicht nur kulturalisierend, sondern auch biologisierend dargestellt und dienen der Herstellung von Machtverhältnissen. Weiße (West-)Europäer*innen werden jedoch selten mit Ethnizität in Verbindung gebracht, was die Nutzung des Begriffs als 20 21
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Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 9. Michael Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne: Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Band 95 (München, Germany: Oldenbourg Verlag München, 2013), 21. Angela Wieser, Ethnische Säuberungen und Völkermord: Die genozidale Absicht im Bosnienkrieg von 1992 – 1995, Politik und Demokratie 9 (Frankfurt a.M.: Lang, 2007), 10. Hall und Gates, Das verhängnisvolle Dreieck, 142. Ebd., 102–26.
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Markierung des Anderen deutlich macht: »In der Sprache des Rassismus sind alle anderen ethnische Gruppen und jetzt geht es darum, ob weiße Europäer lernen können, eine ethnische Gruppe unter anderen zu sein.«25 Der Umgang mit Ethnizität in Jugoslawien zeigt anschaulich, dass Kategorisierungen Wirklichkeit nur bedingt widerspiegeln und gleichzeitig damit eine Wahrnehmung von Wirklichkeit hervorgebracht wird. In Jugoslawien wurde die ethnische Zugehörigkeit in den Pass eingetragen. Es gab jedoch auch die Möglichkeit, sich bewusst keiner ethnischen Gruppe zuzuordnen und nur jugoslawisch anzugeben. In Bosnien waren dies 5,5 % der Bevölkerung.26 Etwa 12 % aller Ehen wurden zwischen verschiedenen Gruppen geschlossen. Des Weiteren stand die jugoslawische Zugehörigkeit für die Mehrheit der Bevölkerung vor Ausbruch des Konfliktes an erster Stelle, dann folgte die Zugehörigkeit zu Europa und dann erst die jeweilige ethnische Zugehörigkeit27 , was auf eine geringere Relevanz der ethnischen Zugehörigkeit vor Ausbruch des Krieges hindeutet. Bei der Wahrnehmung der Unterschiede zwischen den Gruppen war neben der ethnischen und nationalen Zugehörigkeit die Religionszugehörigkeit bedeutsam. Da die serbischen, kroatischen und bosniakischen Bevölkerungsteile in Bosnien die gleiche Sprache sprachen, sich jedoch der orthodoxen, katholischen und muslimischen Religionsgemeinschaft zugehörig fühlten, wurde die Religion zum Ausdruck kultureller Eigenständigkeit und damit zum wichtigsten Definitionsmerkmal ethnischer Zugehörigkeit. Die bosnischen Muslime in Bosnien wurden somit als ethnische Gruppe wahrgenommen und 1968 als eigene Kategorie bei den Volkszählungen aufgenommen. Zuvor gab es lediglich die Kategorien Muslim unentschieden, Jugoslawe unentschieden oder Muslim im ethnischen Sinn. 1994 fand eine sprachliche Trennung der beiden Identitätskonzepte statt, indem von der ethnischen Zugehörigkeit als Bosniak*in gesprochen wurde und von einer muslimischen Religionszugehörigkeit. Bosniakisch wurde damit zur ethnischen Kategorie, bosnisch verortete die regionale Zugehörigkeit. Im allgemeinen Sprachgebrauch blieb der Begriff der bosnischen Muslimen jedoch bestehen. Es zeigt, dass Religionszugehörigkeit nicht als etwas Veränderliches, sondern als vererbbar wahrgenommen und ethnisiert wurde.28 Das Vorherrschen der Kategorie muslimisch statt bosnisch kann dazu beigetragen haben, dass das regionale und nationale Identitätsbewusstsein in Bosnien geschwächt wurde, da es für die serbischen und kroatischen
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Stuart Hall, »Rassismus als ideologischer Diskurs.« In Theorien über Rassismus, 16. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 244 Marie-Janine Calic, »Der jugoslawische Nachfolgekrieg 1991–1995.« In Bosnien-Herzegowina, 73; Marie-Janine Calic, »Gescheiterte Idee: Gründe für den Zerfall Jugoslawiens.« In Bosnien-Herzegowina, 139 Die Überschneidung von ethnischer und nationaler Zugehörigkeit führt sprachlich gesehen häufig zu Unklarheiten und Verwechslungen. Serbische Kroat*innen sind demnach Menschen, die eine serbische ethnische Zugehörigkeit haben, jedoch in der kroatischen Teilrepublik bzw. nach der Unabhängigkeit in Kroatien leben und ggf. auch die kroatische Staatsangehörigkeit haben. Bosniakisch bezeichnet die ethnische, bosnisch die nationale Zugehörigkeit. . Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 11–12. Aleksandar Jakir, »Bosnien-Herzegowina im ersten und zweiten jugoslawischen Staat.« In Keßelring, Bosnien-Herzegowina (s. Anm. 1809), 63; Armina Omerika, »Der Islam – zur Bedeutung der Religionsgemeinschaften.« In Keßelring, Bosnien-Herzegowina (s. Anm. 1809), 131–4.
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Bevölkerungsteile keine Identifikationsmöglichkeit bot.29 Die vielfältigen und sich wandelnden Versuche von Kategorisierungen, um Eindeutigkeiten herzustellen und Zuordnungen vorzunehmen, zeigen jedoch, dass Identitäten in der Realität stets komplexer sind. Zudem entstehen diese Grenzziehungen nicht zufällig, sondern sind auch Bestandteil identitätspolitischer Ziele.30 Der westliche Blick auf den Balkan nahm die Zusammensetzung der Bevölkerung als Besonderheit wahr und deutete diese als Sonderfall und Problem. Daraus resultieren auch zeitgenössische Deutungen des Jugoslawienkonfliktes als nicht-europäisch, Rückfall in die Barbarei und Zivilisationsbruch. Mit Blick auf die Geschichte der Nationalstaaten kann der Konflikt auch als Orientierung am europäischen Ideal homogener Nationalstaaten und somit als Europäisierung des Balkans betrachtet werden.31 Auch der Begriff der ethnischen Säuberungen ist eng mit diesen Homogenitätsvorstellungen verbunden. Die Annahme, dass Nationalstaaten eine möglichst homogene Bevölkerung haben sollen, entstand im 19. Jahrhundert. Diese Ideologie entwickelte sich als Bestandteil der europäischen Moderne und des europäischen Nationalismus. Während zu Beginn der Entstehung der Nationalstaaten Nation als Gemeinschaft mit staatsbürgerlicher Gleichheit gedacht wurde (»demos«), entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker die Vorstellung einer Nation als »ethnos« auf der Basis von Abstammung, Blut und Boden.32 Die Homogenität der Bevölkerung wurde immer mehr zu einem Ideal, dem man sich nicht nur mit Assimilation, sondern auch mit verschiedenen Zwangsmaßnahmen annäherte. Ein wesentlicher Aspekt war die Entwicklung einer nationalen Bevölkerungspolitik, die Nutzung von statistischen Verfahren und Zuordnung aller Menschen in exklusive und scheinbar objektive nationale und ethnische Kategorien.33 Diese bezeichnete Foucault als Bio-Politik, die auch Eingriffe in Reproduktion und Sexualität beinhalten.34 Dies macht nachvollziehbar, warum Praktiken von ethnischen Säuberungen eng mit sexualisierter Gewalt verbunden sind, weil es eine Form von Machtausübung darstellt.35 Die (west-)europäischen Großmächte übten auch auf andere Staaten und in Konflikten ihren Einfluss aus, indem sie die Bildung homogener Staaten präferierten und sich stärker für Homogenisierung durch Bevölkerungsaustausch als für den Schutz von Minderheiten einsetzten. Die Trennung, Biologisierung und Hierarchisierung von Menschengruppen wurde nicht zuletzt durch den europäischen Kolonialismus und die damit verbundene Entstehung von Rassetheorien vorangetrieben.36 »Diese menschenverachtende Praxis war keine Erfindung von Diktatoren oder ein Unfall der Geschichte, sie ging
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Sabine Riedel, Die Erfindung der Balkanvölker: Identitätspolitik zwischen Konflikt und Integration (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005), 56–58. Ebd., 312–15. Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne, 21. Michael Wildt, »Biopolitik, ethnische Säuberungen und Volkssouveränität. Eine Skizze.« Mittelweg 36 15, Nr. 6 (2006): 91. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 11. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Frankfurt a.M., 1991), 165. Wildt, »Biopolitik, ethnische Säuberungen und Volkssouveränität. Eine Skizze.« 92–94. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 65–67.
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aus den Grundlagen des heutigen Europas und seiner nationalstaatlichen Ordnung hervor.«37 Gewaltausübungen und Vertreibungen, die auf die Herstellung einer vorgestellten Homogenität in der Bevölkerung abzielten, wurden im postjugoslawischen Krieg mit dem Begriff der ethnischen Säuberung beschrieben und führten zur internationalen Nutzung des Begriffs. Er wurde aus dem Serbischen (etničko čišćenje) übersetzt, findet sich jedoch schon früher in vielen europäischen Sprachen. Das Adjektiv ethnisch kam jedoch erst in den 1990er Jahren dazu, da zuvor im Zusammenhang mit Diskursen über Nation ohnehin klar war, dass Säuberung sich auf nationale bzw. ethnische Minderheit bezog.38 Der Begriff der Säuberung transportiert die Vorstellung einer Nation als Volkskörper, dessen Gesundheit und Reinheit durch verschiedene Maßnahmen von Eugenik, Vertreibung und Auslöschung hergestellt und erhalten werden können. Der Begriff erklärt Gruppen von Menschen zu Schmutz, die vom eigenen Territorium entfernt werden sollen.39 Eine Expert*innenkommission der Vereinten Nationen (UN) definierte 1992 ethnische Säuberungen als »vorsätzliche Politik, die von einer ethnischen und religiösen Gruppe verfolgt wird, um die Zivilbevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe durch gewaltsame und terroristische Mittel aus bestimmten geographischen Gebieten zu entfernen«.40 Die wissenschaftliche Nutzung des Begriffs wurde damit gerechtfertigt, dass nur mit einem gemeinsamen Begriff das Phänomen erkannt und bekämpft werden könne. Die Begründungen sind inhaltlich wenig überzeugend: »Man mag den Terminus ethnische ›Säuberung‹ als ›unglücklich‹, da euphemistisch empfinden, aber er ist im globalen Gebrauch nach einer ›Blitzkarriere‹ mittlerweile Standard.«41 Er habe den Vorteil, dass er verschiedene Phänomene wie Flucht, Vertreibung, Zwangsumsiedelung und Deportation bündig zusammenfasse.42 Es sei ein »nützlicher und vertretbarer Begriff, um [...] katastrophale Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu verstehen«43 . Der Begriff der Säuberung und die damit verbundene Ideologie wurden jedoch nicht problematisiert.44 Grundsätzlich betrachte ich den Begriff der ethnischen Säuberung als schwierig, da er zum einen die Eindeutigkeit von ethnischen Gruppen beinhaltet, die den Konstruktions- und Grenzziehungsprozess in den Hintergrund treten lässt und den Gegenstand seiner Untersuchung als gegeben voraussetzt.45 Insbesondere das Beispiel Jugoslawien zeigt, dass kaum von spezifischen und objektiven Merkmalen ethnischer Gruppen ausgegangen werden kann. Der Begriff verschleiert damit »die konstruierten und instrumentellen Wurzeln« des Phänomens.46 Zum anderen bewirkt eine fehlende Distanzierung
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Ebd., 67. Ebd., 10, 239. Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne, 1. Ebd., 7. Ebd., 3. Ebd., 4. Norman M. Naimark und Martin Richter, Flammender Hass: Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, Lizenzausg, Schriftenreihe/Bundeszentrale für politische Bildung 781 (Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2009), 11. Naimark und Richter, Flammender Hass, 13–14. Wildt, »Biopolitik, ethnische Säuberungen und Volkssouveränität. Eine Skizze.« 105. Wieser, Ethnische Säuberungen und Völkermord, 53–54.
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von der Vorstellung, dass man ein Territorium von bestimmten Menschengruppen säubern kann, dass diese Ideologie nicht dekonstruiert und verurteilt, sondern weiterverbreitet wird. Die Nutzung des Begriffes vermittelt, dass es möglich ist, Menschen nach ethnischen Gesichtspunkten zu sortieren und Homogenität herzustellen. Das Phänomen lässt sich meines Erachtens daher als gewaltsame Herstellung einer vorgestellten Homogenität beschreiben. Den Begriff der ethnischen Säuberung werde ich daher als Quellenbegriff, jedoch nicht als analytischen Begriff nutzen. Das Phänomen ist gekennzeichnet von einer Systematik, Planung und Totalität sowie einer meist längerfristigen Gewaltspirale mit massiven Formen der Misshandlung. Es geschieht meist unter dem Deckmantel des Krieges, richtet sich insbesondere gegen Frauen als »Trägerinnen der nächsten Generation eines Volkes«47 und schließen Aneignung von fremdem Eigentum und Zerstörung von Monumenten und Literatur mit ein.48 Die Vertreibungen und Deportationen hatten im Gegensatz zum Genozid nicht die Vernichtung, sondern die dauerhafte Entfernung vom nationalen Territorium zum Ziel. Teilweise gehen diese jedoch auch ineinander über. Die Geschwindigkeit, der Umfang und der Totalität der Gewalt wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts immer effektiver.49 In Bosnien wurde die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung vertrieben. Obwohl die muslimischen Bosniak*innen die größten Verluste erlitten, sind einseitige Opfer-TäterZuschreibung nicht haltbar.50 Erstmalig wurden die Vertreibungen jedoch im Friedensvertrag nicht hingenommen, sondern ein Recht auf Rückkehr verankert. In der Realität kehrte jedoch nur ein Bruchteil an den Heimatort zurück, weil damit auf der persönlichen Ebene traumatische Erlebnisse verbunden waren und auch politisch nicht ausreichend Schutz für Minderheiten geboten wurde. Die »Wiederherstellung einer multiethnischen Gesellschaft könnte sich daher ebenso als Utopie erweisen wie die gewaltsame Erzeugung ethnischer Homogenität.«51 Auch die anderen europäischen Länder waren nicht frei von nationalen Homogenitätsvorstellungen, was sich auf ihre Rolle im Konflikt auswirkte. Letztlich war auch die intensiv betriebene Rückführungspolitik der Bundesrepublik einer vorgestellten homogenen Gesellschaft verpflichtet. In der Analyse zeigt sich, dass die ethnische Zugehörigkeit der Flüchtlinge in der deutschen Aufnahme- und Rückkehrpolitik hingegen lange Zeit komplett ausgeblendet wurde, als sei diese nur im Krieg bedeutsam gewesen (siehe Kapitel 8.4.4).
8.1.3 Die Rolle Europas im Konflikt und bei der Flüchtlingsaufnahme Die westeuropäischen Staaten waren nicht nur zögerlich, wie sie sich zum Jugoslawienkonflikt positionieren und ihre Rolle definieren sollten. Sie waren insbesondere lange Zeit zurückhaltend in ihrer Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Bundesrepublik präsentierte sich als Vorreiterin bei der Aufnahme, sie war es jedoch bei näherem Hinsehen vor allem in ihrer Rückkehrförderung.
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Naimark und Richter, Flammender Hass, 243. Naimark und Richter, Flammender Hass, 231–46. Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne, 3; Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 16–17. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 241. Ebd., 254.
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Mit dem Vertrag von Maastricht begannen die Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) ihre nationale Migrations- und Außenpolitik stärker europäisch auszurichten. Diese wurde aufgrund fehlender Erfahrungen durch die Konflikte in Jugoslawien sehr herausgefordert.52 Da der Bürgerkrieg nicht verhindert werden konnte, wird dies auch als »Trauma der unzureichenden Handlungsfähigkeit«53 beschrieben. Die Bundesrepublik sah sich zudem mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre neue außenpolitische und militärische Rolle zu finden. Die Bundeswehr kam zum ersten Mal in Bosnien nach dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz.54 Erst die USA brachte mit der NATO die entscheidenden Friedensinitiativen auf den Weg. Insbesondere für die Gewalttaten in Srebrenica und Zepa, die trotz Einrichtung von Schutzzonen und vor den Augen der schwach bewaffneten Blauhelm-Soldat*innen geschahen, wird der internationalen Gemeinschaft eine Mitverantwortung zugeschrieben. Dies ist unter anderem auf die Reduktion auf humanitäre Hilfe, auf die Zögerlichkeit eines militärischen Eingreifens, die Eingrenzung auf Luftangriffe und die Einführung des Waffenembargos zurückzuführen, was das militärische Ungleichgewicht in Bosnien verstärkte. Sarajewo wollte als einzige Kriegspartei einen multiethnischen Staat und hätte dadurch auch mit Waffen unterstützt werden können. Stattdessen sah die internationale Gemeinschaft lange tatenlos den Gewalttaten zu.55 »Die Staaten der internationalen Gemeinschaft folgten ihren jeweiligen nationalen Interessen und waren anfangs weder in der Lage noch willens, sich auf ein gemeinsames Konzept [...] zu verständigen. Die ›Alle sind schuld‹These und die Fehlperzeption der Kriege als Ausbruch uralten Hasses ›legitimierten‹ das Nichtstun der Gemeinschaft.«56 Das Interesse vieler europäischer Staaten war die Hilfe vor Ort in Verbindung mit einer restriktiven Flüchtlingsaufnahmepolitik. Eine Idee, die während des Jugoslawienkonfliktes sowohl von Seiten des UNHCR als auch von Europa propagiert wurde, war jene des temporären Schutzes. Ausgangspunkt waren zum einen die hohen Flüchtlingszahlen, zum anderen die fehlende Bereitschaft vieler Industriestaaten, Kontingente aufzunehmen. Durch einen vorübergehenden Schutz könnten Schutzsuchende schnell, unbürokratisch und gleichzeitig zeitlich begrenzt aufgenommen werden. Dies verband sich mit in den 1980er Jahren entwickeltem Konzept, Flüchtlingspolitik präventiv zu gestalten, in dem sowohl Fluchtursachen bekämpft werden sollten als auch eine Regionalisierung, d.h. eine Aufnahme in den Nachbarländern, bevorzugt wurde. Der UNHCR übernahm durch humanitäre Hilfe in der betroffenen Region im Jugoslawienkonflikt eine neue Rolle. Der UNHCR und die UN-Hochkommissarin Sadako Ogata als Akteure und Expert*innen traten dadurch stärker ins öffentliche und mediale Bewusstsein der Bundesrepublik. Die Angewiesenheit auf Kooperation erforderte von Ogata, dass sie immer
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Reichel, Anspruch und Wirklichkeit der EU-Krisenbewältigung: Testfall Balkan, 13–14. Ebd., 27. Gerhard Meder, »Zur Neubestimmung der Rolle der Bundeswehr in den deutschen Printmedien.« In Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien, hg. v. Wilhelm Kempf, Friedenspsychologie 4 (Münster: LIT, 1998), 201. Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten, 251–53. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011: Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen (Wien: Böhlau, 2012), 366.
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wieder für Unterstützung werben musste und somit auch kaum Standards für eine vorübergehende Aufnahme einfordern konnte, da diese nicht unter die Verbindlichkeit der GFK fiel.57 Die westeuropäischen Staaten waren sich zwar einig, dass die Zivilbevölkerung in Jugoslawien Hilfe brauche, zeigten aber kaum Bereitschaft zur Aufnahme. Ende 1992 einigte sich der europäische Rat bei einem Treffen in Edinburgh, vor allem finanzielle Unterstützung für die Hilfe vor Ort und in den Nachbarländern zu leisten und nur besonders vulnerable Gruppen in ihre Staaten aufzunehmen. Eine Einigung hinsichtlich einer europäischen Lastenteilung konnte jedoch auch später nicht erzielt werden.58 Während insbesondere Frankreich und Großbritannien anfänglich zurückhaltend gegenüber einer europäischen Lösung waren, stieg die Bereitschaft zur Kooperation mit der Höhe der Aufnahmezahlen. Das grundlegende Ziel jedoch blieb bei einer Regionalisierung vor Ort. Je nach Betrachtung und Deutung der Zahlen fällt das Engagement der einzelnen Länder sehr unterschiedlich aus. In absoluten Zahlen hat Deutschland sehr eindeutig am meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen. Dies lässt sich jedoch nicht nur auf eine großzügige Aufnahmepolitik rückführen, sondern insbesondere darauf, dass viele Bürgerkriegsflüchtlinge Verwandte in Deutschland hatten.59 Werden die Aufnahmezahlen jedoch im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl des jeweiligen Landes betrachtet und die Rückführungszahlen berücksichtigt, erscheint die Großzügigkeit der Bundesrepublik hinsichtlich der Bürgerkriegsflüchtlinge mehr als fraglich. Im Juni 1996 hatte Deutschland 350.000 und damit 4,3 Bürgerkriegsflüchtlinge pro tausend Einwohner*innen aufgenommen, im Mai 2000 hatte sich die Zahl auf 37.000 und damit 0,4 Flüchtlingen pro tausend Einwohner*innen durch Rückführungen reduziert. Österreich hat in Relation zur Bevölkerung am meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, die Zahl belief sich 1996 auf 9,8 pro tausend Einwohner*innen, und im Jahr 2000 noch auf 8,2. Dänemark nahm 4,2 pro tausend Einwohner*in bis 1996 auf und erhöhte diese Zahl bis 2000 noch auf 5,3. Auch in den anderen wichtigsten europäischen Aufnahmeländern Schweden, Schweiz und Niederlande kehrte ein sehr geringer Teil zurück. Die verbleibenden Flüchtlinge hatten im Mai 2000 zu 97 % und mehr ein Bleiberecht im Aufnahmeland erhalten, die verbleibenden 10 % in Deutschland hingegen hatten alle nur einen Duldungsstatus.60 Die bundesdeutsche Rückkehrstrategie, die die freiwillige Rückkehr und den Wiederaufbau unterstützen sollte und die jedoch immer stärker einen Zwang zur Rückkehr enthielt, war singulär. Schweden stellte einem großen Teil direkt eine unbegrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis aus, in Niederlande wurden viele als GFK-Flüchtlinge anerkannt, in Österreich erhielt der Großteil mit einem Beschluss von 1998 ein Bleiberecht.61 Unklar in diesen Statistiken ist, welche Flüchtlinge in Deutschland davon erfasst wurden, weil es über Kontingentregelungen, Asylverfahren und privaten Verpflichtungserklärungen unterschiedliche Zugänge gab. 57
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Hannes Tretter, Hg., Temporary protection für Flüchtlinge in Europa: Analysen und Schlussfolgerungen, Studienreihe des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte 7 (Wien: Verl. Österreich, 2005), 25–37. Ebd., 43–49. Christopher A. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany (Bloomington: Indiana University Press, 2018), 162. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration, 75–80. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration, 81–83.
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So blieben letztlich doch mehr Menschen in Deutschland, politisch gewollt war jedoch die Rückkehr. Der Schutzanspruch der Bürgerkriegsflüchtlinge ist somit unterschiedlich ausgelegt worden. Laut völkerrechtlicher Literatur kann aus der GFK ein Schutzanspruch aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen in Kriegssituationen abgeleitet werden, welcher in anderen europäischen Ländern umgesetzt wurde. Die Idee, neben dem Asylgrundrecht und der GFK einen weiteren vorübergehenden Schutzstatus zu gewähren, gab es seit den 1970ern in vielen europäischen Ländern. Sie sollte zur Lösung des Weltflüchtlingsproblems beitragen. Dabei stellt sich die Frage, ob temporärer Schutz nur als Mittel einer restriktiven Asylpolitik genutzt wird oder ob dies als eine Möglichkeit der Schutzgewährung unter menschenwürdigen Umständen und klar formulierten Rahmenbedingungen sein kann.62 Die Aufnahme- und Rückkehrpolitik der Bundesrepublik und sowie ihre gesetzlichen Grundlagen wird im Folgenden näher betrachtet.
8.1.4 Deutsche Aufnahme- und Rückkehrpolitik Deutschland und das ehemalige Jugoslawien verbindet eine lange Migrationsgeschichte. Nachdem vor allem politische Flüchtlinge in den Nachkriegsjahren und bis in der 1960er Jahre von Jugoslawien nach Deutschland gekommen waren, dominierte in den 1960er und 1970er Jahren die Arbeitsmigration. Durch die Zuwanderung von mehr als einer halben Million jugoslawischer Gastarbeiter in den 1960ern und frühen 1970er Jahren nach Deutschland und die Beliebtheit Jugoslawiens als Urlaubsland für die Westdeutschen entstanden vielfältige Verbindungen zwischen den beiden Staaten. 1990 waren Jugoslaw*innen mit mehr als 400.000 die zweitgrößte Gruppe mit ausländischem Pass in Deutschland, welche sich weiterhin als zweitgrößte Gruppe im Jahr 2002 mit 900.000 aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ohne Berücksichtigung der bereits Eingebürgerten mehr als verdoppelte.63 So war es kein Zufall, dass sich zu Beginn der 1990er Jahre viele bosnische Flüchtlinge auf den Weg zu ihren Verwandten nach
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Ulrike Davy, »Temporary Protection: Neue Konzepte der EU-Flüchtlingspolitik und ihr Verhältnis zur Gewährung von Asyl.« In Tretter, Temporary protection für Flüchtlinge in Europa (s. Anm. 1856), 17; Ulrike Brandl, »Die Anwendbarkeit des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention auf Bürgerkriegsflüchtlinge.« In Tretter, Temporary protection für Flüchtlinge in Europa (s. Anm. 1856), 219; Hannes Tretter und Tim Engel, »›Magisches Geschenk‹ oder ›zweischneidiges Schwert‹? Zum Stand des Temporary-Protextion-Systems in der Rechtsentwicklung Europas – Schlussfolgerungen und rechtspolitischer Ausblick.« In Tretter, Temporary protection für Flüchtlinge in Europa (s. Anm. 1856), 294–6. Sundhaussen, »Der Zerfall Jugoslawien und seine Folgen,« 9–11; Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration, 52–55; Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 9; Monika Mattes, »Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 829–30; Karolina Novinšćak, »Auf den Spuren von Brandts Ostpolitik und Titos Sonderweg: deutsch-jugoslawische Migrationsbeziehungen in den 1960er und 1970er Jahren.« In Das Gastarbeiter-System: Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, hg. v. Carlos S. Díaz, Axel Kreienbrink und Jochen Oltmer, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 104 (München: De Gruyter, 2012), 134.
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Deutschland machten. Diese gemeinsame Migrationsgeschichte und die Anwesenheit von Jugoslaw*innen sind in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte kaum präsent und nehmen selbst in der Migrationsforschung eine marginalisierte Position ein.64 Die Willkommenskultur angesichts der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge war, wie so oft in der Bundesrepublik sehr ambivalent und kippte relativ schnell von der Perspektive der Aufnahme zu jener der Rückkehr. Angesichts der zeitgleich stattfindenden Debatten zum Asylmissbrauch, zur Grundgesetzänderung und zur rassistischen Gewalt stellt sich die Frage, warum es überhaupt eine Aufnahmebereitschaft hinsichtlich der bosnischen Flüchtlinge gab. Zum einen war die Gewalt des Bosnienkrieges in großer Massivität im deutschen Fernsehen zu sehen. Daher wurden die Bürgerkriegsflüchtlinge nicht als Menschen wahrgenommen, die Asylmissbrauch begehen wollen, sondern als echte Flüchtlinge, die Hilfe benötigen. Des Weiteren war dies der erste Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, was bei der älteren Generation viele Erinnerung wachrief. Zudem verbanden viele positive Urlaubserinnerungen mit Jugoslawien. Es entwickelte sich eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung und viele stellten privaten Wohnraum für ankommende Kontingentflüchtlinge zur Verfügung.65 Die Regierung zeigte hingegen ein sehr widersprüchliches Verhalten. Auf der einen Seite inszenierte sich die Bundesrepublik in der Welt als Retter*in, gleichzeitig gewährte sie nur sehr prekäre Aufenthaltsrechte und verlagerte die Kosten durch Verpflichtungserklärungen auf Privatpersonen oder auf die Kommunen. Der rechtliche Status war je nach Einreise und Bundesland unterschiedlich geregelt, weil die in die Grundgesetzänderung aufgenommene Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge noch keine konkrete gesetzliche Ausgestaltung und Finanzierungsklärung erfahren hatte. Dies konnte erst 1997 mit §32a AuslG verabschiedet und 1999 für die Kosovo-Albaner*innen zum ersten Mal realisiert werden. Dieser begrenzte Aufenthaltstitel verbot eine Asylantragsstellung und trennte die beiden Zugangswege zu einem Aufenthalt klarer voneinander.66 Es gab drei Möglichkeiten für den Erhalt eines Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik: Bosnische Flüchtlinge konnten aufgrund von Verpflichtungserklärungen von Privatpersonen oder Organisationen ein Aufenthaltsrecht bekommen, durch die Aufnahme von Kontingenten (insbesondere traumatisierte Frauen und Kriegsgefangene) oder durch einen Asylantrag. Neben den 17.000 Kontingentflüchtlingen, die insbesondere im Sommer 1992 aufgenommen wurden und ein befristetes Bleiberecht hielten, war der rechtliche Status über das Asylverfahren oder eine Verpflichtungserklärung sehr prekär. Bereits 1992 wurde die Visapflicht für Kroatien und Bosnien eingeführt und sollte nur besonders vulnerablen Gruppen ausgestellt werden, gleichzeitig stieg der Anteil der Asylanträge aus
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Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 9–20 Interessant bei Molnar ist, dass er durchgehend von »Jugoslaw*innen« schreibt, und die »ethnischen« Zugehörigkeiten eine geringe Rolle in seiner Analyse spielen. Lediglich auf die Sorge eines »erweiterten Bürgerkrieges« in Deutschland zwischen den Gruppen geht er ein. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 165–67. Dickel, Einwanderungs- und Asylpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland, 300–301.
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dem ehemaligen Jugoslawien auf 26 %. Die Anerkennungsquote belief sich zwar auf unter 2 %, da das deutsche Asylrecht nicht für den Schutz von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen ausgelegt war, gleichzeitig konnten sie aber nicht abgeschoben werden und erhielten einen drei- bis sechsmonatigen Duldungsstatus. Für Menschen im Duldungsstatus, sowie langfristig auch für viele, die über private Verpflichtungserklärungen kamen, waren die Kommunen zuständig.67 Nur im Asylverfahren übernahm der Bund den größten Teil der Kosten. Die Durchführung der überwiegend ergebnislosen Asylverfahren kann daher nur als »juristische Ersatzkonstruktion für den ansonsten ungeregelten Aufenthalt für Kriegsflüchtlinge«68 betrachtet werden. Dies bedeutete nicht nur eine unnötige Belastung der Asylverwaltung und Gerichte, sondern verursachte auch in der Öffentlichkeit aufgrund der niedrigen Anerkennungszahlen und dem damit verbundenen Asylmissbrauch ein verzerrtes Bild der tatsächlichen Problemstellung.69 Die Lebenssituation der Bürgerkriegsflüchtlinge war geprägt von einer drei- bis sechsmonatigen Duldung und einem begrenzten Arbeitsmarktzugang. Die Duldung und die Notwendigkeit ihrer ständigen Verlängerung wurden von vielen nicht nur als Machtlosigkeit und Abhängigkeit vom guten Willen der Behörden, sondern auch oft als Demütigung empfunden.70 Die größte Last trugen die Menschen mit jugoslawischem Migrationshintergrund in Deutschland, die trotz kleiner Wohnung und wenig Einkommen große Solidarität mit den ankommenden Flüchtlingen bewiesen. Viele nahmen in ihre 2oder 3-Zimmerwohnungen weitere fünf Menschen auf. Insbesondere jene, die Verpflichtungserklärung für viele Personen unterschrieben hatten, mussten für diese über Jahre aufkommen und standen häufig vor dem finanziellen Ruin. In Dortmund beispielsweise bezogen 79 % der Bürgerkriegsflüchtlinge im Jahr 1997 keine Sozialleistungen, weil sie entweder Arbeit gefunden hatten oder von ihren Verwandten mitfinanziert wurden.71 Es gibt jedoch weder Zahlen darüber, welche Rolle die ethnische Zugehörigkeit bei der Aufnahme spielte, noch wie viel Verantwortung die Kommunen für die Flüchtlinge übernahmen, die mit Verpflichtungserklärungen nach Deutschland kamen.72 Deutschland war das erste Land, das bereits Ende 1996 erste Abschiebungen nach Bosnien durchführte und das einzige Land, das erwartete, dass alle Bürgerkriegsflüchtlinge zurückkehren. Dies lässt sich auch in Verbindung mit den steigenden Zuwanderungszahlen und einem zunehmenden Nationalismus nach der Wiedervereinigung betrachten: »German nationalism reemerged with force during the push for reunification. This renewed sense of pride in a specifically German identity morphed with disturbing fre-
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Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 212–14; Poutrus, Umkämpftes Asyl, 181. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 214. Höfling-Semnar, Flucht und deutsche Asylpolitik, 214; Siehe auch Julia Kleinschmidt, »Streit um das ›kleine Asyl‹. ›De-facto-Flüchtlinge und Streit um Abschiebungen als gesellschaftspolitische Herausforderung für Bund und Länder während der 1980er Jahre.« In Den Protest regieren. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 166–67. Ebd. Ab den 1990ern wurde in Statistiken und in der Migrationsforschung in Deutschland entweder die jugoslawische oder die nationale Kategorie erfasst, was in beiden Fällen zu kurz griff. Karolina Novinšćak, »Auf den Spuren von Brandts Ostpolitik und Titos Sonderweg: deutsch-jugoslawische Migrationsbeziehungen in den 1960er und 1970er Jahren.« In Das Gastarbeiter-System: Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, 134.
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quency into a violent hatred of foreigners, who were just then arriving in massive numbers.«73 Als weitere Legitimation wurde der deutsche Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg als Vergleichsfolie für Bosnien genutzt. Ohne die massiven Unterschiede zwischen den Kriegen zu berücksichtigen, wurde daraus die Erwartung abgeleitet, dass auch Bosnier*innen zurückkehren und ihr Land aufbauen müssen. Mit dem Friedensvertrag von Dayton begannen die Debatten in Politik und Medien, wer wann zurückkehren könne. Im Gegensatz zu anderen Ländern und dem UNHCR, welche die ethnische Zugehörigkeit als wichtigstes Kriterium für eine mögliche Rückkehr betrachteten, entwickelte die Bundesrepublik einen Stufenplan nach sozialen Kriterien wie Familienstand, Kinder und Gesundheit. Das erste Rückkehrdatum wurde im Jahr 1996 mehrere Male nach hinten geschoben. Die Innenministerkonferenz einigte sich dann auf den 1. Oktober 1996, ließ den Bundesländern jedoch Gestaltungsspielraum.74 Die ersten Abschiebungen wurden von Bayern im Dezember durchgeführt. Im August 1997 sind erst 65.000, d.h. etwas mehr als ein Sechstel zurückgekehrt.75 1998 wird politisch das »Jahr der Rückkehr« ausgerufen. Obwohl insgesamt nur etwas mehr als 5.000 Bosnier*innen abgeschoben werden, wird durch die kontinuierliche Präsenz des Themas und dem steigenden Druck eine Angst erzeugt, die viele dazu bewegt, freiwillig zurückzukehren.76 Die oft unangekündigten und brutalen Abschiebungen sollten der Abschreckung dienen, was in der ZEIT als »wohlkalkuliertes Spiel mit der Angst«77 , in der SZ als »Psycho-Terror«78 beschrieben wurde. Sowohl von Seiten der Medien, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Politiker*innen von allen Parteien, als auch international wurde die Rückkehrpolitik der Bundesregierung kritisiert.79
8.2 Beschreibung des Diskurses Die Beschreibung des Diskurses bezieht sich auf drei tieferliegende und umfassendere Aspekte, die für das Verständnis der Analyse hilfreich sind. Diese beziehen sich auf westliche Vorstellungen vom Balkan, auf die Bedeutung und Berichterstattung von sexualisierter Gewalt im Krieg und auf die Konstruktionen von Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. Sie zeigen in besonderer Weise, an welche historischen Konstruktionen des Anderen angeknüpft wurde, wie Geschlecht als Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen diente und durchaus ein empathischer und etwas differenzierter Blick auf die Anderen Teil des Sagbarkeitsfeldes war.
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Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 162. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 167–72. Albert Schäffer, »Bisher 65 000 Flüchtlinge zurückgekehrt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.1997. Bendiek, Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien und die Europäische Integration, 83. Vera Gaserow, »Spiel mit der Angst.« Die Zeit, 11.04.1997. Christian Schneider, »Grüne sehen ›Politik des Psychoterrors‹.« Süddeutsche Zeitung, 19.04.1996. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 171.
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8.2.1 Westliche Konstruktionen des Balkans Der Balkan ist nicht nur ein geografischer Begriff, der sich auf Südosteuropa bezieht und durch das Balkangebirge seinen Namen bekam, sondern beinhaltet auch eine »symbolische Geografie«80 beziehungsweise eine diskursive Konstruktion. Diese Konstruktion zeigt eine Kontinuität über eine lange Zeit, ähnlich wie die Konstruktion des Orients, und beinhaltet Beschreibungen wie Rückständigkeit, Gewalt und Barbarentum. Im Unterschied zu den Orientkonstruktionen, die einen weiblich-exotisierenden, geheimnisvollen Aspekt beinhalten, wird der Balkan fast durchgehend als männlich, unzivilisiert und grausam beschrieben. Dabei werden diese sowohl als Fremdbeschreibung von außen genutzt, als auch für Grenzziehungen innerhalb des Balkanraums. Die Mehrzahl der ethnischen Identitäten des Balkans waren zunächst westeuropäische Fremdbenennungen und wurden erst später als Selbstbezeichnung von der jeweiligen Gruppe angewendet.81 Es gibt verschiedene Ansätze, die von Said entwickelte Perspektive des Orientalismus auf den Balkan anzuwenden.82 Orientalismus beschreibt die diskursive Konstruktion eines imaginierten geografischen Raumes, die Verbindung von Herrschaft, Macht und Wissen sowie ein System des Denkens, das eine komplexe menschliche Realität von einem essentialistischen Standpunkt betrachtet.83 Je nach Definition kann der Balkanismus als eine strukturelle Variante des Orientalismus eingeordnet84 oder als eigenständige Form von Rassismus betrachtet werden.85 Die Grenzziehungen im ehemaligen Jugoslawien griffen auf orientalische Zuschreibungen zurück, auf Dichotomien zwischen Westen und Osten, orthodoxer und katholischer Kirche, totalitärem und demokratischen System. Essentialisierungen verliefen intersektional anhand von religiösen, ethnischen, historischen, politischen und sprachlichen Grenzziehungen, nahmen Hierarchisierungen vor und legitimierten die eigene Souveränität. Des Weiteren wurde die Zugehörigkeit zu Europa mitverhandelt, die nicht geografisch, sondern symbolisch bestimmt wurde und mit Begriffen wie Demokratie, Zivilisiertheit und Entwicklung verknüpft war. Hier zeigt sich, dass Europa nicht nur einen geografischen Raum definiert, sondern ein normatives Verständnis mit bestimmten Zielvorstellungen beinhaltet, die definieren, wer dazugehört.86 Im Jugoslawienkonflikt 80 81
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Milica Bakić-Hayden und Robert M. Hayden, »Orientalist Variations on the Theme ›Balkans‹: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics.« Slavic Review 51, Nr. 1 (1992): 4. Bakić-Hayden und Hayden, »Orientalist Variations on the Theme ›Balkans‹: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics,« 3; Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 31–34; Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011, 397–98; Riedel, Die Erfindung der Balkanvölker, 232. Said, Orientalismus. Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 23. Bakić-Hayden und Hayden, »Orientalist Variations on the Theme ›Balkans‹: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics« Milica Bakić-Hayden, »Nesting Orientalisms: The Case of Former Yugoslavia.« Slavic Review 54, Nr. 4 (1995). Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 27. Holm Sundhaussen, »Antiokzidentalismus im Balkanraum. Regionale Varianten eines universalen Diskurses.« In Prowestliche und antiwestliche Diskurse in den Balkanländern, Südosteuropa: 43. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing, 4. – 8. 10. 2004, hg. v. Gabriella Schubert und Holm Sundhaussen, Südosteuropa-Jahrbuch 34 (München: Sagner, 2008), 270–1; Bakić-
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wurden enge Verbindungen zu den Balkankriegen (1912–1913) hergestellt. Das »Pulverfass Balkan«87 wurde häufig nicht nur als Auslöser, sondern auch als Grund für den Ersten Weltkrieg dargestellt. Beide Kriege wurden als ethnische Konflikte beschrieben, und die Grausamkeit und Gewalt als ein Charakteristikum der Balkanvölker erklärt. Es war die Gewalt der Anderen, die nicht in einen Zusammenhang mit eigener Gewalt gestellt wurde.88 Die Konstruktion des Balkans als Anderes kann auch als eine Form des antislawischen Rassismus betrachtet werden, der ein konstitutiver Teil rassistischer Wissensbestände in Deutschland seit dem Kaiserreich darstellt. Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass rassistische Grenzziehungen auf der Basis von verschiedenen Differenzkategorien hergestellt werden. Der Balkanismus weist Ähnlichkeiten mit jedem rassistischen Machtdiskurs hinsichtlich Hierarchisierung von Entwicklung, Modernisierung und Zivilisation auf, gleichzeitig gibt es auch Unterschiede zum Orientalismus oder Kolonialrassismus.89 Auch wenn der Balkan symbolisch und diskursiv nicht als Teil Europas wahrgenommen wird, ist dieser geografisch Teil davon und kann daher in den Konstruktionen eher als das unvollkommene Eigene, mit einer abgestuften Zugehörigkeit beschrieben werden. Die Teil-Zugehörigkeit wird über Religion und rassifizierende Zuschreibungen reguliert.90 Besondere Kennzeichen der Konstruktion sind der Balkan als Übergangsstatus oder Brücke zwischen Europa und Asien, zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen. Dennoch ist der Balkan auch Teil der westlichen, Weißen Welt bzw. in »seinem halbentwickelten, halbkolonialen, halbzivilisierten und halborientalischen Status«91 auf dem Weg dazu. Der Konstruktionsprozess muss dabei dialektisch gesehen werden und enthält nicht nur eine Fremd-, sondern auch eine Selbstessentialisierung des Eigenen. Des Weiteren beinhaltet die Konstruktion eine Vorstellung von Mehrdeutigkeit, Undefinierbarkeit und Zwischenhaftigkeit sowie eine rassifizierende Vorstellung von Vermischung und Unreinheit. Diese entzieht sich in ihrer Vielfältigkeit von Sprachen, Kulturen, Religionen und historischen Bezügen einer westlichen Vorstellung von eindeutiger Kategorisierbarkeit. In Jugoslawien waren unterschiedliche Deutungen vorhanden, sowohl von Einheit, Brüderlichkeit und Panslawismus, als auch von Ge-
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Hayden und Hayden, »Orientalist Variations on the Theme ›Balkans‹: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics,« 4–10. Jadwiga Kiwerska, Thema: Balkan – Pulverfaß oder Faß ohne Boden?, Welttrends 32 (Berlin: Berliner Debatte Wiss.-Verl., 2001). Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 18–22. Hans C. Petersen und Jannis Panagiotidis, »Rassismus gegen Weiße? Für eine Osterweiterung der deutschen Rassismusdebatte.« Geschichte der Gegenwart, 23.02.2022, zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://geschichtedergegenwart.ch/rassismus-gegen-weisse-fuer-eine-osterweit erung-der-deutschen-rassismusdebatte/; Siehe auch Danijel Majic und Krsto Lazarevic, Episode 48: Antislawischer Rassismus oder für immer Untermensch? Neues vom Ballaballa-Balkan, zuletzt geprüft am 30.06.2022, https://ballaballa-balkan.de/episode/antislawischer-rassismus-oder-fuer-immer -untermensch. Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 27, 35–37. Ebd., 34–38.
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schwisterkonkurrenz und Brudermord.92 Wie schon oben erwähnt, war es vermutlich nicht die Vielfalt des Balkans, die in vielen Teilen der Welt gesellschaftliche Realität ist, als zentraler Konfliktauslöser, sondern vielmehr die aus Westeuropa importierte Vorstellung von homogenen Nationen.93 »Es ist gut möglich, dass das, was wir heute beobachten, die weitgehendste Europäisierung des Balkans ist – fälschlicherweise einer Art Balkanwesen zugeschrieben.«94 Auch in den ausländischen Medien wurde auf diese Konstruktionen westlicher und selbstbeschreibender Balkanbilder zurückgegriffen und diese meist unreflektiert übernommen. Dabei gab es unterschiedliche Bewertungen der verschiedenen Konfliktparteien, sodass auch die internationale Kriegsberichterstattung Bestandteil des Propagandakrieges wurde. Eine systematische und vergleichende Analyse der Medienberichterstattung steht jedoch noch aus.95 Problematisch ist in jedem Fall die Konstruktion einer Einzigartigkeit des Krieges, die mit essentialisierenden Eigenschaften der Balkanvölker gerechtfertigt wurde. In den USA hat dazu unter anderem das Buch »Balkan Ghosts«96 beigetragen, von dem wohl auch Bill Clintons Politik beeinflusst wurde. Auch die Angst vor der Gewalttätigkeit des Krieges hat den Westen zurückgehalten, sich anders als aus der Luft in das Geschehen einzumischen.97 In den untersuchten Artikeln werden die Vorstellungen über den Balkan insbesondere im Kontext von Ethnizität deutlich. Des Weiteren herrscht trotz geografischer Nähe eine große emotionale Distanz zu den Ereignissen vor Ort. Die eigene Betroffenheit gestaltet sich wie die Konstruktionen von europäischer Zugehörigkeit ambivalent.
8.2.2 Berichterstattung über sexualisierte Gewalt Der Jugoslawienkonflikt trug dazu bei, dass sexualisierte Gewalt im Krieg international wahrgenommen und verurteilt wurde. Gleichzeitig wurde die Gewalt auch ethnisiert und als singuläres Problem des Balkans gedeutet. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Krieg oft mit sexualisierter Gewalt einhergeht, insbesondere in Bürgerkriegen und ethnischen Konflikten. Sie kann sowohl als strategisch eingesetzte Waffe als auch als individuelle und kollektive Handlungen betrachtet werden, um die Zivilbevölkerung einzuschüchtern, zu demütigen und zu foltern, sowie um Gemeinschaften zu zerstören, ethni-
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Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011, 398–99; Tanja Zimmermann, »›Brüderlichkeit und Einheit‹ in Tito-Jugoslawien und ihr Umschlag in die Rhetorik des Brudermords.« In Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989, hg. v. Gesine Drews-Sylla und Renata Makarska, 1st ed., Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: transcript Verlag, 2015), 190–4. Schwartz, Ethnische ›Säuberungen‹ in der Moderne, 21. Todorova und Twelker, Die Erfindung des Balkans, 30. Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011, 401. Robert Kaplan, Balkan Ghosts. A Journey Through History. (New York: Picador, 1993). Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011, 347; Bakić-Hayden und Hayden, »Orientalist Variations on the Theme ›Balkans‹: Symbolic Geography in Recent Yugoslav Cultural Politics,« 10–11; Katrin Boeckh, »Jugoslawien und der Partisanenmythos.« In Keßelring, BosnienHerzegowina (s. Anm. 1809), 126.
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sche Dominanz herzustellen und Vertreibungen zu fördern.98 Der Körper der Frau wird insbesondere in ethnisch konnotierten Konflikten zum Symbol für den Erhalt und das Fortbestehen der eigenen Gruppe. 1986 wurde in Jugoslawien bereits ein Gesetz eingeführt, welches ethnisch motivierte Vergewaltigung höher bestrafte. Sexualisierte Gewalt erfuhr dadurch eine politische Instrumentalisierung und nationalistische Definition, indem Gewalt gegen Frauen als eine Gewalt gegen die eigene Gruppe gedeutet wurde. Der geschlechtsspezifische Angriff auf die körperliche Integrität trat in den Hintergrund.99 Die wissenschaftliche Betrachtung von sexualisierter Gewalt erfordert eine intersektionale Betrachtung entlang von Geschlecht, Ethnizität und Nation, um die damit verbundenen Identitätskonzepte und Essentialisierungen zu hinterfragen.100 Im Bosnienkrieg war sexualisierte Gewalt ein zentrales Instrument zur Vertreibung der Anderen.101 Von 1992 bis 1993 erfuhren 20.000 – 60.000 Bosniakinnen sexualisierte Gewalt.102 Dabei wurden von den serbischen Truppen 57 sogenannte »Vergewaltigungslager« eingerichtet, in denen Frauen und Mädchen als sexuelle Objekte ausgebeutet und misshandelt wurden sowie bei Schwangerschaft gezwungen wurden, das Kind auszutragen. Damit war die Vorstellung einer ethnischen Vererbung durch den Mann verbunden. Doch auch die anderen Konfliktparteien nutzten sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe.103 Die sexualisierte Gewalt wurde sowohl in der internationalen Medienberichterstattung als auch von Menschen- und Frauenrechtsorganisationen stark thematisiert und führte dazu, dass Vergewaltigung als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ins Völkerrecht aufgenommen wurde.104 Auch Fluchtgründe wurden dadurch geschlechtersensibel berücksichtigt und geschlechtsspezifische Verfolgung als ein Fluchtgrund im Asylverfahren aufgenommen.105 Obwohl das Thema sexualisierter Gewalt im Krieg plötzlich in Medien, Politik und Wissenschaft stark präsent war, blieben die
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Albert Doja, »Rethinking the Politics of Mass Rapes as a Military Strategy and Instrument of Ethnic Cleansing.« In War and sexual violence: New perspectives in a new era, hg. v. Sarah K. Danielsson, War (Hi) Stories (2019), 90. Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung: Erfahrungen und Reflexionen in der Arbeit mit traumatisierten Frauen in Kriegs- und Krisengebieten, hg. v. Marlies W. Fröse, Edition Hipparchia (Frankfurt a.M.: IKO – Verl. für Interkulturelle Kommunikation, 1999), 98. Patricia A. Weitsman, »The Politics of Identity and Sexual Violence: A Review of Bosnia and Rwanda.« Human Rights Quarterly 30, Nr. 3 (2008): 562. Naimark und Richter, Flammender Hass, 208. Azra Hromadžic, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien: Alte und neue Erklärungsansätze.« In Gender, Identität und kriegerischer Konflikt: Das Beispiel des ehemaligen Jugoslawien, hg. v. Ruth Seifert, Soziologie 9 (Münster: Lit-Verl., 2004), 114. Kathrin Greve, Vergewaltigung als Völkermord: Aufklärung sexueller Gewalt gegen Frauen vor internationalen Strafgerichten, 1. Auflage (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2008), 46. Ebd., 297. Catrin Gahn, Adäquate Anhörung im Asylverfahren für Flüchtlingsfrauen? Zur Qualifizierung der »Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung« beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Schriftenreihe des Instituts für Bildung und Kommunikation in Migrationsprozessen (IBKM) 4 (Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Univ. Oldenburg, 1999), Zugl.: Oldenburg, Univ., Diplomarbeit.
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Deutungsmuster häufig sehr einseitig. Selbst grundlegende wissenschaftliche Untersuchungen sowohl über die Ursachen, Funktion und Prävention von sexualisierter Gewalt als auch über die individuellen Erfahrungen der Opfer sind bis heute überschaubar.106 Es können zwei grundlegende Deutungsmuster unterschieden werden. Insbesondere in der medialen Berichterstattung herrschte ein »Einmaligkeitspostulat«107 vor, welches die Ursache der Gewalt in den balkanischen Strukturen suchte und den Balkan außerhalb von Europa verortete. Anstatt sexualisierte Gewalt als elementarer Bestandteil von Krieg zu verstehen, wurden die Gründe in kulturalisierenden und ethnisierenden Gründen gesucht. Auch der Umgang der Opfer wurde kulturalisiert beziehungsweise auf den Islam zurückgeführt. Es fand eine Homogenisierung und Ent-Individualisierung der vergewaltigten Frau statt.108 Das andere Deutungsmuster stellte diese Essentialisierungen in Frage und forderte, das Zusammenspiel von Ethnizität, Geschlecht und Gewalt, sowie ihre Funktion im Krieg differenzierter zu untersuchen.109 Des Weiteren wurde auch die fehlende Berücksichtigung der Handlungsfähigkeit der Frauen kritisiert. Eine Frau sei nicht allgemein und ausschließlich ein Opfer, sondern Opfer einer Gewalttat geworden.110 Die ethnisierte Deutung der Gewalt knüpfte direkt an den oben beschriebenen Balkanismus an: Die Menschen auf dem Balkan hätten eine besondere Neigung zu Gewalt und Grausamkeit, das Zusammenleben sei geprägt durch »barbarische Stämme«, »archaische Stammesgesetze« und »männliches Heldentum«.111 Die Deutung als unverständlicher Machtkampf und jahrhundertelangen Hass ermöglichte den westeuropäischen Staaten nicht nur, sich ohne vermeintliche eigene Betroffenheit mit sexualisierter Gewalt zu beschäftigen, sondern rechtfertige auch die eigene Untätigkeit und Nichteinmischung in den Konflikt.112 Dass sexualisierte Gewalt auch ein Ausdruck von struktureller Diskriminierung ist und dies auch in der eigenen bundesdeutschen Gesellschaft präsent ist, wird an keiner Stelle benannt.
106 Sarah K. Danielsson, Hg., War and sexual violence: New perspectives in a new era, War (Hi) Stories (2019); Persönliche Erfahrungen und die Arbeit von NGOs in Bosnien dokumentierte Christina Lamb, Unsere Körper sind euer Schlachtfeld: Frauen, Krieg und Gewalt, 1. Auflage (München: Penguin Verlag, 2020), 173–212. 107 Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung, 99. 108 Vergewaltigte Frau wurde zu einer Kategorie und einem Erkenntnisobjekt im Diskurs. Die Zuschreibung vergewaltigt wurde zu dem bestimmenden Identitätsmerkmal. Azra Hromadžic, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien: Alte und neue Erklärungsansätze.« In Gender, Identität und kriegerischer Konflikt. 109 Sarah K. Danielsson, »Introduction: War and Sexual Violence – New Perspectives in a New Era.« In Danielsson, War and sexual violence (s. Anm. 1897), 2. 110 Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung, 104–5. 111 Albert Doja, »Rethinking the Politics of Mass Rapes as a Military Strategy and Instrument of Ethnic Cleansing.« In War and sexual violence, 98. 112 Azra Hromadžic, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien: Alte und neue Erklärungsansätze.« In Gender, Identität und kriegerischer Konflikt; Albert Doja, »Rethinking the Politics of Mass Rapes as a Military Strategy and Instrument of Ethnic Cleansing.« In War and sexual violence; Greve, Vergewaltigung als Völkermord.
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Eine weitere Essentialisierung und Homogenisierung fand in der Konstruktion der betroffenen Frauen statt. Vergewaltigte Frau wurde zu einer Kategorie und einem Erkenntnisobjekt im politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskurs. Die Zuschreibung vergewaltigt wurde zu dem bestimmenden Identitätsmerkmal. Es dominierten Darstellungen, die die Frauen auf ihren Opferstatus reduzierten und als grundlegend traumatisiert und gebrochen darstellten. Weder Widerstands- und Bewältigungsstrategien noch die subjektiven Deutungen von ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht wurden berücksichtigt.113 Es gab zwar ein großes Interesse an ihren Erfahrungen, jedoch war es die Entscheidung der Journalist*innen und Unterstützer*innen, die Zitate auszusuchen, die ins Bild passten. Der Mut vieler Frauen, die Erfahrungen vor Kameras und Ermittlungskommissionen zu berichten, wurde nicht wahrgenommen, vielmehr wurde ein traditionelles Bild von Weiblichkeit als schutzloses und verletzliches Opfer reproduziert. Der Westen konnte sich in diesem humanitären Diskurs als Retter*in inszenieren, zumindest bis die Frage nach Bleiberecht für Kriegsopfer aufgeworfen wurde.114 Dabei ist dem Einsatz der Frauen zu verdanken, dass viele der Gewalttäter im Den Haager Tribunal verurteilt wurden.115 Daran anknüpfend gab es basierend auf antimuslimischem Rassismus und Orientalismus die Konstruktion der vergewaltigen bosnische Frau als Muslimin. Sie beinhaltete die Vorstellung, dass die muslimische Frau in besonderer Weise einer patriarchalen Kultur unterworfen sei, in der ihre Ehre mehr gelte als das Leben und das Wohl der Familienmitglieder.116 Den Frauen würde zum einen unterstellt werden, sie hätten freiwillig mitgemacht, wären daher »entehrt« und würden von der Gemeinschaft verstoßen, zum anderen seien sie »besonders schamhaft [...] [daher] besonders ruiniert«117 . Die Konstruktionen hinsichtlich des Islams sind ein »Korsett aus Klischees, Vorurteilen und daraus produzierten Mythen«118 . Diese Konstruktionen waren in Bezug auf den Islam bereits lange vorhanden, verknüpften sie sich jedoch erst im 21. Jahrhundert stärker mit Migrationsund Integrationsfragen und spielen im untersuchten Asyldiskurs in der Bundesrepublik eine untergeordnete Rolle.119 113 114 115 116
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Azra Hromadžic, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien: Alte und neue Erklärungsansätze.« In Gender, Identität und kriegerischer Konflikt, 115–119, 128. Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung, 104–6. Lamb, Unsere Körper sind euer Schlachtfeld, 181–82. Elisabeth von Erdmann, »Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern.« In Opfer – Beute – Boten der Humanisierung? Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg, hg. v. Marijana Erstic, Gender Studies (s.l.: transcript Verlag, 2014), 26–8. Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung, 102 Hervorhebung im Original. Dunja Melčić, »Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien.« In Erstic, Opfer – Beute – Boten der Humanisierung? (s. Anm. 1915), 152. Lemme, Visualität und Zugehörigkeit, 65; Weiterführend beispielsweise in Kai Hafez, Das Nahost- und Islambild der deutschen überregionalen Presse, 1. Aufl., Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung 2 (Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges, 2001); Riem Spielhaus, »Vom Migranten zum Muslim und wieder zurück – Die Vermengung von Integrations- und Islamthemen in Medien, Politik und Forschung.« In Islam und die deutsche Gesellschaft, hg. v. Dirk Halm, Islam und Politik (Wiesba-
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In den bundesdeutschen Medien wird ab November 1992 vermehrt über die Massenvergewaltigungen berichtet. Auslöser ist unter anderem die moderierte Fernsehsendung Mona Lisa am 15. November 1992.120 Die Zeitschrift Emma hatte bereits im September darüber berichtet. Alle großen Zeitungen griffen das Thema auf, sodass bis Februar 1993 in der FAZ, SZ, Frankfurter Rundschau (FR), Tageszeitung (taz) und der Welt insgesamt 362 Artikel über sexualisierte Gewalt im Bosnienkrieg erschienen. In einer eher quantitativ ausgerichteten Studie wurden die Art der Berichterstattung und eine mögliche Parteinahme untersucht. In zwei Drittel aller Artikel wird ohne die Benennung der Täter*innen berichtet, in einem Drittel werden diese als »Serben« benannt. In 60 % der Artikel liegt der Fokus stärker auf den Ereignissen als auf den Opfern, lediglich 20 % nehmen eine parteiliche und empathische Perspektive ein. In der SZ wird laut dieser Studie eher sachlich berichtet, während die FAZ eher die serbische Verantwortung hervorhebt. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden, sicher ist nur, dass ein identifizierter Aggressor die Komplexität eines Krieges und die Einteilung in Gut und Böse erleichtert.121 Im untersuchten Diskurs über Asyl wurde die ethnische Zugehörigkeit und auch die Schuldfrage kaum berücksichtigt. Den größten Raum der Berichterstattung nahm die Auseinandersetzung um die Gestaltung der Rückkehr ein.
8.2.3 Die Konstruktion der Bürgerkriegsflüchtlinge in den deutschen Medien Die meist empathische Berichterstattung über die Bürgerkriegsflüchtlinge erstaunt bei einer Betrachtung des gesellschaftlichen Kontextes und der sonstigen Diskurse über Migration und Asyl. Neben der Wiedervereinigung, die mit einer sich verstärkenden Nationalisierung verbunden war, sind hier die großen Zuwanderungszahlen (allein 1992 1,6 Millionen Zugewanderte) sowie die damit verbundene emotionalisierende und polarisierende Medienberichterstattung zu nennen. In der zur gleichen Zeit stattfindenden Debatte der Grundgesetzänderung wurde eine weitere Zuwanderung als drohender Staatsnotstand präsentiert (siehe Kapitel 7). Asylsuchenden wurde dabei pauschal unterstellt, Asylmissbrauch zu begehen und nicht politisch verfolgt zu sein. In den Medien dominierten Bilder von Menschenmengen.122 Von den Bürgerkriegsflüchtlingen wurde hingegen ein differenzierteres Bild in den Medien dargestellt, was die Frage aufwirft, ob sie als Nachweis für Humanität trotz der Einschränkung des Asylgrundrechts fungierten. Die zumindest teilweise anerkannte europäische Zugehörigkeit und die stets als temporär gerahmte Aufnahme standen dabei weniger im Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis als Nichteinwanderungsland. den: Springer VS, 2013); Iman Attia, Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes: Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2009); Yasemin Shooman, »… weil ihre Kultur so ist«: Narrative des antimuslimischen Rassismus, 1st ed., Kultur und soziale Praxis (Bielefeld: transcript-Verl., 2014). 120 Gabriela Mischkowski, »Kriegsvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina im öffentlichen Diskurs der BRD.« In Krieg, Geschlecht und Traumatisierung, 97–8. 121 Susanne Jäger, »Propaganda mit Frauenschicksalen. Die deutsche Presseberichterstattung über Vergewaltigung im Krieg in Bosnien-Herzegowina.« In Kempf, Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien (s. Anm. 1853). 122 Weimar, Bundesdeutsche Presseberichterstattung um Flucht und Asyl, 261–76.
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Anfang der 1990er wurde Flucht und Asyl häufiger auch auf dem Cover des Spiegels aufgegriffen. Während das Spiegel-Cover 1991 ein Bild zu »Das Boot ist voll« mit dem Titel »Ansturm der Armen. Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten«123 zeigte und im April 1992 Menschenmengen abbildete mit dem Titel »Asyl. Die Politiker versagen«124 , wurde die Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge auf der Titelseite anders gerahmt. Unter dem Titel »Ansturm vom Balkan. Wer nimmt die Flüchtlinge?«125 ist ein Bild mit einer älteren Frau mit Kopftuch und dahinter einige Kinder zu sehen. Bosnische Flüchtlinge wurden im Gegensatz zu Asylsuchenden nicht als gesichtslose und rassifizierte Masse dargestellt, sondern als Individuen, die ausgezehrt, ängstlich, verzweifelt oder hilfsbedürftig Kontakt zu den Betrachter*innen aufnehmen. Häufig wurde auch die Verbindung zu den deutschen Vertriebenen hergestellt. Dabei ist die Berichterstattung zwar empathisch, aber durchaus ambivalent in der Aufnahmebereitschaft und in dem Beharren auf Rückkehr.126 Interessanterweise spielt die Konstruktion der Differenz über Ethnizität und Religion eine eher untergeordnete Rolle. Die muslimische Religionszugehörigkeit der bosniakischen Flüchtlinge wird nicht als Grund aufgeführt, warum diese nicht in Deutschland bleiben können. Hier ist wichtig zu berücksichtigen, dass in den 1980er und 1990er Jahre Türk*innen, die in Deutschland massiven Othering-Prozessen ausgesetzt wurden, aufgrund von national-kultureller Zugehörigkeit als anders markiert wurden. Das alles erklärende Stichwort türkisch wurde erst im 21. Jahrhundert ersetzt durch Islam. Muslim*innen und insbesondere Frauen mit Kopftuch wurden nach dem 11. September 2001 zum dominantesten visuellen Repräsentationsmuster in deutschen Migrationsdiskursen.127 Bei den bosniakischen Flüchtlingen standen die vermeintlichen kulturellen und religiösen Differenzen nicht im Vordergrund. Im Gegenteil, teilweise wurde sogar betont, dass bosnische Muslime besonders friedlich mit anderen zusammenleben würden. Meistens jedoch wurde die Religionszugehörigkeit gar nicht thematisiert oder nur um die ethnische Zugehörigkeit zu beschreiben.128 Die Legitimation für eine konsequente Rückkehrpolitik bezog sich vor allem auf die Notwendigkeit des Wiederaufbaus. 1995 wurde eine große Feier in Erinnerung an den deutschen Wiederaufbau inszeniert, die auf einem nationalistischen und heldenhaften Porträt der deutschen Nachkriegszeit basierte. Mit Kriegsende in Bosnien wurden explizite Parallelen zwischen den Situationen in den beiden Ländern gezogen. Genauso wie die Deutschen ihr Land mit viel Fleiß wiederaufbauten, sollten dies nun auch die Bosnier*innen tun. Viel mehr noch, dies sei ihre moralische Pflicht. Eine besondere Rolle spielte dabei die Figur der Trümmerfrau, die jedoch stärker einer Medienkampagne entsprang
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»Ansturm der Armen. Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten.« DER SPIEGEL, Nr. 37 (1991). »Asyl. Die Politiker versagen.« DER SPIEGEL, Nr. 15 (1992). »Ansturm vom Balkan. Wer nimmt die Flüchtlinge?« DER SPIEGEL 31 (1992). Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 175–79. Yasemin Yildiz, »Immer noch keine Adresse in Deutschland? Adressierung als politische Strategie.« In Kritik des Okzidentalismus, 94–5; Lemme, Visualität und Zugehörigkeit, 223–24; Zu Zuschreibungen über Türk*innen siehe Herbert Leuninger, »Medien und Ausländer. Eine kritische (Nach-)Lese.« In Griese, Der gläserne Fremde (s. Anm. 254); Delgado, Die ›Gastarbeiter‹ in der Presse. Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 180–81.
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als der Nachkriegsrealität entsprach.129 Das vermeintliche Wunder des Wiederaufbaus wurde genutzt, um wenige Monate nach den Ereignissen von Srebrenica Menschen in ihr unsicheres und zerstörtes Heimatland zurückzuschicken. Der historische Deutungsrahme der Rückkehrfrage blendete die unterschiedlichen Ausgangssituationen komplett aus, wie beispielsweise, dass sich die verschiedenen Gruppen in Bosnien bis vor kurzem noch gegenseitig bekämpft hatten.130 Auch in den beiden Zeitungen wird auf der einen Seite ein empathisches und differenziertes Bild der Bürgerkriegsflüchtlinge und ihrer Erfahrungen gezeichnet. Dies wird dennoch, insbesondere in der FAZ mit der Forderung nach einer konsequenten, jedoch gleichzeitig gestaffelten und humanen Rückführung verknüpft.
8.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ Die Analyse arbeitet heraus, welches Wissen und welche Wahrheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend ist. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese werden im Folgenden in einem Überblick in der Sprache des Diskurses formuliert, um dann auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail einzugehen. Wir sind für die Bürgerkriegsflüchtlinge der Retter in der Not.Im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern nehmen wir viele Flüchtlinge auf und tragen die Hauptlast. Unsere Aufnahmeund Rückkehrpolitik zeichnet sich durch Humanität aus. Es gibt jedoch viele Unklarheiten hinsichtlich Kostenübernahme und rechtlichem Status der Flüchtlinge. Im Gegensatz zu unserem Land,in dem schon lange Frieden herrscht,sind die Bürgerkriegsflüchtlinge gezeichnet durch Kriegs- und Gewalterfahrungen. Viele Frauen haben Massenvergewaltigungen erlebt. Die große ethnische und religiöse Vielfalt in Bosnien stellt eine zentrale Ursache des Konfliktes dar.Die Bürgerkriegsflüchtlinge können nicht dauerhaft hierbleiben,sondern werden benötigt, im ihr Land nach dem Krieg wiederaufzubauen.
In den beiden Zeitungen sind in meinem Korpus 234 Artikel über die Bürgerkriegsflüchtlinge erschienen, davon 143 in der FAZ und 91 in der SZ. Es ist das erste Mal, dass in der FAZ über ein Thema mehr berichtet wird, auch die Art der Berichterstattung ist für die FAZ ungewöhnlich. Für die Analyse wurden 77 Artikel aus der FAZ und 46 in der SZ genauer untersucht. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1992 – 1997, 1998 wurde nur bei 129
Trümmerräumung war eine stark stigmatisierte Arbeit und wurde nur in Berlin und der Sowjetischen Besatzungszone von Frauen und meist unter Zwang ausgeübt. So war die »Trümmerfrau« auch stärker in der DDR präsent. In der BRD tauchte sie erst in rentenpolitischen Debatten der 1980er Jahre wieder auf und vereinigte sich dann in den 1990er Jahren zu einem gesamtdeutschen Erinnerungsort. Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen: Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes, 1. Auflage (Essen: KLARTEXT VERLAG, 2014), Dissertation. 130 Molnar, Memory, politics, and Yugoslav migrations to postwar Germany, 174–85.
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der Weiterentwicklung schon vorhandener Themen mitberücksichtigt. Der Höhepunkt in den Jahren 1996 und 1997 ist eng mit der Debatte über die Rückkehr verbunden und beginnt direkt nach Unterzeichnung des Friedensvertrages. Die Konstruktionen in den beiden Zeitungen unterscheiden sich stärker als in den vorangegangenen Kapiteln, insbesondere in den Selbstbildern. Während in der FAZ das Bild eines humanen Eigenen aufrechterhalten wird, wird dies in der SZ selbstkritischer betrachtet. Die Unterschiede werden vor allem an der Bewertung des fehlenden rechtlichen Status als Bürgerkriegsflüchtling und in der Berichterstattung über die Rückkehrpolitik deutlich.
8.3 Das Eigene 8.3.1 Deutschland als Retter*in in der Not und das Ideal der europäische Lastenteilung Das Eigene wird im Diskurs über die Bürgerkriegsflüchtlinge in beiden Zeitungen sehr unterschiedlich konstruiert. In der FAZ wird der Umgang mit den Bürgerkriegsflüchtlingen, die Aufnahme, Unterstützung und Rückführung, als sehr gelungen wahrgenommen. Deutschland wird dabei als Retter*in in der Not dargestellt, was mit einer Empathie für die Bürgerkriegsflüchtlinge, ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Kriegserfahrungen verbunden ist. Dennoch wird eine Rückführung nicht in Frage gestellt, sondern nur darüber diskutiert, wie und wann diese erfolgen soll. Es kann ein sehr positives, helfendes Selbstbild von Deutschland aufrechterhalten werden, welches einen Gegenpol zur Abschottungstendenz im Diskurs über die Grundgesetzänderung darstellt. In der SZ wird weniger über die Bürgerkriegsflüchtlinge berichtet und das positive Selbstbild wird stärker hinterfragt. Stattdessen wird an vielen Stellen Kritik formuliert, jedoch weniger engagiert, als dies im Diskurs über die Grundgesetzänderung der Fall war. Lediglich hinsichtlich des unklaren rechtlichen Status und der geschlechtsspezifischen Verfolgung wird in der SZ mehr berichtet als in der FAZ. Es entsteht eher der Eindruck einer resignierten Haltung, nachdem die Grundgesetzänderung nicht verhindert werden konnte. In der FAZ erscheint Deutschland als große Retter*in der Flüchtlinge, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, die nicht bereit sind, sich an einer gemeinsamen Kontingentregelung und einer Lastenteilung für eine begrenzte Zeit zu beteiligen. Davon sei jedoch das Ansehen und die Glaubwürdigkeit Europas abhängig. Gleichzeitig wird von allen EU-Ländern eine Regionalisierung der Flüchtlingshilfe bevorzugt. Nicht zuletzt wird deutlich, dass eine große symbolische Distanz und Differenz zum Balkan vorherrschen, die geografische Nähe jedoch ein Einschreiten auch im eigenen Interesse erfordert. Ein zentrales Element in der Inszenierung als Retter*in ist der Vergleich mit anderen Aufnahmeländern: »Nach Angaben des Innenministeriums hat Deutschland 60 Prozent der Kriegsflüchtlinge aufgenommen.«131 »Damit habe Deutschland mehr Flüchtlingen
131
Günter Bannas, »Das ›Gastrecht auf Zeit‹ der Kriegsflüchtlinge läuft ab.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.1995.
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aus der Region Obdach gewährt als jedes andere europäische Land.«132 Die großzügige Aufnahme wird auch in Verbindung zur Grundgesetzänderung gesetzt: »Deutschland sei heute schon das Hauptaufnahmeland für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Seiters forderte die SPD auf, einer Grundgesetzänderung beim Asylrecht zuzustimmen.«133 »Seiters wies den Vorwurf zurück, Deutschland betreibe gegenüber den Flüchtlingen eine Politik der ›Abschottung‹. Der Innenminister erinnerte daran, daß Deutschland [...] in den ersten vier Monaten dieses Jahres schon fast 50.000 Asylbewerber aus dem zerfallenen Jugoslawien aufgenommen habe.«134 Die Aufnahme der Flüchtlinge scheint der Nachweis zu sein, dass Deutschland trotz Grundgesetzänderung noch seine menschliche und finanzielle Großzügigkeit bewahrt hat. »Immer noch hielten sich in Deutschland doppelt so viele Flüchtlinge auf wie in allen anderen EU-Ländern zusammen. Seit 1991 seien in Deutschland 17 Milliarden Mark für bosnische Flüchtlinge aufgewandt worden. Deutschland habe Grund, stolz auf das ausländerfreundliche Verhalten zu sein, doch müsse ›die Balance zwischen Zuwanderung und Integrationsfähigkeit der deutschen Gesellschaft gewahrt werden‹.«135 Hier erscheint, wie im Diskurs über die rassistische Gewalt, erneut der Begriff der Ausländerfreundlichkeit (Kapitel 6). Die Aufnahmebereitschaft und das finanzielle Engagement werden als Nachweis dafür betrachtet und als etwas, auf das die Deutschen stolz sein können. Interessant ist der Begriff der Integrationsfähigkeit, mit dem in diesem Fall die deutsche Gesellschaft beschrieben wird und welche die Grenzen der Aufnahmebereitschaft definiert. Danach richtet sich die Gestaltung von Zuwanderung. Integration war jedoch nur für wenige Gruppen überhaupt erwünscht, bei den Bürgerkriegsflüchtlingen stand bereits bei der Aufnahme die Rückkehr fest. Das Bild der einsamen Retter*in setzt sich 1998 in der Aufnahme der Kosovo-Albaner*innen fort: »Über die Zuwanderung von Flüchtlingen sagte der Innenminister, es zeichne sich ab, ›daß wir wieder einmal die Last eines Bürgerkrieges zu tragen haben‹.«136 Es wird des Weiteren so dargestellt, als sei Deutschland das einzige Land, das bereit sei, zu helfen. Es sei offensichtlich, »daß Deutschland mit der Aufnahmebereitschaft in der EG ›ziemlich allein‹ dastehe. [...] ›Die Deutschen sind völlig isoliert.‹«137 »Deutschland nimmt 5000 Flüchtlinge aus Bosnien auf, manch anderer Staat nicht einen einzigen. Die Aufnahmebereitschaft unseres Kontinents bleibt unendlich weit zurück hinter dem, was nötig wäre.«138 Dieses Zitat zeigt deutlich, wie Zahlen erst durch einen Kontext
132 133 134 135 136 137 138
Günter Bannas, »Die Innenminister wollen die Einreise der Flüchtlinge aus Bosnien erleichtern.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.1992. Karl Feldmeyer, »Seiters gegen Sonderstatus für Flüchtlinge aus Bosnien.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.08.1992. Bannas, »Die Innenminister wollen die Einreise der Flüchtlinge aus Bosnien erleichtern«. Claus Gennrich, »Kinkel: 1998 muß Jahr der Rückkehr nach Bosnien werden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.1998. Roswin Finkenzeller, »Bayern beobachtet Kosovo-Albaner.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.1998. Konrad Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.1992. Johann G. Reißmüller, »Warum sie fliehen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.1992.
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eine Bewertung bekommen und 5.000 (von insgesamt 2,5 Millionen Flüchtlingen) viel erscheinen können. Im Kontext von Europa wird auf die internationale Verantwortung und das Ansehen Europas in der Welt Bezug genommen: »Das Asylrecht sei ein Herzstück der humanitären Tradition in Europa.«139 Es sei eine Frage der »Glaubwürdigkeit«140 Europas, Aufnahmebereitschaft zu zeigen. Die Europäische Gemeinschaft würde »›in aller Welt auch daran gemessen werden, welche konkreten Maßnahmen ihre Mitglieder zur Linderung des Flüchtlingselends in ihrer europäischen Nachbarschaft unternehmen‹. Sie dürfe sich ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern und den Nachbarstaaten nicht entziehen.«141 Deutschland scheitert jedoch regelmäßig an der Vereinbarung einer »Lastenteilung«142 und ist »›tief enttäuscht‹ über diese Haltung der anderen EG-Staaten.«143 Es wird deutlich, dass es hier um mehr geht als nur eine Aufnahme von Kontingentflüchtlingen. Vielmehr wird das Selbstverständnis Europas, ihre Zusammenarbeit und ihre außenpolitische Rolle mitverhandelt. Die Frage der Lastenteilung und der Vergleich, wie viel die anderen Mitgliedsstaaten helfen, beginnt mit Gründung der EU im Jahr 1993 und setzt sich bis heute fort. Eine Möglichkeit, internationale Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig die Aufnahme von Flüchtlingen im eigenen Land zu vermeiden, ist die Idee der Regionalisierung. Dies äußern sowohl die anderen europäischen Länder als auch Deutschland als Ziel. »Die meisten Länder plädierten dafür, Flüchtlingen vorrangig in sicheren Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens zu helfen.«144 Aufgrund der vielen Binnenflüchtlinge »sei es nicht zu verantworten, die Visumspflicht aufzuheben.«145 In folgendem Zitat wird die Regionalisierung etwas genauer begründet: »Vordringlich sei jedoch, daß die Flüchtlinge in der Nähe ihrer alten Heimat bleiben könnten. [...] [Es] müsse ›unser Ziel‹ sein, daß die Flüchtlinge ›nicht in ein fernes Land gehen, mit einer anderen Sprache, mit ganz anderen Lebensbedingungen. Das ist für mich das erste, was Humanität erfordert.‹«146 Die Unterbringung in »nächstgelegenen sicheren Räumen [...] [sei] der Kern zur Lösung des Migrationsproblems.«147 Mit der Argumentationsfigur der Regionalisierung wird versucht, die Aufnahme vieler Flüchtlinge und eine nicht steuerbare »Einwan-
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Konrad Schuller, »Gedämpftes Lob vom UN-Flüchtlingshilfswerk.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.1996. Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge«. Günter Bannas, »Kohl bittet die EG-Partner um Aufnahme von Flüchtlingen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.1992. F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.1992. Karl Feldmeyer, »Kinkel auch wegen Kosovo in Sorge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.06.1992. Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge«. Bannas, »Die Innenminister wollen die Einreise der Flüchtlinge aus Bosnien erleichtern«. Wolfgang Stock, »›Flüchtlinge in der EU gerechter verteilen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.1995. Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge«.
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derungswelle«148 durch Aufhebung der Visumspflicht zu vermeiden und dennoch das Migrationsproblem zu lösen. Die Begründung für eine Regionalisierung hingegen lautet Humanität und Orientierung am Wohl der Flüchtlinge. Auffällig dabei ist, wie groß die gefühlte Distanz zu den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist. Obwohl Sarajewo von München nur 1.000 km entfernt liegt, wird Deutschland als fernes Land mit anderen Lebensbedingungen beschrieben. Es wird nicht berücksichtigt, dass es bei der Aufnahme um die Sicherung menschlichen Überlebens geht und das Land der Unterbringung für die Notleidenden vermutlich zweitrangig ist. Regionalisierung vertritt zudem ein Verständnis von Zugehörigkeit, das an einen geografischen Ort geknüpft ist und Menschen sich nur dort zuhause und wohl fühlen können. Obwohl das ehemalige Jugoslawien symbolisch weit entfernt ist, ist es den europäischen Ländern durchaus bewusst, dass eine Beendigung des Konflikts »eine Voraussetzung für die Stabilität in ganz Europa«149 darstellt: »So hilflos, unwissend und uneinig die europäischen Staaten auch waren – der Krieg war zu nah, als daß sie einfach hätten zusehen können. [...] Im kleinen Bosnien müssen nun 35 000 Soldaten unter dem Kommando der Nato die verfeindeten Serben, Kroaten und Bosniaken täglich davon abhalten, sich wieder an die Kehle zu gehen.«150 »Noch immer ist nicht abzusehen, wann sich die Europäer den Angstschweiß von der Stirn wischen können.«151 Daran wird deutlich, dass der Krieg geografisch sehr nah ist und auch die EU-Staaten miteinbeziehen könnte, gleichzeitig wird in den Zitaten eine starke Distanz deutlich. Die Sorge gilt nicht den Menschen in Jugoslawien, die sich primitiv und unkontrolliert »an die Kehle gehen«152 , sondern es geht um die Angst der eigenen Existenz und der möglichen weiteren Auswirkungen für Europa. Ein Perspektivwechsel auf die Menschen, die vom Krieg direkt betroffen sind, findet hier nicht statt: »Bis der Riß durch das östliche Europa überwunden ist und die westlichen Diplomaten wieder ruhig schlafen können, wird noch viel Wasser die Donau hinunterfließen.«153 In der SZ hingegen wird Deutschland nicht als die große Retter*in dargestellt. Es werden zwar verschiedene Aussagen von Politiker*innen zitiert, »daß Deutschland mehr Flüchtlinge aus den betroffenen Gebieten von Bosnien-Herzegowina, Serbien und Slowenien aufgenommen und mehr finanzielle Hilfe geleistet habe als andere Länder.«154 Kein »Land der Welt habe seit Ausbruch des Krieges vor fünf Jahren soviel für die bosnische Bevölkerung getan wie Deutschland.«155 Gleichzeitig wird der andauernde Vergleich als Bezugspunkt kritisiert. Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor warf
148 Bannas, »Die Innenminister wollen die Einreise der Flüchtlinge aus Bosnien erleichtern«. 149 Bannas, »Kohl bittet die EG-Partner um Aufnahme von Flüchtlingen«. 150 Oliver Hoischen, »Verwirrende Vielfalt in der Nachbarschaft des Westens.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.04.1998. 151 Ebd. 152 Ebd. 153 Hoischen, »Verwirrende Vielfalt in der Nachbarschaft des Westens«. 154 Klaus Dreher, »Visumpflicht für Flüchtlinge aus Bosnien bleibt.« Süddeutsche Zeitung, 23.05.1992. 155 AFP/dpa/AP, »Vertrag mit Belgrad zur Flüchtlingsrückkehr.« Süddeutsche Zeitung, 11.10.1996.
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»der Bundesregierung vor, sich immer nur hinter den Versäumnissen anderer europäischer Länder zu verstecken und nannte das einen ›Wettlauf der Schäbigkeit‹. [...] Nach den offiziellen Zahlen waren die Finanzbeiträge Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande 1993 um das Doppelte bzw. Dreieinhalbfache höher als die Leistungen Bonns (knapp 25 Millionen Dollar). Angesichts dieser Bilanz bezeichnete der Minister es als höchst fragwürdig, eigene Hilfen von zusätzlichen Zahlungen anderer Länder abhängig zu machen.«156 In der SZ findet sich auch an wenigen Stellen eine Bezugnahme zur Arbeitsmigration aus dem ehemaligen Jugoslawien in den 1960er und 1970er Jahren. »Die Erklärung, warum die meisten bosnischen Flüchtlinge nach Deutschland, und nicht nach Frankreich oder Großbritannien kommen, ist mithin ganz einfach: Wohin fliehen Menschen, die fliehen müssen? Dorthin, wo ihre Angehörige und Freunde wohnen. Die Zuflucht in Deutschland ist ein Ergebnis der früheren Anwerbung von Gastarbeitern. Viele der Flüchtlinge haben früher Deutschland gelebt und gearbeitet.«157 Dies macht deutlich, dass nicht Deutschland sich bewusst für eine großzügige Aufnahme entschieden hat, sondern viele durch die Hilfe von Verwandten hierherkamen – und auch von ihnen finanziert wurden.
8.3.2 Kriterien, Grenzen und Inszenierungen von Humanität Der Begriff und der Anspruch der Humanität spielen in vielen Diskursen über Flucht und Asyl eine wichtige Rolle, gleichzeitig wird dies sehr unterschiedlich gefüllt. Die Asylgewährung und die Aufnahme von Schutzsuchenden können als ein Maßstab für Humanität und Rechtsstaatlichkeit betrachtet werden, weil sich daran zeigt, ob der Anspruch der universalen Menschenrechte jenseits des Nationalstaats wirklich eingelöst wird.158 Humanität wird in diesem Fall in beiden Zeitungen sehr unterschiedlich definiert und bewertet. In der FAZ wird das Handeln der Bundesregierung und der Bundesländer, sowie die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung als Zeichen besonderer Humanität dargestellt, während in der SZ dies kontinuierlich in Frage gestellt wird. In der FZ wird nicht nur die großzügige Aufnahme hervorgehoben, sondern auch die Rückführung als human beschrieben. Diese Humanität habe Grenzen und dürfe nicht überstrapaziert werden, sonst könnten in Zukunft keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen werden. In der SZ wird ein Mangel an Humanität konstatiert hinsichtlich der Lebensbedingungen in Deutschland, der rechtliche Unsicherheit, der erzwungenen Rückführung und der Art des Sprechens.
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Kl., »›Nicht alle kroatischen Flüchtlinge ausweisen‹.« Süddeutsche Zeitung, 29.01.1994. Heribert Prantl, »›Eine Gefährdung bei der Rückkehr ist nicht zu befürchten‹.« Süddeutsche Zeitung, 05.08.1995. Wolken, Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 104; Scherr und Scherschel, »Einleitung: Flucht und Deportation – was ist das soziale Problem?«.
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In der FAZ ist Humanität kein Rechtsanspruch, sondern basiert auf dem Wohlwollen der Gastgeber*innen. Die Ausgestaltung und Grenzen der Humanität orientieren sich somit am Bild des Gastes und dem Gastrecht. »Wenn schon gespart werden müsse, [...] gebiete es die Gerechtigkeit, nicht nur die deutsche Bevölkerung zu belasten, sondern auch deren ausländische Gäste. ›Wenn es einem Gastgeber schlecht geht, muß er Zurückhaltung üben‹ [...] Die bisher geübte Großzügigkeit, die sich Deutschland nicht mehr im gewohnten Umfang leisten könne, müsse auf ein ›für uns erträgliches Maß‹ verringert werden.«159 Das bedeutet, »die Zuwanderung ›auf ein sozialverträgliches Niveau‹ zu begrenzen.«160 Humanität richtet sich somit nicht an den Hilfsbedürftigen aus, sondern was die Geber*innen ohne größere Abstriche leisten können. Sonst »werde der Lebensstandard in Deutschland sinken. Außerdem werde es Konflikte geben. Benrath sprach von ›Wohlfahrtsverlusten und Verteilungskonflikten‹.«161 Daher entscheiden die Gastgeber*innen auch, wann und mit welchen Gründen der Besuch zu Ende ist, sie sind lediglich verpflichtet, die Rückkehr human zu gestalten: »Bundesinnenminister Kanther sagte, die Flüchtlinge müßten wissen, daß sie ›Gäste auf Zeit‹ seien, [...] ›daß das Gastrecht auf Zeit mit dem Friedensvertrag endet‹.«162 »›Wir wollen eine humane und gestaffelte Rückkehr‹ [...] Es werde keine Hektik geben, da man mit Gästen auf Zeit nicht so umgehe«163 . Eine humane Rückführung beinhaltet jedoch auch Abschiebungen: »Auch wenn die Bundesregierung für eine humane Rückführung eintrete, werde es letztlich nicht ohne Zwang gehen.«164 Auffällig ist dabei die Betonung, dass es ein Gastrecht auf Zeit sei, da Gäste an sich nicht auf Dauer bleiben. Das besondere Kennzeichen des Gastrechts ist die Freiwilligkeit der Gewährung, die im Gegenzug von den Gästen Dankbarkeit und Zurückhaltung erwartet. Die damit einhergehende mangelnde Rechtssicherheit und die vermeintliche Großzügigkeit der Gastgeber*innen machen das Bild des Gastes im Diskurs so attraktiv. Lediglich an einer Stelle wird dies in Frage gestellt, als die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen zitiert wird: »›Das Bild vom Gast gehört auf den Müll der Geschichte‹.«165 Dabei bezieht sie sich vermutlich auch auf die Geschichte der Gastarbeiter, die ausreichend verdeutlicht, dass Gäste ein ungeeigneter Begriff für die Beschreibung
159 Roswin Finkenzeller, »CSU: Weniger Geld für Ausländer.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.1996. 160 Wolfgang Stock, »Kanther: Rückführung ohne Hektik.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.1996. 161 Feldmeyer, »Benrath fordert zügige Abschiebung abgelehnter Asylbewerber« Hans Gottfried Benrath war damals Vorsitzender des Städte- und Gemeindebundes, Bundestagsabgeordneter der SPD, Vorsitzender des Innenausschusses des Deutschen Bundestages und ehrenamtlicher Bürgermeister von Grevenbroich. 162 Wolfgang Stock, »Rückführung der Flüchtlinge soll Ende August 1997 beendet sein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.1996. 163 Konrad Mrusek, »Plan für Rückkehr bosnischer Flüchtlinge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.1996. 164 Peter Hort, »Die EU-Außenminister fordern einen ›Frieden aus innerer Überzeugung‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.06.1996. 165 Günter Bannas, »Der Bundestag erleichtert die Ausweisung ausländischer Straftäter.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1996.
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von Migrationsprozessen ist. Der »Gastarbeiter-Mythos einer baldigen Rückkehr«166 war anscheinend auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht umfassend entlarvt, sonst wäre das Bild des Gastes nicht so breit verwendet worden. Als Zeichen der Humanität und Solidarität wird auch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gesehen. Die Beschreibungen beinhalten das Deutungsmuster der Großzügigkeit und erinnern an die Aufnahme der Boat People (Kapitel 4). Viele Menschen melden sich, um etwas zu spenden oder ihre privaten Räume zur Verfügung zu stellen. Die »Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung sei so außerordentlich groß, daß ohne Probleme mehr Vertriebene aufgenommen werden könnten.«167 Dies wird mit einem Naturereignis gleichgesetzt und als »Welle der Hilfsbereitschaft«168 und »Woge der Hilfsbereitschaft«169 beschrieben. »Das in der vergangenen Woche eingerichtete Bürgertelefon [...] habe auch am Wochenende nicht stillgestanden.«170 Dies sei überraschend und »gerade vor dem Hintergrund des anhaltend starken Flüchtlingszugangs der vergangenen Monate als ermutigendes Zeichen tätiger Solidarität zu bewerten.«171 Bald jedoch werden Probleme deutlich: »viele Gastgeber hätten Kinder oder Mütter und Kinder erwartet, keine Großfamilien.«172 »Die Skepsis wächst [...] Viele [...] scheinen sich aber nicht im Klaren darüber zu sein, daß es nicht darum geht, Menschen einen kurzfristigen Unterschlupf zu gewähren. ›Da ist ein langer Atem nötig und viel Verständnis für fremde Mentalitäten‹, wird gewarnt.«173 Daran wird deutlich, dass die Art und der Umfang der Hilfe sich an den Vorstellungen der deutschen Bevölkerung orientiert, und nicht daran, was die Ankommenden benötigen. Zum anderen werden bosnische Flüchtlinge in diesem Zitat als fremd hinsichtlich ihrer Mentalität wahrgenommen. Humanität bedeutet in der FAZ des Weiteren, sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Rückführung die Bedürftigkeit der Menschen zu berücksichtigen. Die Aufnahme muss nach »humanitären Gesichtspunkten« gestaltet werden, das heißt, dass »Waisenkinder, alleinstehende Frauen mit Kindern sowie [...] Verwundete und Kranke«174 bevorzugt aufgenommen werden. Bei der Rückführung werden beispielsweise »Schüler und Auszubildende, die in nächster Zeit einen Ausbildungsabschluß erreichen, [...] und alte 166 Monika Mattes, »Wirtschaftliche Rekonstruktion in der Bundesrepublik Deutschland und grenzüberschreitende Arbeitsmigration von den 1950er bis zu den 1970er Jahren.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 815. 167 F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit«. 168 F. A. Z., »Große Hilfsbereitschaft für die Vertriebenen aus Bosnien-Hercegovina.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.1992. 169 Albert Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.07.1992. 170 F. A. Z., »Große Hilfsbereitschaft für die Vertriebenen aus Bosnien-Hercegovina«. 171 Ebd. 172 F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit«. 173 Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«. 174 Feldmeyer, »Kinkel auch wegen Kosovo in Sorge«.
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Menschen von mehr als 65 Jahren«175 zunächst ausgenommen sowie »Folteropfern, vergewaltigten Frauen und anderen schwer traumatisierten Flüchtlingen ein Bleiberecht lediglich in Aussicht«176 gestellt. Dabei werden Kriterien angelegt, die aus deutscher Perspektive sinnvoll erscheinen, die ethnische Zugehörigkeit wird nicht berücksichtigt. Nicht zuletzt wird auch der erste deutsche Kriegseinsatz, der auf jugoslawischem Boden stattfindet, als humanitär bezeichnet und verschiedene Beispiele angeführt: »Das, was der Pilot im Tornado macht, ist genauso moralisch wie das, was der Sanitäter oder Versorgungsflieger macht. Es geht allein darum, Menschen zu helfen.«177 »Auschwitz wurde von Soldaten befreit.«178 In der SZ hingegen wird die Beschreibung einer humanen Aufnahme und Rückführung nur als Deckmäntelchen wahrgenommen und kontinuierlich in Frage gestellt. Dabei werde Humanität zum einen nur inszeniert oder nicht dauerhaft und verlässlich praktiziert, zum anderen verlagere sich der Fokus immer stärker nur auf finanzielle Aspekte der Aufnahme und orientiere sich an Stammtischparolen. Die Kritik bezieht sich sowohl auf die Lebensbedingungen in Deutschland, die fehlende rechtliche Sicherheit, die forcierte Rückführung als auch die Art des Sprechens. »Der Jugoslawien-Krieg kennt Grausamkeiten ohne Zahl. Manche von ihnen finden in Deutschland statt – zum Beispiel im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. [...] Die Anerkennungsquote liegt also bei knapp einem Prozent. Und die anderen 99 Prozent? Sind sie ›Asylmißbraucher‹? Wer ist ein ›echter‹ Flüchtling, wenn nicht der aus Zepa oder Srbrenica?«179 »Die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge in Berlin sind in Heimen untergebracht. [...] Als sich eine bosnische Familie vor kurzem auf dem freien Wohnungsmarkt eine preisgünstige Wohnung gesucht hat, verweigerte das Sozialamt die Übernahme der Kosten und ließ die vier Personen lieber weiter in einem Container hausen, eine unmenschliche Lösung, die auch noch teuer ist.«180 In einem ausführlichen Bericht wird dargestellt, dass sich die Hoffnung der Flüchtlinge auf Sicherheit und Schutz in Deutschland als Täuschung herausstellt: »Am besten läßt sich die Geschichte, die von einer großzügigen humanitären Geste handelt und davon, was sie heute noch wert ist, am Fall von Avni Aliko erzählen. Nicht, weil er der einzige ist, der zunächst geglaubt hat, in Deutschland sicheren Boden unter den Füßen zu haben und nun nach viereinhalb Jahren erfahren muß, daß er eigentlich unerwünscht ist.«181
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Stock, »Rückführung der Flüchtlinge soll Ende August 1997 beendet sein«. Wolfgang Stock, »Die Grünen kritisieren die Konferenz der Innenminister.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.1996. 177 Günter Bannas und Karl Feldmeyer, »Der Bundestag mit deutlicher Mehrheit für den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.1995. 178 Ebd. 179 Prantl, »›Eine Gefährdung bei der Rückkehr ist nicht zu befürchten‹«. 180 Marianne Heuwagen, »Nicht nur inhuman, sondern auch teuer.« Süddeutsche Zeitung, 06.11.1996. 181 Jürgen Kahl, »Es war einmal eine große Geste.« Süddeutsche Zeitung, 16.02.1995.
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Kerstin Müller, Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag wird häufig mit sehr deutlichen Aussagen in der SZ zitiert: »Die Weigerung der Bundesregierung, weitere Flüchtlinge aus Bosnien aufzunehmen, bezeichnete Müller als ›staatlich verordneten Rassismus‹. Ein Vertreter von der Arbeitsgemeinschaft ›Pro Asyl‹ sprach von einer ›konzertierten Aktion der Menschenverachtung‹.«182 Nicht zuletzt wird auch der Diskurs selbst kritisiert, der falsche Tatsachen verbreite und sich stark auf die finanziellen Aspekte fokussiere: »Die Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge ist ein beliebtes Stammtischthema in einem Land, das von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert zu kennen scheint, erst recht nicht in Berlin. [...] Seitdem ist nicht etwa deren Schicksal, sondern nur noch die Höhe ihrer Sozialleistungen zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden. Dabei werden die Kosten gelegentlich überhöht, die Zahl der Flüchtlinge verdoppelt und verdreifacht. Von 800 Millionen sprach kürzlich der Innensenator, was bei der christdemokratischen Basis gut ankommt.«183 Beim »Umgang mit Flüchtlingen dürfe es nicht darum gehen, die ›Lufthoheit über die Stammtische‹ zu gewinnen. Schon jetzt würden bosnische Flüchtlinge ›oft zu Sündenböcken gemacht für Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben‹.«184 Es wird des Weiteren darauf hingewiesen, dass Deutschland gar nicht so human ist, wie es sich inszeniert, vergleicht man dies mit anderen Ländern: »Ganz anders verfährt da zum Beispiel Schweden. Obwohl das skandinavische Land nur über ein Zehntel der Einwohner der Bundesrepublik verfügt, haben die Schweden prozentual dreimal so viele Flüchtlinge aufgenommen. Sie bekommen eine Aufenthaltsgenehmigung, die ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.«185 In wenigen Punkten sind die Deutungen so gegensätzlich in den beiden Zeitungen wie bei der Frage der Humanität.
8.3.3 Unklarheiten hinsichtlich Verantwortungsübernahme und Rechtsstatus Die Berichterstattung über den äußerst unübersichtlichen rechtlichen Status der Bürgerkriegsflüchtlinge ist eine der wenigen Themen, über das in der SZ stärker berichtet wird. Hier wird besonders das Deutungsmuster der Selbstkritik sichtbar. Während in der FAZ das Thema eher vernachlässigt wurde und die finanzielle Belastung der Kommunen stärker in den Vordergrund stand, nahm das Thema in der SZ mehr Raum ein. Zudem wurde ein Bezug zur Grundgesetzänderung hergestellt und auf die Unübersichtlichkeit und Unsicherheit der verschiedenen Aufenthaltstitel und die Auswirkungen für Betroffene hingewiesen.
Ulrich Deupmann, »Kanther stoppt Abschiebung von Flüchtlingen.« Süddeutsche Zeitung, 03.08.1995. 183 Heuwagen, »Nicht nur inhuman, sondern auch teuer«. 184 Christian Schneider, »Landesbischof nimmt Innenminister in Gebet.« Süddeutsche Zeitung, 28.04.1997. 185 Heuwagen, »Nicht nur inhuman, sondern auch teuer«. 182
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
In der SZ wird mit sehr deutlichen Worten beschrieben, was von der fehlenden Einigung für die Finanzierung der Bürgerkriegsflüchtlinge zwischen Bund und Ländern zu halten ist. Dies sei »›die Nagelprobe [...], wie ernst es der Bundesregierung mit der vollständigen Umsetzung des Asylkompromisses ist.‹ Schließlich – so Schnoor – war die Einigung auf den besonderen Status für Bürgerkriegsflüchtlinge, der bisher nur auf dem Papier stehe, für viele Sozialdemokratien eine wesentliche Voraussetzung, um dem Asylkompromiß zustimmen zu können.«186 Der Paragraf selbst wird als »Feigenblatt«187 und »tote Vorschrift«188 beschrieben, woraus sich eine »Schutzlücke«189 ergebe. »Dieser Schutz war freilich beim sogenannten Asylkompromiß als große neue Errungenschaft gepriesen worden«, bei dem sich »die Parteien selbst in den Himmel gelobt«190 hatten. »Bund und Länder streiten aber darüber, wer die Kosten tragen soll. Obwohl beide guten Willen betonen, geschah bislang nichts.«191 Die Folge sei eine Rechtsunsicherheit für bosnische Flüchtlinge: »Besonders die Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, die zum Teil schon drei Jahre in sogenannten ›Sammelunterkünften‹ leben (häufig Kasernen oder Wohncontainer), bekommen die Folgen der Untätigkeit der Politiker zu spüren. Ohne den ›Bürgerkriegsstatus‹ sind die Flüchtlinge lediglich ›geduldet‹.«192 Es wird näher beleuchtet, was Duldung bedeutet und diese kritisiert. »Das ist die Situation, in der die meisten Flüchtlinge aus Bosnien in Deutschland leben – sie werden mißbilligend geduldet, aber nicht aufgenommen.«193 Duldung bedeute »konsequente Unduldsamkeit«194 und stelle einen »völkerrechtswidrigen Status« dar, bei dem »die Flüchtlinge in Deutschland in ständiger Unsicherheit leben müßten.«195 Dies wirke sich auch auf Zukunftsperspektiven aus: »Darum finden bosnische Jugendliche unter den Flüchtlingen keine Lehrstelle: Die Betriebe weigern sich in der Regel, ihnen einen Lehrvertrag anzubieten, wenn sie keine Aufenthaltsberechtigung für mehrere Jahre vorweisen können. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen wiederum verschärft nach Auskunft von Sozialarbeitern die Spannungen in den Sammellagern.«196 In der SZ wird auch berücksichtigt, dass die Kosten nicht nur von den Kommunen getragen werden, weil der Bund nicht bereit ist, einen Teil zu übernehmen, sondern dass ein großer Teil der Aufnahmekosten von Verwandten und Freund*innen in Deutschland getragen wird. Dies verursacht enorme Kosten: 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196
Kl., »›Nicht alle kroatischen Flüchtlinge ausweisen‹«. Heribert Prantl, »Abschiebung = Rückführung in den Krieg?« Süddeutsche Zeitung, 09.02.1994. Ebd. Ebd. Prantl, »Abschiebung = Rückführung in den Krieg?«. Ulrich Deupmann, »Mehr Rechte für Flüchtlinge gefordert.« Süddeutsche Zeitung, 12.05.1995. Ebd. Prantl, »›Eine Gefährdung bei der Rückkehr ist nicht zu befürchten‹«. Heribert Prantl, »Ist Bischof Engelhardt ein Spinner?« Süddeutsche Zeitung, 11.03.1994. Markus Krah, »Abschiebung in den Völkermord.« Süddeutsche Zeitung, 01.07.1994. Deupmann, »Mehr Rechte für Flüchtlinge gefordert«.
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»Zijad Lukavica macht sich auf das Schlimmste gefaßt. [...] Lukavica hat allein 50 Bürgschaften abgegeben. Dies könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden. Denn die Stadt München fordert nun bei den Bürgen die im Einzelfall geleistete Sozialhilfe zurück. [...] Offenbar hat niemand damit gerechnet, daß sich der Krieg in Bosnien-Herzegowina so lange hinziehen könnte. [...] Heute, nach eineinhalb Jahren, sind die Gastgeber selbst bei gutem Willen überfordert.«197 Des Weiteren wird von persönlichen Schicksalen erzählt, die eng mit der Ungewissheit und Intransparenz zusammenhängen und die Betroffenen kommen selbst zu Wort. Die Aufforderung zur Rückkehr war es, die »ihr Leben in Deutschland endgültig ins Rutschen brachte: Plötzlich stand ihr Vertrauen in die Verläßlichkeit der Hilfsbereitschaft im deutschen Gastland und die Sicherheit der eigenen Lebensplanung in Frage.«198 »Aliko ist ein politisch Verfolgter, der vor seiner Flucht 20 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. [...] Nachdem der Empfang [...] nicht nur in Gelsenkirchen so überaus herzlich ausgefallen war, klang ein Satz besonders bitter: ›Ich bin der Dunkelheit entronnen‹, sagte der Dissident damals in einem Interview, ›und hier nun in absolutes Zwielicht geraten.‹«199 In der FAZ hingegen wird zu Beginn von einem Bleiberecht ausgegangen. Hinsichtlich des Status der Bürgerkriegsflüchtlinge steht die ungeklärte Finanzierung im Vordergrund. »Kommunen und Wohlfahrtsverbände wehren sich nun immer mehr dagegen, daß die Versorgung von Flüchtlingen als staatliche Aufgabe anerkannt werde, die damit verbundenen Kosten aber zu Lasten einer Gruppe gingen. Sie fordern eine bundesweite Harmonisierung des Status und der Kostenübernahmen.«200 Hinsichtlich der Schaffung einer rechtlichen Grundlage wird vermutet: »›Die sind alle froh, daß sie einen Kompromiß gefunden haben. Deshalb will man sich jetzt nicht auch noch mit Fragen der Kriegsflüchtlinge beschäftigen.‹«201 Gerade zu Beginn finden sich jedoch auch Aussagen, die den Status als geklärt betrachten und sogar von einem Bleiberecht sprechen: »Innenminister Seiters (CDU) hat am Montag die Forderung der SPD, einen eigenständigen Status für bosnische Flüchtlinge zu schaffen, zurückgewiesen. Die Flüchtlinge hätten nach dem Ausländergesetz eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sowie ein gesichertes Bleiberecht, teilte Seiters am Montag in Bonn mit.«202
Cornelia Glees, »Die Helfer werden bestraft.« Süddeutsche Zeitung, 29.01.1994. Kahl, »Es war einmal eine große Geste«. Kahl, »Es war einmal eine große Geste«. Friederike Bauer, »Immer mehr Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.1993. 201 Ebd. 202 Feldmeyer, »Seiters gegen Sonderstatus für Flüchtlinge aus Bosnien«.
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»Auch müsse geregelt werden, ob und unter welchen Bedingungen Bürgerkriegsflüchtlinge einen Asylantrag stellen können und was mit Menschen geschehe, die auch nach dem Ende des Krieges in ihrer Heimat in Deutschland bleiben wollten.«203 Ein Bleiberecht, selbst für vulnerable Gruppen ist 1996 nicht mehr Teil des Sagbarkeitsfeldes. Insgesamt zeigt sich, dass in der SZ der ungeklärte Status ein zentrales Thema der Berichterstattung ist. In den Artikeln wird deutlich, dass sowohl die Aufnahme durch Verwandte als auch die rechtliche Unsicherheit konkrete Auswirkungen auf die Lebensumstände und Zukunftsperspektiven vieler Menschen hat. Die Berichterstattung über den rechtlichen Status verbleibt somit nicht nur wie in der FAZ auf der Ebene eines Verwaltungsproblems, sondern zeigt die direkten Auswirkungen für die Betroffenen.
8.4 Das Andere 8.4.1 Die Erfahrungen der Anderen in Worte fassen Die Konstruktionen der Anderen sind sowohl in den Begrifflichkeiten als auch in den Darstellungen ihrer Erfahrungen durch Differenziertheit und Einfühlungsvermögen gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den essentialisierenden Zuschreibungen in der Kriegsberichterstattung liegt der Fokus auf den ähnlichen Erfahrungen der Bürgerkriegsflüchtlinge und nicht auf ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit. Bei den Bezeichnungen steht das Wort »Flüchtling« im Mittelpunkt, meist versehen mit einer regionalen Herkunft oder dem Grund der Flucht: »bosnische Flüchtlinge«204 , »Flüchtlinge aus Bosnien«205 , »Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsgebieten des früheren Jugoslawiens«206 , »Kriegsflüchtlinge aus dem zerfallenen Jugoslawien«207 sowie »Bürgerkriegsflüchtlinge«208 . Der Begriff des Bürgerkriegsflüchtlings wird jedoch eher seltener genutzt, um die Zuwanderungsgruppe zu beschreiben, sondern bezieht sich eher auf den geforderten »Status für Bürgerkriegsflüchtlinge«209 . Es gibt auch Begriffe, die das Mensch- oder Kindsein in den Vordergrund stellen: »aus Bosnien flüchtenden Menschen«210 , »Menschen in den bosnischen Bürgerkriegsgebieten [...] Flüchtlings- und Kriegskinder«211 . Des Weiteren taucht auch der Begriff der »Vertriebenen aus Bosnien-
203 Wolfgang Stock, »Gesetzentwurf zur schnelleren Einbürgerung vorgelegt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.1993. 204 Gennrich, »Kinkel: 1998 muß Jahr der Rückkehr nach Bosnien werden«. 205 Ulrich Deupmann und ulw., »Die Lasten der Flüchtlingshilfe in Europa fair verteilen.« Süddeutsche Zeitung, 29.07.1995. 206 Bannas, »Kohl bittet die EG-Partner um Aufnahme von Flüchtlingen«. 207 Feldmeyer, »Benrath fordert zügige Abschiebung abgelehnter Asylbewerber«. 208 Heuwagen, »Nicht nur inhuman, sondern auch teuer«. 209 Kl., »›Nicht alle kroatischen Flüchtlinge ausweisen‹«. 210 Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge«. 211 Wulf Reimer, »Im Profil. Klaus Vack – Bürgerrechtler und Friedensarbeiter.« Süddeutsche Zeitung, 30.08.1996.
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Hercegowina«212 auf und wird an verschiedenen Stellen zu deutschen Vertriebenen in Beziehung gesetzt: »Eine Schlange von Flüchtlingen zieht sich durch das Bild, alte Frauen mit Kopftüchern, die wenigen Habseligkeiten in Taschen und Bündeln verpackt. Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden. Gesichter, die das Unglaubliche, das ihnen geschieht, nicht glauben können. Eine Szene aus der Nachkriegszeit, fünfzig Jahre alt? Das SchwarzWeiß-Foto stammt aus der Gegenwart, aus Bosnien.«213 Neben der regionalen Herkunft wird auch die ethnische Herkunft präzisiert. Der Begriff bosniakisch taucht gar nicht auf, stattdessen wird muslimisch genutzt: »MuslimFlüchtlinge aus Bosnien«214 , »Serben, Muslime und Kroaten«215 , »muslimische und kroatische Flüchtlinge aus Nord-West-Bosnien«216 sowie »bosnischen Flüchtlinge muslimischer und kroatischer Herkunft«217 . Zudem finden sich auch Begriffe wie »Gäste auf Zeit«218 , »›Kontingent‹-Flüchtlinge oder ›Train-People‹«219 , die die Art der Aufnahme beschreiben sowie Begriffe wie »Vergewaltigungsopfer«220 , »Kriegsopfern«221 , »Folteropfern, vergewaltigten Frauen und anderen schwer traumatisierten Flüchtlingen«222 , die die Bedürftigkeit in den Mittelpunkt stellen. Auch weniger personalisierte Formen existieren, jedoch in einem sehr geringen Umfang, wie beispielsweise die »Lösung des Problems der Jugoslawien-Flüchtlinge«223 »eine humane Lösung des Flüchtlingsproblems«224 , die »Flüchtlingswelle aus dem ehemaligen Jugoslawien«225 , die »›nicht steuerbaren und unkontrollierten Flüchtlingswelle«226 sowie das »Flüchtlingsdrama«227 . Bei den Begriffen finden sich wenig Unterschiede in den beiden Zeitungen. Es werden verschiedene Anknüpfungen an die Diskurse zur Grundgesetzänderung und rassistischer Gewalt gemacht. Zum einen taucht in ein paar Artikeln die Frage auf, ob es nicht auch Flüchtlinge aus Bosnien gibt, die Asylmissbrauch begehen: »in den Flüchtlingszügen hätten sich offenbar auch Bosnier und Kroaten gefunden, die nicht vor unmittelbarer Kriegsgefahr flohen, sondern die Chance nutzten, als Angehö-
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F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit«. Bertholt Kohler, »›Irrtümer eines Jahrtausends korrigiert‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.1995. dpa, »Kein Asyl für Muslim-Flüchtlinge aus Bosnien.« Süddeutsche Zeitung, 07.08.1996. Mirjam Wagner, »Helfen, wo die Not am größten ist.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.1996. Bannas, »Kohl bittet die EG-Partner um Aufnahme von Flüchtlingen«. Bannas, »Das ›Gastrecht auf Zeit‹ der Kriegsflüchtlinge läuft ab«. Stock, »Rückführung der Flüchtlinge soll Ende August 1997 beendet sein«. Friederike Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.1993. Cathrin Kahlweit, »Was eine Frau nicht mehr ertragen kann.« Süddeutsche Zeitung, 11.03.1998. F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit«. Stock, »Die Grünen kritisieren die Konferenz der Innenminister«. Feldmeyer, »Kinkel auch wegen Kosovo in Sorge«. Doris Näger, »Flüchtlinge unter Druck.« Süddeutsche Zeitung, 27.07.1999. Stock, »›Flüchtlinge in der EU gerechter verteilen‹«. Dreher, »Visumpflicht für Flüchtlinge aus Bosnien bleibt.«. SZ, »Platz für Flüchtlinge ist vorhanden.« Süddeutsche Zeitung, 01.04.1999.
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rige von in Deutschland beschäftigten Familienmitgliedern das Krisengebiet zu verlassen.«228 »Kanther kündigte ›zusätzliche Maßnahmen zur Eindämmung des Asylmißbrauchs‹ an. Das Auswärtige Amt sei gebeten würden, die Angaben von Visa-Antragsstellern aus dem ehemaligen Jugoslawien stärker zu überprüfen, um mißbräuchliche Anträge zu verhindern.«229 Zum anderen werden aber die Bürgerkriegsflüchtlinge als die guten und richtigen Flüchtlinge dargestellt und den Asylbewerbern gegenübergestellt: Die »Kriegsflüchtlinge unterschieden sich ebenso wie die Aussiedler günstig von den meisten Asylbewerbern. Die meisten Vertriebenen wollten so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren, außerdem seien sie willens, sich selbst zu helfen, sich Arbeit zu suchen und sich um ihre Kinder zu kümmern. Auf die meisten Asylbewerber treffe das nicht zu. Sie seien nur schwer zu bewegen, wenigstens ihre Unterkunft sauber zu halten und ihre Kinder zu beaufsichtigen. Sie weigerten sich häufig, ihre Leben in die Hand zu nehmen, geschweige denn Arbeit anzunehmen. Insgesamt sei ihr Verhalten oft lethargisch.«230 Hier wird nicht nur maximale Distanz zwischen zwei Gruppen hergestellt, sondern Asylbewerbern auch jegliche lebenspraktische Kompetenz abgesprochen. Ihre Passivität steht im Vordergrund. Die Kriegsflüchtlinge hingegen besitzen zwei zentrale Eigenschaften: Arbeits- und Rückkehrbereitschaft. Insgesamt lässt sich festhalten, dass besonders bosnisch-muslimischen Flüchtlingen viel Empathie entgegengebracht wurde. Sie wurden als Opfer des Krieges wahrgenommen, während Serb*innen eher als Täter*innen dargestellt wurden: »Vergewaltigungen bosnischer Frauen und Mädchen durch serbische Tschetniks«231 . »Die in der Srpska dominierenden Serben lehnen eine Rückkehr der muslimischen Bosnier ab.«232 Obwohl auch Kosovo-Albaner*innen aufgrund von Flucht und Vertreibung aufgenommen wurden, wurden diese nicht nur als Opfer, sondern auch als kriminell und gefährlich wahrgenommen: »Der Ruf der Kosovo-Albaner ist schlecht: Schießereien, Rauschgifthandel und Diebstähle haben die ganze Gruppe in Verruf gebracht. Nur den wenigsten wird Asyl gewährt.«233 Auch wird ihnen eine größere politische Aktivität unterstellt.234 Den bosnischen Flüchtlingen wird hingegen zugesprochen, dass sie »in der Regel friedfertiger seien als die ethnischen Fanatiker, die heute das Ruder führten.«235 228 Johannes Leithäuser, »Bundesländer wünschen bessere Verteilung der Flüchtlinge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.1992. 229 Hans-Jörg Heims, »Wieder mehr Asylbewerber aus Ex-Jugoslawien.« Süddeutsche Zeitung, 15.10.1996. 230 Feldmeyer, »Benrath fordert zügige Abschiebung abgelehnter Asylbewerber«. 231 Prantl, »›Eine Gefährdung bei der Rückkehr ist nicht zu befürchten‹«. 232 Schneider, »Landesbischof nimmt Innenminister in Gebet«. 233 Oliver Hoischen, »Sind abgeschobene Kosovo-Albaner in ihrer Heimat wirklich sicher?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.09.1997. 234 Finkenzeller, »Bayern beobachtet Kosovo-Albaner«. 235 Konrad Schuller, »Wie viele Flüchtlinge können zurück?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.1997.
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An drei Aspekten im Diskurs werden die Anderen besonders deutlich: dies bezieht sich auf die Ankunft in Deutschland, auf die Darstellung ihrer Erfahrungen im ehemaligen Jugoslawien und ihren Erfahrungen in Deutschland. Die Konstruktion enthält wenige essentialisierende Darstellungen, sondern wird über die Erfahrung hergestellt. Die ersten Kontingentflüchtlinge, die im Sommer 1992 aufgenommen werden, werden mit Zügen der Bundesbahn im ehemaligen Jugoslawien abgeholt und nach Deutschland gebracht. Während die Fernsehberichterstattung dafür gesorgt hat, dass die Bilder des Krieges den Menschen bekannt sind, entsteht bei der Ankunft nun die erste Begegnung mit den bosnischen Flüchtlingen in Deutschland. Ähnlich wie bei der Aufnahme der vietnamesischen Boat People wird direkt vom Ankunftsort berichtet. Auffällig ist dabei, dass in der FAZ wesentlich ausführlicher, empathischer und engagierter über die Ankommenden berichtet wird. In der SZ wird der Vergleich angestellt zu den DDR-Bürger*innen, die aus der Botschaft in Prag in die Bundesrepublik kamen und es wird ausführlich darüber berichtet, wie es den Helfer*innen ergeht und wie die Organisation der Aufnahme geregelt ist. »Eine lange Nacht haben die 60 ehrenamtlichen Helfer des BRK hinter sich, die am Sonntagmorgen nach sieben Uhr ihren Einsatz beenden.«236 Die Ankommenden werden beschrieben als »erschöpft«237 , »zögernd«238 , »wie gelähmt«239 . In beiden Zeitungen werden die Ankommenden direkt im Zug und am Bahnsteig nach ihren Erfahrungen befragt: »Wie bei den vorangegangenen Transporten schilderten auch diesmal wieder viele Flüchtlinge, immer wieder unter Tränen, ihr Schicksal. ›Es ist alles verbrannt‹, sagte ein Familienvater. Ein anderer schilderte wie er und seine Nachbarn im Dorf ›wie Vieh in den Wald gejagt‹ wurden. Froh, der ›Hölle entronnen‹ zu sein.«240 »Einige von denen, die dageblieben sind, haben in den Minuten des Wartens auf den Weitertransport in die Aufnahmestelle kurz über ihr Schicksal Auskunft gegeben. Es sind knappe Bestätigungen jener Nachrichten von zerbombten Dörfern, getöteten Angehörigen und langer Flucht, die seit April täglich von Korrespondenten aus Bosnien gemeldet werden.«241 Im Aufnahmelager Unna-Maaßen werden sie dann ein bisschen genauer betrachtet und das Bildungsniveau als Differenzmerkmal hervorgehoben.: »Es sind Menschen jeden Alters unter den Flüchtlingen: Familien mit Kleinkindern, alte Leute, junge Familien und auch überraschend viele Männer im wehrpflichtigen Alter. Die kleinste Wohltat wird dankbar entgegen genommen. Essen, Getränke, Kleidung.
236 Aus dem Artikel geht hervor, dass hier das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gemeint ist. Peter Schmitt, »Die meisten wirken wie gelähmt.« Süddeutsche Zeitung, 10.08.1992. 237 dpa/AP, »Weitere 5000 Flüchtlinge finden in Deutschland vorübergehend Bleibe.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.1992. 238 Schmitt, »Die meisten wirken wie gelähmt«. 239 Schmitt, »Die meisten wirken wie gelähmt«. 240 dpa/AP, »Weitere 5000 Flüchtlinge finden in Deutschland vorübergehend Bleibe«. 241 Schmitt, »Die meisten wirken wie gelähmt«.
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Nach der langen Zeit der Entbehrung ist diesen Menschen nichts mehr selbstverständlich.«242 »Lesen können die wenigsten, [...] die meisten sprechen weder Deutsch noch Englisch noch Französisch.«243 »Die meisten von ihnen können sich nicht vorstellen, was sie jetzt in Deutschland erwartet: sie sind noch nie im Ausland gewesen. Belgrad, ja, da war man einmal, erzählen sie, das war schon die große weite Welt.«244 In der FAZ wird dargestellt, dass die Erfahrungen in Bosnien sowohl ihre Gesichter gezeichnet als auch ihr Leben grundlegend verändert haben. »Sein Gesicht ist deutlich gezeichnet vom Schrecken und von der Angst der letzten zwei Monate. Die von der Sonne gegerbte Haut zeigt tiefe Furchen und die Spuren von Verletzungen. Das Leben dieses 52 Jahre alten Mannes, sein Glück und seine Hoffnungen sind zerstört. [...] Stockend nur kann der Mann, der nach diesen Erlebnissen aussieht, als sei er 70 Jahre alt, von den Ereignissen im Lager berichten, die sein Leben, wie er sagt, sinnlos gemacht haben. Die Angst sitzt immer noch tief.«245 Daher müssen sie erst langsam Vertrauen fassen, dass sie nun in Sicherheit sind: »Ganz langsam will er sich nun mit dem Gedanken anfreunden, in ein Land zu kommen, wo nicht geschossen, gefoltert und gemordet wird.«246 »Die meisten können noch nicht recht fassen, daß sie in Sicherheit sind. Ungläubig betrachten sie die vorläufigen Ausweise mir der Aufenthaltsbefugnis.«247 Deutschland wird in der Berichterstattung zu einem Land, dass sich durch Frieden und Sicherheit auszeichnet. Die Differenz zu Bosnien wird hergestellt über die Erfahrungen von Krieg, Gewalt und existenziellen Notlagen, welche die Menschen grundlegend verändert hat, sodass sie für selbst kleine Dinge dankbar sind. In der FAZ wird im weiteren Verlauf sehr empathisch über die Lebensrealität der Menschen in den Sammelunterkünften berichtet, ohne jedoch explizit den Schluss daraus zu ziehen, dass politisch die Rahmenbedingungen verändert werden sollten. Es geht um die Frage von Eingewöhnung, um heimisch werden, Geborgenheit und Alltagsgestaltung. Dabei wird auf die beengten Wohnverhältnisse hingewiesen und die Fähigkeit, sich anzupassen: »Manche Spende hat geholfen, ein wenig wurde gekauft, aber das meiste haben sie sich aus dem Sperrmüll und von der Straße geholt. Mit Fleiß, Akkuratesse und Phantasie sind daraus liebevoll eingerichtete Wohnungen entstanden, die dem Standard einer deutschen Familie nicht entsprechen mögen, aber Wärme und Geborgenheit aus242 243 244 245
Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«. Ebd. Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«. Friederike Bauer, »Die Bilder aus ihrer Heimat lassen die Flüchtlinge nicht zur Ruhe kommen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.1992. 246 Ebd. 247 Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«.
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strahlen. So hat man versucht, das fehlende Zuhause wenigstens ein Stück weit zu ersetzen. [...] Daß sich die Flüchtlinge trotz aller Unwägbarkeiten erstaunlich gut eingelebt haben, bestätigen auch Sozialarbeiter. [...] Die Menschen seien ›rührig‹, versuchten sich dem Leben in Deutschland anzupassen, ohne die eigene Sprache und Kultur zu verleugnen. [...] Die Menschen hätten alles verloren, dennoch bewiesen sie Kraft und Selbstbewußtsein.«248 Problematisch sei neben der erzwungenen Untätigkeit der ungeklärte Status und die Sorge um die Familienangehörigen. »›Wir leben in der Luft.‹ [...] Dort haben sie ihre Heimat verloren, hier fühlen sie sich noch nicht heimisch. Die Angst vor den Gräueln des Krieges ist ihnen fürs erste genommen, aber die ungewisse Zukunft mache sie bange.«249 »Sorgen bereiten ihnen vielmehr die verschollenen Landsleute. Kaum eine Familie ist vollzählig in Duisburg.«250 Erstaunlich kritisch für die FAZ im Vergleich zu den anderen Analysekapiteln ist folgender Artikelausschnitt: »Die jetzige Welt der Flüchtlinge kennt keine brennenden Dörfer. Sie kennt Vormittage im Unterhemd und Nachmittage vor dem Fernsehen. [...]. Wenn es eine Unterwelt gäbe, in der Listen, Badeschlappen und vertane Jahre Vorschrift wären, hier wäre sie verwirklicht. Es ist eine verordnete Unterwelt. Deutschland hätte der enormen Leistung fiskalischer Humanität, die die Aufnahme so vieler Menschen bedeutet, durchaus die Farbe menschlicher Wärme geben können. Es wäre möglich gewesen, den Flüchtlingen Arbeit zu erlauben. [...] Auch eigene Wohnungen wären möglich gewesen [...] Junge Leute hätten in die Lehre gehen können, wenn nur die Arbeitsämter das erlaubt hätten. Aber das wollte man nicht. Alles, was sinnvoll ist, weckt den Willen, zu bleiben, und bleiben sollte möglichst keiner.«251 Die Berichterstattung über die Lebensrealität der Menschen in den Unterkünften ist in der FAZ eine Seltenheit, die ansonsten stärker auf der Makroebene bleibt. Die Darstellungen der Ankunft, die die schrecklichen Erfahrungen in Bosnien fokussieren, verstärken ansonsten das Bild von Deutschland als Retter*in. Die Nahaufnahmen zeugen von Empathie und Menschlichkeit, aber auch von der Übertragung der eigenen Perspektive. Die beengten Verhältnisse und die Untätigkeit werden als die größten Probleme herausgestellt. Es ist nach fünfzehn Jahren die erste Gruppe von Flüchtlingen, die in einer Sammelunterkunft besucht wird und über deren Lebensbedingungen berichtet wird.
8.4.2 Ethnizität als verwirrende Vielfalt und die Gefahren einer multikulturellen Gesellschaft Das Thema Ethnizität wird in der FAZ sehr viel häufiger benannt als in der SZ und stärker als Problem dargestellt. In der SZ spielt das Thema eher eine untergeordnete Rolle. 248 249 250 251
Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch«. Ebd. Ebd. Konrad Schuller, »Nie wieder nach Bosnien. Sorgen in einem Flüchtlingsheim in Berlin-Mitte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.1996.
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In beiden Zeitungen findet jedoch keine Auseinandersetzung damit statt, was Ethnizität überhaupt bedeutet. Es wird vorausgesetzt, dass jeder Mensch auf dem Balkan einer ethnischen Gruppe zugeordnet werden kann. Dabei wird das Zusammenleben verschiedener Gruppen grundsätzlich als Problem gesehen. Der Begriff der Vermischung knüpft dabei an rassifizierende und biologistische Vorstellungen von Menschengruppen an und steht in Verbindung zu ethnischen Säuberungen und der Vorstellung von Reinheit. Es herrscht die grundlegende Annahme, dass es in homogenen Staaten und Regionen weniger Konflikte gibt und es werden verschiedene Theorien entwickelt, wie dies in Bosnien gestaltet werden sollte. Familien mit Mehrfachzugehörigkeiten werden als Sonderfall dargestellt, obwohl gerade ihre Existenz die Eindeutigkeit von Kategorisierungen infrage stellt. Vielfalt als Problem wird als Nachweis für die Unmöglichkeit einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland betrachtet. An zwei Stellen wird die Betonung von Ethnizität als ein Prozess beschrieben und als »Ethnisierung«252 oder »Serbisierung«253 bezeichnet. Der Begriff der ethnischen Säuberung wird wenig verwendet und stets in Anführungszeichen gesetzt: Es wird geschrieben von »demographischen Katastrophen von heute, insbesondere jene, die als ›ethnische Säuberungen‹ bezeichnet werden«254 , der »Selbstzerstörung der ›ethnischen Säuberung‹«255 und von den Flüchtlingen als »Treibgut der ethnischen Säuberung«256 . »Anders als in früheren Kriegen seien hier die Flüchtlinge nicht das Ergebnis, sondern das Ziel des Krieges sei vielmehr die Vertreibung.«257 In den analysierten Quellen findet keine Auseinandersetzung mit dem Begriff statt, die sparsame Verwendung mag aber ein Anzeichen für ein Unbehagen sein. In Deutschland wurde die Bezeichnung 1992 zum Unwort des Jahres. In der Begründung heißt es, dass »zahlreiche deutsche Medien diese Propagandaformel in ihrer Übersetzung ohne jede kritische Distanz weiterverwendeten, [...] als handle es sich um eine beliebige Hygienemaßnahme. Im sprachlichen Missbrauch von Hygieneidealen ist ethnische Säuberung auf einer Stufe mit ›Rassenhygiene‹ und ›politischer Säuberung‹ zu sehen.«258 Im Folgenden wird die Darstellung von Ethnizität in Bosnien und der Umgang damit in Deutschland in der FAZ betrachtet. Die Situation in Bosnien vor dem Krieg wird mit einer Durchmischung der Bevölkerung beschrieben, die als problematisch und konfliktverursachend angesehen wird. »Einer der Gründe für die immer wieder aufbrechenden Konflikte liegt darin, daß politische Grenzen auf dem Balkan bis heute nicht unbedingt ethnische Siedlungsräume
252 Günter Bannas, »Werden Kriterien für Rückführung bosnischer Flüchtlinge geändert?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.1996. 253 Dietrich Mittler, »Abgeschobener Albaner steckt Prügel ein.« Süddeutsche Zeitung, 21.11.1994. 254 Wolfgang Stock, »Lob für Charta der Vertriebenen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.1995. 255 Kohler, »›Irrtümer eines Jahrtausends korrigiert‹«. 256 Konrad Schuller, »In Bosnien eint die Furcht vor den Rückkehrern die Menschen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.1997. 257 Mrusek, »Kaum Bereitschaft zur Aufnahme weiterer Flüchtlinge«. 258 Nina Janich, »Unwörter von 1991–1999.« Institut für Sprach- und Literaturwissenschaften, Technische Universität Darmstadt, zuletzt geprüft am 20.03.2020, www.unwortdesjahres.net/index.php?id=114.
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umfassen. So leben dort auf kleinstem Raum und zum Teil kräftig durchmischt katholische Kroaten, (muslimische) Bosniaken und orthodoxe Serben, die allesamt Slawen sind, im Grund die gleiche Sprache sprechen, aber zwei Alphabete benutzen [...]. Zudem gibt es muslimische, katholische und auch orthodoxe Albaner, die genau wie die orthodoxen Rumänen keine slawische Sprache sprechen. Das tun allerdings die Bulgaren und Mazedonier.«259 Der Fokus wird hierbei auf die Unterschiede gelegt und nicht auf die religiösen und sprachlichen Gemeinsamkeiten. Die Vielfalt wird als Gegensatz zur westlichen Welt dargestellt und entzieht sich daher den eigenen Kategorisierungen und Vorstellungen: »In manchen Städten der Region gibt es bis heute katholische, protestantische und orthodoxe Kirchen einträchtig neben Moscheen und Synagoge. Die Vielfalt ist so verwirrend, daß schon im vorigen Jahrhundert manch ein Politiker der westlichen Welt im Balkan nur einen ›Morast‹ zu erkennen vermochte und von ›orientalischen Geschwüren‹ sprach.«260 Die Vergleiche werden im weiteren Verlauf des Textes nicht relativiert, sodass dies auch wie eine aktuelle Wahrnehmung erscheint. An keiner Stelle wird in Frage gestellt, ob die Einteilung nach ethnischen Gruppen eigentlich so eindeutig wahr- und vornehmbar ist und wie sich dies konkret auf das Zusammenleben auswirkte. In den wenigen Zitaten, in denen Bürgerkriegsflüchtlinge die Zeit vor dem Krieg schildern, lässt sich das Konfliktpotential und die Spannungen zwischen den Gruppen nicht finden. Vielmehr beschreiben sie, dass die Zugehörigkeiten zuvor kaum relevant waren und sich die Situation sehr plötzlich verändert habe. »Zwischen muslimischen und serbischen Bewohnern habe gute Nachbarschaft geherrscht; er selbst, ein Muslim, sei von einer Serbin aufgezogen worden, habe sie ›Mutter‹ genannt. Doch mit dem Krieg sei über Nacht der Wahnsinn ausgebrochen.«261 Die Propaganda und die Kriegserfahrungen bewirken jedoch ethnische Grenzziehungsprozesse. »Siebzehn Jahre habe sie in der großen Textilfabrik des Ortes gearbeitet, sei mit den serbischen Arbeitskollegen gut zurechtgekommen, habe mit Serben im Haus gewohnt. ›Innerhalb vierundzwanzig Stunden ist alles anders geworden‹, sagte sie.«262 Plötzlich wurde wahrgenommen, wer Muslim*in und wer Serb*in ist. »Mit den Serben sei nicht zu verhandeln, sie verstünden nur die Sprache der Gewalt.263 »Um die Serben macht Mehmet einen großen Bogen. ›Ich hasse die Serben. Sie sind wie Hunde.‹ Woran er denn erkenne, daß jemand nicht Muslim ist wie er, sondern Serbe? ›An der Sprache kann man das nicht unbedingt feststellen‹, gesteht Mehmet. ›Freunde sagen es mir vorher.‹ Seit wann er zwischen Muslimen und Serben unterscheide? ›Als
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Hoischen, »Verwirrende Vielfalt in der Nachbarschaft des Westens«. Ebd. Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«. Schäffer, »Sicherheit in engen Zimmern mit alten Gitterbetten«. Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch«.
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Kind habe ich mit ihnen zusammen in unserem Dorf gespielt. Das war normal. Aber dann begann der Krieg, und ich habe den Unterschied gemerkt.‹«264 In all diesen Zitaten wird hervorgehoben, dass sich erst mit dem Krieg die Situation, das Zusammenleben und die Sichtweise auf die plötzlich als Andere Wahrgenommenen veränderten. Tadeusz Mazowiecki, Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission für das ehemalige Jugoslawien, wird zitiert, dass er weder die ethnische noch die religiöse Zugehörigkeit als Auslöser des Krieges sehe, sondern die Instrumentalisierung dieser Zugehörigkeiten: »daß der Krieg im ehemaligen Jugoslawien kein Religionskrieg sei, auch wenn es manchmal so scheine. Auch die Art der Kriegsführung habe nichts mit der Religionszugehörigkeit zu tun. [...] Es sei freilich zu beklagen, daß die Religion mißbraucht werde, um nationalistische Phrasen zu unterfüttern, um anzustacheln.«265 Die neue Aushandlung und Hervorhebung von sozialen Identitäten werden auch hinsichtlich des Islams thematisiert. Es wird befürchtet, dass die Untätigkeit der westlichen Staaten »den religiösen Fundamentalismus«266 und eine Abwendung von Europa bestärke. »Viele sehen deshalb die Gefahr einer Hinwendung zur arabischen Welt. Mehr und mehr Muslime befürworten mittlerweile einen islamischen Nationalstaat. Das wollten sie nicht. Zwar seien sie muslimischen Glaubens, aber sie fühlten sich in erster Linie als westliche Europäer.«267 In diesem Zitat werden Europa und die arabische Welt bzw. der Islam als Gegensätze dargestellt. Muslimisch und Europäisch zu sein scheint sich auszuschließen. Der Balkan wird dazwischen verortet. In der Auseinandersetzung, wie nun mit Ethnizität in Bosnien umgegangen werden soll, gibt es unterschiedliche Ansätze. Dominierend ist jedoch die Vorstellung, »daß die ›Ethnisierung‹ des Landes so weit fortgeschritten sei, daß sie nicht mehr rückgängig zu machen sei.«268 Hierbei wird auch von »neuen ethnischen Grenzen«269 gesprochen. »Eroberungen und Vertreibungen aus der Kriegszeit werden nicht in Frage gestellt. Der Ort, an dem ein Abgeschobener sich zuletzt wiederfindet, ist deshalb meist nicht seine Heimat. [...] Die Art der Rückführung nimmt die kriegsbedingte Neuaufteilung des Landes hin.«270 Die Vorstellungen von Vielfalt als Problem werden somit vom Westen und den Kriegstreibenden geteilt, nur dass erstere mit diplomatischen Mitteln Sortierungen vornehmen wollen: »Das Friedensabkommen von Dayton hat nach Ansicht Frau Ogatas die Völkertrennung bestätigt, die der Krieg mit sich gebracht hat. Deshalb müsse man vielen Flüchtlingen zumuten, statt in ihre jetzt feindlich besetzte Heimat in Gegenden zu ziehen, in denen ihre Volksgruppe herrsche.«271 Die großen Anteile von Minderheiten 264 Oliver Hoischen, »Um die Serben macht Mehmet einen großen Bogen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.1996. 265 Michael Ludwig, »Nicht die Geste des Pilatus, sondern Einsicht in die Hilflosigkeit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.1995. 266 Ebd. 267 Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch«. 268 Bannas, »Werden Kriterien für Rückführung bosnischer Flüchtlinge geändert?«. 269 Schuller, »Gedämpftes Lob vom UN-Flüchtlingshilfswerk«. 270 Konrad Schuller, »Rückkehr in die Heimat – oft eine Rückkehr in Feindesland.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.1997. 271 Konrad Schuller, »Frau Ogata bevorzugt einen flexiblen Zeitplan.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.1996.
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seien eine »Eigenart des Balkans«272 und werden als Besonderheit und nicht als Normalfall wahrgenommen. Dieser Vielfalt könne entweder mit Veränderung der Grenzen oder mit Minderheitenrechten begegnet werden.273 Auch wenn von einer stärkeren Trennung der ethnischen Gruppen in Zukunft ausgegangen wird274 , gibt es auch Initiativen, die sich für Versöhnung und Zusammenleben einsetzen. »Der Dachverband ›Koalition für Rückkehr‹ will dagegen die Interessen jener Flüchtlinge formulieren, die in ihre Heimat zurück wollen und die bereit wären, mit ihren alten Nachbarn in der alten Völkermischung wieder zusammenzuleben. [...] Deshalb sei es wichtig, daß viele Vertriebene unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit ihr gemeinsames Interesse an der Überwindung der neuen Demarkationslinien erkannt hätten. In der ›Koalition für Rückkehr‹ arbeiteten bosniakische, serbische und kroatische Verbände zusammen.«275 Während die Vielfalt an Zugehörigkeiten in Bosnien in der FAZ als grundlegendes Problem dargestellt und explizit thematisiert wird, wird die jeweilige Zugehörigkeit in der Aufnahme und Rückkehrpolitik in beiden Zeitungen lange Zeit übersehen. Es wirkt, als hätten die Bürgerkriegsflüchtlinge ihre ethnische Zugehörigkeit in Bosnien gelassen. Auch in den Behörden wird sie nicht systematisch erfasst. Es lägen »keine präzisen statistischen Angaben über die Herkunft der Flüchtlinge«276 vor. Eine erste Wahrnehmung geschieht, als die Vermutung entsteht, dass auch Täter*innen in Deutschland aufgenommen wurden: »Erst seit der Verhaftung des mutmaßlichen Folterers Dusko Tadic im März 1994 in München, den Zeugen als ›Schlächter von Omarska‹ belasten, ist der deutschen Öffentlichkeit schlagartig ins Bewußtsein gedrungen, daß unter den 400 000 Bosnienflüchtlingen wohl auch Kriegsverbrecher bei uns Zuflucht gefunden haben.«277 . Erst 1996 wird gefordert, dass Deutschland in seinen Kriterien der Rückführung die ethnische Herkunft berücksichtigen müsste. Im Januar heißt es noch: »Der Zerstörungsgrad der Heimatgebiete soll bei dieser ›gestreckten Rückführung‹ unberücksichtigt bleiben; genauso wenig soll bei der Staffelung an ethnische Zugehörigkeiten angeknüpft werden.«278 Im September 1996 gibt es hingegen ein Umdenken: »Unter den Innenministern von Bund und Ländern gewinnen Stimmen an Gewicht, bei der zwangsweisen Rückführung bosnischer Flüchtlinge nicht nur den Familienstand, sondern auch ethnische sowie regionale Herkunft zum Maßstab zu nehmen.«279 Die Wahrnehmung von Ethnizität lässt sich gut anhand von Familien mit Mehrfachzugehörigkeiten nachvollziehen, 272 273 274 275 276
Hoischen, »Verwirrende Vielfalt in der Nachbarschaft des Westens«. Ebd. Ludwig, »Nicht die Geste des Pilatus, sondern Einsicht in die Hilflosigkeit«. Schuller, »Rückkehr in die Heimat – oft eine Rückkehr in Feindesland«. Günter Bannas, »Erkundungsreisen nur in Ausnahmefällen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.1996. 277 Michaela Haas, »Begegnungen, die einen zittern lassen.« Süddeutsche Zeitung, 10.10.1994. 278 Christian Schneider, »Berlin fordert bosnische Flüchtlinge zur Ausreise auf.« Süddeutsche Zeitung, 24.01.1996. 279 Bannas, »Werden Kriterien für Rückführung bosnischer Flüchtlinge geändert?«.
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die als gemischte Familien bezeichnet werden. Diese werden als Sonderfall dargestellt, obwohl sie laut FAZ ein Drittel der Bevölkerung in Bosnien darstellen: »Kompliziert dürfte die Lage für die ›gemischten‹ Familien werden. Diese machten nach früheren Angaben aus Bosnien-Hercegovina etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus.«280 Auch in anderen Artikeln wird betont: »Völlig offen ist die Situation der ethnisch gemischten Familien.«281 »Zudem sei das Schicksal ›gemischter‹ Familien besonders zu beachten.«282 »Schwierigkeiten ergäben sich dort, wo die Menschen in Gebiete mit ›gemischter‹ Bevölkerung zurückkehren sollen oder wollen.«283 Dabei könnte die Existenz dieser Familien ein Anlass sein, die vermeintlichen Eindeutigkeiten von Ethnizität nochmal zu überdenken, stattdessen werden sie als Ausnahme dargestellt, welche Zuordnungsprobleme verursacht. In der SZ wird von 1994–1997 in 16 Artikeln über Familie Murganic berichtet und wie von Zivilgesellschaft und Kirchengemeinde versucht wird, mit verschiedenen Mitteln ein Bleiberecht zu erkämpfen. Die Mutter Desanka ist in Makedonien geboren, der Vater Branislav im Kosovo und in Serbien aufgewachsen. Seit 1984 lebten sie in Skopje in Makedonien, bis der Vater zum Militärdienst eingezogen werden sollte und nach Deutschland floh. Als ihr Asylantrag abgelehnt wird, droht eine Trennung der Familie: »Nach Auskunft der Mazedonischen Botschaft in Bonn dürften nun – im Falle einer Abschiebung – lediglich die Mutter und die jüngere Tochter nach Mazedonien einreisen. Branislav Murganic würde mit der älteren Tochter, die auf seinem Paß eingetragen ist, nach Serbien abgeschoben. Dort hätte der Familienvater mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren zu rechnen – die neunjährige Darinke müßte unweigerlich in ein Kinderheim.«284 Dies zeigt, welche massiven Auswirkungen die vermeintlich eindeutigen Kategorisierungen auf Familien haben, die diesen nicht entsprechen und wie wenig transnationale Beziehungen über die neu entstehenden Nationalstaaten hinweg berücksichtigt werden. Irena Ristić, deren Vater serbisch und deren Mutter kroatisch ist und ein Drittel ihres Lebens in Deutschland verbracht hat, beschreibt ihren flexiblen Umgang mit ihren Identitäten, abhängig vom Kontext. Und sie fragt, in welcher Erinnerungskultur sich mehrheimische Menschen verorten können: »Lassen sich, und wenn ja wie, in diesem Post-Konfliktraum die Komponenten persönlicher multiethnischer Identitäten in sich vereinen? Wie geht man mit den jeweiligen Erinnerungen um? Sind die Angehörigen zweier Nationen doppelte Täter oder aber doppelte Opfer? Und gilt für sie folglich eine doppelte Schuld und Verantwortung? Oder aber eine doppelte Amnestie?«285
280 Bannas, »Das ›Gastrecht auf Zeit‹ der Kriegsflüchtlinge läuft ab«. 281 Christian Schneider, »Ab nach Bosnien – egal, wie es dort aussieht?« Süddeutsche Zeitung, 04.01.1996. 282 Günter Bannas, »›Bosnische Flüchtlinge erst später zurückführen‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.1996. 283 Hort, »Die EU-Außenminister fordern einen ›Frieden aus innerer Überzeugung‹«. 284 Sabine Bader, »Einzelfall muß geprüft werden.« Süddeutsche Zeitung, 20.01.1995. 285 Irena Ristić, »Die (Un)Vereinbarkeit von individueller und kollektiver Identität: Ist die Pflicht zum Erinnern eine Pflicht zum Vergessen?« In Traumata der Transition, 218.
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Es geht in der Auseinandersetzung um Ethnizität aber nicht nur um Bosnien, sondern auch darum, welche Folgen Zuwanderung und Vielfalt in Deutschland haben könnten. Die Situation und Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien werden als Nachweis gesehen, dass Zuwanderung und Zusammenleben von unterschiedlichen Gruppen auch in Deutschland zu Problemen und Gewalt führen könnten. »Die jugoslawische Gesellschaft habe bis zum Ausbruch des Krieges alle Merkmale einer multikulturellen Gesellschaft aufgewiesen. Auch habe es [...] eine Erziehung zur Toleranz und zum friedlichen Zusammenleben gegeben. Dies habe nicht verhindern können, daß es zu einer gewaltsamen Entladung der lange unter der Oberfläche gehaltenen Spannung gekommen sei.«286 Dies müsse für Deutschland verhindert werden. CDU-Abgeordneter Lummer bezeichnet »eine Politik, die auf das Entstehen einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland zielt, als ›hirnrissig‹ [...]. ›Die Theoretiker der multikulturellen Gesellschaft wissen nicht, was sie tun. Die Bevölkerung lehnt dieses Experiment mit riesiger Mehrheit ab. Wer Deutschland gegen den Willen der Bevölkerung zum Nationalitätenstaat machen will, gefährdet kurzfristig die Mehrheitsfähigkeit der Union und langfristig den sozialen Frieden.‹«287 Das Beispiel Bosnien dient als deutlicher Beweis dafür, dass eine multikulturelle Gesellschaft nicht möglich ist. Dem ist in diesem Deutungsmuster wenig entgegenzusetzen. Insgesamt zeigt sich, dass zwar über Erfahrungen und Sichtweisen der Menschen in Bosnien und über Familien mit Mehrfachzugehörigkeiten in Deutschland berichtet wird, diese jedoch nicht die Deutungen des dominanten Diskurses in den beiden Zeitungen über ethnische Vielfalt als Problem, Konfliktursache und Sonderfall erschüttern. Die Wahrnehmung von Geschlecht und geschlechtsspezifischer Verfolgung hingegen änderte sich grundlegend durch den Jugoslawienkonflikt.
8.4.3 Die Entdeckung geschlechtsspezifischer Verfolgung Im Folgenden wird dargestellt, was in beiden Zeitungen über den Umgang mit vergewaltigten Frauen288 , über die Auswirkungen solcher Gewalterfahrungen auf die eigene Person, auf Bleiberecht und Asylverfahren sowie über die Strafverfolgung berichtet wird. Grundlegend lässt sich zur Konstruktion von Geschlecht in Diskursen über Asyl sagen, dass Flucht eher männlich konnotiert ist und die Existenz von Frauen stärker benannt oder betont wird. In Interviews werden meist männliche Flüchtlinge befragt. Es wird davon ausgegangen wird, dass Frauen den Verlust ihrer Heimat besser überwinden, weil 286 Feldmeyer, »Seiters gegen Sonderstatus für Flüchtlinge aus Bosnien«. 287 Feldmeyer, »Seiters gegen Sonderstatus für Flüchtlinge aus Bosnien«. 288 Im Diskurs wird im Kontext von sexualisierter Gewalt nur von Frauen gesprochen und dies war sicherlich auch die Mehrheit, wobei auch viele Mädchen darunter waren. Inwiefern und in welchem Ausmaß sich auch Männer und Jungen unter den Opfern befanden, ist mir nicht bekannt und zeigt auch etwas über die Struktur des Diskurses. Des Weiteren ist auch nicht bekannt, ob auch Frauen unter den Täter*innen waren.
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sich die klassische Rollenverteilung auch dort fortsetzt: »Die Frauen haben ihren traditionellen Wirkungskreis – Haushalt und Kinder – nicht verloren, vielleicht ist er in der Fremde sogar noch wichtiger geworden. Aber der Alltag vieler Männer ist leer, sie kommen sich überflüssig vor.«289 In der Berichterstattung über sexualisierte Gewalt kommen nun mehr Frauen zu Wort. Gleichzeitig fällt auf, dass im Vergleich zu den anderen Kapiteln viel mehr Journalistinnen die Artikel schreiben. Im untersuchten Korpus schreiben jeweils sieben verschiedene Journalistinnen in beiden Zeitungen einen Artikel, Friederike Bauer als Redakteurin in der FAZ sogar drei. Damit wurden 17 Artikel von 14 Frauen veröffentlicht, davon vier zu sexualisierter Gewalt. Im stark politischen Diskurs über die Grundgesetzänderung gab es beispielsweise nur einen Artikel von einer Journalistin, im Diskurs über die rassistische Gewalt hingegen 15 Artikel von 12 Journalistinnen. Im Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge schreiben meist im Kontext von Kirchenasyl in der SZ 8 Journalistinnen, in der FAZ, die kaum über Kirchenasyl berichtet, nur eine Journalistin. Das Schreiben über Inhalte ist geschlechterhierarchisch sortiert, sodass Frauen wesentlich mehr über Kultur und Gesellschaft berichten als über Politik und Wirtschaft und wäre bezüglich des Asyldiskurses eine eigene Analyse wert.290 Im Diskurs über die Bürgerkriegsflüchtlinge ändert sich die Wahrnehmung von Geschlecht im Kontext von Flucht und Asyl. Während zuvor Frauen und Kinder als besonders schutzwürdig wahrgenommen werden, wird politische Verfolgung eher mit Männern assoziiert. Eine Frau wird kaum als politisches Subjekt wahrgenommen und kann daher auch nicht politisch verfolgt werden. Die Berichterstattung über die Massenvergewaltigungen in Bosnien ändern dieses Bild und es beginnt eine Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Verfolgung. Insgesamt ist das Thema in beiden Zeitungen angekommen, die Gruppe wird häufig explizit benannt: Es sollen »zunächst nur Singles, nichttraumatisierte Frauen sowie Ehepaare ohne Kinder die Bundesrepublik verlassen. [...] Familien mit Kindern, Senioren und traumatisierte Frauen sollen erst zu einem späteren Zeitpunkt nach Bosnien zurückgeführt werden.«291 In der FAZ erscheinen drei, davon zwei von Journalistinnen, in der SZ ein Artikel, der sich explizit mit den Erfahrungen von Frauen beschäftigt, die während des Krieges vergewaltigt wurden, mit dem Umgang mit traumatischen Erfahrungen und mit der Bedeutung von Geschlecht im Asylverfahren und hinsichtlich des Bleiberechts. Alle Artikel erscheinen erst 1998 und 1999, als sei dem bereits ein gesellschaftlicher Bewusstwerdungsprozess vorausgegangen, beziehen sich aber explizit auf die Ereignisse in Bosnien. Es wird eine Unsicherheit und Überforderung deutlich, wie mit diesen Frauen umgegangen werden kann und welche Rahmenbedingungen für eine Stabilisierung hilfreich sind. Lediglich im Artikel der SZ kommen Betroffene selbst zu Wort. Der Begriff der Massenvergewaltigung, der sich damals durchsetzt, ist dabei irreführend, da sich die Massen zunächst nur auf die Anzahl der Gewalttäter bezieht. Er legt damit den Fokus auf die Täterperspektive. Daher wird hier von sexualisierter Gewalt ge-
289 Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch«. 290 Lünenborg, »Zwischen Boulevard und Polit-Talk. Doing Gender im politischen Journalismus,« 37. 291 Christian Schneider, »Nicht nur alleinstehende Bosnier abgeschoben.« Süddeutsche Zeitung, 06.12.1996 Hervorhebung Sylla.
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sprochen, da Sexualität genutzt wird, um Macht auszuüben.292 Einer der ersten Artikel, der auf Frauen, die Gewalterfahrungen erlebt haben, eingeht, wurde 1992 veröffentlicht und zeigt die Unsicherheit in Politik und Öffentlichkeit im Umgang mit diesen Frauen. »Die Regierungsmitglieder sowie weitere weibliche Bundestagsabgeordnete hatten in Kroatien mit Frauen sprechen wollen, die Opfer von Massenvergewaltigungen geworden waren. [...] Stercken warnte vor ›ständigen Fragen‹ an die vergewaltigten Frauen [...], die Frauen wollten keine öffentliche Aufmerksamkeit, ja sie wollten überhaupt keine Aufmerksamkeit durch Außenstehende.«293 Die Politiker*innen, darunter Angela Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend, wollten ihr Mitgefühl und Solidarität zeigen. Erst die deutsche Botschaft vor Ort muss sie darauf hinweisen, dass dies für die Betroffenen nicht zielführend ist. Die große Unsicherheit, wie die Frauen gut unterstützt werden können, ob es gut ist, sie in Deutschland aufzunehmen oder sie besser in ihrem vertrauten Kontext verbleiben, zieht sich durch die ganze Berichterstattung: »Aufnahme von Frauen bei uns, soweit diese dies wünschen. In der Regel ist die Betreuung durch Großfamilien oder Verwandte vor Ort besser.«294 »Aida Daidzic, welche die ›Internationale Initiative für Frauen in Bosnien Herzegowina‹ (Biser) in Sarajewo leitet, plädiert dafür, daß ›alle diese Frauen schleunigst zurück müssen. Ihnen fehlt das soziale Umfeld. Wer sich hier mit dem Überleben im Alltag herumschlagen muß, überwindet sein Trauma eher.‹«295 »Ljuba kann das alles nicht begreifen: ›Ich kann ja nicht einmal allein zum Bahnhof gehen, jemand muß mich führen. Wie soll ich in dieses Land zurück?‹«296 Dabei wird bis auf das letzte Zitat stets über die Frauen gesprochen und sich angemaßt zu wissen, was gut für sie ist. Massiv kritisiert wird durch eine zynische Darstellung in der SZ die Haltung des bayerischen Innenminister Becksteins: »Er habe dort Trümmer über Trümmer gesehen, aber keine Trümmerfrauen, vom Aufbau könne keine Rede sein. [...] Kein Wunder, daß er keine Bosnierinnen gefunden hat, die nach gutem deutschem Vorbild beim Schutträumen über den Tod der Männer, über 292 »Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die einem Kind bzw. einer Frau oder einem Mann aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Sie ist ein Akt der Aggression und des Machtmissbrauchs, nicht das Resultat unkontrollierbarer sexueller Triebe.« Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend, »Sexualisierte Gewalt.« Zuletzt geprüft am 21.03.2020, https://www.ge waltinfo.at/fachwissen/formen/sexualisiert/; Siehe auch: Roswin Finkenzeller, »Die Internationalität menschlicher Niedertracht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.04.1999 »Eine Frau wird nicht nur zur Befriedigung des Geschlechtstriebs vergewaltigt. Sie soll entehrt und gedemütigt werden (…). In diesem Sinn ist die Vergewaltigung ein Mittel der psychologischen Kriegsführung.«. 293 Hans Stercken (CDU) war damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Günter Bannas, »Beschluß zur Aufnahme von 6000 bosnischen Kriegsgefangenen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.1992. 294 Bannas, »Beschluß zur Aufnahme von 6000 bosnischen Kriegsgefangenen«. 295 Ebd. 296 Kahlweit, »Was eine Frau nicht mehr ertragen kann«.
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Vergewaltigung und Vertreibung hinwegzukommen versuchen. All die Becksteins werden doch nicht müde zu behaupten, daß viele dieser Frauen hier ›im Sozialhilfe-Luxus‹ schwelgen. Andere hängen krank in den wenigen Therapie-Einrichtungen herum, statt Trümmer zu schleppen.«297 Die Situation in Bosnien wird dabei mit der von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gleichgesetzt. Ausgeblendet wird dabei, dass in Bosnien ein Bürgerkrieg herrscht, in dem sich die Bewohner*innen des gleichen Landes bekämpft haben und dazu nun viel Versöhnungs- und Vertrauensarbeit nötig ist. Stattdessen wird Arbeit als eine Bewältigungstherapie präsentiert und den Frauen unterstellt, sie würden ihr Schicksal ausnutzen, um in Deutschland bleiben zu können. In dem einzigen Artikel in der SZ über sexualisierte Gewalt kommt eine Frau, Ljuba Mesovic, detaillierter zu Wort, die Mitunterzeichnerin eines Briefes dreier alleinerziehender Mütter für ein Bleiberecht in Deutschland ist. Sie wehrt sie sich gegen die Vereinnahmung und Verantwortungsübernahme: »Wir sind uns wohl bewußt, daß das Land Frieden und Versöhnung braucht. Aber muß das ein erneutes Mal auf unserem Rücken geschehen? Wir können nirgendwohin ›zurückkehren‹.«298 Ljuba Mesovic formuliert auch deutlich die Auswirkungen des unsicheren Aufenthaltsstatus: »Sie war schon recht weit mit der Verarbeitung. Aber als ihr klar wurde, daß sie nicht auf Dauer bleiben kann, begann sie, Bilder im Kaffeesatz zu suchen. Dort las sie, sie müsse sich umbringen.«299 Im Gegensatz zu den Artikeln, in denen über die Frauen geschrieben wird und in denen Mutmaßungen geäußert wird, was für die Frauen gut sein könnte, formuliert Ljuba sehr klar und mit einer großen Agency, was sie benötigt und widerlegt damit das Bild der vergewaltigten Frau als hilfloses und handlungsunfähiges Opfer – in den Artikel auch häufig als »Vergewaltigungsopfer«300 bezeichnet. Wiederholt wird von verschiedenen Seiten die Forderung nach Bleiberecht formuliert. »›Als die Massenvergewaltigungen stattfanden, ging eine Welle der Empörung durch die Bundesrepublik. Doch bei der Empörung darf es nicht bleiben.‹«301 »Für Frauen, die während des Krieges vergewaltigt wurden, müßte sich eine Rückführung ohnehin verbieten.«302 »Hinter vorgehaltener Hand heißt es, ein dauerhaftes Bleiberecht für traumatisierte Frauen sei durchaus vorstellbar. Aber man wolle keine schlafenden Hunde wecken.«303 Es wird dargestellt, dass Empörung und Unterstützungsbereitschaft nicht lange anhielt und Bleiberecht möglichst nicht propagiert werden soll. In der FAZ thematisiert ein Artikel das Problem, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, um ein Bleiberecht zu erhalten: »Den Bosnierinnen in Frankfurt, die durch die Traumatisierungshölle eines schrecklichen Krieges gegangen sind, wird kein behördliches Vertrauen entgegengebracht, sie
297 298 299 300 301 302 303
SZ, »Das Streiflicht.« Süddeutsche Zeitung, 14.06.1996. Kahlweit, »Was eine Frau nicht mehr ertragen kann«. Ebd. Ebd. Kahlweit, »Was eine Frau nicht mehr ertragen kann«. Reuter, »Amnesty kritisiert Deutschland.« Süddeutsche Zeitung, 19.06.1997. Kahlweit, »Was eine Frau nicht mehr ertragen kann«.
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müssen ihre Traumen ›nachweisen‹, die Therapeuten selbst wurden in das allgemeine Mißtrauen miteinbezogen; man unterstellte ihnen Gefälligkeitsgutachten zur Bleiberechtserschleichung erstellt zu haben. Beamte setzen eine Politik der Rückführung um, ohne wahrhaben zu wollen, daß es eine Rückführung in traumatisierende Verhältnisse ist.«304 Wie sehr sexualisierte Gewalt mit bosnischen Frauen in Verbindung gebracht wird, wird an folgenden Zitaten deutlich: »›Refugio weiß von tamilischen und bosnischen Frauen, die sich nach dem Gewaltakt das Leben genommen haben.«305 »In Deutschland wurden frauenspezifische Fluchtgründe bislang vor allem bei Flüchtlingsfrauen aus dem ehemaligen Jugoslawien berücksichtigt.«306 Die Berichterstattung bewirkt jedoch auch eine weitergehende Beschäftigung mit geschlechtsspezifischer Verfolgung und ihre Berücksichtigung im Asylverfahren: »Die Flucht von Frauen und Mädchen sei häufig durch geschlechtliche Diskriminierung und sexuelle Gewalt verursacht und begleitet. Frauenspezifische Verfolgungssituationen fänden in asyl- und flüchtlingsrechtlichen Regelungen kaum Beachtung.«307 »Doch fliehen sie meist innerhalb ihres Landes [...] Lediglich 20 bis 30 Prozent der erwachsenen Asylsuchenden in Westeuropa sind Frauen, in Deutschland liegt ihr Anteil [...] bei etwa 35 Prozent.«308 Dabei dominiert durchgehend ein Bild der Frau als Opfer: sie kommt aus einem patriarchalen Kontext und erlebt weitergehende Gewalt auf der Flucht: »Das liegt daran, daß sie meist aus traditionellen Kulturen stammen und zu Hause nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen durften. Auf der Flucht sind sie hingegen plötzlich auf sich allein gestellt und daher sehr verwundbar.«309 Des Weiteren werden Vergleiche zu deutschen Frauen herangezogen und davon ausgegangen, dass Vergewaltigungen für bosnische Frauen noch stärker Scham hervorrufen: »Es wurde daran erinnert, daß schon in Deutschland den Opfern von Vergewaltigung die Aussage bei öffentlichen Gerichtsverhandlungen schwerfalle. Dies gelte in noch stärkerem Maße für die Opfer aus Bosnien.«310 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Geschlecht im Flucht- und Asyldiskurs plötzlich eine Relevanz bekommt. Dabei kommt es jedoch zu zwei unterschiedlichen Konstruktionen. Auf der einen Seite entsteht eine starke Opferkonstruktion, in der bosnische vergewaltigte Frauen als traumatisiert, handlungsunfähig und suizidgefährdet dargestellt werden, die kaum über die Ereignisse sprechen können. Auf der anderen Seite gibt es eine Fremdkonstruktion als Trümmerfrauen, die durch Arbeit und den Wiederaufbau ihres Landes die Gewalterfahrungen bewältigen bzw. vergessen können. Eine Verantwortungsübernahme von deutscher Seite und der Bedarf einer persönlichen therapeutischen Unterstützung werden dabei abgelehnt. Beide Gruppen, die für Bleiberecht
304 Caroline Neubaur, »Verarbeiten, was nicht zu verarbeiten ist.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1998. 305 Finkenzeller, »Die Internationalität menschlicher Niedertracht«. 306 Katrin Hummel, »Menschenrechte der Frauen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.1999. 307 Heike Schmoll, »EKD fordert Einigkeit über Flüchtlinge.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.1995. 308 Hummel, »Menschenrechte der Frauen«. 309 Ebd. 310 Bannas, »Beschluß zur Aufnahme von 6000 bosnischen Kriegsgefangenen«.
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
beziehungsweise Rückkehr eintreten, vertreten ein bestimmtes Bild, um ihre Ziele zu begründen. Im Diskurs kommen sie selbst kaum zu Wort.
8.4.4 Der Stufenplan der freiwilligen Rückkehr Die Rückkehr steht im Zentrum der Berichterstattung in der FAZ. Sie ist Teil des Deutungsmusters Selbstschutz, welches eine begrenzte Hilfe kennzeichnet. Während bereits zu Beginn auf eine befristete Aufnahme und eine anstehende Rückkehr sporadisch hingewiesen wird311 , intensiviert sich das Thema 1995. Das Jahr 1996 stellt den Höhepunkt in der Berichterstattung dar. Dabei wird der Beginn der Rückführung über zwei Jahre kontinuierlich um wenige Monate nach hinten verschoben.312 Ende 1996 werden Rücknahmeabkommen mit Bosnien geschlossen, im Laufe des Jahres 1997 kehren die ersten zurück. »Die nun sichtbare ›balkanische Morgenröte‹ müsse genutzt werden. Kinkel sagte: ›1998 muß das Jahr der Rückkehr der Flüchtlinge werden.‹ Bisher seien knapp 100 000 von insgesamt mehr als 400 000 Flüchtlingen aus Deutschland nach Bosnien zurückgekehrt.«313 Eine Rückkehr während des Krieges war nicht möglich. Die fortwährende Debatte wirkt daher, wie eine andauernde Erinnerung, dass die Rückführung kommen wird. Der Diskurs ist geprägt von einer stark deutschlandzentrierten Perspektive von Rückführung. Es steht nicht im Mittelpunkt, die Rückführung an den Bedürfnissen der bosnischen Flüchtlinge und der Lage vor Ort auszurichten, sondern diese möglichst schnell durchzuführen und dabei auch noch human zu wirken. In der SZ, in der die politischen Debatten um Rückkehr weniger aufgegriffen werden, werden diese bezeichnet als »›Politik des Psychoterrors‹ [um] die Flüchtlinge aus dem Land zu ›ekeln‹.«314 Auch in diesem Zitat werden deutliche Worte gewählt: »Inzwischen vergeht kaum noch ein Tag, an dem sich nicht irgendein Politiker mit Rückführungs-Vorschlägen zu Wort meldet. [...] In Wirklichkeit allerdings ist dies nur ein weiteres Beispiel dafür, wie bedenkenlos in diesem Land versucht wird, sich Flüchtlinge vom Hals zu schaffen. [...] So wird Stimmung gemacht gegen Menschen, die man um keinen Preis im Land haben will. Was dann vor der deutschen Haustür mit ihnen geschieht, interessiert kaum noch einen. Die Haltung ist nicht nur schäbig, sie ist im Fall der bosnischen Flüchtlinge auch ziemlich unrealistisch.«315 Im Mittelpunkt stehen die Kriterien der Rückführung und die Legitimation, warum eine Rückführung gerechtfertigt ist. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie in
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F. A. Z., »Deutschland zur Aufnahme weiterer Vertriebener bereit«. »Die erste große Gruppe der 320 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina muß aller Voraussicht nach doch nicht – wie bisher geplant – vom 1.Juli an in ihre Heimat zurück. Angesichts der unsicheren Lage (…) einigten sich die Innenminister von Bund und Ländern in Bonn auf einen Beschluß, in dem es mehrdeutig heißt, die Rückführung beginne ›frühestens ab 1.Juli 1996‹.« Ulrich Deupmann, »Bosnien-Flüchtlinge dürfen wahrscheinlich länger bleiben.« Süddeutsche Zeitung, 04.05.1996. Gennrich, »Kinkel: 1998 muß Jahr der Rückkehr nach Bosnien werden«. Schneider, »Grüne sehen ›Politik des Psychoterrors‹«. Schneider, »Ab nach Bosnien – egal, wie es dort aussieht?«.
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der FAZ die Kriterien der Rückführung, die Frage der Freiwilligkeit und Schnelligkeit sowie mögliche negative Folgen dargestellt werden. Obwohl es gar nicht in deutscher Hand liegt, wann die Flüchtlinge zurückkehren können, weil zuerst der Krieg beendet werden muss, wird dies häufig so suggeriert. Es gibt dabei Politiker*innen, die einen »›behutsamen und bedächtigen Weg‹«316 bzw. eine »humane und gestaffelte Rückkehr«317 propagieren, ohne in Frage zu stellen, dass die Rückführung kommen wird. »Es werde keine Hektik geben, da man mit Gästen auf Zeit nicht so umgehe.«318 Auf der anderen Seite wird stets betont: »Die Politik müsse das Thema endlich anpacken, ›wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß die Heimkehr der Flüchtlinge immer unwahrscheinlicher wird‹. Eine weitere ›endlose Diskussion‹ werde nur zu Kompromissen führen, die ›Unsummen verschlingen‹.«319 Hier steckt die Vorstellung dahinter, dass ein längerer Aufenthalt die Rückkehr nur schwieriger und teurer machen wird, »daß ›der Rückkehrwille mit steigender Aufenthaltsdauer sinkt‹.«320 So bewegt sich die Debatte zwischen zwei Polen: »Die Kontroverse, wieviel Druck und wieviel Geduld bei der Rückführung der Flüchtlinge nach Bosnien nötig ist, wird in Deutschland fortdauern.«321 Während aus Sicht des UNHCR die regionale und ethnische Herkunft eine entscheidende Rolle bei einer möglichen Rückkehr spielt, entwickelt Deutschland Kriterien, die sich an der familiären Situation und besonderer Härte orientieren. »Diesen ›Situationskriterien‹ haben die deutschen Innenminister mit ihren Planungen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als subjektiven Befindlichkeiten der Flüchtlinge wie Alter, Familienstand oder Gesundheit. Die ›Voraussetzung einer sich weiter stabilisierenden Lage vor Ort‹ haben sie in Artikel vier nur in allgemeiner Form genannt.«322 Dabei sollen alle Menschen, eingeteilt in verschiedenen Phasen der Rückführung und abhängig von ihrer Vulnerabilität, zurückkehren. In der ersten Phase sollen Alleinstehende und Ehepaare ohne Kinder zurückkehren, anschließend Familien mit Kindern. Als Härtefälle mit einem späteren Rückkehrdatum werden u.a. traumatisierte Frauen, Senioren ohne Angehörige, junge Menschen in Ausbildung sowie Menschen mit Beeinträchtigung gesehen.323 »Darin war ein Stufenplan verabredet worden, der verschiedene Kriterien – Alleinlebende, Familien und örtliche Herkunft – zu berücksichtigen suchte.«324 Es entsteht der Eindruck, als sei diese Rückführung sowohl klar steuerbar als auch für alle gerecht. An wenigen Stellen wird diese deutsche Perspektive hinterfragt. »Die Bedenken Frau Ogatas rühren unter anderem daher, daß es von Familienstand und Kinderzahl abhängen soll, wann jemand zurückreisen muß. Das seien die Kriterien der Deutschen. ›Wir aber richten uns viel mehr nach der Lage in Bosnien. [...] Der
Günter Bannas, »Kinkel lehnt Rückkehrprämie ab.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.1996. Mrusek, »Plan für Rückkehr bosnischer Flüchtlinge«. Ebd. KNA/AP/Reuter, »Vorhaben Kinkels abgelehnt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.1996. Bauer, »Die Heimat verloren, in Deutschland noch nicht heimisch«. Matthias Rüb, »Die meisten sind schon zurückgekehrt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1998. Schuller, »Frau Ogata bevorzugt einen flexiblen Zeitplan«. Günter Bannas, »Mitte 1997 sollen die ersten 80 000 Bosnier zurückgekehrt sein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1996. 324 Bannas, »Das ›Gastrecht auf Zeit‹ der Kriegsflüchtlinge läuft ab«.
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deutsche Plan sieht aber nicht vor, Rückführungen von der genauen Herkunft jedes einzelnen abhängig zu machen.«325 »Deshalb sei nicht daran zu denken, Flüchtlinge in dem Tempo aufzunehmen, das die deutsche Seite vorgebe.«326 Hinsichtlich der Legitimation einer schnellen Rückführung wird besonders der Wiederaufbau hervorgehoben und auch hier an deutsche Nachkriegszeiten angeknüpft. »Die Flüchtlinge würden benötigt, ihr Land wieder aufzubauen.«327 Es sei eine moralische Verpflichtung und Verantwortung, zurückzukehren. »Eigentlich, meinte er, wäre es zu erwarten gewesen, daß jeder Flüchtling am Wiederaufbau seiner Heimat mithelfen wolle und deshalb dorthin zurückkehre, sobald der Krieg zu Ende sei. Der Generalsekretär erinnerte an die Wiederaufbauleistung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. ›Wer waren denn die Trümmerfrauen?‹ fragte er rhetorisch, ›das waren ja keine portugiesischen Gastarbeiterinnen‹. [...] Nicht die Deutschen, sondern die sich bei ihnen aufhaltenden Bosnier hätten eine ›moralische Verpflichtung‹, nämlich die, dafür zu sorgen, daß ihre Kräfte und nicht zuletzt ihre in Deutschland erworbenen Fähigkeiten der Heimat zugute kämen.«328 Es dominiert dabei auch die Vorstellung, die Bosnier*innen hätten in ihrer Zeit in Deutschland Fortbildungen bekommen und sich handwerklich weiterqualifiziert. Insbesondere die Erwerbstätigen würden nun gebraucht: »Zugleich hob Kniola hervor, daß von der Grundposition, daß die bosnischen Flüchtlinge ›Gäste auf Zeit‹ seien, nicht abgehen wollte, eine Einwanderung komme nicht in Betracht. Es treffe zwar zu, daß viele der Flüchtlinge, etwa mit metallverarbeiteten Berufen, in Deutschland Arbeit gefunden hätten; gerade diese Leute würden aber für den Wiederaufbau in Bosnien benötigt.«329 In den Artikeln wird stets von freiwilliger Rückkehr gesprochen, diese beinhaltet bei Weigerung jedoch auch Zwang. »›Sollten die bosnischen Bürger aus subjektiver Furcht aber nicht zurückkehren wollen, wäre eine Abschiebung im Rahmen eines sehr sorgfältigen, ständig zu überprüfendem Prozesses unvermeidlich.‹ [...] Bei den Flüchtlingen dürfe nicht die Erwartung geweckt werden, daß sie in Deutschland bleiben könnten.«330 »Auch wenn die Bundesregierung für eine humane Rückführung eintrete, werde es letztlich nicht ohne Zwang gehen.«331 Die »Flüchtlinge würden für den Aufbau in ihrer Heimat benötigt. Vorzugsweise sollten sie freiwillig zurückkehren.«332 »Schäuble sagte,
325 Schuller, »Frau Ogata bevorzugt einen flexiblen Zeitplan«. 326 Schuller, »Wie viele Flüchtlinge können zurück?«. 327 Günter Bannas, »Bosnische Flüchtlinge sollen vorerst in Deutschland bleiben dürfen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.1996. 328 Finkenzeller, »CSU: Weniger Geld für Ausländer«. 329 Franz-Josef Kniola (SPD) war damals Innenminister in Nordrhein-Westfalen.Albert Schäffer, »Nordrhein-Westfalen will freiwillige Rückkehr fördern.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.1996. 330 Bannas, »›Bosnische Flüchtlinge erst später zurückführen‹«. 331 Hort, »Die EU-Außenminister fordern einen ›Frieden aus innerer Überzeugung‹«. 332 Bannas, »Mitte 1997 sollen die ersten 80 000 Bosnier zurückgekehrt sein«.
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man setze weiter auf Freiwilligkeit, wer sich jedoch weigere zurückzukehren, müsse im nächsten Jahr mit der Abschiebung rechnen.«333 Die SZ bringt es mit diesem Satz rückblickend auf den Punkt: »Freiwillige Rückkehr – der Begriff ist seit dem Ende des Kosovo-Krieges das Schlagwort für eine humane Lösung des Flüchtlingsproblems.«334 Es findet sich durchaus Kritik an einer schnellen Rückführung. Dabei gibt es vor allem die Befürchtung, den Konflikt durch die Flüchtlingsrückkehr zu verschärfen: »Eine unkoordinierte Rückkehr würde die angespannte Situation zwischen den ethnischen Gruppen weiter verschärfen.«335 Der hessische Landesvorsitzende Christian SchwarzSchilling (CDU) setzte sich stark gegen eine schnelle Rückführung ein: »Die Lage sei für die Rückführung von Flüchtlingen zu instabil. Bei seinen Reisen habe er zudem erfahren, daß eine ›verfrühte und schematische Rückführung‹ der Flüchtlinge eine ›kontraproduktive‹ Wirkung hätte.«336 Auch von Seiten der bosnischen Behörden gibt es Befürchtungen: »Der zuständigen Beamtin der Stadtverwaltung, Frau Hodo, wird angst und bange, wenn sie sich vorstellt, daß vielleicht noch in diesem Jahr einige tausende Vertriebene dem Rückkehrdruck des Auslands folgen und eines Tages mit ihren Forderungen auf der Schwelle stehen könnten. Das Land ist voll, der Aufbau stockt, der Frieden ist labil.«337 Des Weiteren wird gewarnt: »›Wenn das Pulverfaß explodiert, wird Deutschland Mitverantwortung an neuen Gräueltaten haben und wird sich vor dem Ansturm neuer Flüchtlingswellen nicht mehr retten können‹«338 Hier wird auf das »Pulverfass Balkan«339 Bezug genommen. Eine Umfrage des UNHCRs mit 1400 Flüchtlingen macht die Befürchtungen und Perspektiven der bosnischen Flüchtlinge selbst sichtbar, die sonst nicht Teil der Rückführungsdebatte sind. »Danach bezeichneten zwei Drittel der Befragten einen dauerhaften Frieden als die wichtigste Entscheidungshilfe. [...] Nach den allgemeinen Bedingungen für eine Rückkehr gefragt, wurden nach einem ›dauerhaften Frieden‹ (56,5 Prozent) die Achtung der Menschenrechte (16,6 Prozent) und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (12,5 Prozent) am häufigsten genannt. Zu den persönlichen Voraussetzungen zählten mit 46,8 Prozent die meisten Flüchtlinge die ›Nichtdiskriminierung/Persönliche Sicherheit‹. Es folgte die ›Rückkehr zum Vorkriegs-Lebensstandard‹ (28,8 Prozent). »»340 »Zur Zeit sähen sich etwa 25 Prozent der Flüchtlinge zu einer freiwilligen Rückkehr in 333 334 335 336 337 338 339 340
Alfred Behr, »Innenminister Schäuble kündigt Abschiebung von Flüchtlingen an.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1997. Näger, »Flüchtlinge unter Druck«. AFP/AP, »Kirchenvertreter und Politiker gegen Abschiebung von Kroaten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.1994. Bannas, »›Bosnische Flüchtlinge erst später zurückführen‹«. Schuller, »In Bosnien eint die Furcht vor den Rückkehrern die Menschen«. Albert Schäffer, »›Verantwortung endet nicht in Sarajewo‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.1997. Kiwerska, Thema: Balkan – Pulverfaß oder Faß ohne Boden? Günter Bannas, »Bedingungen für eine Rückkehr.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.1996.
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
der Lage.«341 »Als wichtigste Hinderungsgründe für eine schnelle Heimkehr werde die Angst vor einem neuen Krieg (37,5 %) genannt. An zweiter Stelle liegt mit 35,2 Prozent die Begründung, daß der Heimatort in der ›falschen‹ ethnischen Zone liege. Wirtschaftliche Gründe werden von den zur Zeit rückkehrunwilligen Flüchtlingen nur in wenigen Fällen aufgeführt.«342 Dies zeigt, dass viele der Flüchtlinge ihre Rückkehr an elementare Menschenrechte knüpfen und es weniger um finanzielle Gründe geht. Über diese Sorgen und Befürchtungen, wie etwa, dass mehr als ein Drittel angibt, aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht zurückkehren zu wollen, wird nicht berichtet. Die SZ bildet den politischen Diskurs durchaus ab, aber sehr viel weniger ausführlich als in der FAZ. Und wie oben schon beispielhaft gezeigt, findet sich massive Kritik in den Artikeln, wie beispielsweise auch in diesem Zitat: »Die Unterschriften unter den Verträgen von Dayton und Paris zum Friedensschluß in Bosnien Herzegowina waren noch nicht richtig trocken, da stand für die Innenminister aus Bund und Ländern schon fest, daß die Flüchtlinge vom Balkan jetzt ihre Koffer packen müssen. [...] Damit ist klar: Die ›Gäste auf Zeit‹ sollen Deutschland jetzt so schnell wie möglich verlassen.«343 Die Darstellung der Rückkehr in der FAZ hingegen ist geprägt von der Überzeugung, dass eine humane und gerechte Rückführung, die die Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen berücksichtigt, möglich und machbar ist.
8.5 Fazit Der Diskurs über die Bürgerkriegsflüchtlinge zeichnet sich durch ein neues Deutungsmuster aus. Seit Ende der 1970er Jahren lassen sich Asyldiskurse in die zwei grundlegenden Deutungsmuster Misstrauen oder Großzügigkeit einordnen. Der hier analysierte Diskurs knüpft zwar an das Deutungsmuster der Großzügigkeit an, zeichnet sich aber durch divergierende Selbstbilder aus. Während in der FAZ eine durchweg positive Selbstkonstruktion und die Verpflichtung zum Selbstschutz vorherrschen, wird in der SZ ein selbstkritisches Bild auf die eigene Humanität gezeichnet. Die Änderung des Asylgrundrechts ist der Beginn einer erneuten Auseinandersetzung damit, wem wir verpflichtet sind und helfen und Asyl gewähren wollen. In der FAZ wird Deutschland als Retter*in in der Not dargestellt, deren Humanität jedoch daran geknüpft ist, dass die Gäste auf Zeit wieder gehen werden. Dies ermöglicht eine für die FAZ ungewöhnliche empathische Sichtweise und Einfühlung in die Lebenssituation. Im Bild des Gastes steckt die Vorstellung einer Flüchtlingsaufnahme, die nicht auf verlässlichen Rechtsansprüchen und Bleiberecht, sondern auf der Großzügigkeit und dem Gutdünken des Gastgebers basiert. Der neue Rechtsstatus als Bürgerkriegsflüchtling wurde im Asylkompromiss vereinbart, aber erst 1997 gesetzlich klar geregelt. Dies wird in der SZ stark kritisiert und als Schutzlücke, Feigenblatt und tote Vorschrift bezeichnet.
341 Ebd. 342 Ebd. 343 Schneider, »Ab nach Bosnien – egal, wie es dort aussieht?«.
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Die Bürgerkriegsflüchtlinge werden nicht als bedrohlich, sondern als vom Leiden gezeichnet wahrgenommen. Die Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben, sind ihre zentrale Differenz zur deutschen Bevölkerung. Obwohl soziale Gruppenzugehörigkeiten wie Ethnizität, Religion und Geschlecht für Flucht und Verfolgung hier zentral werden, wird an keiner Stelle im Diskurs benannt, dass auch die Genfer Flüchtlingskonvention sich darauf bezieht. Im neuen Zuwanderungsgesetz von 2005 ist in § 60 Abs. 1 AufenthG sowohl Verfolgung aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit als auch nichtstaatliche Verfolgung als Grund für ein Abschiebungsverbot festgehalten. Dies ist auch eine Folge der Flüchtlingsaufnahme während des Jugoslawienkonflikts. Ethnizität wird im Diskurs durchgehend essentialistisch verstanden oder unsichtbar gemacht. Die verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten in Jugoslawien werden als Ursache des Krieges dargestellt und im Herkunftskontext als zentrales Merkmal hervorgehoben. Bei der Flüchtlingsaufnahme in Deutschland und in der Rückkehrpolitik werden sie plötzlich nicht mehr thematisiert. Dabei besitzt ein Drittel aller Familien in Bosnien Mehrfachzugehörigkeiten, sodass eine Rückkehr an ihren Heimatort oder in die Gebiete der eigenen ethnischen Gruppe nicht ohne weiteres möglich ist. Die klare Zuordnung der Menschen in ethnische Kategorien scheint jedoch ein solch wesentlicher Grundpfeiler des Weltbildes zu sein, dass dieser durch nichts zu erschüttern ist. Es zeigt zudem, wie Ethnisierungsprozesse wirken und je nach Kontext relevant gemacht oder instrumentalisiert werden. In der Übertragung auf Deutschland gibt es in der FAZ die Schlussfolgerung, dass eine multikulturelle Gesellschaft letztlich auch im Bürgerkrieg enden würde, da könne noch so viel Sensibilisierung und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Die beginnende Wahrnehmung von geschlechtsspezifischer Verfolgung und sexualisierter Gewalt in Kriegskontexten hingegen bewirkt ein Umdenken. Zwar dominieren Opferkonstruktionen der betroffenen Frauen und es zeigt sich im Diskurs eine Überforderung, darüber zu sprechen und wie den Frauen zu helfen ist. Der Diskurs lässt zudem keinen Raum für eine eigene Handlungs- und Bewältigungsfähigkeit. Aber Frauen werden bei der Asylgewährung nicht mehr als Anhängsel von Männern betrachtet, sondern ihre spezifischen Fluchtgründe berücksichtigt. Verfolgung aufgrund von Geschlecht wird zudem als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Es kann somit von einer Entdeckung des Geschlechts im Diskurs gesprochen werden, während hinsichtlich Ethnizität keine Dekonstruktion stattfindet, sondern das eigene Ideal eines homogenen Nationalstaats übertragen wird. Europa spielt auf zwei unterschiedlichen Ebenen eine Rolle im Diskurs. Zum einen beinhaltet sie die Aushandlung, ob und zu welchem Grad der Balkan eigentlich zu Europa gehört und welche Verantwortung sich für Deutschland aus einem Krieg in Europa ergibt. Auch hier finden Aushandlungen des Eigenen statt, da es der erste Krieg nach 1945 ist, an dem deutsche Soldat*innen beteiligt sind. Dies konnte jedoch in der Analyse nicht berücksichtigt werden. Das Sprechen über den Balkan ist von starken Grenzziehungen und symbolische Distanz geprägt, während die lange gemeinsame Migrationsgeschichte von Jugoslawien und Deutschland kaum benannt wird. Die zweite Ebene ist die zunehmende Europäisierung von Migrationspolitik, welche sich im Diskurs durch einen ständigen Vergleich mit den anderen europäischen Ländern bei der Flüchtlingsaufnahme und der Forderung nach einer europäischen Lastenteilung ausdrückt. Der europäische Vergleich dient in der FAZ der Inszenierung der deutschen Humanität, in der SZ
8. Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge und die Idee einer humanen Rückkehr
wird dies hingegen als Wettlauf der Schäbigkeit beschrieben und zumindest an einigen Stellen darauf hingewiesen, dass andere europäische Länder den Bürgerkriegsflüchtlingen ein Bleiberecht gewähren. Die kontinuierliche und inhaltlich wenig abwechslungsreiche Debatte, wer wann wie zurückkehren soll, wirkt wie eine ständige gegenseitige Versicherung der Beteiligten, dass die Menschen zurückkehren werden und wie eine unaufhörliche Erinnerung an die Betroffenen. Dass kein anderes Land eine solch kompromisslose Rückkehrpolitik betrieb, wird jedoch während der Auseinandersetzung um die Gestaltung der Rückkehr im Diskurs nicht benannt. Die divergierenden Selbstbilder bewegen sich im nächsten Kapitel nochmal stärker auseinander und wirken sich auch auf Konstruktionen der Anderen aus, sodass kurdische Flüchtlinge im Diskurs einmal als Folteropfer und einmal als terroristische Gewalttäter*innen konstruiert werden.
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9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kurd*innen zeigt, wie sehr die Wahrnehmung von Wirklichkeit und von Migration im Besonderen nationalstaatlich geprägt ist. Dies hat zur Folge, dass ethnische Gruppen ohne nationalstaatliche Rahmung weniger wahrgenommen und Minderheiten als Problem gesehen werden. Ähnlich wie im Diskurs über die Bürgerkriegsflüchtlinge berührt der Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge Fragen von Zugehörigkeit anhand von Ethnizität, Nation und Religion und reproduziert Vorstellungen vom Ideal homogener Nationalstaaten. Kurd*innen, die als Minderheit in der Türkei, im Irak, Iran und in Syrien verortet sind, waren im 20. Jahrhundert immer wieder und in allen vier Ländern Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Dies führte dazu, dass sich eine große Diaspora-Gemeinde in Europa bildete und sie eine zahlenmäßig relevante Gruppe unter den Asylsuchenden in den 1980er und 1990er Jahren in Deutschland waren. Ein Fokus des Kapitels, ausgehend von der Berichterstattung von 1993 bis 1999 liegt auf den Kurd*innen aus der Türkei, um die spezifische Situation in der Türkei, die Beziehung zwischen Türkei und Deutschland und die Aktionen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausreichend berücksichtigen zu können. In Deutschland war die gemeinsame Migrationsgeschichte und die Anwesenheit von Kurd*innen aus den verschiedenen Ländern lange unsichtbar, obwohl sie schon seit den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Eine breite Wahrnehmung von Kurd*innen aus der Türkei fand erst mit den PKK-Anschlägen Anfang der 1990er Jahre statt und ging mit einer großen Einseitigkeit einher. Bis heute gibt es nur Schätzungen über die Anzahl der Kurd*innen in Deutschland, da in den Statistiken nur die Staatsbürgerschaft erfasst wird. Dies wirft die Frage auf, was Kurdischsein eigentlich bedeutet und wer das definiert. Bereits im Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge wurde deutlich, dass die Änderung des Asylgrundrechts einen Startpunkt für einen sich diversifizierenden Diskurs über Asyl darstellte. Das auf die Grundgesetzänderung verengte Sagbarkeitsfeld weitete sich und bot Raum für neue Aushandlungen und Positionierungen. Im Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge finden sich wie in keinem anderen Kapitel gegensätzliche Deutungsmuster in den beiden Zeitungen, wodurch die Konstruktionen kaum
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Zurück zu einer (neuen) Ordnung (1994–1999)
noch Überschneidungspunkte haben. Der Asyldiskurs, der bis zur Grundgesetzänderung in beiden Zeitungen ähnliche Deutungsmuster aufwies, diversifizierte sich. Inhaltlich standen nicht mehr die Gestaltung der Aufnahme und des Asylverfahrens im Vordergrund, sondern Ablehnung und Abschiebung. Dies wird in der FAZ bekräftigt und im Deutungsmuster des Selbstschutzes mit einem Kriminalitätsdiskurs verknüpft, in der SZ wird im Deutungsmuster der Selbstkritik zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Abschiebung viel Raum in der Berichterstattung eingeräumt.
9.1 Kontextualisierung 9.1.1 Geschichte der Kurd*innen in der Türkei Um die große kurdische Diaspora in Europa und die Fluchtbewegungen in den 1990er Jahren nachvollziehen zu können, ist es notwendig, sich mit der kurdischen Geschichte im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Wie im vorangegangenen Kapitel (siehe 8.1.1) jedoch zunächst der Hinweis, dass jede Kontextualisierung bestimmte Deutungen hervorbringt und andere vernachlässigt. Bewaffnete Gruppen können als »›Freiheitskämpfer‹ oder ›Terroristen‹ beschrieben werden. Es ist eine Tatsache, dass sie kämpfen, aber was bedeutet der Kampf? Die Tatsachen allein können nicht darüber entscheiden. [...] [Wenn] wir glauben, dass sie welche sind und aufgrund dieses ›Wissens‹ handeln, werden sie tatsächlich Terroristen, weil wir sie als solche behandeln.«1 Der Fokus des Kapitels auf die kurdischen Flüchtlinge bringt jedoch eine gewisse Perspektivität mit, die die Diskriminierung der Kurd*innen aufzeigt und beim Lesen berücksichtigt werden muss. Gleichzeitig legitimiert ein Freiheitskampf nicht terroristische Mittel, sodass auch eine Einordnung der Konflikte zwischen PKK und dem türkischen Staat differenziert betrachtet werden muss. Weltweit gibt es etwa 30 Millionen Kurd*innen, die jedoch keinen eigenen Nationalstaat und keine damit verbundenen Staatsangehörigkeit besitzen, sodass die Bezeichnung als kurdisch eine Selbstbezeichnung ist. Mit dem Ende des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg hatten die westlichen Großmächte das Ziel, hinsichtlich der Bevölkerung möglichst homogene Nationalstaaten zu schaffen und dabei selbst von der Neuaufteilung z.B. beim Zugang zu Bodenschätzen zu profitieren. Während der Vertrag von Sèvres 1920 neben einem türkischen und »arabischen« auch einen kurdischen Staat vorsah, wurde dies im neu verhandelten Vertrag von Lausanne 1923 nicht mehr berücksichtigt. Folge davon war, dass die kurdischen Gebiete auf vier Nationalstaaten aufgeteilt wurden. Auch die vereinbarten Minderheitenrechte in der Türkei und die kurdische Autonomie im Irak wurden nicht umgesetzt. Im Vertrag von Lausanne wurde die nationale Zugehörigkeit aufgrund der Religionszugehörigkeit und für religiöse Minderheiten Minderheitenschutz festgelegt. Ethnische Minderheiten, wie etwa die Kurd*innen fan-
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Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität, 152.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
den hingegen keine Berücksichtigung, hier war Assimilation und ethnisch-sprachliche Homogenisierung vorgesehen.2 In der Türkei stellen die Kurd*innen die größte Minderheitengruppe dar. Etwa 10 – 20 % der Bevölkerung in der Türkei ist kurdisch. Sie lebten überwiegend in den Bergregionen im Südosten und Osten der Türkei, durch den Bürgerkrieg befindet sich jedoch mittlerweile mehr als die Hälfte außerhalb Ostanatoliens. Kurd*innen sind hinsichtlich ihrer sprachlichen, religiösen und sozialen Identität sehr divers. So gibt es drei kurdische Sprachen Kurmanci, Zaza und Soran, und sunnitische, alevitische, yezidische und christliche Kurd*innen.3 In den letzten 100 Jahren gab es immer wieder Mobilisierungen von Seiten der Kurd*innen, um mehr Rechte und Mitgestaltung zu erlangen. Diese förderten das kurdische Identitätsbewusstsein, wurden jedoch von türkischer Seite meist gewalttätig niedergeschlagen. Höhepunkte vor dem lang andauernden Konflikt in den 1980er und 1990er Jahren stellten der Scheich-Said-Aufstand 1925 und der Dersim-Aufstand 1937/38 dar.4 In den Zwischenphasen wurde das Kurdischsein wieder stärker im Privaten oder als passiver Widerstand gelebt, was dazu führte, dass sich die kurdischen Gastarbeiter*innen aus der Türkei in den 1960er und 1970er Jahren selbst selten als Kurd*innen wahrnahmen. Die Politisierung und Selbstethnisierung in der Diaspora stand somit im engen Zusammenhang mit den gewalttätigen Konflikten und den eingeräumten Minderheitenrechten in der Türkei.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich durch die stärkere Demokratisierung der Türkei mehr Möglichkeiten der politischen Partizipation. Für Kurd*innen bedeutete dies jedoch, dass sie die eigene kurdische Identität verschweigen mussten. Die Existenz von Kurd*innen in der Türkei sollte nicht öffentlich thematisiert werden. Der Abgeordnete Şerafettin Elçi wurde 1980 zu einer 15-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, jedoch nach zwei Jahren wieder frei gelassen, weil er öffentlich sagte, dass es Kurd*innen in der Türkei gebe und er selbst Kurde sei.6 Im selben Jahr verstärkte sich nach dem Militärputsch die Verfolgung und Diskriminierung der Kurd*innen, die im sogenannten Anti-Terror-Gesetz von 1983 auch das Verbot der kurdischen Sprachen beinhaltete. In der neuen Verfassung wurde der exklusive Nationalismus bestärkt, in der das Territorium und die Nation als untrennbare Einheit und die grundlegende Pflicht des Staates diese
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Moritz Mihatsch, »Kurdenkonflikt.« Dossier Kriege und Konflikte, zuletzt geprüft am 30.06.2022, https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54641/kurdenkonflikt/#n ode-content-title-1; Arndt Künnecke, Minderheitenschutz in Ungarn und der Türkei: Eine vergleichende Studie zum Umgang mit Trianon-Trauma und Sèvres-Syndrom, 1st, New ed. (Frankfurt a.M: Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2015), 80–88; Ismet C. Vanly, »Der Lausanner Vertrag und das Schicksal des kurdischen Volkes.« Kurdistan heute, Nr. 7 (1993), zuletzt geprüft am 30.06.2022, www.navend.de/publikationen/kurdistan-heute/kurdistan-heute-nr-7-septemberoktober-1993/der-lausanner-vertrag-und-das-schicksal-des-kurdischen-volkes/. Künnecke, Minderheitenschutz in Ungarn und der Türkei, 85; Yeşim Arat und Şevket Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism (Cambridge, United Kingdom, New York, NY: Cambridge University Press, 2019), 164. Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 164. Birgit Ammann, Kurden in Europa: Ethnizität und Diaspora, Kurdologie 4 (Münster: LIT, 2001), Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000, 194. Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 165.
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Unteilbarkeit zu wahren, verankert wurden. 1984 begannen die bewaffneten Konflikte zwischen der PKK und dem türkischen Staat.7 Die Arbeiterpartei Kurdistans, auf kurdisch Partiya Karkerên Kurdistanê (PKK) wurde 1978 von Abdullah Öcalan und seinen Mitstreiter*innen gegründet. Öcalan kam aus einer armen Familie, hatte in Ankara Politikwissenschaften studiert und saß nach linken Studierendenprotesten 1971 einige Monate im Gefängnis. Die PKK sollte aus seiner Sicht kurdisches Identitätsbewusstsein mit sozialistischen Ideen verbinden. Ziel war es, durch einen bewaffneten Befreiungskampf einen kurdischen Staat innerhalb der türkischen Grenzen zu etablieren und anschließend andere Regionen zu integrieren. Für ihn stellte die Diskriminierung und Unterdrückung der Kurd*innen eine Form der Kolonialisierung dar. Obwohl die PKK klein begann, konnte sie durch Kooperationen relativ schnell viele Anhänger*innen und finanzielle Ressourcen mobilisieren. Der Befreiungskampf nahm ab 1984 terroristische Züge an und beinhaltete Entführungen, Morde und Selbstmordattentate sowie Angriffe auf staatliche Institutionen, Polizei, Schulen und Tourist*innen. Die türkische Regierung reagierte darauf mit Gegengewalt, mit Gefängnis und Folter für PKK-Anhänger*innen und Luftangriffen in den kurdischen Gebieten. Die Folge des gewaltsamen Konfliktes waren mehr als 40.000 Tote, 3.500 zerstörte Dörfer und von 1980 bis 2017 mehr als eine Million Binnenvertriebene aus der Osttürkei. Die Flucht der Kurd*innen in die Städte im Westen des Landes bedeutete nicht nur den Verlust der meist landwirtschaftlichen Existenzgrundlage, sondern auch erneute Diskriminierungserfahrungen beim Zugang zu Wohnung, Arbeit und Bildung. Erst nach der Festnahme Öcalans, dessen Personenkult im Laufe der 1990er Jahre religiöse Züge annahm, kam es 1999 zu einem Waffenstillstand.8 Es kam jedoch nicht zu einer politischen und langfristigen Lösung der sogenannten Kurdenfrage.9 Bis heute ist diese Frage unbeantwortet und hat in den letzten 20 Jahren zu politischen und gewaltsamen Auseinandersetzungen in den vier Staaten beigetragen: »Dass der Kurdenkonflikt bis heute virulent ist, liegt hauptsächlich daran, dass keiner der vier Staaten wirkliche Anstrengungen unternommen hat, die Kurden in den Zentralstaat, die Staatsidee und die nationale Identität einzubinden. Dazu hat aber auch der nationale Selbstbehauptungswille der Kurden beigetragen.«10 Die Gewalt der PKK bewirkte auf der einen Seite eine große öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation der Kurd*innen in der Türkei und auf internationaler Ebene.
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Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 173–74. Gülistan Gürbey, »Die Kurdenpolitik der AKP-Regierung zwischen türkischnationalistischislamischer Staatsideologie, Liberalisierung und Populismus.« In Die Türkei im Wandel: Innen- und außenpolitische Dynamiken, hg. v. Olaf Leiße, 1. Aufl., Jenaer Beiträge zur Politikwissenschaft 16 (BadenBaden: Nomos, 2013), 299–301; Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 165–72. Der Begriff Kurdenfrage verknüpft die Kurd*innen mit einer offenen Frage, einem Problem oder Konflikt, während die Rolle der anderen Konfliktparteien unsichtbar bleibt (siehe auch 9.3.3).Siegfried Quandt, »Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien – Die Berichterstattung der Printmedien und Fernsehsender im März/April 1995.« In Kurden und Medien: Ein Beitrag zur gleichberechtigten Akzeptanz und Wahrnehmung von Kurden in den Medien, hg. v. NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Navend-Schriftenreihe 14 (Bonn, 2004), 111. Mihatsch, »Kurdenkonflikt«.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
Gleichzeitig verhinderte sie die Entwicklung politischer Alternativen und bewirkte, dass Kurd*innen häufig sehr einseitig als PKK-Anhänger*innen und Terrorist*innen wahrgenommen wurden.11 Bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa durch Premierminister Turgut Özal (1989–1993) wurde der Umgang mit den Kurd*innen dadurch nicht als politisches Problem von Minderheitenrechten gesehen, sondern ausschließlich als militärisches oder terroristisches Problem betrachtet. Eine Tendenz, die sich in den 1990er Jahren auch in Europa fortsetzte. Dies erschwerte die Arbeit von pazifistischen kurdischen Bewegungen, die sich für mehr politische Beteiligungsmöglichkeiten einsetzten. Von 1990 bis 1994 waren prokurdische Parteien bzw. einzelne Abgeordnete im türkischen Parlament vertreten, diese durften sich jedoch nicht öffentlich zur kurdischen Idee bekennen und mussten auch immer wieder mit Verboten und Separatismusvorwürfen kämpfen. 1994 wurde die politische Immunität von 13 prokurdischen Abgeordneten der Demokratiepartei (DEP) aufgehoben, sieben davon wurden verurteilt und kamen wie beispielsweise Leyla Zana 15 Jahre in Gefängnis. Es sollte bis 2007 dauern, bis eine prokurdische Partei wieder im Parlament vertreten war. Doch auch türkische und kurdische Gruppen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie Menschenrechtsorganisationen setzten sich für die Suche nach politischen Lösungen ein. Kurdische Printmedien und Fernsehsender entwickelten sich in der Türkei und in der europäischen Diaspora, hatten jedoch auch mit Terrorismusvorwürfen und Verboten zu kämpfen, sodass sie sich nicht dauerhaft etablieren konnten.12 Die gewalttätigen Konflikte trugen zum Erstarken eines kurdischen Bewusstseins und zu einer Politisierung bei. Das Neujahrsfest Newroz beispielsweise war lange lediglich ein kulturelles Fest gewesen. Als 1992 beim Feiern des Neujahrsfestes fünfzig Personen in Auseinandersetzungen mit der türkischen Polizei getötet wurden, wurde es in der Türkei und in der Diaspora zu einem politischen Fest und zum Symbol der Hoffnung auf Befreiung. Nach 2000 entwickelte sich zunehmend unter den Kurd*innen, die in den türkischen Metropolen aufwuchsen und mehr Zugang zu formaler Bildung hatten, alternative und künstlerische Formen des Widerstands.13 ES begann ein langsamer gesellschaftspolitischer Transformationsprozess mit mehr Minderheiten- und politischen Beteiligungsrechten.14
9.1.2 Kurd*innen in Deutschland Die Beschäftigung mit Kurd*innen in Deutschland zeigt die Gefahr der Homogenisierung und Vereinfachung und macht die Notwendigkeit einer »Entmigrantisierung
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Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 180. Ebd., 166–74; Siehe auch: Selahattin Çelik, »Den Berg Ararat versetzen«: Die politischen, militärischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Dimensionen des aktuellen kurdischen Aufstands, 1. Aufl. (Frankfurt a.M: Zambon Verlag, 2002), 37–46; M. Selim Çürükkaya, PPK: Die Diktatur des Abdullah Öcalan (Frankfurt a.M.: Fischer, 1997), 248–55; Tobias Huch, Kurdistan: Wie ein unterdrücktes Volk den Mittleren Osten stabilisiert, 1. Auflage (München: riva, 2019), 73–86. Arat und Pamuk, Turkey between Democracy and Authoritarianism, 176–82. Gülistan Gürbey, »Die Kurdenpolitik der AKP-Regierung zwischen türkischnationalistischislamischer Staatsideologie, Liberalisierung und Populismus.« In Die Türkei im Wandel, 301–4.
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der Migrationsforschung«15 und eine Überwindung »methodologischer Ethnizität«16 deutlich, welche sich in Erforschung vermeintlich homogener Migrant*innengruppen erschöpft. Da Kurd*innen nicht in Kategorien von Staatsbürgerschaft erfasst werden und damit nicht in die Schemata nationalstaatlichen Denkens und Handelns passen, stellt sich umso mehr die Frage, wer definiert anhand von welchen Kriterien, wer kurdisch ist. Wird Kurdischsein als Selbstbezeichnung zu Grunde gelegt, wären umfassende Forschungen notwendig, um Aussagen über Kurd*innen machen zu können.17 Und selbst dann ist fraglich, welche Aussagen sich über eine Gruppe machen lassen, die sozial, kulturell, religiös, sprachlich und herkunftsbezogen sehr divers ist und wie sinnvoll es ist, Migrationsprozesse durch nationale und ethnische Linsen zu betrachten.18 Ziel von Migrationsforschung kann es nicht sein, durch eine »nach Herkünften sortierte ›Migrantologie‹ unterschiedlicher Ethno-Communities« eine weitere Variante einer immer gleichen Geschichte zu erzählen, die Migration am Rand und die »(weiße) sesshafte Nation im Zentrum«19 verortet. Stattdessen sollen diese wechselseitigen Konstruktionsprozesse in den Blick genommen werden und im Sinne der Forderung »Gesellschaftsforschung zu migrantisieren«20 die Bedeutung von Migration für gesellschaftliche Transformationsprozesse betrachtet werden. Dieses Unterkapitel fokussiert nun wichtige Ereignisse in der kurdisch-deutschen Migrationsgeschichte und damit verbundene Schwerpunkte und Leerstellen in Öffentlichkeit und Wissenschaft. Ausgangspunkt ist die Konstruktion von Kurd*innen in den beiden Zeitungen als eine besonders markierte Gruppe. Die Kurd*innen verbindet mit Deutschland eine lange Migrationsgeschichte. Deutschland ist in der EU das Land, in dem die meisten Kurd*innen leben und die Kurd*innen sind nach den Türk*innen die zweitgrößte Zuwanderungsgruppe in Deutschland. Da die Bevölkerungsstatistik in Deutschland jedoch keine Ethnizität erfasst, gibt es bis heute nur Schätzungen, wie viele Kurd*innen sich in Deutschland befinden. In den 1990er Jahren waren dies etwa 500.000 – 600.000 in Deutschland, insgesamt in Europa etwa eine Million, heute leben durch die vermehrte Fluchtwanderung aus Syrien vermutlich etwa 800.000 Kurd*innen in Deutschland. Der Krieg in Syrien führte erneut zu einer verstärkten Wahrnehmung von Kurd*innen in Deutschland wie beispielsweise durch die Situation im Autonomen Gebiet Rojava in Syrien.21 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die punktuelle und einseitige Wahrnehmung und
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Manuela Bojadžijev und Regina Römhild, »Was kommt nach dem ›transnational turn‹? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung.« In Vom Rand ins Zentrum, 11. Glick-Schiller, »Beyond Methodological Ethnicity: Local and Transnational Pathways of Immigrant Incorporation«. Ammann, Kurden in Europa, 16–18. Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 24. Manuela Bojadžijev und Regina Römhild, »Was kommt nach dem ›transnational turn‹? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung.« In Vom Rand ins Zentrum, 10. Ebd., 11. Rosa Burç et al., Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei, 1. Auflage, hg. von Ismail Küpeli (Münster: edition assemblage, 2019).
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
große Unsichtbarkeit ein wesentliches Element der deutsch-kurdischen Migrationsgeschichte ist. Da Kurd*innen nicht in nationale Kategorien erfasst werden können, gab es lange Zeit weder ein Bewusstsein über ihre Anwesenheit noch eine öffentliche oder wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber. Die gewalttätigen Aktionen der PKK in den 1990ern trugen zu einer großen Sichtbarkeit bei, waren jedoch stark von einseitigen Zuschreibungen geprägt. Bis heute gibt es nur eine Handvoll empirischer Studien über Kurd*innen in Deutschland aus den letzten dreißig Jahren. Dies bedeutete migrationspolitisch gesehen auch weniger Förderung von Beratung in den kurdischen Sprachen oder von Selbstorganisationen.22 Die kurdische Migration nach Deutschland nach 1945 lässt sich in drei Phasen einteilen. In den 1950er Jahren war dies vor allem eine privilegierte Migration von Studierenden, die bereits europäische Netzwerke aufbauten, wie etwa 1949 die »Vereinigung kurdischer Studenten in Europa« in der Schweiz. Ab 1961 kamen Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei nach Deutschland, die eher aus ländlichen Gegenden kamen. Vermutlich lag der Anteil der Kurd*innen bei mindestens 20 – 25 %. Die türkische Regierung förderte die kurdische Migration, beispielsweise nach den Erdbeben im Osten der Türkei 1967/68 wurde vielen Kurd*innen empfohlen, nach Deutschland zu gehen. In dieser Phase gab es wenig ausgeprägtes kurdisches Identitätsbewusstsein, viele versuchten vielmehr ihre kurdische Identität zu verstecken, was neben der separierenden Unterbringung dazu beitrug, dass sie von der deutschen Bevölkerung nicht als Kurd*innen wahrgenommen wurden. In der dritten Phase in den 1980er und 1990er Jahren kamen Kurd*innen auch aus dem Irak und Iran als Asylsuchende nach Deutschland. Dabei spielte sowohl der Anwerbestopp 1973 eine Rolle, da es kaum eine andere Möglichkeit gab, als über Asyl nach Deutschland zu kommen, als auch die sich verstärkende Verfolgung und Unterdrückung in den Herkunftsländern, wie beispielsweise durch den ersten Golfkrieg, den damit verbundenen Giftgasangriff 1988 in Halabja im Irak und den Militärputsch 1980 in der Türkei.23 Die zunehmende Verfolgung und Flucht in andere Länder verstärkte die kurdische Selbst- und Fremdwahrnehmung. Auch wenn die Migrationsmotive in den drei Phasen und aufgrund der großen Diversität innerhalb der kurdischen Zuwanderer*innen sehr verschieden waren, kann davon ausgegangen werden, dass Diskriminierungserfahrungen in allen Phasen relevant waren. Diese zeigten sich nicht nur als direkte Gewalt, sondern auch als ein fehlender Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit in den jeweiligen Herkunftsländern.24 Die genaue Zahl der kurdischen Flüchtlinge, die in den 1980er und 1990er Jahren nach Deutschland kamen, ist nicht bekannt. Selbst bei vorsichtigen Schätzungen wird von mehr als 200.000 Kurd*innen ausgegangen. Diese leiten sich aus den Asylzahlen
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Kenan Engin, »Kurdische Migrant_innen in Deutschland.« In Kurdische Migrant_innen in Deutschland: Lebenswelten – Identität – politische Partizipation, hg. v. Kenan Engin (Kassel: Kassel University Press GmbH, 2019), 5–9; Ammann, Kurden in Europa, 138. Kenan Engin, »Kurdische Migrant_innen in Deutschland.« In Kurdische Migrant_innen in Deutschland, 9–11; Ammann, Kurden in Europa, 117–32. Kenan Engin, »Kurdische Migrant_innen in Deutschland.« In Kurdische Migrant_innen in Deutschland, 11–4.
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aus der Türkei und dem Irak ab. Aus der Türkei stellten 330.000 in diesem Zeitraum einen Asylantrag, aus dem Irak etwa 60.000, die Anerkennungsquote lag durchschnittlich bei etwa 10 %. Der Anteil der Kurd*innen aus beiden Ländern wurde auf etwa 60 % geschätzt, Beratungsstellen zu Asyl und für Opfer von Folter gaben den Anteil sogar mit 80 – 90 % an. Im Kirchenasyl befanden sich aus der Türkei und dem Irak in den 1990er Jahren fast ausschließlich Kurd*innen. Die kurdischen Flüchtlinge stellten vor allem in den 1990er Jahren eine der größten Gruppen bei der Asylantragsstellung dar.25 Im Folgenden soll anhand einer Studie von Birgit Ammann aus den 1990er Jahren darauf eingegangen werden, welche Bedeutung kurdische Identität für Kurd*innen in Deutschland hatte und welche Faktoren diese beeinflussten.26 Alle Interviewpartner*innen aus der Türkei, dem Irak und Iran stellten eine Verbindung zwischen ihrem persönlichen ethnischen Zugehörigkeitsgefühl und der Erfahrungen von Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung her, unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer in Deutschland. Diskriminierung stellte ein identitätsstiftendes Merkmal dar und wurde in der kurdischen Identität verbunden mit Widerstand, Nationalismus, Unterstützung, Schutz oder Schuldgefühlen. Dabei war es bei den interviewten Personen neben einer kollektiv erinnerten Verfolgung auch immer eine persönliche Betroffenheit. Fast alle berichteten von eigenen Gewalterfahrungen oder jenen in der engsten Familie wie Haft, Misshandlung, Aggression, Verlust von Familienangehörigen und Vertreibung. Bei yezidischen und alevitischen Kurd*innen kamen Diskriminierung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit dazu. Die eigene ethnische Wahrnehmung und Zugehörigkeit änderten sich in der Migration. Während Kurd*innen im Irak, Iran und Syrien meist schon bei der Zuwanderung eine klare ethnische Selbstkonzeption hatten, entwickelte sich diese bei den Kurd*innen aus der Türkei teilweise erst durch und mit der Migration. So wurde einer Interviewpartnerin mitgegeben: »Sag nicht, dass du Kurde bist, aber vergiss es nie!«.27 80 % der Kurd*innen in Deutschland gaben 1995 an, ihnen sei ihr Kurdischsein wichtig.28 Vor allem in urbanen Räumen konnten Kurd*innen nach ihrer Ankunft in Deutschland auf ethnische Netzwerke und Infrastruktur zurückgreifen, wie etwa Beratungsstellen, Übersetzungsbüros, Restaurants, Fachärzt*innen, Kulturangebote und Geschäfte, was zur Selbstwahrnehmung und zum Selbstbewusstsein beitrug. Auch die polarisierte Berichterstattung in der Öffentlichkeit in den 1990er Jahren beeinflusste eigene Ethnisierungsprozesse. Gleichzeitig relativierten manche Interviewpartner*innen ihre kurdische Zugehörigkeit, die in einer Phase der Identitätssuche eine wichtige Rolle gespielt habe, nun aber weniger relevant sei. Die Beschäftigung mit der kurdischen Zugehörigkeit zeigt zum einen, dass sie nicht in ein System zu passen scheint, das von nationalstaatlichem Denken und Handeln durchdrungen ist. Zum anderen wird deutlich, dass Ethnizität und in diesem Fall Kurdischsein sich weder objektiv bestimmen lässt noch ausschließlich eine freiwillige Selbstbezeichnung ist. Kurdischsein bedeutete für die Interviewten unter anderem eine Bezug-
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Ammann, Kurden in Europa, 132–33. Ammann, Kurden in Europa. Ebd., 181–86. İlhan Kızılhan, Hg., Der Sturz nach oben: Kurden in Deutschland; eine psychologische Studie (Frankfurt a.M.: Medico International, 1995).
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
nahme auf bestimmte Herkunftsregionen und Traditionen und ein kollektives Bewusstsein für aktuelle und historische Diskriminierungserfahrungen.29
9.1.3 Umgang mit der PKK in Deutschland Im politischen und juristischen Umgang mit der PKK in Deutschland vermischten sich die Themen innere Sicherheit, Ausweisung und Asyl. Die Einstufung der PKK als terroristische Vereinigung ging einher mit Aushandlungen, inwiefern das Recht auf Asyl und Schutz vor Folter bei PKK-Anhänger*innen eingeschränkt werden darf. Die Verknüpfung von Kurd*innen und Gewalt prägte die öffentliche Wahrnehmung und den Umgang mit allen Kurd*innen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die innere Sicherheit sowohl in der Bundestagswahl 1994 von den Unionsparteien als Thema platziert wurde als auch im Prozess der Europäisierung und beim Abbau von Binnengrenzen stark im Fokus stand. Die innere Sicherheit verknüpfte sich dann durch die Anschläge der PKK mit den Kurd*innen.30 Kurdische Gruppen nutzten die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit in verschiedenen europäischen Ländern, um sich für Menschenrechte und Selbstbestimmung in den Herkunftsländern einzusetzen. Die politischen Ziele und Mittel waren dabei sehr unterschiedlich. Der Verband der Vereine aus Kurdistan in Deutschland e.V. (KOMKAR), wurde als einer der größten Verbände 1979 gegründet und setzte sich für die Beendigung des Bürgerkrieges und Demokratisierung in der Türkei sowie für ein friedliches Zusammenleben und Dialog unter deutschen, türkischen und kurdischen Einwohner*innen in Deutschland ein.31 Die PKK war in der medialen Weltöffentlichkeit – auch aufgrund ihrer Gewalttätigkeit – die präsenteste Gruppe.32 Bereits 1985 gründete die PKK die Nationale Befreiungsfront Kurdistan (ERNK), ihren europäischen Ableger und baute eine hierarchische Struktur in den Aufnahmeländern auf, akquirierte dort neue Mitglieder, Spenden und laut Vermutungen auch Schutzgelder. Schätzungen gehen von 3.500 bis 9.600 PKK-Mitgliedern in Deutschland vor 1993 aus.33 Terrorismus, wörtlich übersetzt Schreckensherrschaft hat aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive drei Kennzeichen: Gewalt, psychologische Wirkung und politische Motivation. Es wird definiert als »politisch motivierte Gewalt meist einer relativ 29 30 31
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Ammann, Kurden in Europa, 381–86. Jürgen Maier, »Eine freigeräumte Autobahn ist noch keine Außenpolitik.« Kurdistan heute, Nr. 10 (1994). Ilja Mertens, »Von einer ›Inneren Angelegenheit‹, die auszog, Europa das Fürchten zulehren. Transstaatliche politische Mobilisierung und das ›Kurdenproblem‹.« In Transstaatliche Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei, hg. v. Thomas Faist, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2000), 182–3. Julia Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie: Verbieten oder Nicht-Verbieten?, 1. Aufl., Extremismus und Demokratie 22 (Baden-Baden: Nomos, 2012), Zugl.: Chemnitz, Univ., Diss., 2011, 200. Bundesamt für Verfassungsschutz, Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (Köln, 2019), zuletzt geprüft am 01.08.2022, https://www.verfassungsschutz.de/embed/broschuere-2019-02-arbeiterpartei-kurdi stans-pkk.pdf, 14; Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 120 Ilja Mertens, »Von einer ›Inneren Angelegenheit‹, die auszog, Europa das Fürchten zulehren. Transstaatliche politische Mobilisierung und das ›Kurdenproblem‹.« In Transstaatliche Räume, 185.
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schwachen und hierarchisch organisierten Gruppe, die aus dem Untergrund erfolgt, mit der Absicht psychische Wirkung auf weit mehr Personen als die Opfer zu haben«.34 Diese psychologische Wirkung der Gewalt, die sich als Angst vor einer weiter zunehmenden und eskalierenden Gewalt ausdrückt, ist in der Analyse zu finden (siehe Kapitel 9.4.2). Die PKK nutzte in Deutschland gewalttätige und terroristische Methoden, um ihre Ziele zu erreichen. Nach der Deutschen Einheit nahmen diese rasch zu und erreichten bis zu 50 Anschläge am Tag, die sich gegen türkische Einrichtungen und Geschäfte richteten, aber auch Autobahnbesetzungen, Geiselnahmen und Selbstverbrennungen beinhalteten. Diese wurden als Kurdenkrawalle oder auch als Nebenschauplatz des Bürgerkrieges bezeichnet. Den zahlenmäßigen Höhepunkt erreichten die Anschläge 1993, woraufhin im November 1993 die PKK und 35 damit in Verbindung stehenden Organisationen als terroristische Vereinigungen verboten wurde. In den Jahren danach folgten weitere Verbote von über 50 Gruppierungen, darunter auch kurdische Eltern- und Kulturvereine, denen vorgeworfen wurde, die PKK zu unterstützen. Es gab wenige Organisationen, die in der Bundesrepublik so umfassend verboten wurden.35 Das Vereinsverbot ermöglichte unter anderem das Verbot von Versammlungen und Demonstrationen in Deutschland und die Ausweisung von PKK-Anhänger*innen. Ob eine Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft ausgewiesen werden kann, ist dabei von zwei Aspekten abhängig. Zum einen muss diese Person die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik gefährden, beispielsweise durch eine staatsgefährdende Gewalttat. Zum anderen muss überprüft werden, ob der Person bei Ausweisung Gefahr für Leib und Leben im Herkunftsland droht, beispielsweise durch Folter oder Todesstrafe. Sollte dies der Fall sein, müssen andere Mittel im Inland genutzt werden, um die Gefahr abzuwenden. Es gibt unterschiedliche Deutungen dazu, ob das Ausweisungsrecht generalpräventive Absichten zulässt bzw. sogar als Migrationssteuerungsmöglichkeit genutzt werden kann. Ausweisung kann daher nicht nur als Gefahrenabwehrrecht betrachtet werden, sondern ist auch immer eine politische Entscheidung.36 Der Einsatz gegen Folter und der Schutz von Menschen, die davon bedroht waren, wurde zwar als gesellschaftlicher Konsens präsentiert, bildete sich in der Realität aber so nicht ab. Obwohl sich aus dem Grundgesetz ein Abschiebungsverbot ergibt, wenn im Herkunftsland Folter droht, wurde der Schutz vor Folter unterschiedlich ausgelegt. Besonders in den 1980er Jahren erhielten viele Asylsuchende keinen Schutz trotz Bedrohung von Folter. 1983 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass politische Motive der Folterabsicht zu Grunde liegen müssten, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erhalten. Wenn von Seiten des Verfolgerstaates Folter als strafrechtliche Ermittlung eingesetzt würde, um die Verfassungs- und Gesellschaftsordnung zum Beispiel vor kurdischem Separatismus zu schützen, bestehe kein Anspruch auf Schutz. Die menschenrechtliche Situation, die sich für die Kurd*innen nach dem Militärputsch von 1980 in der Türkei massiv verschlechterte, blieb asylrechtlich in Deutschland in den 1980er Jahren nahezu bedeutungslos. Erst 1989 wurde diese klare Trennung zwischen Folteropfern und
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Andrea Kießling, Die Abwehr terroristischer und extremistischer Gefahren durch Ausweisung, 1. Auflage 2012 (Online-Ausg.) (Baden-Baden: Nomos Verlag, 2012), 112. Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 204–5. Kießling, Die Abwehr terroristischer und extremistischer Gefahren durch Ausweisung, 446–51.
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politisch Verfolgten vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Die Gründe, warum eine Bedrohung von Folter besteht, seien nachrangig. In den 1990er Jahren wurde Folter zwar als Asylgrund anerkannt, es musste jedoch die individuelle Bedrohung von Folter nachgewiesen werden. Dabei reichten bereits gemachte Foltererfahrungen als Nachweis nicht aus, bei Abschiebung erneut von Folter bedroht zu sein.37 Das verfassungsrechtliche Verbot, das im gleichen Zeitraum wie viele Verbote gegen rechtsextremistische Organisationen ausgesprochen wurde, war in Deutschland umstritten. Es gab eine große Solidarität in linken Kreisen bis in den Bundestag, die es der PKK auch ermöglichten, ihre Aktivitäten unter anderen Organisationen fortzuführen. Zur Verbotspraxis mag auch die politische Umbruchsituation der BRD nach der Deutschen Einheit beigetragen haben, in der Symbole der Stärke gesucht wurden und ein Nichtverbot wie fehlende Handlungsfähigkeit gewirkt hätte.38 Während bereits die Gewaltaktionen zu einem Entfremdungsprozess zwischen Kurd*innen und Türk*innen führten, und sich die Türk*innen nicht ausreichend vom deutschen Staat geschützt fühlten, sahen viele Kurd*innen das PKK-Verbot als Beweis für Diskriminierung an und fühlten sich, auch aufgrund der deutschen Waffenlieferungen in die Türkei, im Stich gelassen. Das Verbot wirkte sich direkt oder indirekt auf alle kurdischen Organisationen in Deutschland aus, sei es durch Verbote von einzelnen Aktivitäten oder durch zunehmendes Misstrauen von Behörden und Öffentlichkeit. 1996 gelobte die PKK Gewaltlosigkeit, die Zahl der Anschläge, die 1995 noch 261 betragen hatten, reduzierte sich auf 4 im Jahr 1996.39 Daher war es nicht das verfassungsrechtliche Verbot, sondern die PKK selbst, die die Gewalt reduzierte.
9.2 Beschreibung des Diskurses 9.2.1 Konstruktionen von Kurd*innen als Opfer und Täter*innen Die Deutungsmuster und Zuschreibungen, die sich über Kurd*innen im deutschen medialen Diskurs finden lassen, veränderten sich im Laufe der Jahrzehnte. Dennoch sind sie fast durchgehend stereotyp und einseitig. Es gibt nur wenige Studien, die sich mit dem Bild von Kurd*innen im kollektiven Gedächtnis, in Gesellschaft und Medien in Deutschland beschäftigen.40 Hervorzuheben ist der Herausgeberband von NAVEND 37
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Bertold Huber, »Legitimation der Folter in der Rechtssprechung zum Asylrecht.« Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik 16, Nr. 2 (1983); Michael Maier-Borst, »Folter – Außenpolitische Ächtung versus innenpolitische ›Zurückhaltung‹ in der Bundesrepublik.« Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik 30, Nr. 3 (1997); Gesa Anne Busche, Über-Leben nach Folter und Flucht: Resilienz kurdischer Frauen in Deutschland, Kultur und soziale Praxis (s.l.: transcript Verlag, 2014), 96. Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 505–15. Gülistan Gürbey, »Von der Konfrontation zum Dialog? Perspektiven des Zusammenlebens von Kurden, Türken und Deutschen.« Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11 (1998). Siegfried Quandt, Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien: Die Berichterstattung der Printmedien und Fernsehsender im März/April 1995, Deutschland & Türkei 1 (Gießen: Fachjournalistik Justus-Liebig-Universität, 1995); Ammann, Kurden in Europa; NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Hg., Kurden und Medien: Ein Beitrag zur gleichberechtigten Akzeptanz
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e.V., dem Zentrum für kurdische Studien, der 2004 unter dem Titel »Kurden und Medien« erschien. Trotz der fragwürdigen Intention, dass es möglich sei, ein reales Bild über Kurd*innen zu vermitteln und zur »gleichberechtigten Akzeptanz und Wahrnehmung von Kurden in den Medien« beizutragen41 , gibt der Band einen Einblick in die wichtigsten historischen Konstruktionen über Kurd*innen. Grundsätzlich lassen sich vier Konstruktionen unterscheiden: Kurd*innen als Andere in Bezugnahme auf Karl Mays Roman »Durchs wilde Kurdistan«, Kurd*innen als Unsichtbare bzw. Türk*innen, Kurd*innen als Opfer und Kurd*innen als Täter*innen. Des Weiteren spielen die Begriffe Kurdenfrage, Kurdenproblem und Kurdenkonflikt eine Rolle in der Konstruktion. Die ersten Bilder, die von Kurd*innen in der deutschen Gesellschaft präsent waren, beziehen sich auf Karl Mays Roman »Durchs wilde Kurdistan«, der 1892 erschien.42 Vor allem männliche Kurden erscheinen dort als wild, kriegerisch, streitbar, unzivilisiert, ursprünglich und stolz. Sie symbolisieren das Unbekannte, ganz Andere, Geheimnisvolle genauso wie den edlen Wilden, der den Kontakt zur Natur noch nicht verloren hat. Obwohl Karl May selbst niemals in Kurdistan war, hatten diese Beschreibungen eine große Wirkmächtigkeit. Auch aufgrund ihrer fehlenden nationalstaatlichen Repräsentation behielten sie lange Zeit die Aura des Mystischen, fast Surrealem. Als anknüpfend an diese Bilder kann auch die Zuschreibung der Kurd*innen als schlecht integrierbar, wenig angepasst und ohne formale Bildung gesehen werden.43 Die erste Anwesenheit einer größeren Anzahl von Kurd*innen als Gastarbeiter in Deutschland war geprägt von einer Unsichtbarkeit bzw. der Reproduktion der türkischen Sichtweise, alle ihre Staatsbürger*innen seien ausschließlich Türk*innen. Sie wurden dadurch vor allem anhand ihrer Staatsbürgerschaft wahrgenommen und waren mit den gleichen Zuschreibungen wie Türk*innen in Deutschland konfrontiert.44 Erst Anfang der 1980er Jahre wurde die Existenz von Kurd*innen in Deutschland langsam öffentlich wahrgenommen. Kurd*innen wurden stärker als Opfer von repressiver Politik ihrer Herkunftsländer repräsentiert.45 Dazu trugen unter anderem die Diskussion um Folter in der Türkei und der Suizid von Kemal Altun 1983 bei. Kemal Altun stürzte sich aus dem Gerichtsgebäude, um seiner Abschiebung zu entgehen. Es gibt die Vermutung, dass Kemal Altun Kurde war (siehe Kapitel 3.1.3). Sein Suizid war ein wichtiger Anstoß für den Beginn der Kirchenasylbewegung in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin. Weitere wichtige Ereignisse waren die Anfal-Operation im Irak und der Giftgas-Anschlag in Halabja 1988. In den 1990er Jahren wurde die Eigenständigkeit der Kurd*innen in Deutschland immer mehr anerkannt, was auch ein Beschluss des Bundestages 1991
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und Wahrnehmung von Kurden in den Medien, Navend-Schriftenreihe 14 (Bonn, 2004); Kızılhan, Der Sturz nach oben. NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien. Karl May, Durchs wilde Kurdistan. Reiseerzählungen, Karl May’s illustrierte Werke (Stuttgart, Zürich, Wien: Reader’s Digest, 2012). Ammann, Kurden in Europa, 186, 203; Ulrich Pätzold, »Das Bild der Kurden in den deutschen Medien.« In NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien (s. Anm. 2151), 14–5. Ammann, Kurden in Europa, 200–201; siehe auch Rita Chin, »Thinking Difference in Postwar Germany.« In Migration, memory, and diversity. Quandt, Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien, 19; Metin Incesu, »Vorwort.« In NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien (s. Anm. 2151), 6.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
zur Anerkennung der Existenz von Kurd*innen und ihrem Recht auf Entfaltung ihrer kulturellen Identität in der Bundesrepublik zeigt – dreißig Jahre nach ihrer Anwesenheit.46 In den 1990er Jahren dominierte – vermutlich auch verstärkt durch die häufig einseitige Berichterstattung in den Medien – das Bild von Kurd*innen als »potentielle Gewalttäter und Terroristen«47 . Sie wurden damit pauschal als PKK-Anhänger*innen kategorisiert. Eine Schwelle wurde überschritten, als die Ziele der Anschläge sich von türkischen Einrichtungen auf Polizist*innen richteten und durch die Autobahnblockaden die Mehrheitsgesellschaft stärker betroffen war.48 Der Fokus der Berichterstattung lag auf den Gewalttaten, dem Verbot der PKK-Organisationen, der Abschiebung straffälliger Kurd*innen, der Menschenrechtslage in der Türkei und der Bedrohung der inneren Sicherheit. Dabei wurde von einzelnen Ereignissen berichtet, insbesondere vor den Newroz-Feierlichkeiten wurden die Gewalttaten im Vorfeld »herbeigeschrieben«, während es kaum Hintergrundberichte gab.49 In den Medien entstand in dieser Zeit folgendes Bild über die Türkei: »Es ist ein fremdes und schwieriges Land zwischen sehr gegensätzlichen Kräften und Orientierungen, das seine Probleme über die Einwanderer nach Deutschland exportiert und durch Konflikte seiner Landsleute hier die innere Sicherheit gefährdet.«50 Die Begriffe Kurdenfrage, Kurdenproblem oder Kurdenkonflikt trugen zu einer undifferenzierten und distanzierten Darstellung bei. Bereits die Begriffe verknüpften die Kurd*innen mit einer offenen Frage, einem Problem oder Konflikt, während die Rolle der Türkei unsichtbar bleibt. Die Begriffe tragen dazu bei, dass die menschlichen Schicksale dahinter verschwinden und der Sachverhalt nicht als Menschenrechtsverletzung, sondern lediglich als Problem von Terrorismus und Gewalt gerahmt wird. Komplexe Zusammenhänge werden auf wenige Schlagworte reduziert, die es ohne große Sachkenntnis möglich machen, darüber zu berichten. Zu dieser Art der Berichterstattung mag auch dazu beigetragen haben, dass es kaum Journalist*innen in den kurdischen Gebieten in der Türkei gab, dass die diplomatischen Beziehungen mit der Türkei nicht gefährdet werden sollten und Separatismus eher tabuisiert wurde. Die Angst vor einem türkisch-kurdischen Konflikt in Deutschland und die innerdeutsche Betroffenheit stellte der Rahmen der Berichterstattung dar.51 Ein wesentliches Ergebnis der Studien sind somit die dominierenden und gegensätzlichen Konstruktionen der Kurd*innen als Täter*innen und Opfer. Während sich
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Ammann, Kurden in Europa, 202. Gürbey, »Von der Konfrontation zum Dialog? Perspektiven des Zusammenlebens von Kurden, Türken und Deutschen,« 1361. Maier, »Eine freigeräumte Autobahn ist noch keine Außenpolitik«. Bertram Scheufele und Hans-Bernd Brosius, »Fremdenfeindlichkeit durch Berichterstattung über Gewalt von ›Fremden‹ am Beispiel der Kurden.« In NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien (s. Anm. 2151), 47–57. Quandt, Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien, 27. Siegfried Quandt, »Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien – Die Berichterstattung der Printmedien und Fernsehsender im März/April 1995.« In Kurden und Medien, 111.
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diese zunächst ereignisgebunden zeitlich und je nach Veröffentlichungsart abwechselten, verschwammen diese mit der Zeit stärker und überschnitten sich manchmal im selben Artikel.52 Kurd*innen blieben aber stets »›Objekte‹ von politischen Kontroversen und Diskursen«53 . »Das Paradigma kann sich von Mitleid und Betroffenheit auf leichtem Weg in Empörung und Entsetzen wandeln: zuerst waren es [...] die Kurd(inn)en in der Türkei, die Repression und Verfolgung ausgesetzt waren und die ›christliche Nächstenliebe‹ der Öffentlichkeit benötigten; dann waren es auf einmal die ›terroristischen‹ Kurd(inn)en, die die deutschen Autobahnen blockierten, deutsche Polizei attackierten und für ›Unruhe auf bundesdeutschem Terrain‹ sorgten. [...] Medien [...] leisten in vielen Fällen ihren Beitrag dazu, dass das Bild der Kurd(inn)en in dieser Gesellschaft sehr negativ belastet ist.«54 Auffällig ist, obwohl die SZ Bestandteil mehrerer Analysen ist, dass in keinem Beitrag auf die Berichterstattung der SZ über Kurd*innen im Kirchenasyl eingegangen wird.55 Es wurden lediglich Artikel untersucht, die Kurd*innen und Gewalt thematisierten, womit der Ausgangspunkt bereits sehr einseitig war. Die Berichterstattung über die Kurd*innen zeigt zudem, wie sehr die Konstruktionen des Eigenen und Anderen nationalstaatlich geprägt sind und sich Kurd*innen in dieses Bild nicht so leicht einordnen und kategorisieren lassen. Die Unwissenheit über ihre spezifische Situation ist Ausdruck davon.
9.2.2 Kirchenasyl als Grundrechtsausübung von Gläubigen Im Jahr 1994 und somit kurz nach der Änderung des Asylgrundrechts entwickelte sich eine öffentliche Auseinandersetzung um das Kirchenasyl, welche als eine der wenigen Möglichkeiten gesehen wurde, sich gegen das neue restriktive Asylrecht zu stellen. In der Auseinandersetzung ging es vor allem darum, inwiefern sich Kirche und Zivilgesellschaft in staatliche Angelegenheiten einmischen darf. Die Geschichte des Kirchenasyls ist dabei eng mit dem Schicksal und der Schutzbedürftigkeit von Kurd*innen verbunden. Viele Kurd*innen waren in 1980er und 1990er Jahren auf Kirchenasyl angewiesen, da im Asylverfahren ihre Bedrohung vor Folter und Verfolgung nicht anerkannt wurde. Zwei Drittel aller Personen im Kirchenasyl von 1983 bis 2002 in Deutschland waren aus der Türkei und eine Mehrheit davon kurdisch. Dies bewirkte zum einen eine verstärkte Wahrnehmung ihrer Situation in der Öffentlichkeit. Zum anderen konnte sich durch die
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Jürgen Hoppe, »Vom Täter zum Opfer – Der Wandel des Kurden-Bildes in der deutschen Medienlandschaft.« In NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien (s. Anm. 2151), 131. Kemal Bozay, »Kurdische Migrant(inn)en in der öffentlichen Wahrnehmung.« In NAVEND e.V. – Zentrum für kurdische Studien, Kurden und Medien (s. Anm. 2151), 33. Ebd., 34–5. Bertram Scheufele und Hans-Bernd Brosius, »Fremdenfeindlichkeit durch Berichterstattung über Gewalt von ›Fremden‹ am Beispiel der Kurden.« In Kurden und Medien; Quandt, Die Darstellung der Türkei, der Türken und Kurden in deutschen Massenmedien.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
hohe Anzahl und der große Bedarf an Kirchenasyl die Praktiken des Kirchenasyls entwickeln und institutionalisieren.56 Aus Sicht der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. (BAG Asyl in der Kirche), entwickelten sich neue Formen des Kirchenasyls ab 1983. Von 1983 bis 1995 sind 232 Kirchenasyle bekannt, ab 1996 wurden diese systematisch von der BAG Asyl in der Kirche erfasst. Von 1996 bis 2000 waren 909 Personen in 271 Gemeinden im Kirchenasyl, davon kamen 630 Personen aus der Türkei, darunter 546 Kurd*innen. Das bedeutet, dass 60 % aller Personen, die in diesen Jahren Kirchenasyl aufsuchten, Kurd*innen waren. In mehr als 70 % der Kirchenasyle konnte eine Abschiebung verhindert werden.57 Während in den 1980er Jahren es bei Einzelfällen blieb, nahm ab 1990 die Zahl der Kirchenasyle konstant zu. Durch den Asylkompromiss verschärfte sich die Situation noch. Das Asylrecht wurde durch kürzere Widerspruchsfristen, sichere Dritt- und Herkunftsländer stark eingeschränkt. Im Jahr 1993 und 1994 wurden jeweils mehr als 35.000 Menschen abgeschoben. Hinzu kam ein polarisiertes gesellschaftliches Klima zwischen Abschottung und Aufnahme, rassistischer Gewalt und Solidarität. Gleichzeitig machte sich unter zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für mehr Flüchtlingsschutz und gegen eine Grundgesetzänderung eingesetzt hatten, nach dem Asylkompromiss Resignation breit. Das Kirchenasyl schien eine der wenigen Möglichkeiten zu bieten, sich gegen die Umsetzung der Asylgesetze zur Wehr zu setzen. Obwohl es im Jahr 1994 im Vergleich zu den hohen Abschiebezahlen nur 20 Kirchenasyle für 60 Personen gab, wurde Kirchenasyl zum Thema gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung. Dies zeigt die symbolische Deutung und die damit verbundenen Konflikte zwischen Kirche und dem Anspruch von staatlicher Souveränität.58 Zum Höhepunkt der Auseinandersetzung 1994 trugen drei Ereignisse besonders bei.59 Zum einen wurde aufgrund der Notwendigkeit einer größeren Vernetzung nach landesweiten Zusammenschlüssen und bundesweiten Treffen die BAG Asyl in der Kirche gegründet. Zum anderen gab es mehrere öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Innenministern und Bischöfen. Das Kirchenasyl für 17 Menschen aus Angola in Berlin wurde vom Innensenator Heckelmann heftig kritisiert und als Rechtsbruch bezeichnet. Innenminister Schnoor in Nordrhein-Westfalen kritisierte Kirchenasyl als Relativierung des Rechtsstaats. Bundesinnenminister Kanther reagierte schließlich auf ein SPIEGEL-Interview mit Kardinal Karl Lehmann, der das Kirchenasyl als persönliche
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Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl: Ein Handbuch, hg. v. Wolf-Dieter Just und Beate Sträter, Orig.-Ausg., 1. Aufl. (Karlsruhe: von Loeper Literaturverl., 2003), 155–6. Beate Sträter, »Über Erfolg und Misserfolg von Kirchenasyl.« In Just; Sträter, Kirchenasyl (s. Anm. 2198), 167–73. Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl, 148–51; Klaus J. Bade, »10 Jahre Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht. Historisch-politische Erinnerungen.« Zuletzt geprüft am 01.08.2022, http://kjbade.de/bilder/BielefeldG emeinsamesWort.pdf, 1–3; Nuscheler, Internationale Migration, 129–135, 183 Anschließend erschienen viele wissenschaftliche Publikationen, sowie Erfahrungsberichte und Darstellung von Einzelfällen, beispielsweise; Unterstützerkreis Kirchenasyl Weißenburg, Hg., Leben in Angst: Eine kurdische Familie im Kirchenasyl (Treuchtlingen: Keller, 1998). Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl, 148–9.
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Gewissensentscheidung verteidigt hatte.60 Dies löste eine breite Debatte aus, in der sich Politiker*innen aller Parteien zu Wort meldeten, wobei die Meinungen auch innerhalb der Parteien weit auseinandergingen. Je nach politischer, rechtlicher, kirchenrechtlicher oder theologischer Perspektive wurde sehr unterschiedlich argumentiert.61 Während für die Befürworter*innen der Schutz der Menschen im Kirchenasyl bei Gefahr für Leib und Leben im Vordergrund stand, setzte sich aus rechtlicher Perspektive im Laufe der 1990er Jahre immer stärker durch, dass Kirchenasyl eine Grundrechtsausübung sei, die sich auf Glaubensund Gewissensfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung und Widerstandrecht beziehe. Die zu schützenden Personen im Kirchenasyl hatten keine Rechte, auf die sie sich berufen konnten, sie waren lediglich Objekt der Grundgesetzausübung.62 Beide Kirchen scheuten zunächst eine generelle Verantwortungsübernahme und betonten, dass Kirchenasyl nicht von der Kirche als Institution verantwortet werde, sondern die Gewissensentscheidungen von Einzelpersonen bzw. einzelnen Kirchengemeinden sei. Daher müssten diese auch die strafrechtlichen Konsequenzen tragen. Es sei nicht das Ziel, Kirchenasyl zum grundsätzlichen Konflikt zwischen Kirche und Staat werden zu lassen.63 Erst 1997 wurde in einem Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht eine klarere Haltung und Unterstützung des Kirchenasyls verabschiedet: »Kirchengemeinden [...] stellen [beim Kirchenasyl] nicht den Rechtsstaat in Frage, sondern leisten einen Beitrag zum Erhalt der Rechtfriedens und der Grundwerte unserer Gesellschaft.«64 Dennoch distanzierten sie sich darin von Verhaltensweisen, wie des zivilen Ungehorsams und dem Verstoß gegen bestehende Rechtsvorschriften. Der Ansatz des Kirchenasyls ist grundsätzlich ein einzelfallbezogener Ansatz, der jedoch anhand von Einzelfällen auf Lücken im Asylrecht aufmerksam machen kann. Ziel ist es primär nicht, das staatliche Asylgewährungsmonopol in Frage zu stellen, sondern
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»Gewissen gegen Rechtsnorm.« DER SPIEGEL, Nr. 20 (1994). Jochen Grefen, Kirchenasyl im Rechtsstaat: christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik: Kirchenrechtliche und verfassungsrechtliche Untersuchung zum sogenannten Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland, Schriften zum öffentlichen Recht 848 (Berlin: Duncker & Humblot, 2001), Zugl.: Köln, Univ., Diss, 1998; Wolf-Dieter Just und Beate Sträter, Hg., Kirchenasyl: Ein Handbuch, Orig.Ausg., 1. Aufl. (Karlsruhe: von Loeper Literaturverl., 2003). Dieter Kraus, »Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung.« In Kirchenasyl: Probleme – Konzepte – Erfahrungen, hg. v. Hans-Jürgen Guth, 1. Aufl., Talheimer Sammlung kritisches Wissen 19 (Moessingen-Talheim: Talheimer, 1996), 59; Andreas Siegmund, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kirchenasyls: Ziviler Ungehorsam, Art. 4 GG und die Ombudsfunktion der Kirche, 1. Aufl., Konstanzer Schriften zur Rechtswissenschaft 126 (Konstanz: Hartung-Gorre, 1997), Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1997, 155–56; Markus H. Müller, Rechtsprobleme beim »Kirchenasyl«, 1. Aufl. (Baden-Baden: Nomos-Verl.Ges, 1999), Zugl.: Hagen, Fernuniv., Diss., 1999, 220–21. Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl, 151–3. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, ›… und der Fremdling, der in deinen Toren ist‹ Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht: Gemeinsame Texte 12 (Bonn, Frankfurt a.M., Hannover, 1997), zuletzt geprüft am 25.05.2022, https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/gemeinsame-texte/f remdling-deinen-toren.html#files, 100.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
durch den vorübergehenden Schutz zu bewirken, dass die Asylentscheidung erneut geprüft wird.65 Eine kollektivere und über den Einzelfall hinausgehende Form der Kirchenasyls entwickelte sich ab 1998 als so genanntes Wanderkirchenasyl in Nordrhein-Westfalen (NRW). Neben politischen Forderungen nach Bleiberecht und Abschiebestopp in die Türkei beinhalteten sie auch ein größeres Maß an Selbstorganisation. Selbstorganisation für Menschen im Asylverfahren stellt keine Selbstverständlichkeit dar, weil sie eine sehr heterogene Gruppe darstellen, die zudem unter wenig Ressourcen und eingeschränkter Mobilität leidet. Hinzu kommt, dass das Asylverfahren jede Fluchtgeschichte zu einem Einzelfall macht und politisches Engagement den Ausgang des Asylverfahrens beeinflussen kann. Dennoch gründeten sich 1994 The Voice in Thüringen und 1998 Die Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen, die mit einer Bustour durch 44 Städte begann. Das Wanderkirchenasyl begann Anfang 1998 mit 20 Kurd*innen auf Initiative der Kampagne »kein mensch ist illegal« in Kooperation mit der Antoniterkirche in Köln.66 Zu einem Wanderkirchenasyl wurde es, als immer mehr Kurd*innen dazukamen und in mehreren Kirchengemeinden in NRW untergebracht wurden. Die Aktion wuchs auf 100 teilnehmende Kirchengemeinden und 489 kurdische Flüchtlinge an. Die Vorstellungen über Ziele und Vorgehensweisen der geflüchteten Kurd*innen selbst, der Kampagne »kein mensch ist illegal«, der Kirchengemeinden und der Kirchenleitung waren jedoch unterschiedlich und konnten auch nicht immer auf einen Konsens gebracht werden.67 Im April 1998 wurde ein Hungerstreik von den Kurd*innen in der Landesparteizentrale der Grünen in Düsseldorf durchgeführt, der von der Kampagne unterstützt wurde, von den Kirchengemeinden jedoch abgelehnt wurde. Obwohl das Wanderkirchenasyl kein allgemeines Bleiberecht für kurdische Flüchtlinge erreichte, erhielten 343 der 489 teilnehmenden Kurd*innen eine dauerhaftes Bleiberecht, der Aktion wurde 1999 der Aachener Friedenspreis verliehen und die Situation der Kurd*innen kam in NRW, sowie zum Teil auch bundesweit stärker ins Bewusstsein.68 Auch die Existenz und die Problematik von illegalisierten Menschen in Deutschland wurde sichtbarer.69 Dass das Kirchenasyl als Grundrechtsausübung der Gläubigen geschützt werden sollte und die Schutzsuchenden nicht als politische Subjekte mit eigenen Rechten gesehen wurden, verdeutlicht die vorherrschende und viktimisierende Vorstellung von Flüchtlingen als passive Opfer. Das Wanderkirchenasyl bedeutete durch den kollektiven Zusammenschluss eine größere Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen, was jedoch nicht konfliktfrei blieb. Eine Folge der öffentlichen Auseinandersetzung und Wahrnehmung von Kirchenasyl war die Anerkennung, dass es Fälle geben kann, die trotz 65 66 67 68 69
Grefen, Kirchenasyl im Rechtsstaat: christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik, 285. Christian Schröder, »Flüchtlingsproteste in Deutschland.« Forschungsjournal Soziale Bewegungen 27, Nr. 2 (2014): 101–2. Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl, 157–9. Aachener Friedenspreis e.V., »Wanderkirchenasyl in Nordrhein-Westfalen.« https://www.aachene r-friedenspreis.de/preistraeger/wanderkirchenasyl-in-nordrhein-westfalen/. Dieter Endemann, »Entstehung und Verlauf des ›Wanderkirchenasyls‹.« In Just; Sträter, Kirchenasyl (s. Anm. 2198); Siehe auch: Fotografie, Galerie Arbeiterfotografie – Forum für Engagierte, »Arbeiterfotografie Köln: Die Früchte des Baumes mitten im Garten – Kurdische Flüchtlinge im Kirchenasyl.« Galerie Arbeiterfotografie – Forum für Engagierte Fotografie, zuletzt geprüft am 06.07.2020, www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/die-fruechte-des-baumes/index.html.
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asylrechtlicher Ablehnung Schutz in Deutschland benötigen. Daraus entwickelte sich die Idee und Forderung nach einer Härtefallregelung. 2005 wurde die Möglichkeit zur Einsetzung einer Härtefallkommission auf Landesebene mit §23a Abs. 2 AufenthG ins neue Zuwanderungsgesetz aufgenommen.70
9.2.3 Europäisierung als Kriminalisierung und Versicherheitlichung von Migration Europa war bereits in den letzten Kapiteln ein Bezugspunkt bei der Aushandlung des Eigenen und Anderen. Im Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge stand aufgrund des Abbaus der Binnengrenzen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Wahrnehmung und der Umgang mit den europäischen Außengrenzen im Fokus. Der Europäisierungsprozess war dabei von einer zunehmenden Verknüpfung der Themen Migration, Sicherheit und Kriminalität geprägt, was sich nicht nur auf die Wahrnehmung der Migrant*innen auswirkte, sondern auch auf die Herstellung von nationaler und europäischer Identität. Das Schengener Abkommen wurde 1985 von Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg unterzeichnet. Aufgrund der veränderten Situation nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes verzögerten sich die Grenzöffnungen, die auch Spanien und Portugal miteinbezogen bis zum 25. März 1995. In Italien und Österreich wurden Ende 1997 die Grenzkontrollen abgeschafft. Auch das Schengener Durchführungsabkommen, das die Zuständigkeit der einzelnen Länder bei der Asylaufnahme regelte, trat 1997 in Kraft.71 In den Medien in Deutschland wurde die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen stark mit einem Sicherheits- und Kontrollverlust in Verbindung gebracht.72 So war es wie die Bestätigung aller Befürchtungen, dass kurz nach der Aufhebung der Grenzkontrollen mehrere Boote mit überwiegend kurdischen Flüchtlingen in Italien ankamen. Das größte Aufsehen erhielt das siebte Schiff innerhalb weniger Wochen, der Frachter Ararat am 26. Dezember 1997, der 825 kurdische Flüchtlinge an Bord hatte, womit die Frage im Raum stand, ob Italien oder ganz Europa Verantwortung für diese Migrationsbewegungen übernehmen müsse. In Deutschland, insbesondere durch Innenminister Kanther vorangetrieben, ging dies mit der Annahme einher, dass die Ankommenden nicht in Italien bleiben, sondern weiter nach Deutschland ziehen werden. Deutschland übte daher enormen Druck auf Italien aus, seine Verantwortung hinsichtlich der europäischen Grenze wahrzunehmen und kurdische Flüchtlinge aufzuhalten. Im Januar 1998 trafen sich die Verantwortlichen der Polizei von sechs Staaten in Rom, darunter die Türkei, um gegen illegale Einwanderung aktiv zu werden. Dabei wurde von der Türkei erwartet, die Fluchtbewegungen zu verhindern, ohne dass über Fluchtursachen oder politische Lösungen gesprochen wurde. Innenminister Kanther machte daraufhin 1998 zum Sicherheitsjahr, in dem die Bekämpfung von illegaler Zuwanderung im Vor-
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Wolf-Dieter Just, »20 Jahre Kirchenasylbewegung.« In Kirchenasyl, 156. Silja Klepp, Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz: Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer (Bielefeld, Germany: transcript Verlag, 2018), 49–54; Siebold, ZwischenGrenzen, 294–98. Siebold, ZwischenGrenzen, 268–69.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
dergrund stehen sollte.73 Nicht zuletzt ist dies der Beginn der Fluchtbewegungen über das Mittelmeer, bei denen unzählige Menschen ihr Leben verloren und Europa sich weigerte, dafür eine Mitverantwortung zu übernehmen. Migration erhielt im Prozess der Europäisierung nicht nur einen hohen Stellenwert, sondern auch eine ganz bestimmte Rahmung. Während Migrationsbewegungen innerhalb des Schengenraumes als erwünschte Mobilität betrachtet wurde, wurde Migration in die EU zu einer bedrohlichen und unerwünschten Migration. Besonders deutlich wird dies am weit verbreiteten Begriff der illegalen Migration, wodurch Migrant*innen bereits beim Zugang zum Schengenraum als illegitim eingestuft und kriminalisiert wurden. Dabei wurde ausgeblendet, dass die Hürden für eine legale Einreise mit Visum immer höher gehängt wurden.74 Der Diskurs über illegale Migration diente der Herstellung eines geteilten, imaginierten Raumes und stand »im Zentrum der Neu-Formierung des europäischen Migrationsregimes«75 . Asylpolitik, die sich stets zwischen den Polen bewegt, die eigene Souveränität oder die Menschenrechte von flüchtenden Personen zu schützen, wurde immer stärker zu seiner Sicherheitsfrage. Durch die Exterritorialisierung und die Verhinderung einer Überschreitung der europäischen Außengrenze konnten geflüchtete Menschen ihre Rechte nicht geltend machen und die europäischen Staaten mussten die Verpflichtungen hierzu auch nicht einlösen. Die offene Grenze innerhalb der EU bedeutete, dass andere Staaten die eigene Souveränität über das Territorium schützen müssen. Der Sicherheitsverlust, der dabei beschrieben wurde, basierte auf Vermutungen. Ein Aufgreifen von Personen an der Grenze wurde nicht als Rückgewinnung von Kontrolle gedeutet, sondern als Beweis für hohe Zahlen von illegalen Grenzübergängen. Die Seegrenze und das damit verbundene Gefühl einer größeren Unkontrollierbarkeit verstärkten die Bedrohungsgefühle.76 Es begann die Ausweitung der nationalen zu einer europäischen Identität, ohne dass die nationale Identität ihre Relevanz verlor.77 Das Deutungsmuster des Sicherheitsdiskurses beinhaltet die Vorstellung vom Nationalstaat als einen Körper oder geschlossenen Container, dessen Inhalt von dem zu unterscheiden ist, was ihn umgibt. Diese Bilder prägen das Bewusstsein und machen die Vorstellung von grenzüberschreitender Migration als Metapher des Eindringens wirkmächtig. Die Bedeutung von innerer Sicherheit ist daher keine Antwort auf gestiegene Risiken, sondern vor allem davon abhängig, wie Sicherheitsbedrohungen dargestellt und bewertet werden. Nachdem Migration als Sicherheitsproblem konstruiert wurde, kann eine Thematisierung und Bearbeitung von Seiten der Politik dazu genutzt werden, zu zeigen, dass auf Ängste in der Bevölkerung adäquat reagiert und Handlungsfähigkeit bewiesen wird.78
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Siebold, ZwischenGrenzen, 302–13; Stefan Alscher, »Streit um kurdische Flüchtlinge und das Schengener Abkommen.« Migration und Bevölkerung, Nr. 2 (1998): 1–2. Siebold, ZwischenGrenzen, 279–83. Karakayali, Gespenster der Migration, 181. Klepp, Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz, 48–49, 58; Siebold, ZwischenGrenzen, 294–97. Berlinghoff, Das Ende der »Gastarbeit«, 67–73. Didier Bigo, »Sicherheit und Immigration: Zu einer Kritik der Gouvernementalität des Unbehagens.« In Misselwitz; Schlichte, Politik der Unentschiedenheit (s. Anm. 21), 45–8.
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9.2.4 Überblick über den Diskurs in der FAZ und SZ Die Analyse versucht herauszuarbeiten, welches Wissen und welche Wahrheit an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkmächtig und vorherrschend ist. Mit Aussagen sind dabei die Aspekte des Diskurses gemeint, die übergreifend und übereinstimmend in den verschiedenen Artikeln deutlich werden und somit die Grundlage des Sagbarkeitsfeldes darstellen. Diese sollen im Folgenden in Form einer Selbstaussage des Diskurses formuliert werden, um dann auf die Konstruktionen des Eigenen und des Anderen im Detail einzugehen. Auffällig ist hierbei im Vergleich zu allen anderen Kapiteln, dass die übergreifenden Aussagen sehr gering sind, da es kaum Übereinstimmungen, sondern häufig konträre Deutungen gibt. Wir sind ein Rechtsstaat, in dem sorgsam überprüft werden muss, wie mit der Gewalt von Kurd*innenumgegangenwird.DurchdiezunehmendeEuropäisierungmuss die innereSicherheit garantiert werden, indem wir als Sicherheitsgemeinschaft illegale Einwanderung und Schlepperwesen verhindern. Kirchenasyl und der Abschiebestopp werden in unserer Gesellschaft sehr unterschiedlich bewertet. Kurdische Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer. Sie werden unterschiedlich wahrgenommen,alsterroristischeGewalttäter*innenundalsFolteropfer.Die Kurd*inneninDeutschlandfordern zunehmend ein Mitsprachrecht ein. In meinem Datenkorpus sind 134 Artikel über kurdische Flüchtlinge erschienen, davon 46 in der FAZ und 78 in der SZ. Für die Analyse wurden 110 Artikel ausgewählt, davon 40 in der FAZ und 70 in der SZ. In der SZ wurde wesentlich mehr über die kurdischen Flüchtlinge berichtet, dies ist vor allem der Berichterstattung über Kirchenasylfälle geschuldet. Der Zeitraum der Analyse umfasst die Jahre 1994 – 1999. In den erschienenen Artikeln finden sich im Vergleich zu den vorherigen Zeitabschnitten in beiden Zeitungen wesentlich mehr Rechtschreibfehler. In der FAZ ist die Berichterstattung über die Kurd*innen eng mit dem Umgang mit Gewalt und mit Fragen von innerer Sicherheit verknüpft. In der SZ wird ein selbstkritisches Bild des Eigenen gezeichnet, welche sich mit der Gewährung von Schutz und der Einhaltung der Menschenrechte im Kontext von Asyl beschäftigt.
9.3 Das Eigene 9.3.1 Der deutsche Rechtsstaat und sein Umgang mit Gewalt Rechtsstaatlichkeit ist in beiden Zeitungen ein Bezugspunkt und eine Orientierungshilfe, wie Asylgewährung gestaltet werden kann und mit Gewalttätigkeit von Ausländern umgegangen werden soll. Der Rechtsstaat, der Gleichbehandlung, Rechtssicherheit und Menschenrechte garantieren soll, ist Teil des nationalen Selbstverständnisses und einer von fünf im Grundgesetz verankerten Staatsprinzipien (Art. 20 GG). »Theorien des Rechts sind auch immer Theorien darüber, was nicht Recht ist und nicht rechtens sein könne. Gleichzeitig ist Recht ein wichtiger Rahmen für die Artikulation von kollektiven
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Erzählungen, Werten und Zielen.«79 Während in der FAZ ein großes Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates vorherrscht oder sogar Sorge um den Rechtsstaat formuliert wird, werden in der SZ die Lücken und Probleme des Rechtsstaats aufgezeigt und die Frage aufgeworfen, wer Verantwortung für die Garantie von Rechtssicherheit und Antidiskriminierung trägt. Es wird ein dynamisches Verständnis eines mit Macht ausgestatteten Rechtsstaats deutlich, der korrektur- und kontrollbedürftig ist. Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass die Rechtsstaatlichkeit sich im Diskurs in der Aushandlung befindet, und nicht von vorne rein als gegeben verstanden wird (siehe auch Kapitel 3.3.3). Wie massiv die Rechtsstaatlichkeit umkämpft ist, macht folgendes Zitat deutlich: »Dies alles spricht eher für die Theorie, die Bundesrepublik sei ein Rechtswegestaat, als für den von einer grünen Landtagsabgeordneten gezogenen Vergleich der bayerischen Innenpolitik mit dem sowjetischen Archipel GULag. Dem CSU-Fraktionsvorsitzenden Glück ist beizupflichten, wenn er sich über einen ›neuen Tiefpunkt auf der nach unten offenen Skala der Geschmacklosigkeiten‹ erregt.«80 Rechtsstaatlichkeit als Aspekt des Eigenen beinhaltet dabei Grenzziehungen zu anderen Staaten: »Wenn eine Rechtsordnung zum Identifikationspunkt wird, dann werden jene, deren ›Nicht-Rechtsordnung‹ als Gegenpol für das eigene Gemeinwesen dient, nicht nur als ›Andere‹, sondern auch als defizitär wahrgenommen.«81 Die bayerische Innen- und Asylpolitik wird in oben genannten Zitat in drastischer Weise mit einem sowjetischen Umerziehungs- und Arbeitslager verglichen und jegliches Einhalten von Rechtssicherheit abgesprochen. Im Artikel wird die Innenpolitik jedoch als rechtsstaatlich empfunden. Grundsätzlich wird in der FAZ ein großes Vertrauen in die staatlichen Institutionen und ihre Entscheidungen deutlich. Im Fall Fariz Simsek, der später ein Bleiberecht in den Niederlanden erhielt, wird geschrieben: »Das Bundesamt jedenfalls, das noch nie durch sonderliche Rigorosität aufgefallen ist, hat in der Vergangenheit des Kurden keinen Asylgrund entdeckt.«82 Ziel ist nicht eine kritische Auseinandersetzung, sondern eine Förderung des Vertrauens in den Rechtsstaat: »Das unterschiedliche Vorgehen der Länder fördere nicht das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Instanzen.«83 In der SZ hingegen wird ein angemessenes Maß an Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat gefordert: »Was gesetzlich verankert ist, muß dennoch nicht in Ordnung sein. Diese Frage bewegt zur Zeit die Hamburger Bürgerschaft. In einer Anhörung Anfang März will der Eingabenausschuß des Parlaments klären, ob kurdischen Flüchtlingen bei einer Ab-
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Christiane Wilke, »Östlich des Rechtsstaats: Vergangenheitspolitik, Recht und Identitätsbildung.« In Der Osten, 172. Roswin Finkenzeller, »Dirigierende Gesten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.1995 »Der Archipel GULAG« ist ein literarisches Werk, dass sich mit den Haftbedingungen in den Umerziehungsund Arbeitslagern der Sowjetunion beschäftigt; Aleksandr Isaevič Solženicyn, Der Archipel GULAG, 29. Auflage (Bern: Scherz, 1974). Christiane Wilke, »Östlich des Rechtsstaats: Vergangenheitspolitik, Recht und Identitätsbildung.« In Der Osten, 172. Finkenzeller, »Dirigierende Gesten«. Daniel Deckers, »Sonderweg Abschiebestopp.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.1995.
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schiebung in die Türkei Gefahren drohen.«84 Dabei wird auch der Frage nachgegangen, wer die Verantwortung trägt, welchen Spielraum einzelne Behörden haben und woran sie sich orientieren sollen. Es wird dargelegt, »daß die bayerischen Landesbehörden in den eigentlichen Asylentscheidungen über keinen eigenen Spielraum verfügen. Hier sei allein das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig. [...] Andererseits habe das Oberverwaltungsgericht Münster vor einiger Zeit entschieden, daß die Landesbehörden dann korrigierend eingreifen könnten, wenn einem Menschen eine Grundrechtsverletzung drohe.«85 In dieser Auslegung bekommen die Landesbehörden eine Kontrollfunktion und eine eigene Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte. Auch Initiativen zum Kirchenasyl müssten als »›Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen‹ ernst genommen werden.«86 Beide Zeitungen nehmen die Kurd*innen außerhalb des Rechtsstaats wahr. In der FAZ wird davon ausgegangen, dass die kurdischen Aktivist*innen sich nicht an die Regeln des Rechtsstaates halten, sondern sich darüber hinwegsetzen und dass dies von Seiten der Ordnungsmacht geduldet wird. In der SZ hingegen wird davor gewarnt, Grundrechte für kurdische Straftäter*innen auszusetzen, und diese, statt Strafverfahren, einfach abzuschieben. In beiden Fällen wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gefordert, an der Rechtsstaatlichkeit festzuhalten, was die Bedeutung des Begriffs als leerer Signifikant deutlich macht. In der FAZ wird dieser Sonderstatus der Kurd*innen, sich außerhalb des Rechtsstaats zu bewegen, an einem Hungerstreik und einem Trauermarsch in Berlin ausführlich erläutert. Das eine Ereignis ist ein Todesfall während eines Hungerstreiks, bei dem der Gerichtsmediziner erst nach fünf Stunden Verhandlung Zugang erhält und eine weitere Obduktion verhindert wird. »Das Geschehen vollzog sich im unbeeinträchtigten Machtbereich der als Terroristenorganisation verbotenen ›Kurdischen Arbeiterpartei‹ im Berliner Kurdistan-Zentrum. Der Zugang zum Gebäude wurde und wird von kräftigen kurdischen Männern kontrolliert, die ersichtlich nur auf Befehl ihres Anführers handeln.«87 »Woran auch immer Frau Baghistani gestorben sein mag – man wird es nicht erfahren, weil die Berliner Staatsanwaltschaft die Todesursache nicht aufklären ließ. [...] In vergleichbaren Fällen – ein einem beinah hermetisch verschlossenen Kreis von Aktivisten und Hungerstreikenden wird ein Leichnam gefunden – wäre eine solche Unter-
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Cornelia Bolesch, »›Kurden bei Abschiebung generell gefährdet‹.« Süddeutsche Zeitung, 20.02.1993. Christian Schneider, »Der ›Fall Simsek‹ kommt vor den Petitionsausschuß.« Süddeutsche Zeitung, 29.12.1994. SZ/KNA, »Kirchen: Abschiebung von Flüchtlingen aussetzen.« Süddeutsche Zeitung, 09.03.1994. Volker Zastrow, »Der Totenschein verzeichnet als Todesursache: ungewiß.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.08.1995.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
lassung undenkbar. [...] Es handelt sich, so der Behördenjargon, um ›Kulturkreisproblematik‹.«88 Die verwendeten Begrifflichkeiten wie »Machtbereich«, »Herrschaft über den Leichnam«, »Anführer« erzeugen den Eindruck, dass der deutsche Staat hier machtlos ist. Die Kultur wird dabei als fadenscheiniger Grund gesehen, warum hier deutsches Recht nicht gelten soll. Noch weiter geht die Beschreibung des zweiten Ereignisses, bei dem PKK-nahestehende Kurd*innen die Aufgabe der Polizei übernehmen. »Der Trauerzug für die drei jungen Kurden, die in der vergangenen Woche erschossen wurde, als sie versuchten, das israelische Generalkonsulat zu stürmen, ist am Mittwoch friedlich verlaufen, so friedlich, wie niemand es erwartet hätte nach den Gewaltausbrüchen [...] Organisation, Disziplin, Engagement ließen keinen Augenblick nach. [...] Die Ordnungsmacht, die die friedliche Kurden-Demonstration am Mittwoch friedlich gehalten hat, war nicht die Polizei.«89 »Wer aber waren die Sicherheitskräfte? – Die Pressestelle des Kurdischen Volkes jedenfalls hat bestritten, daß die PKK neuerdings in Berlin Polizeifunktionen übernimmt.«90 »Daß die PKK in Berlin in der Lage ist, aus dem Stand heraus ein Gewaltpotential zu mobilisieren, ist unbestritten. Am Mittwoch hat sie nun darauf verzichtet. Militante Kurden, oft dieselben Gesichter, die schon bei den Konsulatsbesetzungen der vergangenen Woche zu sehen waren, traten als Ordner auf.«91 Die Handlungsmacht der Polizei wird als sehr gering beschrieben. Stattdessen übernehmen die Kurd*innen selbst für ihre Aktionen die Aufgabe der Polizei und sorgen für einen friedlichen Ablauf. In beiden Artikeln entsteht der Eindruck, dass die Kontroll- und Ordnungsfunktion der Polizei dort endet, wo der Einflussbereich der PKK beginnt. Die PKK beanspruche für sich selbst, außerhalb des Rechtsstaats zu stehen, was nicht akzeptiert werden könne und ein Problem für die innere Sicherheit darstelle. Während in der FAZ die Handlungsmacht bei den Kurd*innen liegt, sich über den Rechtsstaat hinwegzusetzen, wird es in der SZ dargestellt, als verorte der Staat die Kurd*innen außerhalb der Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere durch den Journalisten Heribert Prantl wird die Frage aufgeworfen, ob die Grundrechte in Deutschland auch für Kurd*innen gelten oder ob diese außerhalb des Rechtsstaats stehen. »Dieses Grundrecht auf gerichtlichen Rechtsschutz müßte, sollten die Überlegungen des Innenministeriums zum Tragen kommen, etwa so eingeschränkt werden: ›Dies gilt nicht für Kurden. Gewalttätige Ausländer sind nicht jemand im Sinn des Gesetzes.«92 Dies wiederholt Prantl in ähnlicher Weise zwei Jahre später:
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Ebd. Konrad Schuller, »In dichten Ketten haben kurdische Männer den Trauerzug in Berlin begleitet.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.02.1999. Ebd. Ebd. Heribert Prantl, »Die Vorschriften sind beileibe nicht lasch.« Süddeutsche Zeitung, 25.03.1994.
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»Doch das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich: Die Forderungen nach einer Hau-Ruck-Abschiebung von vermeintlichen PKK-Mitgliedern mißachten das zitierte Grundrecht: Man will auf einen bloßen Verdacht hin abschieben, ohne rechtskräftiges, ja ganz ohne strafgerichtliches Urteil. [...] So werden Grundrechte unter Vorbehalt gestellt: ›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹.«93 Insbesondere im Fall Simsek wird mit aller Deutlichkeit die Rechtsstaatlichkeit des Vorgehens angezweifelt: »Den schlimmen Ruf Bayerns, in einer Reihe mit den Diktaturen dieser Welt zu stehen, will Beckstein um jeden Preis festigen. Das ist weder rechtsstaatlich noch menschlich nachzuvollziehen. Wir schämen uns für Bayern.«94 In der SZ erscheint der deutsche Rechtsstaat so mächtig, dass er Grundrechte außer Kraft setzen und willkürliche Entscheidungen treffen kann, dagegen wirken Oppositionspolitiker*innen, Zivilgesellschaft, Betroffene und die SZ selbst machtlos. Die Möglichkeit der Ausweisung von ausländischen Straftäter*innen kann in Konflikt mit dem Recht auf Asyl geraten. In der FAZ wird gefordert, sich durch Straftaten nicht erpressen zu lassen, sondern hart durchzugreifen und den Straftäter*innen und möglichen Nachahmer*innen durch Abschiebung Konsequenzen aufzuzeigen. »Mit der Androhung von Freiheitsstrafen sind kurdische Überzeugungstäter [...] nicht zu beeindrucken. [Justizminister Thomas] Schäuble befürchtet, der harte Kern der gewalttätigen Kurden werde noch größer und radikaler, wenn es nicht gelinge, ihnen glaubwürdig mit Abschiebung zu drohen.«95 In beiden Zeitungen wird es als paradox bezeichnet, dass sich kurdische Straftäter*innen durch ihre Gewalttaten einen Schutzstatus erwerben könnten. Dies wird in der FAZ abgelehnt, die SZ hingegen fordert ein angemessenes Strafmaß in Deutschland und das Beibehalten des Asylrechts: »Natürlich kann kein Staat der Welt hinnehmen, daß sich ein Flüchtling den Asylschutz durch Straftaten erpreßt. Darauf muß er mit allen strafrechtlichen Mitteln reagieren, die er zur Verfügung hat. Mit der zwangsweisen Abschiebung in den Verfolgerstaat würde das Fundament des Schutzsystems zerstampft [...]. Dann gibt es kein Asyl mehr.«96 Dabei sei die Empörung über die Gewalttaten verständlich, gerade dann müsse aber an der Rechtsstaatlichkeit festgehalten werden: »Wer die Bilder von blutenden Polizisten sieht, der darf wütend sein. Indes: Wut und Zorn sind schlechte Ratgeber. Die Regeln des Rechtsstaats sind nämlich gerade für Zeiten gemacht, in denen man leicht die Beherrschung verliert.«97 »Wer die Bilder der Gewalttaten sieht, ist geneigt zu sagen: Muß sich der Rechtsstaat das bieten lassen? [...] Wer meint, er könne den Rechtsstaat dadurch schützen, daß er schnell einmal seine Regeln partiell außer Kraft setzt, der begeht einen gefährlichen Irrtum – er macht den Rechtstat (sic!) kaputt, den er zu schützen vorgibt.«98
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Heribert Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹.« Süddeutsche Zeitung, 22.03.1996. Hannes Krill, »Innenminister Beckstein im Zentrum der Kritik.« Süddeutsche Zeitung, 01.04.1995. Alfred Behr, »›Kurden schneller abschieben‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.1994. Heribert Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung.« Süddeutsche Zeitung, 26.03.1994. Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹«. Ebd.
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Rechtsstaatlichkeit garantiert aus dieser Perspektive Antidiskriminierung und Rechtssicherheit in Situationen, in denen der Staat selbst angegriffen wird und Menschen aufgrund negativer Emotionen gerne anders und impulsiv handeln würden. Es ist auch ein Plädoyer, auf die Macht des Rechtsstaats zu vertrauen. Erst 1999 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht, dass ein Engagement für die PKK differenzierter zu betrachten ist, worüber beide Zeitungen berichten. »Die Voraussetzung für den Wegfall des Abschiebeschutzes seien ›sehr streng zu interpretieren‹, sagte der Senatsvorsitzende Friedrich Seebaß in der Urteilsverkündung. Der Ausländer müsse persönlich eine Gefahr für die Bundesrepublik darstellen. Die bloße Zugehörigkeit zur PKK, die ohne Zweifel auch mit terroristischen Mitteln ihre Ziele verfolge, reiche nicht aus.«99 »Das Bundesverwaltungsgericht befand, daß ein Kurde, der in Deutschland als einfaches Mitglied der PKK an Sitzblockaden teilgenommen, demonstriert und der PKK Geld gespendet hatte, nicht abgeschoben werden dürfe. Zwei höhergestellten PKKAktivisten versagte das Bundesverwaltungsgericht hingegen das Recht auf Asyl und Abschiebungsschutz, da sie ›aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik anzusehen seien‹.«100 Die Rechtsstaatlichkeit wird in beiden Zeitungen dargestellt als etwas, was die Menschen in Deutschland vor Willkür schützt und dafür sorgt, dass Gesetze für alle gelten. Die Mittel der Umsetzung sind jedoch unterschiedlich. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zeigt, dass ein Rechtsstaat manchmal sehr lange braucht, bis eine eindeutige Entscheidung getroffen ist und es in der Zwischenzeit eine Rechtsunsicherheit und verschiedene Umgangsweisen gibt. Die getroffene Entscheidung liegt etwa in der Mitte zwischen dem, was in den beiden Zeitungen gefordert wurde.
9.3.2 Abschiebestopp als Schutz vor Folter oder als »Fluch der guten Tat« Aufgrund von Foltervermutungen in der Türkei wird im Frühjahr 1994, knapp ein Jahr nach der Änderung des Grundgesetzes ein Abschiebestopp in die Türkei beschlossen, zunächst von den SPD-regierten Ländern, dann von allen Bundesländern. Ab Herbst 1994 entwickelt sich eine Debatte um die erneute Verlängerung oder Aufhebung des Abschiebestopps, bis dieser im Juni 1995 beendet wird. Rückblickend wird dieser als »Fluch der guten Tat« beschrieben, da die schwarz-gelbe Koalition diesem etwas unbedacht zugestimmt hätte und diesen dann nicht mehr loswird. Dies beschreibt recht gut das vorherrschende Deutungsmuster der Gegner*innen eines verlängerten Abschiebestopps. Dieser wird nicht als Garantie der Menschenrechte und Schutz vor Folter gesehen, sondern als kurzzeitige Großzügigkeit, die danach nicht mehr einfach zurückgenommen werden kann. Im Diskurs wird deutlich, wie wichtig es erachtet wird, Abschiebungen durchführen zu können, dies wirke sich zudem auf die Ausländerfreundlichkeit der Bevölkerung und
99 dpa, »Kein Anspruch auf Asyl für PKK-Funktionäre.« Süddeutsche Zeitung, 31.03.1999. 100 Konrad Schuller, »Bundesverwaltungsgericht verweigert PKK-Funktionäre Asyl.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.1999.
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Wahlergebnisse aus. Für die Beendigung des Abschiebestopps werden altbekannte Argumente wie wirtschaftliche Fluchtgründe und keine bestehende Gruppenverfolgung angeführt. Zudem drohe die Gefahr, dass damit der Asylkompromiss umgangen werde. Die Befürworter*innen benennen konkrete Fälle, bei denen Personen nach Abschiebung in der Türkei gefoltert wurden. Diese werden von den Gegner*innen als Einzelfälle abgewertet. Folter bleibt im Diskurs überwiegend abstrakt. Letztlich beeinflusst auch Parteipolitik und anstehende Landtagswahlen die Entscheidung, den Abschiebestopp aufzuheben. 1999 wird für einen Monat erneut ein bundesweiter Abschiebestopp verhängt, als Aamir Ageeb am 28. Mai während seiner Abschiebung im Flugzeug durch Gewaltanwendung der Polizisten dem Erstickungstod erlag.101 Die Debatte über den Abschiebestopp beginnt im Frühjahr 1994, als die SPD-regierten Länder aufgrund von Folterverdacht einen sechsmonatigen Abschiebestopp in die Türkei beschließen: »Die Innenminister der SPD hatten ihr Vorgehen damals damit begründet, die Sicherheit und Unversehrtheit der abgeschobenen türkischen Staatsbürger sei nicht gewährleistet.«102 Innenminister Manfred Kanther versucht daraufhin, mit der Türkei ein Abkommen abzuschließen, dass Kurd*innen nach Abschiebung in die Türkei nicht gefoltert werden. Die Tendenz, dass die SPD stärker auf Abschiebestopp, die Union hingegen stärker auf bilaterale Verhandlungen mit der Türkei setzt, bleibt in der ganzen Debatte bestehen. Als Ende 1994 kurdische Abgeordnete aus dem Parlament ausgeschlossen und verhaftet werden, wird ein allgemeiner Abschiebestopp beschlossen, der bis zum 12. Juni 1995 andauert.103 Die Berichterstattung über das Abkommen mit der Türkei unterscheidet sich in den beiden Zeitungen. In der FAZ wird die Überzeugung vertreten, dass es zwar schwierig sei, ein solches Abkommen abzuschließen, aber dass dies sowohl erstrebenswert als auch möglich ist. »Bonn wünscht vor allem die Zusage, abgeschobene Kurden würden keinesfalls gefoltert oder gar zum Tode verurteilt.«104 »Seit einem Jahr verhandelt das Bundesinnenministerium [...]. Bisher erfolglos. Die Türkei verweist darauf, sie habe die Menschenrechtskonvention schon lange ratifiziert. Die Todesstrafe sei seit mehr als zehn Jahren nicht mehr vollstreckt worden.«105 Ziel des Abkommens ist es, eine vertragliche Absicherung zu erreichen, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Da dies nicht gelingt, wird auf die Menschenrechtskonvention verwiesen und die zugrunde liegende Annahme des Folterverdachts in Frage gestellt. In der SZ hingegen wird ein Abkommen mit der Türkei mit deutlichen Worten abgelehnt, dies sei naiv und nur eine Scheinlösung: »Es wäre dies die Abschiebung in Folter und Tod, und es wäre mehr als blauäugig zu glauben, ein Vertrag mit der Türkei könne die abgeschobenen Kurden vor Folterungen 101
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Heribert Prantl, »Seiner Leiche geht es gut.« Süddeutsche Zeitung, 05.06.1999 Der Abschiebestopp wurde aufgehoben mit der Begründung, Straftäter*innen dürften nicht mit einem längeren Aufenthalt belohnt werden. Dieser Diskurs sowie allgemeiner der Tod von Menschen aufgrund des Asylsystems wäre eine eigene detailliertere Untersuchung wert. Günter Bannas, »Union und SPD uneins über die Abschiebung von Kurden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.1994. Günter Bannas, »Einheitliche Regelung von Montag an.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.1995. Günter Bannas, »Parteipolitische Debatten überdecken lang geübte Praxis.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.1994. Günter Bannas, »Was Kurden in der Türkei droht.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.1995.
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schützen. Ein solcher Vertrag kann dem deutschen Staat nicht einmal als Feigenblatt dienen.«106 In der SZ wird rückblickend geschrieben: Es ging um die »höchst umstrittenen Abschiebevereinbarungen, die im März 1995 der damalige Innenminister Kanther (CDU) mit der Türkei geschlossen hat. [...] Die Abschiebungen wurden auch dann noch fortgesetzt, als nachgewiesen wurde, dass die Türkei die Zusicherungen nicht einhält; schwere Misshandlungen abgeschobener Kurden wurden bekannt.«107 Während in der FAZ von einer Zuverlässigkeit der Türkei ausgegangen wird, wird dies in der SZ abgelehnt. An wenigen Stellen kommen Vertreter*innen der Türkei rechtfertigend hinsichtlich des Folterverdachts zu Wort. »Der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Ferhat Ataman, sagte am Mittwoch in Ankara, es gebe keinerlei Gründe für ›Verleumdungskampagnen und Spekulationen‹.«108 Der frühere türkische Justizminister Sungurlu wird zitiert: »Keine Demokratie sei vollkommen. ›In dieser Hinsicht sind alle Staaten in einem Demokratisierungsprozess.‹ [...] Die westlichen Vorwürfe gegen die Türkei seien überzogen.«109 Damit bezieht er sich vermutlich auch auf die Vorbehalte der EU, die Türkei als Beitrittskandidaten aufzunehmen.110 Hinsichtlich des Abschiebestopps gibt es eine Auseinandersetzung darum, wann und auf welcher Grundlage dieser beendet werden kann. »Die SPD-regierten Länder rufen bereits nach einem weiteren Aufschub, zumindest bis Ende April. Dann will der Innenausschuß des Bundestages sich mit dem Schicksal der Kurden befassen. Kanthers Weigerung, diese Frist zuzugestehen, stieß bei seinen Kollegen in den SPD-regierten Ländern auf scharfe Kritik. ›Der Respekt vor dem Parlament‹ hätte es verlangt, diese Anhörung abzuwarten«111 . In der FAZ kommt diese Kritik aus der Zivilgesellschaft: »Das ›Kurdische Informationsund Dokumentationszentrum‹ warf Kanther in einer Erklärung vor, die Sachverständigenanhörung als eine Farce zu betrachten, weil er keinen Zweifel daran gelassen habe, den Abschiebestopp zu beenden.«112 Die Argumentationen für und gegen einen Abschiebestopp bestreiten nicht die Existenz von Folter, sondern ziehen daraus unterschiedliche Konsequenzen. Die Darstellungen für einen Abschiebestopp berichten darüber, dass es Folter und Misshandlungen in der Türkei gibt, keinen Zugang zu Anwält*innen, schwierige Haftbedingungen und keine innertürkische Fluchtalternative.113 Die Fluchtalternative wird als Argumentationsstrategie kritisiert: »CDU und CSU benutzen in dieser Frage das Argument der ›innerstaatlichen Fluchtalternative‹. [...] Dieser Einschätzung widersprechen zahlreiche Kirchen-
106 Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung«. 107 Wolfgang Koydl und Heribert Prantl, »Schily verhandelt in Ankara über Abschiebung von Kurden.« Süddeutsche Zeitung, 08.11.1999. 108 Schneider, »Der ›Fall Simsek‹ kommt vor den Petitionsausschuß«. 109 Günter Bannas, »Opposition lehnt Abschiebungen ab.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.1995. 110 Heinz-Joachim Fischer, »Die Türkei lehnt Gespräche mit der Europäischen Union ab.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.01.1998. 111 Jakob Augstein, »Das Feilschen um Fristen geht weiter.« Süddeutsche Zeitung, 25.02.1995. 112 Bannas, »Opposition lehnt Abschiebungen ab«. 113 Hans-Christian Rößler, »›Weitere Bemühungen nötig«.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.1999.
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vertreter und landeskundige Menschenrechtsexperten.«114 Des Weiteren wird von Einzelfällen berichtet, die Folter nach Abschiebung erlebt haben. Zusicherungen der Türkei »seien ›nichts wert‹. Dies habe der Fall Murat Fani deutlich gemacht. [...] Der Rechtsanwalt habe erfahren, daß Murat Fani mit Elektroschocks gefoltert, an den Handgelenken aufgehängt, geschlagen und mit einem harten, eiskalten Wasserstrahl abgespritzt worden war. [...] Murat Fani sei ein Opfer der rigorosen Abschiebepolitik geworden. So etwas dürfe sich nicht wiederholen.«115 Die Argumentation gegen einen Abschiebestopp hingegen betont, dass es keine Gruppenverfolgung gegen alle Kurd*innen gibt und der Einzelfall individuell geprüft werden muss. Eine »Verfolgung von Kurden nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit gebe es in der Türkei nicht.«116 »Insbesondere werde ein Kurde nicht deshalb verfolgt, weil er ethnisch Kurde sei, fügte Beckstein hinzu. Besonders im Westen und an der Südküste der Türkei lebe die Hälfte bis annähernd zwei Drittel der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei in ›friedlich assimiliertem Zustand‹. Anders sei dies bei strafrechtlich relevanten Vorwürfen in bezug auf ›Separatismus‹.«117 Hier wird suggeriert, dass eine Anpassung von Kurd*innen durchaus zu erwarten sei und sie dann auch nicht von Verfolgung und Folter bedroht wären. Damit einhergehend wird Kurd*innen auch vorgeworfen, das Asylrecht zu missbrauchen und es wird ein Bezug zu Migration als Sicherheitsproblem und zum Asylkompromiss hergestellt. »Ein großer Teil der Kurden in Deutschland sei nicht wegen politischer Verfolgung, sondern aus wirtschaftlichen Gründen gekommen. Es gebe auch Schleuserkriminalität.«118 Nur eine einheitliche Politik und die Prüfung von individuellen Fluchtgründen könne Schleuserkriminalität bekämpfen und bewirken, dass der »Asylkompromiß die Grundlage wirksamer Politik«119 bleibe. »Die Landesbehörden dürften nur noch individuelle Abschiebehindernisse prüfen. [...] [Sonst] sei man nämlich ganz schnell wieder an der gleichen Stelle wie vor drei Jahren, als der Grundsatz gegolten hat: ›Wer reinkommt nach Deutschland, bleibt zumindest jahrelang drin.‹«120 In diesen Zitaten wird suggeriert, dass mit dem Abschiebestopp der Asylkompromiss untergraben wird und die Zuwanderung von kurdischen
Ulrich Deupmann, »Kurdischen Flüchtlingen droht jetzt Abschiebung.« Süddeutsche Zeitung, 23.11.1994. 115 Christian Schneider, »Familie Simsek droht wieder die Abschiebung.« Süddeutsche Zeitung, 30.12.1994. 116 Ulrich Deupmann, »Abschiebestop für Kurden kann beendet werden.« Süddeutsche Zeitung, 02.03.1995. 117 Daniel Deckers, »So objektiv wie möglich.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.1995. 118 Bannas, »Opposition lehnt Abschiebungen ab«. 119 Günter Bannas, »Kanther verlängert den Abschiebestopp für Kurden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.1995. 120 Ulrich Deupmann, »Kanther gegen neuen Abschiebestopp.« Süddeutsche Zeitung, 08.12.1994 Hervorhebung im Original. 114
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Flüchtlingen verstärkt wird, da der Abschiebestopp wie ein Bleiberecht wirke. Die realen Verfolgungsgründe der Kurd*innen werden dabei ausgeblendet. Des Weiteren sei der Abschiebestopp »ein falsches Signal sowohl an die Kurden als auch an die türkische Regierung.« Verfahrensabsprachen trügen »in der türkischen Regierung zur Bewußtseinsbildung« bei, ein Abschiebestopp hingegen bedeute, dass »sich kurdische Extremisten und Straftäter [...] in relativer Sicherheit wiegen könnten.«121 Hier wird ein Erziehungsauftrag für die Türkei formuliert und Abschiebung als eine Möglichkeit gesehen, weiterer Zuwanderung und Gewalt vorzubeugen. Während die inhaltliche Argumentation über den Abschiebestopp in beiden Zeitungen ähnlich wiedergegeben wird, wird dieser dennoch in parteipolitischer Hinsicht anders bewertet. In der FAZ wird der Abschiebestopp als ein »Fluch der guten Tat«122 bezeichnet, als »Geister«123 , die Kanther rief und nun nicht mehr loswird. Dabei sei der Abschiebestopp ein Zugeständnis der Union an die FDP gewesen und keine inhaltliche Entscheidung. »Die innerparteiliche Schwäche Kinkels war derart, daß sich Kohl entschloß, seinen Außenminister dadurch zu stützen, daß die Union der FDP nachgab.«124 Die Union wird stets so dargestellt, als hätte sie aus inhaltlichen Gründen niemals einem Abschiebestopp zugestimmt. In der SZ wird die Aufhebung des Abschiebestopps als »harte[r] Kurs«125 Kanthers gesehen und der Fokus auf den Streit zwischen SPD und Union gelegt. Zudem wird über die SPD in NRW berichtet, die aufgrund der anstehenden Landtagswahlen den Abschiebestopp früher aufhebt: Innenminister »Schnorr begründete den Kurswechsel damit, daß die Landes-CDU vor den Landtagswahlen am 14. Mai mit dem Thema bewußt Ausländerfeindlichkeit schüre. Die SPD wolle verhindern, daß sich erneut eine ausländerfeindliche Stimmung, wie vor dem Asylkompromiß 1993 bilde.«126 Es sei zu beobachten, »daß sich das Klima gegenüber den Kurden und anderen Ausländern in den vergangenen Wochen in Nordrhein-Westfalen sehr verschlechtert habe.«127 Hier wird davon ausgegangen, dass ein Abschiebestopp von der Bevölkerung als ungerechtfertig gesehen wird und sich dies auf die Haltung gegenüber Ausländern und auf die Wahlentscheidung auswirkt. Ausländerfeindlichkeit wird mit Abschiebungen bekämpft und die Stimmung der Bevölkerung als Begründung für eine restriktive Asylpolitik genutzt. Auf den Schutz vor Folter kann daher im Wahlkampf keine Rücksicht genommen werden.
9.3.3 Die EU-Sicherheitsgemeinschaft und die Lösung der Kurdenfrage Ende 1997 taucht ein neuer Aspekt im Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge auf, der die Perspektive von Abschiebung auf Einwanderungsverhinderung verschiebt und den Fokus der Berichterstattung auf die europäische Ebene erweitert. Hier taucht in beiden
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Deckers, »Sonderweg Abschiebestopp«. Bannas, »Was Kurden in der Türkei droht«. Deckers, »Sonderweg Abschiebestopp«. Bannas, »Was Kurden in der Türkei droht«. Deupmann, »Kanther gegen neuen Abschiebestopp«. Ulrich Deupmann, »Düsseldorf hebt Abschiebestop für Kurden auf.« Süddeutsche Zeitung, 01.04.1995. Ebd.
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Zeitungen das Deutungsmuster des Selbstschutzes auf. Vom 30. Dezember 1997 bis Ende Januar 1998 erscheinen 14 Artikel, davon sechs in der SZ, die sich mit der Ankunft kurdischer Flüchtlinge in Italien beschäftigen. Allein sechs Artikel erscheinen am 09. Januar 1998. Während bei den beiden vorangegangenen Unterkapiteln eine politische Verfolgung nicht grundlegend angezweifelt wird, sind die Fluchtgründe hier nebensächlich. Die Lösung des Flüchtlingsproblems wird in der Grenzsicherung, der Bekämpfung des Menschenhandels und in der Verantwortungsübernahme der Türkei gesehen. Europa wird dabei zu einer »Sicherheitsgemeinschaft«128 , die aufgrund der als Bedrohung gerahmten Zuwanderung ihre gemeinsamen Grenzen schützen muss. Die in diesem Zusammenhang genannte Austrocknung von »Einwanderungsströmen«129 stellt eine Entmenschlichung dar und verstärkt wie poröse Stellen und Einsickern130 die Vorstellungen eines Eindringens und die Gefahr einer Überschwemmung. Die Tatsache, dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben riskieren und über das Mittelmeer fliehen, tritt nahezu direkt in den Hintergrund. »Täglich passieren Hunderte von Schiffen die Adria, und haben die Kundschafter im Hubschrauber darunter einen Menschenfrachter entdeckt, so fragt sich, wie er aufzuhalten wäre. ›Diese Leute sind zu allem bereit, sie fangen an, sich ins Meer zu werfen‹, sagt der Sprecher. [...] Manchmal stellen die Besatzungen der Flüchtlingsschiffe auch den Motor ab und erheischen Hilfe nach dem internationalen Seerecht.«131 Stattdessen werden die kurdischen Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko für den Schengenraum wahrgenommen. Dieses Deutungsmuster ist in beiden Zeitungen erkennbar. Zudem wird plötzlich von verschiedenen Seiten eine politische Lösung der Kurdenfrage in der Türkei gefordert. Die Ankunft der Boote mit etwa 1.000 kurdischen Flüchtlingen erzeugt einen großen Handlungsdruck. Innerhalb weniger Tage nach Ankunft des ersten Bootes findet am 08. Januar 1998 eine Polizeikonferenz in Italien statt. Ende Januar verabschiedet der europäische Ministerrat »auf deutschen Wunsch hin einen Aktionsplan, mit dem EU-Regierungen und -behörden vor allem gegen die illegale Einwanderung und die Schleuserbanden vorgehen wollen.«132 Das »Flüchtlingsproblem«133 wird wie folgt beschrieben: die »illegale Zuwanderung von Kurden«134 , »die illegale Einreise Fremder«135 »illegale Einwanderer«136 »Menschenhandel durch Mafia-Gruppen«137 , »Menschenschmuggel [...] von einer
Albert Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.1998. 129 Peter Hort, »Die EU-Außenminister wollen mit Algerien im Gespräch bleiben.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.01.1998. 130 Rudolph Chimelli, »Jede Menge Grenzüberschreitungen.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1998. 131 Klaus Brill, »Italiens Strände – uferlos.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1998. 132 Hort, »Die EU-Außenminister wollen mit Algerien im Gespräch bleiben«. 133 Heinz-Joachim Fischer, »Streit über die Flüchtlinge in Italien. Europäische Initative gefordert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.1997. 134 Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen«. 135 Brill, »Italiens Strände – uferlos«. 136 AFP/Reuter, »›Asyl zu Lasten Deutschlands‹.« Süddeutsche Zeitung, 31.01.1998. 137 Fischer, »Streit über die Flüchtlinge in Italien. Europäische Initative gefordert.«. 128
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türkisch-kurdischen Mafia organisiert, die über gute Kontakte zu griechischen, italienischen und osteuropäischen Kriminellen verfügt«138 sowie »Schlepperbanden«139 . Der Fokus liegt auf der unberechtigten Einreise und jenen, die dies möglich machen. Es erfolgt eine Kriminalisierung der Flüchtlinge und Schleuser*innen, sowie eine Delegitimierung der Fluchtgründe. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, die »Harmonisierung der Zuständigkeit [und] europäische Lastenteilung«140 voranzutreiben und angesichts »der bedrohlichen Situation [...] die Außengrenzen der Schengener Staatengemeinschaft entschlossen«141 zu schützen. Flüchtlinge werden als Bedrohung und Sicherheitsproblem gesehen. Mit der Bezeichnung von Europa als Sicherheitsgemeinschaft werden die Herstellung und Aufrechterhaltung von Sicherheit für die europäischen Staaten und ihre Bevölkerung als zentrales Ziel der Europäischen Union benannt. Zuwanderung insbesondere über das Mittelmeer wird als wesentliche Bedrohung dieser Sicherheitsgemeinschaft gesehen. Die Sicherheit und eine menschenwürdige Lebenssituation für Menschen außerhalb der EU haben in dieser Rahmung keine Bedeutung. Vielmehr wird der Raum außerhalb der EU als Raum konstruiert, in dem es keine Sicherheit gibt und Chaos und Unordnung vorherrscht. Die Kooperation mit der türkischen Regierung dient vor allem der Verhinderung von Zuwanderung. Die türkische Regierung »sei zur Zusammenarbeit [bereit] um den Exodus zu bremsen. [...] [Die] Türkei sei gewillt, die in Italien gelandeten kurdischen Flüchtlinge unmittelbar wieder aufzunehmen; das würde bedeuten, daß auf die Gewährung von politischem Asyl verzichtet werde.«142 Durch den Begriff Exodus wird suggeriert, das ganze kurdische Volk sei auf dem Weg nach Europa. Die politische Verfolgung der kurdischen Flüchtlinge ist in diesem Diskurs nicht sagbar, lediglich Politiker Italiens werden hierzu zitiert: »Der Kommunist Cossutta sprach sich für langfristige Hilfen an die Kurden als politische Flüchtlinge aus, etwa durch die Gewährung von Asyl; die Türkei, sagte Cossutta, sei ein repressives Land; Europa müsse für die Kurden einstehen.«143 Das Eigene beinhaltet zum einen ein beginnendes europäischen Bewusstsein, welches durch die gemeinsamen Außengrenzen verstärkt wird. Das Verhältnis in der EU wird im Diskurs anhand der Beziehung zu Italien und der Rolle Deutschlands bei der Flüchtlingsaufnahme ausgehandelt. Deutschland setzt Italien massiv unter Druck, seine Verantwortung in der Sicherung der Außengrenzen wahrzunehmen und damit zu verhindern, dass die kurdischen Flüchtlinge weiter nach Deutschland reisen. Italien hingegen wehrt sich und sieht in der deutschen Arbeitsmigrationspolitik die eigentliche Ursache der Zuwanderung. »Und weit verbreitet ist das Gefühl, daß man es mit einer Zwangslage zu tun hat, die von den Deutschen geschaffen wurde. [...] Es sei die Folge deutscher Einwanderungspolitik, wenn es heute Millionen Türken und 500 000 Kurden in Deutschland gebe.«144 Dies sei »ein ›gigantischer Pol der Anziehung‹ für kurdische 138 Wolfgang Koydl, »Staatlich geduldeter Exodus.« Süddeutsche Zeitung, 03.01.1998. 139 Claus Gennrich, »Kinkel: Verständnis für Italien.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.01.1998. 140 Claus Gennrich, »Die Kritiker der FDP-Führung haben positive Signale empfangen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.1998. 141 Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen«. 142 Fischer, »Die Türkei lehnt Gespräche mit der Europäischen Union ab«. 143 Fischer, »Streit über die Flüchtlinge in Italien. Europäische Initative gefordert.«. 144 Chimelli, »Jede Menge Grenzüberschreitungen«.
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Flüchtlinge. ›Man kann uns heute nicht sagen: Weist sie zurück und basta, und mit dem Finger auf Italien zeigen.‹«145 Des Weiteren werden Zuschreibungen über Italien im Diskurs sichtbar, die auch ein Machtverhältnis zwischen Deutschland und Italien andeuten. »Die deutsche Kritik dünkt ihm wie ein Echo überholter Klischees von einem instabilen Italien mit schwacher Lira und dauernd wechselnden Regierungen.«146 Während sich zu der Anschuldigung früherer Migrationspolitik kein Kommentar von deutscher Seite in den beiden Zeitungen findet, betont Deutschland durchaus seine aktuelle Position bei der europäischen Asylaufnahme. »Die ungleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge gehe schon seit Jahren zu Lasten Deutschlands, ›ohne daß sich sonst irgend jemand in Europa daran gestört hätte‹.«147 »Mit mehr als jährlich 100 000 Asylbewerbern bleibe Deutschland für Flüchtlinge aus aller Welt das mit Abstand attraktivste Land der EU. ›Wir können aber nicht die Not der ganzen Welt schultern‹, meinte Kinkel. Auch dürfe es kein ›Asyl-Shopping‹ geben, bei dem sich jeder Flüchtling in der EU das günstigste Land aussuche.«148 Deutschland gelingt es zwar, einen Aktionsplan auf europäischer Ebene durchzusetzen und Italien und Frankreich zu stärkeren Grenzkontrollen anzuhalten, eine europäische Lastenteilung kann es im Alleingang trotz seiner machtvollen Position nicht durchsetzen. Daher bleibt nur die Selbstinszenierung als aufopferungsvolle und überlastete Retter*in. Innenminister Kanther wird von Außenminister Kinkel kritisiert, er dramatisiere die Situation in Italien. Dieser bekommt jedoch nun endlich die mediale Aufmerksamkeit für das Problem der illegalen Einwanderung: »Zunächst war dem CDU-Politiker dabei wenig öffentliche Aufmerksamkeit beschieden; erst als gegen Ende des Jahres Fernsehbilder von kurdischen Flüchtlingen, die mit Schiffen nach Italien gelangt waren, in deutschen Wohnzimmern zu sehen waren, entstand unversehens beträchtliche Aufregung.«149 Kinkel aber sieht das Problem woanders: Er »halte die Situation auch im Blick auf die Schiffstransporte nach Italien nicht für dramatisch. [...] Nicht die Kurden aus der Türkei bildeten ›das zentrale Problem für Deutschland‹, sondern diejenigen aus dem Irak.«150 Kinkel betont, dass die Anerkennungsquote von Kurd*innen aus der Türkei bei 12 % liege und sie daher überwiegend »Armutsflüchtlinge«151 seien, hingegen läge sie bei Kurd*innen aus dem Irak bei knapp 18 % und einem Abschiebeschutz von 62 %.152 Der Anteil mit Abschiebeschutz aus der Türkei wird jedoch nicht genannt. Kanther und Kinkel vertreten eine ähnliche Grundhaltung: es sollen möglichst wenig Menschen nach Deutschland kommen und Asyl beantragen. Während Kanther den Fokus auf die Grenzsicherung und Einwanderungsverhinderung legt und Fluchtgründe über illegale Einwan145 146 147 148 149
Brill, »Italiens Strände – uferlos«. Ebd. AFP/Reuter, »›Asyl zu Lasten Deutschlands‹«. Hort, »Die EU-Außenminister wollen mit Algerien im Gespräch bleiben«. Albert Schäffer, »Verdachtsunabhängige Kontrolle im deutsch-französischen Grenzraum.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.01.1998. 150 Gennrich, »Kinkel: Verständnis für Italien«. 151 Ebd. 152 Hort, »Die EU-Außenminister wollen mit Algerien im Gespräch bleiben«.
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derung illegitimiert, stellen für Kinkel die Flüchtlinge mit den legitimen Fluchtgründen das größere Problem dar. Damit spricht er sich gegen jegliche Art der Asylgewährung aus und wendet sich gegen das bestehende Recht auf Asyl. Ein Aspekt erscheint neu im Diskurs. Italien habe es gewagt, »das Undenkbare auszusprechen: Die Einberufung einer internationalen Konferenz zur Behandlung der kurdischen Frage.«153 Auch von deutscher Seite wird gefordert: »daß die Türkei eine politische Lösung für die Kurdenfrage finden müsse.«154 »Bei der Konferenz in Rom, verlangte Dietert-Scheuer, solle nicht über Wege zur Abschottung gegenüber Kurden gesprochen werden, sondern über Wege zur Lösung der Kurdenfrage in der Türkei und im Nord-Irak.«155 »Die Türkei müsse, sagte Kinkel, die Lage der Kurden verbessern, indem sie ihnen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie gewähre.«156 Die Empfindung einer eigenen Bedrohung und die eigene Betroffenheit bringt eine politische Lösung der Kurdenfrage wieder auf die Tagesordnung. Dies bleibt jedoch eine Floskel. Die Rahmung der kurdischen Zuwanderung als Sicherheitsproblem und als Vorwand für Abschottungsmaßnahmen wird lediglich an zwei Stellen kritisiert: »Wer die verständliche Flucht der Menschen eindämmen wollte, müsse gegen die Fluchtursachen vorgehen, sagte Wieczorek-Zeul. [...] Die Flucht der Kurden dürfe nicht als Vorwand dienen, die EU gänzlich abzuschotten, wie es bei Bundesinnenminister Kanther durchklinge.«157 »Unterdessen kritisierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, daß in der Flüchtlingsdebatte die Situation der Menschenrechte zu wenig beachtet werde. [...] Heute betrachte man die Kurden ausschließlich als Sicherheitsrisiko.«158 Die Rahmung von Flucht über das Mittelmeer als Sicherheitsproblem dominiert den Diskurs bei seinem Beginn 1998 und bis heute.
9.3.4 Kirchenasyl als zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen Abschiebung In der SZ bekommt das Thema Kirchenasyl viel Raum. Es ist wesentlicher Bestandteil des Deutungsmusters Selbstkritik. In den 1990er Jahren beschäftigen sich 110 Artikel explizit mit dem Thema, in der FAZ sind es hingegen nur 20 Artikel. Die FAZ berichtet eher sachlich über den Konflikt zwischen Kirchen und Staat und bleibt bis auf wenige Ausnahmen auf der Makro-Ebene. Bei den konkreten Fallbeispielen wird lediglich einmal von einer kurdischen Familie berichtet. In der SZ hingegen stehen die kurdischen Familien im Kirchenasyl in Bayern im Fokus. Die SZ nimmt eine klare Positionierung für Kirchenasyl,
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Koydl, »Staatlich geduldeter Exodus«. Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen«. Ebd. Gennrich, »Kinkel: Verständnis für Italien«. Albert Schäffer, »Zahl der Asylsuchenden seit 1992 um 76 Prozent gesunken.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.01.1998 Heidemarie Wieczorek-Zeul war damals Bundestagsabgeordnete der SPDFraktion. AFP/dpa, »EU berät über Aktionsplan gegen Flüchtlinge.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1998.
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gegen Abschiebung und gegen Handeln der bayerischen Behörden ein. Manche Familien werden über Jahre begleitet. Es geht darum, auf Lücken im Gesetz und auf die Auswirkungen für die Betroffenen aufmerksam zu machen und für einzelne Familien ein Bleiberecht zu erwirken. In der Berichterstattung der SZ findet eine starke Identifizierung mit den engagierten Menschen, Kirchengemeinden und Dörfern statt, die sich für den Schutz der kurdischen Flüchtlinge einsetzen. Der Widerstand gegen die restriktive Asylpolitik wird zum wesentlichen Teil des Eigenen. Humanität und der Schutz der Menschenrechte werden dabei ganz konkret. Die Berichterstattung setzt einen Gegenpol zu einem Deutschland, das sich nach der Grundgesetzänderung durch Abschottung und Abschiebung auszeichnet und zeigt Handlungsmöglichkeiten auf. Nicht zuletzt geht es auch darum, ob sich Kirche und Zivilgesellschaft in staatliche Aufgaben hinsichtlich Asyls einmischen darf. Die Einrichtung von Härtefallkommissionen unter Beteiligung von Zivilgesellschaft kann als eine Folge dieser Auseinandersetzung gesehen werden. Kirchenasyl wird als die letzte Möglichkeit dargestellt, »um Hilfesuchenden, denen im Falle einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht, vorübergehend Schutz zu gewähren.‹«159 bzw. »der letzte Ausweg, Gerechtigkeit walten zu lassen.«160 Es gehe nicht darum, dass man »Asyl im außerstaatlichen Raum gewähren wolle, sondern eine Korrektur der Gesetze erwarte zugunsten einer humaneren Behandlung der betroffenen Menschen.«161 Neben den Begriff der Gerechtigkeit, wird auch »Gnade« immer wieder benannt: »›Unsere Rechtsordnung bleibt darauf angewiesen, daß Gnade erfahrbar bleibt, die das Recht achtet, ihm aber nicht unterworfen ist.«162 Gerechtigkeit und Gnade sind zwei Begriffe, die stark durch die christliche Tradition geprägt sind und sehr unterschiedliche Konzepte beinhalten, aber beide als Begründung für die Notwendigkeit von Kirchenasyl genutzt werden. Des Weiteren wird häufig darauf verwiesen, Kirche sei kein rechtsfreier Raum und stehe nicht außerhalb der Gesetze. »Was derzeit in einigen Kirchen geschehe, sei lediglich eine Unterkunftsgewährung mit der Konsequenz, daß eine Abschiebung nur unter besonderem öffentlichem Interesse stattfinden könne. Dies bedeute aber wiederum für die Menschen einen gewissen Schutz. Grundsätzlich gilt [...], daß die Kirche ›kein rechtsfreier Raum ist‹.«163 In der SZ wird über eine Fachdiskussion der christlichen Hochschulgemeinden mit dem Titel: »Kirchenasyl: Rechtsbruch oder Menschenrecht?« berichtet, in der der rechtsfreie Raum anders gedeutet wird: Wie »Walter Radl, Professor an der Katholischen Fakultät in Augsburg, [...] betonte, stelle die oft von Behörden eingebrachte These, die Flüchtlinge befänden sich im Kirchenasyl im ›rechtsfreien Raum‹, die Sache völlig auf den Kopf. Das Asyl in Heiligtümern sei schon der Antike deshalb geschaffen worden, weil dort der einzige Raum war,
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Wolfgang Görl, »Kirchenkeller als letzte Zuflucht.« Süddeutsche Zeitung, 06.04.1994. Ebd. Cornelia Glees, »SPD fordert Härtefallklausel im Asylrecht.« Süddeutsche Zeitung, 16.09.1996. Christine Setzwein, »Ein Dorf kämpft um seine Kurden.« Süddeutsche Zeitung, 12.03.1994. KNA, »›Kirche gewährt kein Asyl‹.« Süddeutsche Zeitung, 08.04.1994.
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wo der Mensch zu seinem Recht kommen konnte. ›Kirchenasyl muß es also nur dann geben, wenn der Staat selbst rechtsfreie Räume aufweist‹, so der Theologe.«164 Obwohl der bayerische Innenminister Beckstein zusicherte, Kirchenasyl nicht mit Gewalt zu beenden, wurde der Togolese Saguintaah Bilakinam Solona aus dem Kirchenasyl heraus verhaftet.165 Die Kirchen als Institution distanzieren sich 1994 zunächst gänzlich von den Praktiken des Kirchenasyls, 1997 beschreiben sie in einer gemeinsamen Stellungnahme Kirchenasyl als nachvollziehbare Gewissensentscheidung, jedoch müsse die strafrechtlichen Konsequenzen jede Gemeinde selbst tragen. »Als ›irreführend‹ haben Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche den Begriff ›Kirchenasyl‹ für die Aufnahme mit Abschiebung bedrohter Flüchtlinge bezeichnet. [...] Es gehe ja nicht um Hilfsmaßnahmen der Kirche insgesamt, sondern um einzelne Gemeinden, sagte Schmude im Südwestfunk. [...] Auch die Christen müßten Gesetze respektieren. Dennoch akzeptiere die Kirche, wenn jemand nach sorgfältiger Gewissensprüfung dagegen verstoße. Daraus resultierende Sanktionen müsse er aber alleine tragen.«166 Es gab jedoch einzelne Verantwortliche in den Kirchen, wie der Augsburger Bischof Viktor Josef Dammertz, der sich »persönlich hinter das Anliegen derer [stellte], die Kirchenasyl gewähren.«167 Die Unterstützung der Bevölkerung und der Gemeindemitglieder für von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge wird als etwas Besonderes hervorgehoben. »Doch nun geschieht etwas, was der evangelische Pfarrer Peter Schwarz als ›echtes Wunder‹ bezeichnet. Die Steinebacher tun sich zusammen«168 »Erstaunt ist er über die ›positive Resonanz der Bürger in den Gemeinden und der Gottesdienstbesucher. Viele haben spontan ihre Unterstützung angeboten.‹«169 Der Normalfall sei eine ausländerfeindliche Gesellschaft, für diese Einzelfälle, denen die Menschen persönlich begegnet sind, würden sich jedoch ganze Kirchengemeinden und Dörfer engagieren. »Das Kirchenasyl wird von der ganzen Kirchengemeinde mitgetragen. ›Ich kenne niemanden, der etwas dagegen gesagt hätte‹, sagt der Gemeindepfarrer Kube. Der Asylbeschluß des Kirchenvorstands wurde einstimmig gefaßt.«170 »Bei der derzeitigen Ausländerfeindlichkeit dürfe ein ganzes Dorf, das sich für Flüchtlinge einsetzt, ›nicht einfach abgespeist werden‹.«171 Hier geht es nicht mehr nur um den Schutz der Flüchtlinge, sondern um das Engagement der Menschen,
164 Conny Neumann, »Augsburger Bischof verteidigt Kirchenasyl.« Süddeutsche Zeitung, 07.07.1995. 165 Glees, »SPD fordert Härtefallklausel im Asylrecht«. 166 KNA, »›Kirche gewährt kein Asyl‹« Jürgen Schmude war damals Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. 167 Neumann, »Augsburger Bischof verteidigt Kirchenasyl«. 168 Setzwein, »Ein Dorf kämpft um seine Kurden«. 169 Olaf Kaltenborn, »›Wir haben Angst, in der Türkei gefoltert zu werden‹.« Süddeutsche Zeitung, 14.02.1998. 170 epd, »Im Pfarrhaus wird es eng.« Süddeutsche Zeitung, 08.06.1996. 171 Setzwein, »Ein Dorf kämpft um seine Kurden«.
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das ernst genommen werden muss. Ansonsten würden Asylsuchende nur bei Kriminalität auffallen und ansonsten anonym bleiben: »Hunderte von Flüchtlingen werden jährlich aus Deutschland abgeschoben. Es handelt sich um Menschen ohne Namen und Gesichter, die in Sammelunterkünften oder abbruchreifen Häusern gelebt haben. Sie sind nicht aufgefallen, höchstens wenn sie bei einem Laden- oder Fahrraddiebstahl erwischt wurden. Dann ist die Entrüstung groß, und man hat es schon immer gewußt: Die Ausländer müssen raus. Das ist die Regel. Die Ausnahme ist das Dorf Steinebach am oberbayrischen Wörthsee. Hier haben Flüchtlinge Gesichter und die Gesichter Namen bekommen«172 . Es wird davon ausgegangen, dass der persönliche Kontakt und das Kennenlernen von einzelnen Schicksalen zur Empathie beigetragen haben. Die Stimmung der Bevölkerung wird zum Bleiberechtskriterium. Häufig wirkt es in der Berichterstattung der SZ so, dass sie durch Zitate und Fallbeispiele Argumente gegen die bayerische Asylpolitik sammelt. »Unter Asylbewerbern haben deutsche Bundesländer eine eigene Hierarchie, und für manche Gruppen rangiert Bayern ganz unten auf der Liste: ›Kurden haben in Bayern kaum eine Chance‹, meint Ahmet Akgül, der sich seit über drei Jahren um Asyl für sich und seine Familie bemüht. [...] ›Knallhart ist hier die Asylpolitik‹, sagt auch Jutta Göbel, die sich in der Initiative Pro Asyl um die Familie kümmert.«173 »In einem erst jetzt bekannt gewordenen Parlamentsbeschluß [...] heißt es, man habe den Eindruck, ›daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal, der körperlichen Unversehrtheit und dem Leben eines Menschen umgegangen wird‹.«174 Die FAZ, die sich sonst in einer Positionierung über die bayerische Asylpolitik und das Engagement der Kirchen zurückhält, wird lediglich im Fall Fariz Simsek deutlich und sieht im Kirchenasyl eine medienwirksame Verhinderung der Abschiebung: »Simsek behauptet nämlich, und viele Publizisten nehmen es ihm ab, daß ihm in der Türkei ›Folter und Tod‹ drohten. [...] Seitdem ist der Kurde ein Paradebeispiel dafür, wie die Behörden daran gehindert werden können, die fälligen Konsequenzen zu ziehen.«175 »Immer wieder wird erklärt, der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen, etwa durch Terroristen. Erpressung durch Meinungsdruck ist aber ebensogut möglich. Der Straftäter Simsek hat Fürsprecher gefunden, die über ihn wie über ein Lamm reden, das bayerische Politiker zur Schlachtbank führen wollen.«176 Die gleiche Person wird in der einen Zeitung als von Abschiebung bedrohtem Opfer bayerischer Asylpolitik, in der anderen als Straftäter, Terrorist und Lügner beschrieben. 172 173 174 175 176
Ebd. Christina Rathmann, »Abschiebung droht wie Damoklesschwert.« Süddeutsche Zeitung, 04.09.1995. dpa, »›Leichtfertiger Umgang mit Simsek‹.« Süddeutsche Zeitung, 06.03.1996. Finkenzeller, »Dirigierende Gesten«. Finkenzeller, »Dirigierende Gesten«.
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Die vielen Kirchenasyle, die nach dem Asylkompromiss entstehen, tragen zum einen dazu bei, dass Einzelfälle detailliert in den Medien dargestellt werden und teilweise über Jahre begleitet werden. Zum anderen entwickelt sich auch eine politische Debatte um Fälle, die zwar vom Gesetz her abgelehnt werden, aber dennoch aus menschlicher Sicht ein Bleiberecht bekommen sollten. Nachdem zunächst ein Kirchenkontingent erwogen wird, bei dem die Kirchen die Finanzierung der Fälle übernehmen müssten, entwickelt sich die Idee einer Härtefallregelung. »Der Streit um das sogenannte Kirchenasyl reißt nicht ab. Am Wochenende forderte die SPD-Chefin Renate Schmidt Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) auf, sich im Bundesrat dringend dafür einzusetzen, daß das Asylrecht um eine Härte- und Altfälleregelung ergänzt werde.«177 »Der Fall Simsek mache erneut die ›notwendige Einrichtung einer Härtefallkommission‹ deutlich.«178 Im März 1996 wird eine Härtefallregelung auf Bundesebene für abgelehnte Asylsuchende beschlossen, die vor dem Sommer 1990 eingereist sind. Diese sind an bestimmte Integrationsbedingungen geknüpft: »Die kurdische Familie [...] lebt seit mehr als sechs Jahren sie (sic!) mit ihren zwei Kindern, die in die Schule gehen, in Deutschland; die Eltern sind berufstätig und haben eine Arbeitserlaubnis; Ausweisungsgründe liegen nicht vor; und genügend Wohnraum ist auch vorhanden. Damit sind die Asylbewerber, wie es die Innenminister für Härtefälle voraussetzen, eigentlich ›faktisch integriert‹.«179 Die Härtefälle rufen aber neue Konflikte hervor. »Ihr ›Fall‹ aber wirft die Frage auf nach dem juristischen und politischen Gradmesser von Integrationsfähigkeit. Die Zans hatte zuletzt ein ganzes Dorf, eine Grundschule und einen Fußballverein hinter sich. Eine Lichterkette wurde für sie organisiert, zwei Petitionen gingen an den Landtag, ein Gnadengesuch an Ministerpräsident Stoiber.«180 Es wird vermutet, dass damit ein Präzedenzfall vermieden werden soll: »Eine Aufenthaltsbefugnis für die Zans [...] würde das Bleiberecht für 40 weitere ausländische Familien bedeuten. Sie alle nämlich, insgesamt 190 Menschen, könnten sich auf die Härtefallregelung berufen.«181 Interessant ist dabei, dass Integration häufig in Anführungsstrichen geschrieben wird, als sei noch herauszufinden, was dies eigentlich beinhaltet. Langfristig trugen die Kirchenasyle und die Berichterstattung über Einzelschicksale, in denen das Asylrecht nicht greift, dazu bei, dass die Möglichkeit, in den Bundesländern eine Härtefallkommission einzurichten, in das neue Zuwanderungsgesetz 2005 aufgenommen wurden. Darin sind unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteur*innen vertreten. Auch wenn diese nur eine Empfehlung für den*die Innenminister*in aussprechen und diese nicht bindend ist, gibt es nun eine institutionalisierte Rolle und ein Mitspracherecht der Zivilgesellschaft bei Härtefällen. Dies war jedoch nicht der Verdienst der Kirche als Institution, sondern von mutigen Christ*innen, die eine strafrechtliche Verfolgung nicht von ihrer Überzeugung ab-
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Glees, »SPD fordert Härtefallklausel im Asylrecht«. Christian Schneider, »Neue Heimat für Simsek.« Süddeutsche Zeitung, 10.06.1997. Martin Meggle, »Pässe nur gegen zehn Adressen.« Süddeutsche Zeitung, 18.06.1996. Jutta Czeguhn, »Familie Zan muß nach neun Jahren zurück in die Türkei.« Süddeutsche Zeitung, 23.04.1998. Ebd.
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bringen konnte, Abschiebungen zu verhindern. In den Konstruktionen der Anderen wird detaillierter darauf eingegangen, wie Kurd*innen in der Berichterstattung über das Kirchenasyl dargestellt wurden.
9.4 Das Andere 9.4.1 Kurdische Flüchtlinge Bei einer Betrachtung der Konstruktionen der Kurd*innen in der Berichterstattung wird zum einen deutlich, dass es wenige dominante, und gleichzeitig gegensätzliche Grundkonstruktionen gibt, zum anderen, dass sich die Konstruktionen je nach Thema und Betrachtung sehr vielfältig darstellen. Die Grundkonstruktionen sind Kurd*innen als abgelehnte oder abgeschobene Asylbewerber, Kurd*innen als gewalttätige PKK-Anhänger*innen und von Abschiebung bedrohte kurdische Familien mit Foltererfahrungen. Des Weiteren gibt es Konstruktionen von Kurd*innen als Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge, Kurd*innen als Straftäter*innen, Kurd*innen in der Türkei als diskriminierte Minderheit, Kurd*innen bei ihrer Ankunft in Italien als illegale Einwanderer und Kurd*innen als Gäste oder Zugehörige. Bis auf die letzte Kategorie lassen sich alle Konstruktionen in die Dichotomie von legitimen und illegitimen Fluchtgründen und davon abhängigem Bleiberecht einteilen. In der SZ dominiert die Schutzbedürftigkeit der Kurd*innen, in der FAZ illegitime Fluchtgründe und Gewalttätigkeit. In der SZ wird die Perspektive, die in der FAZ zu finden ist, explizit kritisiert: Es gebe eine »Wahrnehmungsblockade in der öffentlichen Meinung: ›Kurden werden hierzulande pauschal mit der PKK gleichgesetzt. Deshalb sieht die deutsche Öffentlichkeit in ihnen eher Kriminelle als Verfolgte.«182 Kurd*innen werden so zum »Vorzeige-Asylbetrüger«, »exemplarischer Fall von Asylmißbrauch«, und »mal als Terroristen, mal als Wirtschaftsflüchtling – in jedem Fall aber als jemanden ohne Recht auf Asyl«183 wahrgenommen. Die Konstruktionen von Zugehörigkeit und Gaststatus erweitern die Perspektive, weil sie berücksichtigen, dass viele Kurd*innen bereits Jahrzehnte in Deutschland sind und zum Teil auch bereits die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die Konstruktionen werden im Folgenden anhand ihrer Begrifflichkeiten betrachtet, die genauere Betrachtung der Grundkonstruktionen findet sich in den folgenden Unterkapiteln. In der Diskussion um Abschiebung dominiert die Bezeichnung »abgeschobene Kurden«184 , des Weiteren wird »abgelehnte kurdische Asylbewerber«185 und sehr selten »kurdische Flüchtlinge«186 verwendet. Herausgestellt wird damit die kurdische Zugehörig182 Kaltenborn, »›Wir haben Angst, in der Türkei gefoltert zu werden‹«. 183 Barbara Nolte, »Das Recht auf Asyl – fast ein Lotteriespiel.« Süddeutsche Zeitung, 07.01.1997. 184 Zum Beispiel in: Bannas, »Parteipolitische Debatten überdecken lang geübte Praxis« Bannas, »Was Kurden in der Türkei droht« Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung« AP/dpa, »Kurden fliehen in den Nordirak.« Süddeutsche Zeitung, 08.04.1994; Augstein, »Das Feilschen um Fristen geht weiter«. 185 Deupmann, »Düsseldorf hebt Abschiebestop für Kurden auf«. 186 Bannas, »Einheitliche Regelung von Montag an« Bolesch, »›Kurden bei Abschiebung generell gefährdet‹«.
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keit und dass sie kein Bleiberecht in Deutschland haben bzw. hatten. Teilweise wird auch auf die Staatsbürgerschaft Bezug genommen und »Kurden türkischer Staatsangehörigkeit«187 genutzt oder von »abgeschobenen türkischen Staatsbürgern«188 gesprochen. Unabhängig, ob in den jeweiligen Artikeln von Folter in der Türkei ausgegangen wird oder nicht, suggeriert der Begriff, dass es keine legitimen Fluchtgründe gab, da sie abgeschoben werden sollen. Daher findet sich vermutlich auch selten der Begriff des Flüchtlings. In der Darstellung um die PKK steht die politische Gewalttätigkeit im Vordergrund. Mitglieder der PKK werden unter anderem bezeichnet als »militante Kurden«189 , »kurdische Überzeugungstäter [...] kurdische Gewalttäter«190 , »kurdische Extremisten und Straftäter, allen voran die Mitglieder der in allen westeuropäischen Ländern aktiven PKK«191 , »extremistische Gewalttäter etwa von der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK«192 , »Demonstranten, unter ihnen Aktivisten und Sympathisanten der als terroristisch verbotenen ›kurdischen Arbeiterpartei‹ PKK«193 , »militante Aktivisten der PKK«194 und »potentielle kurdische Gewalttäter«195 . Ihnen wird ein enorm großes Gewaltpotential unterstellt. Über die Motive von PKK-Mitgliedern wird selten berichtet, es wird lediglich häufiger betont, sie täten dies »im Auftrag des kurdischen Volkes«196 . Undenkbar wäre die Aussage eines italienischen Politikers als Position der beiden Zeitungen: »daß Öcalan nicht nur als Terroristen-Chef, sondern auch als politischer Kämpfer anzusehen ist.«197 In der SZ hingegen wird die Verknüpfung von Kurd*innen und PKK, sowie politischem Engagement und PKK stellenweise aufgebrochen. Es wird die »Hau-Ruck-Abschiebung von vermeintlichen PKK-Mitgliedern »»198 kritisiert und über die »oft lebensbedrohliche Verfolgung gerade politisch aktiver Kurden in der Türkei«199 berichtet. Während in der Berichterstattung um PKK-nahe Gewalt die »kräftigen kurdischen Männer[n]«200 dominieren, werden im Kontext von Foltererfahrungen, Abschiebedrohung und Kirchenasyl die kurdischen Familien201 und Familienväter in den Vordergrund
187 Deckers, »Sonderweg Abschiebestopp«. 188 Tomas Avenarius, »Mit deutschem Ticket in den türkischen Folterkeller.« Süddeutsche Zeitung, 18.05.1998. 189 Schuller, »In dichten Ketten haben kurdische Männer den Trauerzug in Berlin begleitet«. 190 Behr, »›Kurden schneller abschieben‹«. 191 Deckers, »Sonderweg Abschiebestopp«. 192 Deupmann, »Düsseldorf hebt Abschiebestop für Kurden auf«. 193 Helmut Schwan, »›Einzelfall‹ macht die Ausweisung schwierig.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.1994. 194 Ebd. 195 Roswin Finkenzeller, »Rechtsextremismus in Bayern stagniert.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.1999. 196 Schuller, »In dichten Ketten haben kurdische Männer den Trauerzug in Berlin begleitet«. 197 Klaus Brill, »Warum Öcalans Weg nach Rom führte.« Süddeutsche Zeitung, 18.11.1998. 198 Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹«. 199 Rolf Thym, »Unterschlupf für jungen Kurden.« Süddeutsche Zeitung, 15.04.1993. 200 Zastrow, »Der Totenschein verzeichnet als Todesursache: ungewiß«. 201 Thomas Lochte, »Familie Nas hat Todesangst vor der Türkei.« Süddeutsche Zeitung, 31.01.1994; epd, »Im Pfarrhaus wird es eng« Wolfgang Görl, »Banges Warten im Kirchen-Keller.« Süddeutsche Zeitung, 23.04.1994.
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gerückt. Die Familien und jedes einzelne Familienmitglied werden namentlich vorgestellt. Die Beschreibungen beinhalten die Foltererfahrungen in der Türkei, lange, aber unsichere Aufenthalte in Deutschland, meist mehrere Kinder und Integration in Arbeit, Schule und Gesellschaft. Während Fariz Simsek in der FAZ als Straftäter202 dargestellt wird, ist er in der SZ ein »29jährige[r] Familienvater«203 bzw. der »kurdische Familienvater Fariz Simsek (29)«204 . Auch bei anderen Familien wird der Vater als verantwortlich und sich sorgend dargestellt: »Jeden Monat, wenn sich Familienvater Ahmet in die Warteschlange am Landratsamt einreiht, um seine Aufenthaltserlaubnis zu erneuern, bedeutet das nur die Verlängerung eines Übergangszustandes. In diesem permanenten Provisorium hat sich die Familie in den letzten zwei Jahren ihren Alltag eingerichtet.«205 Im Laufe der Zeit ändert sich das Bild von einer Opferkonstruktion, die Unterstützung brauchen zu politischen Subjekten, die selbst Forderungen stellen und durch Hungerstreiks und Besetzung von Zeitungsredaktionen auf sich aufmerksam machen.206 Die Darstellung der Handlungsfähigkeit ist eine Besonderheit im Asyldiskurs. Neben diesen Grundkonstruktionen gibt es weitere, die nur punktuell auftauchen. Eine davon ist die Infragestellung legitimer Fluchtgründe durch die Begriffe »Armutsflüchtlinge«207 und »Wirtschaftsflüchtlinge«208 . »Ein großer Teil der Kurden in Deutschland sei nicht wegen politischer Verfolgung, sondern aus wirtschaftlichen Gründen gekommen.«209 In der SZ wird auch dies in Frage gestellt: »Nach der geläufigen europäischen Definition fliehen die Kurden nicht vor Krieg, Drangsal oder Verfolgung; es handelt sich um reine Wirtschaftsflüchtlinge. Es ist jedoch eine Überlegung wert, ob sie je in diese Lage gekommen wären, wenn in ihrer Heimat nicht seit 15 Jahren Krieg geführt würde.«210 Obwohl die meisten Straftaten als politische Gewalt gerahmt werden, gibt es Darstellungen von anderen Formen von Kriminalität. Es wird dargestellt, dass der »Großteil des Rauschgifthandels von kurdischen Gangs betrieben wird.«211 , der »Menschenschmuggel [...] von einer türkisch-kurdischen Mafia organisiert« wird und der »Heroinmarkt fest in türkisch-kurdischer Hand ist«212 . Problematisch sei, dass »ein türkischer Drogendealer ja nur noch in der PKK tätig«213 werden müsse, um nicht ausgeliefert bzw. abgeschoben zu werden. Die Diskussion um die Zugehörigkeit stellt die eindeutige Zuordnung
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Finkenzeller, »Dirigierende Gesten«. Krill, »Innenminister Beckstein im Zentrum der Kritik«. Hannes Krill, »Fariz Simsek darf vorerst bleiben.« Süddeutsche Zeitung, 11.02.1995. Rathmann, »Abschiebung droht wie Damoklesschwert«. Jürgen Kahl, »Hungerstreik in der Geschäftsstelle.« Süddeutsche Zeitung, 19.01.1999. Günter Bannas, »Kinkel gegen Dramatisierung.« Süddeutsche Zeitung, 09.01.1998. Günter Bannas, »Kanther: Abschiebestopp nicht verlängern.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.1995. 209 Bannas, »Opposition lehnt Abschiebungen ab«. 210 Wolfgang Koydl, »Entweder Schuhputzer oder Fußabtreter.« Süddeutsche Zeitung, 14.01.1998. 211 Dieter Fabritius, »Eifersüchtiger Kurde wegen Mordes gesucht.« Süddeutsche Zeitung, 29.03.1994. 212 Daniel Deckers, »Rechtsextremisten, linksextremistische Türken oder Kurden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.08.1994. 213 Deupmann, »Kanther gegen neuen Abschiebestopp«.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
als Fremde und Andere in Frage und inwiefern Kurd*innen als neu Zugewanderte, Gäste oder Zugehörige wahrgenommen werden können. Solange sie nicht in Deutschland sind, zeigt sich ähnlich wie in Kapitel 3 mehr Empathie und Bereitschaft, die Fluchtgründe als legitim anzuerkennen. Dies zeigt sich zum einen in der Berichterstattung über Italien, in der die Kurd*innen durchgehend als (illegale) Flüchtlinge214 oder »kurdische Flüchtlinge«215 beschrieben werden, jedoch nur von Politiker*innen Italiens als »politische Flüchtlinge«216 . In der Berichterstattung des Journalisten Wolfgang Koydl aus der Türkei wird deutlich benannt, dass die kurdische Minderheit in der Türkei, »wegen ihrer kurdischen Herkunft diskriminiert«217 werden. Eine weitere Begrifflichkeit, die die Situation der Kurd*innen in der Türkei und den anderen Ländern entpersonalisiert, ist die Beschreibung ihrer Minderheitensituation ohne ausreichende Rechte als »Kurden-Problem«218 oder »Kurdenfrage«219 – ähnlich wie in den 1980er Jahren das Asylantenproblem bzw. Asylantenfrage. Damit wird das Problem bei den Kurd*innen verortet und die mangelnden Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei unsichtbar gemacht. Abschließend lässt sich sagen, dass die Konstruktionen in keinem anderen untersuchten Diskurs so divers und gegensätzlich sind. Dies macht deutlich, dass sich der Diskurs im Laufe der 1990er Jahre stärker differenziert und einer stärkeren Aushandlung unterworfen ist. Auf die beiden dominantesten Konstruktionen wird nun im Detail eingegangen.
9.4.2 Die Macht der Gewalt(täter*innen) Die Berichterstattung über die PKK und ihre Gewalttaten in Deutschland kann hier nicht umfassend analysiert werden. Oben wurde schon gezeigt, wie sich diese Themen mit dem Diskurs um Flucht und Asyl verschränken und bestimmte Konstruktionen über kurdische Flüchtlinge hervorbringen. Grundsätzlich wird in der FAZ mit dem Deutungsmuster des Selbstschutzes über Gewalttaten wesentlich mehr als in der SZ berichtet. Es entsteht ein Bild, dass es vor allem kurdische Asylsuchende sind, die Gewalttaten in Deutschland ausführen und damit die innere Sicherheit in Deutschland gefährden. Die Berichterstattung trägt zudem dazu bei, dass Kurd*innen vor allem mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Es findet sich eine enge Verbindung zwischen der Bekämpfung der PKK und einer erleichterten Ausweisung für ausländische Straftäter*innen. Im Folgenden wird dargestellt, wie unterschiedlich in den beiden Zeitungen über die Gewalt berichtet wird und welche Macht der PKK zugeschrieben wird. Zwei entscheidende Ereignisse, auf die in der Berichterstattung immer wieder Bezug genommen wird, ist das Verbot der PKK im November 1993 und die Autobahnblockaden, Demonstrationen und Selbstverbrennungen im März 1994, bei denen es viele Festnahmen gab. Anlass war das Verbot von Newroz-Festen in verschiedenen Städten
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Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen«. AFP/dpa, »EU berät über Aktionsplan gegen Flüchtlinge«. Fischer, »Streit über die Flüchtlinge in Italien. Europäische Initative gefordert.«. Wolfgang Koydl, »Nach dem Krieg in die Schlammschlacht.« Süddeutsche Zeitung, 08.10.1996. Evelyn Roll, »Die zerstörerische Gewalt von Seelenqualen.« Süddeutsche Zeitung, 26.03.1994. Schäffer, »Kanther: Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen«.
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in Deutschland. Als die in Busse anreisenden Kurd*innen auf den Autobahnen von der Polizei gestoppt wurden, kam es zu Auseinandersetzungen, Feuerlegungen und Autobahnblockaden. Die Situation eskalierte an vielen Orten, sodass 85 Polizist*innen verletzt wurden. Zwei Kurdinnen in Mannheim, Nilgün Yildirim und Bedriye Tas, zündeten sich aus Protest gegen das Verbot und die Verfolgung ihres Volkes an und starben. In der Berichterstattung wurden die Aktionen mit Terror und Krieg gleichgesetzt.220 In der FAZ werden die Ausschreitungen eng mit aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen verknüpft. »Nach den organisierten Ausschreitungen im März war eine große Zahl von Demonstranten, [...] festgenommen worden, bei den Autobahn-Blockaden allein 230 Personen. Gegen acht von ihnen erging Haftbefehl. Offenbar kommt die Polizei bei der Bearbeitung der Fälle jedoch nur langsam voran und hat bisher erst in wenigen Fällen die Ordnungsämter von Straftaten bei ihnen gemeldeter Ausländer unterrichtet.«221 In der FAZ finden sich lange Aufzählungen von Anschlägen, die der PKK zugeschrieben werden: »Mehr als fünfzehn Anschläge sind in den vergangenen zehn Wochen auf türkische Gebetshäuser, Vereinslokale, Restaurants, Reisebüros und andere Firmen in Deutschland verübt worden. [...] Kaum ein Anschlag konnte bisher aufgeklärt werden.«222 1995 dokumentiert die FAZ in einem sehr langen Artikel die Aktivitäten der PKK und deren Bekämpfung sowie Abschiebung von Kurd*innen in jedem Bundesland: »Überblick über die der PKK zugerechneten Straftaten«223 . Der Versuch einer detaillierten Darstellung scheitert aber bereits daran, »daß bei türkischen Staatsangehörigen in Abschiebehaft nicht nach ethnischer Zugehörigkeit unterschieden werde.«224 Die PKK wird in der FAZ als bedrohlich, gefährlich und mächtig wahrgenommen mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen zu mobilisieren und die innere Sicherheit in Deutschland zu gefährden. Dies zeigt auch das wiederholte Misstrauen, dass der Rückgang der Gewalttaten als eine strategische Phase der Gewaltlosigkeit betrachtet wird: »Hinzukomme, daß die PKK jetzt nicht den Konflikt mit den deutschen Sicherheitsbehörden suche, sondern auf Friedfertigkeit angelegt sei, um ihre Aktivitäten in Deutschland im Schutz deutscher Vereine fortsetzen zu können.«225 Auch 1997 werden hinter der Kooperationsbereitschaft andere Ziele, wie die Aufhebung des PKK-Verbots, vermutet: »PKK-Führer Öcalan hatte 1996 verkündet, alle Gewaltakte in Deutschland einzustellen, und Interesse an einem ›politischen Dialog‹ mit der Bundesregierung bekundet. In den jüngsten Verfassungsschutzberichten des Bundes und Niedersachsens wird der
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Maier, »Eine freigeräumte Autobahn ist noch keine Außenpolitik«. Schwan, »›Einzelfall‹ macht die Ausweisung schwierig«. Deckers, »Rechtsextremisten, linksextremistische Türken oder Kurden«. F. A. Z., »Die Schwerpunkte der terroristischen kurdischen Arbeiterpartei PKK liegen im Westen Deutschlands.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.09.1995. 224 Ebd. 225 Deckers, »Rechtsextremisten, linksextremistische Türken oder Kurden«.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
PKK bescheinigt, daß sie die ›friedliche Linie‹ nach außen hin konsequent einhalte, parteiintern jedoch weiterhin Gewalt praktiziere.«226 1998 geht der »Ausländerextremismus« laut einem Verfassungsschutzbericht um die Hälfte zurück. Der bayerische Innenminister Beckstein folgert auch hier: »Wenn zum Beispiel potentielle kurdische Gewalttäter sich zurückhielten, beruhe das oft nicht auf grundsätzlichem Gewaltverzicht, sondern nur auf der taktischen Überlegung, die Behörden in Sicherheit zu wiegen. Öcalan und seine Anhänger könnten die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) jederzeit zu Gewalttaten veranlassen.«227 Dies zeigt, wie viel Macht und Einfluss Öcalan in Deutschland zugeschrieben wird. Erst 1999 entscheidet das Verfassungsgericht, dass eine Mitgliedschaft und Betätigung in der PKK nicht automatisch die innere Sicherheit Deutschlands gefährdet und eine Ausweisung rechtfertigt. Das Gericht fordert damit mehr Differenziertheit und Schutz, auch für Terrorist*innen.228 Terrorismus verfolgt neben politischen Zielen auch eine psychologische Wirkung der Gewalttaten. In der Analyse wird deutlich, dass nicht nur die eigentlichen Gewalttaten Angst verursachen, sondern dass sich die Deutungsmuster der Berichterstattung stark auf die Wahrnehmung der Gewalt auswirken. Die Gefahr wird offensichtlich in der FAZ und in der SZ sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die FAZ, die eine größere Gefahr sieht, trägt mit ihren langen Auflistungen an Anschlägen und ihrem Zweifel an der Friedfertigkeit der Kurd*innen zur Verunsicherung bei. In der SZ werden auch die politischen Ziele der PKK und anderen kurdischen Organisationen thematisiert und teilweise auch Gewalt als Mittel zum Zweck diskutiert. Im März 1994, auf dem Höhepunkt der Anschläge, kommen in einem Artikel der Verantwortliche Yusuf Polat vom Dachverband der Vereine aus Kurdistan (KOMKAR) und Ahmet Karadeniz und Nazli Celik vom Kurdistan Zentrum in Frankfurt selbst zu Wort. Im Gespräch geht es auch um die Drohung der südhessischen Jusos, einen Hund zu vergiften, falls eine Gruppe von Kurd*innen abgeschoben wird. Der Aufschrei in der Öffentlichkeit bestätigt die Jusos, dass die Ermordung eines deutschen Hundes mehr Aufmerksamkeit erregt als die Abschiebung von Kurd*innen. Der Juso-Vorsitzende Thorsten SchäferGümpel muss daraufhin zurücktreten.229 Yusuf Polat kann dies kaum fassen: »Seine Augen sind im Laufe unseres Gesprächs immer dunkler geworden. Und jetzt, als er sagt, wie ›widerwärtig und abscheulich‹ er diese Sache mit dem Hund findet, füllen diese traurigen, zornigen Augen sich mit Tränen. [...] [Seit] zwei Jahren deutscher Staatsbürger, kann [er] nicht begreifen, daß die Androhung, einen Hund zu töten, so viele Schlagzeilen und Kommentare provoziert hat, während sich zur gleichen Zeit niemand um das Leben der Kurden schert, die Tag für Tag in der Türkei ›verschleppt, gefoltert und abgeknallt‹ werden. ›Selbst dann nicht, wenn Menschen sich aus Verzweiflung
226 Stefan Dietrich, »Kurdenprozesse verlieren ihren Schrecken.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.1997. 227 Finkenzeller, »Rechtsextremismus in Bayern stagniert«. 228 Katja Gelinsky, »PKK-Anhänger in Karlsruhe erfolgreich.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.03.1999. 229 Maier, »Eine freigeräumte Autobahn ist noch keine Außenpolitik«.
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mit Benzin übergießen und vor den Kameras der deutschen Medien verbrennen.‹ [...] ›Das ekelt mich an.‹«230 . Polat, der selbst stets mit friedlichen Mitteln für Veränderung kämpfte, kritisiert die Aufmerksamkeit, die nur gewalttätiger Protest bekommt. »Wenn im vergangenen Mai 120 000 Menschen friedlich in Bonn demonstrieren für Unterricht und Zeitungen in kurdischer Sprache, [...] gegen Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe der Bundesrepublik an die Türkei, dann gibt es winzige Meldungen in den Zeitungen, und an der Politik der Bundesregierung gegenüber Ankara ändert sich nichts – wie seit Jahren.«231 Auch Karadeniz sieht die aktuellen Entwicklungen kritisch und weist auf das mangelnde Wissen über die Kurd*innen in der deutschen Bevölkerung hin: »Ist dieser Medienandrang nicht der Beweis, daß die Aktionen auf der Autobahn Wirkung zeigen, also ›gelungen‹ sind? ›Ja und nein‹, sagt Ahmet Karadeniz. ›Bis jetzt haben wir friedlich demonstriert. Nichts ist dabei herausgekommen. Aber für das, was jetzt herausgekommen ist, hat die Bevölkerung, die nicht genug über das Kurden-Problem weiß, kein Verständnis.‹«232 Celik ergänzt: »Und die Medien in Deutschland müssen die Bevölkerung über die Situation der Kurden in der Türkei endlich informieren.«233 Bei einer Anfrage an Zeitungen und Rundfunkanstalten über den Hungerstreik von Kurd*innen zu berichten, heißt es: »›Kurden? Die hatten wir doch schon so oft‹, ist meist die Standardantwort.«234 Auf der einen Seite gibt es das Gefühl, dass ständig über Kurd*innen berichtet wird, auf der anderen Seite herrscht ein Mangel an differenzierten Informationen und Hintergrunddarstellungen. Da der gewaltlose Protest keinerlei Wirkung zeigt, wird es für Polat nachvollziehbarer, zu anderen Mitteln zu greifen: »Erst vor ein paar Tagen ist Yusuf Polat deswegen von seinem Neffen wieder einmal gefragt worden, was er denn erreicht habe in 15 langen Jahren politischer Arbeit mit seinen ewigen friedlichen Demonstrationen, Festen, Aufrufen und Appellen. ›Da weiß ich nicht mehr, was ich denen sagen soll. Unsere eigenen Kinder beschimpfen uns als bürgerliche, angepaßte Pazifisten.‹«235 An einer Stelle wird benannt, dass die Unterstützung der PKK und ihre gewalttätigen Aktionen nicht die einzige Möglichkeit sind, sich für Kurd*innen und für eine politische Veränderung in der Türkei einzusetzen. »Solidarität mit dem kurdischen Volk muss anders aussehen. Die deutschen PKK-Unterstützer konterkarieren sie. Von ihnen wie von der PKK muß sich distanzieren, wer es mit der Gleichberechtigung einer unterdrückten Minderheit in der Türkei wie in Deutschland ernst meint.«236 Die Darstellung in der SZ bewirkt nicht nur, dass Kurden zu Wort kommen, die nicht nur namentlich genannt werden, sondern auch als deutsche Staatsbürger präsentiert werden. Des Weiteren wird
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Roll, »Die zerstörerische Gewalt von Seelenqualen«. Ebd. Roll, »Die zerstörerische Gewalt von Seelenqualen«. Ebd. Kaltenborn, »›Wir haben Angst, in der Türkei gefoltert zu werden‹«. Roll, »Die zerstörerische Gewalt von Seelenqualen«. Dieter Fabritius, »Den Rechtsstaat als ›Polizeistaat‹ vorführen.« Süddeutsche Zeitung, 13.04.1994.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
das Ringen um die geeigneten Mittel für Veränderung deutlich und zeigt, dass nicht alle Kurd*innen Unterstützer*innen der PKK und von Gewalt als politisches Mittel sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass es auch eine Frustration darüber gibt, dass ihnen mit friedlichen Mitteln kein Gehör geschenkt wird. Die Angst vor der Gewalt wird in beiden Zeitungen benannt im Umgang mit Abdullah Öcalan. Dieser befindet sich 1998 auf der Flucht und es besteht die Möglichkeit, dass er nach Deutschland kommt. Als dieser in Italien festgenommen wird, verzichtet Deutschland auf einen Auslieferungsantrag, obwohl ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. Beide Zeitungen berichten darüber ausführlich, die FAZ mit drei Artikeln, die SZ mit sieben. In beiden Zeitungen wird die Position vertreten, dass die Angst vor einem eskalierenden Konflikt in Deutschland größer ist als der Wunsch, Öcalan zu verurteilen und den kurdischen Terror zu bekämpfen. »Es löste Verblüffung aus, daß Bonn auf eine Überstellung des kurdischen Parteiführers keinen Wert mehr legte, weil man unbeherrschbare Reaktionen von Kurden und Türken in Deutschland befürchtete.«237 »Deutschland wolle nicht, daß der Kurdenkonflikt auf deutschem Boden ausgetragen werde.«238 Neben der Angst vor »bürgerkriegsähnliche[n] Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden«239 wird auch von einem »Nervenkrieg«240 in der SZ gesprochen, als nicht klar ist, ob Öcalan mit seiner Maschine vielleicht in Deutschland landet. Deutschland scheint dem damit verbundenen Gewaltpotential nicht gewachsen zu sein und will möglichst nichts damit zu tun haben. Von italienischer Seite wird das Vorgehen Deutschlands kritisiert: »In Italien hat die Affäre einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. ›Europa geht nicht unbeschädigt aus dieser Sache hervor, und zwar in einer delikaten Frage wie der Bekämpfung des internationalen Terrorismus‹, sagt Dini, ›aber sicher nicht durch die Schuld Italiens.‹ Sondern Deutschlands, wäre zu ergänzen.«241 Stattdessen wird mal wieder auf eine politische Lösung gedrängt: um »für das Kurden-Problem endlich eine politische Lösung zu versuchen. Sie ist überfällig, und sie ist nur in internationalem Rahmen denkbar. [...] Neue Möglichkeiten tun sich auf, neue Initiativen sind gefragt.«242 Die Forderung nach einer politischen Lösung kommt immer dann auf, wenn die Auswirkungen des Konflikts auch in Deutschland spürbar sind, nämlich als die kurdischen Flüchtlinge in Italien landen und Öcalan nicht gefasst wird. Anschließend gerät die Forderung wieder schnell in Vergessenheit. Insgesamt zeigt die Berichterstattung über Öcalan, welche Macht ihm und den PKK-Anhängern in Deutschland zugeschrieben wird. Deutschland sieht sich bei einem Prozess nicht in der Lage, die innere Sicherheit und Ordnung im Land zu gewährleisten und verzichtet daher auf eine Strafverfolgung.
237 Klaus Brill und Hans-Joachim Leyenberg, »Öcalan ist weg – und alle atmen auf.« Süddeutsche Zeitung, 18.01.1999. 238 AFP, »Fischer: Deutschland würde Öcalan sofort festnehmen.« Süddeutsche Zeitung, 04.02.1999. 239 Wolfgang G. Lerch, »Lange Zeit wußte man in Deutschland nichts von der kurdischen Minderheit.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.1999. 240 Brill und Leyenberg, »Öcalan ist weg – und alle atmen auf«. 241 Ebd. 242 Brill, »Warum Öcalans Weg nach Rom führte«.
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9.4.3 Kurd*innen als Folteropfer und politische Subjekte Während in der FAZ der Diskurs um Flucht und Asyl vor allem mit einem Sicherheitsdiskurs verschränkt wird, liegt der Fokus der Berichterstattung in der SZ auf den kurdischen Familien im Kirchenasyl. Die Artikel berichten jeweils empathisch und persönlich von einer Familie, ihren Erfahrungen in der Türkei und ihrer Lebenssituation in Deutschland und begleiten teilweise über Jahre ihren Kampf um Bleiberecht. Von 1994 bis 1999 erscheinen 34 Artikel, davon 27 bis Ende 1997, die über das Schicksal einzelner Familien berichten. Ähnlich wie im Kirchenasyl selbst wird in der Berichterstattung ein persönlicher Zugang gewählt, der den Einzelfall in den Mittelpunkt stellt, sodass auch für die SZ gilt: »Hier haben Flüchtlinge Gesichter und die Gesichter Namen bekommen«243 . Dies geht soweit, dass der handschriftliche Brief der 10-jährigen Ata Nas mit dem Titel »Bitte helft uns!«244 in der SZ abgedruckt wird. Auf der einen Seite ist damit eine starke Opferkonstruktion verbunden, sowohl in der Darstellung der Erfahrungen von Krieg, Folter, Verfolgung und Diskriminierung in der Türkei, als auch ihrer Lebenssituation und der Unsicherheit in Deutschland. Auf der anderen Seite wirken die Familien aber nicht wie hilflose Opfer, sondern wie Menschen, die mit der Hilfe anderer für ihr Recht kämpfen und noch nicht aufgegeben haben. Während zu Beginn aufgrund der Bedrohung von Folter bei Abschiebung ein Bleiberecht erkämpft werden soll, verlagert sich mit der Zeit der Fokus immer stärker auf die Verwurzelung und Integration in Deutschland. Aber auch die Mittel ändern sich und weisen mit der Zeit eine größere Handlungsfähigkeit und Politisierung der Betroffenen auf, was das Wanderkirchenasyl 1998 in NRW deutlich zeigt. Zur Empathie mit den Betroffenen trägt auch der SZ-Auslandsjournalist Wolfgang Koydl bei, der direkt aus der Türkei berichtet. In zwei langen Artikeln berichtet er aus Esenyurt, in der Nähe von Istanbul und aus der Stadt Diyarbakir im Osten der Türkei und spricht dort mit Kurd*innen über ihre Situation. Im ersten Artikel stellt er Esenyurt als Fluchtpunkt vieler Kurd*innen dar, wo viele nach der Vertreibung landen. »Weil aber Vertreibung ein häßliches Wort ist, haben die Richter am Bundesverwaltungsgericht in Berlin eine hübsche bürokratische Umschreibung dafür gefunden: Sie nennen es ›innerstaatliche Fluchtalternative‹.«245 In Esenyurt und Diyarbakir erfahren sie massive Diskriminierung beim Zugang zu Wohnung, Arbeit, Gesundheit und Bildung. »›Die Diskriminierung der Kurden ist nicht offen, sondern verdeckt‹, sagt Yunus Kus von der HADEP.«246
243 Setzwein, »Ein Dorf kämpft um seine Kurden«. 244 Lochte, »Familie Nas hat Todesangst vor der Türkei«: »Bitte helft uns, wir wollen nicht in die Türkei zurück! Wir sind immer geschlagen worden und man durfte nicht aus dem Haus raus. Und wenn man aus dem Haus raus geht, wird man ins Gefängnis gesteckt. (…) Wenn ein Licht an war, haben sie Bomben ins Haus geschmissen. Das war ihnen egal, ob da Babyis drinn im Haus waren oder Eltern. Ich mußte in die Schule, aber ich hatte Angst, weil meine Freunde dort geschlagen wurden. Die Mama von meiner Mama haben sie in der Nacht umgebracht.«. 245 Koydl, »Nach dem Krieg in die Schlammschlacht«. 246 Koydl, »Nach dem Krieg in die Schlammschlacht«.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
»Hier gibt es angeblich die meisten Teestuben des Landes, in denen aber am wenigsten Tee getrunken wird, weil die jungen Menschen viel zu viel Zeit und viel zu wenig Geld haben. Hier kann niemand eine Familie ernähren, und wer gar die Hoffnung hegt, seine Kinder ausbilden zu lassen, erntet nur Spott: Kein Pädagoge begibt sich freiwillig in den Südosten der Türkei, seitdem die PKK Lehrer zum Freiwild erklärt hat.«247 Dabei wird auch ein Bezug zur Flucht nach Europa hergestellt: »Sie sind nicht verhungert und abgerissen, was die Bilder aus Süditalien gezeigt haben. Aber sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder.«248 Koydl bewirkt durch seine Berichterstattung, dass Verfolgung und Diskriminierung in der Türkei konkret vorstellbar werden und lässt Kurd*innen selbst zu Wort kommen. Als 1998 mit Mehmet Ali Akbas zum ersten Mal ein abgeschobener Asylbewerber seine Foltererfahrungen in der Türkei nachweisen kann und zurück nach Deutschland kommen darf, berichten beide Zeitungen darüber. Die FAZ stützt sich auf offizielle Quellen, die über ihn berichten. »Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes zufolge handelte es sich hierbei um einen ›Einzelfall‹.«249 Die SZ trifft Akbas selbst und wählt damit einen persönlichen Zugang in der Berichterstattung: »Er schaut immer wieder ins Leere, redet nur leise, kritzelt zwischen zwei Zigaretten ziellos auf einem Blatt Papier herum. Der hagere, dunkelhaarige Mann, [...] erzählt von Folter, von Menschen, die ihn gequält haben, von seiner Angst und davon, daß er am Ende zusammengebrochen ist und Bekannte, Freunde und Verwandte belastet hat. Auch solche, die gar nichts getan haben.«250 Auch die Berichterstattung über die kurdischen Familien im bayerischen Kirchenasyl bewirkt, dass Gewalt- und Foltererfahrungen und ihre Folgen plötzlich konkret werden. Familie Nas berichtet vor 150 Teilnehmenden einer Solidaritätsveranstaltung. Diese »wissen, daß [...] Krieg herrscht, was das konkret bedeutet für die Menschen, die dort leben, wissen sie nicht.«251 »›Das türkische Militär führt Krieg gegen die Kurden. Gegen alle Kurden, auch gegen Frauen und Kinder. Sie haben meine Brüder erschossen, mein Haus zerbombt. Unser Dorf ist vollständig zerstört worden. [...] Auf der Straße mußten wir immer Angst haben, erschossen zu werden. Sie wollen das kurdische Volk vernichten.‹ Das Bekenntnis zur kurdischen Volkszugehörigkeit genüge, sagt Nasretin Nas, um in der Türkei als ›Terrorist‹ eingestuft und verfolgt zu werden.«252 Dies macht deutlich, dass der Generalverdacht in der FAZ, dass alle Kurd*innen Terrorist*innen sind, die Zuschreibungen reproduzieren, mit denen kurdische Flüchtlin247 Koydl, »Entweder Schuhputzer oder Fußabtreter«. 248 HADEP ist die Halkın Demokrasi Partisi auf deutsch Partei der Demokratie des Volkes. ebd. 249 Hans-Christian Rößler, »Berichte über Folter an abgeschobenen Kurden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1998. 250 Avenarius, »Mit deutschem Ticket in den türkischen Folterkeller«. 251 Lochte, »Familie Nas hat Todesangst vor der Türkei«. 252 Ebd.
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ge bereits in der Türkei konfrontiert waren. Auch Koydl berichtet darüber: »›Du hast die Wahl‹, hatte ein türkischer Offizier zu Nuris Nachbar Haydar gesagt. ›Entweder du nimmt ein Gewehr und kämpfst für die Terroristen, oder du nimmst ein Gewehr und kämpfst für uns. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.‹«253 In Deutschland werden sie in der FAZ für ihre politischen Aktivitäten teilweise ähnlich pauschal als Gewalttäter*innen eingeordnet. Auch im Kirchenasyl gibt es Familien, die Mitglied bei der PKK waren. Dies verhindert nicht eine empathische Berichterstattung: »Der 27jährige Asylbewerber Hüseyin Sapkiran ist mit den Nerven fertig. Er befürchtet, als Angehöriger der islamischen Aleviten und als zeitweiliger Unterstützer der kurdischen Arbeiterpartei PKK in einem türkischen Gefängnis zu landen, mit allen Folgen, die er dort schon mehrmals mitgemacht habe: Verhöre, Folter, Quälereien.«254 In den Artikeln werden die Folterungen detailliert geschildert, sodass nicht nur die Unterstützungskreise, sondern auch alle SZ-Leser*innen über intimste Details Einblick haben: »Die wie gestanzt wirkenden Verbrennungsnarben am Penisschaft sind mit großer Wahrscheinlichkeit durch angelegte Elektroden verursacht, also als Folterungsfolgen einzustufen.«255 Diese Offenlegung scheint dabei im Zusammenhang zu stehen mit dem Nachweis auf Folterbedrohung und Bleiberechtsanspruch. Besonders schlimm sei das Misstrauen der Behörden hinsichtlich der eigenen Erfahrungen: »Am meisten belastet ihn die Ignoranz, mit der die Behörden sein Schicksal hier behandeln: ›Sie haben uns wirklich nicht geglaubt.‹«256 Auch die psychischen Folgen von Folter werden häufig nicht als Bleibegrund anerkannt. Ahmet Demirkiran, der längere Zeit in einer »geschlossenen Abteilung einer Nervenklinik« verbracht hat, wird durch Ferndiagnose bescheinigt, »daß Demirkiran unter bestimmten Umständen haft- als auch reisefähig sei.«257 In vielen Artikeln wird auch auf die psychische Belastung der Kinder hingewiesen. Problematisch sei häufig die Unwissenheit der behandelnden Ärzt*innen: »Erkenntnisse der internationalen Folterforschung seien in Deutschland noch ›recht wenig bekannt‹. Die seelischen Folgen von Folterungen seien für Nichtfachleute und auch für Ärzte meist nur schwer erkennbar.«258 Während zu Beginn stärker die Erfahrungen in der Türkei im Vordergrund stehen, wird mit der Zeit mehr die Verwurzelung und Integration in Deutschland fokussiert. Jedoch von Anfang an ist Integration ein wichtiger Aspekt in der Darstellung der (Vorzeige-)Familien: es sind stets Familien mit mehreren Kindern, der Vater oder beide Eltern arbeiten, die Kinder sind gut in der Schule, sprechen schon fließend Deutsch und sind Mitglied in den örtlichen Vereinen. »Der Mann hat Arbeit in einer Möbelfabrik gefunden, die Frau geht putzen. Der zehnjährige Ata und seine zwei Jahre jüngere Schwester Gurbet besuchen die örtliche Schule. [...] Die beiden Älteren sprechen gut deutsch und
253 Koydl, »Nach dem Krieg in die Schlammschlacht«. 254 Görl, »Banges Warten im Kirchen-Keller«. 255 Christian Schneider, »Vierköpfige kurdische Familie des Landes verwiesen.« Süddeutsche Zeitung, 24.12.1994. 256 Kaltenborn, »›Wir haben Angst, in der Türkei gefoltert zu werden‹«. 257 Christian Schneider, »Asylbewerber soll trotz Krankheit abgeschoben werden.« Süddeutsche Zeitung, 26.04.1996. 258 Christian Schneider, »›Ein Akt der Menschenverachtung‹.« Süddeutsche Zeitung, 13.05.1996.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
sind in der Schule nicht nur akzeptiert, sondern beliebt. Den Vater schätzen die Arbeitskollegen als fleißig und zuverlässig.«259 »Das Einschulungsphoto von Suzan mit ihrer Zuckertüte auf dem Arm hängt genauso an der Wand im Wohnzimmer wie Ramazans Medaillen, die er mit dem Fußballverein Seefeld errungen hat. Beim Spielen reden die vier kleinen Geschwister nur deutsch miteinander.«260 Als im März 1996 wird auf der Innenministerkonferenz das Bleiberecht für Härtefälle eingeführt, was inhaltlich eher eine Altfallregelung mit Integrationsbedingungen darstellt, wird Integration für das Bleiberecht wesentlich. 1998 verändert sich die Art des Kirchenasyls und des Protests durch das Wanderkirchenasyl in Nordrhein-Westfalen, welches 1999 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Dabei ging es nicht mehr um den Einzelfall, sondern darum, allgemein auf die Situation kurdischer Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Sie forderten »ein Bleiberecht für alle rund 300 abgelehnten kurdische Asylbewerber, die quer durchs Land in 79 nordrhein-westfälischen Kirchengemeinden eine zunehmend unsichere Zuflucht gefunden haben.«261 Hier treten die Kurd*innen stärker als politische Subjekte auf. Das Kirchenasyl begann bereits im Januar 1998, die SZ berichtet davon im Februar 1998262 und im Januar 1999, als ein paar Kurd*innen auf dem Weg zu ihrem Plenartreffen festgenommen werden und daraufhin ein Hungerstreik in der Grünen-Parteigeschäftsstelle in Düsseldorf begonnen wird. »In den Fluren und in den neu eingerichteten Büroräumen hocken nun seit nunmehr sieben Tagen kurdische Männer und Frauen. Andere liegen mittlerweile sichtlich geschwächt auf quer durch die Räume verteilten Matratzenlagern. Am Samstag mußte zum ersten Mal ein Notarzt gerufen werden, weil zwei von den etwa 30 Kurden im unbefristeten Hungerstreik zusammengebrochen waren. [...] Die Kampfansage der Besetzer ist auf den vor der Landesgeschäftsstelle aufgehängten Transparenten zu lesen: ›Schluß mit dem Krieg in Kurdistan. Keine Abschiebung in den Folterstaat Türkei!‹ und ›Wir machen einen Hungerstreik für ein Bleiberecht aller Flüchtlinge im Wanderkirchenasyl‹.«263 Die größere Selbstorganisation und Vernetzung untereinander führt zu klareren politischen Forderungen und mehr Selbstbewusstsein: »Die Kurden sind jetzt sehr selbstbewußt, und das lassen sie sich nicht mehr nehmen.«264
9.4.4 Herstellung und Verschiebung von Zugehörigkeiten Kurd*innen passen nicht in die Vorstellungen von nationaler Homogenität und Zugehörigkeit. Dies zeigt sich darin, dass nicht bekannt ist, wie viele Kurd*innen es überhaupt in Deutschland gibt. »Unter den 2,2 Millionen türkischen Staatsangehörigen, die in der
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Lochte, »Familie Nas hat Todesangst vor der Türkei«. Rathmann, »Abschiebung droht wie Damoklesschwert«. Kahl, »Hungerstreik in der Geschäftsstelle«. Kaltenborn, »›Wir haben Angst, in der Türkei gefoltert zu werden‹«. Kahl, »Hungerstreik in der Geschäftsstelle«. Roll, »Die zerstörerische Gewalt von Seelenqualen«.
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Bundesrepublik leben – es ist der größte Anteil in allen europäischen Ländern – befinden sich zwischen 400 000 und 600 000 Kurden.«265 Zumindest entwickelt sich ein Bewusstsein über ihre Anwesenheit und ihre gleichzeitige Unsichtbarkeit. »Offenbar gibt es nicht einmal in den [Bundes-]Ländern präzise Angaben, da Ausländer nicht nach ethnischer Zugehörigkeit (kurdisch), sondern nach ihrer Staatsangehörigkeit (türkisch) registriert werden.«266 Zum Abschluss soll betrachtet werden, wie sich in beiden Zeitungen ein neues Deutungsmuster der Zugehörigkeit entwickelt. In der FAZ werden die Kurd*innen nicht als zugehörig zu Deutschland wahrgenommen und oft stark homogenisiert. Eine Ausnahme bilden die Artikel von Wolfgang Günter Lerch, die im Feuilleton erscheinen. Ein Artikel erscheint 1999 als Hintergrundartikel zur Debatte um Öcalan und beleuchtet die gemeinsame Migrationsgeschichte und die Diversität unter den Kurd*innen. Ein weiterer berichtet 1997 über die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Yasar Kemal. In der SZ hingegen wird das Bild des Gastes intensiver aufgegriffen und problematisiert und Kurd*innen werden stärker als zugehörig wahrgenommen. 1997 wird Yaşar Kemal, ein kurdischer Schriftsteller aus der Türkei mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, was als Besonderheit in dem Artikel hervorgehoben wird: »Zum erstenmal in der 47 Jahre währenden Geschichte dieses Preises wurde damit ein Autor aus der islamischen Welt ausgezeichnet.«267 Die beiden Artikel, die sich mit der Preisverleihung beschäftigen, fokussieren jedoch stärker die Kritik in der Laudatio von Günther Grass, der die Verantwortung Deutschlands für die Kurd*innen in der Türkei anspricht. »Kemal, ein scharfer Kritiker der Kurdenpolitik seines Landes, habe immer auch den westlichen Demokratien eine Mitschuld daran gegeben, daß den Kurden die elementarsten Menschenrechte verweigert würden. Grass erinnerte an die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei. [...] Man dulde so, [...] den Vernichtungskrieg, den die Türkische Republik gegen ihr eigenes Volk führe. ›Wir wurden und sind Mittäter. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.«268 Des Weiteren wird über die Reaktionen von Politiker*innen berichtet. »Die Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Müller, sagte, die cholerische Reaktion bei der CDU zeige, wie sehr Grass ins Schwarze getroffen habe. Grass habe die schmerzhafte Wahrheit ausgesprochen, daß die Bundesrepublik mitschuldig an dem grausamen Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung sei.«269 Nur im Kontext von Literatur und Kultur und in der FAZ im Feuilleton wird die Verantwortung der Bundesregie-
265 Lerch, »Lange Zeit wußte man in Deutschland nichts von der kurdischen Minderheit«. 266 Bannas, »Einheitliche Regelung von Montag an«. 267 Wolfgang G. Lerch, »Yaşar Kemal mit dem Friedenspreis ausgezeichnet.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1997. 268 Ebd. 269 Albert Schäffer, »Geteiltes Echo auf Vorwürfe von Grass.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1997.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
rung sagbar, ansonsten bleibt der gewalttätige Konflikt eine »innere Angelegenheit der Türkei«270 . Der zweite Artikel nimmt sowohl auf die Migrationsgeschichte als auch auf die Heterogenität innerhalb der Kurd*innen Bezug, was ansonsten in der Berichterstattung nicht benannt wird. »Als die Einwanderung von Türken in die Bundesrepublik Deutschland mit den ersten »Gastarbeiter‹-Wellen begann, waren diese Konflikte unbekannt. Was man ›anwarb‹, wie das damals hieß, waren vor allem Anatolier, die lange Zeit pauschal als Türken galten. [...] Außer Karl Mays Roman ›Durchs wilde Kurdistan‹ kannte man von den Kurden nichts. Von einer Kurden-Frage sprach ohnehin niemand in Europa.«271 Lerch vertritt die These, dass erst mit den gewaltsamen Konflikten in der Türkei wahrgenommen wurde, dass es Kurd*innen in Deutschland gibt: »Die Kurden wurden in Deutschland spätestens seit 1984 zum Thema. [...] Seither wird auch regelmäßig auf den hohen Anteil von Kurden innerhalb der türkischen Wohnbevölkerung der Bundesrepublik hingewiesen, ohne daß jemand genau wüßte, wie viele Kurden es denn nun sind.«272 Zudem warnt er, Kurd*innen mit der PKK gleichzusetzen und weist auf die Vielfältigkeit der Kurd*innen hin. »Der Eindruck, die Kurden stünden wie ein Mann hinter Abdullah Öcalan [...] trügt jedoch.«273 »Doch nicht nur politisch, auch religiös und kulturell sind die Kurden alles andere als eine homogene Volksgruppe. Aleviten und Yezidi gehören ebenso zu ihnen wie die Zaza.«274 Die Verschiebung von Zugehörigkeiten wird an einem Artikel in der FAZ deutlich, bei der Türk*innen plötzlich als potenzielle Wähler*innen für die CDU dargestellt werden und sich eine Allianz zwischen Türk*innen und CDU gegen kurdische Zuwanderung bildet. »Die CDU hat bis in ihre Bonner Spitze hinein das Potential erkannt, das hier schlummert. In Berlin könnten demnächst drei bis vier Prozent der Wahlberechtigten Türken sein.«275 »Cakmakoglu stellt fest, nach dreißig Jahren empfinde man sich hier nicht mehr als Gast, sondern als Minderheit, die ihren Platz in Deutschland beanspruche. Dazu gehört, [...] die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.«276 Vorgestellt werden Türken in Berlin, die sich in der CDU engagieren. Ihre Gründe reichen von der Identifikation mit den konservativen Werten der CDU bis hin zur Idee, die Partei und ihre Migrationspolitik von innen heraus zu verändern. Türk*innen werden aufgrund der sich verändernden Einbürgerungsgesetze und angesichts der neu zuwandernden Kurd*innen stärker als zugehörig wahrgenommen. Eine besondere Rolle spiele dabei die »solidarische Türkei-Politik« der CDU, während »die SPD es im innertürkischen Konflikt eher mit den kurdischen Rebellen halte.«277 Ähnlich wie die Union wollen auch viele 270 271 272 273 274 275
Koydl, »Staatlich geduldeter Exodus«. Lerch, »Lange Zeit wußte man in Deutschland nichts von der kurdischen Minderheit«. Ebd. Lerch, »Lange Zeit wußte man in Deutschland nichts von der kurdischen Minderheit«. Ebd. Konrad Schuller, »Was gut ist für Deutschland, ist gut für uns alle.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.03.1996. 276 Ebd. 277 Schuller, »Was gut ist für Deutschland, ist gut für uns alle«.
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Türk*innen »– mit Blick auf die meist kurdischen Asylbewerber aus der Türkei – in der CDU ›einen strikten Kurs in der Asylpolitik vertreten‹. Der Mißbrauch des Asylrechtes schade nicht nur Deutschland, er schade auch besonders der türkischen Gemeinschaft in Deutschland.«278 Hier taucht das Deutungsmuster des Misstrauens erneut auf und wird reaktiviert. In der SZ wird die Debatte über Zugehörigkeit anhand des Gastbegriffs geführt, der stets ablehnend verwendet wird, jedoch im gesellschaftlichen Diskurs ähnlich wie bei den bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen weit verbreitet zu sein scheint: »Das Reden von den ›Gästen‹, die das ›Gastrecht‹ mißbrauchen, und deshalb hinausgeworfen werden müssen, ist gefährlich.«279 Es ist erneut Heribert Prantl, der dies scharf kritisiert: »Das öffentliche Urteil stand schon fest, als die Ermittlungen noch gar nicht begonnen hatten. Es lautet: Mißbrauch des Gastrechts. Wer Straßen besetzt, wer Polizisten angreift, wer sich selbst mit Benzin überschüttet und anzündet, wer also verzweifelt ist und sich hysterisch aufführt, der benimmt sich nicht so, wie ein Gast sich zu benehmen hat. Und was macht man mit einem Gast, der durchdreht? Man komplimentiert ihn vor die Tür – wenn er nicht freiwillig geht, dann wirft man ihn eben hinaus.«280 Prantl dekonstruiert das Bild von Kurd*innen als Neudazukommende und Gäste: »Man sollte auf dieses Bild ganz verzichten. Viele der vierhunderttausend Kurden in Deutschland leben seit Jahrzehnten hier, ihre Kinder sind hier aufgewachsen. Gäste? Es sind Deutsche kurdischer Volks- und türkischer Staatsangehörigkeit. Abschieben kann man sie sowenig, wie man straffällige Deutsche abschieben kann. Deutsche Straftäter werden ins Gefängnis abgeschoben. Einen anderen Ort der Abschiebung kann es auch für Kurden, die in ihrer deutschen Heimat straffällig geworden sind, nicht geben.«281 Prantl fordert, Kurd*innen als zugehörig wahrzunehmen und die Organisationen zu unterstützen, die gewaltfrei kurdisches Leben in Deutschland gestalten: »Wo ist die Unterstützung für diejenigen kurdischen Kulturvereine, die keine Gewalt predigen, denen es vielmehr um die Pflege ihrer kulturellen Identität geht?«282 Des Weiteren dreht er die Kritik in eine andere Richtung und betrachtet die Pflichten des »Gastgebenden«: »Doch wie hat sich, um einmal im Bild zu bleiben, der Gastgeber verhalten? Gastgeber ist die Bundesrepublik Deutschland. Sie hat Waffen in das Land geschickt, aus dem der Gast gekommen ist. Sie hat es zugelassen, daß diese Waffen gegen die Familie seines Gastes gerichtet wurden. Der Gastgeber hat die Augen davor verschlossen, was mit den Freunden und Bekannten des Gastes geschah: Er hat zugelassen, daß man ihre Sprache verbot. [...] Dies ist die andere Seite des Bildes vom Gast und vom Gastgeber.«283
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Ebd. Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹«. Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung«. Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung«. Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹«. Prantl, »Türkische Folter – für Sicherheit und Ordnung«.
9. Kurd*innen als Gewalttäter*innen, Folteropfer und politische Subjekte
Jedoch bleibt auch in der SZ die Verantwortung Deutschlands und die Kritik an den Waffenlieferungen eine Einzelstimme. Im Vordergrund stehen die Einzelfallhilfe und das humanitäre Engagement in Deutschland. »›Kurden haben keine Freunde‹ – so heißt es in einem kurdischen Sprichwort. Es wäre schlimm, wenn dies künftig auch in Deutschland so wäre.«284 Die Notwendigkeit zu einer langfristigen Lösung des Konflikts in der Türkei beizutragen, wurde auch in der SZ kaum benannt. Und es gab keine einflussreiche Lobby, die sich dafür einsetzen könnte. Abschließend lässt sich sagen, dass insbesondere Kunst und Kultur, sowie potenzielle Wähler*innenstimmen das Sagbarkeitsfeld in der FAZ vergrößerten. Die Perspektive in der SZ, die sich stärker auf vermeintliche Einzelschicksale konzentriert, wird an wenigen Stellen wie durch Heribert Prantl mit Forderungen nach politischen Lösungen ergänzt. Insgesamt wird im gesamten Diskurs eine Verantwortung für den Konflikt in der Türkei und seine Auswirkungen sowie die lange Anwesenheit der Kurd*innen in Deutschland wenig thematisiert.
9.5 Fazit Der Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge und die damit verbundenen Konstruktionen des Eigenen und Anderen bilden sich in den beiden Zeitungen sehr unterschiedlich ab. Nach der Änderung des Asylgrundrechts entwickelt sich der Diskurs in den beiden Zeitungen stärker auseinander und weist diversifizierende Selbstbilder auf. Diese können als ein Zeichen gesehen werden, dass die Auseinandersetzung mit Migration differenzierter wird und die Selbstbilder dadurch stärker herausgefordert werden. In der FAZ wird ein positives Selbstbild aufrechterhalten, welches sich durch Selbstschutz, Abschottung und Humanität in begründeten Ausnahmen auszeichnet. In der SZ hingegen entwickelt sich ein selbstkritisches Eigenes, indem die eigene Verantwortung und Ausgestaltung von Humanität stärker hinterfragt und überprüft wird. Lediglich in der Auseinandersetzung mit Europa und seinen zu schützenden Außengrenzen finden sich größere Übereinstimmungen. Ansonsten dominiert in der FAZ ein Bild von Deutschland, welches um die eigene innere Sicherheit aufgrund von ausländischen Straf- und Gewalttäter*innen besorgt ist und in dem Migration als Sicherheitsproblem gerahmt wird. Dementsprechend erscheinen die kurdischen Flüchtlinge vor allem als terroristische Gewalttäter*innen, die jede Lücke des deutschen Rechtsstaats nutzen um hier bleiben zu können. Empathie für die Situation der kurdischen Flüchtlinge und ihre Flucht- und Foltererfahrungen ist in diesem Verhältnis von Eigenem und Anderen kaum möglich. In der SZ hingegen widerspricht die Änderung des Asylgrundrechts und die Einschränkung in der Asylgewährung der humanitären Vorstellung des Eigenen. Durch die intensive Berichterstattung über Familien im Kirchenasyl wird kontinuierlich auf diese Diskrepanz zwischen eigenem moralischen Anspruch und Asylpraxis hingewiesen. Das Handeln von Akteur*innen der Zivilgesellschaft wird als Möglichkeit des Widerstands gesehen und ist bedeutsam für dieses selbstkritischere Eigene. Gleichzeitig wird auch
284 Prantl, »›Gelten nicht für verdächtige Kurden‹«.
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die Machtlosigkeit von Zivilgesellschaft und Asylbefürworter*innen benannt. Rechtsstaatlichkeit wird als etwas Vorläufiges, Wandelbares und zu Überprüfendes verstanden. Die vermehrte Nutzung von Kirchenasyl – mit einem hohen Anteil an Kurd*innen – lässt sich dabei als eine Formierung von zivilgesellschaftlichem Widerstand nach der Grundgesetzänderung sehen und blieb durch die Einrichtung von Härtefallkommissionen auch auf der strukturellen Ebene nicht ergebnislos. Der Fokus auf den Einzelfall bedeutete jedoch auch, dass kaum politische Forderungen formuliert wurden, wie das Einstellen von deutschen Waffenlieferungen oder das Umsetzen von Minderheitenrechten in der Türkei. Die kurdischen Flüchtlinge erscheinen hier überwiegend als Opfer, in der Türkei und auch von deutscher Asylpolitik. Ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen bekommen in der SZ viel Raum. Die Männlichkeitskonstruktionen in den beiden Zeitungen unterscheiden sich dabei stark, während es in der SZ fürsorgliche und verantwortungsvolle Familienväter sind, sind es in der FAZ gewaltbereite und gefährliche Männer. Die unterschiedlichen Zugehörigkeiten hinsichtlich Nationalität und Ethnizität bewirken, dass Kurd*innen im Diskurs lange unsichtbar blieben. Zudem werden die gewaltsamen Konflikte in der Türkei als innenpolitisches Problem wahrgenommen und im Diskurs als Terrorismus-Problem und nicht als Frage von Menschen- und Minderheitenrechten gerahmt. In der Berichterstattung gibt es kaum Hintergrundberichte, sodass die Situation der Kurd*innen in der Türkei schwer einzuordnen und nachzuvollziehen ist. Dies mag auch der grundlegenden Annahme geschuldet sein, dass Diversität im nationalstaatlichen Kontext Probleme bis hin zu Bürgerkriegen verursacht (siehe Kapitel 8). In beiden Zeitungen finden sich jedoch auch das Deutungsmuster der Zugehörigkeit. Es scheint sich langsam ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass mehrheimische Menschen politische Subjekte sind und dauerhaft in Deutschland bleiben und mitbestimmen werden. So kommen beispielsweise Kurd*innen mit deutscher Staatsangehörigkeit in der SZ zu Wort, die sich für einen friedlichen Protest einsetzen oder Türk*innen werden von der CDU als potentielle Wähler*innen und als Verbündete gegen die Kurd*innen gesehen. Die Sichtweise auf die Kurd*innen ändert sich, je nach dem, ob sie als gerade angekommene Asylsuchende gesehen werden oder ihre vierzigjährige Anwesenheit in Deutschland mit benannt und berücksichtigt wird. Die Beschreibung des Verhältnisses als Gast und Gastgeber*in ist dann nicht mehr kompatibel. Diese beginnende Aushandlungen über das sich veränderndes Verständnis des Eigenen und der Verschiebung von Zugehörigkeiten werden im Epilog mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts abschließend betrachtet.
10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen
Ende der 1990er Jahre geschieht eine entscheidende Veränderung im Diskurs, als das Eigene im Asyl- und auch im Migrationsdiskurs in den Vordergrund rückt. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis geschah ansonsten nur indirekt anhand von konkreten Ereignissen und Fluchtbewegungen. Der Asylkompromiss galt zwar als Migrationskompromiss und strukturierte weitere Bereiche der Migrationspolitik wie die Aussiedlerzuwanderung neu. Offen blieb jedoch die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis und dem damit verbundenen Umgang mit Zuwanderung, Zugehörigkeit und Pluralität. »Durch den genannten Asylkompromiss gelang es nicht, die latente Spannung zwischen einem auf starker Souveränität bestehenden Nationalstaatsprinzip und der Idee einer pluralistischen Gesellschaft auf Grundlage der Menschenrechte [...] aufzuheben. [...] Der Konflikt wurde daher auf einer anderen Ebene fortgeführt.«1 »Die zu Beginn der 1990er Jahre geführte Debatte über das Asylrecht [...] hatte das eigentliche Problem nur überdeckt – nämlich die Frage, wie Deutschland in Zukunft mit der Einwanderung und den Einwanderern umgehen sollte.«2 Im Laufe der 1990er Jahre wurde jedoch das Verständnis von Deutschland als Einwanderungsland und von Deutschsein gesellschaftlich neu ausgehandelt. Verschiedene Umstände mögen dazu beigetragen haben. Dazu zählt der Asylkompromiss selbst, der massive Kritik von Seiten der Politik und Zivilgesellschaft hervorrief sowie bereits Ansätze zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts enthielt, sowie die rassistische Gewalt Anfang der 1990er, die Forderungen nach einer symbolischen und rechtlichen Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund lauter werden ließ.3 Aber auch die Senkung der
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Poutrus, Umkämpftes Asyl, 184–85. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 970. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 970.
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Asylbewerberzahlen4 , ein negativer Migrationssaldo (1997 und 1998)5 und der Regierungswechsel 1998 hin zu rot-grün trugen zu einer veränderten Grundstimmung bei. Bereits 1993 legten SPD, Grüne und die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) jeweils Entwürfe für ein Einwanderungsgesetz und die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts vor. Auch in der Koalitionsvereinbarung von Union und FDP 1994 tauchte die erleichterte Einbürgerung und Quoten für die Einwanderung auf.6 So begann nach dem Asylkompromiss eine langjährige Auseinandersetzung, die erst 2000 mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und 2004 mit dem neuen Zuwanderungsrecht vorläufig seinen Abschluss fand.7 Obwohl die Gesetze weit hinter dem zurückblieben, was zuvor diskutiert wurde, stellt die öffentliche Auseinandersetzung um Zugehörigkeit und um das eigene Verhältnis zu Zuwanderung eine grundlegende Veränderung im Diskurs dar.8 »Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurden Zuwanderung und Integration in einem Gesetz geregelt und damit der irrigen These, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, eine endgültige Absage erteilt.«9 Während in den untersuchten Fallstudien das Eigene nur implizit mitverhandelt wurde, stand es nun im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Asyl, welcher zuvor als Prototyp der Migration im Fokus der Debatten stand, wurde zu einer Form von Migration unter anderen. In diesem Epilog wird daher der Diskurs über Asyl im engeren Sinne verlassen, um Veränderungen des gesamten Migrationsdiskurses aufzeigen zu können. Dies ermöglicht, den Asyldiskurs sowohl in einen größeren Kontext einordnen zu können als auch die Fragen hinsichtlich Eigenen und Anderen im Kontext von Migration zu skizzieren, die über die neunziger Jahre hinaus die Bundesrepublik bis heute prägen. Dies soll anhand von der Auseinandersetzung über Deutschland als Einwanderungsland und über die Änderung des Staatsangehörigkeitsrecht erfolgen. Die Erklärung »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland« findet sich im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP 1982. Sie ist »häufig wiederholt worden und bildet bis in die Gegenwart eine politische Positionierung gegen eine Förderung von Einwanderung.«10 1988 kritisierte der Migrationswissenschaftler Dietrich
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Die Grundgesetzänderung war nur ein Faktor, der zur Reduzierung der Zahlen beitrug, weitere waren die Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa sowie die Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien als Kontingentflüchtlinge und somit nicht als Aslybewerber*innen. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 189. Marcel Berlinghoff, »Geschichte der Migration in Deutschland.« In Dossier Migration, zuletzt geprüft am 07.06.2022, https://www.bpb.de/themen/migration-integration/dossier-migration/252 241/geschichte-der-migration-in-deutschland/. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 970–1. Klaus J. Bade und Jochen Oltmer, »Deutschland.« In Enzyklopädie Migration in Europa: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Klaus J. Bade und Corrie van Eijl, 3., durchges. Aufl. (Paderborn: Schöningh, 2010), 169. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 972. Ebd., 974. Jochen Oltmer, »Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland.« In Migration und Integration in Deutschland: Begriffe – Fakten – Kontroversen, hg. v. Karl-Heinz Meier-Braun und Reinhold Weber,
10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen
Thränhardt die Bundesrepublik sei ein »unerklärtes Einwanderungsland.«11 Diese Debatte ist daher nicht neu. Ende der 1970er Jahre hatte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik Heinz Kühn bereits ein Integrationskonzept vorgelegt, die die Gastarbeiter*innen als Einwanderer*innen betrachtete und das erleichterte Einbürgerung und kommunales Wahlrecht miteinschloss. Ab 1981 rückte jedoch immer stärker Begrenzung und Rückkehrförderung in den Vordergrund.12 Ein weiterer Vorstoß zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer kam von den Ländern Schleswig-Holstein und Hamburg und wurde vom Bundesverfassungsgericht mit folgender Begründung zurückgenommen: »Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, können demokratische Legitimation nicht vermitteln.«13 So enthielt die Neugestaltung des Ausländergesetzes von 1990 zwar unter den vielen Einzelregelungen auch einige Integrationsangebote, jedoch kein Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass oder eine grundlegende Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts. Die Wahrnehmung von Ausländern als Gefahr für die innere Sicherheit blieb eine wesentliche Ausrichtung des Gesetzes.14 Für EU-Bürger*innen wurde das kommunale Wahlrecht 1995 eingeführt, was die »rechtliche Hierarchisierung der Migrant*innen nach Herkunft«15 veranschaulicht. Auf die Aussage, Deutschland sei (k)ein Einwanderungsland wird auch in den untersuchten Zeitungsartikeln programmatisch Bezug genommen. Nach der Änderung des Asylgrundrechts lässt sich beobachten, dass das Verständnis von Deutschland als Einwanderungsland zwar noch begründungsbedürftig ist, als stärkstes Argument jedoch auf die Realität verwiesen wird, die kaum mehr ignoriert werden kann. »Ist Deutschland nun ein Einwanderungsland oder nicht? [...]. De facto findet jedenfalls eine Zuwanderung nach Deutschland statt, was auch immer die Regierung sagen oder tun mag.«16 So wird es auch im Koalitionsvertrag der neuen rot-grünen Regierung 1998 aufgenommen: »Im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen ist [...] nur festgehalten, daß in Deutschland ›ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß‹ in der Vergangenheit stattgefunden habe.«17 Inhaltlich gibt es kein gemeinsames Verständnis, wie Einwanderungsland eigentlich definiert werden kann und noch weniger eine Auseinandersetzung darüber, was die Bezeichnung als Einwanderungsland eigentlich konkret für Folgen hätte. Die Kriterien für ein Einwanderungsland reichen von der Existenz einer längeren Einwanderungsgeschichte, über aktuelle Einwanderung bis hin zur bewussten politischen Gestaltung von Migration und dem Entwickeln eines eigenen Einwanderungsgesetzes.
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Sonderausgabe, Schriftenreihe/Bundeszentrale für politische Bildung 1389 (Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013), 225. Dietrich Thränhardt, »Die Bundesrepublik Deutschland – ein unerklärtes Einwanderungsland.« Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 24 (1988). Nuscheler, Internationale Migration, 185, 209. Nuscheler, Internationale Migration, 211. Ebd., 187. Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration: Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen (Ditzingen: Reclam, 2020), 226. Klaus Natorp, »Auf Einwanderungen schlecht vorbereitet.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.1998. Albert Schäffer, »Schilys Äußerung zur Zuwanderung belebt die Diskussion um eine gesetzliche Regelung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.1998.
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»Deutschland müsse als Land mit der höchsten Zuwanderungsrate in Europa bei der ›politischen Gestaltung und Steuerung der Migration‹ führend sein. Die Bundesregierung verschließe sich der Einsicht, ›daß die Bundesrepublik de facto ein Einwanderungsland ist‹. Die Zuwanderung werde auch in der kommenden Zeit anhalten.«18 Der saarländische CDU-Landesvorsitzender Peter Müller »bezeichnete die Auffassung Kanthers, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, als ›realitätsfern und falsch‹. [...] Die CDU müsse deshalb aufhören, dieses Thema zu tabuisieren und sich den Tatsachen öffnen. ›Es stellt sich ja nicht die Frage ›Einwanderung ja oder nein?‹ Vielmehr geht es darum, ob diese Einwanderung sich begrenzt oder unbegrenzt vollzieht‹, sagte Müller.«19 Auffällig ist auch hier, dass es um die Anerkennung einer bestehenden Realität geht. Es wird gefordert, das bestehende Tabu oder auch Paradoxon zu überwinden. »Solange dieses Paradoxon politisch gewollt bleibe, werde es nicht gelingen, ein in sich schlüssiges Einwanderungskonzept zu schaffen, nicht einmal eine Konzeption für bereits Eingewanderte und ihre Nachkommen.«20 Des Weiteren ist Forderung nach einer bewussten Gestaltung von Zuwanderung für Parteien anscheinend attraktiv und eine Möglichkeit, sich auf innen- und außenpolitischer Ebene zu profilieren. Die Gegner*innen einer Anerkennung als Einwanderungslands betonen vor allem die Sorge um die eigene Identität und nationale Homogenität, was in diesem Zitat als Kommentar zum Wahlprogramm der CSU benannt wird. »›Deutschland ist kein Einwanderungsland.‹, [...] Nimmt man ihn [diesen Satz] wörtlich, enthält er keine politische Forderung, sondern eine historische Tatsachenbehauptung. Seine Urheber möchten, scheint es, nicht nur für die Zukunft Einwanderer aus Deutschland so weit wie möglich fernhalten. Sie möchten auch für die Vergangenheit bestreiten, daß dieses Land durch Einwanderer mitbevölkert und mitgeprägt wurde. Dieser Satz verknüpft daher Einwanderungspolitik mit Geschichtspolitik. Offenbar hängt die Vision einer ethnisch und kulturell eindeutigen Zukunft eng mit dem Bedürfnis zusammen, eine ebenso eindeutige Vergangenheit zu haben.«21 Das Selbstverständnis als Einwanderungsland ist eng verknüpft mit kollektiver Erinnerungskultur und einem Bewusstsein über die deutsche Migrationsgeschichte. In vielen Artikeln wird deshalb auch über die verschiedenen Migrationsbewegungen nach Deutschland berichtet. »Was solche Diskussionen mühsam macht, ist, daß die einheimische Bevölkerung Einwanderer, Flüchtlinge und Asylbewerber stets in einen Topf wirft. Dabei ist gerade in Deutschland die Unterscheidung nicht schwierig.«22 Es wird benannt, wie lange mehrheimische Menschen schon in Deutschland sind und ihre Zugehörigkeit benannt. »Ihre schon in Deutschland geborenen Nachkommen kann 18 19 20 21 22
Günter Bannas, »SPD-Innenpolitiker stellen ›Eckwerte für ein Zuwanderungsgesetz‹ vor.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.1996. Eckhart Kauntz, »Begrenzt oder unbegrenzt?« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.1996. René Wagner, »Einwanderer haben eine ›Bringschuld‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.1998. Andreas Zielcke, »Fremde, wenn wir uns begegnen.« Süddeutsche Zeitung, 27.06.1998. Natorp, »Auf Einwanderungen schlecht vorbereitet«.
10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen
man erst recht nicht mehr als ›Gastarbeiter‹ bezeichnen, schon gar nicht, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben.«23 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bezeichnung als Einwanderungsland sagbar wird und in allen Parteien eine (öffentliche) Auseinandersetzung damit stattfindet. In einem Artikel wird die Situation Anfang der 1990er Jahre als Auslöser gesehen. »Erst der den sozialen Frieden bedrohende Zustrom von Asylbewerbern Anfang der neunziger Jahre wirkte wie ein Realitätsschock. Es wurde klar, daß Deutschland weder rechtlich noch politisch darauf vorbereitet war, die Herausforderung der globalen Migration anzunehmen.«24 Auch wenn im Zitat vor allem auf die Asylzuwanderung verwiesen wird, muss nach den Ergebnissen meiner Analyse die rassistische Gewalt und der Diskurs um die Grundgesetzänderung mitberücksichtigt werden. Das Thema Asyl wurde zu einem alles bestimmenden Thema. Eine andere Deutung sieht den Motor der Veränderung in den mehrheimischen Menschen selbst: »Die Bürgerkriege des zerfallenden Jugoslawiens, die zunehmende Binnenmigration in Europa, wachsende globale Verflechtungen, vor allem aber ein zunehmend selbstbewusster Teil der eingewanderten Bevölkerung und ihrer Nachkommen führten schließlich gegen Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts dazu, dass die Bundesrepublik sich ihrer Einwanderungsgeschichte stellte und diese zunehmend auch offiziell anerkannte.«25 Die Anerkennung als Einwanderungsland wurde sagbarer. Eine Veränderung der Vorstellung, was Deutschsein und Deutschwerden bedeutet und beinhaltet, stieß auf wesentlich mehr Widerstand. Dies wurde in der Auseinandersetzung um die Neugestaltung des Staatsbürgerschaftsrechts deutlich, in der es darum ging, ob das zugrunde liegende Abstammungsprinzip (ius sanguinis) geändert und um ein Territorialprinzip (ius soli) erweitert werden kann. Dies hätte eine veränderte Sichtweise auf Staat und Staatsvolk, sowie auf die Identität der Staatsbürger*innen zu Folge. Im Fokus stand die Zugehörigkeit von Kindern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, deren Eltern jedoch keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, woran sich eine emotionalisierte Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft entzündete.26 23 24 25 26
Ebd. Eckhard Fuhr, »Zu spät für Prinzipien.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.1998. Marcel Berlinghoff, »Geschichte der Migration in Deutschland.« In Dossier Migration. Die Unionsparteien organisierten 1998–99 eine Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Im Rahmen der Landtagswahl in Hessen kamen fünf Millionen Unterschriften zusammen. Die SPD verlor anschließend die Landstagswahl in Hessen und die Mehrheit im Bundesrat. Daraufhin lenkte die rot-grüne Regierung auf das Optionsmodell ein, welche Kinder mit zwei Staatsangehörigkeiten verpflichtete, bei Volljährigkeit auf eine zu verzichten. Die Einbürgerungsfrist wurde von 15 auf 8 Jahre verkürzt, es wurden Sprachkenntnisse erwartet und eine Gebühr in Höhe von 500 DM erhoben. Erst 2014 wurde die Optionspflicht gänzlich aufgehoben, bei Einbürgerungen besteht jedoch weiterhin die Pflicht, eine außereuropäische Staatsangehörigkeit aufzugeben. Ulrich Herbert und Karin Hunn, »Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern.« In Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 970–3; Alexopoulou, Deutschland und die Migration, 226–27; Holger Kolb, »Migrationsverhältnisse, nationale Souveränität und europäische Integration: Deutschland zwischen Normalisierung und Europäisierung.« In Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, 1032.
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Im Diskurs über die Staatsbürgerschaft ist bezeichnend, dass der Nutzen für Deutschland im Vordergrund steht. »Faktische Zugehörigkeit müsse langfristig gesehen in eine rechtliche Zugehörigkeit übergehen; dies liege auch im Interesse der deutschen Bevölkerung.«27 Wiederkehrende Formeln sind dabei die »Festigung des gesellschaftlichen Zusammenhalts«28 und der »Beitrag zum inneren Frieden«29 . Es geht um »innere Sicherheit«30 und darum, die Anfälligkeit von Ausländern für »politische Scharlatane und religiösen Fundamentalismus«31 zu mindern. »Es liege im deutschen Interesse, eine bessere Integration und keine Ghettoisierung der hier lebenden Ausländer zu erreichen.«32 Selbst wenn die Einbürgerung als »Integrationsangebot«33 verstanden wird, soll diese Integration für Deutschland von Nutzen sein: »Darin wird hervorgehoben, daß ›die Integration der dauerhaft in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger‹ für die Zukunft und den inneren Frieden in Deutschland von großer Bedeutung sei.«34 Es wird sogar betont, »daß Integration und Vermeidung von gesellschaftlichen Konflikten im Interesse aller Einwohner Deutschlands sei und keineswegs eine überflüssige Großzügigkeit gegenüber Migranten.«35 Großzügigkeit über Migrant*innen ist demnach grundsätzlich nicht erwünscht, noch weniger, wenn sie nicht nützlich ist. Die Perspektive der Migrant*innen, welche Bedeutung die Änderung der Staatsangehörigkeit für sie hat, fehlt fast vollständig. In einigen wenigen Artikeln wird an persönlichen Geschichten illustriert, wie schwierig es ist, sich einbürgern zu lassen. Jedoch steht auch hier nicht die emotionale Seite im Vordergrund, sondern welche Hürden die Kriterien und das Verwaltungshandeln darstellen.36 Selten wird hingegen genannt, dass die Einbürgerung das »Recht auf politische Betätigung und Versammlungsfreiheit«37 ermöglicht. »Ausländer dürften nicht auf Dauer Bürgerrechte vorenthalten werden.«38 Es sei »ein längst überfälliger Schritt zur offenen Bürgergesellschaft.«39 Die Bedingungen für eine Einbürgerung werden vor allem in der FAZ thematisiert. »Dazu gehörten hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, strafrechtliche Unbe-
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37 38 39
Albert Schäffer, »Rüttgers sieht beispiellosen Wirrwarr in der Ausländerpolitik.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.1998. Claus Gennrich, »Schmalz-Jacobsen schlägt zentrale Ausländerbehörde vor.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.1998. Albert Schäffer, »Schily sieht im neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen Beitrag zum inneren Frieden.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.01.1999. Ebd. Christian Schneider, »Grüne streben begrenzte Einwanderung an.« Süddeutsche Zeitung, 07.11.1995. Claus Gennrich, »Quoten bei der Zuwanderung.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.1997. Heribert Prantl, »Nirgendwo Mut, nur Kleinmut.« Süddeutsche Zeitung, 20.07.1998. Schäffer, »Schily sieht im neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen Beitrag zum inneren Frieden«. Wagner, »Einwanderer haben eine ›Bringschuld‹«. Zum Beispiel über Iraner*innen: Ekkehard Müller-Jentsch, »Das Pech, kein Torjäger zu sein.« Süddeutsche Zeitung, 20.12.1996; Hans-Christian Rößler, »Du mußt sein wie die anderen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.1999. bcs, »Grüne legen Entwurf für Einwanderungsgesetz vor.« Süddeutsche Zeitung, 09.07.1996. Christian Schneider, »Zuwanderung mit Quotenregelung vorgeschlagen.« Süddeutsche Zeitung, 10.02.1996. Schäffer, »Schily sieht im neuen Staatsangehörigkeitsrecht einen Beitrag zum inneren Frieden«.
10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen
scholtenheit, finanzielle Sicherheit und das Bekenntnis zu den Grundwerten der Verfassung.«40 Dies geht vielen jedoch nicht weit genug, es wird ein Engagement in allen Lebensbereichen gefordert, um der Einbürgerung würdig zu sein: »Wer dauerhaft hier leben wolle, müsse stärker bereit sein, sich in die deutsche Kulturund Werteordnung einzufügen. [...] Ausländer werden aufgefordert, nicht nur am Arbeitsplatz auf ihre deutschen Mitbürger zuzugehen, sondern sich auch stärker in Vereinen und Verbänden zu engagieren.«41 »›Ein Teil der Integration ist das deutsche Angebot, aber tausend Teile bestehen aus der Arbeit des Ausländers, sich zu integrieren.‹ Deshalb verlangte er: ›Der Ausländer muß die deutsche Sprache lernen, er muß einen Arbeitsplatz haben, jeden Tag um sechs Uhr aufstehen – das ist Integrationsarbeit.‹«42 Ein einseitiges Integrationsverständnis ist dabei vorherrschend, das zudem eine Überangepasstheit an eine vermeintlich deutsche Lebensart fordert. In der Auseinandersetzung um die doppelte Staatsbürgerschaft überwiegt der Anteil an Argumentationen, die sich dagegen aussprechen. Befürwortende Positionen bleiben dabei eher sachlich und kritisieren die Emotionalisierung des Themas: »Kritisiert wird ferner die Form der Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft, die oft mißverständlich und emotional gewesen sei.«43 Es wird erneut der deutsche Nutzen einer doppelten Staatsbürgerschaft betont: »Es sei vernünftiger, die in Deutschland geborenen Kinder der zweiten Ausländergeneration mit dem Bewußtsein aufwachsen zu lassen, sie könnten sich als Deutsche fühlen, statt ihnen von Anfang an eine ausländische Identität zu vermitteln.«44 Die Türk*innen werden als »Musterbeispiel« dargestellt, »wie eine Integration bei gleichzeitiger Wahrung der gewachsenen kulturellen Identität möglich sei.«45 Bei den ablehnenden Argumentationen finden sich viele zugespitzte und dramatisierende Äußerungen und es geht darum, die deutsche Identität zu schützen und zu erhalten. Zwei Staatsangehörigkeiten werden als Loyalitätskonflikt betrachtet.46 Grundlegend ist dabei die Annahme, dass jeder Mensch sich nur einem Land zugehörig fühlen kann. Menschen mit zwei Staatsbürgerschaften werden als »halbe Staatsbürger«47 gesehen oder als »deutsche Staatsbürger mit Doppelidentität [...], die jederzeit sagen können, eigentlich seien sie gar keine Deutsche.‹.«48 Diese werden als Bedrohung des
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Schäffer, »Rüttgers sieht beispiellosen Wirrwarr in der Ausländerpolitik«. Hans-Jörg Heims, »CSU: Ausländer müssen Deutsch lernen.« Süddeutsche Zeitung, 09.07.1998. Felix Berth, »Generalmobilmachung gegen Ausländer.« Süddeutsche Zeitung, 21.02.1998. Hans-Jörg Heims, »›Im Grundsatz positiv, im Detail zu unverbindlich‹.« Süddeutsche Zeitung, 03.12.1998. Gennrich, »Quoten bei der Zuwanderung«. Michael Stabenow, »›…dann gehen die Menschen zum Reichtum‹.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1996. Fuhr, »Zu spät für Prinzipien«. Schäffer, »Rüttgers sieht beispiellosen Wirrwarr in der Ausländerpolitik«. Albert Schäffer, »Mit Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.1999.
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Eigenen gesehen. »Eine Einbürgerung zum ›Nulltarif‹ von Ausländern ohne hinreichende Integration verändere die Grundlagen der Identität des deutschen Staatsvolkes. Das millionenfache Entstehen doppelte Staatsangehörigkeiten werde zu kaum absehbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen führen.«49 Wie diese Identität neu gefüllt werden könnte, wird nirgendwo benannt, eine Anpassung an das bestehende Eigene wird als einzige Lösung dargestellt. Dafür reichen acht Jahre Anpassungsbemühungen nicht aus: Es sei ein »starker Anreiz für Zuwanderungswillige, daß künftig acht Jahre Aufenthalt genügen sollten, um Deutscher werden zu können.«50 Davon ausgehend wird ein massives Bedrohungsszenario entworfen, welches die Vorstellung beinhaltet, dass sich durch Änderung des Staatsbürgerschaftsrecht die Zuwanderung verstärken und die Gesellschaft grundlegend verändert werde. »Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht werden die Schleusen für neue Einwanderungswellen nach Deutschland geöffnet, gewachsene Gesellschaftsstrukturen radikal verändert und die innere Sicherheit gefährdet. Deutschland wird damit zu einer multikulturellen Spielwiese mit allen Problemen und negativen Begleiterscheinungen. In der Konsequenz wird Deutschland weltweit zu einem Einwanderungseldorado.«51 Um welche Zugewanderte es bei dem Bedrohungsszenario geht, macht folgendes Zitat etwas deutlicher. Es beinhaltet anhand von Kategorisierung und Hierarchisierung bestimmter Länder offenen Kulturrassismus, antischwarzen und antimuslimischen Rassismus und hinsichtlich mentaler Unterschiede auch eine biologistische Form von Rassismus: »Die Integration von Bürgern der Europäischen Union [...] ist [...] problemlos. Anders verhalte es sich mit Staaten, die kulturell, religiös und damit gesellschaftlich weiter von Deutschland entfernt seien. [...] Auch die Einwanderer aus islamischen Ländern Asiens, etwa aus Pakistan, hätten weniger Schwierigkeiten als Einwohner aus Staaten Schwarzafrikas und aus anderen muslimisch bestimmten Gesellschaften. Ihnen falle die Integration besonders schwer – nicht nur wegen mentaler, religiöser und kultureller Unterschiede.«52 Zusammenfassend ist der Diskurs über die Staatsbürgerschaft davon geprägt, dass auf der einen Seite mehr Zugehörigkeit zugestanden werden soll. Gleichzeitig gibt es eine große Angst, dadurch eine vorgestellte deutsche Identität zu verlieren. Daraus resultieren starke Anpassungserwartungen und einseitige Integrationsforderungen. Ein neues Verständnis von Zugehörigkeit wird nicht sichtbar. Lediglich an einer Stelle wird benannt, dass die Gewährung von Zugehörigkeit auch Mitgestaltung in allen gesellschaftlichen Bereichen beinhaltet.53 Badr Mohammed, Mitglied der SPD-Arbeitsgemeinschaft
49 50 51 52 53
Ebd. Ebd. o. A., »›Zwei-Klassenrecht‹ – ›geöffnete Schleusen‹.« Süddeutsche Zeitung, 16.10.1998. Wagner, »Einwanderer haben eine ›Bringschuld‹«. Vgl. Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, 2. Auflage (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018).
10. Epilog: Eine beginnende Veränderung des Eigenen
Migration wird zitiert: »Deutsche haben Angst vor einer Zeit, da Türken auf Richterstühlen sitzen oder Griechen in Chefetagen. Aber sie wird kommen.«54 2011 belief sich die Zahl deutscher Richter*innen mit Migrationshintergrund laut dem Deutschen Richterbund auf 8- 9 %.55 Die gefundenen Zeitungsartikel zeigen jedoch, dass es sie zwar gibt, sie aber als Ausnahme wahrgenommen werden und stark auf ihre Herkunft reduziert werden.56 Das Richter*innenamt ist im Gegensatz zu anderen Bereichen gesellschaftlicher Teilhabe besonders reguliert und ist daher ein guter Indikator für Veränderungen. Die Hoffnung auf mehr Chancengerechtigkeit und Repräsentation ist eine der wenigen Utopien, die benannt werden. Damit ließe sich der Epilog verhalten positiv abschließen. Es muss jedoch noch auf die Wiederkehr des Wirtschaftsasylanten hingewiesen werden. Während sich die SPD im Kontext der Grundgesetzänderung für einen umfassenden Flüchtlingsschutz eingesetzt hat, änderte sich dies mit der Regierungsverantwortung bzw. bereits in den rot-grünen Koalitionsverhandlungen 1998. Der Flüchtlingsschutz wird zu einer großen Kontroverse zwischen der SPD und den Grünen.57 Auf der Oppositionsbank ist es leichter, mehr Flüchtlingsschutz zu fordern. Nicht mal einen Monat nach dem Abschluss der rot-grünen Koalitionsverhandlungen im Jahr 1998 positioniert sich Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gegen weitere Zuwanderung und bedient sich der Rhetorik des Asylmissbrauchs: »Deutschland kann nach Ansicht von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) einen weiteren Zuzug von Ausländern nicht verkraften. Die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung sei bereits überschritten, sagte Schily [...] Als ›nicht mehr handhabbar‹ bezeichnete es Schily, wenn künftig auch nicht-staatliche Verfolgung als einklagbarer Asylgrund anerkannt werden sollte.«58 »Schily hatte erklärt, das deutsche Asylrecht lasse sich nicht halten, denn 97 Prozent der Asylbewerber seien Wirtschaftsflüchtlinge.«59 Es gibt jedoch stärkere Kritik an Schily, als es vor der Änderung des Asylgrundrechts möglich war: »Schilys Äußerungen hätten den ›Peinlichkeitspreis dieser rot-grünen Regierung‹ verdient. [...] [Es] wäre hilfreich, einen Innenminister zu haben, ›der in der Asylfrage nicht mit falschen Zahlen und überzogenen Stellungnahmen operiert‹.«60 Grünen-Vorsitzender Rezzo Schlauch sagte, Schily fehle die nötige Sensibilität: »Es habe 54 55
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Dorit Kowitz, »Wer deutsch sein will, muß gut verdienen.« Süddeutsche Zeitung, 25.03.1998. Friederike Poggel, »Eine Bereicherung im Namen des Volkes. Richter mit Migrationshintergrund.« Stuttgarter Zeitung, 27.03.2011; Eine Dissertation aus dem Jahr 2019 beschäftigt sich mit dem Thema aus qualitativer Sicht, aktuelle Zahlen gäbe es jedoch nicht. Sie geht von weniger als 1 Prozent aus. Andrea Maisch, Migranten in Roben. Richterinnen und Richter mit Migrationshintergrund an deutschen Gerichten (Münster: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, 2019), 45–46. Cigdem Akyol, »Exoten mit Roben. Migranten als Richter.« Taz, die Tageszeitung, 08.07.2008. Günter Bannas, »Überwältigende Mehrheit bei den Grünen und bei der SPD für die Koalitionsvereinbarungen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.1998. epd/AP/SZ, »Schily: Zuwanderung nicht mehr zu verkraften.« Süddeutsche Zeitung, 16.11.1998. Marianne Heuwagen, »Regierung verhilft Ausländern schneller zu Jobs.« Süddeutsche Zeitung, 22.11.1999. Heuwagen, »Regierung verhilft Ausländern schneller zu Jobs«.
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keinen Wert, mit Begriffen wie ›Belastbarkeit‹ Personen, die zu einer ausländerfeindlichen Haltung neigten, zu bestärken.«61 Der Begriff des Asylmissbrauchs ist jedoch zurück: »Auch eine weitere Verschärfung des Asylrechts hält der Rechtspolitiker für erforderlich, um Mißbrauch entgegenzuwirken. [...] Die derzeitige ›Magnetwirkung‹, die Deutschland habe, müsse beseitigt werden. Deshalb müßten das deutsche Rechtsniveau und die hohen Sozialleistungen einem ›europäischen Niveau‹ angepaßt werden.«62 Die Debatte um Wirtschaftsflüchtlinge tauchte erneut bei steigenden Flüchtlingszahlen 2015 und 2022 auf. Es lässt sich beobachten, dass Flutmetaphern und die Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge im kollektiven Gedächtnis vorhanden bleiben und bei Bedarf nahezu direkt aktiviert werden können. Im zeitlichen Vergleich lässt sich jedoch eine stärkere Sensibilisierung und Bewusstwerdung über die Folgen und Probleme solcher Vereinfachungen und symbolischen Darstellungen feststellen.63 Außerdem ist die Repräsentanz von vielfältigeren Formen von Zugehörigkeit im gesellschaftlichen und medialen Diskurs angekommen.64
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64
Albert Schäffer, »Schlauch: Schily fehlt Sensibilität.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.1998. Karl Feldmeyer, »Scholz: Bessere Integration von Einwanderungswilligen erfordert schärfere Bekämpfung der Ausländerkriminalität.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08.1998. Zum Beispiel Pro Asyl e.V., Pro Menschenrechte. Contra Vorurteile. Fakten und Argumente zur Debatte über Flüchtlinge in Deutschland und Europa., 3. überarbeitete Auflage (2017), zuletzt geprüft am 07.06.2022, https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Pro_Menschenrechte_Cont ra_Vorurteile_2017_Webversion.pdf. Zum Beispiel Ballhaus Naunynstraße, »10 Jahre postmigrantisches Theater.« Zuletzt geprüft am 07.06.2022, https://ballhausnaunynstrasse.de/play/10_jahre_postmigrantisches_theater_24-052016/; »Neue Deutsche Medienmacher*innen.« Zuletzt geprüft am 07.06.2022, https://neuemedi enmacher.de/#DasVolleProgramm.
11. Schlussbetrachtung
»Für die wirtschaftliche Rezession hat auch der (selbst-)kritische Bürger, der mit aufrichtiger Abscheu die Verfolgung von Ausländern verurteilt, längst einen Sündenbock gefunden. Manch einem, der an Lichterketten-Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit teilnimmt, [...] gelten die Bürger der neuen Bundesländer als konsumgierige Schmarotzer. Die Behauptung, man empfinde mehr Solidarität mit einem süditalienischen Pizzabäcker als mit einem Landsmann aus Zwickau gehört zu den Bonmots der Stunde.«1
»In der Praxis sollen Polen und die Tschechische Republik den Deutschen die Schmutzarbeit abnehmen: bei der unappetitlichen Grenzsicherung nach Osten (durch elektronische Überwachung, Radar und womöglich mit Grenzsoldaten) und bei der unschönen Abschiebung der Flüchtlinge. Deutschland schafft sich einen cordon sanitaire, hinter dessen Grenzen [...] der Wilde Osten beginnt. Als Gegenleistung dürfen sich Polen, Tschechien und Österreicher einer Art ›Zentraleuropäischen Wohlstandssphäre‹ zugehörig fühlen‹.«2
In den beiden Zitaten aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung, die das Quellenmaterial für die Untersuchung des Asyldiskurses darstellen, werden komplexe Beziehungsverhältnisse deutlich. Es entsteht jeweils ein Dreiecksverhältnis zwischen Eigenem und Anderen, welches durch die Herstellung von Nähe und Distanz, von Abgrenzung, Zugehörigkeit und Solidarität kontinuierlich ausgehandelt wird. Dass hier zwei Zitate aus dem Jahr 1993 ausgewählt wurden, ist kein Zufall, da sich zu diesem Zeitpunkt der Asyldiskurs verengte und zuspitzte und im Mai 1993 in die Änderung des Asylgrundrechts endete. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung, welche zwar kaum direkte Auswirkungen auf den Diskurs über Asyl hatte, aber als externer Schock eine grundlegende Veränderung des Kontextes und der Verhältnisse in Deutschland und Europa bedeutete. Das eigene Selbstverständnis, darunter die Gewährung von Asyl, stand dadurch auf dem Prüfstand und musste neu ausgehandelt werden.
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Cortes-Kollert, »Selbsthaß, Fremdenhaß«. Koydl, »Die Deutschen investieren, die anderen parieren«.
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Im linken Zitat wird die Aushandlung eines komplexen Verhältnisses zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen deutlich, in der stets auf die Asylsuchenden bzw. Ausländer als das Dritte Bezug genommen wird. Sowohl zu den Ostdeutschen, als auch zu den Asylsuchenden wird in einem wechselseitigen, flexiblen Verhältnis sowohl Nähe als auch Abgrenzung hergestellt. Die Ostdeutschen wurden im Diskurs über die rassistische Gewalt als Andere verortet, während den deutschen Ausländern plötzlich ein gewisser Grad an Zugehörigkeit zugestanden wurde. Im Diskurs um die Grundgesetzänderung als Überlebensfrage der Nation hingegen entstand eine deutsche Einheit gegen die als bedrohlich empfundene Zuwanderung. Sie kann aus dieser Perspektive als ein wesentlicher Beitrag zur deutschen Einheit und als ein Gründungsmoment der Nation betrachtet werden. Das rechte Zitat zeigt, wie im Diskurs über Asyl die Machtverhältnisse in Europa aushandelt wurden. Auch hier entsteht ein flexibles Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, denen ein gewisses Maß an Zugehörigkeit zugestanden wird, wenn sie in der Lage sind, Migrationsbewegungen über ihre Grenzen zu kontrollieren. Hinsichtlich der Asylsuchenden dominiert ein Verhältnis der Abgrenzung. Durch den Diskurs über Asyl und über die Bedrohung von außen entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein europäisches Eigenes, welches sich bezeichnenderweise als Sicherheitsgemeinschaft versteht. Wesentlich für die Aushandlung dieser Beziehungs- und Machtverhältnisse sind die herausgearbeiteten dominierenden Deutungsmuster, die bestimmte Deutungen vorgeben, in welchem Verhältnis sich das Eigene und Anderen bewegen kann. Die fünf zentralen Deutungsmuster des untersuchten Asyldiskurses sind Misstrauen, Großzügigkeit, Selbstschutz, Selbstkritik, Zugehörigkeit. Sie beinhalten dabei ein spezifisches Selbstbild und ein damit verbundenes Verhältnis zum Anderen. Die vier Deutungsmuster Misstrauen und Großzügigkeit, sowie Selbstschutz und Selbstkritik stellen Gegensätze dar, die im gleichen Zeitraum dominieren. Im Diskurs lässt sich daher eine wechselseitige Bezugnahme auf das gegensätzliche Deutungsmuster beobachten. Unabhängig davon, ob Asylgewährung und Bleiberecht befürwortet oder abgelehnt wird, bleiben Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge in diesen vier Deutungsmustern als Andere verortet und werden nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet. Das Deutungsmuster der Zugehörigkeit steht daher den anderen vier Deutungsmustern gegenüber. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit prägte bereits den Asyldiskurs vor 1977, bis sich mit der Debatte über den Asylmissbrauch das Deutungsmuster des Misstrauens entwickelte und in beiden Zeitungen dominierend wurde. Die Vorstellung, dass Menschen das Asylrecht missbrauchten, war mit einer Bedrohung des Eigenen verbunden, welche sich beispielsweise auf Sicherheit, inneren Frieden, Stabilität der Demokratie und Wohlstand bezog. Das Eigene wurde als Opfer konstruiert. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit war nach 1977 auf bestimmte Gruppen wie die Boat People und die Bürgerkriegsflüchtlinge beschränkt, welche mit Konstruktionen des Eigenen als Retter*in verknüpft wurden. Wesentliche Kennzeichen waren die Inszenierung einer großzügigen Aufnahme, die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung sowie die Grenzen der Aufnahmebereitschaft.
11. Schlussbetrachtung
Abbildung 4: Dominierende Deutungsmuster im Asyldiskurs
Während sich nach der Wiedervereinigung die Deutungsmuster des Diskurses nicht grundlegend änderten, sich das Deutungsmuster des Misstrauens aber noch stärker zuspitze, änderte sich der Diskurs nach der Änderung des Asylgrundrechts deutlich. Das Deutungsmuster des Misstrauens trat in den Hintergrund und es entwickelten sich in den beiden Zeitungen divergierende Deutungsmuster des Eigenen. In der FAZ wurde im Deutungsmuster des Selbstschutzes ein Selbstbild konstruiert, das zwar bestimmten Gruppen Asyl gewährte, was dem Nachweis für Humanität diente. Ansonsten wurde Fluchtmigration vorwiegend als Sicherheitsproblem betrachtet und mit Kriminalitätsdiskursen verknüpft. In der SZ entwickelte sich das Deutungsmuster der Selbstkritik, welches das Selbstverständnis eines humanen Eigenen kontinuierlich in Frage stellt. Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen staatliche Asylpraktiken bekamen dabei viel Raum. In beiden Zeitungen wurden zudem mehrheimische Menschen stellenweise als zugehörig wahrgenommen und als politisch handlungsfähig dargestellt, was als ein beginnendes Deutungsmuster von Zugehörigkeit betrachtet werden kann. Asyldiskurse sind ein wesentliches Feld für die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass in Diskursen über Asyl Aushandlungen über das eigene Selbstverständnis und das Verhältnis zu Dritten stattfinden. Diese Aushandlungen anhand von Migration werden als Metanarrativ bezeichnet. Bestandteil der Analyse war, welche Deutungsmuster und Wissensordnungen im Asyldiskurs vorhanden sind, wie sich der Diskurs in dem untersuchten Zeitraum von 1977 bis 1999 in den beiden Zeitungen entwickelte, ob alternative Ansätze von Zugehörigkeit sichtbar wurden und wie in Asyldiskursen rassifizierende Zuschreibungen sowie intersektionale Verknüpfungen wirksam wurden. Nicht zuletzt sollte betrachtet werden, wie sich die Verhältnisse zwischen Eigenem und Anderem in spezifischer Weise beschreiben lassen und welche gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Diskursen deutlich werden.
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Die theoretische Verortung liegt in den Postkolonialen Studien, der Rassismustheorie und der reflexiven Migrationsforschung. In zentralen Studien wie Orientalismus3 oder The West and the Rest4 wurde die Konstruktion des Anderen in kolonialen Diskursen herausgearbeitet und seine Bedeutung für den okzidentalen, westlichen beziehungsweise europäischen Blick auf die Welt und die eigene Identitätskonstruktion deutlich gemacht. Postkoloniale Perspektiven sind für den Ansatz der reflexiven Migrationsforschung eine wichtige Ergänzung, weil sie dazu beitragen, die unsichtbaren Normsetzungen und scheinbar universalistischen Grundannahmen von Wirklichkeitskonstruktionen sichtbar zu machen. Mit der Analyseperspektive der Okzidentalismuskritik wird dabei die Blickrichtung von der Konstruktion des Anderen hin zu den Konstruktionen des Eigenen gewendet. Okzidentalismuskritik hat das Ziel, zu untersuchen, wann Konstruktionen des Eigenen im Verhältnis zu rassifizierenden Konstruktionen des Anderen auftauchen und welche Funktion sie im Diskurs für die Herstellung der eigenen Identität einnehmen. Rassismus als Analysekategorie ermöglicht es dabei, biologische, kulturelle, soziale und religiöse Differenzsetzungen und damit verbundene Zuschreibungen und Hierarchisierungen zu identifizieren und in ihrer Bedeutung für den Diskurs über Asyl einzuordnen. Koloniale Diskurse konstruieren und reproduzieren den Weißen Nationalstaat und imperiale Zugehörigkeitsordnungen. Da Diskurse über Flucht und Asyl in ähnlicher Weise auf raumbezogene und nationalstaatlich verfassten Identitätskonstruktionen und staatsbürgerschaftliche Zugehörigkeitsordnungen Bezug nehmen, eignen sie sich, um den Ansatz der Okzidentalismuskritik empirisch umzusetzen und Konstruktionen des Eigenen herauszuarbeiten.5 Flucht wird dabei als eine Form von Migration verstanden, die in besonderer Weise das eigene Selbstverständnis des Aufnahmelandes herausfordert, weil sich Asylgewährung im Spannungsfeld zwischen der Souveränität von Nationalstaaten und der Verpflichtung auf die Menschenrechte bewegt. Reflexive Migrationsforschung ergänzt eine postkoloniale Perspektive in geeigneter Weise, um die Wissensordnungen über Migration nicht unhinterfragt zu reproduzieren, sondern die Grundannahmen und die Einbettung in gesellschaftliche Machtverhältnisse zu reflektieren. Dabei ist der Umgang mit Kategorien und Kategorisierungen und das Verständnis und das Verhältnis von Gesellschaft und Migration zentral. Hier ist beispielsweise die Kategorisierung in echte und unechte Flüchtlinge, mit legitimen und illegitimen Fluchtgründen zu nennen, die als zentrales Element des Diskurses identifiziert werden konnte. Daher wird die Unterscheidung zwischen Migration und Flucht nicht vorausgesetzt, sondern es wird betrachtet, was in den Diskursen als Flucht definiert wird. Die Reflexion über Kategorien führte des Weiteren zu der Entscheidung, bestimmte Begriffe aus dem Quellenmaterial und bestehenden Wissensordnungen über
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Said, Orientalismus. Stuart Hall, »Der Westen und der Rest.« In Rassismus und kulturelle Identität. Regina Römhild, »Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung.« In Konfliktfeld Fluchtmigration, 25; Paul Mecheril et al., »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten.« In Migrationsforschung als Kritik?, 12 Juliane Karakayalı und Paul Mecheril, »Umkämpfte Krisen: Migrationsregime als Analyseperspektive migrationsgesellschaftlicher Gegenwart.« In Postmigrantische Perspektiven, 229.
11. Schlussbetrachtung
Migration kursiv zu setzen, um die damit transportierten Bilder und Vorstellungen sowie Othering-Prozesse zu markieren. Die Verbindung verschiedener theoretischer Ansätze ist gewinnbringend für die Arbeit, da sie auf einem ähnlichen Wissenschaftsverständnis beruhen und verschiedene Aspekte der Fragestellung genauer beleuchten. Die postkolonialen Ansätze sind der Ausgangspunkt und die Inspiration für die konkrete Fragestellung der Arbeit. Für die konkrete Umsetzung ist die reflexive Migrationsforschung als zweite Perspektive besonders hilfreich, da sie sich auf den konkreten Gegenstand der Untersuchung bezieht. Methodisch nutzt diese Arbeit ein diskursanalytisches Verfahren, welches sich dazu eignet, bestehende und sich verändernde Wissensordnungen anhand von medialen Daten zu analysieren. Dem liegt ein Diskursverständnis zugrunde, welches Diskurse als Bedeutungszuschreibungen und kollektive Wissensordnungen versteht, die zumindest für eine bestimmte Zeit stabilisiert und institutionalisiert werden. Ausgangspunkt ist, dass soziale Prozesse Realität sprachlich erzeugen und diskursiv deuten. Bedeutung ist nicht ursprünglich oder objektiv vorhanden, sondern wird in sozialen Prozessen hergestellt. Wahrnehmen, Denken, Sprechen und Handeln wird erst durch ein gemeinsames Bedeutungssystem möglich. Diskursanalyse untersucht diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und versucht Regelhaftigkeiten und Diskontinuitäten herauszuarbeiten.6 Massenmedien stellen dabei hegemoniale Orte der Produktion und Distribution von Wissensbeständen dar und spielen eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung gesellschaftlichen Wissens.7 Für die Untersuchung von gesellschaftlichen Wissensordnungen hinsichtlich der Konstruktion des Eigenen und des Anderen werden zwei der auflagenstärksten, bundesdeutschen Tageszeitungen als Analysematerial genutzt, die Süddeutsche Zeitung (SZ) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Der Datenkorpus beinhaltet 2810 Artikel, davon 1294 von der FAZ und 1516 von der SZ. Der Beginn des Untersuchungszeitraums im Jahr 1977 wurde als Anfang einer intensiveren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Asyl und als Entstehung des Deutungsmusters des Misstrauens identifiziert.8 Mit der Festsetzung des Zeitraums bis 1999 kann die Entwicklungen nach der Änderung des Asylgrundrechts und die Debatte um das neue Staatsbürgerschaftsrecht berücksichtigt werden, in welcher das Eigene neu verhandelt wurde. Methodisch beinhaltet die Arbeit ein zweigeteiltes diskursanalytisches Vorgehen von Struktur- und Feinanalyse. In der Strukturanalyse wurde erfasst, worüber in allen Artikeln des Datenkorpus gesprochen wird. Aus dieser Analyse wurden im Anschluss Fallstudien ausgewählt, die auf eine intensivere gesellschaftliche Aushandlung hindeuteten und mit einer intensiveren Berichterstattung einhergingen. Die induktive Vorgehensweise ermöglichte, die Entwicklung des Diskurses zu analysieren und Relevanzsetzungen aus dem empirischen Material heraus festzustellen. In den Fallstudien wurden anhand einer Feinanalyse die Artikel ausgehend von der Fragestellung kodiert, anschließend wurden Kategorien entwickelt und daraus die jeweiligen Regeln und Strukturen der diskursiven
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Keller, Diskursforschung, 7–8. Pundt, Medien und Diskurs, 132; Stefan Meier und Juliette Wedl, »Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse.« In Diskursforschung, 411. Poutrus, Umkämpftes Asyl, 78; Münch, Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 63.
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Bedeutungsproduktion herausgearbeitet. Die Berücksichtigung des historischen Kontextes war eine wesentliche Grundlage für die Analyse.9 Das zweigeteilte diskursanalytische Vorgehen, das aus Struktur- und Feinanalyse bestand, war zeitlich sehr aufwändig. Gleichzeitig zeichnet sich die Studie durch das umfangreiche Datenmaterial und die induktive Vorgehensweise besonders aus, weil die Strukturanalyse einen sehr guten Überblick über den Verlauf des Diskurses über 22 Jahre ermöglichte und die Fallstudien aus dem Material entwickelt wurden. Für eine sich anschließende Forschung wäre es sinnvoll zu prüfen, Text Mining in die Strukturanalyse miteinzubeziehen.10 Als weitere Herausforderung ist die jeweilige Kontextualisierung zu nennen, da auch Geschichtsschreibung sprachlich vermittelt ist und keine Wirklichkeit »hinter den Diskursen« erfasst. Die thematisch sehr unterschiedlichen Fallstudien erforderten eine Einordnung in den Kontext wie etwa der Vietnamkrieg, die Bedeutung von Westberlin im Ost-WestKonflikt, der Prozess der deutschen Wiedervereinigung, die postjugoslawischen Kriege und die Geschichte der kurdischen Minderheiten im Nahen Osten. Eine Beschreibung der Ereignisse bringt stets bestimmte Deutungen hervor und vernachlässigt andere. Daher wird versucht, die Perspektivität der Darstellung zu benennen. Der Fokus liegt auf der Bedeutung und den Auswirkungen der Ereignisse für die flüchtenden und geflüchteten Menschen sowie für die Aufnahme in der Bundesrepublik. Die Ergebnisse der Analyse gliedern sich in drei Zeitabschnitte. Der erste Zeitabschnitt von 1977–1990 ist überschrieben mit »Von der Großzügigkeit zur Restriktion: Unser Asylrecht wird missbraucht.«11 Der zweite Zeitabschnitt von 1991–1993 trägt die Überschrift: »Zwischen Handlungsfähigkeit und Schuldzuweisung: Deutschland im Staatsnotstand. Der innere Friede ist bedroht.« Der dritte Zeitabschnitt von 1994–1999 hat die Überschrift: »Zurück zu einer (neuen) Ordnung: Wir helfen – aber nicht allen!« In den ersten beiden Phasen bilden die FAZ und die SZ überwiegend einen gemeinsamen Diskurs ab. Auf die kleineren Unterschiede zwischen den beiden Zeitungen in Kapitel 3 bis 6 wird im Fazit nicht mehr genauer eingegangen. Erst nach der Änderung des Asylgrundrechts finden sich deutliche Unterschiede der Konstruktionen in den beiden Zeitungen, die dann auch benannt werden. Das erste Analysekapitel (Kapitel 3) behandelt die Entstehung des Asylmissbrauchs im Diskurs, womit das Deutungsmuster des Misstrauens seinen Anfang nahm. Asylmissbrauch beinhaltete die Annahme, dass Menschen in Deutschland Asyl beantragen, ohne verfolgt zu sein oder ohne legitime Fluchtgründe vorweisen zu können. Damit begann die intensive Auseinandersetzung um die Beibehaltung oder Änderung des Asylgrundrechts. Zentrale Aspekte des Deutungsmusters waren, dass Asylsuchende sich eindeutig in echte und unechte Flüchtlinge einteilen lassen und dass diese vom Herkunftsland, Aussehen und Verhaltensweisen abgeleitet werden können. Das Recht auf Asyl, das auf der 9
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Keller, Diskursforschung, 82–88; Georg Glasze, Shadia Husseini de Araújo und Jörg Mose, »Kodierende Verfahren in der Diskursforschung.« In Handbuch Diskurs und Raum, 379–82; Jäger, Kritische Diskursanalyse : eine Einführung, 90–91; Wodak und Reisigl, Discourse and discrimination. Zum Beispiel: Andreas Blätte, Merve Schmitz-Vardar und Christoph Leonhardt, »MigPress. Ein Zeitungskorpus für die Migrations- und Integrationsforschung von SZ und FAZ.« Zuletzt geprüft am 04.04.2023, https://polmine.github.io/MigPress/. Der kursive Satz ist dabei eine Quintessenz aus dem Diskursmaterial und stellt eine verdichtete Selbstaussage des Eigenen dar.
11. Schlussbetrachtung
individuellen Prüfung jedes Asylantrags beruhte, wurde im Diskurs mit Kategorien verbunden, die sich stärker auf rassifizierende Zuschreibungen und weniger auf die jeweiligen Fluchtgründe bezogen. Zentral war dabei die Konstruktion des besonders fremden außereuropäischen Asylanten, der Asylmissbrauch begeht. Die Beschreibung als nicht-europäisch war als Begründung dafür ausreichend. Die Fremdheit der Asylsuchenden wurde zudem als Ursache dafür gesehen, dass es Widerstand in der Bevölkerung und in den Kommunen gab, diese Fremden, die möglicherweise gewalttätig und kriminell seien, aufzunehmen. Ausländerfeindlichkeit wurde überwiegend negiert. Die Folgen der steigenden Asylzahlen, welche auf den Asylmissbrauch zurückgeführt wurden, waren hohe Kosten für den Sozialstaat, die Gefährdung des inneren Friedens sowie Überforderung, Chaos und Kontrollverlust in Behörden und Asylunterkünften. Wasser- und Flutmetaphern verbildlichten die Situation. Im Diskurs war bezüglich des eigenen Selbstverständnisses die Vorstellung vorherrschend, dass die Bundesrepublik ein besonders großzügiges Asylrecht hat, dessen Entstehung aus den Erfahrungen im Nationalsozialismus und einer daraus abgeleiteten moralischen Verantwortung resultierte. Daher war die Entstehungsgeschichte des Asylrechts im Parlamentarischen Rat ein wesentlicher Bezugspunkt für die Aushandlung, ob dieses Asylrecht aufgrund des Asylmissbrauchs eingeschränkt werden dürfe. Als weiterer zentraler Aspekt ist die Rechtsstaatlichkeit zu nennen, die zu einem mehrstufigen, bis zu acht Jahre dauernden Asylverfahren über mehrere Instanzen führe. Es entwickelte sich eine Debatte darüber, wie Rechtsstaatlichkeit gewährleistet und gleichzeitig ein Verfahren entwickelt werden könne, um die echten und unechten Flüchtlinge schneller zu identifizieren. Ganz zu Beginn im Jahr 1977 gab es noch eine Diskussion darüber, ob es Asylmissbrauch überhaupt gäbe. Dann wurde dieser im Diskurs als gegeben gesetzt und selbst juristische Interventionen, dass es keinen Tatbestand des Asylmissbrauchs aus rechtlicher Sicht gäbe, verhallten im Diskurs. Die Schutzfunktion der Asylgewährung trat in den Hintergrund. Das Deutungsmuster des Misstrauens dominierte bis zur Änderung des Asylgrundrechts den Diskurs. Das Kapitel 4 behandelt die Rettung der vietnamesischen Boat People. Großzügigkeit war dabei das zentrale Deutungsmuster des Diskurses. Die Aufnahme und Integration der Boat People wurde dabei als Erfolgsgeschichte gerahmt, bei der sich die Bundesrepublik als Retter*in inszenierte und die große Hilfsbereitschaft und Empathie der Bevölkerung als ein nicht steuerbares, aber für die Integration notwendiges Naturereignis dargestellt wurde. Die Euphorie hielt jedoch nur so lange an, bis der Selbstschutzmechanismus des Nichteinwanderungslandes wirkte und die Hilfsbereitschaft erschöpft war. Die Boat People wurden bereits durch die andere Bezeichnung in Abgrenzung zu den Asylanten als echte Flüchtlinge dargestellt. Anhand der Rettungsaktionen des Komitees Cap Anamur begann jedoch eine Debatte über die erzeugte Sogwirkung und legitime und illegitime Fluchtgründe. Die von Rupert Neudeck, dem Gründer des Komitees Cap Anamur geforderte radikale Humanität kam somit rasch an ihre Grenzen. Neben dem Wunsch humanitäre Verantwortung zu übernehmen, überwog der Wunsch, die Kontrolle über Zuwanderung zu behalten und die ethnisch-homogene Identität zu schützen. Die Zuschreibungen, welche die Boat People kennzeichneten, waren die gefahrvolle und von Leiderfahrung geprägte Flucht, und ihre Dankbarkeit, Hilfsbedürftigkeit und Anpassungsfähigkeit in Deutschland. Insbesondere letztere sind Stereotype eines antiasiatischen Rassismus. Die Boat People wirkten überwiegend als Objekte des Rettungs- und
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Integrationsprozesses. Der Preis der Integration und Zugehörigkeit war der Verzicht auf Individualität, Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit beziehungsweise Irritationen und Konflikte mit der Mehrheitsgesellschaft, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden. Das Deutungsmuster der Großzügigkeit war somit gekennzeichnet durch positiv konnotierte Begrifflichkeiten wie Boat People oder Vietnam-Flüchtlinge, vom Leid gezeichnete und anpassungsfähige Flüchtlinge, einer Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und der Planbarkeit und Kontrolle des Aufnahme- und Integrationsprozesses. Die begrenzte und kontrollierte Aufnahme war dabei eine wesentliche Voraussetzung, um Humanität und Großzügigkeit zu zeigen. Im Diskurs über den Asylmissbrauch erfolgte die Fixierung und Festschreibung des Anderen als Täter*in, im Diskurs über die Boat People geschieht dies als passive und hilflose Opfer. In beiden Fällen determinierte es die Beziehung zwischen Eigenem und Anderem und verengte das Sagbarkeitsfeld. Das Eigene als Retterin erschwerte kritische Betrachtungen des eigenen Handelns und benötigte stets die Presse als Bestätigung. Der mediale Diskurs trug auf der einen Seite dazu bei, dass die Aufnahme in die Bundesrepublik erfolgte. Zum anderen wurde die Aufnahme dadurch zu einem öffentlichen Ereignis, welche das Leiden, die Verhaltensweisen und Eigenarten der Vietnames*innen mit wenig Rücksicht auf Intimsphäre im Rampenlicht verhandelte. So war es zum einen eine Erfolgsgeschichte, weil es 30.000 bis 40.000 Menschen eine Aufnahme in Deutschland ermöglichte und ihnen durch zahlreiche Integrationsmaßnahmen das Ankommen in Deutschland erleichterte. Gleichzeitig bedeutete dies, bestimmten Rollenerwartungen zu entsprechen und sich als dankbar zu erweisen. Eine gleichberechtigte Teilhabe wurde ihnen verwehrt. Im Kapitel 5 über die Asylantenfrage und das Schlupfloch Berlin geht es um die Zuwanderung außereuropäischer Flüchtlinge über den DDR-Flughafen Schönefeld nach Westberlin. Diese Einreisemöglichkeit wurde im Diskurs als Schlupfloch bezeichnet. Im Diskurs über das Schlupfloch im Sommer 1986 wurde deutlich, wie stark nationalstaatliche Container-Vorstellungen die kollektiven Wissensordnungen über Migration prägen, wie sehr sich Nationalstaaten über ihre Grenzen und deren Kontrolle definieren und das Eigene bei empfundenem Kontrollverlust erschüttert wird. Zudem war der Diskurs eng mit dem deutsch-deutschen Verhältnis und der Sorge um Westberlin verwoben. Die DDR wurde als Täter*in konstruiert, welche die Zuwanderung steuerte und förderte, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die BRD hingegen wurde als Opfer dargestellt, die aufgrund der innerdeutschen Grenze handlungsunfähig sei und die Kontrolle verliere oder schon verloren habe. Die außereuropäischen Asylanten, die vermeintlich bereits aufgrund ihres Aussehens und ihrer Kleidung am Flughafen als solche zu erkennen waren, wurden als Opfer oder Mittäter*innen konstruiert. Ihnen wurden aufgrund des Einreisewegs über die DDR wirtschaftliche und damit illegitime Fluchtgründe zugeschrieben. Die Konstruktion des Asylmissbrauchs und das damit verbundene Deutungsmuster des Misstrauens war bereits fest etabliert und wurde auf neue Fluchtbewegungen übertragen. Selbst Iraner*innen, die in anderen Artikeln als echte Flüchtlinge dargestellt wurden, wurden im Diskurs über das Schlupfloch zu Asylanten. Die Asylmigration über die DDR bekam im Diskurs eine kollektiv geteilte Rahmung als Asylantenfrage und Asylantenproblem. Es vollzog sich eine Wandlung in der Sprache, von Menschen, die als Asylanten bezeichnet wurden, hin zu abstrakteren, entpersonalisierten Begriffen wie einer Frage oder eines Problems. Dies implizierte die Notwendigkeit, eine Antwort oder eine Lösung
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zu finden: eine Änderung des Asylgrundrechts wurde nun zu diesem Zeitpunkt auch auf bundespolitischer Ebene in Erwägung gezogen. Es fanden sich jedoch noch keine konkreten Vorschläge für eine Änderung, die Forderung einer Grundgesetzänderung diente eher als (Schein-)Zauberwort für die Lösung des Asylantenproblems und eine restriktivere Asylpolitik. Hinsichtlich der Konstruktion des Eigenen war die Großzügigkeit des deutschen Asylrechts und seine Entstehungsgeschichte weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt. Diese Großzügigkeit wurde jedoch zunehmend als Bedrohung empfunden. Des Weiteren fand eine Aushandlung statt, welche Verhaltensregeln zwischen den beiden deutschen Staaten gelten sowie ob Asyl als Wahlkampfthema gerechtfertigt oder sogar notwendig sei. Es wurde darüber diskutiert, ob die Parteien im Wahlkampf die Themen aufgreifen müssten, welche die Menschen bewegten oder ob sie die Verantwortung trügen, wenn sich dadurch die Ausländerfeindlichkeit und die Überforderung der Bevölkerung verstärkten. Das Eigene verblieb im Diskurs über das Schlupfloch in der Opferrolle, welches durch das großzügige Asylgrundrecht und die Rücksicht auf Westberlin handlungsunfähig ist. Die DDR und die Asylanten als Andere blieben zwar im westdeutschen Diskurs überwiegend stumm. Durch die Zuwanderung und Autonomie der Migration wurden die Macht und Souveränität des Eigenen dennoch verunsichert. Diese konnten vermeintlich durch die Grundgesetzänderung zurückgewonnen werden Das Kapitel 6 handelt von der rassistischen Gewalt Anfang der 1990er Jahre, die in ganz Deutschland mit 4.700 Anschlägen innerhalb von drei Jahren alltägliche Realität wurde. Der Diskurs über die rassistische Gewalt und die damit verbundene Beschäftigung mit Ausländerfeindlichkeit und deutschem Selbsthass war von einer Täter-Opfer-Umkehr geprägt. Die Opfer, darunter Asylsuchende, ehemalige Werkvertragsarbeiter und weitere als Ausländer markierte Menschen wurden aufgrund ihrer Anwesenheit, ihrer mangelnden Anpassung und dem Missbrauch des Asylrechts als eigentliche Verursacher*innen der Gewalt betrachtet. In weniger als 3 % der Artikel wurde die Perspektive der Opfer berücksichtigt und sie kamen mit ihren Erfahrungen selbst zu Wort. Es gab keine politische Verantwortungsübernahme oder eine Bereitschaft, sich mit rassistischen Denkmustern, Strukturen und Praktiken in der deutschen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Durch rassistische Zuschreibungen, insbesondere durch Gadjé-Rassismus, wurde eine Einfühlung verhindert und eine größtmögliche Distanz zu den Betroffenen hergestellt. Es waren Menschen, die aufgrund von Gewalt und Verfolgung in Deutschland Schutz gesucht hatten und die nun erneut von Gewalt bedroht wurden. Die psychische Verletzlichkeit und die Angst vor weiteren Angriffen wurden mit den häufig getroffenen Aussagen, dass niemand verletzt worden sei, ausgeblendet. Die Gewalt wurde aufgrund der steigenden Asylzahlen und der Einordung, dass die Asylsuchenden das Asylrecht nur ausnutzen wollen, zu einer nachvollziehbaren Reaktion. Daher wurde die Gewalt auch nicht als ausländerfeindlich, sondern als Ausdruck einer Überforderung oder Verunsicherung gesehen. Die Gewalt als gesellschaftliches Problem wurde des Weiteren externalisiert, indem die Täter*innen mithilfe von Zuschreibungen wie ostdeutsch, jugendlich, arbeitslos und mit sozialen Problemen behaftet ebenfalls als Andere konstruiert wurden. Hier erfolgte jedoch eine Einfühlung und gesellschaftliche Verantwortungsübernahme für den weiteren Lebensweg sowie durch allgemeine Präventionsprogramme gegen Gewalt und Aggression. Obwohl damit scheinbar Ursache, Schuld und Verantwortung verteilt wurden, brodelte es unter der Oberfläche. Die Gewalttaten erforderten eine erneute
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Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis und brachten das positive, ausländerfreundliche Selbstbild ins Wanken. In der Debatte, ob die Gewalt auf den deutschen, postnationalsozialistischen Selbsthass zurückzuführen sei, wurden nicht nur essentialistische Vorstellungen von Deutschsein deutlich, sondern auch, dass es keine positiv besetzten Alternativen der deutschen Identität jenseits von der Ablehnung des Selbsthasses gab. Nachdem sich die Gewalt bei den Brandanschlägen in Solingen und Mölln gegen mehrheimische Menschen richtete, die schon länger in Deutschland waren, wurde die Gewalt stärker verurteilt und es gab erste Forderungen nach alternativen Zugehörigkeitskonzepten und einer Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts. Das Deutungsmuster des Misstrauens und die damit verbundenen Täter-Opfer-Umkehr spielten eine zentrale Rolle in der Einordnung der Gewalt und bei der Legitimation der Grundgesetzänderung, die als Reaktion auf die rassistische Gewalt 1993 politische Mehrheiten fand. In Kapitel 7 wird der Diskurs über die Änderung des Asylgrundrechts analysiert. Die Asylgewährung wurde Anfang der 1990er zum drängendsten Thema der deutschen Innenpolitik und wurde jenseits von Migrationspolitik zur Überlebensfrage der Nation (Bade) und als Bedrohung der Demokratie und des inneren Friedens wahrgenommen. Das Deutungsmuster des Misstrauens und die Zuschreibung des Asylmissbrauchs entwickelte dabei seine ganze Schlagkraft. Der Asylkompromiss, der als ein diskursives Ereignis identifiziert wurde, war zwar bei näherer Betrachtung ein Migrationskompromiss (Bade), da andere Fragen von Zuwanderung fast nebenbei mitverhandelt wurden. Er beinhaltete jedoch keine offene Auseinandersetzung über das eigene Selbstverständnis als Einwanderungsland. Eine sachliche und gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um ein vielfältigeres Verständnis von Gesellschaft und deutscher Zugehörigkeit, die ostund westdeutsche, sowie migrationsbezogene Erfahrungen miteinschlossen, wurde somit verpasst. Der Diskurs über die Grundgesetzänderung war das erste Fallbeispiel, in dem sich die Zeitungen deutlicher voneinander unterschieden. Dabei gab es noch eine große Übereinstimmung in der Problemdefinition, lediglich ob die Asylrechtsänderung die Lösung des Problems darstellte, wurde in der FAZ befürwortet, in der SZ eher abgelehnt. Der Diskurs war geprägt durch eine Bedrohungs- und Krisenstimmung. Der innere Friede, der erhalten bleiben sollte, blendete nicht nur die rassistische Gewalt in Deutschland aus, sondern erforderte es auch, auf die Schutzbedürftigkeit von Anderen keine Rücksicht mehr zu nehmen. Der Selbstschutz stand im Vordergrund. Dies ging so weit, dass nach der Grundgesetzänderung das Bundesverfassungsgericht politisch massiv unter Druck gesetzt wurde, die Asylrechtsänderung als verfassungskonform anzuerkennen. Im Diskurs über die Grundgesetzänderung nahmen die Konstruktionen der Eigenen sehr viel mehr Raum ein, wie beispielsweise was gute Politik und ihre Handlungsfähigkeit ausmachen, ob Zweifel und Meinungsänderungen erlaubt seien und inwiefern moralische Haltungen oder Pragmatismus die Entscheidungen leiten sollen. In den Konstruktionen der Anderen stand der Asylmissbrauch und der SozialhilfeMissbrauch im Vordergrund, der insbesondere von Schwarzen Menschen und Sinti*ze und Rom*nja begangen würde. Des Weiteren wurde durch die Einführung von sicheren Herkunftsländern und Drittstaaten von einer eindeutigen Kategorisierbarkeit von legitimen und illegitimen Fluchtgründen auf der Grundlage von Herkunft und Nationalität ausgegangen. Dies wurde im medialen Diskurs auch so reproduziert. Der Diskurs über die Grundgesetzänderung war eingebettet in eine Umbruchsituation in
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Deutschland und Europa, die eine Neubestimmung des nationalen Selbstverständnisses herausforderte. Durch den Eindruck einer Bedrohungssituation von außen konnte ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb Deutschlands und Europa entstehen und ermöglichte es in Abgrenzung zu den Anderen darzustellen, was diese Zugehörigkeit ausmachen sollte. Dabei erschienen Polen und Tschechien auch als Andere, indem sie als Gegensatz zu Deutschland und Westeuropa, ihrem Wohlstand, einem regulären Asylsystem und einer funktionierenden Grenzsicherung dargestellt wurden. Das Eigene beinhaltete im Diskurs ein positives Selbstbild, welches als demokratisch, human und bedroht beziehungsweise schützenswert konstruiert wurde. Dieses positive Selbstbild wurde nach der Asylgrundrechtsänderung in der SZ stärker in Frage gestellt. Die Selbstbilder diversifizierten sich. Der im Kapitel 8 untersuchte Diskurs über die bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge zeichnete sich ähnlich wie der Diskurs über die Boat People durch das Deutungsmuster der Großzügigkeit aus. Auch hier wurden die Bürgerkriegsflüchtlinge als vom Leiden gezeichnete Opfer dargestellt, die sich als dankbar und anpassungsfähig erweisen. Erneut wurde die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung besonders hervorgehoben. Während es bei den Boat People jedoch einen Integrationsplan gab, wurde hier von deutscher Seite ein Stufenplan für eine humane Rückkehr entworfen. Die Kriterien und die Steuerung des Prozesses wurden von deutscher Seite gestaltet. Die Grenzen der Aufnahmebereitschaft lagen in diesem Fall nicht in der Anzahl, sondern in der Aufenthaltsdauer der aufgenommenen Menschen. Gleichzeitig wurden die Deutungsmuster, die von divergierenden Selbstbildern geprägt sind, sichtbar. Nach der Änderung des Asylgrundrechts begann eine erneute Auseinandersetzung darum, wem die Bundesrepublik verpflichtet sei und wem sie helfen und Asyl gewähren wolle. Während in der FAZ das Deutungsmuster der Großzügigkeit vorherrschend war, welches jedoch Selbstschutz schon miteinschloss, wurde in der SZ ein selbstkritisches Bild auf die eigene Humanität gezeichnet. In der FAZ wurde die Bundesrepublik als Retter*in in der Not dargestellt, deren Humanität jedoch daran geknüpft ist, dass die Gäste auf Zeit wieder gehen werden. Dies ermöglichte eine für die FAZ ungewöhnliche Berichterstattung über die persönliche Lebenssituation der Bürgerkriegsflüchtlinge. Im Bild des Gastes steckte die Vorstellung einer Flüchtlingsaufnahme, die nicht auf verlässlichen Rechtsansprüchen und Bleiberecht, sondern auf der Großzügigkeit und dem Gutdünken des Gastgebers basierte. Der neue Rechtsstatus als Bürgerkriegsflüchtling wurde im Asylkompromiss vereinbart, aber erst 1997 gesetzlich klar geregelt. Dies wurde in der SZ stark kritisiert und als Schutzlücke, Feigenblatt und tote Vorschrift bezeichnet. Viele der Bürgerkriegsflüchtlinge waren auf private Verpflichtungserklärungen von Verwandten und Bekannten angewiesen, um überhaupt einen Aufenthalt zu bekommen. Hierbei wurde im Diskurs deutlich, dass Europa zu einem zunehmend wichtigen Bezugspunkt des Eigenen wurde, welches sich in einer Europäisierung von Migrationspolitik und der Forderung nach einer europäischen Lastenteilung ausdrückt. Der europäische Vergleich diente in der FAZ der Inszenierung der deutschen Humanität, in der SZ wurde dies hingegen als Wettlauf der Schäbigkeit beschrieben und zumindest an einigen Stellen darauf hingewiesen, dass andere europäische Länder den Bürgerkriegsflüchtlingen ein dauerhaftes Bleiberecht gewährten. Zudem wurden grundlegende Wissensordnungen im Diskurs sichtbar. Erstens wurden die essentialistischen Konstruktionen von Ethnizität und die Vorstellung, dass Na-
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tionalstaaten mit einer möglichst homogenen Bevölkerung mehr Stabilität und Frieden bieten, deutlich. Damit verbunden war die Konstruktion des Balkans und seiner abgestuften Zugehörigkeit zu Europa. Zweitens wurden die Geschlechterkonstruktionen im Asyldiskurs durch die geschlechtsspezifische Verfolgung in Bosnien erschüttert. Drittens ist die Vorstellung eines temporären Aufenthalts für Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylsystems zu nennen, der es Deutschland ermöglichte, Humanität bei der Aufnahme zu praktizieren und dabei gleichzeitig schon an den Erhalt der Rückkehrfähigkeit zu denken. Während die Vorstellung des gesellschaftlich homogenen Nationalstaats und die Problemkonstruktion von Vielfalt fast unangetastet bestehen blieb, gab es über Geschlecht und Rückkehrforderungen stärkere Aushandlungsprozesse, in denen sich die FAZ und die SZ unterschiedlich positionierten. Der Diskurs über die kurdischen Flüchtlinge im nächsten Kapitel war noch stärker von diesen sich diversifizierenden und divergierenden Selbstbildern geprägt. Im Kapitel 9 wurde der Diskurs über die Kurd*innen betrachtet, welche als terroristische Gewalttäter*innen, als von Abschiebung bedrohte Folteropfer und als politische Subjekte dargestellt wurden. Die Asyldiskurse in den beiden Zeitungen waren von sehr unterschiedlichen bis gegensätzlichen Deutungsmustern des Selbstschutzes und der Selbstkritik geprägt. Das Deutungsmuster des Selbstschutzes, welches in der FAZ dominierte, rahmte Migration als Sicherheitsproblem. Die innere Sicherheit würde durch die kurdischen Straftäter*innen und Terrorist*innen bedroht, diese müssten daher konsequenter abgeschoben werden, da sich sonst der Kurdenkonflikt auf Deutschland ausweiten könnte. In der FAZ wurde somit ein positives Selbstbild konstruiert, in dem Humanität in begrenztem Maße geleistet wurde, das eigene Wohl und die eigene Sicherheit aber dadurch nicht gefährdet werden durfte. In der SZ hingegen widersprachen die Änderung des Asylgrundrechts und die Einschränkung in der Asylgewährung der humanitären Vorstellung des Eigenen. Das Deutungsmuster der Selbstkritik dominierte in der SZ. Es wurde ausführlich über die kurdischen Flüchtlinge als Folteropfer berichtet, die nur durch Kirchenasyl und zivilgesellschaftliches Engagement vor Abschiebung und erneuter Folter gerettet werden könnten. Durch die intensive und empathische Berichterstattung über kurdische Familien im Kirchenasyl wurde kontinuierlich auf diese Diskrepanz zwischen eigenem moralischem Anspruch und Asylpraxis hingewiesen. Die vermehrte Nutzung von Kirchenasyl – mit einem hohen Anteil an Kurd*innen – lässt sich dabei als eine Formierung von zivilgesellschaftlichem Widerstand nach der Grundgesetzänderung sehen und blieb durch die Einrichtung von Härtefallkommissionen auch auf der strukturellen Ebene nicht ergebnislos. Die Männlichkeitskonstruktionen über die Kurd*innen in den beiden Zeitungen unterscheiden sich dabei stark, während es in der SZ fürsorgliche und verantwortungsvolle Familienväter sind, sind es in der FAZ gewaltbereite und gefährliche Männer. Wichtige Bezugspunkte des Eigenen waren in beiden Zeitungen wie in Kapitel 3 erneut die Rechtsstaatlichkeit und, wie in Kapitel 8, Europa. Während in der FAZ ein großes Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaates vorherrschte oder sogar Sorge um den Rechtsstaat formuliert wurde, wurden in der SZ die Lücken und Probleme des Rechtsstaats aufgezeigt und die Frage aufgeworfen, wer Verantwortung für die Garantie von Rechtssicherheit und Antidiskriminierung trage. In der SZ wurde ein dynamischeres Verständnis eines mit Macht ausgestatteten Rechtsstaats deutlich, der korrektur-
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und kontrollbedürftig sei. Als kurdische Flüchtlinge in Booten an der italienischen Küste landeten, wurde dies aufgrund des Abbaus der Binnengrenzen als europäisches Problem betrachtet und in beiden Zeitungen vorrangig als Problem der inneren Sicherheit und illegalen Migration gerahmt. Damit gingen Aushandlungen einher, wie die europäischen Länder zukünftig gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik gestalten wollen. In beiden Zeitungen fand sich ein neues Deutungsmuster der Zugehörigkeit, welches in den 1970er und 1980er Jahren nicht Bestandteil des Sagbarkeitsfeldes war. Es entwickelte sich langsam ein Bewusstsein, dass mehrheimische Menschen politische Subjekte sind und dauerhaft in Deutschland bleiben und mitbestimmen werden. Kurd*innen mit deutscher Staatsangehörigkeit, die sich für einen friedlichen Protest einsetzten, kamen in der SZ zu Wort; Türk*innen wurden von der CDU als potenzielle Wähler*innen und als Verbündete gegen die Kurd*innen gesehen. Die Sichtweise auf die Kurd*innen änderte sich, je nach dem, ob sie als gerade angekommene Asylsuchende betrachtet wurden oder ihre langjährige Anwesenheit in Deutschland mitbenannt und berücksichtigt wurde. Die Beschreibung des Verhältnisses als Gast und Gastgeber*in waren dann nicht mehr kompatibel. Diese beginnende Aushandlung über das sich verändernde Verständnis des Eigenen wurde im Epilog mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts abschließend betrachtet. Als Epilog betrachtet Kapitel 10 die beginnende Veränderung des Eigenen, welches sich auf die Anerkennung als Einwanderungsland und ein neues Verständnis von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft bezieht. Ende der 1990er Jahre rückte damit das Eigene in den Vordergrund, welches ansonsten nur indirekt anhand konkreter Ereignisse und Fluchtbewegungen ausgehandelt wurde. Die öffentliche Auseinandersetzung um Zugehörigkeit und um das eigene Verhältnis zu Zuwanderung stellte eine grundlegende Veränderung im Diskurs dar. Die Aussage »Deutschland ist kein Einwanderungsland« hatte sich seit den 1980er Jahren zu einer programmatischen Aussage in der Migrationspolitik entwickelt. In Laufe der 1990er Jahre war das Verständnis von Deutschland als Einwanderungsland zwar noch begründungsbedürftig. Als stärkstes Argument wurde jedoch auf die migrationsgesellschaftliche Realität verwiesen, die kaum mehr ignoriert werden konnte. Es wurde gefordert, das bestehende Tabu oder auch Paradoxon zu überwinden, um Einwanderung bewusst zu gestalten. Während die Anerkennung als Einwanderungsland sagbarer wurde, stieß eine Veränderung der Vorstellung, was Deutschsein bedeutet und beinhaltet, auf wesentlich mehr Widerstand. Dies wurde in der Auseinandersetzung um die Neugestaltung des Staatsbürgerschaftsrechts deutlich. Im Diskurs über die Staatsbürgerschaft war bezeichnend, dass der Nutzen für Deutschland im Vordergrund stand. Der Diskurs war davon geprägt, dass auf der einen Seite mehr Zugehörigkeit zugestanden werden sollte, es auf der anderen Seite eine große Angst gab, dadurch eine vorgestellte deutsche Identität zu verlieren, woraus starke Anpassungserwartungen und einseitige Integrationsforderungen resultieren. Ein neues Verständnis von Zugehörigkeit wurde daher bei diesem Thema kaum sichtbar, obwohl es in Ansätzen bereits im Diskurs vorhanden war. Die Ergebnisse lassen sich auf einer abstrakteren Ebene in acht Thesen verdichtet zusammenfassen:
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Zurück zu einer (neuen) Ordnung (1994–1999) 1. Asyldiskurse sind ein wesentliches Feld für die Konstruktionen des Eigenen im Verhältnis zum Anderen und sind daher konstitutiv für das eigene Selbstverständnis.
Ein wesentliches Element von Asyldiskursen ist die enge Bezugnahme auf das Eigene, welches anhand von Asyldiskursen bestätigt, ausgehandelt und in Frage gestellt wird. In der Gewährung von Asyl und somit auch in Diskursen über die Asylgewährung drückt sich dabei stets ein Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaft aus. Dies bezieht sich insbesondere auf die Frage von Humanität und von Zugehörigkeit. Wem will die eigene Gesellschaft Schutz bieten, für wen Verantwortung übernehmen, wem gegenüber Solidarität demonstrieren? Welches Verständnis von Zugehörigkeit ist vorherrschend, welche Bedeutung hat Zuwanderung, wie gelingt Zusammenleben? Die Orientierungsund Bezugspunkte des Eigenen, wie die Asylgewährung gestaltet werden soll, wandeln sich im Untersuchungszeitraum. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die rechtlichen Voraussetzungen und die im Diskurs transportierten Vorstellungen, wer Asyl bekommen soll, sich wechselseitig beeinflussen mögen, aber nicht deckungsgleich sind. Während zu Beginn die Entstehungsgeschichte des Asylgrundrechts nach dem Nationalsozialismus und im Parlamentarischen Rat als zentraler Bezugspunkt des eigenen Selbstverständnisses dargestellt wurde, wurden in den 1980er und 1990er Jahren der Ost-West-Konflikt, das deutsch-deutsche Verhältnis und die Europäisierung des Asylrechts wichtigere Bezugspunkte. Asylgewährung stand zudem immer in Konflikt mit der Vorstellung einer ethnisch-homogenen Bevölkerung und des Selbstverständnisses als Nichteinwanderungsland. 2. Das in Diskursen über Asyl ausgehandelte spezifische Verhältnis zwischen Eigenem und Anderen und seine gesellschaftliche Bedeutung verändert sich im Laufe der Zeit.
Das im Asyldiskurs hervorgebrachte Verhältnis zwischen Eigenem und Anderen wird von zwei Grundkonstruktionen geprägt: wird im Asyldiskurs: entweder erscheint das Eigene als großzügige Retter*in und die Anderen als hilfsbedürftige Opfer, oder das Eigene wird aufgrund des großzügigen Asylrechts selbst zum bedrohten und ausgenutzten Opfer, wodurch die Anderen als Täter*innen konstruiert werden. Dies zeigt, wie stark die Konstruktionen aufeinander bezogen sind und wechselseitig hergestellt werden. Diese Zuordnungen werden im Diskurs kaum hinterfragt. Erst die Deutungsmuster der Selbstkritik und der Zugehörigkeit brechen mit diesen binären Selbstkonstruktionen und überwinden die Selbstviktimisierung beziehungsweise Idealisierung des Eigenen. Sie zeigen, dass das Verhältnis zwischen Eigenem und Anderen komplexer ist, als es diese vereinfachenden Zuordnungen im Diskurs erscheinen lassen. Im Untersuchungszeitraum entwickelte sich Asylmigration von einem wenig beachteten, ereignisbezogenen Randthema mit einem relativ klar definierten Sagbarkeitsfeld zu einem zentralen Thema der Zeitungsberichterstattung, welches auch unabhängig von Asylzahlen und Ereignissen einen festen Platz im medialen Diskurs hatte. Das Asylgrundrecht hatte bis in die 1980er Jahre eine hohe symbolische Bedeutung für das postnationalsozialistische Selbstverständnis, war jedoch ansonsten abgesehen von wenigen Ereignissen vor allem ein Expert*innenthema. Mit den steigenden Zuwanderungszahlen wurde es nicht nur medial präsent, sondern wurde auch in der
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Anwesenheit der Asylsuchenden konkret. In den 1990er Jahren wurde es dann zu einem Thema, worüber die Menschen tagtäglich in der Zeitung lasen, was jede*n betraf und beschäftigte und auch zu einer eigenen Positionierung herausforderte. Diese zeigten sich beispielsweise in Form von rassistischen Gewaltaktionen, Lichterketten-Demonstrationen und Kirchenasylen. Asyl wurde zu einem zentralen Thema gesellschaftlicher Aushandlung, welches von einer Krisen- und Bedrohungsstimmung begleitet wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde Asyl zu einem Metanarrativ, anhand dessen nicht nur die Gestaltung von Migrationspolitik, sondern auch Fragen von Identität, Zugehörigkeit sowie das Verhältnis zu Dritten verhandelt wurden. Obwohl die symbolische Bedeutung des Asylrechts als nationale Überlebensfrage und die Emotionalität im Diskurs nach der Grundgesetzänderung nachließ, blieb Asyl in beiden Zeitungen ein wichtiges Thema, obwohl die Antragszahlen stark zurückgingen. Das Sagbarkeitsfeld erweiterte sich und das Verhältnis zwischen Eigenem und Anderen wurde neu ausgehandelt. 3. In den jeweils dominierenden Verhältnissen zwischen Eigenem und Anderem wird das Andere häufig in dichotomen und rassifizierenden Kategorien von Opfer und Täter*in, von echten und unechten Flüchtlingen hervorgebracht.
Die Schutzsuchenden erschienen in vier der fünf dominierenden Deutungsmuster als Opfer oder als Täter*innen, wobei teilweise eine wechselseitige Bezugnahme stattfand. Beispielsweise wurde gefordert, das Asylgrundrecht zu ändern, damit die Asylanten keinen Zugang mehr haben und die wirklich Verfolgten Schutz erhalten. Im Diskurs wird dabei eine klare Kategorisierung in echte und unechte Flüchtlinge auf der Basis von Gruppenzugehörigkeiten hervorgebracht. Es wird nicht benannt, dass Menschen aufgrund von mehreren Motiven sich entscheiden, ihr Land zu verlassen, noch dass es Unterschiede innerhalb eines Landes geben kann. Anhand von wirtschaftlichen und politischen, legitimen und illegitimen Fluchtgründen wird im Diskurs definiert, wer ein Recht auf Asyl und Bleiberecht haben soll. Auch hier wird von einer eindeutigen Kategorisierbarkeit ausgegangen. Das Argument der Fluchtgründe wird dabei zum leeren Signifikanten, der je nach Kontext und Position mit sehr unterschiedlichen Deutungen versehen werden kann, je nach dem, ob die Schutzsuchenden als echte oder unechte Flüchtlinge erscheinen sollen. Die Delegitimation des Asylanspruchs bei unechten Flüchtlingen ist verknüpft mit rassifizierenden Zuschreibungen anhand von Nationalität, Herkunft und Aussehen. Die Beschreibung als außereuropäisch ist ein Beispiel dafür, wie illegitime Fluchtgründe an einem bestimmten Aussehen oder Kleidungsstil festgemacht wurden. Auch der Fluchtweg dient als Nachweis, dass die Asylsuchenden keine legitimen Fluchtgründe haben, welcher durch die Einführung von sicheren Drittstaaten rechtlich relevant wurde. Den unechten Flüchtlingen wird zudem zugeschrieben, dass man ihnen grundsätzlich nicht trauen kann, dass sie kriminell, rücksichtslos und faul seien und sich nur materiell bereichern wollen. In den Delegitimationen werden bestehende rassistische Wissensordnungen, beispielsweise über Schwarze Menschen oder Sinti*ze und Rom*nja aufgerufen und im Kontext von Asyl aktualisiert. Die Konstruktionen von Täter*in und Opfer definieren bestimmte Erwartungen an die Asylsuchenden und klare Handlungsanweisungen für den Umgang mit ihnen. Auch die Opferkonstruktionen sind sehr einseitig mit Leiderfahrungen, Passivität, Dankbar-
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keit und Anpassung verbunden. Entscheidend ist, dass die Dominanz der beiden Konstruktionen verhindert, dass geflüchtete Menschen differenziert, handlungsfähig und aktiv, sowie als politische Subjekte wahrgenommen wurden. Eine Folge davon ist, dass sie im Diskurs selbst kaum zu Wort kommen und ihre individuellen Erfahrungen, ihre Perspektive und Bedürfnisse unsichtbar bleiben. 4. Asyldiskurse bringen nicht nur vereinfachende und binär geprägte Konstruktionen des Eigenen und Anderen hervor, sondern sie beinhalten auch Aushandlungen von komplexen Beziehungs- und Machtverhältnissen.
Hinter den offensichtlichen und binär angelegten Konstruktionen von Retter*in – Opfer und Opfer – Täter*in stehen komplexere Beziehungsverhältnisse, die in Asyldiskursen ausgehandelt werden. Asyldiskurse bringen, wie in den beiden Zitaten am Anfang gezeigt, häufig Dreiecksbeziehungen hervor. Da das Verhältnis zu Dritten, die nicht im direkten Bezug zu Asyl stehen, im Asyldiskurs ausgehandelt wurde, können sie teilweise auch als Metanarrative beschrieben werden. In nahezu allen Fallstudien (bis auf Kapitel 3) gab es mehr als zwei Konstruktionen, die sich flexibel und wechselseitig je nach Kontext und Sprecher*innenposition zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Die Verhältnisse konnten sich auf zwei Zuwanderungsgruppen oder auf ortsbezogene Konstruktionen beziehen. Im Diskurs über die Boat People und die Bürgerkriegsflüchtlinge wurde eine Nähe und Empathie hergestellt, die auch durch eine Abgrenzung zu den Asylanten, entstand. Im Diskurs über das Schlupfloch Berlin erfolgte eine Grenzziehung zur DDR und zu den außereuropäischen Asylanten. Das Dreiecksverhältnis Ostdeutschland, Westdeutschland und Asylsuchende setzte sich auch in den 1990er Jahren im Diskurs über die rassistische Gewalt und die Grundgesetzänderung fort. Des Weiteren wurde das Verhältnis zu anderen europäischen Ländern mitverhandelt und Mitteleuropa zunehmend als Teil des Eigenen konstruiert. Auffällig ist, dass sich die benannten Identitätskonstruktionen meist auf geografische Verortungen beziehen, denen in Asyldiskursen somit eine besondere Bedeutung zukommt. In Diskursen über Asyl werden Machtverhältnisse zu Dritten sichtbar und werden darin ausgehandelt. Des Weiteren lässt sich beobachten, dass gegenüber Asylsuchenden im ganzen Zeitraum Distanzierungs- und Grenzziehungsmechanismen wirkten. Lediglich einzelne Gruppen waren davon ausgenommen und wurden dann auch nicht als solche bezeichnet. Der Begriff des Flüchtlings hingegen war positiver besetzt. 5. Die jeweils dominierenden Deutungsmuster im Asyldiskurs produzieren ein Sagbarkeitsfeld mit stark disziplinierendem Charakter.
Beim Auftauchen eines neuen Ereignisses wird dieses in bestehende Deutungsmuster eingeordnet. Dieses jeweilige Deutungsmuster setzt das Sagbarkeitsfeld, in welchem sich die Deutungen des Ereignisses bewegen. Andere Deutungen existieren zwar, diese haben aber kaum Einfluss auf die Entwicklung des Diskurses. Für die Entwicklung neuer Deutungsmuster braucht es ein diskursives Ereignis wie die Grundgesetzänderung. Die Einschränkung des Sagbarkeitsfeldes soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden. Als die Vorstellung des Asylmissbrauchs erfunden wurde, war es zunächst noch möglich,
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diese Vorstellung anzuzweifeln und über seine Existenz zu diskutieren. Dann etablierte sich das Deutungsmuster des Misstrauens und diente als umfassende Erklärung. Dass Jurist*innen der Meinung waren, es gäbe aus rechtlicher Sicht keinen Asylmissbrauch, hatte keinen Einfluss auf den Diskurs. Als zweites Beispiel ist das Deutungsmuster des Selbstschutzes zu nennen, welches die Berichterstattung über die Ankunft der kurdischen Flüchtlinge an der italienischen Küste dominierte. Im Mittelpunkt stand die ungeschützte Grenze Italiens, welche illegale Migration begünstige. Ein Rücknahmeabkommen mit der Türkei sollte vereinbart werden. Der Hinweis einzelner Akteur*innen auf die politische Verfolgung der Kurd*innen ließ sich nicht in das bestehende Deutungsmuster integrieren, welches die Flüchtlinge als Bedrohung einordnete. Das Deutungsmuster, das am Anfang aufgerufen wurde, entschied somit über Konstruktionen, Zuschreibungen, Empathie und Bleiberecht und war schwer zu durchbrechen. Eine Ausgangsfrage war, ob es alternative Deutungen im Diskurs gibt. Alternative Deutungen wurden dabei verstanden als Aspekte oder Perspektiven, die deutlich von den dominierenden Deutungsmustern abwichen. Wenn in drei von 129 Artikeln über rassistische Gewalt die Betroffenen zu Wort kamen und ihre Erfahrungen sichtbar wurden, wurde dies als eine alternative Deutung betrachtet. Als weiteres Beispiel ist die deseskalierende Berichterstattung aus Westberlin im Diskurs über das Schlupfloch zu nennen, die den pragmatischen Umgang vor Ort beschrieb, während die Bundesberichterstattung das Krisenszenario in den Vordergrund stellte. Im Feuilleton der FAZ wurde vom Auslandskorrespondent Wolfgang Koydl über die Diskriminierung der Kurd*innen in der Türkei berichtet, obwohl sonst die Gewalttätigkeit der Kurd*innen im Vordergrund stand. Besonders wenig alternative Deutungen gab es im Diskurs über die Grundgesetzänderung und in den essentialistischen Sichtweisen auf Ethnizität. Es gab jedoch auch alternative Deutungen, die sich mit der Zeit als neue Deutungsmuster etablierten. Die Wahrnehmung von geschlechtsspezifischer Verfolgung wurde durch den Jugoslawienkonflikt nachhaltig verändert und dann auch ins Asylrecht aufgenommen. Die durch das Kirchenasyl angestoßene Debatte führte zu der Einsicht, dass es neben dem Asylrecht eine Härtefallregelung braucht. Dies waren jedoch beides Themen, deren Veränderung nicht nur diskursiv angestoßen wurde, sondern durch konkrete Ereignisse ausgelöst wurden. In der SZ fand sich zunächst vereinzelt, dann im Deutungsmuster der Selbstkritik Ende der 1990er Jahre häufiger eine Metaebene, die den Diskurs reflektierte und Sprachkritik übte. Ein zentraler Akteur war dabei der Journalist Heribert Prantl, der an verschiedenen Stellen neue Aspekte und Perspektiven in den Diskurs einbrachte. Diese wurden jedoch von anderen Autor*innen nicht erneut aufgegriffen. Alternative Deutungen erweiterten somit die Perspektiven, nahmen jedoch meist keinen größeren Einfluss auf das gesetzte Sagbarkeitsfeld des Diskurses. Sie konnten von einzelnen Redakteur*innen oder Ressorts oder aufgrund anderer geografischer Verortungen erfolgen. Sie sensibilisierten die Leser*innen möglicherweise für andere Deutungen, Perspektiven und Sprechweisen. 6. Die Änderung des Asylgrundrechts wurde zu einem diskursiven Ereignis, welches die Aushandlung gesellschaftlicher Metanarrative im Asyldiskurs erforderte.
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Diskursive Ereignisse »zeichnen sich durch eine erhöhte Konflikthaftigkeit aus, weil sie zum einen häufig Fragestellungen behandeln, die fundamental für das Selbstverständnis einer Gesellschaft sind, und zum anderen eine Wegkreuzung markieren, die dem zukünftigen Handeln alternative Routen eröffnet.«12 Die Änderung des Asylgrundrechts stellt ein solches diskursives Ereignis dar, weil im Anschluss Raum für neue Aushandlungen und Positionierungen entstand und der Diskurs sich radikal und nachhaltig veränderte. Der Diskurs, der zuvor stark durch das Deutungsmuster des Misstrauens geprägt war und in beiden Zeitungen große Überschneidungen aufwies, diversifizierte sich. Die Grundgesetzänderung wurde erst möglich im Kontext der Wiedervereinigung in einer nationalistisch geprägten und restriktiven gesellschaftlichen Stimmung gegenüber Migration, die sich unter anderem in rassistischer Gewalt äußerte. Nach dieser Disruption, die auch ein Erschrecken über das Eigene beinhaltete, konnten sich neue und differenziertere Deutungsmuster im Asyldiskurs etablieren, die die bestehenden positiven Selbstbilder herausforderten. Der Diskurs, der zuvor stark von Kontinuität geprägt war, erlebte eine massive Zäsur, die erst eine Veränderung möglich machte. Als der Asyldiskurs zu einer polarisierten und emotionalisierten gesellschaftlichen Debatte wurde, fand zudem eine Aushandlung von Metanarrativen anhand von Asyl statt. Es wurde ausgehandelt, inwiefern Ostdeutsche und Ausländer zum wiedervereinigten Deutschland dazugehören und was Deutschsein eigentlich ausmacht. Aber auch die Rolle im neuen Europa, der Umgang mit Ausländerfeindlichkeit, und die Kennzeichen guter demokratischer Politik und Entscheidungsfindung wurden im Asyldiskurs verhandelt. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass Diskurse über Migration nicht zwangsläufig Metanarrative beinhalten, sondern nur, wenn sie zu einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung werden und das eigene Selbstverständnis fundamental berühren. 7. Die Grundgesetzänderung verursachte eine Disruption, wodurch sich die Deutungsmuster, Zugehörigkeitskonzepte und Wissensordnungen über Migration grundlegend änderten.
Diskurse über Asyl basieren auf Wissensordnungen über Migration. Wissensordnungen beinhalten bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen, Selbst-, Fremd- und Weltbilder, die für eine gewisse Zeit stabil bleiben und institutionalisiert wurden. Im Asyldiskurs wird zum Beispiel deutlich, dass Nationalstaaten als geschlossene Container und Migration als ein Eindringen in diesen Raum wahrgenommen wird. Des Weiteren wird Nationalität und Ethnizität essentialistisch konstruiert und Homogenität als Idealfall, Vielfalt als Bedrohung wahrgenommen. Nicht zuletzt zeigen die Einteilungen in echte und unechte Flüchtlinge, dass rassifizierende Zuschreibungen Auswirkungen auf Nähe und Distanz, auf Aufnahmebereitschaft und zugestandenem Bleiberecht haben. Diese Wissensordnungen haben sich über einen langen Zeitraum etabliert. Es bedarf einer starken Disruption, damit diese Wissensordnungen nicht mehr als Wahrheit im Diskurs zugrunde gelegt wird und hinterfragt werden kann. Mit der Grundgesetzänderung begann ein langsamer Wandel der Wissensordnungen über Migration, welches sich 12
Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse, 62.
11. Schlussbetrachtung
in der Debatte um Deutschland als Einwanderungsland und dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz herauskristallisierte. Neben den sich neu entwickelnden Deutungsmustern des Selbstschutzes und der Selbstkritik entwickelte sich als Teil der neuen Wissensordnung das Deutungsmuster der Zugehörigkeit in beiden Zeitungen, was auf größere gesamtgesellschaftliche Relevanz und Verbreitung hindeutet. Es berücksichtigte zum einen die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik und die lange Anwesenheit von Migrant*innen. Des Weiteren wurde nicht mehr nur über mehrheimische Menschen berichtet, sondern sie brachten ihre Perspektive und ihre Forderungen in Gesellschaft und auch in den medialen Diskurs ein. Das Deutungsmuster der Zugehörigkeit entwickelte sich zwar in den 1990er Jahren erst langsam, etablierte sich aber im neuen Jahrtausend immer stärker als solches.13 Eine weitere wesentliche Änderung in den Wissensordnungen über Migration ist die Entstehung von divergierenden Selbstbildern. Es gibt nicht mehr nur ein Deutungsmuster hinsichtlich eines Sachverhalts, stattdessen entwickeln sich in den Zeitungen unterschiedliche und gegensätzliche Konstruktionen des Eigenen und Anderen. Die Möglichkeitsräume und das Sagbarkeitsfeld haben sich erweitert und schließen eine Diskussion um das Eigene mit ein. Dies beinhaltet eine Entwicklung in der FAZ, die Migration vor allem als Sicherheitsproblem rahmt und selbstverständlicher vor allem das Eigene schützen möchte und eine Entwicklung in der SZ, welche das Eigene und seinen humanitären Anspruch kritisch unter die Lupe nimmt. 8. Als Identitätsdiskurse sind Asyldiskurse häufig polarisiert und emotional und erzeugen Bedrohungsgefühle. Für einen veränderten Umgang mit Migration jenseits von hierarchisierenden Konstruktionen des Eigenen und Anderen braucht es andere Konzepte von Zugehörigkeit und eine gesellschaftliche Verankerung von Diskriminierungskritik.
Asyldiskurse sind häufig so polarisiert, emotional und dramatisch, weil sie Aushandlungen des Eigenen beinhalten und somit immer auch Identitätsdiskurse sind. Sie beinhalten Konzepte von Zugehörigkeit, die den Nationalstaat als Referenzrahmen nutzen und häufig an die Vorstellung einer homogenen Bevölkerung anknüpfen. Nationale Zugehörigkeit folgt überwiegend essentialistischen Container-Vorstellungen. Rassismus dient dabei als Legitimation, dass vermeintlich universelle Werte des Eigenen wie Menschenrechte, Humanität und Gleichheit nur in Abstufung für alle Menschen gelten und verstärkt das binäre Verhältnis zwischen Eigenem und Anderem. Die Langzeituntersuchung und der Blick in die darauffolgenden 20 Jahre lässt vermuten, dass sich die Perspektiven auf Migration und die damit verbundenen hierarchisierende Konstruktionen des Eigenen und Anderen fortsetzen, wenn wir diese gesellschaftlich nicht bewusst anders gestalten. Dafür braucht es andere Konzepte von Zugehörigkeit, unabhängig von Herkunft, die Mehrfachzugehörigkeit als gesellschaftliche Realität und Normalität betrachten. Es erfordert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie ein vielfältiges, positives, gleichzeitig wandelbares und selbstkritisches Eigenes aussehen könnte, das sich 13
Lemme, Visualität und Zugehörigkeit, 265.
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nicht in Abgrenzung zu Migration definiert, sondern dieses als Element des Eigenen anerkennt.14 Wenn es gelingt, die scheinbare Universalität des privilegierten Eigenen zu dekonstruieren, kann dies nicht nur zur Anerkennung von vielfältigen Wissensformen und Perspektiven beitragen, sondern auch die Partizipation und Repräsentation aller Menschen, die in diesem Land leben, fördern.15 Nicht zuletzt braucht es eine gesellschaftliche Verankerung von Diskriminierungskritik und eine Stärkung der Verantwortlichkeit von allen Menschen, um die Schritte der Veränderung nicht allein bei den Menschen mit Diskriminierungserfahrungen zu verorten. Für die weitere Forschung bieten diese Ergebnisse beispielsweise folgende Anschlussmöglichkeiten. Zunächst wurde deutlich, dass es kaum aktuelle Literatur über die Asylgeschichte der Bundesrepublik im Untersuchungszeitraums gibt und diese abgesehen von zeithistorischen Veröffentlichungen weitgehend unerforscht ist. Dabei zeigt gerade eine Langzeitbetrachtung die schon lange bestehenden Deutungsmuster und Pfadabhängigkeiten. Für weitere Forschung wäre es sicherlich spannend, nicht nur die diskursive, sondern auch die politische und gesellschaftliche Ebene stärker zu berücksichtigen. Des Weiteren wäre Forschung über die Zeit der Wende und der rassistischen Gewalt aus der Sicht mehrheimischer Menschen wichtig. Es könnte betrachtet werden, welche migrantischen Sichtweisen auf diese Zeit des Umbruchs und der Aushandlung eines neuen Deutschseins es gab und wie sich ihr Zugehörigkeitsempfinden veränderte.16 Auch die rassistische Gewalt Anfang der 1990er Jahre ist noch nicht ausreichend erforscht worden. Dabei wäre wichtig zu berücksichtigen, wie diese Ereignisse in einer sinnvollen Weise in (lokaler) Erinnerungskultur und politischer Bildungsarbeit thematisiert werden könnten.17 Nicht zuletzt könnte das Verhältnis des Eigenen zum Anderen in aktuellen Asyldiskursen analysiert werden. Einiges deutet daraufhin, dass nicht nur der Diskurs 2015, sondern auch 2022 erneut von ähnlichen Deutungsmustern geprägt ist. 2015 ließ sich das Deutungsmuster der Großzügigkeit beobachten, welches von einer großen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und einem sich anschließenden Fokus auf die Grenzen der Aufnahmebereitschaft geprägt war. Die Grenzöffnung und Aufnahme der geflüchteten Menschen kann als ein diskursives Ereignis betrachtet werden, wodurch sich erneut die Selbstbilder diversifizierten, zwischen Willkommenskultur und Notstandsstimmung, zwischen Engagement und rassistischer Gewalt.18 Es wurden erneut Metanarrative und gesellschaftliche Selbstverständnisse im Asyldiskurs 14 15 16
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Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft. Naika Foroutan und Jana Hensel, Die Gesellschaft der Anderen, mit der Unterstützung von Maike Nedo, 1. Auflage (Berlin: Aufbau Verlag GmbH et Co. KG, 2020). Zum Beispiel Asiye Kaya, Riham Abed-Ali und Phương T. Nguyễn, Hg., Im Osten was Neues? Perspektiven von Migrant_innen – Schwarzen Menschen – Communitys of Color auf 30 Jahre (Wieder-)Vereinigung und Transformationsprozesse in Ostdeutschland. Tagungsdokumentation. (Dresden: FriedrichEbert-Stiftung, 2022). Zum Beispiel Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit NordrheinWestfalen, »›Da war doch was‹. Bildungsmaterialien zum rassistischen und extrem rechten Brandanschlag in Solingen 93‹« In gelungener Weise auch hier Licht ins Dunkel e.V., »Kein! Schlusstrich. Theaterprojekt zum NSU-Komplex«. Margarete Jäger und Regina Wamper, Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung. Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016 (Duisburg: Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, 2017), zuletzt geprüft am 25.07.2022, https://www.diss-duisburg.de/wp-content/upl
11. Schlussbetrachtung
ausgehandelt. Zudem gibt es Anzeichen, dass sich auch die anderen identifizierten Deutungsmuster fortsetzen, wie der Selbstschutz in der FAZ, und die Selbstkritik in der SZ.19 Als neue Konstruktion erscheinen (geflüchtete) Ukrainer*innen als Held*innen, welche jedoch stark an geschlechtsspezifische Zuschreibungen geknüpft sind.20 Nicht nur 2015, sondern auch 2022 konnte zudem die Einteilung in echte und unechte Flüchtlinge beobachtet werden, wobei diese aktuell im Diskurs stärker kritisiert wurde. Hier wäre eine Berücksichtigung von Gadjé-Rassismus und antislawischer Rassismus beispielsweise gegenüber Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien und Rom*nja aus der Ukraine wesentlich21 sowie die mit der »friedensliebenden Selbstinszenierung Europas zusammenhängende Konstruktion eines illiberalen und undemokratischen Ostens«22 . Auch allgemein steht die Rassismustheorie und -forschung hinsichtlich des Verhältnisses von unterschiedlichen Rassismusformen und ihrer Bedeutung für den deutschen Kontext noch am Anfang und ist aufgerufen, eine stärkere Vermittlung von Wissen über Rassismus in Politik und Gesellschaft zu realisieren.23 Notwendig wäre auch zudem eine stärkere intersektionale Verknüpfung, wodurch Zugehörigkeit und Grenzziehung entlang mehrerer Differenzmerkmale analysiert werden könnten. Ganz grundsätzlich zeigen die Ergebnisse, dass auch Wissenschaft und Forschung herausgefordert ist, das Eigene zu reflektieren und die Auswirkungen von eigenen Perspektiven und gesellschaftlichen Positionierungen auf die Forschungsfrage und den Forschungsprozess zu berücksichtigen und sichtbar zu machen. Die sechsjährige Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung in Tageszeitungen hat auch meine Wirklichkeitskonstruktion beeinflusst. Meine persönliche Motivation zu Beginn der Arbeit resultierte aus der Beobachtung des stark vereinfachenden und polarisierten Asyldiskurses im Jahr 2015. Ich fühlte mich nicht nur direkt an koloniale Diskurse erinnert, sondern war erstaunt über die unkritische Inszenierung eines
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humanitären Eigenen. Daraus entwickelte sich der Wunsch, mich mit den Kontinuitäten von Asyldiskursen zu beschäftigen, die dominanten und häufig eindimensionalen Sichtweise auf Migration sichtbar zu machen und zu einem veränderten Sprechen über Migration beizutragen. Zum heutigen Zeitpunkt glaube ich zwar immer noch, dass Analysen von dominanten Wissensordnungen über Migration notwendig sind, um diese einzuordnen und zu verändern. Hierfür haben sich postkoloniale Perspektiven als besonders hilfreich erwiesen. Insbesondere Wissenschaft und Medien müssen ihre Produktion von Migration und Gruppenkonstruktionen kontinuierlich reflektieren. Die Emotionalität von Diskursen über Migration wird sich jedoch allein durch wissenschaftliche Analysen nicht verändern, dazu braucht es ganzheitlichere und nachhaltigere Zugänge wie in der politischen Bildungsarbeit oder neuen Formen von kollektiver Erinnerung. Meine distanzierte Haltung beim Lesen und Hören von Nachrichten hat sich noch verstärkt und geht stets mit der Frage einher, wie das aktuelle Ereignis gerade gerahmt wird, welche Deutungen im Vordergrund stehen und was ungesagt bleibt. Dies fällt mir in Migrationsdiskursen leicht, bei anderen Themen entsteht lediglich ein Gefühl des Zweifelns und der Unsicherheit, ohne das Deutungsmuster benennen zu können. Es zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit, sich anhand von unterschiedlich positionierten Quellen zu informieren. Zum anderen wurde mir erst bei einem solch verdichteten Lesen deutlich, wie redundant und langweilig die Berichterstattung in Tageszeitungen ist, da sie sehr stark von Wiederholung geprägt ist. Es waren die Sternstunden meiner Analysetätigkeit, wenn ein Artikel sich nicht wie eine weitere Perle einer langen Kette las, sondern neue und überraschende Deutungen enthielt. Im Zuge des Ukrainekonfliktes und der Beschäftigung mit Susan Sontag24 habe ich mir viele Fragen gestellt, was Medienberichterstattung überhaupt leisten kann und welche Rolle Emotionen dabei spielen sollten. Eine verantwortungsvolle Berichterstattung im Krieg zeichne sich dadurch aus, dass nicht das Feindbild Russland verstärkt, sondern zwischen Russland und seinem Präsidenten Wladimir Putin unterschieden und die Suche nach Frieden und diplomatischen Lösungen betont werde. Eine nationalistische Parteinahme sowie eine Einteilung in Gut und Böse in Bezug auf Nationalstaaten und auf Gruppen von flüchtenden Menschen solle vermieden werden. Nicht zuletzt brauche es eine historische Einordnung der aktuellen Ereignisse.25 Interessanterweise schließt dies direkt an Asyldiskurse an, weil hier explizit davor gewarnt wird, das Eigene und Andere herzustellen und in ein vereinfachendes Verhältnis von Opfern und Täter*innen zu setzen. Dabei soll ergänzt werden, dass sowohl Opfer- als auch Täterkonstruktionen komplexe Fluchtursachen vereinfachen und geflüchteten Menschen ihre Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit abgesprochen werden. Zudem sollte Medienberichterstattung reflektieren, ob sie die Intimität und Persönlichkeitsrechte der Betroffenen wahren. Dabei geht es nicht darum, die Verantwortung allein den Medienschaffenden zuzuschieben. Diskurse sind machtvoll und wir werden alle dadurch beeinflusst. Sie fordern
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Sontag, Das Leiden anderer betrachten. Anna Litvinenko, Margreth Lünenborg und Carola Richter, »Für einen verantwortungsvollen Journalismus im Krieg. Positionspapier.« Zuletzt geprüft am 24.07.2022, https://www.polsoz.fu-b erlin.de/kommwiss/arbeitsstellen/internationale_kommunikation/News/VerantwortungsvollerJournalismus-im-Krieg.pdf.
11. Schlussbetrachtung
uns heraus, immer wieder neu die bestehenden Deutungsmuster und Wissensordnungen zu analysieren und zu dekonstruieren. Dass Begrifflichkeiten und Deutungsmuster Wirklichkeit unzulänglich beschreiben, entlässt uns daher nicht aus dem Bemühen, aufmerksam und sensibel zu sein für die Bilder, die damit transportiert werden. Essentialistische Vorstellungen von Identität können nur überwunden werden, wenn es gelingt, soziale Gruppenzugehörigkeiten zwar als einen Aspekt von Identität zu betrachten, Menschen aber nicht darauf festzulegen oder zu reduzieren. Die kontinuierliche Dekonstruktion von Differenzmerkmalen und den damit verknüpften Zuschreibungen, Vorurteilen und Stereotypen könnte zu einem größeren Bewusstsein im Umgang mit Kategorien führen. Zudem sollte der Fokus nicht stets auf die Differenz gelegt werden, sondern Gemeinsamkeiten benannt werden, die es auch immer gibt. So geht es meiner Ansicht nach darum, den Glauben an eine Veränderung und Mitgestaltung zu bewahren und Verantwortung zu übernehmen für das eigene Sprechen und Handeln. Dass auch kleine Schritte zum Ziel führen können, hat mich diese Doktorarbeit gelehrt.
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis
AP
Associated Press
ARD
Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunk-anstalten der Bundesrepublik Deutschland
BAG Asyl in der Kirche
Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
BRD
Bundesrepublik
CDU
Christlich Demokratische Partei Deutschland
CSU
Christlich-soziale Union in Bayern
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DEP
Demokrasi Partisi, Demokratiepartei (in der Türkei)
DHA
Discourse Historcial Analysis
DM
Deutsche Mark
DPA
Deutsche Presseagentur
DRK
Deutsches Rotes Kreuz
DWDS
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache
EG
Europäischen Gemeinschaft
ERNK
Nationale Befreiungsfront Kurdistan
EU
Europäische Union
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDP
Freie Demokratie Partei
FR
Frankfurter Rundschau
GFK
Genfer Flüchtlingskonvention
GG
Grundgesetz
HADEP
Halkın Demokrasi Partisi, »Partei der Demokratie des Volkes«, (in der Türkei)
JVA
Jugoslawische Volksarmee
KOMKAR
Verband der Vereine aus Kurdistan in Deutschland e.V.,
488
Anhang KPD
Kommunistische Partei Deutschland
KZ
Konzentrationslager
MRK
Europäische Menschenrechtskonvention
NATO
»North Atlantic Treaty Organization«, Nordatlantisches Bündnis
NAVEND e.V.
Zentrum für kurdische Studien
NRW
Nordrhein-Westfalen
NS
Nationalsozialismus
NSU
Nationalsozialistischer Untergrund
PKK
Arbeiterpartei Kurdistan
SBZ
Sowjetischen Besatzungszone
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Staatspartei der DDR
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschland
SZ
Süddeutsche Zeitung
Taz
die Tageszeitung
UN
Vereinte Nationen
UNHCR
UN-Flüchtlingskommissariat
USA
Vereinigte Staaten von Amerika
ZAst
Zentrale Aufnahmestelle Sachsen
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