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German Pages 489 [492] Year 1999
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
1749
I
1999
S
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari (f) · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel (f) Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) · Jörg Salaquarda (Wien) Josef Simon (Bonn)
Band 17
1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Philosophie und Politik bei Nietzsche von
Henning Ottmann 2., verbesserte und erweiterte Auflage
w DE
G_ 1999 Walter de Gruyter · Berlin · New York
A nschriflen der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Α der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn
Redaktion: Johannes Neininger, Rigaer Str. 98, D-10247 Berlin
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Ottmann, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche / von Henning Ottmann. — 2., verb, und erw. Aufl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 17) ISBN 3-11-014770-X
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorwort zur 2. Auflage Das vorliegende Buch aus dem Jahre 1987 erscheint in zweiter Auflage. Es ist inzwischen selbst ein Dokument der Nietzsche-Forschung und ihres seit den 80er Jahren wiedererwachten Interesses an Nietzsches politischer Philosophie. Die Druckfehler der ersten Auflage wurden korrigiert. Zudem wurde der zweiten Auflage der Essay „Nietzsches politische Philosophie in der philosophischen und politischen Diskussion der Gegenwart" beigegeben. Er versucht, die fast schon nicht mehr überschaubare internationale Diskussion über Nietzsches politische Philosophie, wie sie im letzten Jahrzehnt geführt worden ist, in einigen Trends und Fragen zu erfassen. Dem Verlag Walter de Gruyter sei für die Neuauflage des Werkes gedankt. Insbesondere danke ich Herrn Dr. Cram, Frau Dr. Grünkorn sowie den unvergessenen Kollegen Mazzino Montinari und Heinz Wenzel. München, im Dezember 1998
Henning Ottmann
Vorwort Man darf wieder Nietzsche lesen, und doch ist ein Teil seiner Lehre, seine politische Philosophie, noch immer von Legenden umrankt. Für viele liegt auf Nietzsches Werk noch immer der Schatten der Vergangenheit, und man erinnert sich, wie Faschisten und Nationalsozialisten Nietzsche gefeiert haben. Sozialisten haben seit den Tagen von Mehring und Lukacs Nietzsche bekämpft, und ein Ende der marxistisch-leninistischen Nietzsche-Verteufelung ist nicht in Sicht. Die Väter der kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, haben Nietzsche als Vordenker der „Dialektik der Aufklärung" gewürdigt. Aber für viele steht Nietzsche damit nur im Verdacht, Denker eines Finales der Modernität, des Endes von Aufklärung und moderner Freiheitsverheißung zu sein. Post-Strukturalisten, im Italien und Frankreich von heute, deuten Nietzsche als ultramodernen Befreier und Künder einer „wilden Autonomie". Aber damit scheint sich nur zu bestätigen, was man schon weiß: les extremes se touchent. Es sei denn, es hätten jene recht, die, wie W. Kaufmann und andere, versichern, Nietzsches Lehre habe manchem manches zu bieten, nur keine politische Philosophie. Nietzsche hat kein politisches Hauptwerk geschrieben. Für die Politeia, den Leviathan oder die Hegeische Rechtsphilosophie findet sich in seinem Werk kein Pendant. Er hat überhaupt kein Hauptwerk verfaßt, und daß der sogenannte „Wille zur Macht" keines war und ist, steht heute über allen Zweifel fest. Statt einer ausformulierten Staatslehre begegnen bei Nietzsche immer wieder Staatsfeindlichkeit, Individualismus und eine ästhetisierende Apolitie. Vielleicht darf man auch in Zukunft zweifeln, ob Nietzsche je zu den „Klassikern" der Politik gerechnet werden wird. Nicht zweifeln kann man an der politischen Wirkung seiner Gedanken, und nicht zweifeln sollte man am politischen Gehalt des Werkes selbst. Es gibt bei Nietzsche eine politische Philosophie. Man darf sie nur nicht suchen wollen auf der Heerstraße der politischen Strömungen der Zeit. Es ist nicht zu leugnen: Nietzsche war Antisozialist. Auch hatte er, wie sein Freund und Gegner Piaton, seine Schwierigkeiten mit der Demokratie. Er war gleichwohl weder ein Apologet des Kapitalismus, noch hat er je den Liberalismus gepriesen. Oft ist er der „Magie des Extrems" erlegen. Aber seine Politik ist mit den Extremformen eines Anarchismus oder Präfaschismus nicht zu verwechseln. Ihr Niveau war das einer Auseinandersetzung mit der
VIII
Vorwort
Moderne selbst, und vielleicht paßt darauf am besten das aktuelle Verlegenheitswort von der „Post-Moderne". Nietzsches politische Philosophie teilt mit dieser höchst unterschiedliche Stellungen des Gedankens zur Modernität, und Nietzsche hat verschiedene Konstellationen noch-moderner, hyper-moderner und bereits nach-moderner Gedanken erprobt. Naheliegende Fragen, die diese Untersuchung nicht mehr ausführlich diskutiert, sind inzwischen anderswo erörtert worden. Was „post-moderne" Politik bei Nietzsche heißen könnte, ist dargestellt in dem Artikel „Nietzsches politische Philosophie. Versuche in post-moderner Politik" (Bayreuther Beiträge %ur Literaturwissenschaft Bd. 3, hg. von W. Gebhard, Bern 1987; vorabgedruckt in: Nürnberger Blätter 3. Jg., Nr. 5 [1987] 7 — 8). Die in diesem Buch manchmal gestreifte Frage nach dem Status der Philosophie Nietzsches (S. 172 ff., S. 346 ff.) behandelt jetzt ausführlicher der Artikel „Nietzsches Perspektivis-
mus" (in: Gewißheit und Gewissen. Festschrift für Franζ Wiedmann %um 60. Geburtstag, hg. v. W. Baumgartner, Würzburg 1987). Nietzsches Stellung zur Aufklärung wie die hier beanspruchte Versöhnbarkeit von Aufklärung und Mythos im Gedanken der Wiederkehr untersucht der Aufsatz „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung" (in: Nietzsche und die philosophische Tradition Bd. 2, hg. von J. Simon, Würzburg 1985). Die Untersuchung geht auf eine Anregung von Prof. Dr. R. K. Maurer zurück. Vieles verdanke ich den Kollegen M. Djuric, V. Gerhardt, F. Kaulbach, W. Müller-Lauter und nicht zuletzt M. Montinari, der sich so oft zum Gespräch bereit fand. Wichtige Hinweise habe ich von Dr. E. Voß von der Wagner-Gesamtausgabe, Η. E. Lampl und Dr. R. Margreiter erhalten. Im Wintersemester 1983/84 lag diese Studie der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität München als Habilitationsschrift vor. Für deren freundliche Beurteilung danke ich meinem Lehrer, Prof. Dr. N. Lobkowicz, Prof. Dr. P. C. Mayer-Tasch und Prof. Dr. P. J. Opitz. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck bezuschußt. Der Verlag und Prof. Dr. H. Wenzel haben die sich verzögernde Drucklegung mit äußerster Geduld ertragen. Dr. E. Schreiber hat das Manuskript als erster kritisch gelesen. Möge es mehr solche Leser finden! Basel, im März 1987
H. Ottmann
Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 2. Auflage Vorwort
V VII
Einleitung
1 Teil A: Deutscher und Grieche (1858-1876)
I.
Konventionelle Anfange (1858-1870)
11
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Freiheit, Einheit, Republik (1858 - 1 8 6 5 ) Preuße und Nationaler (1865-1868) Vom Borussophilen zum Gegner Preußens (1868 — 1870) . . . Von imperialer Größe zur Größe der Kultur oder Nietzsche und Burckhardt (1870/71)
11 14 16
II.-IV. II.
Unzeitgemäße Philosophie und Politik (1870-1876) Nietzsche als Kritiker und „Arzt der Cultur"
22 22
II. 1.
Die Verkehrung oder Staat und Gesellschaft als Herrscher über die Kultur Nietzsche als Kritiker von Sozialismus und Kapitalismus oder Ahnung eines unbekannten Nietzsche Exempla des Kulturverfalls (mit besonderer Berücksichtigung von D. Fr. Strauß, E, v. Hartmann, E. Dühring) Historie als Nachteil für das Leben Das antik-moderne Vexierbild: Der Sokratismus als Krankheit der Kultur
11.2. 11.3. 11.4. 11.5.
III.
Griechische Vorbilder
111.1.
Der Staat als Diener der Kultur. Oder: Nietzsches ästhetisierender Piatonismus Die Kultur: aristokratisch, heroisch, agonal. Oder: Noch einmal Nietzsche und Burckhardt Die Metaphysik: vor-sokratisch und herakliteisch, ästhetisch und tragisch-mythisch
111.2. 111.3.
18
23 25 31 35 38 43 44 48 51
X
111.3.1. 111.3.2. 111.3.3. 111.3.4. 111.3.5. 111.3.6.
IV. IV. 1.
Inhaltsverzeichnis
Nietzsches Rückkehr zu den Vorsokratikern oder Nietzsches Heraklitismus Die Artistenmetaphysik: Apollon und Dionysos oder die Rückkehr zum tragischen Mythos Apollinisch-dionysisch: Geniale Deutung des Griechentums oder „genialer Irrtum"? Apollinisch-dionysisch oder Nietzsches antiklassische Klassik Apollinisch-dionysisch oder die Vagabondage eines Begriffspaares Apollinisch-dionysisch politisch besehen oder die Wiedergewinnung der Nüchternheit
71
Deutsche Hoffnungen oder Nietzsches politische Mythologie der Deutschen
76
51 56 63 65 68
IV.3.3.
„Ritter, Tod und Teufel" oder der Antichrist in der Maske des Protestanten 78 Schopenhauer als Erzieher oder der Widerstreit von Politik und Kultur 83 Schopenhauers Heroismus — politischer Anspruch und privatistische Tendenzen 83 Schopenhauers Politik und ihre Radikalisierung durch Nietzsche 89 Wagner und Nietzsche 94 Gemeinsamkeiten, unübersehbare 94 Bedenkenswerte Differenzen: Humanität statt Rassismus, überdeutsche Ideale statt Chauvinismus, Zukunft statt Gegenwart 99 Nietzsches Politik und sein Kulturideal im Umbruch 106
V.
Zwischenbetrachtungen
109
V.l. V.2.
Nietzsches frühe Politik — Größe und Grenzen Wahrheit und „Lüge"
109 113
IV.2 IV.2.1. IV.2.2. IV. 3. IV.3.1. IV.3.2.
Teil B. Europäer und Freigeist (1876-1882) I.
Neue Politik und Ökonomie
124
1.1.
Nietzsches Lehre vom Absterben des Staates. Die Notwendigkeit eines geeinten friedlichen Europa und die Unaufhaltsamkeit der Demokratie 124
Inhaltsverzeichnis
1.2.
XI
1.2.2. 1.2.3.
Annäherung an bürgerliche und sozialistische Welt bei bleibender Distanz Antibürgerliches, speziell Anti-Utilitaristisches und AntiSozialdarwinistisches. Nietzsche gegen Bentham, Spencer, J. St. Mill Antisozialistisches, verdeckt und offen Gegenprobe: Versteckte Apologie des Kapitalismus?
130 138 141
II.
Antike und moderne Hintergründe
147
11.1.
11.3.
Nietzsches politischer Piatonismus. Von der „Politeia" zu den „Nomoi" 147 Stoisches-Epikureisches. Nietzsches antikisierende Aufklärung 150 Die moderne Antithese: Voltaire versus Rousseau 156
III.
Nietzsches „kritische Theorie"
164
III. 1. III. 1.1. III.1.2.
Versuch einer Emanzipationsphilosophie ohne „Ursprung" . Der scheinbare Positivismus der „kritischen Theorie" Befreiung ohne ursprungsphilosophischen Rest. Die Zerstörung von Objekt und Subjekt der Metaphysik Philosophieren nach dem Verlust des Ursprungs. Oder: Kann es ein ursprungsloses Denken geben? Abschlußloses Denken und aphoristische Form Historische Rechtfertigung und historischer Parasitismus . . Experimentalphilosophie, fast noch Kantische Unliebsame Alternativen: Regreß, Dogmatik, Selbstbezüglichkeit, „genetic fallacy", Indifferentismus Unmittelbarkeiten und verbaute Auswege: Logischer Empirismus, ästhetisch-anschauliches Philosophieren, evolutionäre Erkenntnistheorie, Pragmatismus, neuere „kritische Theorie" Wege der Befreiung. Nietzsches Lösung vom metaphysischen Ideal der Kunst (Wagner), von der Metaphysik (Schopenhauer), von der Religion und von der Moral Von der erlösenden Kunst zur Kunst, die das Dasein „erträglich" macht. Nietzsche gegen Wagner und das Bündnis der Kunst mit Religion und Metaphysik Die Befreiung von der Metaphysik (Schopenhauers). Nietzsche und A. Spir Erlösung von Furcht und Schuld. Mängel und Bedeutung von Nietzsches freigeisterischer Religionskritik
164 164
1.2.1.
11.2.
III. 1.3. III. 1.3.1. III.1.3.2. III. 1.3.3. III. 1.3.4. III. 1.3.5.
III.2.
111.2.1.
111.2.2. 111.2.3.
129
167 172 172 174 176 177
179
181
181 187 192
XII
Inhaltsverzeichnis
III.2.4.
Moral für freie Geister. Nietzsches mißverständlicher Immoralismus 111.2.4.1. Gründe der „Unverantwortlichkeit": Unschuld des Daseins, Notwendigkeit des Geschehens, Fragwürdigkeit der Verantwortung für andere 111.2.4.2. Von der Verantwortung des Immoralisten. Nietzsches antikisierende und spinozistische, pluralistisch-tolerante und individualistische Autonomiemoral 111.2.4.3. Der Immoralismus als fragwürdige Moral
203
204
210 213
IV.
Aufklärung an ihrem Ende. Macht und Ohnmacht des emanzipierten Subjekts 216
V.
Macht und Recht
220
V.l. V.2.
Nietzsche und Thukydides Machtlehre und Naturrecht
220 226
Teil C. Philosoph des „Menschen" und der „Erde" (1880/82-1889) I.
Große Politik
1.1.
Daß „große Politik" Politik ist. Vom ΜißVerständnis reiner Moralphilosophie Noch einmal: Größe der Kultur, nicht der Imperien. Antideutsche und europäische, auf die Größe des Menschen selbst zielende Utopie Zucht und Züchtung. Naheliegende Gründe und nachweisbare Irrtümer der rassistischen Legendenbildungen Rassismus, Gobineauismus, Darwinismus. Gründe des Verdachts Anti-Antisemitismus Die „blonde Bestie". Entmythologisierung einer Legende . . Der moralische Sinn der „Züchtung" Platonische Paideia und antiplatonisches Experiment mit der Wiederkunftslehre. Rassistische Nebenbedeutung, zentraler moralischer Sinn Die Lösung des Darwinismusproblems (wie des Gegensatzes von Progressismus und Wiederkehr) Historische Vorbilder der „großen Politik"
1.2.
1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.4. 1.4.1.
1.4.2. 1.5.
239 239
240 245 246 249 253 262
262 265 270
I nhaltsverzeichnis
1.5.1.
XIII
1.5.2. 1.5.3.
Unzulässige Aktualisierungen der „großen Politik": Aristokratismus, Monarchismus, Cäsarismus. Nietzsche gegen Spengler 271 Moderner Piatonismus 276 Renaissancismus. Nietzsche und Machiavelli 281
II.
Nietzsches Kritik der politischen Moderne
II. 1.
Bleibende Gegnerschaft gegen bürgerliche Gesellschaft und bürgerliche Politik Antikapitalismus, zweideutiger Antiliberalismus, eindeutiger Anti-Sozialismus und Anti-Anarchismus Der Sozialismus als Extrem der bürgerlichen Gesellschaft. Nietzsches Gleichnis vom „letzten Menschen" Anti-Anarchismus — trotz naheliegender Gemeinsamkeiten Nietzsche und Stirner? „Große Politik" zwischen Antike und Moderne. Eine Zwischenbilanz
II. 1.1. II.1.2. 11.2. 11.2.1. 11.2.2. 11.2.3. 11.3.
293 294 294 297 299 300 304 307 309
III.
Die Korruption der Ohnmacht. Phänomenologische Fruchtbarkeit und polemische Grenzen des Ressentimentbegriffs . . 314
111.1. 111.2. 111.3.
Phänomenologie des Ressentiments 314 Ressentiment als polemischer Begriff 319 Das fragwürdige Beispiel: Jüdisch-christliche Religion und Moral (mitsamt ihren Verbindungen zur modernen Moral und Politik) 322
IV.
Nihilismus, politisch und überpolitisch
IV. 1 IV.2.
Wurzeln des Begriffs. Eine kurze Erinnerung 329 Nietzsche und der russische Nihilismus (Turgenjew, Dostojewski) 331 Nihilismus und „decadence" 335 Theorie des Nihilismus 341
IV.3. IV.4.
329
V.
Versuch über Nietzsches „Versuche". „Wille zur Macht", „ewige Wiederkehr" und „Übermensch" 346
V.l.
Zum Status der späten Philosophie. Noch-Metaphysik oder Post-Metaphysik? „Kritische Theorie" und „Experimentalphilosophie"? „Wildes" oder „offenes" Denken? Systematik und Problematik 346
XIV
V.2. V.2.1. V.2.2.
Inhaltsverzeichnis
V.4. V.4.1. V.4.2.
„Wille zur Macht" Nietzsches Weg zum späten Machtbegriff Subjekt und Welt als „Willen" zur Macht. Oder: Abschied von „Wesen" und „Entelechie" Immanente Schranken der Machtwillen. Oder: Warum die Machtwillen nicht ein „Wille zum Willen" sind Von den Machtwillen zum Gedanken der „ewigen Wiederkehr". Ein antiplatonischer Anodos Die „ewige Wiederkehr des Gleichen" Wiederkehr: kosmologisch-kosmisch Physikalistische Hypothesen Die Unbeweisbarkeit einer „Wiederkehr des Gleichen". Der Physikalismus als Nebenweg und Sackgasse Vorsokratische Philosophie und religiöse Wiederkunftsmythen in ihrer Beziehung zu Nietzsches Wiederkunftslehre Wiederkehr: ethisch-lebenspraktisch Die praktischen „Interessen" der Lehre von der Wiederkehr Ein Motiv des praktischen Interesses: Umkehrung von Platonismus und Christentum Wiederkehr als Mythos Die „ewige Wiederkehr" in ihrer Beziehung zum „Willen zur Macht". Nietzsches Versuch der Wiedergewinnung von Kosmos und Physis Der „Übermensch" Historisches Systematisches
VI.
Tragische Gerechtigkeit
VI.l.
Die politische Tragik des Machtwillens. Oder: Warum es weder Sieger noch Verlierer gibt 389 Erdherrschaft. Oder: Warum der „Herr der Erde" Diener der Erde werden soll 391
V.2.3. V.2.4. V.3. V.3.1. V.3.1.1. V.3.1.2. V.3.1.3. V.3.2. V.3.2.1. V.3.2.2. V.3.2.3. V.3.3.
VI.2.
352 352 355 357 358 361 363 363 365 368 369 369 372 373
375 382 382 386 389
Abkürzungsverzeichnis Auswahlbibliographie Sachregister
395 396 408
Personen Verzeichnis
411
Anhang Nietzsches politische Philosophie in der philosophischen und politischen Diskussion der Gegenwart 419 Literatur 469 Sachregister 473 Personenverzeichnis 474
Einleitung Wenn Nietzsche eines war, dann war er wahrhaftig, redlich bis zur letzten Konsequenz. Er war zugleich jemand, dem man nicht trauen kann. Seine Redlichkeit — das ist eine seiner Seiten. Das Spiel mit der Maske ist eine andere. Nietzsches Wahrhaftigkeit bedurfte der schützenden Maske. Er hat sich ihrer virtuos bedient, und man hat sich vorzusehen, ob hinter der ersten nicht die zweite und hinter dieser nicht die dritte zum Vorschein kommt. Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Sein Werk war Spiel, und als Spiel war es Kunst. Was er bot, war „nicht nur Kunst, — eine Kunst ist es auch, ihn zu lesen, und keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer Nietzsche ,eigentlich' nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren" 1 . Gleichwohl, Nietzsche hat es ehrlich gemeint, wenigstens mit denen, die bereit sind, Selbstdenker, und das heißt, weder Jünger noch fanatische Gegner zu sein. Er hatte sie nicht verdient, die Nachbeter und Verächter, die ihm folgten. Er hatte es nicht verdient, daß man ihn — immer schon — kannte und daß jeder zu wissen meinte, wohin er gehörte. O b der „Übermensch" Mode wurde oder die Boheme den neuen Gott Dionysos feierte, ob konservative Revolutionäre, Faschisten oder Nationalsozialisten sich seiner bedienten, ob man ihn als Anarchisten denunzierte oder als Ideologen des Kapitalismus beschimpfte — stets wußte man, wer dieser Nietzsche war. Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle des Kriegsverbrechers gespielt. Lange Zeit schien er vergessen, und nun ist er auf der politischen Bühne wiedergekehrt, gefeiert von jenen, die ihn von der rechten auf die linke Seite zerren, als eine Art Über-Marx und Über-Freud, befreiend von Religion und Metaphysik, von Staat und Autorität, vom Zwang des Denkens und der Sprache überhaupt. Nietzsche rechts, Nietzsche links — haben wir nichts gelernt? Man darf Nietzsche nicht wörtlich nehmen, und man darf ihm nicht alles glauben. Und doch ist gerade er immer wieder beim Wort genommen worden. Er hat politisch gewirkt wie wenige Autoren des 19. Jahrhunderts, vergleichbar nur mit Hegel oder Marx. Schon um die Jahrhundertwende war Nietzsche 1
Th. Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur Bd. I, Tübingen 1978, 293.
2
Einleitung
allerorten, verglichen von den einen mit dem radikalsten aller Linkshegelianer, Stirner, verstanden von den anderen als Sprachrohr eines radikalen Aristokratismus, bekämpft von Sozialisten als ein politischer Philosoph, der nur schöner sagt, was ein Börsenjobber denkt. Nietzsche als ein Ereignis der deutschen Sprache, das war es vielleicht sowieso, was mehr als jede inhaltliche Botschaft dem Werk zum Siegeszug verhalf. Die Geschichte der deutschen Literatur ist zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg immer auch Geschichte einer Nietzschewirkung gewesen, und man könnte eine eigene politisch-literarische Chronik des Kulturereignisses Nietzsche schreiben, reichend von der Mode des Übermenschen und dem Renaissancismus über die jungen Brüder Mann und ihre Wandlungen bis zu Benn oder den Brüdern Jünger, um nur einige der Namen zu nennen, die für das Schicksal des deutschen Geistes, seine Chancen und Gefahrdungen stehen.2 Es sind die suggestiven Bilder, die sich tief ins kollektive Unbewußte eingegraben haben: Mussolini, den das Nietzsche-Archiv als den „herrlichsten Jünger" Zarathustras feierte; Hitler, der die Schwester des Philosophen besucht und Nietzsches Spazierstock zum Geschenk erhält, Ironie des Okkasionellen in nahezu welthistorischem Ausmaß. Zarathustra wollte keine Jünger, er wollte keine Schüler, die sich auf die Lehre wie auf eine Krücke stützen. „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt." 3 Nietzsche rief zu einer Selbstverantwortung radikalsten Ausmaßes auf, alle moderne Autonomie auf ihre individualistische Spitze treibend, die Solitärperson als Richter und Gesetzgeber ihrer selbst allein. Und dann nimmt der den Spazierstock mit, durch den das Ende aller Aufklärung und Autonomie, der Sieg der Herde und der Horde über den Einzelnen seine bisher größten Triumphe gefeiert hat! Hitler hat Nietzsche — aller Wahrscheinlichkeit nach — nie gelesen.4 Es hat all jene nicht gestört, die von Nietzsche bis Hitler immer nur die Kontinuität des deutschen Sonderweges oder jene schiefe Ebene erkannten, die vom Kapitalismus zum Faschismus führen soll. 5 In Wahrheit hätte man — in 2
3 4
5
B. Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde, a. a. O., vermittelt einen trefflichen Überblick. Za, Von der schenkenden Tugend, K G W VI/1, 97. Er erwähnt Nietzsche beiläufig dreimal (eine äußerst fragwürdige Überlieferung von Rauschning eingeschlossen). Ν. H. Baynes: The Speeches of Adolf Hitler I, London 1942, 478, zit. nach E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, Göttingen 1969, 87; H. Rauschning: Gespräche mit Hitler, Wien o. J., 231/232; Η. A. Turner: Hitler aus nächster Nahe — Aufzeichnungen eines Vertrauten 1 9 2 9 - 1 9 3 2 , Frankfurt a. M. 1978, 419. In „Mein K a m p f ' , den „Tischgesprächen" oder den Aufzeichnungen von 1 9 0 5 — 1 9 2 4 (E. Jaeckel/A. Kuhn [Hrsg.]) kommt der Name Nietzsche nicht vor. Eine kleine Literaturauswahl: M.-P. Nicolas: De Nietzsche a Hitler, Paris 1936; O. Flake: Nietzsche. Ein Rückblick auf eine Philosophie (1946), Frankfurt a. M. 1980; G. Müller: Nietzsche und die deutsche Katastrophe, Gütersloh 1946; E. Barthel: Nietzsche als Verführer,
Einleitung
3
Abwandlung eines Wortes von Karl Kraus — sagen müssen, Hitler fiel zu Nietzsche nichts ein, Rosenberg im Grunde auch nicht 6 , und was beiden „einfiel", war allenfalls, daß sich Nietzsche nutzen ließ als Reputationsanleihe für ein System, das diese bitter nötig hatte. Nietzsche wurde kulturpolitisch vereinnahmt, für Schule und Erziehung, Rassenpolitik und Eugenik, für die Predigt der Härte und die Abkehr von der Religion des Mitleids, für neues Heidentum und neuen Staat, für den Krieg und — man staune — den Sport. 7 Ein immer noch nicht ganz erschlossenes Phänomen der Wirkung — aber war es denn eines, das uns Nietzsche verstehen hilft? Nationalsozialisten, die Nietzsche lasen, haben vor ihm gewarnt. 8 Ein Freund des Zweiten Reiches oder der Machtpolitik der Epoche war Nietzsche eben nicht, und auch völkisch, antisemitisch oder nationalistisch hatte er nicht gedacht. Im Gegenteil! Nationalsozialistische Nietzsche-Traktate, das sind zumeist unerträglich popularisierende, simplifizierende, absichtsvolle opuscula. Anspruch auf philosophischen Tiefgang haben sie nicht erhoben. Und eigentlich nur eine Nietzschedeutung dieses Lagers ist von philosophischem Rang: A. Baeumlers „Nietzsche, der Philosoph und Politiker" 9 . Dieses Werk freilich hat Nietzsche unzulässig nationalisiert und germanisiert, zum antiwestlichen Denker verkürzt, der einen „Siegfriedangriff auf die Urbanität des Westens" geführt haben sollte. Wo es philosophisch wurde, bot es eine nicht ungeschickte, aber doch durchsichtige Nietzschehalbierung: Nietzsche nur als Lehrer des „Willens zur Macht", nicht als Denker auch der Wiederkehr, und nur durch diese Halbierung konnte der Anschein erweckt werden, daß Nietzsche „zeitgemäß" sei.
6
7
8
9
Baden-Baden 1947; K. Algermissen: Nietzsche und das Dritte Reich, Celle 1947; A. v. Martin: Geistige Wegbereiter des deutschen Zusammenbruchs. Hegel. Nietzsche. Spengler, Recklinghausen 1948; G. Lukäcs: Von Nietzsche bis Hitler, Frankfurt a. M. 1966 (Auszüge aus „Die Zerstörung der Vernunft"); E. Sandvoss: Hitler und Nietzsche, a.a.O.; K. R. Fischer: Nazism as a Nietzschean .Experiment', in: Nietzsche-Studien 6 (1977) 116 — 123. Weder für den „Mythos des 20. Jahrhunderts" noch für „Blut und Ehre" spielt Nietzsches Philosophie eine Rolle. Die spärlichen Erwähnungen: A. Rosenberg: Blut und Ehre. Ein Kampf für die deutsche Wiedergeburt. Reden und Aufsätze, Th. v. Trotha (Hrsg.), München 22 1939, 260, 297; ders.: Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München «1934, 529/530. Eine Vielzahl dieser opuscula hat die Dissertation von H. Langreder erschlossen, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches, Diss. Kiel 1971. Ζ. Β. H. Härtle: Nietzsche und der Nationalsozialismus, München 1937; ders.: Friedrich Nietzsche. Der unerbittliche Werter des 19. Jahrhunderts, in: Der Schulungsbrief 4. Jg., 8. Folge (1937) 2 9 0 - 2 9 2 , 2 9 5 - 2 9 9 ; E. Krieck: Leben als Prinzip der Weltanschauung und Problem der Wissenschaft, Leipzig 1938, ζ. B. 59; Chr. Steding: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938, 160, 212, 214, 335, 376; G. Lutz: Nietzsche, in: Das Deutsche in der deutschen Philosophie, Th. Haering (Hrsg.), Stuttgart-Berlin 2 1942, 454. A. Baeumler: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 3 1940.
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Einleitung
Auch der italienische Faschismus taugt als Kronzeuge für einen „faschistischen" Nietzsche nicht. Es ist wahr, Mussolini hat Nietzsche gelesen, und er hat aus der Philosophie des „Willens zur Macht" eine „filosofia della forza" machen wollen. 10 Er hat es pikanterweise getan, als er noch Sozialist war und sich in seinem Denken Einflüsse von Marx, Sorel und Nietzsche kreuzten. Das Ergebnis war dementsprechend eklektisch, der Sozialismus als Kampf und Aktion, das Leben als Abenteuer und Tanz auf dem Vulkan, der Übermensch als ein antikapitalistisches Symbol, verkörpert in der proletarischen Elite — und das vorgeführt an einem Denker, dem der Sozialismus als „Tyrannei der Geringsten und Dümmsten" gegolten hatte!11 Wenn nicht Nationalsozialismus oder Faschismus, war denn die konservative Revolution die legitime Nachlaßverwaltung des Erbes Nietzsches? Gewirkt hat er bei den Dichtern und Denkern dieser Bewegung doch wohl, Nietzsche als Vorbild für die Abkehr von der christlichen Zeitvorstellung, die durch die Bilder von Kugel und Kreis abgelöst wird, Nietzsche als Diagnostiker und Arzt des Nihilismus, Nietzsche als Lehrer der Wiederkehr, die zum Sinnbild einer Fortschritt und Moderne verabschiedenden Geschichtsphilosophie wurde. 12 Wer wollte, konnte sich von Nietzsches „Pathos der Distanz" und von seiner Kritik an der Herde Mut machen lassen für den verächtlichen Blick auf die parlamentarische Demokratie und die „Herrschaft der Minderwertigen", und so hat Nietzsche in der Tat gewirkt. Aber die konservative Revolution ist nicht als ganze nietzscheanisch, wenig, ja fast gar nichts von Nietzsche findet sich etwa bei E. J. Jung, und es ist wohl kein Zufall, daß dieser oft von Gott und Christentum sprechende Politiker Nietzsches „neue Werte", wenn er sie einmal erwähnt, für die alten, d. h. die christlichen, hält. 13 A. Moeller van den Bruck hat Nietzsche als Individualisten, als Kulturanarchisten, ja als Tschandala kritisiert.14 Nietzsche für die konservative Revolution einspannen zu wollen, das erforderte, daß man den „Willen zur Macht" mit Machtpolitik, die Gegnerschaft gegen Reich und Nationalismus mit der Befürwortung derselben gleichsetzte.15 Und was diese philosophierenden 10
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B. Mussolini: La Filosofia Deila Forza, in: Opere Omnia Di Benito Mussolini Bd. I., E./D. Susmel (Hrsg.), Firenze 1951, 1 7 9 - 1 8 3 . E. Nolte: Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift 191 (1960) 2 4 9 - 3 4 5 . A . Möhler: Die konservative Revolution in Deutschland 1 9 1 8 - 1 9 3 2 , Darmstadt 2 1972, 86, 109. E. J. Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen, Berlin 2 1930, 36. A. Moeller van den Bruck: Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen Bd. I. Tschandala Nietzsche, Berlin-Leipzig 1899, 19, 48, 50/51. Fr. Hielscher: Das Reich, Berlin 1931, 200.
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Herrschaften von der „ewigen Wiederkehr" verstanden, es war — man verzeihe! — weniger Nietzsche als Philosophie aus zweiter Hand. 16 Nietzsche rechts — Nietzsche links. Auch bei seinen linken Schülern und Gegnern ist es Nietzsche kaum besser ergangen. Wer ihn als Anarchisten verdächtigen wollte, konnte darauf verweisen, daß dieser Nietzsche Individualist war, Lehrer einer radikal individualistischen Autonomie, Gegner nicht nur des zeitgenössischen Staates, sondern oft des Staates überhaupt. Aber dieser Nietzsche hat mit aller Deutlichkeit den Anarchismus seiner Zeit als Ausdruck der Ohnmacht, des Ressentiments, des Nihilismus verworfen. Und so sehr da oft die Feindschaft durchbrach gegen den „Götzen" Staat, Herrschaft hat dieser Nietzsche gefordert, oft Herrschaft in ihrer härtesten Form. Nietzsche und der Sozialismus, dieses Kapitel der Nietzschewirkung ist noch nicht geschrieben. Nietzsche hat den Sozialismus seiner Zeit verworfen, er galt ihm als Gefahr für Kultur, Politik und sein Ideal des Menschen. Es ist ihm bis heute nicht verziehen worden. Seit Mehring und Lukacs ist ausgemacht: hier ist ein Apologet des Kapitalismus, des Imperialismus und des Faschismus. 17 Zwar wird heute nicht mehr die ungebrochene Kontinuität zwischen Nietzsche und dem Faschismus behauptet, wie sie Lukacs verstand; zwar findet der Dichter Nietzsche eine gewisse Anerkennung, und Antibourgeoises bei Nietzsche stößt nicht mehr per se auf ungläubiges Kopfschütteln. Aber der Politökonomismus hat sich im Grunde nur präzisiert, Nietzsche nun angesiedelt am Punkte des Umschlags vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus. 18 Im Giftschrank stehen seine Werke auch noch heute, und die Folgen sind zu bedauern. Die linke Nietzschewirkung, auch sie ein Wirkungsphänomen ersten Ranges, wird übersehen 19 ; das Thema „Nietzsche und Marx" bleibt ein Desiderat, und man kann nur vermuten, daß es da doch einiges zu entdecken gäbe bei diesen Protagonisten eines unterschiedlichen Endes der Philosophie, bei diesen Kritikern der Ideologie und Jüngern des Prometheus, bei diesen manchmal durchaus vereinten Gegnern der bürgerlichen Gesellschaft, bei diesen Philosophen, die beide versuchen, den Menschen
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So macht A. Moeller van den Bruck aus der „ewigen Wiederkehr" eine A r t v o n platonischer Idee, jedenfalls ein sich durchhaltendes Substrat, das „bald vortritt, bald zurücktritt", Das Dritte Reich, Hamburg 31931, 169. F. Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus (1897), in: Gesammelte Schriften Bd. 13, Th. Höhle u. a. (Hrsg.), Berlin 1961, 167 ff.; G. Lukacs: Der deutsche Faschismus und Nietzsche, in: F. Mehring/G. Lukacs: Friedrich Nietzsche, Berlin 1957, 85 ff. E. Behler: Nietzsche in der marxistischen Kritik Osteuropas, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 80—97; kennzeichnend für eine kleine Lockerung bei bleibender Enge S. F. Oduev: A u f den Spuren Zarathustras, K ö l n 1977. R. Hinton Thomas: Nietzsche in German politics and society 1 8 9 0 — 1 9 1 8 , Manchester 1983; die Artikel von A. Venturelli, E. Behler und V. Vivarelli, in: Nietzsche-Studien 13 (1984) 448ff., 503ff., 521 ff.
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in die Natur zurückzuübersetzen. Und könnten nicht auch die Differenzen aufschlußreich sein? Szientismus, Fortschrittsglaube und letztlich ungebrochene Modernität beim einen, ein Denken schon jenseits solcher Züge des 19. Jahrhunderts beim anderen? Heute lassen die „kritische Theorie" oder die italienische und französische Niet^schere^eption die Nietzschefeindschaft des Marxismus-Leninismus vergessen. Die „kritische Theorie" kann die Aktualität einer Philosophie sehen lehren, die bereits von den „Interessen" der Erkenntnis ausgegangen war, und die „Dialektik der Aufklärung" bietet das Niveau, auf dem man über Nietzsche sprechen kann und muß. 20 Nietzsches Politik und Philosophie waren eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Moderne, ihren Möglichkeiten und ihrer Dialektik, und es ist nicht einmal ausgemacht, daß sie, wie es in Frankfurt heißt, in Gegenaufklärung versandet sind. Die avantgardistische, sich auf Nietzsche berufende Philosophie im Italien und Frankreich von heute, nachheideggerisch und poststrukturalistisch, auch sie läßt, modischen Zügen und lauten Worten zum Trotz, ahnen, was bei Nietzsche verhandelt wird, ein metaphysikkritisches und unerhört modernes, ein „subversives" und ein „nomadisches", ein gegen die Grenzen des modernen Machtwillens und der ratio bereits anlaufendes Denken, unterwegs schon zu Zeiten, die man heute postmoderne nennt. 21 Vielleicht war Nietzsche in der Tat „das größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte" (G. Benn), und vielleicht mag mancher da noch auf Entdeckungsreise gehen wollen. 22 Wir meinen: Nietzsches Politik und Philosophie zu deuten, muß heute Aufgabe eher der Legendenzerstörung als der Legendennachspürung sein. Weder Nationalist noch Freund des Zweiten Reiches, weder Apologet des Kapitalismus noch Imperialist, weder Rassist noch Faschist, weder Sozialist noch Anarchist ist Nietzsche gewesen. Was war er dann? Es ist eine Frage, die man mehr mit Nietzsche als im Blick auf seine Wirkung zu entscheiden hat. Studien des Typs „Nietzsche und . . . " gibt es nicht wenige, aber wie schreibt man sie — ohne ein Bild von Nietzsche selbst? Viele Irrwege der Nietzschewirkung verdanken sich der Tatsache, daß man Nietzsche, sei es in die Tagespolitik, sei es in die Schablonen üblicher
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Die Beziehungen der Frankfurter Schule zu Nietzsche sind dargestellt bei P. Pütz: Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie, in: Nietzsche-Studien 3 (1974) 175ff.; R. K. Maurer: Nietzsche und die Kritische Theorie, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 34ff. Über diese Strömungen informiert F. Volpi: Nietzsche in Italien, in: Philosophischer Literaturanzeiger 31 (1978) 1 7 0 - 1 8 4 , 34 (1981) 1 6 5 - 1 8 2 ; G. Vattimo: Nietzsche heute?, in: Philosophische Rundschau 24 (1977) 6 7 - 9 1 . Eine unerschöpfliche Quelle dazu die beiden Bände von F. Krümmel: Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin 1974, 1983.
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politischer Richtungen, sei es in das Prokrustesbett reiner Politik gepreßt hat.23 Er kannte nur Politik mit Philosophie, keine ohne. Und er hat in Politik wie Philosophie die Grenzen des Üblichen gesprengt. Wer nach Nietzsches politischer Philosophie sucht, beginnt gewöhnlich mit der Frage, wie Nietzsche zur Geschichte der Deutschen steht. In der Tat, Nietzsche hat so angefangen, er war auf der Suche nach einer politischen Mythologie der Deutschen. Aber schon am Anfang war mehr. Nietzsche ist seinen eigenen Weg gegangen, und dieser hat ihn von der Sehnsucht nach der Wiedergeburt des „griechischen" Geistes im deutschen zu Aufklärung und Europäertum sowie schließlich zu einer Philosophie geführt, welche die Probleme der ganzen europäischen Kultur, ihre Stellung zu Griechentum und Christentum, moderner ratio und moderner Freiheit, mit den großen Begriffen „Nihilismus" und „Wiederkehr", „Wille zur Macht" und „Übermensch" neu zu bedenken versuchte. Das waren Verwandlungen, die aus dem DeutschGriechen (Teil A) den Europäer und Freigeist (Teil B) sowie schließlich den Philosophen des „Menschen" und der „Erde" werden ließen, dem es um alles ging, was in der Moderne auf dem Spiele steht (Teil C). Nietzsches frühe Politik war Kulturpolitik, und zu ihr gehörte die Artistenmetaphysik, die das Dasein durch die Kunst rechtfertigen sollte. Sie verwandelte sich in eine Eman^ipationsphilosophie, Freigeisterei genannt, die Nietzsche bis zu ihrer Dialektik führte. Und am Ende stand die ,große Politik", deren Verständnis die größten Rätsel aufwirft. Immer freilich hat Nietzsche nicht nur eine Auseinandersetzung mit den alten Fundamenten unserer Kultur, sondern eigentümlich auch mit ihren modernen gesucht, und es verbindet seine verschiedenen Entwürfe, daß sie allesamt Erprobungen von Konstellationen sind, in denen das Denken überhaupt zur Moderne stehen kann. Der junge Nietzsche hoffte auf die Wiedergeburt des tragischen Mythos der Griechen, und er war bereit, diesem Ideal der Kultur und Politik die politische Moderne in Bausch und Bogen zu opfern. Das klang antikisierend und nur antimodern, und doch war schon hier die Spitze höchster Modernität, der Mensch ein Prometheus und feuerbachianischer „Siegfried", ein Selbstgesetzgeber und Schöpfer der Kultur. Am Ende einer rationalistisch leerlaufenden Moderne wollte Nietzsche zurück zum Mythos, im Prozeß einer bereits fortgeschrittenen Säkularisierung suchte er die Aura der Kunst, die, nach der Religion, Mittel der „Erlösung" wird. Anders stand für einige Jahre Nietzsche, der Freigeist, zu Aufklärung und Modernität. Nietzsche wird Vater einer ursprungslosen „kritischen Theorie", 23
Nur politisch deutet Nietzsche immer noch T. Kunnas: Politik als Prostitution des Geistes. Eine Studie über das Politische in Nietzsches Werken, München 1982. Kunnas trifft bereits manche der Legenden, will aber „die politischen Ideen Nietzsches von seiner unpolitischen Philosophie unterscheiden" (153), so daß die Ergebnisse freischwebend verbleiben.
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und er wird Lehrer einer immoralistischen „Moral", die nur souveräne Selbstgesetzgeber noch anerkennen will. Da ist für einige Jahre Hypermodernität und sonst gar nichts, aber diese schlägt dialektisch um, Nietzsche geht den Weg der Aufklärung in den Nihilismus nach, den Weg vom Zweifel zur Verzweiflung für eine Emanzipation, die am Ende nichts mehr zu verlieren hat. Die späte Philosophie von Macht und Wiederkehr hat die Eindimensionalität von Nietzsches Aufklärungsphilosophie nicht mehr. Man kann sie kritisieren als den unmöglichen Versuch, von der Spitze der Modernität zur Antike zurückkehren zu wollen (Löwith), und antikisierend ist diese Lehre in der Tat, Weg zurück bis zur vorsokratischen Welt. Auch sind unverkennbar Züge der Hypermodernität. Wer erkennt sie nicht im Symbol des „Übermenschen" oder der zupackenden Aggressivität des „Willens zur Macht"? Heidegger hat bei Nietzsche die Metaphysik der Subjektivität und der Verfügung sich vollenden sehen — Nietzsche als Endgestalt. Es ist die Schlußthese dieser Untersuchung, daß Nietzsche so nicht zu verstehen ist. Schon er ist über die rationalitas wie den Machtwillen der Moderne hinausgegangen, weiter als es Heidegger oder seine Schüler sich vorgestellt haben. Belehrt durch die Dialektik der Moderne, hat sich Nietzsche auf die Suche gemacht nach dem, was dieser Moderne nottut: eine Heilung der Wunden, die ratio und Verfügungswille der mediatisierten Geschichte, der vernutzten Natur und dem vom „Willen zur Macht" selbst überwältigten Menschen geschlagen haben. Nietzsche hat dafür — gewiß von der Spitze der Moderne — zurück gedacht, man kann genausogut sagen, zw