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German Pages 252 [256] Year 1998
B E I H E F T E
Z U
editio Herausgegeben von WINFRIED WOESLER Band n
Philologie und Philosophie Beiträge zur VII. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (12.-14. März 1997 München) Herausgegeben von Hans Gerhard Senger
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Philologie und Philosophie ; (12.-14. März 1997, München) / hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen : Niemeyer, 1998 (Beiträge zur ... internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen ; 7) (Beihefte zu Editio ; Bd. 11) ISBN 3-484-29511 -2
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort des Herausgebers Albert Zimmermann Eröffnungsansprache des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen
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Winfried Woesler Gruß wort des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
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Wilhelm G. Jacobs Die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen im 25. Jahr Rückblick und Ausblick ........................................................................................ Editionsförderung
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Thomas Kempf Editionen bei den Akademien der Wissenschaften
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Thomas Wiemer Der verlorene Glorienschein Editionsförderung außerhalb der Akademien der Wissenschaften Philologie und Philosophie
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g 15
17
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Andreas Arndt Philologia - ancilla philosophiae? Zur Philosophie der Philologie ...................... 35 Hans-Ulrich Lessing Gibt es eine philologische Erkenntnis und Wahrheit?
..........................................
Gunter Scholtz Gibt es eine innere Einheit von Philologie und Philosophie?
...............................
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5g
Jürgen Stohlmann Was bringt uns die Philologie nouvelle? ............................................................... \
VI
Hendrik Birus Philosophisch-philologische Editionsprobleme bei Goethes .Ästhetischen Heften'
89
Hans Jörg Sandkühler F.W.J. Schellings Philosophische Entwürfe und Tagebücher - Ein Werk im Werden. Theoretische, methodologische und hermeneutische Probleme
98
Editionen in anderen Ländern
111
Jean-Louis Lebrave Genetische Textkritik und Edition in Frankreich
113
Dick van Vliet Das Constantijn Huygens Institut Ein Zentrum für Editionsphilologie in den Niederlanden
122
Kent Emery, Jr. North American Contributions to the Editing of Medieval Latin Philosophical Texts
135
Paul Tombeur Science et inconscience: les editions critiques. Propositions et esquisse d'une dynamique du provisoire
144
Editionen und EDV-Technik
183
Ferdinand Melichar CD ROM - Urheberrechtliche Probleme
185
Wilhelm Oft Elektronische Edition - Alternative oder Ergänzung? (I)
194
Heinrich Schepers Elektronische Edition - Alternative oder Ergänzung? (II)
203
Tobias Ott Überlegungen zur Vorbereitung der elektronischen Publikation einer Edition am Beispiel der Leibniz-Ausgabe
208
Norbert Henrichs Internet-Dienste am Arbeitsplatz des Editors
215
VII Aus der Arbeit der AGphE
231
Norbert Henrichs Bericht über die Arbeit der Kommission Technik
233
Hans Gerhard Senger Bibliographie 1973 - 1998 Veröffentlichungen der AGphE und aus ihrer Arbeit hervorgegangene Werke ...
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Autorenverzeichnis
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Vorwort des Herausgebers
Wenn Editionen, zumal philosophische, in einen Reflexionszusammenhang „zwischen Philologie und Philosophie" gestellt werden, darf man zweierlei erwarten: alte und neue Überlegungen zu einer die Jahrhunderte durchziehenden Philologie-Diskussion wie auch Überlegungen und Bestimmungen seitens der Philosophie über die Philologie, die durch eben jene Diskussion scheinbar schon den Status einer ,philologia perennis' gewonnen hat. So oder doch wenigstens ähnlich war die Absicht, die der Veranstalter, die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen, mit seiner siebten Fachtagung verband. Es konnte jedenfalls nicht allein darum gehen, daß philosophische Editionen in einer bestimmten Weise mit Philosophien als dem ihnen zugrundeliegenden Gegenstandsbereich zu tun haben, so wie philologische Editionen mit einer jeweils für sie spezifischen Philologie. Denn dieser Sachverhalt scheint - in Hinblick auf die intendierte Diskussion - eher akzidentell zu sein. Vielmehr sollte in der Diskussion gerade ein aller Philologie gemeinsames, universales Moment im Edieren und in den Editionen selbst zur Sprache gebracht und reflektiert werden. Das sollte versucht werden durch Leitfragen solcher Art: Gibt es eine philologische Erkenntnis und Wahrheit? In welchem Verhältnis steht die Philologie zur Philosophie? Gibt es eine innere Einheit zwischen Philologie und Philosophie? Oder schließlich die bei philosophischen Editoren naheliegende, in ihrem Bedeutungsinteresse aber nicht auf sie allein begrenzte Frage: Was sind die Bedingungen, unter denen eine ,Philosophie der Philologie' möglich ist? - Es zeigt sich alsbald: Fragen dieser Art eröffnen ein großes und sogleich strittiges methodologisches, wissenschaftstheoretisches und hermeneutisches Reflexionspotential. Der vorliegende Band enthält - mit nur einer Ausnahme - alle Referate der VII. Intertionalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen, die nach der ersten Tagung 1973 wiederum in München stattfand. Unter dem Veranstaltungstitel Philosophische Editionen - Zwischen Philologie und Philosophie wurde sie am 12. März 1997 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in Nymphenburg eröffnet und am 13. und 14. März in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am Marstallplatz fortgesetzt. Die Veröffentlichung spiegelt gleichermaßen die theoretischen und pragmatisch geleiteten praktischen Interessen von Editoren aus den Bereichen Philosophie und Philologie, hier besonders der germanistischen und mittellateinischen Philologien. Das Interesse an einer Theorie der Editionsphilologie wird, auch wenn es wie diesmal den Aspekt einer ,Philosophie der Philologie' in den Mittelpunkt rückte, stets die
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Hans Gerhard Senger
Entwicklungen in benachbarten Editionsphilologien und anderen Ländern im Auge behalten. Deren Vielfalt gibt bisher keinen Anlaß, von einer , Globalisierung' der Editionspraxis zu sprechen. Neben der genuin philologischen Praxis ,niederer' und ,höherer' Art hat schon seit längerem die durch raschen Wandel gekennzeichnete EDV-Anwendung und die ihretwegen erforderliche stetige und schnelle, chamäleonartige Anpassung des Editors einen festen Platz bei allen Editorendiskussionen. Der Band wird beschlossen mit einer Bibliographie der Publikationen der AGphE und der durch sie veranlaßten Veröffentlichungen aus den Jahren 1973 - 1998, in der sich die Thematik der theoretischen und praktischen Editionsphilologie dieser Jahre spiegelt. Nachdem der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen an anderer Stelle dieses Bandes den Dank an alle die Tagung fördernden Institutionen und an die an der Vorbereitung und Durchführung Beteiligten zum Ausdruck bringt, bleibt dem Herausgeber nur noch, all denen herzlich zu danken, die zum Erscheinen der Publikation beigetragen haben: in erster Linie den Referenten, die bereitwillig Manuskript- und EDV-Version ihrer Beiträge zur Verfügung gestellt und geduldig das Erscheinen abgewartet haben; sodann - und erneut - Professor Dr. Winfried Woesler, Osnabrück, dem Herausgeber der Serie Beihefte zu editio, für die Aufnahme der Veröffentlichung in diese Reihe, aber auch für die mit der aufmerksamen Durchsicht der Druckvorlage verbundene Mühe; ferner dem Max Niemeyer Verlag, Tübingen, für die Aufnahme der Publikation in sein Verlagsprogramm, namentlich Frau Andrea Welzel für die Unterstützung bei der Herstellung der Druckvorlage; schließlich Dr. Nicola Senger für die jederzeit bereitwillige, stets geduldige Unterstützung des oft an den vielen Tücken einer EDV,unterstützten' Publikationsweise verzweifelnden Herausgebers. Köln, Ostern 1998 Hans Gerhard Senger
Albert Zimmermann
Eröffnungsansprache des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen
Diese VII. Internationale Fachkonferenz der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen fuhrt uns nach 24 Jahren wieder einmal nach München. Am 19. 3. 1973 eröffnete Herr Kollege Hermann Krings die damalige „Editoren-Arbeitskonferenz", an der etwa 50 Editoren teilnahmen. Herr Krings und Herr Kollege Jacobs haben wesentlich dazu beigetragen, daß der von ihnen geprägte Beginn dann eine erfolgreiche Fortsetzung gefunden hat. Höhepunkte waren gewiß die sechs Fachtagungen: nach München dann 1976 in Düsseldorf, 1980 in Tübingen, 1983 in Köln, 1988 in Wolfenbüttel und 1992 vor fünf Jahren - in Berlin. Heute nun kehrt das ,Münchner Kindl' im 25. Lebensjahr zu seinem geographischen Ursprung zurück: in eine Stadt der Editionen. Lassen Sie mich einige nennen: Bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Kepler-, Fichte-, Schelling-, Max-Weber-Edition; die Edition Ungedruckte Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt; an der Universität Editionen von Renaissance-Texten; an der Technischen Universität die Bolzano-Edition; beim Deutschen Museum die Copernicus-Edition und die Edition der mathematischen Schriften des Nikolaus von Kues.- Mit München ist auch verbunden der Name Martin Grabmann - Herausgeber vieler philosophischer und theologischer Quellen aus dem Mittelalter. Es ist mir als derzeitigem Sprecher der Arbeitsgemeinschaft aufgetragen und eine Ehre, Sie heute hier in der Bayerischen Landeshauptstadt begrüßen zu dürfen. Es freut mich, daß der Einladung zu dieser Tagung so viele Kolleginnen und Kollegen gefolgt sind, rund hundert haben sich angemeldet, und dies unter allerlei Beschränkungen und Schwierigkeiten, die vor allem unserem Geschäftsführer in den vergangenen Jahren und Monaten manche Sorgen bereiteten und ihn in Atem hielten. Seien Sie alle herzlich willkommen. Der Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Professor Dr. Jürgen Mittelstraß, bittet mich, Sie zu grüßen, er selbst ist leider verhindert, bei uns zu sein, da er auf Reisen in Sachen Philosophie ist: heute in Hamburg, morgen in Berlin, übermorgen in Wien. Unser besonderer Gruß gilt den Kollegen aus dem Ausland, die in Vorträgen und Diskussionen das Programm der Tagung bereichern. Er gilt ferner den Vertretern der Arbeitsgemeinschaften, die - wenn auch auf anderen Gebieten - ähnliche Aufgaben haben und ähnliche Ziele verfolgen wie wir. Daß Herr Professor Dr. Winfried Woesler wieder einmal durch seine Teilnahme die Verbundenheit der Arbeitsgemeinschaft für
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Albert Zimmermann
germanistische Edition mit der unseren bezeugt, macht uns große Freude und verpflichtet uns zu herzlichem Dank. Ferner begrüße ich die Leiter und Mitarbeiter der Verlage, mit denen Editionen zusammenarbeiten müssen, damit ihre mühevolle Arbeit schließlich sichtbare Früchte bringt. Wir hoffen, daß die Begegnungen anläßlich auch dieser VII. Fachkonferenz das gute Miteinander weiter fördern werden. Wir begrüßen mit großer Freude Herrn Dr. Konrad Adam, Franfurter Allgemeine Zeitung, uns allen als herausragender Fachmann der journalistischen Begleitung wissenschaftlicher Arbeit bekannt. Wir sehen dem Gespräch mit ihm am morgigen Abend erwartungsvoll entgegen. Das Programm der Konferenz - „Philosophische Editionen - Zwischen Philologie und Philosophie" - nennt die Damen und Herren, die durch ihre Vorträge einen Einblick in das weite Arbeitsgebiet, dessen Pflege das Anliegen der Arbeitsgemeinschaft ist, geben werden. Den Referenten sei für ihre Bereitschaft, hier zu berichten und anzuregen, ganz herzlich gedankt. Ich begrüße den Geschäftsführer der Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften, Herrn Dr. Thomas Kempf, und freue mich darüber, daß er gleich das Wort ergreifen wird. Wir freuen uns, daß Herr Dr. Thomas Wiemer von der DFG für einen Vortrag gewonnen werden konnte, und ich darf ihn sehr herzlich begrüßen. Zu danken haben wir erneut der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die uns wesentlich geholfen hat, unser Treffen finanziell zu sichern. Ich danke ebenso dem Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst des Freistaats Bayern, Herrn Zehetmair, der unsere Bitte um Unterstützung nicht vergeblich sein ließ. Der Bayerischen Akademie der Wissenschaften danken wir für die Gastfreundschaft während unserer Tagung und für die vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung. Frau Monika Stoermer, Syndika der Akademie, darf ich dabei ganz ausdrücklich erwähnen; sie wird morgen Vormittag unter uns sein. Schon vor 24 Jahren unterstützte die Carl Friedrich von Siemens Stiftung das damalige Treffen der Editoren. Auch diesmal sind wir an diesem Ort hier ihre Gäste. Unser Dank für die freundliche Hilfe gilt Herrn Dr. Heinrich Meier und Frau Eise Kern. Herr Dr. Maier wird nachher noch einige Worte an uns richten. Vergessen seien natürlich nicht die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft, die tatkräftig dabei mitgewirkt haben, daß wir heute hier sind. Ich nenne, stellvertretend für viele, Herrn Professor Dr. Norbert Henrichs als Vorsitzenden der Kommission Technik. Wir werden am Freitag Gelegenheit haben, die Bedeutung der neuen technischen Entwicklungen für unsere Arbeit kennenzulernen. Herr Henrichs wird dabei die Hilfe des Tübinger TUSTEP-Programms, der Firma pagina GmbH., Tübingen, und der Firma Makrolog GmbH, Wiesbaden, in Anspruch nehmen können.- Hier in München lag ein großer Teil der Last der Vorbereitung bei Herrn Kollegen Jacobs. Er hat ebenso wie Herr Kollege Jaeschke, Berlin, stets bereitwillig wertvollen Rat gegeben.- Vielen Dank, liebe Kollegen!
Eröffnungsansprache
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Die Teilnehmerliste zeigt, daß sich unter uns etliche junge Wissenschaftler des Graduiertenkollegs Textkritik der Ludwig-Maximilians-Universität München befinden. Ihnen ein herzliches Willkommen! Verehrte Damen und Herren! Schon vor fünf Jahren hat Herr Dr. Senger das Kunststück fertiggebracht, die Konferenz von einem Ort aus vorzubereiten, der weit vom Tagungsort entfernt ist, nämlich von Köln aus. Auch diesmal hat er keine Mühe gescheut, neben seiner erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit als Bearbeiter und Editor der Schriften des Nikolaus von Kues, unser Treffen hier in München gedanklich und organisatorisch zu gestalten. Das verdient nicht nur unseren gehörigen Respekt, sondern unseren ganz aufrichtigen und herzlichen Dank. Herr Senger konnte und kann sich in diesen Tagen der Hilfe sehr gewissenhafter Mitarbeiter bedienen. In Köln war es vor allem Herr Christof Fischoeder, hier in München war es Herr Ehret, und beide sind es auch während der Tagung. Eine Bemerkung zum Abschluß dieser im Namen der Arbeitsgemeinschaft gesprochenen Begrüßungs- und Dankesworte. Die Wahl des Themas der Tagung bedarf in diesem Kreis keiner Begründung. Das Verhältnis von Philosophie und Philologie bei philosophischen Editionen ist ähnlich dem, das Martianus Capella im 5. Jahrhundert in der Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii, einer höchst aufschlußreichen Enzyklopädie der septem artes liberales beschrieb: Merkur, der unsterbliche Gott der Beredsamkeit, heiratet Philologia, die, das wissenschaftliche Streben nach Weisheit verkörpernd, durch diese Ehe unsterblich wird. Merkur schenkt der Braut die septem artes, und sie schenkt ihm die mechanischen Künste, vielleicht ein früher Hinweis sogar auf die Technik-Kommission der Arbeitsgemeinschaft. Die Vermählung wird beschützt - wie auf der Miniatur unseres gedruckten Programms dargestellt - von Hymenaeus. Wir, die Editoren philosophischer Texte, tun etwas durchaus Vergleichbares. Wie wichtig und wie schwierig es ist, dieser Aufgabe gerecht zu werden, wird auch bei dieser VII. Fachtagung wieder deutlich werden. Ich hoffe auf einen guten Verlauf und wünsche besten Erfolg!!
Grußwort des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ihnen, den verehrten fratribus in editione, danke ich, daß ich heute im Namen der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition ein Grußwort an Sie richten und daß ich auf Ihrer Fachtagung mit Ihnen diskutieren darf. Unser Dank gilt Ihrer Arbeitsgemeinschaft dauerhaft, weil wir Ihnen die Idee unseres Zusammenschlusses verdanken und auch die ursprüngliche organisatorische Struktur. Vielleicht ist das eine oder andere, was wir inzwischen neu entwickelt haben, auch für Ihre Arbeitsgemeinschaft von Interesse: Entgegen der noblen Grundeinstellung Ihres früheren Geschäftsführers, des Kollegen Professor Dr. Walter Jaeschke, haben wir inzwischen einen Mitgliedsbeitrag eingeführt, was zur Folge hatte, daß von den ursprünglich 270 Mitgliedern sich heute nur noch 180 dazugehörig fühlen. Wir führen alle zwei Jahre Plenartagungen durch, und zwischenzeitlich treten einige unserer fünf Kommissionen mit eigenen wissenschaftlichen Tagungen, die durchweg von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden, hervor. Die beiden Arbeitsgemeinschaften der Philosophen und Germanisten sollten den Kontakt auch in solchen organisatorischen Fragen fördern, was ja schon dadurch institutionell erleichtert ist, daß in den zentralen Gremien jeweils ein Vertreter der anderen Arbeitsgemeinschaft anwesend ist. Heute möchte ich an Sie den freundlichen Appell richten, unsere Kooperation zu verstärken, und ich darf die augenblicklich bestehenden Möglichkeiten aufzählen: 1. Wir haben das Jahrbuch editio als gemeinsames Organ; aber wie wenig Beiträge kamen bisher von den philosophischen Editoren! 2. Ich verweise Sie auf die Möglichkeit, thematisch wieder einmal ein eigenes Beiheft herauszugeben. 3. Wir laden Sie nachdrücklich ein, auf unseren Plenartagungen zu sprechen. Die Themen betreffen oft sehr wohl auch die philosophische Edition. 1996 hatten wir z. B. in Graz über editorische Darstellungen von Quellenabhängigkeiten diskutiert. 1998 werden wir in Den Haag unter der Leitung von Herrn Professor Dr. H. T. M. van Vliet über Kontextfragen sprechen. Systematisch soll analysiert werden, wie Arbeitsweise, Schreibstrategie und Produktionsweise in einer kritischen Edition dargestellt werden können. Im Jahre 2000 werden wir uns dann, falls die nächste Mit-
Grußwort
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gliederversammlung zustimmt, in Osnabrück treffen. Das Thema wird voraussichtlich die Edition von Übersetzungen sein. 4. Der vierte Bereich, in dem sich eine Zusammenarbeit anbietet, ist das vom Vorsitzenden unserer Kommission für allgemeine Editionswissenschaften, Herrn Professor Dr. Gunter Martens, angeregte Projekt eines editorischen Wörterbuches, dem mit etwas Abstand ein Editionshandbuch folgen soll. Bitte nehmen Sie unsere gern gemachten Einladungen zur Zusammenarbeit an. Für Ihre heute beginnende Tagung wünsche ich Ihnen im Namen der germanistischen Kollegen viel Erfolg. Prof. Dr. Winfried Woesler
Wilhelm G. Jacobs
Die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen im 25. Jahr - Rückblick und Ausblick
Zuerst habe ich herzliche Grüße dessen zu überbringen, an dessen Stelle ich spreche, Grüße also von Hermann Krings, der sich gegenwärtig in einer Kur erholt. Er wünscht unserer Tagung ein gutes Gelingen und gibt seiner alten Verbundenheit mit uns neuerlich Ausdruck. Den Rückblick möchte ich mit einer Erinnerung an Kollegen, die sich für die Arbeitsgemeinschaft engagiert haben und nun schon lange nicht mehr unter uns sind, beginnen. Pater H. L. van Breda, der Retter von Husserls Witwe und von Husserls Nachlaß, dann sein Herausgeber, war wesentlich beteiligt an der Gründung unserer Arbeitsgemeinschaft, und Siegfried Sudhof, der Mitbegründer der Jacobi-Briefeausgabe, hat lange eine unserer Kommissionen geleitet. Ihnen bewahren wir ein dankbares Andenken. Erinnerung an die uns Vorangegangenen wendet unseren Blick rückwärts. Wenn wir uns aber mit Dankbarkeit erinnern, so nicht nur wegen dessen, was einmal war, sondern gerade deshalb, weil das Gewesene uns heute noch betrifft. Wir blicken von der Gegenwart aus in die Vergangenheit und ebenso in die Zukunft und halten so Rückblick und Ausblick. Das Wort ,und' aber gibt zu denken. Das „leere Flickwort und" ist nämlich für einen derer, denen unsere Mühe gilt, nämlich für Johann Gottlieb Fichte, „überhaupt das unverständlichste und durchaus durch keine bisherige Philosophie erklärte Wort in der ganzen Sprache (es ist eben die Synthesis post factum)".1 Eine Synthesis post factum ist Philosophen nicht zuzumuten und würde, da ich, einzig dem Ablauf der Jahre folgend, eines nach dem anderen erzählen müßte, sehr lange Weile beanspruchen und erzeugen. Ich werde also keine Tour durch unsere vierundzwanzig Jahre unternehmen. Auch werde ich nicht, so erfreulich sie sind, und so viel Grund wir haben, auf sie stolz zu sein, die Erfolge unserer Arbeitsgemeinschaft aufzählen; von unseren Tagungen hat Herr Zimmermann schon gesprochen und die entsprechende Bibliographie werden wir hoffentlich aus der Feder von Herrn Senger in den Tagungsakten finden. Ich möchte heute Abend von dem sprechen, was für die Arbeitsgemeinschaft in diesem Vierteljahrhundert, das wir uns nun anschicken zu vollenden, geblieben ist und bleiben wird. 1
Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Jahre 1804 [2. Vortrag]. In: Sämmtliche Werke. Hrsg.: I. H. Fichte, Bonn 1834, Bd. X, S. 144.
Die Arbeitsgemeinschaft im 25. Jahr - Rückblick und A usblick
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Zunächst: Bevor wir im März des Jahres 1973 zum ersten Mal zusammengekommen sind, saßen wir hie und da an unseren Editionsaufgaben und wußten kaum voneinander. Nun kennen wir uns, und der zahlreiche Besuch unserer Tagungen zeigt, daß die Gelegenheit, sich wieder zu sprechen bzw. sich in diesem Kreise bekannt zu machen, gerne wahrgenommen wird. Unser Beispiel hat dann bei den Germanisten Schule gemacht; wir arbeiten aus verständlichen Gründen freundschaftlich zusammen. Philosophische Editoren bilden eine ansehnliche Gruppe unter den Philosophen; nicht ohne Grund hat die Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland in der Person ihres seinerzeitigen Präsidenten Hermann Lübbe uns 1976 bei unserer Düsseldorfer Tagung angeboten, neben dem Engeren Kreis als die zweite ihrer Untergliederungen in ihrer Mitte unsere Heimat zu finden. Wir haben dieses Angebot gerne angenommen, da wir überzeugt sind, daß der Editor seinen Platz in seinem Fach hat. Sodann: Der Zusammenschluß einer größeren Anzahl von edierenden Philosophen weckt das Bewußtsein, daß man offensichtlich an einem für das Fach bedeutsamen Werk arbeitet. So erzeugte die Tatsache der Arbeitsgemeinschaft schon Selbstbewußtsein. Wir beließen es nicht bei dem diffusen Bewußtsein, gemeinsam an wichtigen Werken zu arbeiten. Zum einen begannen wir mit der bis heute fortgeführten Beobachtung technischer Entwicklungen, die uns beim Arbeiten teils aufgedrungen werden, teils uns helfen können. Sodann reflektierten wir unser Tun. Edieren bedeutet nicht geistlose Beschäftigung mit toten Buchstaben. „Der Geist lebt vom Buchstaben" betitelte programmatisch Wolfgang Kluxen, seinerzeit Präsident der Allgemeinen Gesellschaß für Philosophie in Deutschland, seinen Eröffnungsvortrag unserer Tagung 1980 in Tübingen.2 Ist aber, wenn Philosophie nur durch den Buchstaben die Jahre und Jahrhunderte hindurch weitergegeben werden kann, Edition nicht reines „Sammeln und Bewahren"? Gegen solches Unverständnis hat die Arbeitsgemeinschaft herausgestellt, daß Edieren eine originäre wissenschaftliche Leistung ist, die nicht nach Schema F durchgeführt werden kann. Im Eröffnungsvortrag unserer Tagung 1983 in Köln sprach Hermann Krings zum Thema „Historisch-kritische Methode und die Idee des Zwecks. Editorische Tätigkeit als Wissenschaft".3 Edieren, so führte Krings u. a. aus, ist nicht eine Leistung der - Kantisch gesprochen - subsumierenden, sondern der reflektierenden Urteilsteilskraft. Die subsumierende Urteilskraft hat den Begriff oder die Idee, unter den sie das Material ordnet, die reflektierende hat den Begriff bzw. die Idee, in unserem Fall die einer guten Edition, nicht; ihr ist gerade die Aufgabe gestellt, diese Idee zu finden. Damit ist vom Editor jeweils eine originär wissenschaftliche Forschungsleistung zu erbringen. Zum Dritten: Dieses Bewußtsein vom Edieren ist nicht nur für die Editoren und ihr Selbstbewußtsein grundlegend. Es ist für jeden, der Editionen benutzt, ja für jeden, der Texte liest, dann jedenfalls bedeutsam, wenn er nicht unüberlegt, sondern mit kritischem Bewußtsein lesen will. Welchen Text hat man denn vor sich, den Text Nietz2 3
AZPhl980,Heft3, S. 7-19. Zschr. f. phil. Forsch. 38, 1984, S. 56-67.
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Wilhelm G. Jacobs
sches oder die Redaktion seiner Schwester? Den Hegels oder den der Freunde des Verewigten? Ich urteile hier nicht über die genannten Editionen, schon gar nicht über deren historische Wirkung; um so entschiedener ist zu betonen, daß wissenschaftliche Gründlichkeit und Redlichkeit erfordern, sich zu vergegenwärtigen, welchen Text man liest. Diesem Bewußtsein steht ein massives Hindernis entgegen, dasjenige, welches Fichte geradezu für die menschliche Urschuld hält: Trägheit. Man greift zu dem Text, der im heimischen Regal steht; er ist ja bequem zu erreichen und war dazu noch oft so billig zu erwerben. Hier war und bleibt einiges zu tun. Philosophie bedarf gesicherter und aufbereiteter Texte, wenn sie nicht die Idee einer dem Text bzw. der in ihm niedergeschriebenen Theorie getreuen Interpretation aufgeben will. Treue zum Text ist und bleibt für eine stichhaltige Interpretation die Grundforderung. „Das Wort sie sollen lassen stahn",4 forderte Reinhard Brandt auf unserer Tagung 1988 in Wolfenbüttel mit Recht. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die ,Publikumsbeschimpfung' von Heinrich Schepers auf dem Bonner Kongreß der Allgemeinen Gesellschaßfür Philosophie in Deutschland im Jahre 1984. Er forderte die Kenntnis des besten Textes in philosophischen Arbeiten. Seine Forderung ist so lange zu wiederholen, wie von Redaktionen philosophischer Zeitschriften Aufsätze nicht zurückgewiesen werden, wie Prüfungsarbeiten - von der Seminararbeit bis zur Habilitationsschrift - zugelassen werden, die nicht nach den besten verfügbaren Ausgaben zitieren. Wer garantiert sonst, daß die Lehre dieses oder jenes Philosophen wahrhaft zur Debatte steht und er uns etwas zu sagen hat? „Die Lebenden", schreibt Schelling, als er eine für ihn unzureichende Spinoza-Interpretation zurückwies, „müssen sich der nicht mehr Gegenwärtigen wider Verunglimpfungen annehmen, wie wir erwarten, daß im gleichen Fall die nach uns Lebenden in Ansehung unsrer thun werden."5 Viertens: Wenn wir so bestimmt Textgenauigkeit und darüber hinaus den Gebrauch der verschiedenen editorischen Annotationen fordern, wollen wir dann nicht das systematische und thematische Philosophieren zur Philosophiegeschichte verkommen lassen, wie ein neuerlich erhobener Vorwurf meint? Wolfgang Kluxen hat dazu 1980 schon Bedenkenswertes gesagt. Das Datum ist freilich heute schon historisch. Wenn man jedoch verachtet, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, was in der Geschichte unseres Faches einmal gesagt wurde, dann entgehen dem Verächter der Philosophiegeschichte jene Argumente, auf die er selbst nicht gekommen ist. Man kann nur mit dem eigenen Kopf denken, der eigene Kopf ist aber nicht der einzige auf dieser Welt. Unser Leben ist viel zu kurz, als das wir uns leisten könnten, schon Gedachtes zu übergehen. Dies gilt gerade dann, wenn von uns originäre Denkleistungen zu erbringen sind. Trägt denn, über die Philosophie hinausgefragt, die Beschäftigung mit der Geschichte derselben - subsumiert unter die Erforschung „der historischen Grundlagen der wisZschr. f. phil. Forsch. 44, 1990, S. 351-374. Friedrich Willhelm Joseph von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhangenden Gegenstände. In: Sämmtliche Werke. Hrsg.: K. F. A. Schelling, Bd. VII, Stuttgart und Augsburg 1860, S. 343 (Anm.).
Die Arbeitsgemeinschaft im 25. Jahr - Rückblick und Ausblick
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senschaftlichen und kulturellen Identität Deutschlands"6 - auch nur etwas bei zur Lösung der uns heute bedrückenden Probleme, wie etwa „Arbeit und Arbeitslosigkeit, [...] Umweltschutz und Technikfolgenabschätzung [...] u.s.w."7? Zum einen sind in den hier zitierten Empfehlungen zur Förderung geisteswissenschaftlicher Zentren des Wissenschaftsrates „die Editionen der Werke von Leibniz, Schleiermacher, Schelling, Hegel o oder Fichte" als Grundlagen der wissenschaftlichen und kulturellen Identität Deutschlands unterbestimmt. Gewiß, zur kulturellen Identität Deutschlands gehören die Werke der Genannten. Aber warum gibt es denn Internationale Fichte-, Hegel-, Leibniz- und Schelling-Gesellschaften? Warum haben sich in Japan eine Fichte- und eine SchellingGesellschaft Japan gebildet? Beansprucht dieses Denken nicht Geltung über jede Nationalität hinaus? Und sind wir Deutschen nicht gerade wegen dieses jede Grenze übersteigenden Anspruchs verpflichtet, die Werke dieser Denker der Welt optimal zu präsentieren? Zum anderen: Die Philosophie und die Gegenwarts- bzw. Zukunftsfragen? Kann man denn über Arbeitslosigkeit reden, ohne an Gerechtigkeit zu denken? Weiß man denn, was man unter der Natur, die man schützen will, versteht? Sagen dazu Kant und Schelling etc. nichts? Brauchen wir deren Theorien alle nicht mehr oder wäre es vielleicht höchst notwendig, uns ihrer zu erinnern? Man muß diese Fragen nur stellen, um die Oberflächlichkeit eines Denkens zu entlarven, das meint, die Gegenwarts- bzw. Zukunftsfragen ohne Philosophie und deren Geschichte allein mit Sozial- und Naturwissenschaften (ohne die sie freilich nicht zu lösen sind) lösen zu können. Fünftens und letztens: Nicht nur im Fach, sondern überhaupt bedarf es noch der Aufklärung über editorische Arbeit, ihre Notwendigkeit und ihren originär wissenschaftlichen Charakter. Die meisten großen philosophischen Editionen sind in Kommissionen der Akademien der Wissenschaften untergebracht. Dies hat Vorteile. Man muß die Förderung nicht jedes Jahr mit viel Zeitaufwand neu beantragen; die Stelleninhaber leben nicht in sozialer Ungesichertheit. Diese Umstände sind schätzenswert. Auch erfreuen sich die Kommissionen hoher Wertschätzung. „Die eigentliche Arbeit der Akademien geschieht in den Kommissionen",9 schrieb vor kurzem Horst Fuhrmann, gegenwärtig Präsident der gastgebenden Akademie und Vorsitzender der Konferenz der Deutschen Akademien der Wissenschaften. Zudem stellt sich die Akademie vor ungerechtfertigte Angriffe auf ihre Wissenschaftler; das ist hoch anzuerkennen. Die Organisationsstruktur von Akademien und deren Kommissionen jedoch leitet sich von jener Vorstellung Theodor Mommsens von geisteswissenschaftlichen Langzeitvorhaben her, „welche" - und darauf kommt es in diesem Zitat aus einem Aufsatz von Rudi-
Empfehlungen zur Förderung geisteswissenschaftlicher Zentren des Wissenschaftsrates, S. 21, zitiert nach Thomas Kempf: Die Weichen für die Zukunft gestellt. In: Forschung und Lehre 9/1995, S. 495. Peter Hanau: Antworten aufprägen der Gegenwart und Zukunft. In: Forschung und Lehre 9/1995, S. 490. Zitiert nach Kempf 1995, vgl. Anm 6, S. 495. Horst Fuhrmann: Wofür braucht die Wissenschaft Akademien? In: Forschung und Lehre 9/1995, S. 488.
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Wilhelm G. Jacobs
ger vom Bruch an - „nicht von einem geleistet, aber nur von einem geleitet werden können."10 Mommsens Vorstellung widerspricht diametral dem Begriff von Edition, den Hermann Krings als unser seinerzeitiger Sprecher mit unserer völligen Zustimmung formuliert hat. Eine Edition, in der einer denkt und viele ausführen, wäre auch danach. Hier entspricht die Struktur der Trägerorganisationen längst nicht mehr der Entwicklung der Editionen (und wohl auch anderer Forschungsunternehmen). Niemand hat dies deutlicher erkannt und ausgesprochen als Hermann Lübbe, selbst Mitglied einer Akademie der Wissenschaften, als er vor einundzwanzig Jahren zu uns sprach. Was wäre denn, sagte er, um die institutionellen Probleme großer Editionen optimal zu lösen, zu tun? [...] Es handelt sich um das zentrale Erfordernis, die Editorentätigkeit zu professionalisieren. Unter Professionalisierung verstehe ich, die Editorentätigkeit karrieremäßig autark zu machen. Das müßte nicht, ja sollte nicht einmal in allen Fällen bedeuten, daß der Wissenschaftsberuf des Editors Lebenszeitberuf ist. Aber es sollte natürlich auch dieses bedeuten können. In jedem Falle müßte es bedeuten, daß die Editorentätigkeit Fortsetzungsmöglichkeiten für den Wissenschaftsberuf schafft und begünstigt, anstatt sie zu gefährden. [...] Die institutionelle Bedingung dafür wäre, daß die Editorentätigkeit denselben Karrierewert hätte, wie hochschullehrerlaufbahnbezogene Forschungstätigkeiten."
Die Konsequenz für die Akademien sieht Lübbe darin, „in den Akademien einen Corpus von Wissenschaftlern zu schaffen, der anderen Ursprungs und anderen Rechts ist als der Corpus der Mitglieder ehrenhalber." Dies begründet er so: Die fällige Professionalisierung der Editoren-Tätigkeit bedeutet nämlich, daß die im Editorenberuf tätigen Wissenschaftler schließlich eine Kompetenz repräsentieren, die forschungspolitisch voll autonom ist und einer Honoratiorenbetreuung sinnvoll nicht mehr unterliegen kann.
„Die Akademie", so resümiert Lübbe, „müßte zu einer Trägerorganisation professionalisierter Forschung sich wandeln." Nun fahrt er fort: Das würde tief eingreifende Änderungen in der gegenwärtigen Akademienstruktur bedeuten, und jeder, der die Akademien von innen her kennt, wird zustimmen, daß deren Empfänglichkeit für eine aktive Forschungspolitik mit der Konsequenz solcher Änderungen nicht groß ist.
Meine Damen und Herren, mein Rückblick endet bei Lübbes Ausblick. Heute, nach einundzwanzig Jahren, sind Lübbes Worte zu zitieren, als spräche er hier und jetzt. Seine Formulierung des zentralen Erfordernisses für eine optimale Struktur von Editions-
Rüdiger vom Bruch: Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert. In: Forschung und Lehre 12/1995, S. 670. Hermann Lübbe: Philosophische Editionen — kulturpolitisch von hohem Rang, wissenschaftlich ohne Präferenz. In: Wirtschaft und Wissenschaft, 2/1976, S. 4. Ebd. 5.
Die Arbeitsgemeinschaft im 25. Jahr - Rückblick und Ausblick
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unternehmen überzeugt voll und ganz; die vergangenen Jahre bestätigen seine Einschätzung der Akademien. Wem Rückblick und Ausblick aufgetragen sind, sieht sich „auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt". Der Blick in die Ferne zeigt diese „weder ganz verhüllt, noch ganz entdeckt".14 Der Ausblick ist nicht nur rosig; dem in die Zukunft Blickenden droht vielmehr Verzweiflung. Mein Text weist diese Perspektive mit Emphase als „Lästerung" zurück.15 Wer die Hoffnung aufgibt, gibt die Vernunft auf. Lessing, den ich als Autor, der uns mit unseren germanistischen Freunden verbindet, zitiere, bringt einen Fingerzeig vom Hügel mit, den er als Frage formuliert. Ihm folgend, ist zu fragen: Sind wir bei der Gelehrten Gesellschaft am rechten Ort, oder würden unsere Editionen in einer selbständigen Forschungsinstitution einen besseren Platz finden können? Eine Frage als Ausblick? Ist das nicht ein bißchen wenig? Wer fragt, verhält sich nicht fatalistisch gegenüber dem Kommenden. Eine Frage zeigt Offenheit - diejenige Offenheit, die dem Kommenden mit Mut und Selbstbewußtsein entgegensieht. Diesen Mut, dieses Selbstbewußtsein und das notwendige - d. i. die Not wendendes - Glück dazu wünsche ich uns für das nächste Vierteljahrhundert.
Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. In: Werke. Hrsg. von Herbert Göpfert. Bd. 8. München 1979, S. 489. Ebd. A. a. O., vgl. Anm. 13, S. 507f.
Editionsförderung
Thomas Kempf
Editionen bei den Akademien der Wissenschaften i. In der forschungs- und technologiepolitischen Diskussion spielen Zeitargumente eine immer größere Rolle - und spätestens mit der Bezeichnung ,Zukunftsministerium' haben solchen Argumente Eingang bis in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Daß die Massenmedien gleichsam in der Luft liegende Sprach- und Denkmuster zu prägnanten Formulierungen verdichten, bestätigt sich auch hier - sei es, daß die Gefahr beschworen wird, „Deutsche verschlafen Schlüsseltechnologien"1, sei es, daß süffisant formuliert wird, man könne sich „nur wundern - nicht darüber, daß Langzeitvorhaben [...] viel Zeit beanspruchen, sondern wie lange sie dauern"2. In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 23. November 1994 hatte es schlicht geheißen: „Der Technologietransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft muß verstärkt werden. Die Umsetzung in marktfähige Produkte muß zügiger erfolgen." Ebenso wurde in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der Alexander von Humboldt-Stiftung, dem Wissenschaftskolleg Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften jüngst veröffentlichten Stellungnahme zur Situation der Forschung in der Bundesrepublik Deutschland gleich zu Beginn der ersten These festgehalten: „Die Bundesrepublik Deutschland ist in Gefahr, entscheidende Zukunftschancen zu verspielen. Die Schaffung neuen Wissens, dessen intelligente Nutzung und schnelle Anwendung werden in modernen Industriegesellschaften immer wichtiger."4 Die Beispiele - die sich ohne Mühe um zahlreiche weitere vermehren ließen - zeigen, daß der Gebrauch des Argumentes der Zeit quer zur Frage des politischen oder wissenschaftlichen Standortes liegt. Anders formuliert: daß hierin ein übergreifendes, die Diskussionslage im allgemeinen charakterisierendes Argumenlationsmuster erkennbar wird. Ebenso ist unverkennbar, daß dieser Diskussionslage ein zweites, ökonomisch ausgerichtetes Argumentationsmuster zugrunde liegt. Dies zeigen die im Zusammenhang mit Wissenschaft und Forschung zumeist im Vordergrund stehenden Bezüge zur Erich Häußer. Nur Innovationen sichern die Zukunft. Deutsche verschlafen Schlüsseltechnologien. Die Kreativität wird zu Tode reglementiert und verwaltet. In: FAZ v. 14. 6. 1994, Verlagsbeilage Deutsche Wirtschaft. Rainer Klofat: Die Themen der Zukunft brauchen ein Forum. In: Rheinischer Merkur v. 16. 6. 1995. Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 23. November 1994. Zitiert nach: Das Parlament. Nr. 48 v. 2. 12. 1994. Priorität für die Zukunft. Erklärung der Wissenschaftsorganisationen. Zitiert nach: Die Zeit, Nr. 5 v. 24. 1.1997,8.33.
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Technologie, zur Anwendung, zur wirtschaftlichen Nutzung. Daß diese Verbindung insbesondere aus Sicht des Bundes hervorgehoben wird, liegt nahe. Es ist nur folgerichtig, daß Bundesminister Rüttgers es als eine „zentrale Aufgabe" bezeichnet hat, „zwischen Wissenschaft und Wirtschaft eine bessere Zusammenarbeit zu erreichen", wie es im Bundesbericht Forschung 1996 heißt.5 Diese Position des Bundes ist durch das im vergangenen Jahr vorgestellte Papier Leitlinien zur strategischen Orientierung der deutschen Forschungslandschaft nachhaltig unterstützt worden. So läßt sich die eingangs getroffene Feststellung dahingehend präzisieren, daß ein gewichtiger Teil der forschungspolitischen Diskussion als Diskussion um die Zeitspanne zwischen dem Start eines Projektes und dem Zeitpunkt der wirtschaftlichen Verwertung seiner Ergebnisse geführt wird.6 Differenzierte Betrachtungen bestimmen nicht das Gesamtbild. Abgewogene Feststellungen, wie die des Präsidenten der NordrheinWestfälischen Akademie, daß sich die „Länge der Wege [...] vom Reagenzglas zur Produktion [...] erheblich unterscheiden", aus einer Betrachtung des tatsächlich sich vollziehenden Erkenntnisprozesses jedoch gleichwohl „gültige Anregungen für die Forschungsförderung und Forschungspolitik resultieren" können,7 sind eher selten. Wenn daraufhingewiesen wird, daß mit einer Zeitspanne von ca. 10 - 15 Jahren zu rechnen ist, wenn man die Frage nach der Anwendung einer im Bereich der Grundlagenforschung gewonnenen Erkenntnis stellt, so bewegen sich Vertreter der Grundlagenforschung auf schwierigem Terrain. Verteidigung der Grundlagenforschung ist häufig Verteidigung der Zur-Verfügung-Stellung von Zeit für die Forschung selbst. In den zitierten Beschreibungen der Aufgaben und Ziele von Forschungsförderung und ihrer Orientierung an schnellen Prozeßabläufen finden sich die Geisteswissenschaften kaum wieder. In diesem, hier nur in groben Zügen umrissenen Kontext aber steht geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung, stehen Editionen heute. Auch wenn die Geisteswissenschaften im Blick auf die zitierten Formulierungen den Eindruck gewinnen mögen, sie seien gar nicht gemeint, färbt dieser Kontext auf die Diskussion um geisteswissenschaftliche Forschung und die Entscheidung über Finanzzuweisungen ab. Man ist geo
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Bundesbericht Forschung 1996, Vorwort. Siehe auch Jürgen Rüttgers: Innovationsorientierung der Forschungspolitik zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland. In: Wissenschaftsmanagement, H. 6. November/Dezember 1996, S. 292-294. Dort S. 294: „Die Forschungsförderung soll in Zukunft die Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft intensiver als bisher unterstutzen." Vgl. hierzu Thomas Kempf: Science and the Humanities. In: One World. The Health and Survival of Human Species in the 21st Century. Edited by Robert Lanza, MD. Santa Fe, New Mexico 1996, S. 255-260. Günther Wilke: Einführung. Vom Reagenzglas zur Produktion - Drei Beispiele zum Thema. In: Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Entdeckung, Erkenntnis, Fortschritt. Wechselwirkungen von Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Mainz 1996, S. 13-18, Zitat S. 13. Siehe auch die Formulierung des Wissenschaftsrates: „Wegen ihrer Bedeutung für den allgemeinen Erkenntnisfortschritt und [...] für die Entwicklung der Gesellschaft muß die universitäre Grundlagenforschung mit langem Atem gefördert werden." Wissenschaftsrat: Thesen zur Forschung in den Hochschulen. Drs. 2765/96 pi. Magdeburg, 15. 11. 1996, S. 47.
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neigt zu sagen, daß insbesondere Editionen gleich von drei Handicaps betroffen sind: Sie gehören zu den Geisteswissenschaften, sie sind Grundlagenforschung und sie dienen anderen Disziplinen, ihre Anwendung verbleibt mithin im System der Wissenschaft selbst. Fragt man vor diesem Zusammenhang nach der Rolle und Bedeutung von Akademien, so läßt sich sagen: Als Träger zahlreicher langfristig angelegter Editionsvorhaben sind die Akademien der Wissenschaften Institutionen zur Bereitstellung von Zeit für dringend benötigte Grundlagenforschung in den Geisteswissenschaften. Als Institutionen - und nur aus diesem Grund seien die Akademien hier hervorgehoben, wohl wissend, daß jede an einem Universitätsinstitut betriebene Edition in gleichem Sinne wirkt - gehören die Akademien zu den wenigen Einrichtungen innerhalb der deutschen Forschungslandschaft, die diese Funktion erfüllen. Fragt man nach der Aufgabe der an Akademien angesiedelten Editionen innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin, so kann man diese Frage mit einer das Selbstverständnis von Akademien überhaupt kennzeichnenden Formulierung beantworten. Deren Kürzestfassung lautet: Akademien klären, wovon überhaupt die Rede ist. Akademie-Editionen klären, wovon überhaupt die Rede ist, wenn von einem patristischen Text, einer Abhandlung Schellings, einer griechischen Urkunde oder einer Inschrift gesprochen wird. In den Editionen der Akademien kondensieren sich gleichsam zwei für das Selbstverständnis von Akademien wesentliche Aspekte - Klärung, wovon die Rede ist und Bereitstellung von Zeit für Forschung. Aus diesem Grunde haben Editionen für die deutschen Akademien eine so große Bedeutung. Daß damit zugleich eine über die Akademien hinausreichende Bedeutung verbunden ist, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein.9
II.
Bereits weit im Vorfeld der Einrichtung des ,Akademienprogramms' durch Abschluß fax Ausführungsvereinbarung Akademienprogramm vom 12. Dezember 1978/19. Oktober 1979 haben die Akademien über ein Konzept zur Förderung von Editionen im Rahmen einer Bund-Länder-Finanzierung beraten. Schon auf der ersten Sitzung des Senats der Konferenz der Akademien der Wissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland, die sich erst ein halbes Jahr zuvor durch Unterzeichnung einer Satzung fester etabliert hatte, haben die Akademien am 30. November 1973 in München schriftlich festgehalten, daß von ihnen betriebene Forschungsvorhaben nach folgenden Kategorien zusammengefaßt werden sollen:
Vergl. Wolfgang Frühwald u. a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Konstanz 1990, S. 231: „Das größte Geschenk, das der geisteswissenschaftlichen Forschung gemacht werden kann, ist Zeit für den Einzelforscher."
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1. Editionen und Erschließung von Quellen, 2. Wörterbücher, 3. Langfristige Vorhaben auf den Gebieten der Archäologie und Kunstwissenschaften, der Historischen Forschung und der Sozialwissenschaften, 4. Langfristige, insbesondere lacherverbindende Vorhaben im Bereich der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung.10 Über dieses Ergebnis der Beratungen, an dessen Reihung sich auch eine gewisse Gewichtung ablesen lassen mag, hat der Vorsitzende der Konferenz, Präsident Zimmerli von der Göttinger Akademie der Wissenschaften, den damaligen Bundesminister für Forschung und Technologie Professor Horst Ehmke mit Schreiben vom 20. Dezember 1973 unterrichtet und ergänzend hinzugefügt: „Die Einzelüberlegungen, welche Unternehmungen in die geplante Bund-Länder-Finanzierung übernommen werden sollen, sind angelaufen. "" Nach Abschluß der Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über eine gemeinsame Förderung der Forschung nach Artikel 91b GG und Gründung einer ,Ad-Hoc-Gruppe Akademienprogramm' bei der Bund-Länder-Kommission nahmen diese „Einzelüberlegungen" konkrete Gestalt an. Sie mündeten schließlich in die Vorlage einer Vorhabenliste, die der Bund-Länder-Kommission mit Schreiben vom 18. Juni 1976 zuging. Diese Vorhabenliste bildete den unmittelbaren Ausgangspunkt für das Akademienprogramm. Die Gesamtzuwendung für das auf dieser Grundlage zum 1. 1. 1979 eingerichtete Akademienprogramm betrug insgesamt 15,2 Mio Mark, von denen 8,8 Mio Mark auf die Vorhabengruppe ,Editionen' entfielen. Wenngleich in dieser Vorhabengruppe - bis heute - sehr unterschiedliche Editionen verschiedener Fachrichtungen gefördert werden, die bei strenger Betrachtung wohl nicht alle als Editionen (zumindest im Sinne von ,Werk-' oder ,Texteditionen') zu bezeichnen sind, wie z.B. das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, so wird doch an der Tatsache, daß annähernd 60% der Fördermittel auf diese Vorhabengruppe entfielen, das Gewicht ablesbar, welches den Editionen innerhalb der Akademieforschung zukommt. Gefördert wurden ab 1. 1. 1979 Editionen u. a. der Werke von M. Bucer, Cusanus, Melanchthon, Protokoll der Sitzung des Senats der Konferenz der Akademien der Wissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland vom 30. 11. 1973, S. 4. Schreiben des Vorsitzenden der Konferenz an Bundesminister Ehmke vom 20. 12. 1972, Archiv der Konferenz K 09 180, Bd. 1. Zwischenzeitlich hatte der Wissenschaftsrat seine ältere Empfehlung aus dem Jahre 1965 bestätigt, die Akademien sollten sich insbesondere langfristiger Editionen, Wörterbücher und Corpora annehmen. Siehe Wissenschaftsrat: Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu Organisation, Planung und Förderung der Forschung, o. O. 1975, S. 209. Die dort ausgesprochene Empfehlung, den Akademien hierzu entsprechende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, wurde mit dem Akademienprogramm umgesetzt, wenngleich der Wissenschaftsrat ursprünglich daran gedacht hatte, daß allein die Sitzländer der Akademien hierfür aufkommen sollten. Siehe: Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil III: Forschungseinrichtungen außerhalb der Hochschulen. Akademien der Wissenschaften. Museen und wissenschaftliche Sammlungen. Band 2, o. O. 1965, S. 16.
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Kepler, Fichte, Schelling, Kant, Hegel, die Urkundenedition Ada Pads Weslfalicae, Textausgaben der Patristik, die Ketteier-Ausgabe, Hethitische Keilschriften sowie musikwissenschaftliche Editionen der Werke von Orlando di Lasso, Bach, Haydn, Mozart und Einzelausgaben innerhalb der Reihe Das Erbe deutscher Musik. Mit diesem Schwerpunkt hat das Akademienprogramm von Beginn an einen unverwechselbaren Akzent innerhalb der Forschungslandschaft der Bundesrepublik gesetzt. Hatte schon die Rahmenvereinbarung mit der ausdrücklichen Erwähnung, daß „auch ein von der Konferenz der Akademien der Wissenschaften koordiniertes Programm" unter die Rahmenvereinbarung fallt, der Akademieforschung im Zusammenhang der gemeinschaftlich finanzierten Forschung in Deutschland eine besondere Rolle zugewiesen, so erhielt dies mit Einrichtung des Akademienprogramms auch inhaltlich seine eindrucksvolle Rechtfertigung. In den nachfolgenden Jahren hat sich das Programm insbesondere durch die Überführung von Vorhaben aus der Finanzierung durch die DFG in das Akademienprogramm entwickelt. 1984 konnten fünfzehn Vorhaben, 1986 sieben Vorhaben, 1990 elf Vorhaben und zum 1.1. 1997 vier Vorhaben durch Überführung ins Akademienprogramm langfristig gesichert werden. Erst in den vergangenen beiden Jahren konnten wieder neue Vorhaben der Akademien direkt - d.h. ohne Anfinanzierung über die DFG - in das Programm aufgenommen werden -, bezeichnenderweise waren es auch hier vor allem Editionen (Religionsgespräche des 16. Jahrhunderts, Werke Winckelmanns, Schriften Lichtenbergs). Die Darstellung der Einbeziehung von Editionen der früheren Akademie der Wissenschaften der DDR im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wäre ein eigenes Kapitel.14 Das Akademienprogramm jedenfalls hat durch die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften betreuten Vorhaben einen Zuwachs von mehr als fünfzig Vorhaben , also nach Anzahl der Vorhaben um annähernd 30 % erhalten. Das Akademienprogramm ist heute in Deutschland das größte Programm zur Förderung der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung außerhalb der Universitäten. Betrachtet man die Förderung der geisteswissenschaftlichen Fächer im engeren Sinne (Alte und orientalische Kulturen, Sprach- und Literaturwissenschaften, Volkskunde, Geschichtswissenschaften, Kunstwissenschaften, Völkerkunde und Philosophie), so entsprach das Fördervolumen der durch die sieben Akademien der Wissenschaften verantworteten geisteswissenschaftlichen Forschung im Akademienprogramm im Jahre 1993 der Gesamtsumme der Förderung aller geisteswissenschaftlichen Projekte im Normalverfahren der DFG. Der Wissenschaftsrat hat in seinen Empfehlungen zur Förde-
Rahmenvereinbarung zwischen Bund und Ländern über die gemeinsame Förderung der Forschung nach Artikel 91b GG, Protokollnotiz zu Artikel 2, Absatz l, Nr. 7. Siehe Heinz Georg Wagner: Langfristvorhaben in den neuen Bundesländern. In: Akademie-Journal, Heft 1/92, S. 9-12. Zum allgemeinen Zusammenhang siehe Thomas Kempf: Die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Akademien der Wissenschaften im Überblick. In: Forschung und Lehre 9/95, S. 494-496.
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rung Geisteswissenschaftlicher Zentren vom November 1994 die Gesamtförderung der DFG für die Geisteswissenschaften im Normalverfahren mit 58,0 Mio Mark beziffert. Demgegenüber betrug die Förderung der entsprechenden Vorhaben im Akademienprogramm - Wörterbücher und Editionen - insgesamt rund 57,0 Mio Mark. In der gleichen Empfehlung hat der Wissenschaftsrat ausgeführt: „Die geisteswissenschaftlichen Vorhaben [der Akademien] widmen sich den historischen Grundlagen der wissenschaftlichen und kulturellen Identität Deutschlands am Beispiel zentraler Problemkomplexe und herausragender Persönlichkeiten"15 und als Beleg die Editionen der Werke von Leibniz, Schleiermacher, Schelling, Hegel und Fichte genannt. Im laufenden Jahr 1997 erhält das Akademienprogramm eine Gesamtzuwendung von insgesamt 71,7 Mio Mark, davon entfallen 46,9 Mio Mark, also rund 65 %, auf die Vorhabengruppe »Editionen'. Das Spektrum reicht heute von den schon für das Ausgangsjahr 1979 genannten Editionen, die sich bis auf die Werke Kettelers alle noch in der Förderung befinden, über Editionen der Werke von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, Tschirnhaus, Wieland, Forster, Soemmering, Alexander von Humboldt, Jean Paul, Winckelmann, Lichtenberg, Goethe (naturwissenschaftliche Schriften) und Stifter bis zu byzantinischen Rechtsquellen, Urkunden Kaiser Friedrichs III, Inschriften-Editionen, der Edition von Papyrusurkunden aus der Turfan-Oase und Quellen zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik von 1867-1914, Musikeditionen der Werke von Schönberg, Wagner, Schumann, Mendelssohn Bartholdy und anderer bis zur Edition der Werke Max Webers und der seit Beginn der Übernahme mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit bedachten Marx-Engels-Gesamtausgabe. Insgesamt werden innerhalb der Vorhabengruppe „Editionen" des Akademienprogramms im Jahre 1997 Mittel für 335 wissenschaftliche und 68,5 nichtwissenschaftliche Stellen zur Verfügung gestellt, so daß in dieser Vorhabengruppe rund 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt sein dürften. Die Editionen werden auch in Zukunft ihren Stellenwert bei den Akademien behaupten. Dennoch ist festzustellen, daß sich das Akademienprogramm nach fast zwanzigjährigem Bestehen in einer Phase des Umbruchs und der Neuorientierung befindet. In den nächsten zehn Jahren werden zahlreiche Vorhaben beendet werden. Nach der gegenwärtigen Beschlußlage der Zuwendungsgeber im Ausschuß Akademienvorhaben enden bis zum Jahre 2007 ca. 70 Vorhaben mit einem Fördervolumen von rund 28 Mio Mark. In diesen Vorhaben sind mehr als 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt. In mehreren Fällen werden Modifikationen dieser Beschlußlage notwendig sein, um zu vermeiden, daß Vorhaben kurz vor ihrer Vollendung abgebrochen werden. Die Tatsache aber, daß das Akademienprogramm nach Ablauf der kommenden zehn Jahre ein anderes Gesicht haben wird, ist wohl unbestritten. Vielleicht wird es in Einzelfällen zu einer harten Entscheidung kommen müssen, weil die Akademien darauf zu achten haben, daß sich Vorhabenförderung nicht unterderhand zu institutioneller FördeWissenschaftsrat: Empfehlungen zur Förderung Geisteswissenschaftlicher Zentren (Drs. 1751/94). Stuttgart 11. 11. 1994,8.20.
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rung entwickelt. Die Zuwendungsgeber haben in den bisherigen Gesprächen deutlich zum Ausdruck gebracht, daß arbeitsrechtliche Sachverhalte als Begründung für die Verlängerung oder Neuaufnahme von Vorhaben nicht akzeptiert werden. Nach der glückhaft verlaufenen Phase einer nachgerade naturwüchsigen Entwicklung des Akademienprogramms müssen die Akademien gezielter als bisher Vorstellungen darüber entwickeln, wo Schwerpunkte zu setzen und wo die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bündeln sind. Die eigentliche Herausforderung besteht deshalb darin, die fachlich-inhaltliche Weiterentwicklung des Programms zu bewältigen, die dringendsten Bedarfe zu identifizieren und gezielt aufzugreifen und sich für Entwicklungen offenzuhalten, die heute noch nicht absehbar sind. Die Bewältigung dieser Aufgabe kann nur gelingen, wenn zugleich konstruktive Gespräche mit den Zuwendungsgebern in Bund und Ländern geführt werden, um den Zuwendungsgebern die Gelegenheit zu geben, das als wissenschaftlich richtig Erkannte nachzuvollziehen und die notwendigen Bedingungen für dessen Umsetzung zu schaffen. Angesichts der geschilderten Bedeutung, die den Editionen im Rahmen des Akademienprogramms in den vergangenen fast zwanzig Jahren in der außeruniversitären geisteswissenschaftlichen Forschung zugewachsen ist und eingedenk der Tatsache, daß sich das Programm in einer Situation des Umbruchs befindet, soll abschließend auf zwei Aspekte hingewiesen werden, die für die Zukunft langfristiger Vorhaben im allgemeinen und wohl für Editionen im besonderen von Bedeutung sind. Daß langfristig angelegte Vorhaben methodisch, arbeitstechnisch und im Hinblick auf angemessene Publikationsformen auf der Höhe der Zeit bleiben müssen und daher von Zeit zu Zeit einer Neuorientierung bedürfen, ist eine Selbstverständlichkeit. Deren Hervorhebung ist didaktisch richtig, deren Umsetzung mag schwierig sein, deren Betonung führt der Diskussion aber kein neues Argument zu. Aber Korrekturen am Einzelfall sind nur dann sinnvoll, wenn Einigkeit über die Sinnhaftigkeit der gesamten Unternehmung besteht. Die für alle langfristigen Vorhaben ungleich wichtigere Frage als die nach einer wie auch immer zu beschreibenden .Aktualität' ist daher die, ob innerhalb der Wissenschaften überhaupt langfristige Forschung nachgefragt wird oder nicht. Als Kriterium kann hier einzig der Erfolg eines Langfristvorhabens, etwa einer Edition herangezogen werden. Langfristige Editionen sind dann erfolgreich, wenn sie dauerhaft eine Leistung innerhalb ihrer Disziplin erbringen - z. B. indem nach den geltenden Standards der Forschung Material bereitgestellt wird - und sie eine Funktion für andere benachbarte Disziplinen übernehmen, - die Editionen also anschlußfähig sind für andere Disziplinen. Diese Feststellung ist nicht trivial.16 Die Übernahme einer bloß langandauernden Arbeit besagt wenig. Viele Wissenschaftszweige kommen ohne Langfristvorhaben aus. Die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln über einen Zeitraum Vgl. Annemarie Pieper: Akzeptanzbarrieren für philosophische Editionen? In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11. - 13. Juni 1992 Berlin). Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994, S. 55-61.
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von bis zu mehreren Jahrzehnten ist nicht selbstverständlich und die jahrzehntelange Arbeit an einer Edition, deren Erscheinen außerhalb des unmittelbar betroffenen Fachgebietes nicht nachgefragt wird, kann mit guten Gründen angezweifelt werden. Einzig im Erfolg von Editionen schlägt sich nieder, ob es einen Bedarf an Kontinuität, ob es einen Bedarf an wissenschaftlich-kulturellem Gedächtnis gibt, - über diesen Erfolg, die positive Bewertung der Leistungen und Funktionen einer Edition, entscheidet gleichwohl allein das Urteil der Wissenschaft selbst. Weder die Auflagenhöhe noch die Zitierhäufigkeit einer Edition in Politikerreden noch gar die vom Editionsleiter eingegangenen joint ventures mit der Automobilindustrie können hierzu herangezogen werden. Dies gilt auch, wenn man aus Gründen der Verständigung vor allem mit politischen Stellen gelegentlich daran erinnern muß, daß ein Großteil der Editionen und Langfristvorhaben dem Erhalt des kulturellen Erbes gewidmet sind, und sie von daher ein über die Fachwelt hinausreichendes nationales Interesse beanspruchen können. Der Anspruch auf dieses allgemeine gesellschaftliche Interesse führt zu einem weiteren Aspekt. Hierzu sei einleitend ein weit zurückliegendes Beispiel zitiert. Als Georg Christoph Lichtenberg 1770 zur Aufnahme in die Göttinger Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen wurde, lautete die Begründung für die zunächst abschlägige Entscheidung, er habe das, was „man zu einem Mitglied der Societät erfordert, [...] bisher noch nicht leisten können". Nachdem Lichtenberg vier Jahre später, 1774, den ersten Band der von ihm besorgten Edition der Opera inedita des Göttinger Astronomen Tobias Mayer vorgelegt hatte, konnte Lichtenbergs Fürsprecher, der Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner der Akademie mitteilen, Lichtenberg habe sich „vortheilhaft gezeigt" lR _ und werde der Akademie „Ehre machen können". Die Edition der Werke von Tobias Mayer ist daher auch zu Recht als Lichtenbergs „Qualifikationsdokument und Beglaubigungsurkunde für den internationalen Kreis der Naturwissenschaftler"19 bezeichnet worden. Die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Edition wird heute außerhalb der Wissenschaft bisweilen als eine Art teure Fleißaufgabe betrachtet, deren Nutzen zweifelhaft ist. Demgegenüber wäre hervorzuheben, daß die großen Editionen in der Tat „Qualifikationsdokumente und Beglaubigungsurkunden" sind - und zwar nicht nur für die einzelnen Mitarbeiter, sondern auch für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft im internationalen Zusammenhang, denn viele Editionen werden in internationaler Kooperation betrieben oder machen Kulturgut von europäischem Rang zugänglich. Eine solche öffentliche Anerkennung der Bedeutung von Editionen wäre auch der Motivation der jüngeren Mitarbeiter förderlich.
Zitiert nach Ulrich Joost: Die Respublica litteraria, der gelehrte Zunftzwang und ein Beispiel wahrer Liberalität. Nachrichten über Forster, Lichtenberg und einige ihrer Zeitgenossen. In: Göttinger Jahrbuch 1979, S. 159-175, Zitat S. 166. Joost 1979, vglAnm.17, S. 167. Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung. Hg. von Hans Ludwig Gumbert. 2 Bde. Wiesbaden 1977. Zitat Bd. 2, S. 194.
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III.
Die einleitenden Hinweise auf den allgemeinen forschungspolitischen Kontext, in dem Editionen heute stehen, können vielleicht dazu anregen, sich in der gegenwärtigen Diskussion realistisch zu orientieren. Das Wissen um diesen Kontext sollte nicht dazu führen, eine Haltung der Verteidigung oder Rechtfertigung einzunehmen. Es kann aber vielleicht dazu ermuntern, das besondere Profil und den besonderen Wert von Editionen noch deutlicher nach außen zu vermitteln, wie dies in den letzten Bemerkungen angesprochen wurde.
Thomas Wiemer
Der verlorene Glorienschein: Editionsförderung außerhalb der Akademien der Wissenschaften
Wer das Edieren philosophischer Texte sich zur Aufgabe macht, wird der Meinung sein, daß sich aus den Einsichten der Vergangenheit für die Gegenwart und womöglich auch für die Zukunft etwas lernen läßt und daß es deshalb lohnen könnte, diese Einsichten zu überliefern und kommentierend zu erschließen. Dies gilt gewiß nicht nur für Einsichten, die in philosophischen Texten zur Sprache kommen. Ein Sprung zurück in die außerphilosophische Vergangenheit sei daher zu Beginn erlaubt. Er führt uns in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und läßt uns zu späten Zeugen der folgenden Unterredung werden (ihr Ort ist ein nicht sehr vornehmes Lokal in Paris): „Was, Sie hier? Sie in einem solchem Lokal? Sie, der sie sonst nur Quintessenzen schlürfen! Sie, der Sie sonst nur Ambrosia speisen! Wahrhaftig, das ist eine Überraschung." „Lieber Freund, Sie kennen meine Angst vor Pferden und Wagen. Wie ich vorhin sehr in Eile den Boulevard Überquerte und mitten durch das rasende Chaos über Pflltzen sprang, wo der Tod von allen Seiten zugleich auf einen zu galoppiert, glitt mir bei einer hastigen Bewegung mein Glorienschein vom Kopf und fiel in den Straßenschmutz. Ich hatte nicht den Mut, ihn aufzuheben. Ich hielt es für weniger schlimm, eine Auszeichnung zu verlieren, als mir die Knochen zerbrechen zu lassen. Und dann, so habe ich mir gedacht, jedes Unglück hat sein Gutes. Jetzt kann ich mich inkognito bewegen, niederträchtige Handlungen begehen und wie gewöhnliche Sterbliche mich der Ausschweifung hingeben. Und hier bin ich nun, ganz wie Sie, wie Sie sehen!" „Sie sollten den Verlust Ihres Glorienscheins wenigstens anzeigen oder bei der Polizei melden." „Weiß Gott, nein! Ich fühle mich sehr wohl hier. Sie sind der einzige, der mich erkannt hat. Übrigens langweilt mich meine Würde. Außerdem denke ich mit Freude daran, daß irgendein schlechter Dichter ihn finden könnte und ihn sich schamlos auf den Kopf setzt. Welches Vergnügen, jemanden glücklich zu machen! Und vor allem, wenn der glückliche Finder mich zum Lachen bringt! Stellen Sie sich vor, wenn ihn X oder Z findet! Das wäre wirklich zum Lachen!"1
Der Autor dieser leicht sarkastischen Unterredung ist als , Dichter der Modernität' in die Geschichte eingegangen. Einer Modernität, an der er selber schöpferischen Anteil hatte, nicht nur als einer derjenigen, die das Wort ,modemite' in der Mitte des letzten 1
Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Les Fleurs Du Mal. Kleine Gedichte in Prosa. Le Spleen de Paris. Zweisprachige Ausgabe. München (Winkler) o. J., S. 623.
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Jahrhunderts erstmals verwenden und buchstäblich salonfähig machen, sondern der Sache nach: indem er die Suche des modernen Künstlers nach den bizarren Reizen der Großstadt zum poetischen Credo erhebt und zum Programm des eigenen Schreibens macht. In dem die Sinne überanstrengenden Reizklima der Metropole das Medium finden, das in den Banalitäten des Alltags den Wink des Geheimnisvollen aufscheinen läßt - Charles Baudelaire hat das in immer neuen Variationen erprobt, in seinen Tableaux Parisiens, dem zweiten Zyklus der Fleurs Du Mal, die ihn berühmt gemacht haben, wie in seinen Prosagedichten. Das Szenario des verlorenen Glorienscheins kommt also nicht von ungefähr: der Boulevard, den man nur hastig überqueren kann, will man sich nicht „die Knochen zerbrechen lassen", der Straßenschmutz, das rasende Chaos, in dem „der Tod von allen Seiten zugleich auf einen zu galoppiert". Die vergnügliche Verlustgeschichte spielt unter den Zeichen von Beschleunigung, Gefährdung und turbulentem Verkehr, die zur Signatur der modernen Großstadt schon zur Mitte des letzten Jahrhunderts gehören. Es ist eine Epoche, in der mit der aufkommenden Mechanisierung die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Einheit sich entscheidend verändert, in der natürliche Gegebenheiten künstlichen Prozessen weichen, die Nacht etwa dem künstlichen Tag dank der Erfindung und Verbreitung des Gaslichts, dann des elektrischen Lichts, in der Geschwindigkeit zu einer neuen und atemberaubenden Erfahrung wird. Die Eisenbahnfahrt ist, verglichen mit der Postkutschenreise, der Präzedenzfall eines Zeitgewinns und eines Verlustes von Landschaft, der alle Sinne betrifft, in der die Wahrnehmung selbst sich gleichsam ,mechanisiert'.2 Die Nahsicht geht wie der Horizont als ganzer verloren, die Welt schrumpft wie bei der Fließbandarbeit zum distanzierten Ausschnitt zusammen, der eilig vorüberzieht. Die Irritationen geläufiger Wahrnehmungsmuster und ein gewisser Schwund an unmittelbarer Erfahrung provozieren indessen eine neue, den technischen Veränderungen entsprechende Sensibilität. Sie findet beispielhaft ,ihr Medium' in der Fotografie zunächst, später im Film. Deren Abbildungsverfahren gestatten, die mechanisierte Welt aus ihrem fotografischen Klischee heraus zu verstehen, und zwar vielfach besser, adäquater zu verstehen als mit dem natürlichen Blick. In ihrem Sinn fürs Detail, für das Übersehene oder, beim Film etwa, in dem ihm eigenen Tempo, der Fragmentarisierung von Wirklichkeit, der Aufdeckung ungeahnter Perspektiven und Zusammenhänge. Mit der Etablierung des Fernsehens erreicht die Veränderung der Wahrnehmung noch einmal eine neue Qualität. Das Medium Fernsehen ist weit damit vorangekommen, eine zweite Wirklichkeit zu produzieren, die mehr und mehr die erste, unmittelbar erfahrene zurückdrängt und die Unterscheidung beider immer schwieriger, vor allem aber belangloser macht. Die elektronische Gleichzeitigkeit von Geschehen und Sehen läßt die räumlichen und faktischen Distanzen vergessen und enthebt sie ihrer Bedeutung. Die schier unbegrenzten Möglichkeiten, überall ,live' dabeizusein, ersparen den Gang zu den Ereignissen selbst und suspendieren von der Mühe der aktiven Teilnahme 2
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Peter Zec: Informationsdesign. Die organisierte Kommunikation. Zürich 1988, S. 42ff.
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Thomas Wiener
an ihnen. Das Sehen hat sich dabei unversehens schon verwandelt, das wahrnehmende geht über in ein nur flüchtig unterhaltenes Sehen, die Kenntnisnahme verschwimmt zum bloßen Augenreiz. Die enorme Geschwindigkeit, mit der in einem stetigen Strom aus Licht ein Bild ins nächste hinüberwächst, überfordert das menschliche Gehirn und läßt ihm jedenfalls nicht die Zeit, das Gesehene selbst zu strukturieren und zu kontrollieren, schon gar nicht zu kritisieren. Warum, so werden Sie sich längst gefragt haben, erzähle ich Ihnen das alles, wo doch ein ganz anderes Thema angekündigt war? Nun, wer im Zeitalter von world wide web und eines neuen mediengerechten Analphabetismus daran festhält, die Schriften philosophischer Klassiker und ihrer Nachfahren zu edieren, muß sich wohl - im übrigen ebenso wie derjenige, der solches Treiben mit öffentlichen Mitteln unterstützt - fragen lassen, ob er nicht zu den Erben jenes schlechten Poeten gehört, über den sich der Verlierer des Glorienscheins in Baudelairs Geschichte schon im vorhinein amüsiert hat. Nicht deshalb, weil er ahnungslos wäre in Bezug aufsein Erbe, wohl aber deshalb, weil daran immer noch festzuhalten genauso kurios erscheinen mag wie das Aufheben und Tragen eines zerbeulten Glorienscheins. Doch vielleicht ist das nicht alles. In Baudelaires Geschichte findet sich am Ende der Verlust in der Perspektive des Gewinns; ,jedes Unglück hat sein Gutes", hieß es, und wäre es auch nur das bitter ironische des Inkognito. Ob die mediale Durchdringung aller Lebensbereiche zum Unglück gerät oder sich als Gewinn erweist, entscheidet sich letztlich - und immer neu - an dem Gebrauch, den wir von den Medien machen, und an der Frage, ob dieser Gebrauch erfinderischer ist als die Gewohnheiten und Mechanismen, durch die wir uns von den Medien gebrauchen lassen. Gewiß bedarf es neben ausgeprägter Lernbereitschaft einer großen Beharrlichkeit und einer Menge Phantasie, um angesichts der medialen und informatorischen Überpräsenz die Fähigkeit zur Auswahl und zur kritischen Nutzung wachzuhalten. Nichts wird gehen, nichts wird gutgehen ohne empfindliche Leser. In diesem Kontext gewinnt das Edieren philosophischer Schriften neue Aktualität. Weil es zu genauem Hinschauen und geduldiger Lektüre anhält. Weil unter den Bedingungen permanenter Informationsüberflutung die Anleitung zu eigenständigem Denken und das Beispiel kritischen Urteilens wichtiger werden denn je. Darin liegt mehr als kulturelle Denkmalpflege. Doch will ich Sie jetzt nicht länger auf die Folter spannen und Ihnen endlich verraten, l. warum speziell auch die DFG Editionen fördert, 2. in welchem Rahmen sie das tut und welche Schwierigkeiten sie damit hat und schließlich 3. welche Entwicklungsperspektiven aus ihrer Sicht sich abzeichnen. l. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft dient der Wissenschaft in allen ihren Zweigen durch finanzielle Unterstützung von Forschungsvorhaben. Im Bereich der Geisteswissenschaften, insbesondere der Textwissenschaften und der historischen Disziplinen, kommt den Werkausgaben und Wörterbüchern große Bedeutung zu, nicht
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nur weil sie unverzichtbare Hilfsmittel und die Materialien bereitstellen, mit denen in diesem Bereich geforscht wird, sondern weil die zu deren Erarbeitung notwendigen Vorgänge - Suchen, Sammeln, Vergleichen, Überprüfen, Kommentieren - wesentlich selbst Forschungsprozesse bilden. So ist es nur konsequent, daß die DFG auch in diesem Bereich fordert. 2. Sie hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine beachtliche Reihe wichtiger Editionsvorhaben übernommen, schon aus dem schlichten Grund, weil sich dafür zunächst kein anderer Träger fand. Kriterien einer besonderen wissenschaftlichen Bedeutung für das jeweilige Fach oder Fächerspektrum und hoher wissenschaftlicher, auch editionstechnischer Qualität spielten dabei von Beginn an eine Rolle. So hat die DFG über die Jahre Editionen ermöglicht, die ihrerseits Maßstäbe gesetzt haben, der Averroes Latinus, die Fichte-, die Kant- und die Hegel-Ausgabe, die Leibniz-Edition, die Schriften Schellings, Schleiermachers, Nietzsches und Diltheys, das Historische Wörterbuch der Philosophie, um nur diese zu nennen. Die meisten von ihnen werden inzwischen durch die Akademien weitergefördert, und das ist gut so. Denn das normale Geschäft der DFG steht mit seiner Projektorientierung, seinen in der Regel nur zweijährigen Bewilligungen und dem System ständig wechselnder Gutachter in unverkennbarer Spannung zu der besonderen Struktur solcher oft auf Jahrzehnte und damit auf Kontinuität angelegter Unternehmen. 3. Allerdings hat sich die DFG mit ihrem Ausschuß für langfristige Unternehmen ein Instrumentarium geschaffen, das die genannten Spannungen bis zu einem gewissen Grade kompensiert. Während die Fachgutachter die Neu- und Fortsetzungsanträge vornehmlich aus der Perspektive ihrer jeweiligen Disziplinen beurteilen, wird im Langfristausschuß geprüft, ob übergeordneten, im besonderen für Editionen und Wörterbücher wichtigen Erfordernissen Genüge getan ist. Der Ausschuß prüft insbesondere, ob die relevanten Materialien verfügbar bzw. Zugangsrechte nachgewiesen sind, eine überzeugende Zeit- und Arbeitsplanung vorliegt, hinlänglich präzise Vorstellungen für die Textpräsentation und - kommentierung bestehen und die personelle Seite des geplanten Unternehmens überzeugen kann. Über diese konkreten Begutachtungsaufgaben hinaus hat der Langfristausschuß in seiner Arbeit allgemeine editionspolitische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 4. Die DFG fördert derzeit 89 Editions-, Wörterbuch- und Grabungsprojekte als sogenannte ,Langfristvorhaben'. Als langfristig gilt dabei, was eine Förderungsdauer von sieben Jahren überschreitet. Hinzu kommt die Förderung kleinerer Editionsprojekte und von in sich abgeschlossenen Teilen größerer Editionen, in der Philosophie zum Beispiel einzelner Bände der Husserliana, die in den Husserl-Archiven in Köln und Freiburg erarbeitet werden, ohne daß die Husserliana insgesamt ein Langfristvorhaben der DFG bilden. Entscheidend ist hier wie bei den größeren Vorhaben eine verläßliche Zeit- und Arbeitsplanung, die die Abschließbarkeit der Projekte nicht zu einer Folge uneingelöster Versprechen werden läßt. Denn natürlich beschneiden die Verzögerungen bei laufenden Vorhaben die Möglichkeiten, neue Projekte in die Förderung aufzunehmen. Auf die faire Chance für neue Initiativen aber wird besonderer Wert gelegt, so daß schon von daher ein zu hoher Anteil langfristiger Vorha-
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Thomas Wiemer
ben sich verbietet. Freilich steht die Möglichkeit zur Aufnahme neuer Projekte anders als im Akademienprogramm nicht in direkter Abhängigkeit von der Beendigung laufender Vorhaben, denn die DFG hat keinen festen Etat für Langfristvorhaben. Die Neu- und Fortsetzungsanträge für Editionen konkurrieren immer aufs neue mit denen für alle anderen Forschungsprojekte eines Faches. Auf diese Weise läßt sich das Verhältnis von langfristigen und aktuellen Projekten beständig neu austarieren, und es sind die Wissenschaftler selber, die über die Gutachter und die Vertreter in den Entscheidungsgremien diese Verhältnisbestimmung für ihr Fach vornehmen und der jeweiligen Bedarfslage anpassen können. 5. Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, daß auch bei der DFG das Goldene Zeitalter der Editionen, wenn es denn je existiert hat, nicht in unsere Tage hinüberreicht. Der Respekt davor, größere Summen auf längere Frist zu binden, ist merklich gewachsen. Doch es ist nicht zuerst eine Frage des Geldes oder seiner Verknappung. Es sind die Veränderungen der Wissenschaftslandschaft insgesamt, ihrer Organisation und ihrer inneren Struktur, die das Editionsgeschäft nicht eben begünstigen. Die sich vollziehende Transformation des Wissenschaftsprozesses infolge zunehmender Digitalisierung und Visualisierung der Wissensbestände und die gleichzeitig zunehmende Bedarfsorientierung der Forschung sind nur zwei Stichworte in diesem Zusammenhang. Nicht daß diese Vorgänge das Edieren wichtiger Texte künftighin erübrigten. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein, wie ich im ersten Teil meiner Überlegungen zu erläutern versucht habe. Nichts spricht dafür, daß der Computer das Buch ersetzen wird, so wenig wie der Buchdruck die Handschrift und das Telefon das persönliche Gespräch erübrigt haben. Aber das Edieren selber wird sich, wie die Bedingungen, unter denen es stattfindet, ändern und anders orientieren müssen, wenn es weiterhin stattfinden soll. Lassen Sie mich dies abschließend an einigen Punkten konkretisieren. Ich gehe dabei jeweils von Änderungen aus, die sich in den Rahmenbedingungen für Forschung und Forschungsförderung in den letzten Jahren ergeben haben, und frage von daher nach möglichen oder schon absehbaren Konsequenzen für die Planung von Editionen. a) Das erste Stichwort ist das der knapper gewordenen finanziellen Ressourcen. Die Mittelkürzungen und Stellenstreichungen an den Hochschulen ziehen einen Antragszuwachs bei der DFG nach sich, der die dort immer noch gegebene leichte Etatsteigerung um ein Vielfaches übertrifft. In dem so von Jahr zu Jahr strengeren Wettbewerb um Forschungsgelder wird es für Gutachter und Gremien zunehmend schwieriger, für große Investitionen und langfristige Festlegungen zu votieren. Diese Entwicklung begünstigt tendenziell den kleinformatigen Editionstyp, die intelligente Auswahl eher als die nach Vollständigkeit strebende Gesamtausgabe. Oder, wie schon angedeutet, eine Editionsplanung, die das Gesamtcorpus in überschaubare, in sich abschließbare Teilprojekte zerlegt und so auch sinnvolle Teilförderungen zuläßt.
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b) Digitalisierung und Vernetzung. Selbst wenn das Ende und die Konsequenzen der gegenwärtig stattfindenden ,elektronischen Revolution' noch längst nicht absehbar sind, steht fest, daß sie auch in der editorischen Arbeit Anpassungen und Umstellungen großen Ausmaßes fordert. Neue Editionsprojekte ohne Konzeptionen für eine intelligente Nutzung der Computerunterstützung, der Möglichkeiten des electronic publishing und darauf abgestimmter Editionskonzepte werden kaum noch reüssieren. Es gibt bereits beispielhafte Versuche (im Bereich der Wissenschaftsgeschichte etwa die Edition der umfangreichen wissenschaftlichen Korrespondenz und unpublizierter Schriften des Physikers Arnold Sommerfeld), und nicht zuletzt zeigen Veranstaltungen wie die heute eröffnete, daß sich die Betroffenen auch dieser Herausforderung stellen. Im ganzen aber gilt, daß hier weithin noch Pionierarbeit zu leisten ist. c) Ein drittes Stichwort ist mit der deutlich zunehmenden Bedarfs- und Ergebnisorientierung nicht nur der Forschung insgesamt, sondern auch der Forschungsförderung aus öffentlichen Mitteln gegeben. Bei aller Problematik, die damit speziell für die nicht anwendungsorientierte geisteswissenschaftliche Forschung verbunden ist, der genannte Trend erscheint irreversibel, und er ist auch für die DFG ein Faktum. Was heißt das für die Planung und Förderung von Editionen? Relevanzgesichtspunkte gewinnen an Bedeutung, wobei es nicht um wirtschaftliche, sondern um wissenschaftliche Relevanz geht, diese jedoch auch über den engeren Expertenkreis hinaus verständlich gemacht werden muß: An welchen Adressatenkreis richtet sich eine Edition? Weist sie Bezüge auf zu aktuellen Forschungsfragen? Welche Impulse für anschließbare historische und systematische Forschungsfragen läßt sie erwarten? Usf. Diese Blickrichtung legt also eine stärkere Verzahnung von Materialerschließung und systematischer, auch monographischer Nutzung des erschlossenen Materials nahe, mithin einen Editionsfachmann, der seine editorische Spezialkompetenz mit breiten fachlichen Forschungsinteressen verbindet und nicht nur Experte für eine Edition oder einen Editionstyp ist. Für die DFG ist eine solche Verbindung nicht zuletzt deshalb erwünscht, weil die Mitarbeiterstellen auch in Editionsprojekten primär der Ausbildung des wissenschaftlichen, insbesondere des Hochschullehrer-Nachwuchses dienen (sollen). d) Unter den geänderten Rahmenbedingungen sei viertens die gegenwärtig sich vollziehende Neubesinnung der Geistes- und Sozialwissenschaften auf ihre kulturwissenschaftlichen Gemeinsamkeiten erwähnt. Was immer darunter näherhin verstanden wird, die Berufung auf .Kulturwissenschaften' ist gewiß nicht allein durch das Streben nach neuer Etikettierung oder Legitimation motiviert. Eher mag sie mit der Einsicht zusammenhängen, daß die ineinandergreifenden Prozesse der Selbstvergewisserung, des Fragens, Rekonstruierens und Interpretierens von den sich immer weiter verzweigenden Disziplinen nur noch in gemeinsamer grenzüberschreitender Weise zu leisten sind. Vor diesem Hintergrund dürften neue Editionsvorhaben um so interessanter sein, je integrativer sie angelegt sind: je mehr sie Anschlußperspektiven für sei es internationale, sei es interdisziplinäre oder transdisziplinäre Forschungen bieten und je besser sie solche Anschlußmöglichkeiten mit ausweisen.
Philologie und Philosophie
Andreas Arndt
Philologia - ancilla philosophiae? Zur Philosophie der Philologie Wenn die Frage, ob die Philologie als Magd der Philosophie anzusprechen sei, überhaupt einen Sinn machen soll, so muß vorausgesetzt werden, daß es in dem Verhältnis wissenschaftlicher Disziplinen zueinander Machtstrukturen geben könne. Denn Magd ist nicht schon diejenige, die eine dienende Funktion derart ausübt, daß die Resultate ihrer Arbeit für andere dienlich sind. Vielmehr ist Magd erst diejenige, die in einer unmittelbaren persönlichen Abhängigkeit von einer Herrin oder einem Herrn steht, wie in feudalen Verhältnissen, oder die - obgleich sie als Person frei ist - in ihrer Arbeit unter einer fremden Kommandogewalt steht, wie es im System der Lohnarbeit der Fall ist. Ich werde mich deshalb zunächst auf die Frage einlassen müssen, ob es überhaupt Anhaltspunkte für solche Abhängigkeiten zwischen wissenschaftlichen Gebieten (und nicht zwischen Wissenschaftlern) geben könne, die sich aus der Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaften ergeben, wie sie etwa zwischen Philologie und Philosophie besteht (1). In einem zweiten Schritt möchte ich das Verhältnis dieser Disziplinen hinsichtlich ihrer wechselseitigen sachlichen Durchdringung und Abhängigkeit in einem historischen Streifzug näher bestimmen (2). Auf dieser Grundlage sollen schließlich drittens einige vorläufige Thesen zum Verhältnis zwischen der Philosophie und der philosophischen Editionsphilologie angesprochen werden. Sie können, sofern es dabei um die philosophische Bestimmung der Editionen geht, auch unter den Titel einer „Philosophie der Philologie" gestellt werden (3). 1.
Die beiden eingangs genannten Kriterien für Machtverhältnisse scheinen -jedenfalls in den durch die europäische Moderne geprägten Teilen der Welt - heute nur noch den Status von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betreffen zu können, nicht aber den Status wissenschaftlicher Disziplinen, denn wir haben uns angewöhnt, unter Wissenschaft einen Diskurs zu verstehen, der allein der Wahrheit verpflichtet sei und daher die Erkenntnis betreffende Machtsprüche in jedem Falle ausschließe. Hiervon soll, jedenfalls idealiter, auch das Verhältnis der Wissenschaftler zueinander geprägt sein, wie es u. a. in den Leitvorstellungen einer Gelehrtenrepublik - neudeutsch „community" und eines herrschaftsfreien Diskurses zum Ausdruck kommt. Die Forderung, auf welche der Titel meiner Ausführungen anspielt, daß nämlich ein Bereich des Wissens, die
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Andreas Arndt
Philosophie, als Magd einer anderen Disziplin, der Theologie, zu behandeln sei, entspringt aus moderner Sicht auch einer wissenschaftsfremden, um nicht zu sagen: wissenschaftsfeindlichen Perspektive.1 Hierbei ging es tatsächlich um Machtverhältnisse, nämlich um die Befestigung von Herrschaftsansprüchen auch auf geistigem - nicht nur auf geistlichem - Gebiet, um die Hegemonie des institutionalisierten Christentums. Die Philosophie sollte aus ihrer heidnischen Tradition herausgelöst und verchristlicht werden, um hinfort die Macht des Christentums befestigen zu helfen. Hieronymus' Forderung, die Philosophie - nach dem Gesetz Moses'2 - wie eine Kriegsbeute zu behandeln (und das hieß: sie zunächst zu demütigen und zu vergewaltigen), bringt dies deutlich zum Ausdruck. Nach eben diesem archaisch-patriarchalischen Gesetz konnte der Herr freilich auch Wohlgefallen an seiner Magd finden und ihr, wie es lange Zeit der Fall war, innerhalb der Grenzen der Offenbarung Selbständigkeit zugestehen. Gleichwohl blieb die Philosophie dabei, wie es Giordano Bruno am eigenen Leibe erfahren mußte, in der Leibeigenschaft ihrer Herrschaft gefangen.3 Ihre Emanzipation aus solchen feudalen Abhängigkeiten und damit die Etablierung einer autonomen Rationalitäts- und Wahrheitsauffassung war, wie hier nicht eigens ausgeführt werden muß, das Ergebnis eines langen und widerspruchsvollen Prozesses. Programmatisch verkündete Spinoza im 15. Kapitel seines Tractatus theologico-politicus, „daß weder die Theologie der Vernunft noch die Vernunft der Theologie dienstbar ist" (Nee theologiam rationi nee rationem theologiae ancillari).4 Kant gestand zwar noch den oberen Fakultäten - der theologischen, juristischen und medizinischen - einen in ihrer gesellschaftlich-politischen Funktion begründeten Herrschaftsanspruch zu, der ihnen aber nun geradezu von der weltlichen Gewalt geliehen sein sollte; ihre Lehren seien ihnen von der Regierung anvertraut,5 während die ,niedere' - die philosophische - Fakultät sich dadurch auszeichne, daß sie „sich nur mit Lehren beschäftigt, welche nicht auf den Befehl eines Oberen zu zur Richtschnur angenommen werden". Die Philosophie „dient" den oberen Fakultäten dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit [...] alles ankommt; die Nützlichkeit aber, welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment vom zweiten Range ist.7 1
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Vgl. Wolfgang Kluxen: Ancilla theologiae. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. l, Sp. 294f. Vgl. 5.Mose21,ll-14. Um das Mißverständnis zu vermeiden, hiermit solle eine ganze Epoche der Philosophie- und Theologiegeschichte denunziert werden, um das Licht der Aufklärung umso heller strahlen zu lassen, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß nach den Regeln der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft weder die Herrin in der abstrakten Bestimmung des Herrin-Seins noch die Magd in der abstrakten Bestimmung des Magd-Seins aufgeht. Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Hrsg. von G. Gawlick u. F. Niewöhner, Darmstadt 1979 (Werke, Bd. 1), S. 444f. Kant: Der Streit der Fakultäten, A 13. Kant: Der Streit der Fakultäten, A 24. Kant: Der Streit der Fakultäten, A 25f.
Philologia — ancilla philosophiae?
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Hier hat sich das Verhältnis unter der Hand umgekehrt: Die Philosophie dient, indem sie kontrolliert. Ihre einzige Herrin ist die von ihr selbst zu verantwortende Wahrheit, und indem sie ihr dient, ist sie frei, „bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fakultäten hinzustellen".8 Von dieser Umkehrung ist auch das Verhältnis von Theologie und Philosophie betroffen; selbst wenn, so Kant, „allenfalls" der theologischen Fakultät der Anspruch eingeräumt werden könne, „daß die philosophische ihre Magd sei", so bliebe noch immer die Frage, „ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt."9 Spätestens seit Kant kann eine Auffassung, wonach die Philosophie und die unter sie befaßten eigentlichen Wissenschaften - die historisch-empirischen Erkenntnisse einerseits und die reinen Vernunfterkenntnisse andererseits - in der Botmäßigkeit einer fremden Gewalt stünden und nicht allein der Wahrheit - ihrer Wahrheit - unterworfen seien, nicht mehr wissenschaftlich aufrechterhalten werden. Die neuhumanistisch inspirierte Universitätsreform hat daraus, namentlich bei Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher, auch institutionell die Konsequenz gezogen und die philosophische Fakultät und in ihr die Philosophie zum Gravitationszentrum der Universität gemacht. In ihr allein, so Schleiermacher, sei „die ganze natürliche Organisation der Wissenschaft enthalten", während die anderen Fakultäten „ihre Einheit nicht in der Erkenntnis unmittelbar, sondern in einem äußeren Geschäft" hätten. Dieser Gedanke einer natürlichen und letztlich philosophisch zu vollziehenden Einheit der Wissenschaften, der den Systembildungen der klassischen deutschen Philosophie zugrundelag, hielt jedoch bekanntlich der Entwicklung der Wissenschaften nicht stand. Die philosophische Fakultät bildete sehr bald nur noch eine formelle Einheit, welche die sich differenzierenden und arbeitsteilig gegeneinander verselbständigenden besonderen Wissenschaften auf Dauer nicht zusammenzuhalten vermochte. Mehr noch: Die Philosophie geriet nun selbst in den Verdacht, die empirischen Einzelwissenschaften bevormunden zu wollen und auf die im Namen der Wissenschaft erfolgte Emanzipation der Philosophie von der Theologie erfolgte die Emanzipation der Wissenschaften von der Philosophie. Sofern die Philosophie überhaupt noch wissenschaftlich mitsprechen wollte, hatte sie, nach einer gerade in den Natur- und Sozialwissenschaften verbreiteten Auffassung, ihre Selbständigkeit eingebüßt und konnte, als begleitende Reflexionsinstanz wissenschaftlicher Theoriebildungen, in eine neue Abhängigkeit überführt werden. Die Entwürfe der Philosophie, so hat Jürgen Frese diese Ansicht auf den Punkt gebracht, seien „durchgängig ohne autonomen Wert: Sie bedürfen des Kredits der sie ablösenden Empirie. Philosophia ancilla scientiae." Diese Abhängigkeit ist jedoch (wenn sie denn so zutrifft) von anderer Art als der Magddienst für die Theologie. Sie beruht nicht auf der Annahme, daß es Wahrheiten 8 9 10
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Kant: Der Streit der Fakultäten, A 26. Kant: Der Streit der Fakultäten, A 26. Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. In: Schriften. Hrsg. von A. Arndt. Frankfurt/M. 1996, S. 379f. Jürgen Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985, S. 15.
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gäbe, welche dem Urteil der Wissenschaft entzogen seien, sondern auf einschneidenden Veränderungen in den Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit. Die fortschreitende Teilung der Arbeiten, die damit einhergehende Spezialisierung sowie der explosionsartige Zuwachs des empirischen Wissens machten es unmöglich, die innere Einheit des Wissens oder auch nur der Wissenschaften als eine philosophisch und zudem noch von einzelnen nachvollziehbare anzusehen. Parallel zur gesellschaftlichen Teilung der Arbeiten und den daraus hervorgehenden sachlichen Abhängigkeiten, die - wie Karl Marx analysiert hat - den Produzenten als selbständige dingliche Mächte gegenübertraten, entwikkelte sich auch die wechselseitige sachliche Abhängigkeit der wissenschaftlichen Disziplinen zu einer gegenüber den einzelnen Wissenschaften und Wissenschaftlern unabhängigen Macht. Innerhalb der einzelnen Disziplinen und Teilgebiete hat sich die Arbeitsteilung in einer fabrik- oder, wie in den Geisteswissenschaften, wenigstens manufakturmäßigen Organisation wissenschaftlicher Forschung niedergeschlagen, d.h. in der Koordination hochgradig spezialisierter Teilarbeiten durch eine wissenschaftliche Kommandogewalt in Gestalt von Projektleitern, Kommissionen usw. Nach diesem Muster sind nicht nur naturwissenschaftlich-technische Großforschungseinrichtungen organisiert,12 sondern gewöhnlich auch die editorischen Langzeitvorhaben, sofern sie nicht auf einem freiwilligen Zusammenschluß derjenigen beruhen, die auch selbst edieren. Dies hat in den Geisteswissenschaften einen neuen Typus des Wissenschaftlers hervorgebracht. An die Stelle des Adepten einer Zunft ist hier der - unabhängig von seiner Qualifikation - auf seine Spezialisierung festgelegte Teilarbeiter getreten, der zunächst als , Wissenschaftsbeamte' apostrophiert wurde und heute als ,Nur-Editor' ein bisweilen eher zweifelhaftes Ansehen genießt.13 Dieser Typus wurde durch die formelle Subsumtion der Editionsphilologie unter die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, in unserem Falle der Philosophie, hervorgebracht, wo sie als Techniken behandelt werden, die - wiewohl für das Fach dienlich und Kenntnisse im Fach voraussetzend - dennoch verselbständigt und unter die Aufsicht der Vertreter der jeweiligen Disziplin gestellt werden können. In Bezug auf die Frage, ob die Philologie als Magd der Philosophie angesprochen werden könne, folgt hieraus zweierlei. Erstens ist nicht von der Philologie schlechthin und auch nicht von einer Editionsphilologie schlechthin zu reden, sondern von der unter eine bestimmte Disziplin subsumierten Editionsphilologie, also hier: der philosophischen. Und zweitens kann für diese Editionsphilologie festgestellt werden, daß sie -jedenfalls institutionell - das zweite eingangs eingeführte Kriterium für eine über die bloße Dienlichkeit hinausgehende Abhängigkeit erfüllt. Gleichwohl möchte ich das Fragezeichen nun nicht durch ein Ausrufezeichen ersetzen. Denn im Unterschied zur fabrikmäßigen Arbeitsteilung, die sich durch ihren betriebswirtschaftlichen Nutzen rechtferti-
Vgl. Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt/M. 1984. Vgl. Jochen Schmidt: Schon sieht es wie ein Nilpferd aus. In: Der Tagesspiegel (Berlin), Nr. 15510 vom 18. 1. 1996,8.25.
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gen mag, sollte eine wissenschaftliche Arbeitsteilung auch wissenschaftlich legitimiert werden können. 2.
Kant hatte, wie erinnert, die philosophische Fakultät in die beiden „Departements" der historischen Erkenntnis und der reinen Vernunfterkenntnisse eingeteilt; zu dem ersteren gehörte neben der Geschichte u.a. auch die „gelehrte Sprachkenntnis", also die Philologie. Daß nun, nach dem weitgehenden Zerfall der philosophischen Fakultäten, die Philosophie intern diese Struktur reproduziert, spricht vielleicht für Kants Annahme, daß diese Organisation „nach irgend einem in der Vernunft, wenn gleich nur dunkel, liegenden Prinzip versucht worden" sei. Der im weitesten Sinne philosophiehistorischen Forschung (einschließlich der Wissenschaftsgeschichte, sofern sie in der Philosophie ihren Platz findet) stehen heute als Nachfolgeveranstaltungen auf dem Gebiet der reinen Vernunfterkenntnis theoretische und praktische Philosophie, Wissenschaftstheorie und Logik gegenüber. Die philosophischen Editionen gehören zweifellos in das Departement der historischen Erkenntnis, und ihre Stellung zur Philosophie insgesamt - und damit auch die wissenschaftliche Rechtfertigung ihrer institutionellen Stellung hängt zunächst davon ab, wie sich beide Departements zueinander verhalten. Nun hat sich dieses Verhältnis im Laufe der Geschichte der Philosophie mehrfach grundlegend gewandelt, und zwar je nachdem, welche systematische Bedeutung der historisch-empirischen Erkenntnis überhaupt und insbesondere der Philosophiegeschichte beigemessen wurde. Stark vereinfacht lassen sich hierbei drei große Epochen unterscheiden. (1) Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, ja eigentlich bis hin zu Kants Konzeption einer rationalen Geschichte a priori, also einer Geschichte, die aus den Prinzipien der Vernunft selbst entspringen soll, hatte die Geschichte als solche und mithin auch die Philosophiegeschichte keine systematische Bedeutung für die Philosophie. Selbstverständlich gab es auch in der Philosophie schon immer historische Gelehrsamkeit und auch eine systematische Auseinandersetzung mit Positionen der Vorgänger;1 14 15 16
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Kant: Der Streit der Fakultäten, A 26. Kant: Der Streit der Fakultäten, A l l . Vgl. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. AA 8, S. 30.— Zur Möglichkeit einer rationalen Geschichte a priori vgl. auch AA 20, S. 340f. (Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik). Vgl. zur Philosophiegeschichte Lucien Braun: Philosophie der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990. Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Meisenheim/ Glan 1968. M. Gueroult: Histoire de Phistoire de la philosophic. 3 Bde. Paris 1984-1988. Wolfgang HUbener: Die Ehe des Merkurius und der Philologie — Prolegomena zu einer Theorie der Philosophiegeschichte. In: Wer hat Angst vor der Philosophie? Hrsg. von N. Bolz. Paderbom 1982. Mario Longo: Historia philosophiae philosophica. Teorie e metodi della storia della filosofia tra Seicento e Settecento. Mailand 1986. Hans-Martin Sass: Philosophische Positionen in der Philosophiege-
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A ndreas A rndt
diese erfolgte jedoch im Zeichen einer überhistorischen Rationalität, die zwar ihre historischen Auftritte hatte, deren historische Erscheinung aber ihr Wesen unberührt ließ. (2) Die zweite Epoche steht im Anschluß an Kant im Zeichen einer Vernunftgeschichte der Philosophie. Für Kant war die Geschichte der reinen Vernunft, wie er sie am Schluß seiner ersten Kritik einführte, nicht etwa bloß eine pragmatische Zutat, son15t dem ein systematisch notwendiger Bestandteil der Philosophie. Vor allem Hegel nahm diesen Gedanken philosophisch ernst und radikalisierte ihn zugleich, indem er behauptete, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee."19 Die Geschichte der Vernunft wurde als deren Selbstkonstitution verstanden, in deren Verlauf sie sich selbst völlig durchsichtig wurde und daher mit der Vollendung des Begriffs ihre eigene Geschichtlichkeit wieder tilgen konnte. (3) In der dritten Epoche - seit dem Ausgang der klassischen deutschen Philosophie - wurde die Historisierung des philosophischen Wissens zur Einspruchsinstanz gegen die klassischen Systembildungen auf der Basis des Vernunftbegriffs. Philosophie selbst erschien nun auch in ihrem Gehalt als historisch konstituiert, aber auf eine zweideutige Weise. Denn zugleich wurde, außerhalb des reinen Historizismus, beginnend mit den Linkshegelianern und Nietzsche bis hin zu Gadamers „Horizontverschmelzungen", die Geschichte einem absoluten Bedürfnis der Gegenwart untergeordnet und dadurch wiederum enthistorisiert, indem unter aktuellen Gesichtspunkten unmittelbar auf historische Gestaltungen der Philosophie zurückgegriffen werden konnte. In dieser Spannung zwischen einem systematisch abstinenten Historizismus einerseits und einer aktualisierenden Vergegenwärtigung andererseits stehen heute auch die philosophischen Editionen. Nun ist die Philologie aber keineswegs bloß eine abhängige Variable des hier skizzierten Prozesses, vielmehr läßt sich - um Kants Bild aufzugreifen - durchaus darüber streiten, ob sie nicht wenigstens gelegentlich der Philosophie sogar die Fackel vorangetragen habe. Zunächst freilich waren die philologischen Anstrengungen des Humanismus und der Renaissance darauf gerichtet, durch die Restitution von Texten ein systematisches Interesse der Philosophie zu befriedigen, nämlich die als normativ erachteten klassischen Texte von der Überfremdung durch Traditionen zu befreien oder aber überhaupt erst wieder zugänglich zu machen. Dabei hat die Philologie jedoch, wie Hans Gerhard Senger in seiner historisch-kritischen Betrachtung historisch-kritischer Editionen gezeigt hat, nicht nur in ihrer Praxis, sondern auch in der Systematisierung ihrer ryn
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Schichtsschreibung. Ein Forschungsbericht. In: Dt. Vierteljahrsschrift für Lit.wiss. und Geistesgesch. 46, 1972. Sie bezeichne eine Stelle, „die im System übrig bleibt, und künftig ausgeftlllet werden muß" (KrV B 880). G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 1. Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Orientalische Philosophie. Hrsg. von P. Gamiron u. W. Jaeschke. Hamburg 1994, S. 27 (Ms. 1820). Hans Gerhard Senger: Die historisch-kritische Edition historisch-kritisch betrachtet. In: Buchstabe u. Geist. Hrsg. von W. Jaeschke u.a. Hamburg 1987, S. 1-20.
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Techniken zur ars critica seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ein historisches Bewußtsein entwickelt, das schließlich auch in die Philosophie selbst Eingang gefunden hat. Der Aufstieg des philosophischen Kritikbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert21 ist ohne die Entwicklung der historisch-philologischen Kritik kaum denkbar. Im Ergebnis wurde Kritik mit dem Vollzug des Vernunftgebrauchs selbst gleichgesetzt.22 Vor diesem Hintergrund kam es auch zur Aufwertung der Geschichte, einschließlich der Geschichte der Philosophie, die sich im Gefolge der ars critica und critica sacra als eine historica critica etabliert hatte. Mit ihr hängt das um die Mitte des 18. Jahrhunderts erwachende systematische Interesse der Philosophie an der Geschichte überhaupt und der Geschichte des eigenen Fachs im besonderen zusammen. Bereits Jacob Brukkers Historia critica philosophiae23 zielt, obwohl sie im wesentlichen pragmatisch abgezweckt ist, auf eine systematische Verbindung hermeneutisch-kritischer Regeln der ars critica mit denen der ars rationalis, der Logik. Und schließlich sei auch besonders darauf hingewiesen, daß es ein Theoretiker der Hermeneutik war, nämlich Johann Martin Chladenius, der in seiner Allgemeinen Geschichtswissenschaft (1752) die historische Erkenntnis zuerst zum Bestandteil der Vernunftlehre gemacht hatte. Daß es sich hierbei nicht um zufällige Erscheinungen in der Aufklärungsphilosophie handelt, läßt sich bei Johann Gottfried Herder belegen, der in der zweiten Auflage seiner Fragmente über die neuere deutsche Literatur (1768) eine neue Wissenschaft ins Auge faßt, die „Entzifferung der Menschlichen Seele aus ihrer Sprache." Diese Wissenschaft verlange einen „Mann von drei Köpfen [...], der Philosophie und Geschichte und Philologie verbinde".27 Erst aus einer solchen Synthese des Philosophen mit dem Historiker und Philologen könne eine „negative Philosophie" hervorgehen, welche imstande sei, durch die „allgemeine Betrachtung der Menschlichen Erkenntnis durch und mittelst der Sprache" die ungegründeten Ansprüche der Metaphysik aufzudecken und zurückzuweisen. Auf dieser Linie hat dann Friedrich Schlegel 1797 eine „Philosophie der Philologie" konzipiert, in der sich die „vollendete, absolute Philologie" schließlich selbst „anni*ya
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Vgl. Andreas Arndt: Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung. Erscheint in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von M. Riedel. Weimar und Köln 1998. Vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932, S. 16. Jacob Brücken Historia critica philosophiae a mvndi incvnabvlis ad nostram vsqve aetatem dedvcta. 5 Bde. Leipzig 1742-1744. Vgl. Hans-Peter Schutt: „lungenda cum arte rationali, ars critica". Johann Jakob Bmckers hermeneutische Vorsätze. In: Unzeitgemäße Hermeneutik. Hrsg. von A. Bühler. Frankfurt/M. 1994, S. 6987. Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Wien, Köln und Graz 1985 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1752). Chladenius geht es um eine Erweiterung der Vemunftlehre, welche deren bisherige Prinzipien in Geltung läßt. Johann Gottfried Herder: Werk. Hrsg. von W. Pross. Bd. 1. Darmstadt 1984, S. 76. Herder 1984, vgl Anm 26, S. 76 Herder 1984, vgl Anm 26, S. 79f. Vgl. Andreas Arndt: „Philosophie der Philologie". Historisch-kritische Anmerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen. In: editio 11, 1997.
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hilirf"?0 um in Historic und Philosophie zu münden. Die Philologie hat in diesem Prozeß des „Totalisierens von unten herauf, wie Schlegel ihn nennt,31 jedoch eine wahrheitskonstitutive Funktion: Er gipfelt in der vollendeten Kritik als „Hochzeit der [Philologie] und der [Philosophie] zur Constitution der Wahrheit." Damit vereinigt Schlegel den von Friedrich August Wolf erhobenen Autonomieanspruch der Philologie mit einem umfassenden Kritikbegriff, in dem philologische, historische und philosophische Kritik zusammengeführt werden. Seine „Philosophie der Philologie" stellt den wohl am weitesten gehenden Versuch dar, die Philologie selbst zum Moment philosophischer Reflexion, einer historischen Konstituierung von Wahrheit zu machen.34
3. Schon diese kurze und keineswegs vollständige historische Erinnerung widerlegt die Annahme, daß die Philologie im Verhältnis zur Philosophie von jeher die untergeordnete Rolle einer technischen Hilfswissenschaft gespielt habe; vielmehr ist sie, gerade im Blick auf das historische Bewußtsein der Philosophie, als Voraussetzung und konstitutives Moment der Entwicklung der neueren Philosophie anzusehen. Dies besagt jedoch vorerst noch nichts über ihren systematischen Status als Editionsphilologie im Rahmen einer innerphilosophischen Arbeitsteilung, die aus einer veränderten wissenschaftshistorischen Problemlage gegenüber den hier betrachteten Epochen entspringt. Auf diese tiefgreifenden Veränderungen, welche die Möglichkeit einer philosophisch vollziehbaren inneren Einheit der Wissenschaften, von der etwa Schlegel noch ausging, grundsätzlich in Frage stellten, hat Wilhelm Dilthey mit seiner Theorie der Geisteswissenschaften reagiert. Diese bildet auch die Grundlage für seine Bemühungen auf editorischem Gebiet, mit denen er bis heute Profil und institutionelle Verfassung zahlreicher Editionen, namentlich im Bereich der klassischen deutschen Philosophie, maßgeblich geprägt hat. Ich nenne hier nur das keineswegs selbstverständliche inhaltliche Prinzip, die Edition unter weitgehender Ausblendung der „Wirkzusammenhänge" auf Biographie und Werk eines Autors zu konzentrieren, sowie das ebensowe30
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Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von E. Behler unter Mitwirkung von J.-J. Anstett u. H. Eichner. Paderborn u. a. 1958ff. (im folgenden KFSA), Bd. 16, S. 48, Nr. 158. Schlegel 1958, vgl. Anm. 30, S. 68, Nr. 84. KFSA 18, S. 272, Nr. 925; hierbei handelt es sich um eine Variante des Topos von der Ehe des Merkurius und der Philologie; vgl. hierzu den in Anm. 17 genannten Aufsatz von W. Hübener. Vgl. Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von H. Flashar, K. Gründer u. A. Horstmann. Göttingen 1979. Vgl. hierzu die anonyme Nachschrift der Transzendentalphilosophie-Vorlesung 1800/01, KFSA 12, S. 98: „Alle Resultate der Philosophie sind enthalten in dem einen: daß Theorie und Empirie eins ist, daß sie nicht absolut getrennt werden können. Das Mittelglied ist Geschichte, daher die Materie der Philosophie Geschichte ist. Die Methode der Philosophie soll historisch seyn". Vgl. Andreas Arndt: Vernunft in den Editionen. Philosophische Voraussetzungen der Editionspraxis. In: Vernunftbegriffe in der Moderne. Hrsg. von H. F. Fulda u. R.-P. Horstmann. Stuttgart 1994, S. 807-827.
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nig selbstverständliche institutionelle Prinzip, die Editionstätigkeit im Rahmen von Akademien, in Distanz zur universitären Lehre und Forschung, zu professionalisieren. Letzteres hat ohne Zweifel dazu beigetragen, die Trennung zwischen der philosophischen Editionsphilologie und dem Fach zu befestigen, obwohl Dilthey unter seinen systematischen Voraussetzungen davon überzeugt sein konnte, daß dies nicht der Fall sein müsse. Die Editionstätigkeit stand für ihn in einer unmittelbaren Beziehung zur Philosophie dadurch, daß die Erschließung der Biographien und der Werke ausgezeichneter Denker konstitutiver Bestandteil der Erschließung einer historischen Vernunft sei. Und sie konnte allein deshalb gegenüber den sonstigen philosophischen Tätigkeiten relativ verselbständigt werden, weil ihre geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen dies theoretisch rechtfertigten. Nur die Annahme, der Gegenstand einer Edition sei in jedem Falle eine individuelle Einheit, die auch - losgelöst von den „Wirkzusammenhängen" - für sich gestellt werden könne, legitimierte wissenschaftlich die Verselbständigung der philosophischen Editionsphilologie gegenüber dem Fach. Nun besteht kein Zweifel daran, daß die philosophischen Prämissen der Diltheyschen Editionspolitik nicht mehr ohne weiteres als allgemein anerkannt unterstellt werden können. Damit ist aber auch die wissenschaftliche Begründung für die in ihrem Gefolge etablierte Arbeitsteilung in Zweifel zu ziehen. Die fällige Neubesinnung auf die wissenschaftlichen Voraussetzungen philosophischer Editionstätigkeit hat jedoch seither so gut wie nicht stattgefunden. Vielmehr wurde unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Begründung an der institutionalisierten Form der Arbeitsteilung festgehalten, die sich als eine scheinbar naturwüchsige befestigt hat. Das allseits spürbare Unbehagen an den editorischen Großunternehmungen ist Folge dieser Entwicklung, bleibt aber in deren Voraussetzungen gefangen und läßt bisher kaum Ansätze zur Beseitigung eines jahrzehntelangen Reflexionsdefizits erkennen. Zwar wird kritisiert, daß manche Ausgaben zu groß dimensioniert seien, daß die Schwerpunkte der geforderten Editionen nicht das aktuelle Interesse der Forschung befriedigen könnten usw., jedoch bleibt diese Kritik an der Oberfläche, wenn der Ausweg unter dem Schlagwort „Effizienz" eher in einer betriebswirtschaftlichen Optimierung der Editionsstellen und nicht in einer Besinnung darauf gesucht wird, was denn die philosophische Bestimmung der Editionen sei oder sein sollte. Diese überfällige Reflexion auf die wissenschaftlichen Grundlagen der philosophischen Editionsphilologie wäre mit Recht unter den Titel einer „Philosophie der Philologie" zu stellen. Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, außer Kurs geratene, allein auf praktizistischem Niveau fortgeschleppte Prämissen einfach durch andere zu ersetzen. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil es eine für das ganze Fach verbindliche inhaltliche Auffassung darüber, was Philosophie sei, nicht geben kann. Umgekehrt aber scheint es - jedenfalls wissenschaftspo/zf/scft - durchaus einen Grundkonsens darüber zu geben, was philosophische Editionen zu leisten haben. Setzt man einmal die verbreitete Ignoranz beiseite, die davon ausgeht, daß der zufällig greifbare schon der richtige Text sein werde und im übrigen Editoren durch Kopierer und Scanner ersetzt werden könnten, so herrscht die Auffassung vor, Editionen als Materiallieferanten zu betrachten, die eine zuverlässige Textbasis für weitergehende Forschungen möglichst rasch
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bereitzustellen haben. Dabei wird zwar die fachliche Qualifikation der Editoren vorausgesetzt, ihre eigentliche Tätigkeit jedoch vorwiegend als eine handwerklich-philologische angesehen, die sich weitgehend auf das beschränke, was man einmal die „niedere" Kritik genannt hat. Die weitergehende Erschließung der Texte und ihres Umfeldes sowie die Festsetzung der Editionsschwerpunkte bleibt nach dieser Auffassung arbeitsteilig von der Editionstätigkeit selbst abgespalten. Die wissenschaftliche Legitimation solcher Arbeitsteilung steht jedoch auf schwachen Füßen. Sie hat vielfach zur Folge, daß inhaltliche und formale Grundsatzentscheidungen auf hierarchisch höherstehenden Ebenen ohne zureichende Kenntnis der Materialien getroffen werden. Vor allem aber berücksichtigt sie nicht auf angemessene Weise, daß die Editoren es mit einem Gestrüpp praktisch unendlicher Relationen zu tun haben, die der zu edierende Text erschließt. Deren Begrenzung, von der die gewünschte Konzentration auf das sachlich Notwendige abhängt, verlangt eine wissenschaftliche Reflexionskompetenz nach den Maßstäben der „höheren" Kritik, die nur sehr eingeschränkt delegierbar ist, weil sie im editorischen Prozeß selbst ständig ausgeübt werden muß. Eine solche Begrenzung kann sinnvoll auch nicht antizipatorisch, etwa durch Rahmenrichtlinien der zuständigen Kommissionen und Fachvertreter, erfolgen, weil der zu edierende Text gewöhnlich reicher ist als das, was die Forschung schon von ihm weiß, und reicher auch als die bereits an ihm erprobten systematischen Bezugnahmen, und gerade deshalb wird er in der Regel ja auch ediert. Die Notwendigkeit, die höhere Kritik und damit auch die systematische Auseinandersetzung mit den Texten als unverzichtbaren Bestandteil editorischer Tätigkeit anzuerkennen, ergibt sich in noch stärkerem Maß dann, wenn die fragwürdige Voraussetzung einer ausschließlich individuell-biographischen Perspektive auf das ,Werk' aufgegeben und dieses als Moment übergreifender Diskussionszusammenhänge oder auch kollektiver Theoriebildungsprozesse verstanden wird, die sich in den Texten selbst niederschlagen. Auch hierbei kommt es selbstverständlich auf eine sinnvolle Begrenzung des in den Ausgaben selbst zu Dokumentierenden an. Entsprechende Denkfiguren und Anspielungen erschließen sich aber auch als eindeutig identifizierbare und daher historisch-kritisch nachzuweisende erst dann, wenn man um diese Zusammenhänge auch weiß.36 Die Aufrechterhaltung der überkommenen Arbeitsteilung führt dagegen zu einer paradoxalen Situation, in der sie sich in der Konsequenz selbst „annihiliert". Entweder lassen sich die institutionell mit der wissenschaftlichen Verantwortung Betrauten selbst auf die Niederungen der Editionsarbeit ein, um der von ihnen beanspruchten Verantwortung gerecht werden zu können, oder aber die Editoren übernehmen, wie es informell die Regel ist, diese Verantwortung im Editionsalltag selbst. In beiden Fällen aber verbinden sich Philosophie und Philologie zu einer Einheit, welche der Voraussetzung widerspricht, Edieren sei als ein philologisches Handwerk zu organisieren und wissen36
In diesem Zusammenhang ist durchaus die Frage zu stellen, wieweit es überhaupt sinnvoll ist, die mit Editionen befaßten Arbeitsstellen auf einen Autor statt auf Epochen bzw. auf bestimmte Diskussions- oder Gruppenzusammenhänge zu orientieren.
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schaftlich zu beaufsichtigen, und hieraus wären auch institutionelle Konsequenzen zu ziehen, wie z. B. die stärkere Einbindung der Editionsstellen in die universitäre Lehre und Forschung sowie ein selbständiges und zugleich stärker an den Inhalten des Faches selbst orientiertes Berufsbild der Editoren. Nun bedeutet die Einheit von Philologie und Philosophie nicht, daß beide vollständig zur Deckung kommen. Auch innerhalb der editorischen Tätigkeit selbst bleibt eine Spannung zwischen „niederer" und „höherer" Kritik, notwendiger philologischer Kleinarbeit und inhaltlicher Reflexion. Und eine vergleichbare Spannung besteht auch zwischen der philosophischen Editionsphilologie als Bestandteil des historisch-empirischen Departements der Philosophie und den Nachfolgedisziplinen des anderen Departements, der „reinen" Philosophie; eine Spannung deshalb, weil beide tatsächlich miteinander zu tun haben. Denn wenn es auch wahr ist, daß editorische Langzeitvorhaben ihren Kredit nicht aus der Aktualität des Tages beziehen können, so können sie sich auch nicht durch bloß archivalisch-historische Interessen legitimieren, denn hierfür wären in der Tat andere Formen der Dokumentation hinreichend und in jedem Falle kostengünstiger. Editionen operieren im Spannungsfeld von Historiographie und systematischem Interesse, denn der Aufwand einer historisch-kritischen Edition wird nur dort gerechtfertigt werden können, wo ein philosophisches Bedürfnis danach besteht, einen Text oder Autor präsent zu machen. Umgekehrt aber wird auch die historisch-philologische Arbeit vielfach allererst den Blick auf Autoren und Texte lenken, die im Interesse der philosophischen Forschung und Diskussion präsent gemacht werden sollten. In dem Maße, wie sie diese Aufgaben annehmen und erfüllen, sind die Editionen konstitutive Elemente auch des systematischen Diskussionsprozesses der Philosophie und nicht nur Bestandteil philosophiehistorischer Dokumentation. Dies scheint freilich nur in dem Maße zutreffen zu können, wie die Philosophie sich überhaupt noch der systematischen Bedeutung ihres historischen Grundes bewußt ist. Dieses Bewußtsein wachzuhalten ist die vornehmste philosophische Aufgabe der Editionen. Sie repräsentieren, schon dadurch, daß es sie gibt, innerhalb der Pluralität der Auffassungen darüber, was Philosophie sei, ein philosophisches Konzept. Historischkritische Editionen legitimieren sich durch die Einsicht in die historische Bedingtheit unserer Denkmittel, indem sie gleichermaßen einer unmittelbaren Aktualisierung des Überlieferten wie einer Unmittelbarkeit des Gegenwärtigen widerstehen. Gerade aus dieser doppelten kritischen Distanz heraus aber könnten sie Reflexionspotentiale freilegen und vergegenwärtigen, die ansonsten sowohl dem systematisch desinteressierten Archivar wie auch dem traditionsvergessenen Systematiker verborgen bleiben. Wie alle philosophischen Positionen sollen auch die philosophischen Editionen um ihre Auffassung von Philosophie streiten. Dies können sie aber nur, wenn man sie - in Anlehnung an Kant - nur nicht verjagt oder ihnen den Mund zubindet, sondern ihnen zugesteht, frei zu sein und frei zu lassen, ihre Wahrheit zum Vorteil der Wissenschaft auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der anderen philosophischen Disziplinen hinzustellen. In dieser Rolle aber wäre die Philologie deshalb nicht mehr die Magd der Philosophie, weil sie dann auch ihrer institutionellen Form nach das wäre, was sie ihrem Gehalt nach schon immer ist.
Hans-Ulrich Lessing
Gibt es eine philologische Erkenntnis und Wahrheit? I. Wie Wilhelm Wundt in seiner Logik der Geisteswissenschaften feststellt, hat die Philologie „mehr als andere Geisteswissenschaften [...] von Anfang an eines bestimmten Ausgangspunktes und einer sicheren Abgrenzung ihrer Probleme entbehrt".1 Schon ein kurzer Blick auf die Begriffs- und Problemgeschichte der Philologie2 vermag zu zeigen, daß Wundt mit seiner kritischen Einschätzung durchaus Richtiges getroffen hat. Denn trotz der Neubegründung des Faches im 19. Jahrhundert durch Friedrich August Wolf ist die Geschichte der Philologie geradezu eine Geschichte ihrer permanenten, und zwar nicht nur methodischen, Selbstklärung geblieben. Zu dieser immer noch aktuellen Diskussion um das Selbstverständnis der Philologie kann und werde ich im folgenden allerdings keinen Beitrag leisten. Meine Absicht zielt vielmehr auf den Versuch einer allgemeineren philosophischen Besinnung auf die Grundlagen der philologischen', d. h. interpretierenden Methode der Geisteswissenschaften. Ich verstehe unter ,Philologie' im Sinne meiner Themafrage also nicht einen speziellen geisteswissenschaftlichen Disziplinentitel, sondern den in den Geisteswissenschaften praktizierten auslegenden, also ^erstehenden' Umgang mit Texten im allgemeinen, der nicht auf die Philologien im spezifischen Sinne eingeschränkt ist. Dies entspricht durchaus dem üblichen modernen Wortgebrauch, wie er etwa auch in der Philologie-Definition der Brockhaus Enzyklopädie3 zum Ausdruck kommt. Philologie ist ihrzufolge „im engeren Sinn die Wissenschaft der Deutung von Texten". Das methodische Zentrum einer so verstandenen Philologie als „allgemeiner Wissenschaft der Deutung von Texten" ist folglich die Interpretation, das ,Verstehen'; Philologie in diesem Sinne und Hermeneutik erscheinen daher nahezu als synonyme Begriffe. Die interpretierenden Wissenschaften, also die Literaturwissenschaften, die historischen Wissenschaften, die Rechtswissenschaft, die Theologie etc., kann man mit einigem Recht als Kern- und Schlüsseldisziplinen der Geisteswissenschaften ansehen. Fragt man nun nach der Möglichkeit einer spezifisch philologischen Erkenntnis und W. Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. III. Band: Logik der Geisteswissenschaften. 4. umgearbeitete Aufl. Stuttgart 1921, 300. Vgl. A. Horstmann: Philologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter K. Gründer. Band 7. Basel 1989, Sp. 552-572. 14. Band. Wiesbaden 1972, 540.
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Wahrheit, so ist die Frage nach der Legitimität der Interpretation, der Auslegung als genuin ,wissenschaftlicher' Methode gestellt. In Frage steht damit nicht zuletzt, ob das , Verstehen' als eine spezifisch geisteswissenschaftliche Methode ein Eigenrecht neben den etablierten und erfolgreichen naturwissenschaftlichen Methoden beanspruchen kann. Im Hintergrund meiner Themenstellung steht somit das fundamentale Problem der methodischen Autonomie der Geisteswissenschaften selbst. Die Diskussion um eine solche methodische Autonomie der Geisteswissenschaften wird spätestens seit Diltheys Versuch einer erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung dieser Wissenschaftsgruppe zu einem Dauerthema der Philosophie. Sehr vereinfacht gesagt, stehen sich in dieser Debatte ,Hermeneutiker' und ,Positivisten' gegenüber. Während die einen auf die unverzichtbare methodische Eigenständigkeit der Wissenschaften der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit pochen, bestreiten die anderen unter Hinweis auf die eine Rationalität entschieden einen solchen methodischen Separatismus. Nun kann es hier selbstverständlich nicht meine Intention sein, im folgenden diese Diskussion vollständig neu aufzurollen oder gar zu einem Abschluß zu bringen. Ich kann nur versuchen, dem Beispiel und der Maxime Peter Szondis zu folgen, der sehr zu Recht eingangs seines Traktats Über philologische Erkenntnis bemerkt: „Wer nach der Erkenntnisweise der Literaturwissenschaft fragt, begibt sich auf ein Gebiet, dem der alte Briest seine Lieblingswendung schwerlich versagt hätte", um anschließend den beachtenswerten Ratschlag hinzuzusetzten, es empfehle sich daher, „das weite Feld schon im Eingang zu begrenzen".4 Eine - so denke ich - fruchtbare Chance der Eingrenzung dieses „weiten Feldes" stellt sich mir in Hans Alberts Kritik der reinen Hermeneutik.5 Denn dieses neue Buch des streitbaren Mannheimer Wissenschaftstheoretikers erlaubt es, die vieldiskutierte Frage nach einer spezifisch philologischen Erkenntnis und Wahrheit erneut aufzunehmen, weil Albert in dieser Schrift eine umfassende Kritik hermeneutischen Philosophierens zum Anlaß nimmt, aus kritisch-rationalistischer Sicht auch die methodischen Grundlagen der Geisteswissenschaften darzustellen. Da er dabei notwendig auch die Frage einer eigenständigen, spezifisch geisteswissenschaftlichen, d. h. verstehenden, also .philologischen' Erkenntnisart diskutiert, bietet sich hier die Möglichkeit, die Themafrage gleichsam indirekt zu beantworten. Indem ich nämlich zu zeigen versuche, welche Implikationen Alberts (moderate) einheitswissenschaftliche Position enthält und welche Konsequenzen sich aus ihr für die Wirklichkeit der Geisteswissenschaften ergeben, erhoffe ich für die These der Möglichkeit einer philologischen Erkenntnis und Wahrheit einen Zuwachs an Plausibilität.
4 5
P. Szondi: Schriften I. Hrsg. von J. Bollack u. a. Frankfurt a. M. 1978,263. H. Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens. Tübingen 1994. (Aus diesem Buch wird im folgenden im Text unter bloßer Angabe der Seitenzahl zitiert.)
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II.
Schon vor über zwanzig Jahren machte Karl-Otto Apel anläßlich einer Bestandsaufnahme der neopositivistischen Auseinandersetzung mit den Geisteswissenschaften und deren methodologischen Problemen die wohl auch heute noch immer zutreffende Bemerkung, daß es strenggenommen nicht ganz richtig sei, von einer solchen neopositivistischen Auseinandersetzung mit den Geisteswissenschaften zu sprechen, „da deren eigentliches Herz, die Philologie in einem weiten Sinne, in der .Logik der Einheitswissenschaft' gar nicht behandelt, sondern schlicht ignoriert wurde". Apel denkt hier insbesondere an die einschlägigen Arbeiten von Neurath, Hempel, Oppenheim, Nagel, Abel und Stegmüller, an denen die Tatsache auffällig sei, daß sie „das Verstehen von Sprach-Zeichen, von Aussagen oder ganzen Texten aus Wissenschaft, Philosophie oder Literatur überhaupt nicht behandeln", also die Probleme des philologischen Verstehens nicht thematisieren. Während die neopositivistische Wissenschaftstheorie die Problematik der geisteswissenschaftlichen Methodologie weitgehend vernachlässigt, hat Hans Albert, der deutsche Hauptvertreter der kritisch-rationalistischen Fraktion der modernen Wissenschaftsphilosophie, das Problem des geisteswissenschaftlichen Verstehens immer wieder zu einem Gegenstand seiner wissenschaftstheoretischen Reflexion gemacht. Seine Behandlung dieser Fragestellung von einem kritizistischen Standpunkt aus, wie er sie zuletzt zusammenfassend in seinem jüngsten Buch vorgelegt hat, offenbart dabei keine krude neopositivistische, sondern eine durchaus differenziertere einheitswissenschaftliche Position. Die Möglichkeit einer autonomen geisteswissenschaftlichen Methode, d. h. einer spezifisch philologischen Erkenntnisweise, wird von Albert aber entschieden bestritten. Albert unternimmt mit seinem Buch den Versuch einer umfassenden kritischen Auseinandersetzung mit dem hermeneutischen Denken in der Philosophie, in den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften sowie in der Theologie. Veranlaßt ist diese Kritik offenbar weniger durch das in den letzten Jahren sowohl in der Philosophie wie auch in einigen wissenschaftlichen Disziplinen zu konstatierende „wachsende Interesse an der Problematik des Verstehens" als vielmehr durch die von Albert inkriminierte „hermeneutische Welle", die - wie er sagt - gewisse Disziplinen zu überfluten scheine, und die damit in Verbindung stehende „inflationäre Verwendung" des Begriffs ,Hermeneutik', die nichts zur Lösung der Problematik des Verstehens beitrage, sondern vielmehr die Verwirrungen zudecke, die durch das endemische Auftreten eines „hermeneutischen" Vokabulars gestiftet wurden. (VII) n
K.-O. Apel: Das Kommunikationsapriori und die Begründung der Geisteswissenschaften. In: R. Simon-Schaefer - W.Ch. Zimmerli (Hrsg.): Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Konzeptionen, Vorschläge, Entwürfe. Hamburg 1975, 33. Ebd. Vgl. auch H.-U. Lessing: Gegen Hans Alberts naturalistische Reduktion der Sinnproblematik. In: Dilthey-Jahrbuch ftlr Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 10, 1996, 264-273.
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Als Hauptverantwortlichen für diese Hermeneutik-Welle identifiziert Albert die von ihm sog. „universale Hermeneutik", die von Heidegger ausgehe und deren gegenwärtiger Hauptvertreter Hans-Georg Gadamer sei. Mit diesem Begriff wird - so Albert eine Bezeichnung, die bisher für eine bescheidene Spezialdisziplin, die Lehre von der Auslegung von Texten, benutzt wurde, auf eine philosophische Auffassung übertragen, die nur insofern etwas mit dieser Disziplin zu tun hat, als sie die Textmetapher zum Leitfaden einer Gesamtkonzeption gemacht hat, in der Erkenntnis überhaupt als Auslegung gedeutet wird.
Es handele sich bei dieser „universalen Hermeneutik" letztlich „um nichts anderes als eine neue Version des deutschen Idealismus mit relativistischen Konsequenzen". (VII) Damit erweise sich diese philosophische Strömung, wie schon der Historismus, evidenterweise als große Gefahr und Herausforderung für den klassischen Denkstil der Naturwissenschaften, der die moderne Kultur und die Wissenschaften entscheidend geprägt habe. Die Folge dieser historisch-relativistischen Infragestellung und Unterminierung des (neuzeitlichen) Glaubens an die Vernunft und die Möglichkeit, mit den Mitteln der Wissenschaft echte Erkenntnis zu erzielen, sei eine radikale Kritik der Moderne und der Rationalität in allen ihren Aspekten, die - wie Albert anmerkt - „zum zentralen Thema philosophischen Denkens" geworden sei. (lf.) Wegen der besonderen Bedeutung der „universalen Hermeneutik" für die von Albert behaupteten Fehlentwicklungen in der Philosophie und in den Geistes- und Sozialwissenschaften, steht zunächst im Zentrum die Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Philosophie Heideggers und Gadamers. Dabei verfolgt Albert die Strategie, insbeondere Gadamers Versuch einer philosophischen Hermeneutik kritisch abzuheben von der von ihm sog. „klassischen" Hermeneutik, die sich - wie Albert schreibt - als eine „Kunstlehre der Auslegung von Texten verstanden hatte" und für die ein „Streben nach Objektivitä" charakteristisch war. (3) Demgegenüber habe Gadamer - hier Heidegger folgend - „den Versuch unternommen, die Universalität des Verstehens und damit die grundlegende Bedeutung der Hermeneutik für alle Arten der Erfahrung nachzuweisen". Gleichzeitig habe er sich bemüht, wie zuvor schon Heidegger, „das Objektivitätsideal des wissenschaftlichen Denkens, das damit verbundene Erkenntnisziel und die daran orientierte Methode in Frage zu stellen und auf der Grundlage einer Hermeneutik zu relativieren". (2f.) Gadamers Auffassung, seine Ablehnung der „klassischen" Hermeneutik, verkörpere damit „in besonders eindrucksvoller Weise den Antinaturalismus der deutschen philosophischen Tradition", der sich vor allem auf Hegel zurückführen lasse. (3) Gadamers Philosophie sei damit nichts anderes als eine „neue Version des deutschen Idealismus Hegelscher Provenienz", mithin ein „Idealismus in hermeneutischer Maskerade". (3) Daher besteht Alberts wesentliches Ziel in dem Versuch, gegen Gadamers „reine", d. h. antinaturalistische Hermeneutik, in der die „Textmetapher zum Schlüssel für die Antwort auf ontologische Fragen" werde (3), die klassische Hermeneutik zu rehabilitieren und mit ihrer Hilfe eine strikt naturalistische Lösung der Sinnproblematik zu entwickeln.
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Die Heidegger-Kritik Alberts ist für unsere Fragestellung nur wenig ergiebig; Albert zeigt sich hier vor allem überwältigt von seinen Idiosynkrasien einer Philosophie gegenüber, die sich konsequent den Standards der neuzeitlichen Rationalität und ihres Methodenideals verweigert. Gegen Heidegger wird das auch aus anderen Zusammenhängen bekannte kritische Arsenal in Stellung gebracht: So kritisiert Albert Heideggers Wortspielereien, seine Begriffsdichtung, seine quasi-religiöse Seinsmystik (17), die Apriorisierung des alltäglichen Denkens (17f.), vor allem aber seinen Ausstieg aus dem gegenständlichen Denken (17f.) und die Aufgabe einer an der Wahrheitsidee orientierten Erkenntnispraxis (35). Besonders scharf geht Albert auch mit Heideggers Idee einer „Vor-Struktur" des Verstehens ins Gericht, die - wie er kritisiert - zu einer „Rehabilitierung des Vorurteils" führe; sie setze sich damit „bewußt zur üblichen Methodologie der Wissenschaften in Widerspruch". (23) Dadurch werde die Idee der Hermeneutik korrumpiert, die darin bestehe, „den Sinn von Texten im Sinne des jeweiligen Autors zu verstehen". (24f.) Aufschlußreicher ist dagegen Alberts Gadamer-Kritik, dient ihm doch dessen philosophische Hermeneutik als Negativfolie seiner eigenen Behandlung und Lösung des Hermeneutik-Problems. In den Mittelpunkt seiner Kritik rückt Albert zunächst Gadamers Ausdehnung der Textmetapher auf die Welt als Ganzes; die „Orientierung am Textmodell des Erkennens" durchziehe wie ein roter Faden sein ganzes Werk und verschaffe ihm die Möglichkeit, „die universale Hermeneutik als vorzugswürdige Alternative für die Deutung der menschlichen Erkenntnis dem Erkenntnisprogramm des Naturalismus entgegenzusetzen". (37) Diese am Textmodell orientierte hermeneutische Wende sei - so Albert - „außerordentlich folgenreich", denn sie führe dazu, „daß in allen Bereichen [...] Sinnzusammenhänge unterstellt werden". (47) Da die universale Hermeneutik davon ausgehe, daß das Textmodell allgemein verwendbar sei, führe dies in letzter Konsequenz dazu, daß - wie Albert schreibt - „der Verstehende überall Sinnzusammenhänge entdeckt, nicht nur in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch in der Natur". (47) Besonders nachdrücklich setzt sich Albert sodann mit Gadamers These einer Geschichtlichkeit des Verstehens und der daraus folgenden Zurückweisung der traditionellen Hermeneutik sowie der Überwindung des wissenschaftlichen Objektivitätsideals auseinander. In diesem Zusammenhang kritisiert er die zentralen Lehrstücke Gadamers, d. h. seine Auffassung des Verstehens als Einrücken in das Überlieferungsgeschehen, seine Theorie des Vorverständnisses, sein Prinzip der Wirkungsgeschichte und sein Konzept der Horizontverschmelzung sowie seine These, daß die Applikation integraler Bestandteil des Verstehens sei. Gegen Gadamers philosophische Hermeneutik und seinen „radikalen Historismus" verteidigt Albert die moderne Wissenschaftsauffassung und ihr Objektivitätsideal (65) und plädiert in diesem Zusammenhang gegen eine „philosophische" Hermeneutik für das Recht und die Legitimität der „klassischen" Hermeneutik. Dabei hält er deren Idee fest, daß es beim Verstehen eines Textes zunächst und primär darauf ankomme zu eruieren, was der Autor gemeint hat. (Vgl. 57) Gegen Gadamer hält Albert daher auch an der traditionellen Unterscheidung von Verstehen, Auslegung und Anwendung fest:
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Man darf nämlich zunächst einmal annehmen, daß man einen Text zuerst verstanden, also seinen Sinn identifiziert, haben muß, um ihn überhaupt auslegen, also diesen Sinn mit eigenen Worten wiedergeben zu können, und daß davon seine Anwendung auf eine konkrete Situation unterschieden werden muß, die ebenfalls ein Verstehen dieses Textes voraussetzt. (55f.)
Durch seine Gadamer-Kritik wird deutlich, daß Albert eine Hermeneutik intendiert, die strikt am wissenschaftlichen Wahrheits- und Objektivitätsideal orientiert ist. Die Hauptaufgabe einer solchen Hermeneutik bestehe vornehmlich darin - wie Albert ganz im Sinne der „klassischen" Hermeneutik postuliert -, das zu rekonstruieren, was der Autor tatsächlich gemeint hat. Obgleich er zugesteht, daß ein Text durchaus verschieden interpretiert werden kann, bleibt für ihn die Sinn-Erfassung des Autors die wesentliche Aufgabe des Interpreten. (Vgl. 65)9 Albert begreift die Deutung von Texten als Spezialfall der allgemeinen Erkenntnispraxis (vgl. 54) und entwickelt von einer strikt naturalistischen Position aus eine Lösung des Sinn- und Verstehensproblems. Sein entscheidender Gegenspieler ist der AntiNaturalismus, den er schon in den Philosophien Heideggers und Gadamers namhaft gemacht hatte. Unter ,Naturalismus' versteht Albert ein Erkenntnisprograrnm, „das auf theoretisch gestützte Erklärungen zielt, wie sie zum Beispiel in den Naturwissenschaften üblich sind". (3) Der Naturalismus überträgt somit - wie Albert an anderer Stelle formuliert das Programm der theoretisch gestützten Erklärung auch auf die .geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit' und kann sogar zeigen, daß die historischen Wissenschaften nicht ohne Einsichten von der Art auskommen können, wie sie in den theoretischen Realwissenschaften zutage gefördert werden. (77)
Damit ist nicht gemeint, den Naturwissenschaften eine Rolle als Hilfswissenschaften zuzuweisen; vielmehr sollen die Geisteswissenschaften methodisch nach dem Modell der Naturwissenschaften konzipiert werden. Naturalismus ist demnach die Auffassung, „man könne in der Geschichte nomologisches Wissen üblicher Art zur Erklärung des Geschehens anwenden", (l 13) Er ist - kurz gesagt - ein „Programm der theoretischen Erklärung aller Phänomene auf der Basis von Gesetzmäßigkeiten". (117) Für den AntiNaturalismus ist entsprechend charakteristisch die Weigerung, das Geschehen im Bereich der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit auch die menschliche Erkenntnis selbst als natürliches Geschehen in Kontinuität mit dem übrigen Naturgeschehen aufzufassen. (95)
Ein wesentliches Charakteristikum des hermeneutischen Denkens ist - so diagnostiziert Albert - nun ein Anti-Naturalismus, der sich - so Albert - „ontologisch an der Abgrenzung des Bereichs der Natur von dem der Geschichte orientiert". (79) Dessen „meVgl. dazu auch A. Bühlers an die Hermeneutik der Aufklärung anschließendes Programm eines „hermeneutischen Intentionalismus".
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thodologisches Korrelat" ist ihm zufolge die „Ablehnung der naturwissenschaftlichen Methode für die Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit". (79) Nun kann Albert mit einem gewissen Recht darauf verweisen, daß durch das Vordringen einer nach naturwissenschaftlichen Methoden verfahrenden Forschung in den menschlichen Bereich und der damit verknüpften Entwicklung theoretischer - das heißt: auf nomologischer Grundlage erklärender - Realwissenschaften diese ontologische Fundierung des geisteswissenschaftlichen Autonomieanspruchs problematisch geworden ist. (84; vgl. 97f.) Als Alternative zu den theoretischen Ansätzen des hermeneutischen Denkens und damit zur - offenbar gescheiterten - These einer Autonomie der Geisteswissenschaften postuliert Albert daher konsequent eine Behandlung der Sinnproblematik „im Rahmen eines naturalistischen Erkenntnisprogramms". (98) Dabei hofft er zeigen zu können, „daß im hermeneutischen Denken selbst durchaus Ansatzpunkte für eine derartige Behandlung dieser Probleme zu finden sind und daß für sie auf Forschungsergebnisse der Realwissenschaften zurückgegriffen werden kann". (98) Den Ausgangspunkt für seine Lösung der Sinnproblematik findet Albert - und dies ist immerhin bemerkenswert - in der „Auffassung der Hermeneutik", wie sie von Dilthey „im Anschluß an die ältere hermeneutische Tradition entwickelt wurde". (98) Albert stützt sich hierbei vornehmlich auf Diltheys Aufsatz über Die Entstehung der Hermeneutik; seine wirkungsreichen Ausführungen über Hermeneutik und die verschiedenen Formen des Verstehens aus dem Umkreis der großen Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften werden dagegen von Albert bezeichnenderweise nicht berücksichtigt. Für Dilthey - so führt Albert aus ist die Hermeneutik noch eine Kunstlehre, die das fllr die geisteswissenschaftliche Erkenntnis charakteristische Verfahren der Interpretation auf Regeln oder Formeln bringt, also die Grundlage einer Technik, die in ihrer Anwendung zumindest der Absicht nach nicht an eine bestimmte historische Epoche oder einen bestimmten Kulturkreis gebunden ist, also Allgemeinheit für sich in Anspruch nehmen kann. Sie ist mithin eine Technologie im üblichen Sinn des Wortes. (98)
Als so verstandene Technologie benötige die Hermeneutik - das ist Alberts zweiter Argumentationsschritt - eine „theoretische Grundlage", die eine - wie er sagt - „adäquate Analyse des Verstehens involvieren muß". (99) Somit dränge sich von einem naturalistischen Standpunkt bei der Behandlung der Verstehensproblematik die Konsequenz auf, daß eine „Technologie auf nomologischer Grundlage" anzustreben sei. Über diese Implikationen seines Hermeneutik-Verständnisses scheine sich - wie Albert hinzusetzt - im übrigen auch Dilthey „bis zu einem gewissen Grade [...] klar gewesen zu sein". (99; vgl. auch 102) Dilthey solle zwar nicht als Vertreter eines naturalistischen Programms vereinnahmt werden, andererseits sei allerdings „kaum zu sehen, welche Alter10 11
In: Gesammelte Schriften. Band V. Hrsg. von G. Misch. Leipzig und Berlin 1924, 317-338. In: Gesammelte Schriften. Band VII. Hrsg. von B. Groethuysen. Leipzig und Berlin 1927, 79-188; vgl. besonders Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, ebd. 205-227.
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native für ihn unter den von ihm selbst betonten Voraussetzungen in Betracht gekommen wäre". (99) Leider muß ich es mir an dieser Stelle versagen, auf diese zwar originelle, aber völlig verfehlte Deutung Diltheys näher einzugehen,12 möchte aber doch wenigstens anmerken, daß Alberts Bemerkung, bei Dilthey finde man noch nicht ,jenen aus einer Abwehrhaltung gegen das Eindringen nicht vertrauter Methoden entspringenden Drang der durch Heidegger geprägten jüngeren Hermeneutiker, sich gegen die Naturwissenschaften abzuschirmen" (100), für sich spricht. Als theoretische Grundlage der Hermeneutik kommt somit Albert zufolge nur eine Theorie in Frage, „mit deren Hilfe man in der Lage ist, das Verstehen zu erklären". (100) Damit unterläuft Albert die vieldiskutierte, klassische Alternative von „Verstehen oder Erklären". Ansätze zu einer solchen postulierten „nomologischen Durchleuchtung" (101), d. h. Erklärung des Verstehens, findet Albert insbesondere in der Psychologie Karl Bühlers (Vgl. 102ff.), kann doch - wie Albert zu erläutern sucht - das „Verstehen von Symbolen und Symbolverbindungen [...] im Rahmen seiner Lehre als ein Sonderfall der Wahrnehmung aufgefaßt werden". (103) Das Verstehen von Texten, also die philologische Interpretation - Albert spricht mit Bühler von „semasiologischem Verstehen" - ist somit ein von nomologischem Wissen abhängiges Verfahren; anders gesagt, eine Hermeneutik, die der „Identifizierung des Sinns von Texten" dient, hat einen nomologischen Hintergrund. (107) Es gibt also damit — so lautet Alberts Grundthese - keine eigenständige geisteswissenschaftliche Methode des „Verstehens". Insofern besteht nach Albert auch kein Grund für die Annahme eines von den Hermeneutikem behaupteten methodischen Abgrunds zwischen den nomologisch verfahrenden Realwissenschaften und den typischen, d. h. „verstehenden" Geisteswissenschaften. (111) Die Philologie ist daher in methodologischer Hinsicht nicht prinzipiell von den Naturwissenschaften getrennt: Soweit sich die Philologie auf die Interpretation von Texten beschränkt, ist sie als eine rein historische Disziplin zu betrachten, der es um die Feststellung unter gewissen Wertgesichtspunkten interessanter singulärer Tatbestände geht, die sich mit Hilfe hermeneutischer Techniken aufhellen lassen. Dabei werden also Deutungshypothesen produziert und geprüft, und in dem dazu erforderlichen Verfahren können Gesetzmäßigkeiten aller Art hilfsweise herangezogen werden, soweit sie für die Beurteilung der Richtigkeit solcher Deutungen relevant erscheinen. (112)
Das heißt, die philologische Interpretation, in Alberts Terminologie also das „semasiologische Verstehen", vollzieht sich nach demselben Schema wie die Erkenntnispraxis der Realwissenschaften. Das Modell nomologischer Erklärung gilt damit auch für die Philologie; ihre Forschungspraxis kann insofern durch die Formel „Produktion und Prüfung von Deutungshypothesen" zutreffend beschrieben werden. (90)
Vgl. F. Rodi: Gegen die methodische Verstümmelung der Wirklichkeit. Kritische Anmerkungen zum Programm einer „naturalistischen" Hermeneutik. In: Philosophia naturalis 32, 1995, 193-209.
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Ich fasse zusammen: Albert versucht insbesondere gegen die von Gadamer repräsentierte „philosophische Hermeneutik" seine These plausibel zu machen, daß Hermeneutik - ganz im Sinne der Tradition - als Kunstlehre des Verstehens, mithin als eine Technologie zu begreifen sei. Damit muß sie auf nomologisches Wissen zurückgreifen. Ihre eigene Existenz und Praxis widerspricht insofern der von der „hermeneutischen" Seite geltend gemachten Trennung naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methoden, die üblicherweise durch die griffige, aber wohl zu schematische Dichotomie von ,Erklären' und ,Verstehen' festgeschrieben wird. Die interpretierenden Verfahren der Geisteswissenschaften bilden demnach keine Sondermethode; für diese Wissenschaften gelten vielmehr dieselben methodischen Regeln und Standards, die sich in den von Albert sogenannten „Realwissenschaften" bewährt haben. Entsprechend bestreitet er die Realität einer spezifisch philologischen Methode und einer dieser Methode zukommenden Wahrheit. Es gibt somit keine methodologische Autonomie der Geisteswissenschaften, daher basieren die geisteswissenschaftlichen Verfahrensweisen ebenso wie die der Naturwissenschaften auf der Verwertung theoretischer Einsichten, also auf „Erklärungen auf der Grundlage nomologischen Wissens". (120) Und da die Möglichkeit einer eigenständigen geisteswissenschaftlichen Methode des Verstehens von Albert bestritten wird, hat sich nach kritizistischem Verständnis auch die Philologie der in den Naturwissenschaften üblichen hypothetisch-deduktiven Methode zu bedienen. Die Vorteile dieser Konzeption scheinen auf der Hand zu liegen: Indem die Geisteswissenschaften methodologisch an die erfolgreichen Naturwissenschaften angekoppelt werden, ist ihre Gnmdlagenunsicherheit, die so lange ihre Theorie und Praxis belastet hatte, definitiv beseitigt. Da es nur ein methodisches Verfahren gibt, wird durch diesen Anschluß auch für die Geisteswissenschaften das naturwissenschaftliche Ideal der Objektivität und Allgemeingültigkeit verbindlich; subjektivistische und relativistische Tendenzen sind damit abgewiesen. Es fragt sich nun allerdings, ob mit Alberts Modell das Verfahren der interpretierenden Geisteswissenschaften angemessen beschrieben wird. Zwar ist sicherlich nicht zu bestreiten, daß auch in diesen Disziplinen in bestimmten Zusammenhängen das hypothetisch-deduktive Schema zur Anwendung kommt, also Hypothesen aufgestellt und überprüft werden. Ob damit die Substanz der philologischen Tätigkeit treffend beschrieben wird, scheint mir allerdings sehr fraglich. Denn Albert erkauft seinen scheinbaren Gewinn durch einen entscheidenden Nachteil: er verfehlt - so meine These - in mehrfacher Hinsicht die Wirklichkeit der interpretierenden Wissenschaften. Albert verkürzt nämlich in unzulässiger Weise die Komplexität von Gegenstand, Methode, Erkenntnisziel und Wahrheitsanspruch dieser interpretierenden Geisteswissenschaften. Nun kann ich hier nicht die ganze gegen den Methodenmonismus ins Treffen geführte Palette von Argumenten für eine methodische Autonomie der Geisteswissen-
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Schäften anfuhren; ich möchte mich vielmehr beschränken auf die Herausstellung eines, allerdings wesentlichen Zusammenhangs. Albert - dies ist sein entscheidender Mangel - vernachlässigt völlig die von verschiedenen Autoren geltend gemachten Einsichten in den spezifischen Bezug, den das interpretierende Subjekt zu dem geisteswissenschaftlichen Gegenstand hat. Schon Dilthey hat darauf hingewiesen, daß wir ein anderes Verhältnis zur Natur als zu den Objekten der geistigen Welt besitzen, und er hat diese „Verschiedenheit zwischen unserem Verhältnis zur Gesellschaft und dem zur Natur"13 - und eben nicht eine schlichte ontologische Differenz von Natur und Geschichte - zum Ausgangspunkt seiner erkenntnistheoretischen Begründung der Selbständigkeit der Geisteswissenschaften gemacht. Wie Dilthey ausführt, sind uns nämlich die Tatbestände der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit „von innen verständlich"; demgegenüber ist die Natur „uns stumm".14 In diesem Sinne hat Helmuth Plessner auf die prinzipielle „Durchsichtigkeit" der geisteswissenschaftlichen Gegenstände hingewiesen. Wie er schreibt, „zeigt sich menschliches Material in Dokumenten und Monumenten, als Tun und Lassen, als Sprache und Arbeit, typisch transparent". Das heißt, „es erscheint nicht bloß wie Form und Farbe, Klang und Druck, Bewegung und Gewicht, sondern es drückt aus, bezeugt und bedeutete etwas". Das Material der Geisteswissenschaften, also menschliche Produkte und Relikte, Dokumente wie Monumente, verbleiben nicht wie die Naturobjekte in ihrer bloßen Materialität und Dinglichkeit, sondern verweisen durch ihr Ding-Sein hindurch auf anderes, eben ihren Sinn, ihre Bedeutung. Geistige Objekte sind demnach durch einen spezifischen Ausdruckscharakter ausgezeichnet. Die geistige Welt, in der wir leben, ist insofern, wie Georg Misch formuliert, eine „Ausdruckswelt". Und diese Tatsache hat auch unmittelbare methodologische Konsequenzen. Denn die Objekte der geisteswissenschaftlichen Forschung - so noch einmal Plessner - „sprechen sich selber aus und geben sich dem um sie Bekümmerten zu bedeuten".17 Das heißt, das geisteswissenschaftliche Material selbst „ruft" - wie Plessner schreibt - „nach Deutung, nicht nach Berechnung, weil es bei aller sinnlichen Stofflichkeit auf menschlichen Geist hinweist".18 Während wir die Naturobjekte in wissenschaftlicher Einstellung als fremd und stumm wahrnehmen, erfahren wir ,Texte' als sinnhaltig; sie sprechen uns an und erhe-
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W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. In: Gesammelte Schriften Band I. Hrsg. von B. Groethuysen. Leipzig und Berlin 1922, 36. Ebd. H. Plessner: Mit anderen Augen. In: Gesammelte Schriften. VIII. Hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker. Frankfurt a. M. 1983, 89. G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von G. Kühne-Bertram und F. Rodi. Freiburg - München 1994, 75ff. u.ö. H. Plessner: Macht und menschliche Natur. In: Gesammelte Schriften. V. Hrsg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker. Frankfurt a. M. 1981, 181. Plessner: Mit anderen Augen, a. a. O., 89.
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ben einen Anspruch. Misch hat diese Differenz im Aufbau dieser Gegenständlichkeiten, der sich im Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften zur Geltung bringt, dadurch zu bestimmen versucht, daß er die „Selbstheit der hermeneutischen Gegenstände" der Geisteswissenschaften von der „Selbstlosigkeit rein theoretischer Gegenstände" der Naturwissenschaften19 abhebt: Die eine Gruppe von Gegenständen, die der Geisteswissenschaften nämlich, hat einen Ausdruckscharakter, durch den sie etwas bedeuten und in ihrer Bedeutung verstanden (erlebt) werden, bei der andren Gruppe ist das nicht der Fall, z. B. Wärme oder Elektrizität drücken nichts aus, sondern sind Sachen für sich, zu Gegenständen gemachte Sachbeschaffenheiten ...20
Die Gegenstände der ersten Gruppe werden nicht bloß als Ausdruck verstanden, sondern sind selber Ausdruck, d. h. mit Dilthey gesagt, „Ausdruck des Lebens, das sich in ihnen objektiviert hat, Objektivation des schaffenden Lebens".21 Den Gegenständen der Geisteswissenschaften eignet insofern - wie Misch fortfährt der Ausdruckscharakter, weil sie (z. B. ein Kunstwerk oder eine Rechtsordnung) von sich aus etwas bedeuten, ja geradezu wissentlich etwas meinen; und dieses von sich aus legen wir dahin fest, daß sie ein eigenes Selbst haben, als hermeneutische Gestaltungen etwas Selbstmächtiges sind im Gegensatz zu selbstlosen Sachen.22
Diese unterschiedlichen Gegenständlichkeiten erfordern einen entsprechend angemessenen methodischen Zugriff. Misch hat die spezifische Methode der Interpretation von solchen Sinnzusammenhängen, also ,Texten' im weiteren Sinne, als „Evokation" bezeichnet. Wie er sagt, will das Evozieren „die Gegenstände selber sprechen lassen, d.h. es will die Gegenstände, die ihr eigenes Selbst haben, zur Aussprache ihrer Meinung von sich selber bringen". Während man zur Charakterisierung dieser verstehenden Auseinandersetzung mit Texten, also des Versuchs, den Sinn zu vernehmen, den der Text ausspricht, die Metapher des „Gesprächs" verwenden kann, bietet sich für die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihren Objekten die Metapher des „Verhörs" an. Diese Deutung läßt sich nicht zuletzt auch durch Hinweis auf die juridische Metaphorik rechtfertigen, mit der Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Forschungspraxis der neuzeitlichen Physik beschreibt. Für diese neuzeitliche Naturforschung ist das Objekt nicht ein Gesprächspartner mit eigenem Sinn- und Wahrheitsanspruch, sondern vielmehr ein Zeuge, der in einem Prozeß - wenn es sein muß - peinlich befragt wird.
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Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, a. a. O., 553. Ebd., 555; vgl. 539f. Ebd., 556. Ebd. Ebd., 561; vgl. 545f. u.ö.
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Indem Albert diesen wesentlichen Unterschied vernachlässigt, „verstümmelt" er um einen positivismuskritischen Lieblingsausdrucks Diltheys zu verwenden24 - die Realität des Textes und reduziert ihn auf ein bloßes Objekt einer Tätigkeit, die nach dem Paradigma der naturwissenschaftlichen hypothetisch-deduktiven Methode begriffen wird.25 Denn er negiert das für die Interpretation konstitutive „dialogische" Verhältnis zum (tradierten) Text. Zugleich reduziert er die Hermeneutik auf eine bloße Technologie und verkürzt schließlich den Sinn-Begriff auf die reine Autor-Intention. Das Verstehen von sedimentiertem Sinn kann aber nicht zureichend nach dem Modell des „Verhörs" begriffen werden, sondern es ist vielmehr ein Einrücken in eine Gesprächssituation, in der sich der Sinn-Anspruch des Textes und die Sinn-Erwartung des Interpreten vermitteln. Dies geschieht dadurch, daß weniger eine „Horizontverschmelzung" stattfindet als vielmehr eine - so möchte ich sagen -,Horizontverschränkung'. Interpretation ist somit - formelhaft gesagt - ein Verständigungsgeschehen und keine Ausfragung. Diese problematischen Implikationen und Konsequenzen einer solchen von Albert vertretenen einheitswissenschaftlichen Position machen daher - so meine weitere These - plausibel, daß man das Herzstück der Geisteswissenschaften, die interpretierenden Wissenschaften, nicht nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Methodologie formieren darf. Denn es gibt eine spezifisch philologische Methode, die sich entscheidend vom naturwissenschaftlichen ,Erklären' abhebt. Die Wahrheit einer solchen philologische Erkenntnis, die eine Erkenntnis sui generis ist, darf sich daher selbstverständlich nicht am naturwissenschaftlichen Ideal messen lassen. Diese Wahrheit ist - wenn man so sagen darf - vielmehr eine „Wahrheit des Gesprächs", eine Wahrheit also, die zwar nicht in der Weise naturwissenschaftlicher Erkenntnisse operationalisierbar, methodisch disziplinierbar und objektivierbar, gleichwohl aber nicht in einem schlechten Sinne subjektiv oder gar beliebig ist. Wie eine solche philologische Wahrheit methodisch zu sichern ist, bleibt Aufgabe einer hermeneutischen Wahrheitstheorie. Eine solche Wahrheitstheorie müßte die aufgezeigte kommunikative Struktur der philologischen Erkenntnis berücksichtigen und hätte u. a. zu zeigen, daß als Ort der Wahrheit nicht allein naturwissenschaftliche Gesetzesaussagen angesehen werden dürfen, sondern daß auch hermeneutische Begriffe2 und Aussagen ihre Wahrheit besitzen - aber das ist ein anderes weites Feld.
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Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, a. a. O., xvii; Vorrede. In: Gesammelte Schriften. Band V, a. a. O., 3. Vgl. auch Rodi: Gegen die methodische Verstümmelung der Wirklichkeit, a. a. O. Vgl. G. Kühne-Bertram: Der Begriff des ,hermeneutischen Begriffs'. In: Archiv für Begriffsgeschichte 38, 1995,236-260. Beiträge zu einer solchen hermeneutischen Wahrheitstheorie finden sich in Mischs Logik und F. Rodis Theorie hermeneutischer Evidenz. Vgl. dazu bes. F. Rodi: Befremdlichkeit und Bedeutsamkeit. In: G. Rupp (Hrsg.): Was leisten die Geisteswissenschaften für die Zukunft? Beiträge zum Modellversuch Geisteswissenschaftliches Studium fundamentale an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum 1992,93-109.
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Gibt es eine innere Einheit von Philologie und Philosophie?
i. Ob man eine innere Einheit von Philosophie und Philologie behaupten kann, hängt zunächst von der Bestimmung dieser Begriffe ab. Das zeigt sich schon in der griechischrömischen Antike, und wir können es im Artikel „Philologie" von A. Horstmann im Historischen Wörterbuch der Philosophie nachlesen: Versteht man etwa mit Seneca unter Philologia eine Wissenschaft, der es nur auf das Disputieren ankommt, und unter Philosophie ein Denken, das zum richtigen Leben und Handeln anleitet, dann sind freilich die Bereiche sehr verschieden, und zwar weniger durch ihren Gegenstand als durch ihre Zielsetzung. Begreift man aber Philologia mit Grammatikern des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts wie Phrynichos, Polux und Heredias als Liebe zum Logos oder den Logoi, dann wird sie mit der Philosophie identisch.1 Das ist dann auch wirkungsreich in Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii der Fall, da hier die Philologie gerade nicht die Fähigkeit der Rede oder die Liebe zu ihr, sondern Wissen und Weisheit repräsentiert. Wenn sie bei ihrer Hochzeit mit Merkur von diesem als Brautgeschenk die sieben freien Künste erhält, sind unter dem Begriff der Philologie auch Philosophie und gelehrtes Wissen vereint.2 Bis in die Gegenwart hängt die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Philologie und Philosophie davon ab, was man unter diesen beiden Begriffen versteht.
2. Allerdings haben sich in unserer Kultur Konventionen herausgebildet, die man durch Rückgriff aufs Altertum oder durch originelle Definitionen nicht leicht beiseite räumen kann. Mag eine genaue Bestimmung der Philologie noch immer strittig sein, so überzeugt ein Blick in die Konversationslexika, daß man sich im Grundzug doch einig ist. Unter Philologie im engeren Sinne versteht man den wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Textkritik und Interpretation, im weiteren Sinne die Wissenschaft einer be1
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Axel Horstmann: Philologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 552-572, bes. 553f. Martianus Capella: De Nuptiis Mercurii et Philologiae. Hrsg. von J. Willis. Leipzig 1983.
Gibt es eine innerer Einheit von Philologie und Philosophie?
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stimmten Kultur aufgrund von Texten.3 Es fallt nicht schwer, sich den Zusammenhang der beiden Bedeutungen zu rekonstruieren. Textverständnis erfordert Kontextkenntnisse, und wer sich für die Kulturen interessiert, muß ihre Literaturen lesen. Nirgends aber ist heute - anders als noch im 18. Jahrhundert - jene Bindung der Philologie an Weisheit und Philosophie in den lexikalischen Definitionen präsent. Dahinter steht die Entwicklung der neuzeitlichen Textwissenschaft. Die Philologie hat ein Ensemble von Methoden und mit deren Hilfe Leistungen hervorgebracht, die im Kern jenseits von allen spekulativen Überlegungen zum Logos festlegen, was ein philologisches Verfahren genannt werden kann und wo anerkannte philologische Spielregeln verletzt wurden.4 3.
Das ist in der Philosophie gänzlich anders. Sie ist inzwischen weit pluralistischer, und auch das kommt in den Handbuchdefinitionen zum Ausdruck.5 Blicken wir auf die sogenannten Hauptströmungen der Gegenwart, kommen wir gar nicht in Versuchung zu fragen, ob Logik, Transzendentalphilosophie oder die Phänomenologie der Husserlschule mit der Philologie eine neue Hochzeit eingehen konnten; denn diese Schulen verteidigen erstens ein Wissen, das nicht an kulturelle Kontexte und nicht konstitutiv an den Dialog gebunden ist, und zweitens sind sie nicht auf ein genaues Erfassen der geschichtlich menschlichen Welt ausgerichtet. Hingegen sind analytische Philosophie, die Spielarten des Marxismus und die hermeneutische Philosophie Positionen, die sich mit der Philologie arrangieren müssen, da sie jene Kontext- und Geschichtsfreiheit der anderen Schulen nicht überzeugt und da sie - wie schon G. Vico - die menschliche Welt begreifen möchten oder zumindest in Rechnung stellen. Allerdings zeigt in der Regel die analytische Philosophie wenig Ehrgeiz, sich auf bestimmte Texte der Vergangenheit einzulassen und beruft sich lieber auf die normale Sprache, und deshalb ist für sie auch die Philologie nicht zentral. Die Spielarten des Marxismus andererseits akzentuieren zwar die Bedeutung breiten historischen Wissens und benötigen deshalb stets auch Philologie, aber eine innere Einheit mit dieser kommt schon deshalb nicht zustande, weil das, was den Marxismus zum Marxismus macht, eben wesentlich der Ökonomie und Soziologie angehört und sich nicht mit der Philologie berührt. Bleibt die Philosophie
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Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 18. Mannheim, Wien, Zürich 1980, Sp. 582ff. Brockhaus Enzyklopädie. 19. Aufl. Bd. 17. Mannheim 1992, S. lOlff. Das gilt namentlich für die Textkritik, aber auch für die Interpretation. Der Philologe hat heute z. B. nicht die Möglichkeit, die Ilias auch allegorisch zu deuten, sondern er muß jeweils zu unterscheiden suchen, was als Allegorie gemeint ist und was nicht. Die entsprechenden Artikel zu "Philosophie" aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie umfassen ca. 350 Spalten und sind, herausgegeben von Karlfried Gründer, auch separat erschienen: Philosophie in der Geschichte ihres Begriffs. Basel 1990.
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übrig, die man Hermeneutik oder hermeneutische Philosophie nennt.6 Diese gewinnt heute in eben dem Maße an Gewicht, wie die Annahme einer apriorischen, transzendentalen Vernunft angesichts der Pluralität von Kulturen und des radikalen Geschichtswandels ihre Überzeugungskraft verliert, und dringt inzwischen auch in die Wissenschaftstheorie und die Sozialwissenschaften ein. Sie kennt keine Systematik, zielt gewöhnlich nicht auf allgemeine Theorien ab, legt dafür aber Wert auf die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Welt und ersetzt die transzendentale Vernunft zumeist durch Sprache. Deshalb ist von dieser - zwar nie klar definierten, aber heute doch vielfaltig betriebenen - Philosophie am ehesten eine intime Nähe zur Philologie oder sogar eine Einheit mit ihr zu erwarten.
4. Und so ist es auch. Wir finden in einem der heute bekanntesten Werke dieser Richtung, in Gadamers Wahrheit und Methode, zwar diese Einheit expressis verbis nicht ausgesprochen, der Sache nach aber behauptet. Denn wenngleich Gadamer gelegentlich sagt, Hermeneutik sei ein „Aspekt" - also nur ein Aspekt - aller Philosophie, so erhalten wir doch ein Bild von Philosophie, demzufolge sie insgesamt hermeneutisch, nämlich wesentlich Auslegung und Applikation der Tradition oder klassischer Texte sowie das Bewußtsein dieses Vorgangs ist. Der Philologe aber erscheint als der, welcher „einen Text um seiner Schönheit und Wahrheit willen verstehen will" und der mit diesem Verstehen zugleich eine Applikationsleistung vollbringt; auch er soll ein Bewußtsein dieses Vorgangs haben. Dadurch lösen sich die Grenzen zwischen Philosophie und Philologie auf, und Horstmann sagt mit Recht, daß bereits der Altphilologe Harald Patzer diesen Weg beschatten hat. In der Auseinandersetzung mit Interpretationsproblemen der antiken Philosophie war Gadamer schon 1952 zur Einsicht gelangt: „So aber bestätigt die Philosophie sich selber, daß sie Philologie, d. h. Verstehen und Auslegung sein muß."9 So hätten wir also auch in der Gegenwart wieder eine einflußreiche Behauptung der Einheit von Philosophie und Philologie, und da Gadamer in seinem Kernstück, der o
Hermeneutische Philosophie. Hrsg. von Otto Pöggeler (München 1972). Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991. Verf.: Was ist und seit wann gibt es „hermeneutische Philosophie"? In: Dilthey-Jahrbuch. Bd. 8, 1992/93, S. 93-119. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen 1986, S. 342, 345f. A. Horstmann, a. a. O., Sp. 571. Gadamer erwähnt Patzer, a. a. O., S. 343. Schon Patzer versucht, die Philologie vom Historismus zu befreien und sie auf die Vermittlung von Wahrheit zu verpflichten. Aufgabe der echten, der humanistischen Philologie sei es, „für das Leben letzte Weisungen zu erlangen". „So fallen Philologe, Humanist und Philosoph am Ziel zusammen." Harald Patzer: Der Humanismus als Methodenproblem der klassischen Philologie (1948). In: Humanismus. Hrsg. von Hans Oppermann. Darmstadt 1970, S. 259-278, Zit. S. 277,278. Gadamaer: Das Lehrgedicht des Parmenides (1936). Refraktionen (1952). Gesammelte Werke. Bd. 6. Tübingen 1985, S. 49. Vgl.: Philosophie und Philologie. Über Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. 1982, a. a. O., bes. S. 277.
Gibt es eine innerer Einheit von Philologie und Philosophie?
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Sprachontologie, auch vielfaltig auf den antiken Logos zurückgreift, könnte er sich vermutlich auch mit jenen älteren Einheitsthesen neu ins Einvernehmen setzen (und hat das vielleicht auch getan). Allerdings besteht jene Nähe oder Einheit laut Gadamer nur dann, wenn wir ins Auge fassen, was Philologie „in Wahrheit" ist, d. h. was sie sein sollte, nicht aber, wenn wir sie als das nehmen, als was sie sich faktisch darstellt und wofür sie gewöhnlich gehalten wird. Gadamers Ausführungen sind durchzogen von einer Kritik an einer Philologie, die sich durch ihre Methodik definiert und durch das historische Bewußtsein zur bloßen „Hilfsdisziplin der Historie geworden" ist. Der Philologe als „Freund der schönen Reden" verkenne sich selbst, „wenn er sich unter den Maßstab historischer Forschung beugt". Allerdings könnten und sollten auch Philologie und Historie zu einer „inneren Einheit" kommen, aber dies sei möglich nur dann, wenn auch die Historie sich nicht durch ihre Methodik, sondern ebenfalls durch ihre Applikationsleistung definiere. Ihr wahres Verhältnis sei dann das folgende: Wenn der Philologe den gegebenen Text, und das heißt, sich ... in seinem Text versteht [d. h. ein Selbstverständnis gewinnt], so versteht der Historiker auch noch den großen, von ihm erratenen Text der Weltgeschichte selbst, in dem jeder überlieferte Text nur ein Sinnbruchstück, ein Buchstabe ist, und auch er versteht sich selbst in diesem großen Text. Beide, der Philologe wie der Historiker, kehren damit aus der Selbstvergessenheit heim, in die sie ein Denken verbannt hielt, für das das Methodenbewußtsein der modernen Wissenschaft der alleinige Maßstab war.''
Also: Die philosophische Hermeneutik gibt Philologie und Historie das angemessene Bewußtsein und führt sie aus der Selbstvergessenheit heraus; die hermeneutische Philosophie - die Gadamers Buch nach Aussage des Autors auch darstellt - aber fällt offensichtlich mit der Einheit von Philologie und Historie inhaltlich zusammen. So ergibt sich folgender Befund: Die Philologie wird als wahre Philologie oder als philosophisches Geschäft dadurch gerechtfertigt, daß sie auf die applikative Vergegenwärtigung tradierter Wahrheit und Schönheit verpflichtet wird; ihre spezifisch wissenschaftliche Methodik aber wird über Bord geworfen oder ganz an den Rand gedrängt. Kurz: Die Philologie wird philosophisch, indem sie aufhört, im eigentlichen Sinn Philologie zu sein - ganz parallel zur Hermeneutik, die einem ähnlichen Gestaltwandel unterzogen wird und ihren Charakter als Kunst- oder Methodenlehre verliert. Das ist insgesamt ein auffälliges Ergebnis. Denn die philosophische Hermeneutik, die ins Zentrum ihres Denkens die Geschichtlichkeit, d. h. die Geschichtsbedingtheit des Menschen und die Wandelbarkeit seiner Welt, rückt, distanziert sich vom historischen Bewußtsein und allen historischen und philologischen Methoden, welche allein annähernd sicheres Wissen vom Geschichtswandel verbürgen könnten.
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A. a. O., S. 343. " A. a. O., S. 346.- Später hat Gadamer, auf Einwendungen reagierend, Philologie und Historik zu trennen versucht: Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985). Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen 1993, S. 20f.
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5.
Die Klärung dieses Sachverhaltes verlangt einen kurzen Blick auf das Denken von Gadamers Lehrer. In seinem Vortrag Wissenschaft und Besinnung von 1953 formuliert Heidegger seine bekannte Kritik der neuzeitlichen Wissenschaften und fügt in diese auch die Philologie ein. Moderne Wissenschaft sei stets Berechnung, Verwaltung, Verfügung und Vergegenständlichung; „die moderne Wissenschaft ist als Theorie im Sinne des Betrachtens eine unheimlich eingreifende Bearbeitung des Wirklichen".12 Die einzelnen Fächer teilen laut Heidegger die Wirklichkeit auf und unterwerfen die Gegenstandsgebiete bestimmten Methoden. So auch die Philologie: Die Philologie macht die Literatur der Nationen und Völker zum Gegenstand des Erklärens und Auslegens. Das Schriftliche der Literatur ist jeweils das Gesprochene einer Sprache. Wenn die Philologie von der Sprache handelt, bearbeitet sie diese nach den gegenständlichen Hinsichten, die durch Grammatik, Etymologie und vergleichende Sprachhistorie, durch Stilistik und Poetik festgelegt sind.13
Damit sind Philologie und Philosophie unversöhnlich getrennt: Jene ist Wissenschaft diese Besinnung; jene vergegenständlicht wie die Naturwissenschaften - diese erkennt das als Verhängnis. Heidegger macht die richtige Beobachtung, daß die einzelnen Wissenschaften ihre Selbstreflexion nicht im Medium ihrer Fachterminologie und nicht mit ihren eigenen Methoden vollziehen können. Die Physik kann als Physik über die Physik keine Aussagen machen. ... Die Physik selbst ist kein möglicher Gegenstand eines physikalischen Experimentes. Dasselbe gilt von der Philologie. Als Theorie der Sprache und der Literatur ist sie niemals ein möglicher Gegenstand philologischer Betrachtung. Das Gesagte gilt für jede Wissenschaft.14
Wir wundern uns, die Philologie als „Theorie" bezeichnet zu finden, aber wir verstehen: Befangen in ihrer methodischen Vergegenständlichung, gelangen die Wissenschaften und mit ihr die Philologie nie zu einem angemessenen Selbstverständnis. Aber das gilt offensichtlich auch für Heideggers philosophische Besinnung. Denn während er im hier zitierten Aufsatz die Philologie von der Philosophie strikt abgrenzt, nimmt er selbst philologisches Wissen und philologische Leistungen für seine Argumentation in Anspruch - das etymologische Lexikon von Emout-Meillet und die Akademieausgabe der Aristotelischen Werke werden u. a. zitiert15 -, und es werden viele Aussagen getroffen, die dringend der philologischen Stützung bedürfen, ja nur aufgrund philologischer Arbeit möglich sind; so die Thesen bezüglich der Semantik griechischer Begriffe und ih12
Martin Heidegger: Wissenschaft und Besinnung (1953). Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, S. 56. 13 A. a. O., S. 64. 14 A. a. O., S. 65. " A. a. O., S. 54, 53.
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res Wandels in der römischen Latinität.16 Deshalb hat Heidegger - entgegen seiner Intention - faktisch vor Augen geführt, daß Philosophie und Philologie zwar nicht identisch sind, diese Bereiche aber dann, wenn die Geschichte von Philosophie und Wissenschaften in das systematische Denken eindringen, auch verbunden werden müssen. Gadamer hat jenen Widerspruch bei seinem Lehrer zwischen philosophischer Intention und faktischem Tun nicht aufgelöst, sondern übernommen; auch er kritisiert das Beharren auf philologischen Methoden als Angleichung an die Naturwissenschaften und muß sie doch selbst in Anspruch nehmen. Aber er vollzieht angesichts von Heideggers Wissenschaftskritik eine Ehrenrettung der Philologie. Und er kann das um so leichter, als er im Dritten Humanismus Werner Jaegers das Beispiel einer Philologie vor Augen hatte, die gar nicht primär wissenschaftlich, sondern kulturreformerisch ausgerichtet war, und zwar durch Rückgang zu den klassischen Werken der Antike. Da bei Gadamer Heideggers ,Sein', das sich geschichtlich offenbart und entzieht, zur „Tradition" wird, kann er in der Philologie eine Vermittlungsinstanz oder ein Medium dieser Tradition erblicken.- Allerdings fragt sich, wie lebendige Tradition und institutionelle Philologie sich qualitativ noch unterscheiden, wenn Philologie als wissenschaftliche Disziplin zurückgedrängt oder ganz überwunden werden soll. Die Methodenkritik der Heideggerschule bedeutet jedenfalls das Paradox, daß man über die Geschichtlichkeit der menschlichen Verhältnisse, über das „Seinsgeschick", nachdenkt und doch die historischen und philologischen Methoden meint tilgen oder an den Rand drängen zu können. Wenn wir z. B. noch immer von Heideggers berühmtestem Buch, von Sein und Zeit, keine kritische Ausgabe besitzen, in der die Abweichungen der einzelnen Auflagen verzeichnet sind, und wenn offensichtlich der Eindruck erweckt werden soll, das Werk sei gleichsam durch Verbalinspiration in endgültiger Textgestalt auf die Welt gelangt, so liegt das an jenem Charakter dieser Schule: Diese Philosophie der Geschichtlichkeit ist unhistorisch und will es sein, weil Historic für sie eine illegitime Vergegenständlichung bedeutet. 6.
Heidegger und Gadamer stützen sich beide für ihre philosophischen Konzeptionen mit einiger Bewunderung auf Gedanken von Diltheys Freund, dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, der bereits von der radikalen Geschichtlichkeit des Menschen überzeugt war und der als wichtiger Mitbegründer einer hermeneutischen Philosophie gelten kann; erklärte er doch die traditionelle Trennung von Systematischem und Historischem, an der sogar noch Dilthey festhielt, für „unrichtig"; „bei der inneren Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins ist eine von der Historic abgesonderte Systematik methodologisch inadaequat."1 " A. a. O., S. 49ff. " Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877-1897 [Hrsg. von S. v. d. Schulenburg]. Halle/Saale 1923, S. 251 (Brief vom 11. 2. 1884), S. 69 (Brief vom 4. 12. 1887).
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Schon bei Yorck finden wir gelegentlich Bemerkungen zur Philologie als Wissenschaft, die in einigen Punkten die Kritik Heideggers und Gadamers antizipieren. Nach der Lektüre von Karl Friedrich Hermanns Geschichte und System der Platonischen Philosophie schreibt er darüber 1886 an Dilthey: Um einen kunstkritischen Ausdruck des trefflichen Vischer zu gebrauchen: ein zügig geschriebenes Buch, aber von einer entsetzlichen intellektuellen Trivialität. Er berührt ja nirgends die Seele platonischen Denkens. Der echte Philologus, der einen Begriff von Historic hat als von einem Antiquitätenkasten. Wo keine Palpabilität — wohin nur lebendige psychische Transposition führt, da kommen die Herren nicht hin. Sie sind eben im Innersten Naturwissenschaftler und werden noch mehr zu Skeptikern, weil das Experiment fehlt. Von all dem Krimskrams, wie oft z.B. Platon in Großgriechenland oder Syrakus gewesen, muß man sich ganz fern halten. Da hängt keine Lebendigkeit dran. Solche äußerliche Manier, die ich nun kritisch durchgesehen habe, kommt zuletzt zu einem großen Fragezeichen und ist zu Schanden geworden an den großen Realitäten Homer, Platon, Neues Testament. Alles wirklich Reale wird zum Schemen, wenn es als ,Ding an sich' betrachtet, wenn es nicht erlebt wird.18
Der echte, typische, der reine Philologe verfehlt also seine Aufgabe. Er verhält sich zu den historischen Phänomenen so äußerlich wie ein Naturwissenschaftler zu den Naturobjekten, und dadurch verfestigt sich und vertrocknet die lebendige Geschichte zum Inbegriff toter Gegenstände. Aber dadurch verlieren die historischen Phänomene ihre Realität, da Geschichte - ich greife auf einen anderen Brief zurück - als „Kräftekonnex" aus „Krafteinheiten" und nicht aus toten Gegenständen besteht Die lebendige Geschichte wird dem distanzierten Beobachten und Konstatieren unzugänglich, da Leben nur durch Leben verstanden wird. Deshalb benötigt der Philologe die Fähigkeit zu „psychischer Transposition", und d. h. er muß sich selbst als Schlüssel zum Verständnis vergangenen Lebens einsetzen. Fehlt dieser Einsatz, endet der Philologe in erkenntnistheoretischem Skeptizismus, dem sein Gegenstand zerfallt. „Historische Gestalten müssen flüßig gemacht werden, sonst kommt Staub zu Staube." Yorck zitiert als Beispiele der typischen, d. h. nur äußerlichen Philologie die Forschungen des 19. Jahrhunderts zu Homer, Platon und Neuem Testament, wo überall durch Textkritik das vormalige Corpus sich in ein Gemisch von mutmaßlich früheren und mutmaßlich späteren Stücken auflöste, wodurch diese Texte der Rezeption tendenziell entzogen wurden. Yorck hätte hier noch das römische Recht nennen können, da die an ihm geübte Konjekturalkritik laut P. Koschaker im 19. Jahrhundert keineswegs dazu führte, den reinen, ursprünglichen Kern herauszuschälen, sondern ein verwirrendes Sammelsurium von Fragmenten hinterließ.21 Was Yorck am Beispiel des Philologen Hermann kritisiert, ist also das, was man wenig später allgemein als „Historismus" bezeichnete und bekämpfte, Historismus im Sinne des historischen Objektivismus und Positivismus, der große Mengen an histori" A. a. O., S. 6l (Brief v. 5. 8. 1886). " A. a. O., S. 193 (Brief v. 21. 10. 1895). 20 A. a. O., S. 59 (Brief v. 6. 7. 1886). 11 Paul Koschaker: Europa und das römische Recht. München - Berlin 1947, bes. S. 308ff.
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sehen Literaturen erforscht und verwaltet, aber deren Bedeutung fraglich werden läßt. Bei Heidegger und Gadamer geht die Kritik an der wissenschaftlichen Philologie Hand in Hand mit einer Kritik an eben diesem Historismus, der bei Heidegger mit den Naturwissenschaften auf einer Stufe steht und ebenfalls an der „technischen Organisation" der modernen Welt beteiligt ist.22 Doch jene kritischen Bemerkungen Yorcks zum echten Philologus sind nur die eine Seite seines Denkens. Als der Altphilologe H. Usener 1884 sein Unbehagen an den arbeitsteiligen und sich spezialisierenden Wissenschaften äußert („die Wissenschaft schieße in's Kraut - Kraut, das man ausbrechen muß") und sie wieder mit einigem Pathos zum Geist Platons zurückrufen will, erkennt Yorck das als „Anachronismus"; Usener mißachte die Epochengrenzen, der Boden seiner Wissenschaftsauffassung sei „der einer Vergangenen Welt, der antiken." Und er schließt den Passus mit der Bemerkung: „Ich meine, daß es eine rechte Gefahr für die Philologie ist, wenn sie etwas Anderes als historisch, wenn sie spekulativ sein will."24 Das aber läuft der Intention von Heidegger und Gadamer zuwider. Denn hier wird die Philologie als Altertumswissenschaft anerkannt, wird weder als Traditionszerstörung kritisiert noch auf die Bewahrung alter Wahrheit und Schönheit festgelegt, sondern sie wird in den Dienst der historischen Erkenntnis gestellt. Und das paßt sehr gut in den Rahmen von Yorcks Geschichtsdenken; geht es ihm doch insgesamt um eine möglichst angemessene Erkenntnis der spezifisch historischen Realität. So scheint mir Yorck eine andere Konstellation von Philologie und Philosophie zu favorisieren. Die Philologie als Instrumentarium historischer Forschung ist ebenso nötig wie der philosophische Blick, der gleichsam ins Innere des historischen Lebens zu dringen sucht. Beides ist verschieden, aber keine Seite darf fehlen.
7. Eine ähnliche Konstellation finden wir wenig später bei B. Croce ausformuliert. Auch Croce arbeitet an jenem Historismusproblem, das eben am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Nietzsche wahrnahm, und er löst es durch einen kühnen Handstreich. Alles historische Wissen - es mag aus dem Bereich der Philosophie oder der Politik oder der Religion usw. stammen - fügt sich nur dann zu einer wahren Geschichte, wenn es dem sich selbst gegenwärtigen Geist dient, wenn es in seinen aktuellen Interessen gründet und von ihm denkend mit Inhalt gefüllt wird. Alles andere historische Wissen aber, die Sammlung von Dokumenten und Berichten, ergibt nur Chroniken, d. h. tote und leere Geschichten, die der Geist nur vorsorglich sammelt, um sie bei Bedarf neu zu beleben, d. h. für das Verständnis seiner Gegenwart einzusetzen und so für wahre Geschichten 22 23
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Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander (1946). Holzwege. Frankfurt/M. 51972, S. 301. Hermann Usener: Organisation der wissenschaftlichen Arbeit. Bilder aus der Geschichte der Wissenschaft. In: Preußische Jahrbücher 53, 1884, S. 1-25, zit. S. 2. Briefwechsel, a. a. O., S. 251 (Brief v. 11.2. 1884).
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zu benutzen.25 Damit ist all das, was an historischem Tatsachenmaterial die „Last von Geschichte" ausmacht, über die schon Kant klagte, zur nur toten Geschichte erklärt, die den lebendigen Geist nichts angeht. Denn historische Realität ist nur die gedachte, die aktual realisierte Geschichte. Croce nennt die Archivare oder Archäologen des toten historischen Materials die „Gelehrten" oder die „Philologen" und ihre „auf äußeren Dingen", auf äußerlichen Dokumenten und Resten aufgebaute Pseudo-Historie, die aus „leeren Überlieferungen und toten Dokumenten" besteht, die „philologische Geschichte" - kein Kompliment für die erfolgreiche Philologie des 19. Jahrhunderts. Dennoch ist die philologische Arbeit laut Croce für den geschichtlichen Geist ebenso wichtig wie sein Denken, denn er erkennt die historische Wirklichkeit, d. h. sich selbst, nicht ohne Dokumente: Dokument und Kritik einerseits, Leben und Denken andererseits sind die „wahren Quellen der Geschichte, d. h. die beiden Elemente der geschichtlichen Synthese". 7 Da wahre Geschichte in unseren Interessen, in unserer eigenen Brust wurzelt, kann Croce schließlich resümieren: ... einzig unsere Brust ist der Schmelztiegel, in welchem das Gewisse (certum) zum Wahren (verum) wird und die Philologie durch Verbindung mit der Philosophie die Geschichte erzeugt.28
Der etwas rätselhafte Satz wird verständlich, wenn man Croces Hinweis folgt und G. Vicos Scienza Nuova aufschlägt. Hier beginnt der zehnte Grundsatz wie folgt: Die Philosophie betrachtet die Vernunft, und daraus entsteht die Wissenschaft des Wahren; die Philologie beobachtet, was die menschliche Willkür als Gesetz aufgestellt hat, und daraus entsteht das Bewußtsein von dem, was gewiß ist.29
Das verum verhält sich dabei zum certum wie die Idee oder das aristotelische „Allgemeine und Ewige" zum Tatsächlichen, Kontingenten, Individuellen; ° „certum im guten Latein [so belehrt uns Vico] heißt , oder wie die Schulen sagen, ". Vicos Einteilung folgt also noch immer der aristotelischen Unterscheidung von Theorie und Erfahrung, Philosophie und Empirie. Der Philosoph erkennt das Vernünftige, die Ideen und das Allgemeine, die Philologen aber sind die Grammatiker, Historiker, Kritiker, die sich mit dem Studium der Sprachen und der Taten der Völker befaßt haben: sowohl der inneren Taten, wie Sitten und Gesetze, als auch der äußeren, wie Krieg, Frieden, Verträge, Reisen, Handel.32 25
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Benedetto Croce: Theorie und Geschichte der Historiographie. Gesammelte philosophische Schriften. 1. Reihe. Bd. 4. Tübingen 1930. A. a. O., S. 15. A. a. O., S. 13. A. a. O., S. 16. Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausg. von 1744 übers, u. eingel. von Erich Auerbach. Berlin 1965, S. 78. A. a. O., S. 85, Axiom 22. A.a.O., S. 121, Axiom 111. A. a. O., S. 78f., Axiom 10.
Gibt es eine innerer Einheit von Philologie und Philosophie?
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Die Neue Wissenschaft entsteht durch Verbindung oder durch nuptiae jener Disziplinen. Die Philosophie erhält durch Philologie ihr Material, die Philologie aber wird durch Philosophie kritisch kontrolliert und perspektiviert, und das Ergebnis ist das Bild einer theoretisch durchdrungenen menschlichen Welt in ihrer zeitlichen Erstreckung. Vico und Croce haben beide Philologie und Philosophie nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach strikt getrennt, für die Wissenschaft von der Geschichte aber verbunden. Vico nennt diese Verbindung Philosophie, die neue Wissenschaft heißt „Philosophie der Überlieferung" oder „Philosophie der Autorität",33 bei Croce aber erscheint die Verbindung als storiografia oder storicismo. Die Verschiebung zeigt sich auch in der jeweils anderen inhaltlichen Akzentuierung. Vico betont, daß die Philosophie notwendig der philologischen Kenntnisse bedarf, wenn sie Geschichte begreifen will, und er zielt ab auf eine materiale Geschichtsphilosophie; Croce akzentuiert, daß die Philologie den lebendigen philosophischen Gedanken braucht, will sie nicht leere Geschichten verwalten, und er intendiert eine lebendige Geschichtsschreibung. Vico denkt eben am Beginn des 18., des „philosophischen Jahrhunderts", Croce aber am Ende des 19. Jahrhunderts, das sich schon selbst das „historische" nannte. Aber bei beiden lebt die Wissenschaft der Geschichte davon, daß Philologie und Philosophie prinzipiell verschieden sind und nur im Hinblick auf ihren Gegenstand, die menschliche Welt, verbunden werden. Dies scheint mir die überzeugendere Konstellation und auch dann noch richtig zu sein, wenn die aristotelische Theoria zur Interpretationshypothese wurde. 8.
Ebenso wie Physik und Mathematik zwei verschiedene Disziplinen sind, wenngleich die moderne Physik ohne Mathematik nicht existieren kann, ebenso sind Philologie und Philosophie unterschieden, obwohl bes. die hermeneutische Philosophie, welche die Geschichtlichkeit der menschlichen Welt bedenkt oder mitbedenkt, nicht ohne Philologie auskommt. Denn mag man noch so unsicher hinsichtlich des Philosophiebegriffes sein, nie wird man die Methoden der Textkritik philosophisch nennen wollen und nie von der Philologie allgemeine Aussagen über die Wissenschaften erwarten. Es kann eine Philosophie der Philologie geben - wie etwa bei Friedrich Schlegel -, aber keine Philologie der Philosophie, sondern allenfalls eine philologische Behandlung philosophischer Texte. Die reine, die reflexionslose Philologie war nicht erst bei Yorck und Croce Gegenstand der Kritik, sondern auch Schelling und Hegel polemisierten gegen den trockenen Verstand einer bloß empirischen Philologie,34 und 1752 bereits empfiehlt J. A. Fabrici33
A. a. O., S. 49. " F. W. J. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803). Sämmtliche Werke. Abt. I. Bd. 5. Stuttgart - Augsburg 1859, S. 246, 302. G. W. F. Hegel: Ueber den Vortrag der philosophischen Vorbereitungs-Wissenschaften auf Gymnasien (1812). Sämtliche Werke. Hrsg. von
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us in seiner umfänglichen Geschichte der Gelehrsamkeit die Philologie dringend für die Bildung zur Humanität, aber er warnt den Philologen zugleich, sich von der Weltweisheit zu trennen und dadurch in „Pedanterey zu verfallen" und „ein blosser Linguist, Buchstabier, Sylbenstecher und magerer Wortforscher" zu werden.35 Die Philologie sei schließlich ein wesentlicher Teil der „schönen Wissenschaften", die „einen nützlichen brauchbaren unentbehrlichen liebenswürdigen Gelehrten [machen], den man vor ändern einen galanten Menschen nennen müßte", und deshalb darf der Philologe eben „kein blosser Wortkrämer, oder Wortkönig seyn, keine leeren Worte haben und Grillen fangen".36 Sicherlich ließe sich eine Geschichte der Philologie im Spiegel ihrer Kritik und Verhöhnung ihrer Einseitigkeiten schreiben. Dennoch ist es ein unaufgebbarer Fortschritt, daß sich philologische Verfahrensweisen und Tatbestände herauskristallisiert haben, die keine der streitenden philosophischen Parteien mißachten darf. In dieser Weise können Marxisten und Nichtmarxisten gemeinsam eine kritische Marx-Engels-Ausgabe besorgen, und analog läßt sich eher eine Einigung darüber erzielen, wer das Wort „Diskurs" wo und in welchem Sinne gebrauchte,37 als über die Frage, welcher Diskursbegriff als der richtige und verbindliche zu gelten hat. Der große Erfolg der begriffsgeschichtlichen Forschung und Lexikographie liegt eben in dem hohen Anteil philologischer Arbeit begründet. Die trockene positivistische Kärrnerarbeit der Philologie liefert also in vielen Fällen eine Plattform, die dem Meinungsstreit entzogen bleibt und so helfen kann, Diskussionen sinnvoller zu gestalten. Deshalb besteht kein Grund für philosophische Überheblichkeit. Andererseits ist ja auch eine Philosophie, die sich mit Geschichte befaßt und sich jeder Philologie dabei meint enthalten zu können, genauso lächerlich wie eine trockene Philologie, und gewöhnlich ernten Geschichtsphilosophen, welche die menschliche Gattungsgeschichte sozusagen nur vom grünen Schreibtisch, d. h. ohne Bibliotheken, rekonstruieren, nur den Spott der Historiker, da sie der philologischen Pedanterie eine philosophische Phantasterei zur Seite stellen. Philosophie und Philologie verhalten sich eben ähnlich wie Produktion und Reflexion bei Fichte und Schelling oder besser wie Vernunft und Verstand bei Kant: Jene kann auf diesen nicht Verzicht leisten, soll materiale Erkenntnis der Erfahrungswelt zustande kommen. Allerdings ist jene im eigentlichen Sinn philologische Tätigkeit eben nur eine Ebene der Philologie, und schon für die Textkritik philosophischer Werke und erst recht für die Philosophiegeschichtsschreibung reicht sie nicht aus. Hier ist es unerläßlich, daß der Historiker nicht nur Philologe, sondern auch Philosoph ist, genauso wie Rechtsgeschichte von Juristen und Theologiegeschichte von Theologen betrieben wird und man auch in diesen Bereichen mit philologischen Fähigkeiten allein nicht weiterkommt. In
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H. Glockner. Bd. 3, S. 302; System der Philosophie (Enzyklopädie), a. a. O. Bd. 8. S. 62; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O. Bd. 18. S. 179. Johann Andreas Fabricius: Abriß einer allgemeinen Historic der Gelehrsamkeit. Bd. 1. Leipzig 1752, S. 80, 73. A. a. O., S. 79, 71. Helge Schalk: Diskurs - Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte 40, 1997.
Gibt es eine innerer Einheit von Philologie und Philosophie?
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jeder philosophischen „doktrinalen Kritik", d. h. in jeder Sachkritik, die bei Schleiermacher zur Hermeneutik philosophischer Texte hinzutreten sollte, ist auch ein Stück eigenständiger Philosophie enthalten. Weist man aber sogar - wie August Boeckh das in seiner wirkungsreichen Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften tut - der Philologie die Aufgabe zu, alles Erkannte wiederzuerkennen und alles vom Menschen Produzierte zu rekonstruieren, dann entgrenzt man die Philologie insgesamt zur Philosophie, denn man fordert, der Philologe solle der Universalgelehrte sein, der die gesamte Kultur verstehend durchdringt. Ich erkenne in der Tat bei Boeckh die Tendenz, daß der Philologe dem Philosophen gänzlich das Material aus der Hand nimmt und ihn von seinem Platz verdrängt. Denn zwar setzt Boeckhs Philologie noch eine systematische Philosophie voraus, aber diese scheint recht leer und funktionslos zu werden. Der Philologe, der Boeckh folgt und der sein Geschäft der Kritik so weit treibt, daß er das gesamte Altertum im Kontext der menschlichen Geschichte einschätzt und beurteilt, wird damit zum Geschichtsphilosophen, der auch die Denkweisen seiner eigenen Zeit verarbeitet hat. Die Philologie ist also in ihrem Kern keine Philosophie, aber sie kann zu einer solchen werden. Allerdings dürfte innerhalb einer jeden philosophisch gewordenen Philologie der Unterschied zwischen Philosophie und Philologie wieder auftauchen, etwa zwischen übergreifender Deutung und Interpretation einzelner Werke; und dazwischen wird eine Spannung oder sogar Diskrepanz sich nie ganz auflösen lassen, weil die Fülle an historischen Kontingenzen und Divergenzen nicht in einen Begriff oder eine These eingefangen und gebündelt werden kann. •ja
9. Wenn sich Philologie und Philosophie verbinden lassen oder ineinander übergehen können, so zeigt sich, daß sie derselben Wissenschaftskultur angehören; Altphilologie und Philosophiehistorie befaßten sich ja auch zum großen Teil mit denselben Texten, mit der antiken Philosophie, und der Aufstieg der Philologie vollzog sich innerhalb der philosophischen Fakultät und zusammen mit dem Wandel der vormals „unteren Fakultät" zum Universitätszentrum. Inzwischen wurde beiden Disziplinen der Tod angekündigt. Denn wenn M. Foucault konstatiert, die neuen „Gegenwissenschaften" Ethnologie, Linguistik und Psychoanalyse lösten den Begriff des Menschen auf und zerstörten damit auch die Humanwissenschaften, so sind davon nicht nur Soziologie und Psychologie betroffen, sondern auch Philosophie und Philologie, wird doch die Literaturwissenschaft von Foucault teilweise
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M
F. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. von F. Lücke. Sämmtliche Werke. Reihe 1. Bd. 7. Berlin 1838, S. 265ff. August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hrsg. von E. Bratuscheck [1. Hauptteil]. Darmstadt 1966, S. 257.
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Gunter Schotte
den Humanwissenschaften auch zugezählt. Gerade aus dieser von Foucault behaupteten Konfrontation erhellen die gemeinsamen Voraussetzungen von Philologie und Philosophie: Jene Gegenwissenschaften konzentrieren sich auf die anonymen, unbewußten allgemeinen Strukturen und Systeme und arbeiten objektivierend wie die Naturwissenschaften. Philosophie und Philologie aber setzen außerdem ein reflexives Subjekt voraus und stellen in Rechnung, daß man die „Gegenstände" der menschlichen Welt auch rezipieren und kritisieren kann. Wenngleich die Begriffe des Geistes und des Menschen für manche Geistes- und Humanwissenschaftler inzwischen verstaubt klingen, ist dennoch m. E. für den Bestand von Philologie und Philosophie nicht zu fürchten. Denn jede ethnologische oder linguistische Erforschung vergangener Kulturen setzt Philologie voraus, genauso wie jede sogenannte Archäologie der Humanwissenschaften und jede Edition, Übersetzung oder Interpretation von Foucaults Werken auch immer Philologie erfordert. Und schon die Fragen, von welcher Position aus Foucault selbst spricht und schreibt und ob er denn auch recht hatte, dürften auch wieder zur Philosophie führen.
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 1971, Kap. 10. Die Aussagen Foucaults zur Philosophie scheinen mir nicht eindeutig zu sein. Immerhin wird S. 444 die Philosophie mit Psychologie und Soziologie den Humanwissenschaften zugeordnet.
Jürgen Stohlmann
Was bringt uns die Philologie nouvelle?
„Philologia - ancilla philosophiae?" Diese Frage steht hinter jeder Edition eines antiken oder mittelalterlichen Textes - und auf diese möchte ich meine Ausführungen beschränken -, sei es einer bereits vorgelegten oder einer noch zu erbringenden Ausgabe; denn die Philologie schafft durch ihre Arbeit erst die Voraussetzungen dafür, diesen Text in seinem Wortlaut richtig zu verstehen und dann zu deuten. Deshalb ist es notwendig, immer wieder zu hinterfragen, ob die angewendeten bzw. anzuwendenden Editionsmethoden für das jeweilige Werk und die Art und Weise, wie es überliefert ist, angemessen sind und zu dem Ziel führen, mit der Ausgabe weitere Forschung zu ermöglichen. Insofern hat jede Edition eine „Vermittlerfunktion",1 leistet der Philologe stets „Magd-Dienste". Wenn ich jetzt sozusagen in die Niederungen der „niederen Kritik", d.i. der Anwendungsbereich, wo Texteditionen erarbeitet werden, hinabsteige, dann entspricht solches Vorgehen noch immer der Lage, in der sich die Mittellateinische Philologie befindet. Vor über 150 Jahren hat Karl Lachmann die methodischen Schritte systematisiert, mit denen aus einer überwiegend originallosen Überlieferung unter der Annahme der Deszendenz ihrer Träger und unter Ausschluß fehlerhafter Varianten ein Archetyp-Text erschlossen wird, der zwar „hypothetisch" ist, aber als wissenschaftlich haltbar gelten kann. Erprobt hat Lachmann seine Methode an den Werken des Properz und Lukrez, am griechischen wie lateinischen Text des Neuen Testaments, am Nibelungenlied und anderen mittelhochdeutschen Werken. Seither sind diese besonders der Klassischen Philologie eignenden Methoden zwar verfeinert worden, z. B. durch Erkennen des Wertes von „Codices recentiores", wenn sie unmittelbar auf frühere Textstufen zurückgehen, aber zugleich auch verengt worden, als ob die jeweilige Überlieferung eines Textes stets genealogisch fixierbar verlaufen sei (Paul Maas).2 In dieser Hinsicht gab es in unserem Jahrhundert einen großen Schritt nach vorn, als Giuseppe Pasquali dem bisherigen vertikalen Prinzip bei der Variantenüberlieferung das der horizontalen Übertragung qua Kontamination an die Seite stellte. Die Kritik an den Editionsmethoden der Klassischen Philologie ist von der Geschichtswissenschaft ausgegangen, die für die Herausgabe von (Original-)Urkunden
Horst Fuhrmann: Über Ziel und Aussehen von Texteditionen. In: Mittelalterliche Textüberlieferungen und ihre kritische Aufarbeitung. Hrsg. von den MGH als Beiträge zum 31. Deutschen Historikertag. Mannheim 1976 (unveränderter Nachdruck, München 1978) S. 12-27, hier S. 27. Paul Maas: Textkritik. Leipzig 41960.
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Jürgen Stohlmann
notwendigerweise eigene Methoden entwickelt hat und nach den ersten Ausgaben lateinischer Geschichtsquellen des Frühmittelalters bald erkennen mußte, daß man dabei deren Sprachstufe infolge der Harmonisierung der lateinischen Sprache in der Karolingerzeit teilweise verfehlt hatte.3 Kritik erfuhren die Methoden Lachmanns und seiner Nachfolger auch von seilen der Neuphilologien. Diese sahen sich bei der Edition volkssprachlicher Werke des Mittelalters Schwierigkeiten ausgesetzt, die in der Überlieferung lateinischer Texte nicht begegnen oder nur als Randerscheinungen auftreten: Der Kontinuität, vor allem der Konstanz, in Sprachform und -Struktur des mittelalterlichen Lateins steht in derselben Epoche ein noch anhaltendes Fließen in der Ausbildung der Volkssprachen gegenüber. Hinzu kommt, daß volkssprachliche Texte in verwandte Dialekte übertragen worden sind, die ihrerseits eine eigene Überlieferung erhalten, z. T. auch auf die ursprüngliche Textfassung zurückgewirkt haben, so daß für die Dialektversionen eine separate Behandlung und Edition erforderlich ist. Exemplarisch sei hier hingewiesen auf jüngste Ausgaben, etwa: Das fließende Licht der Gottheit der Mechthild von Magdeburg, Albrecht von Scharfenbergs Jüngerer Titurel, der Ackermann des Johannes von Saaz und der deutsche Lucidarius; ihre Herausgeber hätten sich bemüht, so Werner Schröder,4 durch die Überlagerungen der Überlieferung hindurch (z. B. oberdeutsche und niederdeutsche Bearbeitungen bei Mechthild) dem ursprünglichen, vom Dichter gewollten Wortlaut so nahe wie möglich zu kommen.
Hier setzt nun, angesichts der soeben skizzierten Schwierigkeiten beim Edieren insbesondere von volkssprachlichen Texten, die .Philologie nouvelle' an. Ihre Vertreter - es sind vor allem der französische Romanist Bernard Cerquiglini mit seiner Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie (Paris 1989) und die angloamerikanischen Mediävisten Howard R. Block, Suzanne Fleischman, Stephen G. Nichols, Lee Patterson, Gabrielle M. Spiegel und Siegfried Wenzel mit ihren Beiträgen im Januar-Heft 1990 der Zeitschrift Speculum. A Journal of Medieval Studies der Medieval Academy of America (Cambridge, Mass.) - fordern die grundsätzliche Abkehr von den traditionellen Editionsmethoden und „eine Rückkehr zum Ursprung mittelalterlicher Textproduktion",5 denn die Mittelalter-Philologie hätte seit ihren Anfangen im vorigen Jahrhundert ihren Gegenstand unter falschen Kategorien bearbeitet und ihn daher niemals in seiner Eigenart erfaßt. In der Praxis verlangt die ,Philologie nouvelle' u. a.: Marginale Textelemente wie Annotationen, Titel, Glossen, Interpolationen und auch Illustrationen seien für die InVgl. etwa die beiden Editionen der 'Historia Francorum' Gregors von Tours: MGH SS rer. Merov. I 1: Ed. Wilhelm Amdt und Bruno Krusch. Hannover 1885. Ed. Bruno Krusch und Wilhelm Levison. Hannover 1937-1951. Vgl. Werner Schröders kritische Besprechung dieser Ausgaben und seine Skizzierung der angewendeten Editionsverfahren. In: Mlat. Jb. 30,2, 1995, S. 175-180. Vgl. hierzu das kritische Referat von Haijo J. Westra: Die .Philologie nouvelle' und die Herausgabe von lateinischen Texten des Mittelalters. In: Mlat. Jb. 30,1, 1995, S. 81-91.
Was bringt uns die Philologie nouvelle?
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terpretation eines Textes ebenso zu berücksichtigen wie dieser Text selbst; größte Bedeutung aber komme den handschriftlichen Varianten innerhalb der Überlieferung zu. Ziel sei das Erkennen der „textuellen Varianz" eines mittelalterlichen Werkes, also der Art und Weise, wie man mit ihm umgegangen ist, auch wie es „fortgelebt" hat. Umgekehrt wirft man der traditionellen Philologie, die die ursprüngliche Gestalt eines Werkes und auf diesem Wege den Autor und seine Intentionen zu erschließen sucht, vor, eben diese textuelle Varianz zu reduzieren, gar zu eliminieren. Begründet wird das so:6 Alles, was die Überlieferung zu erkennen gibt, spricht gegen die Meinung, der mittelalterliche Autor habe sich seinem ,Werk' gegenüber in dem gleichen Verhältnis gesehen wie sein moderner Nachfahr. Vielmehr lege die Überlieferung die Ansicht nahe, der jeweilige Text habe als frei verfugbar gegolten, jedermann habe sich ihn aneignen und seine eigene Fassung herstellen können, diese Fassungen seien daher untereinander als gleichberechtigt anzusehen, das ,Original' dagegen ein Phantom, dem nachzujagen sich nicht lohne, weil das Mittelalter selbst ihm keinerlei Interesse entgegengebracht habe.
Inwieweit diese doch überraschende These Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, wird am Ende meiner Ausführungen, so hoffe ich, deutlich sein. 1. Richtig gesehen ist von seiten der »Philologie nouvelle', wie vielgestaltig die Überlieferung im Mittelalter sein kann: Da stehen das Autograph, die originale Urkunde, das Widmungsexemplar eines Werkes dem weitverbreiteten Schultext gegenüber; da gibt es Überarbeitungen eines Textes mit der Folge, daß mehrere Fassungen von ihm nebeneinander erhalten sind; Werke werden exzerpiert und wieder zu Blütenlesen zusammengestellt, die dann auch eine eigene Überlieferung bekommen können;7 Textstellen aus Werken werden zitiert, aber überwiegend nach der Erinnerung, kaum nach Autopsie derselben; Werke werden von einer Sprache in eine andere übertragen (z. B. vom Lateinischen ins Deutsche, in der höfischen Epik aus dem Altfranzösischen ins Mittelhochdeutsche) und können wiederum regionale Dialektfassungen erhalten. Doch welchem Mittelalter-Philologen ist solche Vielgestaltigkeit der Überlieferung, die bei der zumeist anonymen, dem Erhalt und der Vermittlung von Wissen dienenden Memorial- und Gebrauchsliteratur besonders greifbar wird, nicht wohlbekannt? Aus diesem Sachverhalt allerdings abzuleiten, wie es die ,Philologie nouvelle' empfiehlt, daß es sich grundsätzlich nicht lohne, nach der ursprünglichen, d. i. originalen, Gestalt eines Werkes zu suchen und sie für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung durch Edition verfugbar zu machen, kann kaum die richtige Folgerung sein. Denn Merkverse, thematische Kompilationen, Legenden- und Mirakelsammlungen, Rezeptarien usw.
Vgl. Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. und Leipzig 1994, S. 398-427, hier S. 401 f. Beispiele: Florilegium Gallicum, Prolegomena und Edition von Johannes Hamacher. Frankfurt a. M. 1975 (Lat. Sprache u. Literatur des MA.s 5).- Les Auctoritates Aristotelis: Un florilege modioval. Etüde historique et edition critique par Jacqueline Hamesse. Louvain - Paris 1974 (Philosophies midiövales 17).- Polythecon. Ed. Arpad P. Orbän Turnhout 1990 (Corp. Christ., Cont. Med. XCIII).
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sind zu anderen Zwecken verfaßt als die philosophischen Schriften eines Petrus Abaelardus, die theologischen eines Thomas von Aquin, als die Dichtungen einer Hrotsvith von Gandersheim, eines Alanus ab Insulis - um nur wenige exempli causa zu nennen. Diesen kommt ein ganz anderer Stellenwert zu, weil sie nicht nur mittelalterliche Geistigkeit vermitteln, sondern als Personen für die Entwicklung menschlichen Denkens im Mittelalter stehen. Schon deshalb werden bei ihren Werken und denen der Gebrauchsliteratur Ziel und Methoden der Edition unterschiedlich sein (müssen). 2. Von daher ist zu fragen: Welchen Stellenwert hat der mittelalterliche Autor für die Vertreter der .Philologie nouvelle'? Ihr Einspruch gegen das traditionelle ,AutorWerk'-Modell, das sich oft zu einseitig auf Verfasser- und Echtheitsfragen bezogen habe, wird auch von Stackmann anerkannt, z. B. auf dem Gebiet der Lyrik-Sammlungen; jedoch möchte er „auf die Größe 'Autor' nicht gänzlich verzichten"8 - und das mit guten Gründen. Die Kritik der , Philologie nouvelle' übersieht nämlich, welche Geltung auctor und auctoritas im Mittelalter durchgehend hatten und daß sich die Achtung vor der Autorität auch auf die Textgestalt auswirkte. So hat Cassiodor die Mönche in dem von ihm gestifteten Kloster Vivarium dazu angehalten, geistliche Werke, aber auch profanes Schrifttum zum Lernen exakt abzuschreiben; er korrigierte die Abschriften eigenhändig nach der Vorlage und sammelte Vorschriften über die Orthographie.9 Der Ordensgründer Benedikt von Nursia folgte seinem Vorbild, soweit es die zum Gottesdienst und zur frommen Lektüre benötigten Bücher betraf. Das Ringen um den authentischen Bibeltext und dessen Sicherung war Alkuins Aufgabe in Tours; darum bemühte sich auch Abt Stephan Harding von Qteaux Anfang des 12. Jahrhunderts und prüfte die Überlieferung der Hymnen des Ambrosius auf der Suche nach der originalen Fassung.10 Von Lupus von Ferneres wissen wir, daß er sich brieflich von Freunden Cicero- und Ovidhandschriften erbat, um durch Vergleichung korrekte Texte herzustellen.11 Das Ansehen, das ein Autor im Mittelalter generell genossen hat, veranlaßte dazu, beim Abschreiben seinen Namen im Titel und/oder im Explicit einzufügen und damit zu tradieren; Selbstbewußtsein und Stolz trieben einen Dichter des öfteren an, gar sich selbst im Text zu nennen. „Allein zum Ruhme Gottes" tätig zu sein ist nur eine mögliche Haltung beim Kopieren tradierten Schrifttums und beim Abfassen eigener Werke, die mit der wachsenden Individualisierung im Hoch- und Spätmittelalter nachließ.
Stackmann (Anm. 6), S. 402 und 403. Cassiodori Senatoris Institutiones 130: De antiquariis et commemoratione Orthographie. Ed. R. A. B. Mynors. Oxford 1963, S. 75ff. Vgl. auch Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Leipzig 31896, Graz 41958, S. 323f. und S. 429f. Jürgen Stohlmann: Zur Buchillustration bei den Zisterziensern: Die „heimliche" Kontroverse zwischen Bernhard von Clairvaux und Stephan Harding. In: Cistercienser Chronik 103, 1996, S. 29-40, hier S. 31. Vgl. Wattenbach (Anm. 9), S. 334. Franz Brunhölzl: Geschichte der lat. Literatur des Mittelalters. I: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung. München 1975, S. 478f.
Was bringt uns die Philologie nouvelle?
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Wenn man schließlich sieht und nachvollzieht, wie z. B. der Dichter des „Ruodlieb", des ersten Ritterromans des Mittelalters, an seinen lateinischen Hexametern gefeilt hat - das fragmentarisch erhaltene Autograph gibt das an mehreren Stellen zu erkennen -,12 dann fragt man sich in der Tat, warum nach den Vorstellungen der »Philologie nouvelle' beim Edieren eines Werkes der Autor weniger oder gar nicht einbezogen werden soll. Geht es nicht vielmehr nach wie vor darum, die Intentionen eines Autors zu erkennen, warum und wozu er geschrieben und wie er sein Werk gestaltet hat? Den Menschen zu fassen, der hinter dem von ihm Geschriebenen steht - das ist für mich immer noch der eigentliche Beweggrund, Texte in ihrer, eben vom Autor .autorisierten' Fassung per editionem zu erschließen und für weiteres Forschen bereitzustellen. Daneben aber eben nicht vorrangig - gilt es, die Rezeption eines Werkes zu ermitteln, also: Wie die Nachwelt es aufgenommen hat und mit ihm umgegangen ist. Dies führt, ebenfalls durch Untersuchung der Überlieferung, zu einer Text- und Rezeptionsgeschichte und ist auch ein legitimes Ziel, aber ein anderes als das der Edition. Vieles von dem, was die Vertreter der ,Philologie nouvelle' im einzelnen kritisieren, wird in den Mittelalter-Philologien schon seit längerem gesehen und bei der Herausgabe von Texten auch beachtet. Ich führe dazu aus der Mittellateinischen Philologie einige Beispiele an: Das bereits genannte Ritterepos Ruodlieb, von dem nur Fragmente, 19 Doppelblätter vom letzten Drittel des 11. Jahrhunderts, aus dem Benediktinerkloster Tegernsee und dem Kanonikerstift St. Florian erhalten sind, erforderte eine diplomatische Ausgabe, weil es sich größtenteils um das Autograph, beim Doppelblatt aus St. Florian um das Original des Dichters handelt; diese ist nach mehreren Vorgänger-Ausgaben von Walter Haug (Faksimile) und Benedikt Konrad Vollmann (Textedition) mit ausfuhrlichen Beschreibungen geleistet worden. In der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts dichtete ein Gottfried von Tienen (Tirlemont, Belgien) sein Omne punctum, in dem ein Vater seinen Sohn vor den üblen Verhaltensweisen der Menschen warnt, denn ein Neureicher seiner Stadt hatte ihn in die Armut und ins Exil getrieben; der Vater-Sohn-Lehre war wegen der abwechslungsreich und kunstvoll gereimten Verse große Verbreitung beschieden (25 Handschriften, 10 Fragmente, z. T. in Proverbiensammlungen, ein fortlaufender Prosakommentar).1 In diesem Fall ist eine „autornahe", d. h. den Autor erfassende Edition verlangt, dazu die mittelalterliche Kommentierung beizugeben und die Überlieferungsgeschichte als Wirkungsgeschichte zu skizzieren. 12 13
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Ruodlieb, Fragm. I 23, II 39-45, III20 u.ö., vgl. Faksimile-Ausgabe (Anm. 13), S. 71, 78, 79. Ruodlieb. Faksimile-Ausgabe des Codex Latinus Monacensis 19486 der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Fragmente von St. Florian. I l: Einleitung von Walter Haug. 2: Tafeln. Wiesbaden 1974. II 1: Kritischer Text von Benedikt Konrad Vollmann. Wiesbaden 1985. Zur Schreibtätigkeit des Dichters vgl, I, S. 10 und II, S. 29. JUrgen Stohlmann Gottfried von Tienen (Tirlemont). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon. 2. neubearb. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh u. a. III. Berlin 1981, S. 169-172.
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Die berühmte Liedersammlung der Carmina Burana hat zwei Ausgaben erfahren, die sich durch unterschiedliche Zielsetzungen legitimieren: die kritische Edition von Alfons Hilka, Otto Schumann und Bernhard Bischoff auf der Grundlage aller Textzeugen, die bis etwa 1970 bekannt waren; die Ausgabe von Benedikt Konrad Vollmann, der die Texte allein in der Fassung der Carmina ßwraija-Handschrift (Clm 4660 und 4660a) kritisch edierte.15 In der Edition von Hilka, Schumann und Bischoff werden" auch Teile von Liedern, wie z. B. die berühmten Strophen Meum est proposition in taberna mori... aus der Vagantenbeichte des Archipoeta (CB 191), die sich im Laufe ihrer Überlieferung aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und verselbständigt haben, separat vorgestellt und herausgegeben. Damit ist die Forderung der , Philologie nouvelle', „zersungene" Lieder in ihren Fassungen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, erfüllt.16 Kurz gesagt, die genannten Ausgaben mittellateinischer Texte von unterschiedlicher Art und Überlieferung erweisen - auch an modernen Editionen volkssprachlicher Werke läßt es sich ablesen -, daß die Kritik der ,Philologie nouvelle' im Grunde immer noch die traditionellen Editionsmethoden des 19. Jahrhunderts im Visier hat, aber nicht mehr auf Editoren unserer Zeit zutrifft, die ihre Verfahren in der Regel flexibel, d. h. je nach der Überlieferungslage eines Textes, anwenden. So wird eine Grundannahme der Kritiker, daß nämlich „alle handschriftlichen Aufzeichnungen eines Texts untereinander gleichwertig" seien,17 seit längerem schon, wie am Beispiel der Carmina BuranaAusgabe gezeigt, durch den Abdruck der verschiedenen Versionen dargestellt, wenn es die Überlieferung erfordert. Andererseits führt die These, daß „alle Varianten Richtigkeit und Gültigkeit besitzen",18 zu einem Relativismus, der eigentlich nur die Flucht des Editors vor seiner Aufgabe bemäntelt. Außerdem - grundsätzlich von der „Unfestigkeit des Textes" im Mittelalter auszugehen, wie es die ,Philologie nouvelle' will und propagiert, setzt lediglich eine ebenso einseitige Überlieferungstheorie an die Stelle der früheren von der textuellen Stabilität des ,Originals'. Merkwürdig ist nämlich, daß die Urheber dieser Thesen 15
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Carmina Burana. Mit Benutzung der Vorarbeiten Wilhelm Meyers kritisch Hrsg. von Alfons Hilka und Otto Schumann. I 1-2. Heidelberg 1930-1941. I 3, Hrsg. von O. Schumann und Bernhard Bischoff. Heidelberg 1970. Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 1987 (Bibl. des MA.s 13). Zu CB 191 vgl. Hilka/Schumann/Bischoff (Anm. 15) I 3, S. 6-22. Vollmann (Anm. 15), 604-614 u. 1214-1219 (Kommentar).- Schon 1976 hatte A. George Rigg (Hrsg.): Editing Medieval Texts. English, French, and Latin Written in England. Papers given at the 12* Annual Conference on Editorial Problems, University of Toronto, New York & London 1977, S. 107-125, sich bei mittellateinischen Texten für den Wert der Schreiber-Fassungen und die parallele Editionsmethode, besonders bei 'zersungenen' Liedern und poetischen Anthologien, ausgesprochen - eine Methode, die er bei den Textausgaben seiner Reihe 'Toronto Medieval Latin Texts' nach jeweils einer Handschrift bis heute konsequent durchfuhrt. Vgl. B. Cerquiglini: Eloge de la Variante. Paris 1989, S. 18-24, 43-54 und die Beiträge von Nichols, Wenzel und Spiegel, in: Speculum 85,1990, S. 7f, 14f., 84f. - Stackmann (Anm. 6), S. 412. Vgl. Cerquiglini (Anm. 17), S. 43; Wenzel (Anm. 17), S. 14; Stackmann (Anm. 6), S. 418f; Westra (Anm. 5), S. 91.
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nicht zwischen lateinischen und volkssprachlichen Texten des Mittelalters differenziert haben und dies bisher auch nicht in der Diskussion darüber (ausgenommen Westra19) geschehen ist, obwohl die höchst unterschiedlichen Sprachzustände sich selbstverständlich auf die Überlieferung ausgewirkt haben. Denn Wortschatz, Morphologie und Syntax des mittelalterlichen Lateins sind überall im Abendland, weil in der Schule erlernt und geübt, ziemlich konsistent und stabil geblieben, während die Volkssprachen seit ihrer Verschriftlichung unter dem Einfluß der Dialekte in den Ausformungen, etwa orthographischer Art, ständigen Veränderungen ausgesetzt waren. Das allein schon führte zu instabiler Textüberlieferung und erfordert deshalb z. T. andere Editionsmethoden als bei lateinischen Texten. Zu erörtern bleibt die zweite Grundposition der ,Philologie nouvelle', die auf die Behauptung hinausläuft:20 „Die Frage nach dem Autor und einer von ihm etwa gewollten oder gar autorisierten Textfassung ist sinnlos, weil mit der mittelalterlichen Wirklichkeit nicht vereinbar." Diese Herausforderung - so sehe ich es - gilt es nun zu überprüfen an einem praktischen Beispiel: Es handelt sich um den Dichter S i m o n A u r e a C a p r a (12, Jahrhundert), dessen lateinisches poetisches Werk zwar bekannt, aber noch nicht kritisch ediert ist. Die Lebensdaten des Simon mit dem Beinamen „die güldene Ziege" lassen sich nur ungefähr erschließen aus Angaben in seinen Dichtungen und deren Überlieferung; davon unabhängige Zeugnisse sind bisher nicht gefunden worden. So heißt es im Titel zu seinen Grabinschriften auf bekannte Zeitgenossen in einer Handschrift des 12. Jahrhunderts aus der Zisterzienserabtei La Charite in Nordburgund: Versus magistri Symonis cognomento Capra Aurea, canonici Sancti Victoris Parisiensis, summi et celerrimi versificatoris, quos composuit precibus comitis Henrici.
In einer zweiten, heute verlorenen Handschrift der Epitaphien, ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert, liest man die synonyme Formulierung: ... Hos autem rogatu comitis Henrici composuit, und zum Epitaph auf den Bischof Hugo von Auxerre (t 1151): Item eiusdem de Episcopi Autissiodorensi rogatu monachorum.
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Wenzel (Anm. 17), S. 13, geht als einziger Vertreter der 'New Philology' auf lateinische Texte des Mittelalters ein, allerdings nur in bezug auf das Problem, lateinische Abbreviaturen richtig aufzulösen (Beispiele: par-, per-, por-). - Westra (Anm. 5), S. 87. Vgl. Cerquiglini (Anm. 17), S. 17-29, S. 50ff.; Nichols (Anm. 17), S. 7; Wenzel S. 14, Spiegel S. 61 f.; Stackmann (Anm. 6), S. 401 u. S. 412. Vgl. J. Stohlmann: Simon Aurea Capra (Simon Chevre d'Or). In: Lexikon des Mittelalters. VII. 1995, Sp. 1914. Ders.: Magister Simon Aurea Capra. Zu Person und Werk des späteren Kanonikers von St. Viktor. In: Hommage ä Andro Boutemy. Ed. par Guy Cambier. Bruxelles 1976 (Collection Latomus 145), S. 343-366 (hier die Nachweise zu den Druckorten von Simons Dichtungen, vor allem in den Aufsätzen von Andri Boutemy). - Die Dissertation von Martha M. Parrott: The 'Ylias' of Simon Aurea Capra. A Critical Edition (Diss. Toronto 1975), ist ungedruckt geblieben; vgl. Diss. Abstr. 31, 1978,1539f.
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In Simons weit verbreitetem Hauptwerk, der Ylias, die zumindest in drei Fassungen mit eigenen Überlieferungen erhalten ist (Redaktion A: Troja-Sage; Redaktion B: Troja- und Äneas-Sage; Redaktion C: verdoppelter Umfang von Redaktion B), lauten die Subskriptionen: (2. Redaktion) Explicit Aurea Capra super Yliade rogatu comitis Henrici; (3, Redaktion) Explicit Ylias a magistro Symone Aurea Capra, sed ab ipso nondum canonicato incomparabiliter edita et ab eodem iam canonicato mirabiliter correcta et ampliflcata. Cum utique dicat breviter et aperte, leviter et sententiose, subtiliter et ornate, eleganter et proprie, seriatim etperfecte - nee solum in hac materia, verum in agenda de qualibet alia -, singularem et unicum et quasi natalem habet modum dicendi et a seculo etiam sub Augustis inauditum, (et) ut denique quivis speret idem frustra(que) laboret ausus idem.
Daß die Formel rogatu + Genitiv auf den Dichter selbst zurückgeht, zeigt ihre Verwendung in der Ylias, wo Simon vom Schild des Äneas sagt (2. Redaktion V. 257, 3. Redaktion V. 929): Hec a Vulcano Veneris fabricata rogatu. In Simons letztem Werk, der metrischen Vita des Thomas Becket, erscheint die Formel wiederum im Titel: Incipit vita et passio S. Thome Cantuariensis archiepiscopi edita ab Aurea Capra magistro Symone rogatu cardinalis Petri.
Eine von den Grabschriften ist dem Grafen Theobald II. von der Champagne (f 1152) gewidmet; somit war sein Sohn, Graf Heinrich L, der Auftraggeber für Simons Epitaphien und Trojadichtung. Das Leben des hl. Thomas Becket (l 173 kanonisiert) hat Petrus von Pavia bestellt, der von Papst Alexander III. 1173 zum Kardinalpriester an der Titularkirche St. Chrysogonus in Rom ernannt wurde und der als päpstlicher Legat das Stift St. Victor vor den Toren von Paris häufiger besucht hat. Für die Lebenszeit des Simon Aurea Capra ergibt sich daraus: geboren vor 1152, gestorben nach 1173. „Marginale Textelemente der Überlieferung", deren Beachtung die ,Philologie nouvelle' fordert, führen also zu einem Dichter, der aus Stolz auf seine Leistungen sich selbst - gewissermaßen .medienfreundlich' - in die Überlieferung seines Werkes eingebracht hat. Daß ein Autor ein Thema mehrmals behandelt wie Simon Aurea Capra im Fall seiner Trojadichtung Ylias, deren ersten Entwurf er um ein zweites Buch mit der Äneas-Geschichte erweiterte und schließlich in St. Victor noch einmal im Umfang verdoppelte, hat kaum etwas Besonderes an sich.22 Wirklich auffällig erscheint jedoch die Art und 22
Die 2. Redaktion von Simons Ylias (nur der Äneas-Teil nach der Hs. Oxford BL, Rawl. G 109) ist abgedruckt bei A. Boutemy: La Geste d'Ene"e par Simon Chevre d'Or. In: Le Moyen Age 52, 1946, S. 243-256; die nur in der Hs. Paris BN, lat. 8430, erhaltene 3. Redaktion (497 Distichen) bei A. Boutemy: La version Parisienne du poeme de Simon Chevre d'Or sur la guerre de Troie. In:
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Weise, wie der Dichter seine Distichen immer wieder in der Abfolge und im Ausdruck variiert, ohne inhaltlich wesentlich Neues mitzuteilen. In den Epitaphien noch weitgehend auf die Verwendung synonymer Wörter beschränkt, gerät das Variieren in der Ylias zu einem Spiel der Worte, Junkturen und Formulierungen. So endet die Dichtung in der 2. Redaktion mit den Versen (V. 289-294, nach der Hs. Oxford, Bodl. Libr., Rawl. G 109): Vincuntw Rutili, Frigiis victoria plaudit, Que love, quefatis, que sibi Märte dafür. Turnus ab Enea duce dux cadit, emulus hoste, Quern plus fata deum quam Frigis hasta premit. Sie dafür Enee requies, Lavinia, regnum, Fletluturna, Venus gaudet, A mata per it.
und in der 3. Redaktion (V. 989-994, nach der Hs. Paris, Bibl. Nat., lat. 8430): Turnus ab Enea, duce dux cadit, emulus hoste, Inque viro virtus regia victa ruit. Diffugiunt Rutili, Frigiis victoria plaudit, Fletluturna, Venus gaudet, Amata per it. Sie datur Enee requies, Lavinia, regnum, Cuius et orbis erit nobile Roma caput.
Doch damit nicht genug. In einer Handschrift des 13. Jahrhunderts, die heute in der Universitätsbibliothek von Genua aufbewahrt wird (cod. E. II. 8), erscheint die 2. Redaktion der Ylias am Ende wiederum geändert in Wortlaut und Zahl der Verse; ein zu-
Scriptorium l, 1946/47, S. 267-288. In der 'Pariser Fassung' bringt der Dichter seinen Beinamen Aurea Capra etymologisch in Verbindung mit der von ihm gewollten Kürze (brevitas im Gegensatz zu einem epischen 'Langweiler' wie der 'Theseis' des Dichterlings Codrus, worauf Simon in V. 494 in Anlehnung an Juvenal, Satire l, 2, anspielt), einer Stilmode in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts: „Wie die wählerische Ziege von der Spitze der Sträucher nur die besten Blätter abrupft, so habe er lediglich das 'Beste' aus Vergils Aeneis ausgewählt (V. 493-504): Nolo per ambages, perfrivola queque vagari, Ne Symonem mutet pagina longa Codro. Si laxare velim muse diffusus habenas, De nostro tandem nomine Capra fitgit. Capra stilum notat esse brevem, notat Aurea darum; Alterutrum t alias, Aurea Capra peril. Ut genus hoc pecudis fruticum de vertice pendens Exfoliis carpit que meliora videt, Sie Symon in summam calcando superflua tendens, Materie tantum commodiora legit. Immo cavens vanas sinefructu carpere frondes Plurima Virgilii corripiendo premo.
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sätzliches Distichon am Schluß gibt an, daß der Dichter diese Fassung für einen bisher nicht identifizierten „Doktor Thadeus" geschrieben hat: Vincuntw Rutili, Frigiis victoria plaudit, Que Jove, quefatis, que sibi Märte dafür. Turnus ab Enea duce dux cadit, emulus hoste Auspiciis tantum, nonprobitate minor. Et quod causa gravis, quoddux, quodtantus uterque, Pugnaferox, prestans et diuturna fuit. Lavinia fruitur cum regno Troius Heros, Flet luturna, Venus gaudet, Amataperit. Aurea Capra bene doctori scripta Thadeo Explicit: hanc Simon dictat et ornat earn.
Was bedeutet dieser Befund? Simon Aurea Capra hat seine Gedichte immer wieder überarbeitet bis in den Wortlaut des Einzelverses hinein, sogar persönliche Fassungen für bestimmte Empfanger erstellt. Solches Streben nach Variation, um seine Kunstfertigkeit im Versemachen (summus et celerrimus versificator, wie es in Überschriften und Subskriptionen heißt) zu dokumentieren, ist für diesen Dichter charakteristisch und hat sich selbstverständlich auf die Überlieferung der Dichtungen ausgewirkt. Man stelle sich nur vor, die 2. Redaktion der „Ylias" in der von Simon für den „Doktor Thadeus" im Detail deutlich veränderten Fassung sei abgeschrieben worden, späterhin auch unter Verlust des obsolet gewordenen Empfängerdistichons, dann wird klar, welche Schwierigkeiten einer kritischen Textedition entgegenstehen.23 „Es lebe die Variante" - aber weniger im Sinne der Thesen der .Philologie nouvelle' von der Textinstabilität und der Gleichwertigkeit der Überlieferungszeugen, sondern vielmehr mit Blick auf die »Autoren-Variante', d. h. auf die Möglichkeit, daß manche Textvarianten in der Überlieferung auf den Dichter Simon Aurea Capra selbst zurückgehen können. Daraus folgt als notwendige Aufgabe für den Editor, die vom Autor ausgehenden Redaktionen und Varianten im Text bei der Sichtung der gesamten Überlieferung zu erkennen und in die kritische Ausgabe einzubringen. Wie ein solches Verfahren durchgeführt und in der Textausgabe dargestellt werden könnte, möchte ich an einem anderen Gedicht des Simon Aurea Capra zeigen. Nach dem Tod des Papstes Hadrian IV. kam es 1159 durch die Doppelwahl von Alexander III. und Viktor IV. zu einem Schisma, das u. a. in Streitgedichten thematisiert wurde. Eines davon ist anonym in zwei Handschriften vom Ende des 12. Jahrhunderts, die beide französischer Herkunft (vermutlich Paris oder Normandie) sind, erhalten: Oxford, Bodl. Library, cod. Rawl. G 109; Rom, Bibl. Apost. Vat., cod. Reg. Lat. 23
M.M. Parrott (Anm. 21) geht in ihrer Ylias-Ausgabe von zwei Versionen (hier: 2. und 3. Redaktion) aus und hält die Kurzfassung (nur Troja-Sage, z. B. gedruckt in Migne PL 171, 1447-1451) für ein Schreiberprodukt, das sich verselbständigte und eine eigene Überlieferung erhielt. Simons Eigenart, seine Gedichte im Wortlaut immer wieder zu verändern, hat die Herausgeberin nicht erkannt.
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344 (hier mit dem Titel De apostolicis). Das Gedicht kann mit guten Gründen - es ist im Oxforder Kodex in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ylias und den Epitaphien überliefert - dem Dichter zugesprochen werden.24 Umfang und Wortlaut stimmen in den beiden Textzeugen nicht völlig überein, so daß sich ein teils gemeinsamer, teils paralleler Abdruck anbietet. De apostolicis Rom. Reg. Lat. 344 (R) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
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gemeinsame Verse
Oxford. Rawl. G 109 (O)
Ecclesie culmen velud in duo cornua cessit, Sol nebulapremitur, flos turbine, peste serenum, Et caput a membris separat hostis atrox. Lux tenebris, pietas feile, pudore decus. lam reprobus piscis dirumpit recia Petri, lamfur, non pastor, intrat ovile Dei. Pro pastore subit raptor, pro patre tirannus, Pro pietate scelus (ferus R), pro ratione furor. Vipereum germen corrodit viscera matris, Et sine visceribus vult paler esse patrem. Usurpans apicem summum discrimine summo, Pestifer est aliis, pestifer (pessimus Q) ipse sibi. Sedis apostolice certamen dividit orbem, Pro cathedra Petri dum certat uterque duorum, Urbis et orbis honor urbe vel orbe caret. Dum sua plus curant, de grege euro minor. Pro cathedra Petri dum certat uterque duorum, Sedis apostolice divisio dividit orbem, Dum sua plus curant, de grege euro minor. Urbis et orbis apex urbe vel orbe caret. Corrupte partis virus grassatur in omnes, Et capitis languor languida membra facit. Fabrica quippe domus surgens subeunte columna, Hoc stabili stabil stante, ruente ruet. Si cedunt bases, succumbit machina tota, Si pastes, hostis stansforis intus erit. Ut trabium nexus viget astringente cavilla, Hac etiam rupta rumpitur ille simul: Sie uni capiti dum plebs devota cohesit, Unafuit; duplicem compulit esse duplex. Unde solet membris pax, gloria, vita venire, Hinc dolor (timor Q), hinc luctus, hinc necis exit odor. Qui sale doctrine fatuos condire iubentur, Sal fatuum facti quoslibet infatuant. Urbs reverenda tronis, urbs laudibus inclita quondam, Nunc contemptibilis, nunc sine laude gemit. Das Gedicht De apostolicis wurde nach Wilhelm Wattenbach (1875) und Bernard Haurdau (1880) herausgegeben von Heinrich Boehmer. In: MGH Libelli de lite. III. Hannover 1897, S. 553f., nach der Vatikan-Hs. und von Wattenbach mit Mattheus von Vendome in Verbindung gebracht (S. 548f.), davon unabhängig von Andri Boutemy: Quatre poemes de Simon Chevre d'Or. In: Revue du Moyen Age Latin 3, 1947, S. 141-152, hier S. 146, nach der Oxforder Hs. (hier ohne Titel); Boutemy erkannte die Identität der beiden Texte nicht, weil sie sich gerade im Wortlaut des ersten Distichons unterscheiden. - Zur Überlieferung und Echtheitsfrage vgl. J. Stohlmann: Magister Simon Aurea Capra(Anm. 21), S. 356-362.
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Rom. Reg. Lat. 344 (R) 16 \7 \8 19 20 21 22
gemeinsame Verse
Oxford. Rawl. G 109 (CV)
Irradians olim cunctos erecta (erepta Q) lucerna, Nimc moriens fumat, nunc labefacta iacet. lam seqvitur reges, iam servit regibus illa, Que residens regnis regia iussa dabat. Libero captiva, felix miseranda, modesta Preceps, sublimis infima, dives egens, Sponsa Dei monstrum, index rea, mater acerba, Una duplex, fervens frigida, pulchra biceps. Quas semel evasit, rursus revocatur ad undas, Et sectira minus fluctuat archa Noe. Naviculam Petri, quam pene pericula perdunt, Urgetpredo, manent saxa, procella rapit. Fluctus consurgunt, furit ouster, frangitur arbor, Velafluunt, puppis solvitur, unda subit.
Die Anordnung der Verse im Druck läßt erkennen, daß das Gedicht in der Handschrift R 19, in der Hs. O 21 Distichen umfaßt, von denen 15 im Wortlaut übereinstimmen bis auf wenige im Abdruck aufgeführte Varianten und im Mittelalter übliche abweichende Schreibweisen.25 Die Verschreibungen (V. 18a: Eingefügtes est bewirkt eine Aphärese, die bei Simon Aurea Capra und seinen poetischen Zeitgenossen nicht üblich ist; 18b: preceps ztiprinceps verlesen) und die Varianten, die die Versanapher (V. 5b: pessimus für das 2. pestifer) bzw. das biblische Bild (V. 16a: erepta für erecta lucerna) zerstören, könnten glaubhaft machen, der Oxforder Text biete die schlechtere Überlieferung. Doch ist Vorsicht geboten. Die Lesart scelus der Oxforder Hs. (V. 3b: fvxferus R) erfüllt den in diesem Distichon formulierten Wechsel von der Person (Räuber, Tyrann) im Hexameter zur Sache im Pentameter (Verbrechen, Wut); die beiden Ausdrükke in V. 13b - dolor (R), timor (O) - sind von der Überlieferung her gleichwertig, aber in ihrer Aussage graduell verschieden: Vom Papst, dem Oberhaupt der Kirche, „woher für ihre Glieder Frieden, Ehre und Leben zu kommen pflegen, gehen nun Kummer (oder: Schrecken), Trauer und der Geruch des Verderbens aus". Der Zustand an der Spitze der Kirche nach der Doppelwahl bereitet „Kummer", das drückt lediglich ein Unbehagen, keine Parteinahme aus; dieser Zustand verursacht „Furcht und Schrecken", das fordert deutlich zur Stellungnahme auf, sich zu entscheiden und das andauernde Schisma zu beenden. Sollte sich Simon Aurea Capra, wie schon bei seinen früheren Dichtungen, zu einer Überarbeitung entschlossen haben? Die Vermutung wird zur Ge-
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Orthographika: 2a dirrumpi O,4a corodit R, 4b patrem R korrigiert Boehmer (Anm. 24), S. 553 unnötig zu patrum, l la strabium O, 16a cunlos R, 17b rengnis R, 18a libera captiva: est ist in O eingefügt, entstanden aus Glosse der Vorlage; l&bpreces mit übergeschriebenem p ohne Tilgung eines Buchstabens R, so daß preceps zu lesen ist, nicht prepes, wie Haurdau und Wattenbach wollen, s. Boehmer 554; in O isipreceps zuprinceps verlesen; \9bfridida O,pulcra R; 20b area R.
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wißheit, prüft man Gedankengang und Formulierungen der Textfassungen in der Vatikan- und der Oxforder Handschrift auf dem Hintergrund der historischen Ereignisse.26 Wenige Tage nach dem Tode Papst Hadrians IV. (1. 9. 1159 in Anagni), der mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa wegen der eingeforderten Regalien in Oberitalien und in Tuszien in Streit geraten war, erfolgte am 7. September im Dom von St. Peter in Rom unter heftigen Tumulten die Wahl des Nachfolgers: Eine kaiserfeindliche Mehrheit stimmte für Hadrians Berater, den Kardinal Rolando Bandinelli, der sich Alexander III. nannte, eine kaiserfreundliche Minderheit für Kardinal Ottaviano di Monticelli, der einer stadtrömischen Adelsfamilie entstammte und den Namen Viktor IV. annahm. Ihn erkannten Senat und Volk von Rom als rechtmäßigen Papst an, was nach hergebrachter Auffassung einem Rechtstitel gleichkam, während der Rivale als „Eindringling" galt, der einen bereits besetzten Papststuhl einnehmen wollte. Die von Barbarossa zur Schlichtung nach Pavia einberufene Synode, vor allem von Reichsbischöfen aus Deutschland und Italien besucht, erklärte im Februar 1160 Alexander III. dann auch zum intrusor und verfluchte ihn. Dieser war in Pavia nicht erschienen, weil er darauf pochte, von der Mehrheit der Kardinale gewählt worden zu sein. Er hatte seit Ausbruch des Schismas mit einer Flut von Sendschreiben das christliche Abendland in Erregung versetzt, besonders die Unterstützung der Bischöfe in Frankreich gefunden und mußte schließlich, nach der Eroberung Mailands, im April 1162 dorthin ins Exil gehen. Ein zweiter Einigungsversuch des Kaisers im Sommer 1162 durch eine Zusammenkunft mit dem französischen König Ludwig VII., eingefädelt von dessen Gesandten und Schwager, dem Grafen Heinrich I. von der Champagne, schlug fehl, weil Ludwig unter dem Einfluß seines Klerus nicht bzw. zu spät am Treffpunkt erschien. Die entscheidende Wende zugunsten Alexanders III. brachte im März 1163 das Konzil von Tours, als sich der anglonormannische, englische, französische und spanische Episkopat einmütig hinter ihn stellte; auch Bischöfe aus dem Reich und Italien schlössen sich an, zumal als Viktor IV. am 20. April 1164 starb. Widerstrebend - drei Gegenpäpste wurden noch gewählt - hat Kaiser Friedrich Alexander III. dann 1177 im Frieden von Venedig schließlich anerkennen müssen. Der Ausbruch des Schismas und die folgende Entwicklung bis zur Flucht Alexanders III. nach Frankreich haben sich gewiß auch auf das Stift St. Victor, das dem französischen Königshaus sehr nahe stand, so ausgewirkt, daß sie Diskussionen unter den Kanonikern, zu denen Simon Aurea Capra gehörte, auslösten. Das könnte sich in der Textüberlieferung seines Gedichts De apostolicis widerspiegeln, denn die Eingangsdistichen der beiden Handschriften weichen im Wortlaut in charakteristischer Weise voneinander ab: Ecclesie culmen velud in duo cornua cessit (R) bezeichnet korrekt die Doppelwahl vom 7. September 1159, verursacht von dem hostis atrox, der die Einheit der Kirche zu zerstören droht (vgl. auch V. 12a/b und 19b); dagegen beschreiben die Bilder Sol nebula premitur, flos turbine, peste serenum/ ... (O) das Schisma als 26
Vgl. hierzu G. Schwaiger: Alexander III. In: Lexikon des Mittelalters. I. 1980, Sp. 372f. J. Laudage: Alexander III. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. neubearb. Aufl. I. 1993, Sp. 367f. Johannes Haller: Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit. 2III. Darmstadt 1952, S. 145-177.
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einen „bedrückenden" Zustand, der bereits andauert. Des Teufels Werkzeug ist ein „unechter Fisch", ein „Dieb, der in Gottes Gehege eindringt",27 ein „Räuber" und „Tyrann", kurz: ein .falscher' Papst, wie es übereinstimmend in den Distichen 2 und 3 *}ft heißt. Die „Schlangenbrut" (vipereum germen), eine weitere Metapher für den Teufel, zernagt den Schoß der „Mutter" Kirche, und der (falsche) Vater will, daß der (echte) „Vater ohne Kinder" ist (Dist. 4); bringt er widerrechtlich das höchste Amt an sich, stürzt er andere und sich ins tiefste Verderben (Dist. 5). In der Oxforder Handschrift fehlt das 4. Distichon ohne erkennbaren äußeren Anlaß; indem das 5. Distichon unmittelbar an das zweite und dritte anschließt, bedroht nicht mehr ein anonymer hostis atrox, sondern der real amtierende Gegenpapst (V. 2a-5: lam reprobus piscis ... usurpans apicem surnmum) die Einheit der Kirche. Diese Akzentverschiebung wird auch in den weiteren Versen deutlich. Die Distichen 6 und 7 (R) erscheinen in der Hs. O in umgekehrter Reihenfolge; ihr Wortlaut ist in wichtigen Punkten geändert: (R: Dist. 6) „Ein Streit um den Sitz des Papstes spaltet die Christenheit; die Zierde Roms und der Welt (d. i. das Papsttum) ist ohne Stadt und Erdkreis" - eine Formulierung, die auf die Situation nach der Doppelwahl zutrifft, als beide Päpste, Alexander III. und Viktor IV., Rom verließen, geweiht wurden und auch außerhalb der Stadt blieben. (R: Dist. 7 = O: Dist. 6) „Während (Solange) jeder von beiden um den Stuhl Petri kämpft und sie sich mehr um ihre eigenen Interessen kümmern, gerät die Fürsorge für das Kirchenvolk ins Hintertreffen". (O: Dist. 7) „Die Teilung des Sitzes des Papstes (d. i. Schisma) teilt (auch) die Christenheit; die Spitze Roms und der Welt ist ohne Stadt und Erdkreis", d. h. der Papst hält sich im Exil aufund das tat Alexander III. seit dem Frühjahr 1162. Die folgende Aussage (Dist. 8), daß das „Gift des verdorbenen Teils" der Kirche gegen alle wüte und das Siechtum des Oberhaupts alle Glieder krank mache, fügt sich den vorangehenden Versen in beiden Handschriften problemlos an. Im zweiten Teil des Gedichts (Dist. 9-22) warnt Simon Aurea Capra mit kräftigen Bildern vor den möglichen Folgen dieser „Krankheit" für die gesamte Kirche, wenn nämlich ihre Spitze, durch die Doppelwahl gelähmt und gespalten, an Führungskraft und an Autorität einbüßt. In Abfolge und Wortlaut der Verse stimmen beide Textzeugen überein - mit zwei Ausnahmen: Von den Distichen 9-13 in der Oxforder Handschrift sind nur das 11. bis 13. auch in R überliefert. Für ein Schreiberversehen gibt es keinen äußeren Anlaß, vielmehr liegt entweder eine Kürzung des Kontexts in R oder dessen Erweiterung in O vor. „Wie die Balkenverzapfung durch einen Nagel verstärkt wird, aber auseinanderbricht, wenn dieser gebrochen ist, so war das Kirchenvolk einig, als es folgsam einem einzigen Ober27
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Man wüßte gem, ob der Dichter mit solchen Bezeichnungen an bestimmte Personen gedacht hat, z.B. mit hostis atrox (R, V. Ib) an Kaiser Barbarossa, mit für... intrat ovile Dei (R und O, V. 2b) an Papst Alexander III., den die Teilnehmer der Synode von Pavia im Februar 1160 zum intrusor („Eindringling") erklärten; doch bleiben die von Simon genannten Eigenschaften zu allgemein, somit die Konturen möglicher Personen zu unscharf. Zu vipereum germen vgl. Mt. 23,33 und Lc 3,7: genimina viperarum.
Was bringt uns die Philologie nottvelle?
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haupt anhing; jetzt hat die Verdoppelung der Spitze das Volk gezwungen, sich zu teilen", lautet der Vergleich in der Vatikan-Handschrift. Die vorausgehenden Oxforder Distichen (9 und 10) ergänzen dieses Bild nur um weitere Bauwerk-Metaphern, auch wenn sie mehr die Gefahr betonen, die der Kirche von einem hostis s tans for is (V. l Ob) droht, wenn columna, bases oder posies des Hauses einstürzen. Denn die Doppelwahl von 1159 bereitete den Christen lediglich „Kummer", aber das nach dem Scheitern der Einigungsversuche (Februar 1160, Sommer 1162) endgültig besiegelte Schisma mußte sie in „Angst und Schrecken" versetzen. Die Änderung von dolor (R) zu timor (O) verschiebt also - wie zuvor schon andere Textänderungen in der Oxforder Handschrift den Akzent,29 und zwar in Richtung einer Parteinahme für Papst Alexander III.: Dieser lebt, obwohl von der Mehrheit der Kardinale gewählt, in Frankreich im Exil; von Italien, von Rom, dem Sitz des Oberhaupts der Kirche, geht der „Schrecken" aus, weil dort der ,falsche' Papst, nämlich Viktor IV., vom Kaiser gestützt residiert. Damit ist klar geworden, daß die Änderungen des Gedichttextes in der Hs. O eine Textstufe bezeugen, die durch Bearbeitung entstanden ist und deshalb Eigenständigkeit besitzt. Das bedeutet: Es existieren zwei Fassungen von De apostolicis, die sich in der Tendenz ihrer Aussagen zu Doppelwahl und Schisma voneinander unterscheiden. Die Version der Vatikan-Handschrift spiegelt das Ereignis vom 7. September 1159 unmittelbar wider, enthält sich der Stellungnahme zu den Gewählten und erklärt die Doppelwahl als Werk des Teufels;30 die Oxforder Fassung geht vom Zustand des Schismas, der Teilung des Kirchenvolks aus und tendiert zu dem Papst, der im Exil weilt (V. 7b: apex urbe vel orbe caret), ist also angepaßt an eine nachvollziehbare politische Entwicklung und somit später entstanden. Von den restlichen Distichen 14 bis 22 wird das 15. (Urbs reverenda tronis ...) - das ist die andere Ausnahme im sonst in beiden Handschriften O und R erhaltenen zweiten Teil des Gedichts - allein im Oxforder Textzeugen überliefert: „Das berühmte Rom (als Sitz des Oberhaupts der Kirche), einst von Herrschern verehrt und besungen, klagt nun, weil der Verachtung preisgegeben." Den Grund hierfür liest man erst in Dist. 17: „Die Stadt" (illa kann sich vom Sinn her nur auf urbs, V. 15a, nicht auf lucerna, V. 16a, beziehen), die von ihrem angestammten Platz den Reichen königliche Befehle gab, zieht jetzt den Königen dienend hinterher." Zudem unterbricht das Dist. 15 mit seinem Rom-Bezug den Gedankengang der Distichen 14 und 16, in denen der Dichter unter 29 30
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Siehe oben S. 82. Vgl. Boehmer (Anm. 24), S. 549, der das Gedicht (in der von ihm herausgegebenen Fassung der Vatikan-Handschrift R) auf 1159/60 datiert, bevor Alexander III. auf dem Konzil von Tours (l 163) von den englischen, französischen und spanischen Bischöfen anerkannt wurde, „zumal der Dichter noch nicht die Sache Alexanders vertreten habe, sondern sich nicht scheute, freimütig beide Päpste anzugreifen". Für Simon Aurea Capra erhält die Stadt Rom ihre weltweite Bedeutung, vgl. V. 6b und 7b in R bzw. O: urbis et orbis honor (apex O), durch die Funktion, Sitz (V. 17b: urbs residens) des Papstes zu sein. Seine Kritik (V. 17a: lam sequitur reges) gilt beiden Päpsten, Viktor IV. und Alexander III., weil sie auf der Suche nach Unterstützung zu politischen Werkzeugen Kaiser Friedrich I. bzw. der Könige Heinrich II. von England und Ludwig VII. von Frankreich geworden sind.
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Anspielung auf zwei, von Jesus in der Bergpredigt definierte Aufgaben32 beiden Päpsten vorwirft, ihre Pflichten (V. 14a: iubentur) als christliche Lehrer und Vorbilder für die Menschen außer acht gelassen zu haben: Die berufen sind, die Ungebildeten in der christlichen Lehre zu unterweisen, sind zu Toren geworden und betören alle, die es wollen. — Die Leuchte, die von der Höhe (des Kandelabers) auf alle herabstrahlte, erstirbt jetzt im Rauch und liegt erloschen am Boden.
Die Abfolge der Distichen ist in der Oxforder Handschrift offensichtlich gestört und nach dem Gedankengang so zu korrigieren: 14 16 15 17
Qui sale doctrine fatuos condire iubentur, Salfatuumfacti quoslibet infatuant. Irradians olim cunctos erecta lucerna, Nunc moriens fumat, nunc labefacta iacet. Urbs reverenda Ironis, urbs laudibus inclita quondam, Nunc contemptibilis, nunc sine lande gemit. lam sequitur reges, iam servil regibus lila, Que residens regnis regia iussa dabat.
Die neue Anordnung der Verse macht deutlich, daß das Dist. 15 in der Vatikan-Handschrift (oder ihrer Vorlage) beim Abschreiben ausgefallen ist, nämlich durch einen , Augensprung' infolge der Anapher zu Beginn der Pentameter (V. 16b und 15b: nunc). Der gleiche Fehler ist auch in einer Vorlage der Oxforder Handschrift eingetreten, aber bemerkt worden; nur hat der Korrektor Dist. 15 an der falschen Stelle eingefügt oder die Einfügungszeichen so undeutlich gesetzt, daß die Verse bei der nächsten (Oxforder) Abschrift an den jetzigen Ort gerieten. Das nur in O erhaltene Dist. 15 gehört somit nicht zu den Varianten der Oxforder Fassung, sondern zum ursprünglichen Versbestand der Vatikan-Fassung. Daß die wiederhergestellte Reihenfolge der Distichen die vom Autor gewollte ist, ergibt sich auch aus einem Kompositionsprinzip, das im Gedicht vorwaltet. Simon Aurea Capra verwendet in der Regel für jeden Gedanken bzw. jedes Motiv zwei Distichen und rahmt sie jeweils mit einem Verspaar ein: l 2-3 4-5 6-7 8
Thema „Doppelwahl" (R) Thema „Schisma" (O) „Eindringling und Räuber" „falscher Vater" (R) „Usurpator" (nur 5:0) „Kampf um Petri Stuhl" (R) „Teilung" (7-6: O) „Krankheit der Spitze lahmt Kirche"
Zu Dist. 14 vgl. Mt. 5,13: Vos estis sal terrae. Quod si sal evanuerit. In quo salietur? ad nihilum valet ultra, nisi ut mittatur foras, et conculcetur ab hominibus. Zu Dist. 16 vgl. Mt. 5,14-16: Vos estis lux mundi. Nonpolest civitas abscondisupra montemposita. Neque accendunt lucernam et p o nun t earn sub modio, sed super candelabrum, ut luceat omnibus qui in domo sunt. Sie luceat lux vestra coram hominibus, ut videant opera vestra bona et glorificent Patrem vestrum, qui in caelis est.
Was bringt uns die Philologie nouvelle? 9-10 11-12 13 14+16 15+17 18-19 20-21 22
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„Papst/Kirche als Bauwerk" (O) „Einheit Papst/Kirche gestört" „Zwei Päpste stiften Unruhe und Furcht" „Beide Päpste lassen ihre Pflichten außer acht" „Folge: Rom als Magd der Herrscher" „Folge: Zustand der Kirche als Braut Christi" „Folge: Kirche als bedrohtes Schiff' „Kirche in höchster Not".
Mit dem Schlußdistichon ist dem Dichter ein poetischer Höhepunkt gelungen: im Bau der Verse durch Trikola, rhetorisch durch alliterierende Konsonanten und dunkel klingende Vokale, in der Aussage durch Bilder, die das „Schiff der Kirche in einer Lage höchster Gefährdung zeigen: Fluctus consurgunt, furit auster, frangitur arbor, Velafluunt, puppis solvitur, unda subit.
Die Interpretation des Gedichts De apostolicis fuhrt zu dem Ergebnis, daß die in der Vatikan- und in der Oxforder Handschrift überlieferten Texte zwei Fassungen des Gedichts darstellen, die der Autor Simon Aurea Capra selbst verfaßt hat: Die erste Version (R) ist unmittelbar nach der Doppelwahl im September 1159, spätestens nach dem Scheitern des Einigungsversuchs (den Graf Heinrich I. von der Champagne initiierte, der Auftraggeber von Simons Epitaphien und Ylias und sicherlich auch sein Mäzen, der ihm das Kanonikat im Stift St. Victor verschaffte) an der Saöne-Brücke in Burgund im Sommer 1162 entstanden. In der Oxforder Version dagegen hat der Dichter den Stimmungsumschwung zugunsten Alexanders III., spätestens nach dessen Anerkennung auf dem Konzil von Tours im März 1163, aber vor dem Tod Victors IV. im April 1164, nachvollzogen - ob auf Veranlassung seiner Mitkanoniker oder nicht, muß offenbleiben.33 „Was bringt uns die Philologie nouvelle?' habe ich zu Beginn gefragt und versuche eine knappe Antwort aus der Sicht der Mittellateinischen Philologie, die noch lange Zeit brauchen wird, lateinische Texte des Mittelalters aus der Überlieferung per editionem für die weitere Forschung zur Verfügung zu stellen. 1. Die Kritik und die Anregungen von Seiten der Philologie nouvelle betreffen überwiegend Editionen und Texte der volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters, sind hier auch zu Recht angebracht, aber gelten, wenn überhaupt, nur für Sonderfälle der mittellateinischen Literatur. 2. Axiome wie „alle Varianten besitzen Gültigkeit" und „die Frage nach dem Autor und der von ihm gewollten Textfassung ist sinnlos", die von Vertretern der Philologie nouvelle aufgestellt worden sind, haben den Hauch der Willkür an sich. VielVgl. J. Stohlmann: Magister Simon Aurea Capra (Anm. 21), S. 357f.
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mehr hat sich die Suche nach dem Autor und der Originalfassung, die mit textkritischen Methoden erschlossen werden muß, bei lateinischen Texten des Mittelalters immer noch bewährt, wie das Beispiel des Dichters Simon Aurea Capra zeigt. 3. Es gibt kein Rezept für Editionsverfahren; ihre Auswahl und ihre Anwendung richten sich nach der Art der Überlieferung eines Textes: Die Genealogie, die Familienforschung in der Textüberlieferung, muß alle Textzeugen aufspüren; sie muß die unterschiedliche Qualität der Textvarianten prüfen - Auslassungen, Lücken, Fehler, wesentliche und unwesentliche Ergänzungen und Veränderungen usw. -, und sie muß schließlich die für die ursprüngliche Textgestalt einschlägigen signifikativen Varianten - und nur diese - (für den Apparat) feststellen ... Es gibt kein allgemeines Rezept für mediävistische Texteditionen. Jeder einzelne Text ist zu verschieden ...
Diese Feststellungen Ludwig Hödls gelten auch heute noch, insbesondere für lateinische Texte des Mittelalters.
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Ludwig Hödl: Die Geschichte der ,Editio Leonina' der Werke des Thomas von Aquin und die Geschichte der mediävistischen Textkritik. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn 26. - 28, Februar 1973. Hrsg. von L. Hödl - D. Wuttke. Boppard 1978, S. 75-78, hier S. 78.
Hendrik Birus
Philosophisch-philologische Editionsprobleme bei Goethes ^Ästhetischen Heften4
Als Sie den angekündigten Titel meiner Vorlage lasen, dürfte Sie eine gewisse Ratlosigkeit beschlichen haben. So auch mich. Denn ich fühlte mich an ein Symposion vor zehn Jahren in Jerusalem erinnert, als ich Tür an Tür neben Jacques Derrida wohnte und er vor seinem Eröfmungsvortrag ratlos auf der Terrasse brütete: über weitere Kürzungsmöglichkeiten (er überschlug dann beim Vortrag einfach packenweise Seiten ...) und über den angekündigten Titel - den er dann so erläuterte: Eines Tages erhielt ich eine telefonische Mitteilung in Yale*: ich müßte ganz dringend einen Titel geben. Ich habe binnen zwei Minuten improvisieren müssen, was ich zunächst in meiner Sprache getan habe: „Comment nepas dire...? " Der Gebrauch des Wortes dire gestattet einen gewissen Aufschub. [...] * Herkunft des Anrufs: Jerusalem. Sanford BuoiCK hatte mich gerade angerufen. Er sollte eben Titel über dem Programm des Kolloquiums eintragen, und wäre es auch ein provisorischer Titel. [...]
Wer den Text kennt, weiß, daß Derrida aus dem Titel nicht weniger als das Beste gemacht hat. Anders meine Situation. Denn mit meinem telephonisch improvisierten Titel bezog ich zwar lediglich Ihr Tagungsthema auf den vom Organisator gewünschten Gegenstand: die Edition von Goethes späten Ästheiischen Schriften, die ich gegenwärtig gemeinsam mit Stefan Greif (Paderborn) und Anne Bohnenkamp-Renken (München) im Rahmen der Goethe-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags3 unternehme. Ich furchte aber, Sie mit dem folgenden Werkstattbericht - und das auch noch am Anfang eines langen Tages enttäuschen zu müssen.
Jacques Derrida: How To Avoid Speaking: Denials. In: Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory. Hrsg. von Sanford Budick u. Wolfgang Iser. New York 1989, S. 3-70. Jacques Derrida: Comment ne pas parier: Derogations. In: Psycho. Inventions de l'autre. Hrsg. von Jaques Derrida. Paris 1987, S. 535-595, hier S. 547f. Dt. Übs. von Hans-Dieter Gondek: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1989 (= Passagen, 29), hier S. 29 u. 117f. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche [.Frankfurter Ausgabe']. Hrsg. von Friedmar Apel [u. a.], Frankfurt a. M. 1985ff. (künftig zitiert mit der Sigle: FA); hier: FA 120-22: Ästhetische Schriften III-V.
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(1) Goethes späte Ästhetische Schriften sind für Philosophen - ganz anders als seine Arbeiten zur Farbenlehre, zur Morphologie und zur Naturwissenschaft überhaupt - nur von begrenztem thematischen Interesse. Man erhoffe sich von ihnen kein wie auch immer geartetes Pendant zur Engführung von System und Geschichte in Hegels gleichzeitigen Vorlesungen zur Ästhetik, (2) Auch editionstheoretisch kann unser Vorhaben für diese Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen nur mäßig interessant sein. Denn es sieht sich nicht vor Probleme gestellt, die den Einsatz des fortgeschrittensten editionsphilologischen Instrumentariums erforderlich machten, wie etwa der Abschluß von Colli/Monunaris Edition des späten Nietzsche-Nachlasses (mit ihrer wohl nicht durchzuhaltenden Trennung von selbständigen .Fragmenten' und bloßen .Vorstufen und Varianten') oder der fällige, mit den bisherigen Editionsprinzipien der Kritischen Schleiemiacher-Ausgabe nicht zu leistende Einbezug der kaum überschaubaren Predigten und Vorlesungsnachschriften; es bietet keinen Anlaß für prinzipielle Kontroversen, wie die über die .Frankfurter' und .Stuttgarter' Hölderlin-Ausgaben (oder das Edieren Kleists, Kafkas, Celans); es intendiert auch kein Modell dokumentarisch und textgenetisch transparenten Edierens, wie Bohnenkamps - auch für nicht-literarische Textcorpora musterhafte - Edition der Paralipomena zu Goethes Faust,4 die deshalb sowohl der .Frankfurter' wie der .Münchner' Faust-Ausgabe zugrundeliegt. Mehr als 90% unseres Textcorpus liegen in von Goethe autorisierten Drucken vor und ihnen folgen wir, so buchstabengetreu wie möglich. Lediglich bei nicht zu Goethes Lebzeiten gedruckten Texten und bei der Emendierung korrupter Stellen gehen wir auf die Handschriften zurück. Sachlich wie methodisch sind dabei keine sonderlichen Überraschungen zu gewärtigen. Was speziell Goethes Schriften zur Literatur angeht, so liegen sie mit größtmöglicher Präzision in der historisch-kritischen Edition der (dann abgebrochenen) Akademie-Ausgabe5 vor. (3) Unsere Studienausgabe kann nicht den Ehrgeiz haben, das Fehlen einer historisch-kritischen Edition von Goethes Schriften zur Kunst auch nur teilweise zu beheben; hier bleibt man wohl noch für längere Zeit auf die selbst nach damaligen Editionsstandards problematischen Bände der Weimarer Ausgabe6 angewiesen. Doch wir sehen uns mit einer bemerkenswerten Diskrepanz zwischen den modernen Editionen von Goethes späten Naturwissenschaftlichen Schriften' einerseits und seinen Anne Bohnenkamp: „... das Hauptgeschäft nicht außer den Augen lassen". Die Paralipomena zu Goethes Faust. Frankfurt a. M., Leipzig 1994. Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Literatur. Historisch-kritische Ausgabe. 7 Bde. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bearb. von Edith u. Horst Nahler u. Johanna Salomon, Berlin 1970-82 (Sigle: AA). Johann Wolfgang Goethe: Werke [.Weimarer Ausgabe']. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. Weimar 1887-1919 (Repr. München 1987) (Sigle: WA ); hier WA I 47-49.2 (Hrsg. von Otto Hamack, bearb. von Bernhard Suphan u. Julius Wähle).
Philosophisch-philologische Editionsprobleme
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gleichzeitigen ,Ästhetischen Schriften' andererseits konfrontiert - und hier mag es für philosophische Editoren doch interessant werden. Denn erstere sind im Rahmen der Leopoldina-Ausgabe7 von Dorothea Kühn als Band 8: Naturwissenschaftliche Hefte (1962) und Band 9: Morphologische Hefte (1954) - ergänzt durch die entstehungschronologisch angeordneten Bände 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie (1964), 11: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Naturwissenschaft im allgemeinen (1970) sowie schon Band l und 2: Schriften zur Geologie und Mineralogie, samt den zugehörigen Ergänzungen und Erläuterungen - integral ediert. Und dies ist - zumindest teilweise - von den beiden großen, vor dem Abschluß stehenden Studienausgaben übernommen worden. Band 12 der Münchner Ausgabe bringt den vollständigen Text der Morphologischen Hefte und der Naturwissenschaftlichen Hefte, während die übrigen naturwissenschaftlichen Aufsätze und Fragmente entstehungschronologisch auf die entsprechenden Bände verteilt werden. Und innerhalb von Band 24: Schriften zur Morphologie der Frankfurter Ausgabe ediert Dorothea Kühn (leider gekürzt um die Texte anderer Beiträger) die Morphologischen Hefte als geschlossenen Komplex. Anders verfahren in derselben Ausgabe, in Band 25: Schriften zur allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie, Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel mit den Texten der Naturwissenschaftlichen Hefte - und dies programmatisch (S. 850): O
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Die hier gewählte Anordnung nach Themengruppen und darin überwiegend nach chronologischen Gesichtspunkten [...] übernimmt die von Goethe gewählte Reihenfolge (wie sie in LA I 8 und LA I 9 beibehalten worden ist) nicht, sondern verbindet von Goethe zum Druck beförderte mit aus dem Nachlaß überlieferten Texten. Goethes Prinzip der Zusammenstellung ist für den Leser heute, der sich über Goethes Beschäftigung und Leistung in bestimmten Themenbereichen orientieren möchte, nicht sehr zweckmäßig, da Goethe seiner Auswahl bewußt eine autobiographische Form gibt, die sich beispielhaft im Untertitel seiner Zeitschrift ausdrückt: „Erfahrung, Betrachtung, Folgerung durch Lebensereignisse verbunden". Über die jeweiligen Angaben zum Erstdruck kann jedoch die von Goethe gewählte Form der Abfolge rekonstruiert werden.
Ist solche Eliminierung von autobiographischen und dichterischen Momenten zugunsten systematischer Anordnungsprinzipien womöglich ein naturwissenschaftlich-philosophisches Editionsprinzip? Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe. Hrsg. im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina von Ruprecht Matthaei [u. a.]. Weimar 1947ff. Zum Verhältnis von .Münchner' und .Frankfurter Ausgabe' vgl. Verf.: Johann Wolfgang Goethes West-östlicher Divan. Erstmalige vollständige Edition und Kommentierung seiner verschiedenen Fassungen und Nachlaßstücke. In: Einsichten. Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1995/2, S. 26-29. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter [u. a.], München 1985ff. (Sigle: MA); hier MA 12: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden. Hrsg. von Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubeuer u. Peter Schmidt. Textred, von Andreas Hamburger u. Edith Zehm.
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Man mag diese Inkohärenz innerhalb der Frankfurter Ausgabe bedauern; widerspricht sie doch der von Karl Eibl hinsichtlich der Gedichte proklamierten Doppeloptik von .Gelegenheiten' vs. .Ensembles' und seiner - auch für meine Edition des West-östlichen Divans (FA 13.1/2) wie für Dorothea Kuhns der Morphologischen Hefte (FA 124) in dieser Ausgabe maßgebenden - Programmformel (FA I 1, 736): „Kembestand sind Goethes eigene Sammlungen." Doch wie bei Harald Frickes Präsentation der Sprüche in Prosa (FA I 13), die eine konsequente Scheidung von .Eigenem' und .Angeeignetem', sowie der verschiedenen Textsorten der überlieferten Maximen und Reflexionen (Aphorismen, Thesengruppen, Sprüche) unternimmt, mag eine solche ausgabeninterne Inkonsequenz um der distinkten thematischen Neustrukturierung willen zu verschmerzen sein, da ja alternativ hierzu zuverlässige moderne Ausgaben der Naturwissenschaftlichen Hefle in der von Goethe komponierten Gestalt verfügbar sind. (4) Ganz anders verhält es sich bei den Heften Ueber Kunst und Alterthum: denn trotz ihrer eminenten Wichtigkeit sind sie seit ihrem Erscheinen - außer in einem unzuverlässigen Reprint10 - nie wieder in ihrer Originalgestalt als strukturierte Sammlung, sondern stets nur als Steinbruch präsentiert worden. Zunächst werden die sich vielfältig überschneidenden und nicht systematisch, aber kompositorisch verzahnten Beiträge Goethes stets von denen anderer (zumeist anonymer) Mitarbeiter geschieden und dann - entgegen Goethes ungleich flexibleren Einteilungsprinzipien - in Schriften zur Literatur und Schriften zur Kunst geteilt. Unterhalb dieser doppelten binären Scheidung aber herrscht zumeist die schiere editorische Willkür - getreu Goethes Aphorismus (FA I 13, *1.741): „Wer das erste Knopfloch verfehlt kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande." Den ersten Schritt hierzu hatte bereits die .Vollständige Ausgabe letzter Hand'11 getan, innerhalb derer die noch immer erscheinenden Hefte Ueber Kunst und Alterthum ja nicht integral präsentiert werden konnten. Ja, selbst der relativ abgeschlossene Komplex der autobiographisch orientierten Stücke des ersten Bands erschien unter dem Titel Aus einer Reise am Rhein, Main und Neckar in den Jahren 1814 und 1815 erst postum im dritten Band der Nachgelassenen Werket Da aber bereits zu Goethes Lebzeiten einige der wichtigsten Aufsätze zur bildenden Kunst aus Ueber Kunst und Alterthum in der ,Ausgabe letzter Hand'13 erschienen waren, verbot sich für die Nachgelassenen Werke 10 11
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Johann Wolfgang Goethe: Ueber Kunst und Alterthum. Bd. l -6. Bern 1970. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Bd. 1-50. Stuttgart und Tübingen 1827-1833. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Bd. 43 (= Nachgelassene Werke, Bd. 3), ebd. 1833, S. 245-436. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Bd. 39, ebd. 1830. Es handelt sich dabei um die Aufsätze: I. Philostrats Gemähide; 2. Abendmahl von Leonardo da Vinci; 3. Triumphzug von Mantegna; 4. Kupferstich nach Titian; 5. Tischbeins Idyllen; 6. Handzeichnungen von Goethe; 7. Skizzen zu Castis redenden Tieren; 8. Blumen-Mahlerey; 9. Gerards historische Portraits; 10. Ruysdael als Dichter; II. Altdeutsche Gemähide in Leipzig; 12. Bildhauerey: Myrons Kuh, Blüchers Denkmal, Externsteine; 13. Münzen, Medaillen, geschnittene Steine; 14. Vorbilder für Fabricanten und Handwerker; 15. Altdeutsche Baukunst - mit Ausnahme der aus dem Morgenblatt stammenden Stücke 10 und 11 sämtlich aus: Ueber Kunst und Alterthum.
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von vornherein eine geschlossene Darbietung der Ästhetischen Hefte. Statt dessen wurden weitere thematisch einschlägige Aufsätze aus diesen , Heften' und anderen Quellen unter dem Titel Kunst in Band 4 der Nachgelassenen Werke versammelt; ergänzt durch Band 5: Theater und deutsche Literatur und Band 6: Auswärtige Literatur und Volkspoesie - letztere untergliedert in /. Altgriechische Literatur, II. Französische Literatur, III. Englische Literatur, IV. Italiänische Literatur, V. Orientalische Literatur und VI. Volkspoesie. Riemer und Eckermann konnten sich dabei auf die Anzeige von Goethe 's sämmtlichen Werken, vollständige Ausgabe lezter Hand berufen, der zufolge Band 38 enthalten sollte: ,Jtameau 's Neffe von Diderot und sonstige Französische, Englische, Italiänische Literatur in Bezug auf des Verfassers Verhältnisse zu Dichtern und Literatoren jener Länder" (AA 3, 389). Wogegen die Herausgeber dieser Schriften in der Weimarer Ausgabe einwandten, daß „Goethe in der factischen Ausführung der Ausgabe letzter Hand durchaus von dem dürren Schema abgegangen ist, das noch die Anzeige derselben vom 1. März 1826 [...] aufstellt", denn „die Artikel in Band 38 werden weniger dadurch, dass sie italiänisches Schriftthum behandeln, zusammengehalten als durch die innere Gemeinschaft romantisch-ironischer Welt- und Kunstanschauung. Vor allem aber musste die Riemer-Eckermann'sche Methode darum abgelehnt werden weil sie zerreisst, was Goethe ursprünglich zusammengebunden." (WA 140 [1900], 391f.) Die Weimarer Ausgabe präsentiert dementsprechend Goethes späte Schriften zur Literatur14 gemäß ihrer Reihenfolge in den Heften Ueber Kunst undAlterthum - und dies mit der einleuchtenden Begründung: Hier, wo oft die eine Besprechung aus der ändern herauswächst, wo alles trägt und getragen wird, muss der specifische Charakter, der diesem lebendigen Organismus eigen ist, die Einheit, ja oft die Verständlichkeit verloren gehen, wenn die einzelnen Aufsätze auseinandergezerrt und mechanisch in die leblosen Rubriken der Sprache eingeordnet werden; Goethes Lieblingsvorstellung von einer Weltliteratur verschwindet dem Bewusstsein eines Lesers, der dem recensirenden und reflectirenden Dichter nicht mehr, wie dieser es doch eigentlich gewollt, auf seinen verschlungenen Wegen aus dem einen Schriftthum in das andere unmittelbar folgen kann. (WA 140, 392)
Da die Weimarer Ausgabe hier freilich auf alle autobiographisch orientierten oder von anderen Beiträgern verfaßten Texte verzichtet, beginnt sie folgerichtig erst mit Heft 1/3, S. 39-51: Deutsche Sprache. Bei der Darbietung der späten Schrißen zur Kunst (WA 149.1/2 [1898 und 1900]) hingegen nimmt die Weimarer Ausgabe keinerlei Rücksicht auf ihre Abfolge in Ueber Kunst und Alterthum, sondern gliedert sie in selbstgebastelte Rubriken wie: Antikes - Renaissance — Neue Malerei und graphische Künste — Bildhauerei - Münzen, Medaillen, geschnittene Steine - Kunstgewerbe - Baukunst. Wer fühlte sich bei solchen krausen Kategorien nicht an die (im Vorwort von Foucaults Les mots et les choses zitierte und durch Borges vermittelte) Klassifikation der Tiere in einer ,,gewisse[n] chinesische[n] Enzyklopädie" erinnert? Sie lautet:
WA 141.1/2 (1902 u. 1907). Bearb von Max Hecker. Red. Bernhard Seuffert.
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a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.15 Die Gedenkausgabe16 und die Berliner Ausgabe17 bieten im Gegensatz dazu die Schriften zur Kunst entstehungschronologisch dar, sortieren aber nun - ähnlich den Nachlaß-Bänden der ,Ausgabe letzter Hand' - die Schriften zur Literatur in Untergruppen: einerseits in die entstehungschronologisch gereihte Deutsche Literatur (dazu in der Gedenkausgabe: Volksdichtung), andererseits in die Aufsätze zur Weltliteratur, ihrerseits nochmals untergruppiert in Rubriken wie Literatur der Antike, Asiatische Literatur und Europäische Literatur, die dann ganz nach gusto des Herausgebers thematisch und/oder entstehungschronologisch gefüllt erscheinen. Solche Sortierungswut kulminiert schließlich in der Akademie-Ausgabe der Schriften zur Literatur mit Band l: Literaturtheorie - Literatur des Orients - Literatur der Antike Literatur des Mittelalters - Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, Band 2: Neuere Literatur - Zeitschriften und Band 3: Theater und Schauspielkunst - Volksdichtung - Zu eigenen Werken; wobei jede dieser heterogenen Untergruppen in sich entstehungschronologisch angeordnet ist. Und während die Münchner Ausgabe - durchaus gemäß ihrem chronologischen Editionsprinzip - ursprünglich die Schriften zu Literatur und Kunst integral darbietet, zerlegt sie sie zunächst ab Band 11.2 ganz konventionell in Schriften zur Literatur und Schriften zur Kunst, sortiert erstere dann aber in Band 13.1 feinschrittig in: Zur Literatur der Antike - Zur Literatur des Orients - Zur europäischen Literatur [als ob die Literatur der Antike nicht zu dieser gehörte] - Zur deutschen Literatur [dito] - Zu eigenen Werken und Projekten [dito] und ergänzt sie durch Schriften zu Theater und Musik, präsentiert aber in Band 13.2 ohne jede solche willkürliche Unterteilung die Schriften \K zur Kunst unter rein chronologischen Gesichtspunkten. Nur die Hamburger Ausgabe bleibt weitgehend vor solchen Ungereimtheiten bewahrt, indem sie die Schriften zur
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Zit. nach Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1971,8. 17. Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. 24 Bde. u. 3 Erg.-Bde. Zürich (seit 1960: Zürich, Stuttgart) 1948-1971 (Sigle: GA); hier GA 13: Schriften zur Kunst. Hrsg. von Christian Beutler. Entsprechend: Johann Wolfgang Goethe: dtvGesamtausgabe. Hrsg. von Peter Boerner. Bd. 34: Schriften zur Kunst. Zweiter Teil. Nachw. von RolfDieter Denker. Goethe: Berliner Ausgabe. Hrsg. von Siegfried Seidel [u. a.]. 22 Bde. Berlin, Weimar 1960-1978 (Sigle: BA); hier [Abt. 2:] Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Bd. 20: Schriften zur bildenden Kunst 2: Aufsätze zur bildenden Kunst (1812-1832). Red. Jochen Golz. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz [u. a.], [6.-12.] neubearb. Aufl. München 1981 (Sigle: HA); hier Bd. 12: Schriften zur Kunst. Hrsg. von E. Trunz. Komm, von Herbert von Einem. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Hrsg. u. komm, von Hans Joachim Schrimpf.
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Kunst und die Schriften zur Literatur - auch mangels Masse - nicht weiter unterteilt und sie einfach entstehungschronologisch anordnet. (5) Endlich einmal die Originalgestalt der Hefte Ueber Kunst und Alterthum in einer modernen kommentierten Ausgabe zu präsentieren, ist nicht nur ein Gebot historischer Pietät. Kulminierte doch dieses Unternehmen mit Heft VI/1 (1827) in der Idee der Weltliteratur19: immerhin dem Feld meiner akademischen Disziplin, der , Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft (Komparatistik)',20 hinsichtlich dessen Goethe (mit Foucault zu sprechen) die Rolle eines „fondateur de discursivite" zukommt. Eine angemessene genetische und systematische Rekonstruktion dieses Weltliteratur-Konzepts kann aber nicht auf der Basis eines post festum zusammengeschusterten Corpus von Goetheschen, Aufsätzen zur Weltliteratur" erfolgen, sondern nur im Hinblick auf die interne Dynamik des gesamten Zeitschriftenprojekts. Dabei läßt sich mit Heft V/3 (1826) eine prinzipielle Zäsur feststellen: Die antiromantische Polemik wird aufgegeben, statt dessen zeichnet sich ein Begriff von Weltliteratur ab. Deren Konzeption aber beschränkt sich keineswegs auf Dichtung im engeren Sinne, sondern zielt auf so etwas wie eine Weltkultur. Sowohl in Texten wie in Bildern macht die sprach- und kulturübergreifende Rezeption vielfältige , Übersetzungen' erforderlich, wobei aus solchen Übersetzungen keineswegs nur Verluste gegenüber dem Original, sondern auch Gewinne resultieren können. So ergibt sich eine internationale und intermediale Kommunikation auf mehreren Ebenen, deren Probleme in den Heften Ueber Kunst und Alterthum thematisiert werden. (6) Doch zugleich darf man diese zukunftsträchtige Idee der Weltliteratur nicht zum teleologischen Fluchtpunkt des ganzen Zeitschriftenprojekts stilisieren. Komplementär zur , Motivation von hinten' durch die Emergenz des Weltliteratur-Begriffs im letzten Band ist daher der schrittweisen , Motivation von vorn' dieses Goetheschen Alterswerks nachzugehen. Besonders aufschlußreich sind dabei die Parallelen wie Differenzen zu seinen fast gleichzeitig auf Stapel gelegten Morphologischen Heften (1817-24). Bei diesen handelte es sich um ein geradezu zeremoniell eröffnetes Unternehmen, für das Goethe auf
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Vgl. Verf.: Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung. In: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Hrsg. von Manfred Schmeling. Würzburg 1995 (= Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, 1), S. 5-28. Vgl. Verf.: Am Schnittpunkt von Komparatistik und Germanistik: Die Idee der Weltliteratur heute. In: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Hrsg. von Hendrik Birus. Stuttgart, Weimar 1995 (= Germanistische Symposien. Berichtsband 16), S. 439-457. Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? In: ders: Dits et ocrits I: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert u. Fran9ois Jacob, unter Mitarb. von Jacques Lagrange. Paris 1994, S. 789-821, hier S. 804f. Dt. Übs.: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Übs. von Karin von Hofer. München 1974 (= Sammlung dialog 67), S. 7-31, hier S. 24-26. Vgl. meinen Seminarbericht: Zum Wechselverhältnis von bildender Kunst und Literatur beim späten Goethe. In: Wissenschaftskolleg - Institute for Advanced Study - zu Berlin. Jahrbuch 1995/96. Hrsg. von Wolf Lepenies. Red.: Angelika Leuchter. Berlin 1997, S. 212-218.
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Hendrik Birus
einen langjährigen Fundus zurückgreifen konnte; es ging zu Ende, als diese Vorräte erschöpft waren, neue Beiträger nur zögernd hinzukamen und ihm die Vorbereitung der , Ausgabe letzter Hand' seiner Werke (1827-30) dringlicher erschien. Ganz entgegengesetzt war die Verlaufskurve der Hefte Ueber Kunst und Alterthum, die 1816 ohne weiterreichende Planungen mit einem Einzelheft speziell über Kunst und Alterthum am Rhein und Mayn begonnen hatten; und zwar mit der doppelten Intention einer (vom Freiherrn von Stein angeregten) Denkschrift zugunsten der dezentralisierten Neuordnung des Kultusbereichs in der neugewonnenen preußischen Rheinprovinz und einer Werbeschrift für die Sammlung altniederländischer und altdeutscher Malerei der Brüder Boisseree in Heidelberg - beides zusammengehalten durch einen autobiographischen Faden, der in den folgenden Heften fortgesponnen wurde. Literaturkritische Fragen kamen dann erst im Lauf der Publikationsgeschichte zunehmend auf die Tagesordnung; andererseits hatte Goethe aber in den anfangs dominierenden kunstkritischen Beiträgen einen ungemein literarischen Zugang zu den von ihm behandelten - oft längst nicht mehr vorhandenen Werken der bildenden Kunst. Dabei zeigt sich die enge Beziehung von bildender Kunst und Literatur gerade in übergreifenden Schwerpunktsetzungen, wie der Fokussierung auf Reproduktions- und Vermittlungsformen - seien es Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen und vor allem die neuerfundenen Lithographien, seien es literarische Übersetzungen und Bearbeitungen. Was nun diese Ästhetischen Hefte mit den Morphologischen wie den Naturwissenschaftlichen Heften verbindet, ist eine kompositorische Ähnlichkeit mit dem gleichzeitig begonnenen West-östlichen Divan (1819): einer „Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient" (FA I 3, 549), deren zwölf Bücher sich in je spezifischer Weise vom strengen Zyklus wie von bloßem ,Kraut und Rüben' unterscheiden. Denn auch die Einzelhefte aller drei Zeitschriftenprojekte sind, wenn nicht als , Werke' im strengen Sinne, so doch als .fragmentarische Sammlungen'23 zur Aufnahme ganz disparater Aufsätze, Gedichte, Rezensionen etc. konzipiert, die jeweils in eine variable Konstellation - hier von kunst- und literaturbezogenen Fragestellungen - zu bringen waren. Obgleich dabei die einzelnen Aufsätze und Notizen nicht selten durch kontingente Anregungen, Rezensionsersuchen etc. motiviert waren, bilden die einzelnen Hefte doch konzeptionelle Einheiten mit klar erkennbaren Strukturen. Dank ihrem dominierenden Strukturprinzip wechselseitiger Spiegelung und Reihenbildung zeigt Goethes Ueber Kunst und Alterthum die unverwechselbare Kontur seiner Spätwerke: West-östlicher Divan - Wilhelm Meisters Wanderjahre - Faust II. Diese ,Hefte' waren nicht bloß der Entstehungskontext der Goetheschen Idee der Weltliteratur, sondern wurden selbst zu ihrer literatur- und kunstkritischen - wie dann Faust II zu ihrer dichterischen - Realisationsform. 23
Goethe trifft diese Unterscheidung, wenn er in der Einleitung zu den Morphologischen Heften schreibt: „Mag daher das, was ich mir in jugendlichem Mute öfters als ein Werk träumte, nun als Entwurf, ja als fragmentarische Sammlung hervortreten, und als das was es ist wirken und nutzen. " (Das Unternehmen wird entschuldigt - FA 124, 390.)
Philosophisch-philologische Editionsprobleme
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(7) In einem seiner letzten überlieferten Gespräche (am 17. 2. 1832) sagte Goethe zu Frederic-Jacob Soret, dem Übersetzer seiner botanischen Arbeiten: Que suis-je moi-meme? Qu'ai-je fait? J'ai recueilli, utilisi tout ce que j'ai entendu, observed Mes oeuvres sont nourries par des milliers d'individus divers, des ignorants et des sages, des gens d'esprit et des sots. L'enfance, l'äge mür, la vieillesse, tous sont venus m'offrir leurs pensies, leurs facultis, leur maniere d'etre, j'ai recueilli souvent la moisson que d'autres avaient semee. Mon ceuvre est celle 24 d'un etre collectif et eile porte le nom de Goethe.
Er mochte dabei vor allem seinen endlich abgeschlossenen Faust im Sinn haben, seine Worte gelten aber nicht minder für die Hefte Ueber Kunst und Alterthum. Und wie es bei Bertolt Brechts Versuchen absurd wäre, eine scharfe Trennung zwischen Brechts eigenen Arbeiten und denen seiner Mitarbeiter, vor allem aber seiner Mitarbeiterinnen, vornehmen zu wollen, so auch bei der Edition dieses literatur- und kunstkritischen Unternehmens. Dabei mag uns Philologen - ,Liebhabern des Worts' - wie seinerzeit Goethe die Kunstwissenschaft Orientierungshilfen bieten. Denn hier haben die immer verfeinerteren Methoden der Scheidung von Eigenhändigem und Fremdem mittlerweile veränderten Fragestellungen hinsichtlich kollektiver Entstehungsprozesse nicht etwa bloß von angewandter Kunst, sondern auch von autonomen Kunstwerken höchsten Ranges, etwa bei Rubens und Rembrandt, den Weg geebnet. Die Editionsphilologie dürfte von solcher kunsthistorischen Interessenverschiebung auf Dauer nicht unberührt bleiben.
Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausg. u. des Nachl. von Flodoard Freiherm von Biedermann. Erg. u. hrsg. von Wolfgang Herwig. 5 Bde. Zürich, Stuttgart 1965-1987, hier Bd. III. 2, S. 839, Nr. 6954. - Johann Peter Eckermann hat diese Gesprächsaufzeichnung in seinen Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Hrsg. von Regine Otto unter Mitarb. von Peter Wersig. 4. Aufl. Berlin, Weimar 1987, S. 662f.: 17. 2. 1832) frei adaptiert; sie ließe sich etwa Übersetzen: Was bin ich selbst? Und was habe ich getan? Ich habe all das gesammelt, nutzbar gemacht, was ich vernommen, beobachtet habe. Meine Werke sind genährt durch Tausende von verschiedenen Einzelwesen, von Dummköpfen und von Weisen, von geistreichen Menschen und von Narren. Die Kindheit, die Reifezeit und das Alter, sie alle haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Seinsweise angeboten, ich habe oft die Ernte eingebracht, für die andere gesät hatten. Mein Werk ist das eines kollektiven Wesens, und es trägt den Namen Goethe.
Hans Jörg Sandkühler
F. W. J. Schellings Philosophische Entwürfe und Tagebücher - Ein Werk im Werden Theoretische, methodologische und hermeneutische Probleme 1. Zur Beschreibung der Quelle und der Edition Unter den bedeutenden deutschen Philosophen des Idealismus des 19. Jahrhunderts ist F. W. J. Schelling der einzige, von dem Tagebücher überliefert sind. Die für die Jahre 1809-1854, also für die Zeit zwischen Schellings Freiheitsschrift und seinem Tode vorliegenden Jahreskalender umfassen etwa 4.500 Seiten Handschrift, zum einen philosophische Entwürfe, zum ändern die lebensgeschichtlich aufschlußreichen Tagebücher. In ihnen begegnet der Schelling, der in diesem langen Zeitraum nahezu nichts veröffentlicht. Zu einem geringeren Teil betreffen die Eintragungen persönliche Tagebuchnotizen, den größten Umfang nehmen Philosophica in Form von Exzerpten, Kommentaren, Entwürfen zu Vorlesungen und anderen philosophischen Arbeiten, bibliographische Notizen und Vergleichbares ein. Seitdem im Jahre 1967 in der damaligen Ost-Berliner Staatsbibliothek die bis dahin nicht zugänglichen „Jahreskalender", d. h. die Tagebücher F. W. J. Schellings aufgefunden werden konnten, reifte der Plan, sie zu edieren. 1982 hat ein kleines Team an der Universität Bremen begonnen, sich in die Edition einzuarbeiten. Seit 1983 zunächst durch den Rektor und seit 1985 durch die Forschungskommission der Universität gefordert, konnte und kann das Forschungs- und Editionsprojekt unter dem Titel Die Jahreskalender (Tagebücher) von F. W. J. Schelling als Quelle der Geschichte der klassischen deutschen Philosophie von 1987 bis 1998 dank großzügiger Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft fortgeführt werden. Ab 1998 stellt die Universität Bremen im Rahmen der 1994 eingerichteten Schelling-Forschungsstelle zwei Dauerstellen für die langjährigen Mitarbeiter1 zur Verfugung. Die Edition ist auf 16 Bände geplant; sie erscheint seit 1990 im Hamburger Felix Meiner Verlag. Diese dürren Auskünfte sprechen von wichtigen institutionellen Daten; über die Probleme der Institutionalisierung und - wichtiger - über die Risiken, welche die Biographien von Editoren belasten und prägen, sagen sie nichts. Hier soll es um Fragen des Zusammenhangs von „Philologie und Philosophie" gehen. Das Projekt sei, bevor ich mich einigen philosophischen Grundlagenproblemen zuwende, zunächst in groben Zügen so vorstellt, wie die Bremer Arbeitsgruppe es einverStelleninhaber und Mitherausgeber der Edition sind Dr. Lothar Knatz und Dr. Martin Schraven.
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nehmlich sieht: Die Edition der Schelling-Tagebücher hat zum Ziel, in einer philologisch exakten wissenschaftlichen Studienausgabe eine philosophiegeschichtliche und für die Geschichte der Wissenschaften und der Politik sowie für die Zeitgeschichte des 19. Jahrhunderts bedeutsame, von der Wissenschaft aber noch wenig beachtete und kaum ausgewertete Quelle für Forschung, Lehre und Studium zur Verfügung zu stellen. Die Kenntnis der Tagebücher erweitert die Möglichkeiten der Forschung bis in Tiefendimension der Biographie, und dies bedeutet: der intellektuellen Subjektivität dieses von den Biographen noch vielfach als geheimnisumwittert verkannten Philosophen. Die Veröffentlichung des Privaten wirft - dies habe ich zu Beginn der Arbeiten nicht klar genug gesehen - forschungsef/zwc/je Probleme auf. Schelling hat seine Tagebücher nicht in der Absicht hinterlassen, sie der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Er hat ihren Inhalt und ihre Bedeutung in seiner Verfügung vom Februar 1853 Übersicht meines künftigen handschriftlichen Nachlasses so charakterisiert: Meine über viele Jahre sich erstreckenden Kalender, theils kurze Tagebücher, theils Notata, Excerpte, Entwürfe enthaltend, als auch eigene Gedanken, aber auch viel halbwahre, wo nicht ganz falsche.- Am besten, nachdem sie durchgesehen, zu vernichten.
Die Söhne sind als Nachlaßerben der Empfehlung des Vaters nicht gefolgt; sie haben die Kalender gesichtet und, wohl in Vorbereitung der 1856 von K. F. A. Schelling eröffneten Ausgabe Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, zumindest teilweise inventarisiert.4 Es ist nicht bekannt, aber unwahrscheinlich,5 daß Schelling bereits vor 1809 Tagebücher geführt hat. Für die folgenden Jahre eröffnen sie Einblicke, wie sie das veröffentlichte (Euvre nicht bieten kann, in dem der Autor viele Spuren der für seine intellektuelle Genese wesentlichen epistemischen, kulturellen und politisch-sozialen Kontexte getilgt hat. Ihr philosophischer Gehalt stellt Annahmen über ständige Brüche im geistigen Werdegang Schellings in Frage; sie eröffnen den Blick auf ein - wie Xavier Tillierte es genannt hat6 - Werk im Werden, in dem Diskontinuitäten sich im Ringen um Beständigkeit der großen philosophischen Themen zur Kontinuität vermitteln. Die Jahreskalender sind Notizbücher; sie waren nicht zum einmaligen Gebrauch bestimmt, sondern haben Leben und Werk des Autors über lange Zeitabschnitte begleitet. Textologisch gesehen beginnt mit Notizbüchern eine Werkgeschichte.7 In Schellings Jahreskalendern können Bereiche unterschieden werden, die je besondere Qualitäten als
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Für die in 2. und 3. dargelegten theoretischen Überlegungen bin ich hingegen alleine verantwortlich. Schellingiana rariora 1977, S. 676. Dies belegt ein entsprechendes Verzeichnis im Kalender 1848. 1808 wurde Schelling Generalsekretär der Münchner Akademie der bildenden Künste. Zu dieser Zeit lagen die Rechte fllr Kalender bei der Akademie. Diesen Hinweis verdanke ich Walter E. Ehrhardt. Vgl. Tilliette 1970. Vgl. Papernyil991.
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Quelle haben: 1. das biographisch bedeutsame Tagebuch; 2. das werkgeschichtlich bedeutsame philosophische Arbeitsbuch* Das Tagebuch enthält persönliche Eintragungen zum Haushalt, zu besuchten oder zu besuchenden Personen, zu familiären Begebenheiten, zur Korrespondenz, zu wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Ereignissen. Schellings Beobachtungen und Reflexionen finden sich hier in Form eigener Notata oder in Form ausführlicher oder selektiver Exzerpte, gelegentlich sind den Kalendern Ausschnitte aus Zeitungen, Zeitschriften, Dokumenten und Büchern beigefügt. Die Tagesnotizen sind zugleich eine Quelle zur Rekonstruktion des Entwicklungsganges von Vorlesungs- und SchriftenEntwürfen. Aufmerksamkeit verdienen die in den Diarien - wie auch in den philosophischen Entwürfen - häufig anzutreffenden Verweise auf heute meist noch unbekannte eigene Manuskripte; zum einen bezeugen sie, daß nicht prometheische Spontaneität, sondern langsames, gründliches, durch selbstkritischen Zweifel und Revision ausgezeichnetes Arbeiten, ein ständiges Ringen um den Gegenstand der Philosophie, Schellings Denken kennzeichnet; zum ändern können derartige Hinweise die philologische, historisch-kritische Identifizierung von Textschichten in der Werkentwicklung erleichtern helfen. Die Jahreskalender sind, mit wenigen Ausnahmen, zugleich die Werkstatt philosophischer Entwürfe. Ausführliche zusammenhängende philosophische Texte sind die Ausnahme, Gedankenfragmente und philosophische Splitter die Regel; oft werden angefangene Absätze oder Sätze nicht beendet, Ideen und Argumentationen fallengelassen. Dem entspricht die innere Zeitstruktur der Kalender: Die in der Regel auf Tage genau zu datierenden Notizen in den Kalendarien bilden die erste Textschicht, die aber häufig durch spätere Eintragungen im Kalenderjahr, z. T. auch aus späteren Jahren, unterbrochen wird. Die Quelle bietet also keinen dem Kalendarium folgenden, linear fortgeschriebenen Text. Es wäre ein selbst aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nicht vertretbarer Eingriff in ihre Authentizität und Historizität gewesen, im Edierten Text die Folge der Notizen anders darzubieten, als Schelling sie eingetragen hat. Unsere Convolut-Edition mutet es deshalb dem Leser zu, sich durch Schellings Verweiszeichen durch den Text führen zu lassen und bei oft mehrere Zeilen oder gar Seiten später folgenden Textanschlüssen die Lektüre fortzusetzen. Lediglich offensichtliche Sofortkorrekturen und Sofortergänzungen bzw. Nachträge wurden, diakritisch kenntlich gemacht, in den Text integriert. Für die Lektüre ist so die Problematik der Textschichten weit eher präsent als bei einem vom Editor kompilierten Text. 2. Methodologische und hermeneutische Fragen: Quelle, Text und Interpretation Wie bereits die Editoren, so ist auch der Nutzer dieser Edition darauf angewiesen, sich eines hermeneutisch wichtigen Sachverhalts bewußt zu sein: Er arbeitet mit einem Edierten Text, nicht mit einer faksimilierten Reproduktion. Was er in Händen hält, ist Vgl. Schraven 1989.
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Ergebnis eines aufwendigen Prozesses der diplomatischen Transkription der Handschrift und der Herstellung eines annotierten kurrenten Textes, für dessen Entstehung ungemein umfangreiche historiographische Recherchen9 eine unverzichtbare Voraussetzung sind. Zu erwähnen sind aber auch Entscheidungen, die nicht philologisch, sondern nur philosophisch begründbar sind, so z.B. bei der Zuordnung von Marginalien zu Textpassagen oder bei der Ergänzung von Wortkürzeln - ein „S." offenbart sich nicht von selbst als „Subjekt" oder „Substanz", als „Sein" oder „Seiendes".
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Abb. l: Verkleinerte Tagebuchseite aus dem Jahreskalender 1813 9
Die Ergebnisse dieser Recherchen - vor allem zu Namen, Personen, Orten, Straßen, Gebäuden, zu Ereignissen und zu von Schelling genannten Publikationen - werden in Kopie der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Verfügung gestellt.
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Die diplomatische Transkription allein wäre kaum sinnvoll nutzbar. Dem Charakter eines Notiz- und Arbeitsbuchs entsprechend, bedient sich Schelling durchgängig einer auf Zeichen und Kürzel geschrumpften Schreibweise; sie ohne Ergänzung zu edieren ließe den Text unlesbar werden. Ferner sind die Notizen voll von Einschüben, Marginalien und Fußnoten, die editorisch zu bearbeiten und dem Text ein- bzw. anzugliedern sind. Die Handschrift (vgl. Abb. 1) enthält darüber hinaus Streichungen und auch Worte, die zu tilgen Schelling bei Streichungen vergessen hat.10 Was mit der Edition als ,Text' vorgelegt wird, ist nicht Schellings Text; er ist, wie die Fülle notwendiger diakritischer Auszeichnungen belegt, das Ergebnis einer philologischen Rekonstruktion (vgl. Abb. 2, S. 104f.). Wesentlicher und problembeladener aber ist: Er ist das Resultat einer epistemischen Konstruktion, in der sowohl der scheinbar eindeutige - durch die Jahreszahlen 1809 bis 1854 begrenzte - Zeitraum als auch der Erwartungshorizont dieses Philosophen durch Interpretation11 erschlossen werden muß. Die epistemische Konstruktion gründet in der Verbindung zweier intentionaler Akte: erstens der rekonstruktiven Erkenntnis der Quelle als eines solchen Sachverhalts, der keine einfache .Tatsache', sondern - mit Kant -,Sache der Tat' ist, nicht Gegebenheit, sondern Aufgabe; und zweitens der im Wissen des Ursprungs intendierten Selbsterkenntnis des Zeitgenossen des Jetzt und Hier. In dieser Dualität der Interpretation als Fremd- und Selbstverstehen findet eine Transformation statt, die Verwandlung eines als Handschrift vorgefundenen Zeichensystems in ein Bedeutungssystem, in eine neue symbolische Ordnung (vgl. Abb. 1). Und nicht anders als heute wir, so lebt auch - um es mit dem Schelling sehr verbundenen Ernst Cassirer zu sagen - der Philosoph des 19. Jahrhunderts nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist.
Auch für Schelling kann gelten: So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe. 10
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Sie werden, den Erfordernissen der Studienausgabe entsprechend, nicht in Form von Varianten wiedergegeben. „Mit Hilfe des Grundwortes .Interpretativität' und als Interpretationsprozesse können diejenigen Vorgänge charakterisiert werden, in denen wir etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen. Unsere Welten können darum als Interpretationswelten qualifiziert und diese als jene behandelt werden." (Abel 1993, S. 14) Cassirer 1996, S. 50 f.
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Es scheint mir im Interesse einer modernen philosophischen Grundlegung der Texthermeneutik und Editionswissenschaft nicht illegitim zu sein, diese Perspektive einer Philosophie der symbolischen Formen an Schelling heranzutragen. Wenn auch nicht in dieser Begrifflichkeit, so drückt doch auch er eben diese Subjekt-zentrierte Bewußtseinslage aus, so etwa im Erstdruck seiner Weltalter: Doch vor allem in uns selbst müssen wir die Vergangenheit zurückrufen, um zu finden, wovon alles ausgegangen und was zuerst den Anfang gemacht. Denn je menschlicher wir alles nehmen, desto mehr können wir hoffen, uns der wirklichen Geschichte zu nahem.
An anderer Stelle heißt es: Wenn also der Mensch Geschichte (a posteriori) hat, so hat er sie nur deßwegen, weil er keine (a priori) hat; kurz, weil er seine Geschichte nicht mit-, sondern selbst erst hervorbringt.
Schelling, der Nach-Kantianer, der Kant so nahe bleibt wie kaum ein anderer seiner Zeit, verfügt über ein erkenntnistheoretisches Prinzip zur Grundlegung dieser Prämisse historischer Erkenntnis; er hat es in dem Satz ausgesagt: „Das Erkennende muß seyn wie das Erkannte und das Erkannte wie das Erkennende."15 Dieser Grundsatz verbindet sich mit jenem anderen, dem das ganze Werk seine Fragestellung und Fragwürdigkeit verdankt; im Tagebuch 1848 ist er im Kontext der späten Aristoteles-Studien lakonisch ausgesprochen: „wir wissen nicht, was das Seiende ist. "' Ich beziehe mich nicht auf Schelling, um mit seiner Autorität zu entschuldigen, daß ich ansonsten eine moderne erkenntnisphilosophische Perspektive wähle, um mich editionstheoretischen Problemen zu nähern. Schelling selber gehört zu dieser Moderne. Wenn die philologische Erschließung der Quelle sich schon im ersten Schritt, bei dem das zunächst kaum lesbare Zeichen - des Namens einer Person, einer Institution, einer philosophischen Kategorie - als Bedeutungsträger identifiziert wird, als ein Umgehen mit Wissen erweist dann ist auch sein Denken in jenes implizite Wissen eingeschrieben, das aus hermeneutischen Gründen explizit zu machen ist Dabei weiß der Editor: Schelling gehört zu jener Vergangenheit, zu der -wir iahig sind. Die Evidenzen, diese kulturellen Selbstverständlichkeiten einer Mentalität, welche die spezifische Form des Wissens der Schellingschen Philosophie und die ihm eigene Subjektivität tragen konnten, sind verloren. Wir gehören - um ein methodologisch fruchtbares Argument Lucien Brauns aufzunehmen - dieser Vergangenheit in genau der Weise an, in der sie uns entgeht.17
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Schelling 1946, S. 10. SW Bd. I, S. 472. Schelling: Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft [1821], SW IX, S. 221. Schelling 1990, S. 16. Vgl. Braun 1990, S. 356-379.
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Faksimilierte Handschrift
Diplomatische Transkription
l.stille leiden de Einheit, die war, ehe irgendetwas— d. Keimbl geht
l) (Nichts) (if)15 (ganz gleiches Verhalt-.)16 seitiges (Princ.) Gegens. fodern d. Principien, keins d. andre unterdrückt— jedes in sr. Potenz d. Gegens. o dh die Einheit—d. (folifste) idealische Einheit *)
15
Die Klammem (> in der Transkription enthalten von Schelling Getilgtes, das im Edierten Text nicht wiedergegeben wird. Das Symbol * steht für nicht entzifferte Zeichen. 16 Im Unterschied zur Handschrift ergeben sich aus satztechnischen Gründen in diesem Muster des Edierten Textes Zeilenüberhänge.
Abb. 2
Schellings Philosophische Entwürfe und Tagebücher
überall voraus nach auß— stum unthätig, nur in sich anfangs voll Leb— . 1. liebevolles aber mehr leidendes Eins seyn
Vgid gegenüberstehend (gleich d. Suchen mit hinein)
(gesundeste Zustand) zusamengehörigk. 2) d. ganze actus contin. 3) Ewigkeit (mit wiederhol, dess—i was gleich 3) Nun d. Ganze als als d. Ganze — es. was de—id. Subjectu primu. Substanz Ganzes nur für uns 4) Offenb. näml. daß doch nur d. d. obj. Gott (o zu tief gesetzt) äußere Gott, d. Gott, welcher die eig. Gottheit offenb. will. d. ganze (insgemein d. Wes-i schlechthin, die Natur Gottes p wie beim Mensch—i. ~
Edierter Text M
1) Gegens(eitiges) Fordern der Prinzipien, keines das andere unterdrückt — der Gegens|atz| nicht durch die Einheit (jedes in s|eine|r Potenz) — idealische Einheitv Zusammengehörigk|eit| 2) der ganze actus contin|uus,| Ewigkeit (mit Wiederholtungl dessen, was gleich anfangs|)| 3) Nun das Ganze als das Ganze — es. Was denn das Subjectum primum. Substanz. M
] Am Rande ohne Verweiszeichen: Eine stille leidende Einheit, die war, ehe irgendetwas twar.l Das Keimbllattl geht überall voraus, nach außen stumm, untätig, nur in sich voll Leben. Ein liebevolles, aber mehr leidendes Eins|-|Sein. Ganzes nur für uns. ^ Verweiszeichen zu S., Z.
Abb. 2
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Bei der philologischen Erschließung ist gewiß vor dem knowing that zunächst ein knowing how verlangt - jenes knowledge by acquaintance -, das im Umgehen-können mit dem historiographischen Hilfsmittel und aus der Erfahrung im Umgang mit der Geschichte des Wissens - hier: der Philosophiegeschichte - erworben wird. Das Resultat, die edierte Quelle, ist bei hinreichender philologischer Exaktheit die uns mögliche semiotische und semantische Repräsentation der ,ursprünglichen Absicht' des Autors. Re-Präsentation aber hat ihre Funktion darin, daß das Repräsentierte nicht als ein Anwesendes vorgefunden, sondern als das Abwesende ,vorgestellt', genauer: imaginiert wird: Erkenntnistheoretisch gesehen, kompensiert die Repräsentation die Abwesenheit und Sprachlosigkeit der Dinge, wie sie an sich und in ihren Eigenschaften unabhängig von Repräsentationsleistungen sein mögen; gerade so, wie sie in den Religionen in Kultus und Institution die Abwesenheit und Sprachlosigkeit der Götter kompensiert. Es ist der Status von Repräsentation, symbolische Repräsentation zu sein, Vor-Stellung bzw. Ein-Bildung eines Sachverhaltes oder Objekts, das, anders als in Zeichen repräsentiert, für das Denken und Verhalten ohne Existenz, weil amodal, wäre. Eben dies gilt für den Sachverhalt einer historischen Quelle, die erst in der Repräsentation durch das Zeichensystem der Edition die ihr eigene Bedeutung gewinnt. Repräsentation steht als Vergegenwärtigung am Ende des Weges des Verstehens. Mit dem eigenen Verstehen als methodologischem und hermeneutischem Problem konfrontiert, wird man eine [hier: in Klammern gesetzte] Analogie zwischen dem Editor und dem Ethnologen wagen dürfen, über den es in Clifford Geertz1 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme heißt: Wenn ethnologisches [editorisches] Verstehen nicht [...] einer außerordentlichen Sensibilität, einer beinahe Übernatürlichen Fähigkeit entspringt, zu denken, zu fühlen und die Dinge wahrzunehmen wie ein Eingeborener [der Autor der Quelle] [...], wie ist dann ethnologisches Wissen darüber, wie Eingeborene denken, fQhlen und wahrnehmen, überhaupt möglich?" „Das Problem", fährt Geertz fort, ist „[...] ein erkenntnistheoretisches. Wenn wir auf der strengen Forderung beharren, die Dinge aus der Perspektive des Eingeborenen [der Quelle] zu betrachten [...], wie stellt sich dann unsere Position [als Editoren] dar, wenn wir nicht länger eine einzigartige psychologische Nähe oder eine Art transkultureller Identifikation mit unserem Gegenstand beanspruchen können? Was wird aus dem Verstehen, wenn das Einfühlen entfällt?
3. Die Edition und das Problem der Übersetzung Die Welt des Wissens, in der sich Editoren bewegen, gleicht der Vico-Welt, die wir als Geschichte erkennen können, weil wir sie gemacht haben; in ihr sind unsere historischen Rekonstruktionen ein wesentliches Mittel der Verfugung über die Welt, die für uns Bedeutung dadurch hat, daß wir in mehr oder weniger kohärenten Weltbild-Semantiken Bedeutungen generieren. In diesem Sinne ist jede Rekonstruktion in jenem be-
" Geertz 1995, S. 290.
Schellings Philosophische Entwürfe und Tagebücher
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stimmten Sinne Konstruktion, wie er zur Übersetzung gehört.19 Die Übersetzung ist nicht nur kontext-relational - relativ zu vorausgesetzten Theorierahmen und Methodologien - sondern auch unbestimmt. Folgt hieraus, man könne davon ausgehen, beliebige Sprachspiele, Begriffsrahmen, Theorien und Philosophien förderten die editorische Arbeit in gleich guter Weise? Dies ist nicht der Fall. Doch ist es gerade die dogmatische Überzeugung, die sich aus der Fixierung auf die Theorien und das Weltbild einer und nur einer Schule begründen, die den Schein hermeneutischer Gewißheit erzeugt und tatsächlich einen Verlust an Freiheit gegenüber dem Forschungs- und Editionsgegenstand bedeutet - an Freiheit vornehmlich von Vorurteilen und von den verkennenden Wertungen, die aus ihnen entspringen. Deshalb ist es nicht geboten, Schellingianer zu sein, um Schelling edieren zu können. Auf der anderen Seite versteht es sich, daß eine Phobie gegenüber dem Idealismus der Arbeit nicht dienlich sein wird. Deshalb plädiere ich für einen bestimmten, keineswegs aber einzigen erkenntnisphilosophischen Zugang zu den historischen Wirklichkeiten, denen wir begegnen, indem und während wir uns begegnen. In der ,Übersetzung' begegnet das eigentliche Problem wissensgeschichtlicher Arbeit. Keine Übersetzung hat die Garantie einer Korrespondenz mit dem zu Übersetzenden. W. O. Quine formuliert zutreffend: „Reference itself proves behaviorally inscrutable".20 Die ,Unerforschlichkeit der Referenz' ergibt sich letztlich aus den relativen Ontologien, die den Sprachen je eigen sind und die sich die Übersetzer zu eigen machen; und aus ihr folgt eine „Unbestimmtheit der Übersetzung". Ontologische Relativität führt nicht nur Quine zu der „relativistic thesis [...]: it makes no sense to say what the objects of a theory are, beyond saying how to interpret or reinterpret that theory in another". Daß Quine gerade in diesem Kontext die empirische Unterbestimmtheit von Theorien - und damit von Interpretationen - betont, sei am Rande erwähnt. Auch die Erkenntnisleistung des Editors ist in vielfacher Hinsicht Übersetzung; auch sie ist relativ zu Theorierahmen, Weltbildern und Selbstbildern. Deshalb ist die Selbstaufklärung über Selbstbilder eine Voraussetzung dieser Arbeit. Deshalb auch weiß sich der Interpret gewarnt vor der Annahme, er und kein anderer biete die Interpretation eines Werkes. Bereits der Autor der Quelle, über die und in deren Kontext hier berichtet wird, war der Idee , möglicher Welten' nahe. Seine Erkenntnisbemühungen um den Mythos im Vergleich zum Logos moderner Rationalität belegen dies ebenso wie seine Rehabilitierung erzählender Geschichtsschreibung. Der Weg, dessen erste Schritte auch Schelling gegangen ist, läßt sich mit Nelson Goodmans Ways of Worldmaking als Weg einer Philosophie beschreiben, die damit begann, daß Kant die Struktur der Welt durch die Struktur des Geistes ersetzte, [...] und die nun schließlich dahin gekommen ist, die Struktur der Begriffe durch die Strukturen der verschiede19 20 21 22
Vgl. hierzu Tosell 990. Quine 1968, S. 191. Vgl. ebd., S. 193. Ebd., S. 202.
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nen Symbolsysteme der Wissenschaften, der Philosophie, der Künste, der Wahrnehmung und der alltäglichen Rede zu ersetzen. Die Bewegung läuft von der einen und einzigen Wahrheit und einer fertig vorgefundenen Welt zum Erzeugungsprozeß einer Vielfalt von richtigen und sogar konfligierenden Versionen oder Welten. Wir interpretieren relativ zu unseren eigenen Worten und relativ zu unserer heimi sehen Gesamttheorie, die hinter ihnen steht". Entsprechend formuliert im Rahmen eines internen Realismus Hilary Putnam: ein Zeichen, das von einer bestimmten Gemeinschaft von Zeichenbenutzern auf bestimmte Weise verwendet wird, kann innerhalb des Begriffsschemas dieser TZeichenbenutzer bestimmten Gegenständen entsprechen. Unabhängig von Begriffsschemata existieren keine .Gegenstände'. Wir spalten die Welt in Gegenstände auf, indem wir dieses oder jenes Beschreibungsschema einführen. Da die Gegenstände und die Zeichen gleichermaßen interne Elemente des Beschreibungsschemas sind, ist es möglich, anzugeben, was wem entspricht. Konsequenter noch als Putnam hat Nelson Goodman (mit ihm Catherine Elgin) Cassirersche Prinzipien der Perspektivität und Kulturen-Kontextualität geltend gemacht; es geht ihm - und mir mit ihm - um die „Multiplizität der Welten, ihre Abhängigkeit von Symbolsystemen, die wir konstruieren". Goodmans Kritik gilt, wie diejenige Putnams, jedem ,Absolutismus'. Hierunter versteht Goodman die absurden Vorstellungen von Wissenschaft als dem Bemühen, eine einmalige, abgepackte, aber leider Gottes unentdeckbare Realität ausfindig zu machen, und von Wahrheit als der Übereinstimmung mit dieser unzugänglichen Realität. Seine wahrheitstheoretische Schlußfolgerung lautet: Der offensichtliche Konflikt zwischen wahren Beschreibungen zeigt, daß sie keine Beschreibungen desselben Dinges sind. Die Erde, die wahrheitsgetreu als bewegt beschrieben wird, ist nicht die Erde, die wahrheitsgetreu als stillstehend beschrieben wird. Und die Welt der einen hat für einen Planeten wie der andere keinen Platz. Wenn also beide Beschreibungen wahr sind, sind sie in verschiedenen Welten wahr, Aber aus dieser Schlußfolgerung soll nicht mehr als ein »Relativismus unter strengen Einschränkungen' abgeleitet werden, d. h. unter Beachtung einer strikten Grenze gegenüber jedem programmatischen Skeptizismus und Irrationalismus.
23 24 25 26 27 2ft 29
Goodman - Elgin 1993, S. 76. Quine 1975, S. 74. Putnam 1990, S. 77 f., 82. Goodman 1990 [1978], S. 10. Goodman - Elgin 1993, S. 71. Goodman - Elgin 1993, S. 73. Vgl. ebd., S. 74.
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Was ich hier philosophisch als erkenntnis- und interpretationstheoretischen theoretischen Pluralismus3® skizziere, könnte den Philologen erschrecken. Editoren, aufgerufen zur unzulässigen Beliebigkeit des Anything goes? Keineswegs; dieser Pluralismus ist Fremden-freundlich, er anerkennt den Gegenstand als schutzwürdiges Anderes, und er delegitimiert nicht den Konflikt der Interpretationen. Es geht um die seit Kant unumkehrbare Einsicht, deren sich Schelling bewußt war und die in einem Satz Cassirers gesagt sei: „Die Konstanz, deren wir [...] bedürfen, ist nicht die von Eigenschaften oder Gesetzen, sondern von Bedeutungen."31 Weil die historische Quelle keine Bedeutungen offenbart, ist die für Editoren und Philologen - wie für alle, die sich mit fremder Vergangenheit und eigen-sinniger Gegenwart befassen - wesentliche Schlußfolgerung zu ziehen: Wir müssen wissen, wie wir erkennen, um zu wissen, wer wir vis a vis unserem Gegenstand sind. Statt Relativismus stellt sich dann jene kultur-historische Relationalität ein, die dem Historiker statt einer vom Gegenstand geborgten Objektivität seine Objektivität, die nach Menschenmaß, erlaubt. Aus dem für den Editor sakrosankten Buchstaben der Quelle spricht kein Geist, und gerade deshalb bleibt das „sensus quasi captivos victoris jure transposuit" des Hieronymus als Warnung. Daraus ergibt sich die philologische und philosophische Verantwortung, sich um größtmöglich Näherung an den Gegenstand zu bemühen und sich zugleich in einer Distanz zu wissen, die kein Mangel ist. Der Gegenstand wäre - als das problematische Andere-unser-selbst - schutzlos, machten wir Nähe und Distanz nicht zum ständigen Thema historischer Reflexion und historiographischer Argumentation.
Literatur Abel, G., 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus. Frankfurt/M. Braun, L., 1990 [1973]: Geschichte der Philosophiegeschichte. Aus dem Französischen übers, v. F. Wimmer. Bearbeitet und mit einem Nachwort vers. v. U. J. Schneider Cassirer, E., 1983: Wesen und Wirkungen des Symbolbegriffs. Darmstadt -, 1996 [1944]: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg Geertz, C., 41995: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. Goodman, N., 1990: Weisen der Welterzeugung [Ways of Worldmaking, 1978]. Frankfurt/M. -, - C. Elgin, 1993 [1989]: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften. Übers, v. B. Philippi. Frankfurt/M, Papernyi, Z. S., 1991: Das Notizbuch als Gegenstand der Textologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redakt.). Berlin Putnam, H., 1983: Was ist Epistemologie? In: D. Henrich (Hg.): Kant oder Hegel? Stuttgart -, 1990 [1982]: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt/M. Quine, W. V. O., 1968: Ontological Relativity. In: The Journal of Philosophy LXV, No.7, April 4 -, 1975: Ontologische Relativität und andere Schriften. Stuttgart 30 31
Vgl. hierzu ausführlicher Verf. 1996. So Cassirer 1983, S. 75, in anderem Problemkontext.
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Sandkühler, H. J., 1990: Einleitung. Positive Philosophie und demokratische Revolution. In: F. W. J. Schelling: Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, mit A. v. Pechmann und M. Schraven aus dem Berliner Nachlaß hrsg. von H. J. Sandkühler. Hamburg, S. XXIII-LXI -, 1996: Pluralismus. In: G. Abel - ders. (Hrsg.): Pluralismus - Erkenntnistheorie, Ethik und Politik. Hamburg [DIALEKTIK 1996/3] Schelling, F. W. J., 1856 ff.: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. 1. Abteilung: 10 Bde. (= IX); 2. Abteilung: 4 Bde. (= XIXIV). Stuttgart - Augsburg 1856 - 61. [Zitiert: SW Bd., S.] -, 1946: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 hrsg. von Manfred Schröter. München 1946 (Schellings Werke. Münchner Jubiläumsdruck. Nachlaßband) -, 1990: Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, mit A. v. Pechmann und M. Schraven aus dem Berliner Nachlaß hrsg. von H. J. Sandkühler, Hamburg -, 1994, Philosophische Entwürfe und Tagebücher. Bd. 1: 1809-1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter. Aus dem Berliner Nachlaß hg. v. H. J. Sandkühler mit L. Knatz und M. Schraven, Hamburg Schellingiana rariora, 1977. Gesammelt u. eingel. von Luigi Pareyson. Torino Schraven, M., 1989: Philosophie und Revolution. Schellings Verhältnis zum Politischen im Revolutionsjahr 1848. Stuttgart - Bad Cannstadt Tilliette, Xavier, 1970: Schelling. Une philosophic en devenir. 2 Bde. Paris Tosel, A., 1990: Übersetzbarkeit der Sprachen. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Ed. par H. J. Sandkühler. 4 Bde. Hamburg 1990, Bd. 4
Editionen in anderen Ländern
Jean-Louis Lebrave
Genetische Textkritik und Edition in Frankreich
Bekanntlich gibt es in Frankreich keine starke philologische Tradition, wenigstens nicht im Bereich der modernen Texte. Der Hauptanwendungsbereich der Philologie war immer und bleibt die klassische und mittelalterliche Philologie, und selbst auf diesem Gebiet ist sie in Frankreich nie so recht zu Hause gewesen. Schon im 19. Jahrhundert ist die ,deutsche Philologie' stark angefochten worden, zum einen weil sie in der Zeit nach dem 1870er Krieg negativ als ,Wissenschaft der Sieger' empfunden wurde, zum anderen aus tieferen kulturellen und intellektuellen Gründen. Außerdem fand die Autonomisierung der Linguistik in Frankreich früher als in Deutschland statt, so daß der zweite philologische Zweig, nämlich der der Vergleichenden Grammatik, nur als ,grammaire historique' praktiziert und gelehrt wurde und schon früh im 20. Jahrhundert von der synchronischen, strukturalistischen Linguistik verdrängt wurde. So kann man wohl mit Recht behaupten, daß es in Frankreich seit 30 Jahren auf dem Gebiet der modernen Literatur keine oder kaum Philologen gibt. Diese Feststellung trifft für alle Bereiche der Geisteswissenschaften, hauptsächlich für literarische, aber auch für philosophische Texte zu. Hingegen entwickelte sich schon bei direkten Nachfolgern Saussures, wie Ernout, Meillet oder Bally eine starke Berücksichtigung des Produktionsakts und der Sprechereinstellung im Text, die in den Theorien der ,6nonciation' gipfelte. Benvenistes Vorschlag, das konkrete Funktionieren der Sprache innerhalb eines individuellen Benutzungsakts zu untersuchen, konnte also den Blick der französischen Gelehrten für literarische Produktionsprozesse schärfen, und so den Weg fur die critique genetique bereiten. In Frankreich gibt es keine tief eingewurzelte editorische Tradition, und der Begriff ,historisch-kritische Edition' ist wohl nur den französischen Germanisten geläufig. Es gäbe dafür viele Beispiele, wovon ich nur drei erwähnen möchte. Voltaires Werke sind nicht in Frankreich, sondern in England durch die Voltaire-Foundation ediert worden. Dasselbe gilt für die projektierte historisch-kritische Edition der Werke von Montesquieu. Schließlich findet ein ähnliches Projekt für d'Alembert keine Unterstützung durch die französischen akademischen Institutionen. Geläufig sind hingegen in Frankreich Studien- bzw. Leseausgaben, wofür die jetzt über 60 Jahre alte Bibliotheque de la Pleiade das Musterbeispiel liefert. Solche Ausgaben nehmen sich nicht vor, einen vollständigen Textapparat mit Berücksichtigung aller Textzeugen und aller Varianten herzustellen, sondern - zwar unter Mithilfe der besten Spezialisten - einem breiten Publikum zuverlässige Texte zu liefern, die sich für wis-
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senschaftliche Untersuchungen nur teilweise eignen. Die neulich erschienenen PleiadeBände - wie zum Beispiel die neue Proust-Ausgabe - bezeugen zwar die Tendenz, den Text mit einem reicheren kritischen Apparat zu versehen, können aber keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Dabei ist zu bemerken, daß das übliche Leserpublikum durch diese Erweiterung des Apparats mehr überrascht als befriedigt wurde, und daß es vermutlich lieber bei der traditionellen Überlieferung des Texts geblieben wäre. In dieser von der Philologie sozusagen unbebauten Landschaft ist die ,critique gene"tique' aus einer doppelten Erkenntnis entstanden. Die erste betrifft die empirische Materialität der Handschriften: Als am Ende der sechziger Jahre eine kleine Gruppe von Forschern die von der Bibliotheque Nationale neu erworbenen Arbeitsmanuskripte von H. Heine zu behandeln suchte, fiel ihnen das radikale Anders-sein der Objekte auf, die sie vor Augen hatten. Das waren .offensichtlich' keine Texte, und deswegen konnten die Methoden der überlieferten Textkritik nicht angewandt werden. Die verfremdende Alterität der Arbeitsmanuskripte, ihre eigentümliche Semiotik, werden nach wie vor von der ,critique genetique' stark betont, wenn es gilt, die neue Kritikform zu verteidigen. So z. B. Louis Hay: [die Manuskripte als materielle Objekte] sind Zeugen für ihre eigene Entstehungsgeschichte, die in den Materialien (Papiere, Tinten, Bleistifte) so wie in der Eingliederung (Dossiers, Pläne, Arbeitshandschriften) verschriftet bleibt.
Die zweite Erkenntnis ist begrifflicher Natur. Die entstehende ,critique gonetique' hätte die Eigenartigkeit der modernen Manuskripte vermutlich nicht so akut vernommen, wäre sie von der strukturalistischen Theorie nicht dazu vorbereitet worden. Die Arbeitsmanuskripte schienen doch den neu aufgebauten Begriffen der textuellen Produktivität viel angemessener zu sein als die Texte. Um diese Begriffe ins Leben zu bringen, brauchte man sie nur aus der Textgeschlossenheit der strukturalistischen Theorie herauszuholen und deren empirisches Funktionieren ,in vivo' zu beobachten. Diese zwei Erkenntnisse sind offensichtlich eng miteinander verbunden. Das Befremdende an der Semiotik der Arbeitsmanuskripte liegt daran, daß die Schrift nicht wie für das Buch als Zeugnis eines geregelten Vervielfältigungsverfahrens, sondern als Spur eines Schreibprozesses zu verstehen ist. So wird auch die „dritte Dimension des Textes" (L. Hay) sichtbar, nämlich die der zeitlichen Textentstehung. Worin besteht nun das ,Anders-sein' der genetischen Dossiers? Inwieweit ist die Stellungnahme der französischen Genetiker gerechtfertigt? Betrachtet man die hinterlassenen Papiere eines modernen Schriftstellers, etwa Flauberts, so fällt die Heterogenität der Dokumente sofort auf. Neben den herkömmlichen textartigen Dokumenten (etwa Reinschriften) findet man allerlei, das schwer mit dem Begriff ,Text' vereinbar ist. Notizhefte unterschiedlicher Form und Größe, die der AuLouis Hay: Critiques du manuscrit. In: L. Hay (Hrsg.): La naissance du texte. Paris 1989, S. 10.
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tor immer bei sich hatte und die wiederum Verschiedenes enthalten: „Gedanken und Einfalle", Exzerpte aus Büchern, aber auch bei manchem Schriftsteller private Notizen, die mit der literarischen Arbeit nichts zu tun haben: Verabredungen, Termine, Rechnungen usw. Dann findet man Blätter, wo Auszüge aus Büchern notiert wurden. Z. B. enthält der Nachlaß zu Herodias - eine der drei Kurzgeschichten, die Flaubert um 1876 verfaßte, und die im gedruckten Text kaum 30 Seiten beträgt - ungefähr 60 Seiten, wo Flaubert Einzelheiten aus Büchern über die Geographie und Geschichte Palästinas exzerpiert hat. Dann gibt es Entwürfe, Skizzen, mehr oder weniger entwickelte Pläne. Falls die Bibliothek des Autors erhalten ist (wie es z. B. der Fall bei Valery ist, aber auch bei Nietzsche), sind auch da Materialien zu finden, etwa Randbemerkungen und unterstrichene Textteile, die auch eine Rolle im kreativen Prozeß gespielt haben. Den wichtigsten Teil bilden natürlich die Arbeitsmanuskripte, die Brouillons. Erweitert man den Blick und vergleicht verschiedene Nachlässe, so wird diese Heterogenität noch deutlicher. Apollinaire benutzt jede Art von Papier, an die er herankommt, Blätter mit dem Stempel des Ministeriums, wo er arbeitet, Menüs, Quittungen usw. Rousseau hat Skizzen auf Spielkarten geschrieben. Nie ist die geregelte, standardisierte Form des gedruckten Texts - aber auch nicht des mittelalterlichen Manuskripts zu erkennen. Dieser globalen Heterogenität entspricht auch die Heterogenität des Schriftbilds der einzelnen Blätter. Natürlich kommen als erste die Schreibgewohnheiten des Autors in Betracht, also Schrift und Duktus, die man nicht ganz beseitigen kann, auch wenn sie kaum interpretierbar sind (ich lasse hier natürlich die Graphologie außer Betracht). Vor allem sind es aber die graphischen und semiotischen Eigenschaften des geschriebenen Blatts, die diese Heterogenität bezeugen. Natürlich findet man Textfragmente, die der herkömmlichen linearen Textstruktur entsprechen. Aber es gibt auch Verweisungszeichen sowie Wortlisten und Zeichnungen. Sehr oft sind die Randspalten mit spezifischen Eintragungen gesättigt, die sich nicht unbedingt auf den laufenden Text beziehen. Bei Flaubert findet man z. B. da sowohl Hinzufügungen zum bereits geschriebenen Text, als auch Wortlisten und Ausdrücke, die an dieser Stelle für einen späteren Gebrauch .gespeichert' sind. Überhaupt ist die Einteilung des Blatts in mehrere Spalten sehr häufig. Flaubert faltet das noch leere Blatt, bevor er zu schreiben anfangt. Hugo teilt jedes Blatt in je zwei Hälften, wovon er zuerst nur die rechte benutzt. In Stendhals Handschriften zu Vie de Henry Brulard kommen sogar Blätter vor, wo nur die Randspalte beschrieben ist, also wo der Text, den die Randspalte kommentieren soll, nie existiert hat. In den von Proust benutzten Heften wird zunächst nur die rechte Seite benutzt. Die linke Seite wird dann mit Hinzufügungen (bis hin zu den berühmten ,paperoles') gefüllt, aber auch mit meta-schriftlichen Kommentaren wie „capital" oder „capitalissime", auch entsprechend groß geschrieben. Der Text selbst - oder besser gesagt die Textspalte - wird durch Radierungen, Hinzufügungen, Verweisungszeichen in Fragmente gesprengt. Rein visuell und graphisch hat man es also offenbar nicht mit ,Texten' zu tun. Versucht man nun, diese Blätter zu lesen oder, besser gesagt, zu entziffern, so kommt man sehr schnell zu der Erkenntnis, daß es sich keineswegs um eine Lesetätig-
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keit im üblichen Sinne handeln kann. Die Lektüre wird ständig dadurch unterbrochen, daß man nicht-textuelle Informationen dekodieren und interpretieren muß. Diese Informationen entsprechen den im Schreibprozeß hinterlassenen Spuren des Schreibakts selbst, und sie gehören einem zweiten semiotischen System - als erstes System gilt die alphabetische Transkodierung des gesprochenen Worts. Versuchte man, eine Manuskriptseite laut zu .lesen', so käme man etwa zu folgender Mischung von Lesen, Bechreiben und Kommentieren (ich entnehme das Beispiel den Handschriften zu Heines Luteziä): Die musikalische Saioon war Von Winter allen Künsten Der diesjährige Salon offenbarte eiee nur eine buntgefärbte Ohnmacht. < erstes Textfragment, gestrichen > Die musikalische Saison war < der Satz geht nicht weiter. Dann folgt, ebenfalls gestrichen und unvollendet > Von allen Künsten. < Dann folgt, diesmal ungestrichen > Der diesjährige Salon < über Salon steht Winter, das also eine Einfügung ist. Der Text lautet also: > Der diesjährige Wintersalon offenbarte < Dann steht das Wort eine, gestrichen. Der Text wird folgendermaßen fortgeführt :> nur eine buntgefärbte Ohnmacht.
usw.
Gleichzeitig erfolgt die Rekonstruktion des Schreibprozesses. Da ein gestrichenes Fragment durch das ersetzt wird, das ihm unmittelbar in der Zeile folgt, würde diese Rekonstruktion im angegebenen Fall ungefähr so lauten: Die musikalische Saison sofort durch Von allen Künsten ersetzt, sofort durch ein ungestrichenes Textfragment ersetzt, das den ersten Satz bildet, worin Winter durch eine spätere Addierung eingefügt wurde: Der diesjährige Wintersalon offenbarte nur eine buntgefärbte Ohnmacht Formal ist die Sequenz l eiae (gestrichen) nur eine / eine Ersetzung. Inhaltlich handelt es sich um eine Addierung, nämlich von nur.
Diese etwas mühselige Beschreibung scheint mir insofern interessant zu sein, als sie in meinen Augen sehr deutlich beweist, daß in solchen Manuskripten zwei Bedeutungssysteme ineinander verwoben sind, nämlich das eine der linearen Textfolge, und das andere der ,genetischen' Dimension, also des Schreibprozesses selbst, so daß das Lesen ständig durch die Wahrnehmung und Interpretation der Schreibspuren unterbrochen wird. Dieses Faktum muß durch jegliche Form einer ,Edition' berücksichtigt werden.
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Außerdem wird schon bei diesem sehr einfachen Beispiel deutlich, daß die saubere Trennung von Befund und Deutung, so wie sie von Editoren erwünscht wird, praktisch nur schwer realisierbar ist, es sei denn, die semiotische Deutung des graphischen Befunds werde in den Befund selbst als selbstverständlich interpretiert, was ich wenigstens zum Teil als fragwürdig empfinde. Dagegen kann man den Einwand formulieren, daß die Konsequenzen dieser Heterogenität hier sehr überspitzt werden und daß das zweite semiotische System schließlich durch Kalkül reduziert werden kann. Doch gerade dieses Kalkül beansprucht die höchste Aufmerksamkeit, um so mehr, da der Text, der sich aus ihm ergibt, in vielen Fällen kein ,ordentlicher', sich zielbewußt entwickelnder Text ist. Vom editorischen Standpunkt wurde der Beißnerschen ,treppenförmigen' Darstellung des Entstehungsprozesses der Vorwurf gemacht, sie sei zu teleologisch textorientiert, sie ziele nur auf den Text und zwinge alle genetischen Daten der Handschrift in das unpassende Kleid der endgültigen Textform. Die graphische Heterogenität der Handschrift hat natürlich eine Entsprechung im Inhalt, und davon möchte ich kurz einige Beispiele anführen. Die ersten zwei Beispiele könnte man als .Schreiben ohne Ende' kennzeichnen. Der französische Philosoph Maine de Biran hat sehr wenige fertige Texte veröffentlicht. Zu diesen wenigen Texten gehört ein Aufsatz, den er für eine Preisaufgabe der Academie de Dijon verfaßte. Er bekam den Preis, aber als er gebeten wurde, den Aufsatz in endgültiger Form zu veröffentlichen, weigerte er sich mit der Erklärung, er sei mit seiner Formulierung nicht zufrieden. Und tatsächlich geriet er dann in einen Prozeß des unaufhörlichen Neu-Schreibens. Sein Nachlaß besteht aus unendlichen Versuchen, die einmal geschriebenen Sätze aufs neue zu schreiben, ohne daß ihm je eine endgültige Formulierung gelungen wäre. In einem solchen Fall hat man es also nicht mit Texten zu tun, sondern mit miteinander konkurrierenden Schreibanzätzen, zwischen welchen Maine de Biran unfähig war, eine Wahl zu treffen. Bei Maine de Biran hat es wenigstens einen Text gegeben, auch wenn er sozusagen am Anfang und nicht am Ende des Schreibprozesses steht. Bei Musi l gibt es zwar einen richtigen Text für den ersten Teil des Mann ohne Eigenschaften, aber man sieht aus dem Nachlaß, daß das Schreiben am zweiten Teil mehr und mehr auf Irrwege geriet, mit verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten, die nicht zueinander passen, was auch erklärt, warum der Roman unvollendet bleiben mußte. Ich möchte als drittes Beispiel eine Erscheinung einführen, die zu folgender Frage führt: Was ist der vom Autor intendierte Text? Während des Druckes von Ulysses kam Joyce zu seinem Drucker in Dijon mit einigen Seiten, die er in den schon gedruckten Textteil einfügen wollte. Als sich der Drucker weigerte, schob Joyce einfach die geplante Addierung mit minimalen Anpassungen in die nächsten Manuskriptseiten ein, die er dem Drucker noch nicht gegeben hatte. Wo liegt die Intention des Autors, und Daniel Ferrer - Jean-Louis Lebrave: De la Variante textuelle au geste d'dcriture. In: L'ocriture et ses doubles. Genese et variation textuelle. Paris 1991, S. 19-21.
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wo der autorisierte Text? Als Leser möchte ich gem die zwei Textzustände lesen dürfen, aber das widerspricht einem Grundprinzip der textuellen Linearität: Dasselbe Textfragment kann nicht an zwei verschiedenen Stellen vorkommen, es sei denn, der Autor hätte es absichtlich wiederholt. Das vierte Beispiel wäre eine mögliche Antwort auf die Frage, warum Schriftsteller ihre Manuskripte behalten. Auf diese Frage antworten viele Autoren (und unter ihnen schon H. Heine) folgendermaßen: Weil die Blätter manches enthalten, wovon sie denken, daß sie es vielleicht noch benutzen können. Wieso? Nicht alles, was im Arbeitsmanuskript gestrichen oder weggelassen wurde, verdient, tatsächlich zu verschwinden? Daraus ersieht man, daß der Text, den man vor Augen hat, auch ein anderer hätte sein können und daß der genetische Prozeß zum Teil aleatorisch ist, zum Teil eine Bahn für das bloß Mögliche eröffnet, was mit dem Textbegriff nicht zusammenpaßt. Diese Beispiele zeigen deutlich, daß man es bei Arbeitsmanuskripten auch inhaltlich nicht mit Texten zu tun hat. Bekanntlich ist aber der »klassische' Editionsprozeß textorientiert. Wie kann man sich aus dieser Aporie retten? Es hat zwei Wege gegeben. Die Editoren - vor allem in Deutschland -, die von vornherein an einer Edition beteiligt waren, haben sich zuerst für eine Textedition entschieden, der sie einen textgenetischen Apparat beigefügt haben. Da Frankreich kein Wunderland für Editionen ist, ist die critique genetique einen anderen Weg gegangen: Sie hat behauptet, der Entstehungsprozeß sei ebenso interessant wie das Ergebnis des Schreibens, und er verlange nach spezifischen Konzepten und Untersuchungsmitteln, die - wenigstens in einer ersten Phase - eine Abkehr von den überlieferten Modellen erfordere, also eine Abkehr vom Textbegriff, vom Variantenapparat und von allen der Philologie zugehörigen Begriffen. Vielleicht war ein bißchen Hochmut dabei, und vielleicht sogar Ignoranz (die italienische Tradition der variantistica war den französischen Literaturspezialisten ebenso unbekannt wie die deutsche Philologie). Aber der Wille, auf neue Materialien einen neuen Blick zu werfen, war doch im großen und ganzen gerechtfertigt. Ich möchte hier nur zwei kurze Zitate von Jean Starobinski anführen. [über die ,critique des textes'] Le mouvement de cette critique est done anim£ par l'espoir de remonter au texte-princeps, authentique, «garanti d'origine». Celui-ci une fois dolimite et consolidi, il n'est nul besoin d'en savoir davantage. Dans sa perfection, il est assortment le produit d'une olaboration· mais de celle-ci, aucune trace n'existe ni n'est exigible; la dictde de la Muse est tout aussi recevable. Suffit-il de lire les «avant-textes» en fonction du texte final qui veille en eux comme leur avenir cacho? N'y a-t-il pas illusion rotrospective, ä croire que le texte definitif se cherchait lui-meme des la premi6re mise en train [...]? C'est faire du texte dernier venu, s'il vient, une sorte d'entelechie aristotelicienne.
Jean Starobinski: Approches de la genötique des textes. Op. cit., S. 207-212. Ebd., p. 211.
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Ziel der critique genetique ist es also, durch eine grundsätzliche Analyse der schriftlichen Spuren den Prozeß der textlichen Entstehung zu rekonstruieren und daraus wo möglich generelle Modelle oder wenigstens Typologien für das literarische Schaffen zu entwickeln. An diesem Programm arbeiten die ,geneticiens' seit den siebziger Jahren. In diesem Prozeß mußte die critique genetique wieder den Editionsproblemen begegnen. Denn es genügt nicht, einen Prozeß rekonstruiert zu haben: Man muß auch imstande sein, die Ergebnisse dieser Rekonstruktion mitzuteilen, und also eine adäquate Darstellungsform erfinden. Dabei muß konsequenterweise das Prozessuale am Schreibakt sichtbargemacht werden, weswegen die ,geneticiens' immer wieder betonen, daß die Wiedergabe des Prozesses überhaupt dynamisch erfolgen soll. Wie es Raymonde Debray-Genette schön formuliert hat, muß der Leser imstande sein, das allmähliche Entwickeln des Schreibens so vor Augen zu haben, als wäre er Zuschauer in einem Theater. Schon beim Durchlesen der existierenden Editionen oder Editionsversuche fällt einem auf, daß dieses Ziel mit Papier und gedruckten Zeichen unerreichbar ist. Die meisten Editionen sind sehr schwer leserlich, nicht nur für den Laien, sondern auch für den Spezialisten. Außerdem stimmen die Transkriptionskonventionen gar nicht miteinander überein, und die Lage ist bei modernen avant-textes noch schlimmer als bei mittelalterlichen Texten. Dieselbe typographische Konvention - etwa eckige oder spitze Klammern, oder Sperr- und Fettdruck - wird hier für Streichungen, dort für Addierungen benutzt. Jeder Herausgeber bastelt sich sein eigenes System diakritischer Zeichen. Eine sonst sehr verdienstvolle Edition von Un coeur simple und Herodias, die von G. Bonaccorso als „diplomatische und genetische Edition" hergestellt wurde, verwendet ein sehr komplexes System von Pfeilen mit ein bis vier Haken, um die Topographie der Handschrift linear umzukodieren, was das Lesen sehr erschwert. Bei vielen Editionen ist es so schlimm, daß man scherzhaft behaupten konnte, das Faksimile sei unentbehrlich, um die Transkription entziffern und verstehen zu können. Außerdem geht bei jeder Transkription ein beachtlicher Teil der im Manuskript enthaltenen Information verloren. So ist tatsächlich die Benutzung eines Faksimiles unentbehrlich. Das heikelste Problem beim Edieren von ,dossiers genetiques' ist jedoch das des Publikums. An wen richten sich diese Editionen? Zu welchem Zweck werden sie hergestellt? Die Pleiade-Reihe hat zwar ein Leserpublikum, das die wirtschaftliche Rentabilität des Buchs garantiert. Dieses gebildete Publikum interessiert sich zwar für die Entstehungsgeschichte des Textes, will aber gewiß nicht seinen Weg durch umständliche Fußnoten und Apparatseiten suchen, so daß sich diese Editionsformen, wie gesagt, nicht für wissenschaftliche Untersuchungen eignen. Man muß sich also entweder für Editionen entscheiden, die für ein breiteres Publikum gedacht sind, aber keinen Apparat enthalten, oder Arbeitseditionen, die alle Informationen enthalten, aber nur ein sehr geringes Publikum von Forschern haben können.
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Z. B.: G. Bonaccorso (Hrsg.): Corpus Flaubertianum. II. Hörodias. Edition diplomatique et gdnötique des manuscrits. Bd. 2. Sicania 1995.
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Hinzu kommt eine zusätzliche Schwierigkeit, nämlich die, daß die Buchform für die Darstellung des Entstehungsprozesses sowie für die wissenschaftliche Ausnutzung gar nicht adäquat ist, da sie nur linear und sequentiell bequem benutzt werden kann. Selbst ein Forscher wird kaum geneigt sein, nur auf Editionen wie die von Bonaccorso zurückzugreifen: Er wird solche Editionen vielmehr als Hilfsmittel für die Arbeit am Faksimile verwenden. Für solche Zwecke müßte die Edition die größtmögliche Hilfe liefern. Und für eine wissenschaftliche Untersuchung der genetischen Bestände möchte man über viel mehr verfügen als das, was eine Papieredition zu liefern je im Stande ist. Bei Flaubert z. B. möchte man gerade die Intertextualität untersuchen und die Art und Weise verstehen, wie sich die vielen Notizblätter zu dem entstehenden Text verhalten, aber dann möchte man auch über die von Flaubert gelesenen Texte verfügen. Da scheint mir eine elektronische , Edition' im Hypertext-Format die einzige Lösung zu bieten. Dabei meine ich natürlich nicht, daß eine solche Edition die Edition in Buchform ersetzen soll. Texte wird man gewiß noch lange aus Büchern lesen, auch aus dem einfachen Grunde, weil Computerbildschirme sich zum eigentlichen kontinuierlichen linearen Lesen schlecht eignen. Aber Computer sind umgekehrt sehr kostbare Instrumente für das gelehrte Lesen, für die Arbeit an den Korpora, aber auch für das, was Flaubert „la pioche" nannte, nämlich dieses aktive Lesen, wo man mit dem Stift unterstreicht, exzerpiert und kommentiert. Ich bin überzeugt, elektronische Editionen sind imstande, mehrere Probleme zu lösen, die mit Papiereditionen unlösbar bleiben müssen. Als die wichtigsten möchte ich folgende erwähnen. Das, was die Bibliotheque Nationale de France unter dem Namen ,poste de lecture assisto par ordinateur' (PLAO), also ,eine durch Computer assistierte Arbeitsstelle', entwickelt hat, bietet dem Forscher die Möglichkeit, seine eigene Bibliothek aus allen Materialien zusammenzustellen, die er für seine Arbeit braucht, also z. B. Faksimiles und Bücher aus den entsprechenden Datenbanken zu holen. Dazu bietet der Computerbildschirm die Möglichkeit, gleichzeitig mehrere Dokumenttypen zu benutzen, etwa Faksimiles, verschiedene Transkriptionen, editorische Kommentare usw. Überdies bietet der Computer auch außerordentliche Möglichkeiten, die Dynamik des Schreibprozesses zu simulieren und so den genetischen Wunschtraum eines .Schauspiels' zu erfüllen. Ich habe manchmal behauptet, ich sei weder Philologe noch an Editionen beteiligt. Das stimmt nicht ganz. Ich arbeite jetzt nämlich mit Bernard Cerquiglini an einem Editionsprojekt in Paris, das zwei Korpora im Hypertext-Format zu edieren beabsichtigt: Das eine Korpus besteht aus den chansons der occitanischen Troubadours; das andere ist das ,dossier genetique' zur Legende de Saint Julien l'Hospitalier, der dritten Kurzgeschichte, die Flaubert mit Herodias und Un coeur simple verfaßt hat. Das Projekt Für eine Darstellung des Projekts in deutscher Sprache vgl. Bernard Cerquiglini - Jean-Louis Lebrave: PHILECTRE. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt im Bereich der elektronischen Philologie. In: Lili. Heft 106, Juni 1997. S. 83-93.
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haben wir PHILECTRE genannt, was als eine Art mot-valise für »Philologie electronique', also elektronische Philologie, entziffert werden kann. Das könnte vielleicht ein Motto für die wissenschaftliche Edition der Zukunft sein.
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Das Constantijn Huygens Institut - Ein Zentrum für Editionsphilologie in den Niederlanden
l. Vorgeschichte Im Jahr 1579 schlössen sich in den Niederlanden Provinzen und Städte zu einer Union zusammen, aus der sich die Republik der Vereinigten Niederlande entwickelte. Für diese Republik wurde das siebzehnte Jahrhundert eine echte ,aurea aetas', ein Goldenes Zeitalter. Innerhalb von zwei Generationen war die junge Republik zu einer Weltmacht geworden: „the most formidable economic power stretched across the globe".1 Durch die nie gekannte wirtschaftliche Blüte wuchs Amsterdam zu einem der wichtigsten Handels- und Finanzzentren Westeuropas heran. Bereits 1611 besaß Amsterdam sein erstes Börsengebäude, in dem sowohl mit Gütern als auch mit Effekten gehandelt wurde. Mit ihrer Flotte von fast 10.000 Schiffen - der vier- bis fünffache Umfang der englischen Flotte - beherrschte die Republik die Weltmeere. Ab 1602 besaß die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC/Vereinigte Ostindische Kompanie) ein Handels- und Schiffahrtskartell hauptsächlich Amsterdamer Kaufleute, das Monopol auf den Handel mit dem Fernen Osten. Die später gegründete Westindische Compagnie (Westindische Kompanie) übte das Monopol auf den Handel mit der Westküste Afrikas und mit Amerika aus. Durch den Wohlstand wurden die Baukunst und die bildende Kunst in der Republik stimuliert. Die vornehm-stattlichen Grachtenhäuser in Amsterdam und in anderen holländischen Städten sind die stillen Zeugen aus jener Blütezeit, und noch immer bewundern Millionen Menschen in Museen auf der ganzen Welt Tausende von Gemälden alter holländischer Meister aus dem siebzehnten Jahrhundert. Im Kielwasser der Kaufleute suchten die Künstler weit über die Landesgrenzen hinaus ihr Glück. Umgekehrt wurden durch das herrschende tolerante Klima und die geistige Freiheit in der Republik Ausländer angezogen. Sie suchten Schutz und die Möglichkeit zur Publikation. So erschien 1637 bei einem Drucker in Leiden der Discours de la methode von Descartes. Auch auf dem Gebiet der Literatur und der Wissenschaft entfaltete sich große Aktivität. Die Republik war „a world that was [...] surprisingly literate for its time". An der 1575 gegründeten Leidener Universität gelangte die klassische Philologie zu großer 1
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Simon Schama: The embarrassment of riches. An interpretation of Dutch culture in the Golden Age. New York 1987, S. 8. Schama: The embarrassment of riches, S. 4.
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Blüte: „we are right to speak of a golden age of Latin studies".3 Viele der von den Leidener Professoren gemachten Editionen wurden von dem berühmten Verleger Elzevier herausgegeben, der in Leiden ansässig war. Er begann 1629 mit einer Serie von Ausgaben lateinischer und griechischer Klassiker in der Form von preiswerten kleinen Büchern. Diese Serie in Duodez breitete sich schnell aus und war so beliebt, daß sie im Inund Ausland in großem Umfang nachgeahmt wurde. Die kleinen Bücher wurden ein Statussymbol: „no gentleman could afford to be without some of these volumes".5 Am Anfang der Blütezeit der klassischen Philologie in Leiden stehen die Humanisten-Editoren des 15. und 16. Jahrhunderts, zu denen der Rotterdamer Erasmus und der Leidener Hochschullehrer Lipsius als wichtige Vertreter gehörten. Außer den vielen Ausgaben der Kirchenväter besorgte Erasmus mehr als vierzig Editionen von griechischen und lateinischen Autoren, von den Fabeln Aesopus' bis zu Cicero, Lucianus, Plinius, Plutarchus, Terentius usw.6 Weitbekannt waren seine lateinischen Übersetzungen von Euripides. Lipsius gab unter anderem Tacitus heraus, sein berühmter Nachfolger Scaliger publizierte Ausgaben von Catullus, Tibullus und Propertius. Daniel Heinsius besorgte, zunächst als Assistent Scaligers, eine große Anzahl von Editionen, sein Sohn Nicolaas ebenfalls. Zu der Leidener Gruppe gehörten auch Bonaventura, Vulcanius und Vossius. Sie alle schlössen sich der griechisch-lateinischen Philologie an und entwickelten die für die Renaissance charakteristische philologische Methode der Textrekonstruktion und Textkritik auf der Basis genealogischer und sternmatischer Untersuchungen von Handschriften. Die in der Renaissance geschaffene klassische philologische Methode wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten beibehalten. Aber im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts verloren die Niederlande den Anschluß an die Entwicklung neuer Editionstheorien und -methoden. Das erneute Interesse für die mittelalterliche Literatur, das im 19. Jahrhundert zu einer Flut von Texteditionen führte, wurde in den Niederlanden merkwürdigerweise von einem deutschen Studenten initiiert, dem späteren Professor der Germanistik in Breslau: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Hoffmann, am 2. April 1798 in Fallersieben geboren, besuchte 1821 zum erstenmal die Niederlande. Er hielt sich monatelang in Leiden auf, wo er in der Bibliotheek der Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde Handschriften und alte Drucke beschrieb und kopierte. 1830 begann Hoffmann mit der Publikation einer Reihe von Werken unter dem Titel Horae Belgicae. In den zwölf Bänden dieser Reihe gab er den größten Teil der überlie-
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J. H. Waszink: Classical philology. In: Leiden University in the seventeenth century. An exchange of learning. Edited by Th. H. Lunsingh Scheurleer and G. H. M. Posthumus Meyjes. Leiden 1975, S. 167. Vgl. David W. Davies: The world of the Elseviers 1580-1712. The Halgue 1954, S. 146-151. Charles Rosen: The scandal of the classics. In: The New York Review 9 mei 1996, S. 27. Vgl. Jacques Chomarat: Grammaire et rhetorique chez Erasme. 2 Tomes. Paris 1981. Tome I, S. 452479. Vgl. Waszink: Classical philology.
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feiten mittelniederländischen Literatur heraus. Die 1862 vollendete Reihe bildete die Grundlage für die mittelniederländische Sprach- und Literaturwissenschaft. Im Anfang bestand in den Niederlanden wenig Interesse an dem Werk Hoffmanns. Dies änderte sich erst mit der Anerkennung des Studiums der niederländischen Sprachund Literaturwissenschaft als Spezialgebiet und mit der 1853 erfolgten Ernennung von Matthias de Vries zum Professor in Leiden. De Vries wurde der Begründer des wissenschaftlichen Studiengebiets Niederländisch. Für seine Editionen von mittelniederländischen Werken verwendete er die Methoden der klassischen Philologie.9 Karl Lachmanns Reformen in der klassischen Philologie, die von ihm vollzogene Trennung von recensio und emendatio sowie die Übertragung seiner Methode auf Editionen mittelalterlicher Literatur setzten sich in den Niederlanden erst später durch. Seinem nächsten Schritt, der zur Edition eines neueren Autors wie Lessing führte, ist man in den Niederlanden nicht gefolgt. Als dieser Anschluß einmal verfehlt war, ging auch die spätere Diskussion an den Niederlanden vorbei. Lachmanns Konzept bereitete die historisch-kritische Ausgabe vor, einen Editionstyp, der in den Niederlanden sehr lange unbekannt blieb. Die Überlegungen Backmanns, der grundsätzliche Unterschied zwischen Entstehungs- und Überlieferungsvarianten und im Zusammenhang damit die Veränderung von Funktion und Status des Apparates, das Bestreben, die Textentwicklung eines Werks zu dokumentieren, die Diskussionen über die Einrichtung eines Variantenapparates von Beißner bis Zeller10 - all das war in den Niederlanden unbekannt. Die Mediävisten setzten dagegen ihre Tradition im 20. Jahrhundert fort. Man schloß sich ihr mit der Edition der Literatur aus dem 16. und 17. Jahrhundert mehr oder weniger an, ohne den spezifischen bibliographischen Problemen der Drucke aus der Handdruckperiode Rechnung zu tragen. An Editionen moderner Literatur bestand kein wissenschaftliches Interesse. Sie wurden nahezu allesamt den Verlegern überlassen oder von Redaktionen zusammengestellt, die nicht einer wissenschaftlichen Methode gemäß arbeiteten, sondern nach eigenen Anschauungen Entscheidungen selbst trafen. Ausführliche bibliographische und textgenetische Untersuchungen erfolgten nicht. Fast immer wählte man ohne weiteres die Ausgabe letzter Hand als Basistext und begab sich dann ans .Korrigieren' und Modernisieren. Dies alles führte zu unwissenschaftlichen, unzuverlässigen Editionen der neueren niederländischen Literatur. g
2. Das Constantijn Huygens Institut Eine - wenn auch bescheidene - Wende zum Guten geschah zu Beginn der fünfziger Jahre an der Universität Amsterdam. Überraschenderweise waren es nicht die deutschen 8
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Vgl. K. H. de Raaf: Hoffmann von Fallersieben. Voortrekker in het oude land der Dietsche letteren. Den Haag 1943. H. de Bück: De Studie van het Middelnederlandsch tot in het midden der negentiende eeuw. Groningen e. a. 1930. Vgl. C. G. N. de Vooys: Geschiedenis van de Nederlandse taal. Groningen 1970, S. 176. Vgl. Bodo Plachta: German literature. In: Scholarly editing. A guide to research. Edited by D. C. Greetham. New York 1995, S. 504-529.
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Editionstheorien, sondern die Ideen der New Bibliography, der anglo-amerikanischen Richtung von Greg und Bowers, die sich in den Niederlanden zuerst durchsetzten. Der damalige Professor W. Gs Hellinga führte die analytisch-bibliographische Untersuchung und die damit zusammenhängenden Editionsprinzipien ein. Weitbekannt wurde sein Standardwerk Kopij en druk in de Nederlanden.11 Durch seine Schüler verbreitete sich die moderne bibliographische Forschung über diverse Universitäten und wissenschaftliche Bibliotheken. Hellinga beschäftigte sich auch mit der Variantenuntersuchung und initiierte textgenetische Studien. Zu einer echten Reform in der Editionspraxis kam es jedoch nicht. Ein richtiger Durchbruch gelang erst 1975, als ein Schüler Hellingas, der Professor A. L. Sötemann in Utrecht, auf Grund seiner Kenntnisse der deutschen Editionstheorie und -praxis ein großes Editionsprojekt in Angriff nahm, das die Vorbereitung einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke einiger neuer niederländischer Autoren zum Ziel hatte. Im September 1977 beschloß der Vorstand der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften, das Projekt in die Obhut der Akademie zu nehmen. Dadurch wurde es möglich, daß 1979 die erste historisch-kritische Ausgabe in den Niederlanden erschien. Anläßlich dieser Publikation und weiterer Pläne beschloß das Niederländische Ministerium für Unterrichtswesen und Wissenschaften, der Akademie finanziell die Gründung eines Zentrums zur Unterstützung und Anregung der Editionswissenschaft in den Niederlanden zu ermöglichen. Daraus resultierte die Gründung des Bureau Basisvoorziening Tekstedities am 1. Juni 1983. Außer dem Bureau Basisvoorziening Tekstedities als Zentrum für die moderne Editionsphilologie hatte die Akademie noch einige große, langfristige klassisch-philologische Editionsprojekte in ihrer Obhut. 1992 beschloß der Vorstand der Akademie, sämtliche Abteilungen und Institute mit Editionsprojekten in einem einzigen Institut unterzubringen: dem Constantijn Huygens Institut. Von Anfang an waren in dem Institut also die klassische und die moderne Editionsphilologie gemeinsam untergebracht. Die völlig ungleiche Vorgeschichte und die unterschiedlichen methodischen Ausgangspunkte der Projekte machten einen Integrations- und Reorganisationsprozeß notwendig, der 1995 beendet war. 3. Zielsetzung Das Constantijn Huygens Institut besorgt Editionen von Texten aus allen Perioden der niederländischen Literatur: aus dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit und aus dem 18. bis 20. Jahrhundert. Es handelt sich um Texte aus den Niederlanden, von anonymen oder nichtanonymen niederländischen Autoren, auch wenn sie in einer anderen Sprache, etwa in Neulatein oder in Französisch, geschrieben worden waren. Alle Gattungen W. Gs Hellinga: Kopij en druk in de Nederlanden. Atlas bij de geschiedenis van de Nederlandse typografie. Amsterdam 1962. J. C. Bloem: Gedichten. Historisch-kritische uitgave, verzorgd door A. L. Sötemann en H. T. M. van Vliet. 2 Bd. Amsterdam et a. 1979 (Monumenta Literaria Neerlandica I, 1-2).
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und Editionstypen kommen zum Zug: historisch-kritische Editionen, Studien- und Leseausgaben von Gedichten, Prosawerken, Briefen, Abhandlungen, Essays und Kritiken. Die Editionsphilologie wird von den Mitarbeitern des Constantijn Huygens Instituts in internationalem Rahmen betrieben, ist jedoch dem nationalen kulturellen Erbe verpflichtet. Methodisch orientiert man sich an der neugermanistischen Edition, obleich ebenfalls die Copy-Text-Theorie von Greg und Bowers in den Niederlanden Beachtung findet. Zum Beispiel hat man bei den Vorbereitungen zur kritischen Leseausgabe der Werke von Louis Couperus, einem der bedeutendsten niederländischen Prosaisten dieses Jahrhunderts, von den Erfahrungen und praktischen Ratschlägen Bowers und anderer dankbar Gebrauch gemacht, ohne daß die ganze Copy-Text-Theorie angewandt wurde. Es ist das große Verdienst Bowers', Gaskeils und anderer, daß wir Einsicht in die oft extremen Eingriffe von Setzern, Korrektoren und Verlegern in Buchausgaben eines Werks gewonnen haben. Für die Couperus-Edition erwiesen sich diese Einsichten von großem Wert: an erster Stelle bei der bibliographischen Untersuchung, jedoch auch bei der Feststellung von Textverderbnis und deren Korrektur. 4. Struktur Das Institut besteht aus drei Abteilungen: Mittelalter, Renaissance und Neuzeit. Jede Abteilung ist für eine Anzahl von Editionsprojekten verantwortlich. Sie besteht aus einem Kern von wissenschaftlichen Mitarbeitern in fester Anstellung sowie einer wechselnden Anzahl junger zeitweiliger Projektmitarbeiter. Da nicht alle verfügbaren Forschungsstellen mit festem Personal besetzt sind, besteht ein fortwährender Zustrom von jungen Editoren, die uns nach Beendigung des Projektes wieder verlassen. Der damit verbundene Nachteil ist natürlich der Verlust an Erfahrung. Aber die Nachteile eines nichtmobilen vergreisenden Personalbestandes sind unserer Meinung nach größer. Im allgemeinen sind ältere Mitarbeiter den Reformen von Methoden, Techniken und Forschungsprogrammen gegenüber weniger aufgeschlossen. Wir betrachten die Edition von Texten nicht als Selbstzweck. Die Editionen werden gemacht, um weitere wissenschaftliche Forschung allerlei Art zu ermöglichen und anzuregen. Das bedeutet, daß Editoren auch für Fragen und Wünsche von Benutzem, das heißt für das wissenschaftliche Feld, zur Verfügung stehen müssen. Und wenn diese Fragen und Wünsche zur Änderung des Programms oder der angewandten Methode Anlaß geben, muß das Institut frei sein und sie durchführen können. Die Verteilung des Forschungsprogramms des Instituts in Projekte und Teile von Projekten bestimmt die Planung und Arbeitsweise der Mitarbeiter. Bei jedem Editionsprojekt wird vorher bestimmt, welchen inhaltlichen Qualitätsanforderungen die Edition am Ende entsprechen muß, innerhalb welchen Zeitraums das Projekt abgeschlossen sein muß und wieviel Arbeitskräfte und materielle Mittel dazu notwendig sind. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, jährlich mit jedem Mitarbeiter Vereinbarungen über die Planung und deren Kontrolle zu treffen. Wenn durch unvorhergesehene Umstände, etwa das Entdecken einer großen Anzahl verloren geglaubter Handschriften, die Planung nicht eingehalten werden kann, kommt in gegenseitigem Einvernehmen eine neue
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Planung zustande. Diese Arbeitsweise zwingt die Institutsleitung und den beteiligten Mitarbeiter, vorher über die Konsequenzen nachzudenken, die die Wahl eines bestimmten Editionsprojektes mit sich bringt. Dadurch läßt sich vermeiden, daß man voller Begeisterung und guter Absichten mit einem Editionsprojekt beginnt, ohne sich jedoch über das gewünschte Endergebnis und dessen Dauer im klaren zu sein. Wie oft kommt es vor, daß Editionsprojekte vorzeitig abgebrochen werden, weil die ursprünglichen Auftraggeber ihr Interesse an dem Projekt verloren haben und den Geldhahn zudrehen? Das Problem besteht nicht darin, daß Editionsprojekte lange dauern, sondern daß sie oftmals ohne wohlüberlegte Planung starten. An zwei Projekten der Niederländischen Akademie, die später dem Constantijn Huygens Institut übertragen wurden, läßt sich das verdeutlichen. In den dreißiger Jahren begann die Akademie unter der Obhut der Abteilung Physik mit einem Projekt, das eine wissenschaftliche Ausgabe aller Briefe des Delfter Naturforschers Antoni van Leeuwenhoek, der von 1632 bis 1723 lebte, zum Ziel hatte. Van Leeuwenhoek berichtete in seinen Briefen von den Ergebnissen seiner mikroskopischen Untersuchungen, die durch die Qualität seiner Instrumente und die Eigensinnigkeit seiner Interpretationen zu den besten seiner Zeit gehörten. 1939 erschien der erste Band in der Reihe Alle de brieven van Antoni van Leeuwenhoek. Die Reihe ist noch immer nicht vollendet; die enthusiastischen Initiatoren sind mitsamt der ursprünglichen Subskribenten der Serie inzwischen verstorben, es haben verschiedene Editoren an der Edition gearbeitet, und die Edition selbst hat sich im Lauf der Jahre geändert; insbesondere der Kommentar ist weniger ausführlich geworden. Das ganze Projekt war innerhalb der Akademie mehr oder weniger in Vergessenheit geraten bis zu dem Augenblick, als kritische Fragen über die Finanzierung gestellt wurden. Seit drei Jahren untersteht das Projekt nun dem Constantijn Huygens Institut und mit dem heutigen Editor, der sicherlich nicht die Verantwortung für die lange Dauer trägt, wurde ein Plan erarbeitet, mit dem das Projekt im Jahr 2000 abgeschlossen sein wird. Von Amerika aus, wo Interesse für Van Leeuwenhoek besteht, wurde verschiedene Male darauf gedrängt, nur den Text der Briefe zu edieren und den Kommentar einfach zu vergessen. So weit wollten wir es nicht kommen lassen, aber es wird deutlich, wie manche Wissenschaftler auf die lange Dauer eines Projektes reagieren. Das zweite Beispiel betrifft die Prestigeausgabe der Opera Omnia von Erasmus (1469-1536). Einige Jahre nach seinem Tod wurden die Werke Erasmus' zum erstenmal in Basel in neun Bänden herausgegeben. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erschienen sie in einer Neuausgabe von zehn Foliobänden. Diese veralteten Editionen bedurften in diesem Jahrhundert dringend einer Erneuerung. Die erste Initiative für eine neue Edition ging hier in München von K. A. Meissinger aus. 1948 kündigte das Institut für Reformationsforschung, dessen Präsident Meissinger war, den Plan für eine neue kritische Ausgabe von Erasmus' Werk an. Die Edition sollte von einem Forscherteam ,unter straffer Oberleitung' hergestellt werden. Der Plan wurde nicht verwirklicht. Eine neue Initiative wurde 1960 von der Historisch Genootschap Roterodamum ergriffen. Die Gesellschaft wandte sich an die Stadtverwaltung von Rotterdam, Erasmus' Geburtsort. Diese richtete sich daraufhin mit der Frage an den Vorstand der Königlichen
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Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Die Akademie ernannte einen Beratungsausschuß, der positiv entschied und eine Edition in internationalem Rahmen vorschlug. 1963 wurde in Rotterdam der Conseil international pour l'edition des oeuvres d'Erasme gegründet. Sechs Jahre später erschien der erste Band der Desiderii Erasmi Opera Omnia. Die Edition ist nach Erasmus' eigenem Wunsch in verschiedene ,Ordines' eingeteilt. Jeder Teil in der Edition enthält außer dem Text einen Variantenapparat, einen ausführlichen Kommentar und eine Einleitung. Mehr als hundert Schriften von Erasmus sind zu edieren, doch der internationale Conseil beschäftigt keine Editoren. In ganz Europa sucht er Editoren, die bereit sind, einen Teil der Serie gemäß den Instructions for Editors zu bearbeiten. Die Editoren verrichten diese Arbeit neben oder innerhalb ihrer Arbeit an Universitäten oder anderen wissenschaftlichen Institutionen. Die niederländische Akademie hat seit dem Start des Projektes die finanziellen Mittel für ein aus wenigen Mitarbeitern bestehendes Redaktionsbüro zur Verfügung gestellt, das die eintreffenden Manuskripte druckfertig macht und den externen Mitarbeitern mit Rat und Tat zur Seite steht. Der Conseil und das Redaktionsbüro arbeiten intensiv mit Toronto, Kanada, zusammen, wo man sich mit dem Projekt Collected Works of Erasmus (beabsichtigter Umfang 86 Bände) befaßt. Das Ziel dieses Projektes ist eine englische Übersetzung der Werke Erasmus' mit Kommentar.13 Beim Start des Projektes Desiderii Erasmi Opera Omnia ging man davon aus, die Edition im Jahr 2000 vollendet zu haben. Aber seit 1963 sind 22 Bände erschienen, und mehr als 30 Bände stehen noch aus. Das ganze Projekt wird sicher noch zwanzig Jahre dauern. Die Verspätung hat verschiedene Ursachen, beispielsweise die viel zu späte Einsendung der Manuskripte seitens der externen Mitarbeiter oder die Nichtbeachtung der Richtlinien, weshalb die Mansukripte gründlich überarbeitet werden müssen. Wie verständlich und bei einem solchen Unternehmen unvermeidlich diese praktischen Probleme auch sein mögen, die lange Dauer des Projektes von mehr als fünfzig Jahren hat zwei große Nachteile. An erster Stelle droht auf die Dauer eine Diskrepanz zwischen den ursprünglichen Editionsprinzipien und den neuesten Entwicklungen in der Editionsphilologie: Gleicht man die Edition den neuen Erkenntnissen an oder gibt man der Einheit der Reihe den Vorzug und bleibt man damit den ursprünglichen Prinzipien treu? Der lange Zeitraum führt auch zu einer nachlassenden Förderungsbereitschaft des Projektes durch die geldgebenden Institutionen und in der wissenschaftlichen Welt. Keiner wird an der Bedeutung einer wissenschaftlichen Edition der Werke von Erasmus zweifeln - einem der größten Kulturträger der Niederlande und Europas. Aber wenn man sich beim Start eines Projekts nicht alle Konsequenzen vor Augen führt, auch in Vgl. Hans Trapman: De uitgave van de Verzamelde Werken van Erasmus. Een werk van lange adem. In: Radar 96. Stand van zaken in de wetenschap. Bloemendaal 1995, S. 326-341; James K. McConica: Erasmus in Amsterdam and Toronto. In: Editing texts from the age of Erasmus. Papers given at the Thirtieth Annual Conference on editorial problems University of Toronto, 4-5 november 1994. Edited by Erika Rummel. Toronto et a. 1995, S. 81-100.
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Sachen Zeit und Geld, kann selbst die Begeisterung für eine Erasmus-Edition abnehmen und letztendlich verschwinden. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Plan der Edition als Projekt internationaler Zusammenarbeit nicht taugen würde. Im Gegenteil! Aber man hätte zu Beginn allen Beteiligten den Umfang des Projekts und den zu erwartenden langen Zeitraum vor Augen fuhren müssen. Und auf Grund dessen hätte man nebst den externen Mitarbeitern auch die feste Anstellung von mindestens zwei Editoren fordern müssen. Sie hätten in den vergangenen dreißig Jahren 10 bis 15 Bände erarbeiten können, und das wäre ein gewaltiger Unterschied gewesen. Für langwierige Projekte wie die Opera Omnia von Erasmus sind gute Planung und projektmäßige Arbeitseinteilung unbedingt notwendig. Und daran anschließend kann man sich für eine Kombination aus festangestellten Editoren und externen Mitarbeitern im In- und Ausland entscheiden. 5. Position Als Forschungsinstitut der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften ist das Constantijn Huygens Institut das nationale Zentrum für die Editionsphilologie. Die Editionsprojekte werden von der Akademie auf der Basis einer Gesamtfinanzierung bestritten, also nicht je Projekt oder Kostenart. Die Höhe des Gesamtbetrages wird jährlich vom Akademievorstand festgesetzt. Auch die mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergleichbare Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO) leistet einen Beitrag zur Finanzierung. Das Institut ist an keine Universität, Provinz oder Stadt gebunden. Letzteres würde in den Niederlanden auch nicht möglich sein. Das Phänomen einer Forschungsstelle, finanziert von lokalen Institutionen oder Stiftungen nach dem Beispiel der Länder, Städte und Stiftungen in Deutschland, ist in den Niederlanden unbekannt und nicht vorstellbar. Das kulturelle Bewußtsein des durchschnittlichen niederländischen Politikers ist schwach entwickelt und fehlt örtlichen Politikern gänzlich. Die Stadt Rotterdam finanziert für die Erasmus-Edition zwar die Zusammenkünfte der internationalen Redaktionskommission, aber keine Forschungsstelle für diese Edition. Für den berühmten Haager Bürger Couperus ist bei der Stadt Den Haag keine Finanzierung für eine Forschungsstelle erhältlich. Und dasselbe gilt für Multatuli und Vondel in Amsterdam. Durch seine nationale und zentrale Position kann das Institut eine eigene Politik für den kurzen oder langen Zeitraum entwickeln und, sofern notwendig, externe Entwicklungen beeinflussen und korrigieren. Ferner kann es sich intern um methodische Einheitlichkeit und Uniformität bemühen. Infolgedessen hat es sich für einige Apparatmodelle entschieden, die mit eventuell kleinen individuellen Anpassungen im Prinzip für sämtliche historisch-kritischen Editionen verwendet werden. Diese Uniformität ist nicht allein für den Editor von Bedeutung, auch dem Benutzer bietet sie Vorteile. Auf die Dauer gelingt es ihm, sich mit bestimmten Apparatmodellen vertraut zu machen, und dies erhöht die Zugänglichkeit der Editionen.
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6. Publikationen Ein Zentrum wie das Constantijn Huygens Institut bietet auch die Möglichkeit, Publikationen in eigener Regie herauszugeben. Es kann im Haushaltsplan jährlich einen Betrag für Produktions- und Publikationskosten reservieren und damit die Produktion und den Verkauf von Editionen in eigener Hand behalten. Ferner kann es selbst über den Gebrauch neuer Medien wie CD-ROM und World-Wide-Web entscheiden. Die Frage, ob das Publizieren im CD-ROM und Internet sinnvoll ist und eventuell Vorteile bietet, kann ohne Mitsprache von kommerziellen Beteiligten, beispielsweise von Verlegern, beantwortet werden. Für Texte, die unter Urheberschutz stehen, muß natürlich eine Ausnahme gemacht werden. Aber abgesehen davon besteht durch die unabhängige Position die Möglichkeit, auf Wünsche und Bedürfhisse von Benutzern, z. B. von wissenschaftlichen Forschern, zu reagieren. Eine eigene Publikationsregie schließt die Zusammenarbeit mit literarischen Verlegern nicht aus, im Gegenteil. In bestimmten Fällen ist es allein schon aus finanziellen Gründen sinnvoll, Publikationen bei einem literarischen Verleger unterzubringen. Dies hängt mit dem festgelegten Editionstyp zusammen. In großen Umrissen sieht die Vorgehensweise folgendermaßen aus: - Große historisch-kritische Editionen werden, einschließlich Produktion, ganz vom Institut finanziert. Sie werden in der eigenen Reihe des Instituts, den Monumenla Literaria Neerlandica, herausgegeben. Indem es die Produktion selbst in die Hand nimmt, kann das Institut die Ausführung der Bücher vollkommen selbst bestimmen und, noch wichtiger, den Verkaufspreis festsetzen. Ein hoher Preis bedeutet automatisch, daß die Editionen nur an Bibliotheken verkauft werden. Durch die Festsetzung eines unter dem tatsächlichen Preis liegenden Verkaufspreises sind die Editionen auch für einzelne Forscher oder interessierte Privatleute erschwinglich. Faktisch subventioniert das Institut seine eigenen Ausgaben. Da die Produktion soweit wie möglich im eigenen Haus erfolgt, kann der Verlust begrenzt werden. Durch Schulung der administrativen Mitarbeiter in Desktop Publishing wird eine derart große Einsparung bei den Produktionskosten erzielt, daß die Kosten sogar bei einem niedrigen Verkaufspreis wieder zurückfließen und ein bescheidener Gewinn verbucht werden kann. - Studienausgaben werden entweder in die Monumenta-Reihe aufgenommen oder bei einem wissenschaftlichen Verlag untergebracht. Bei der letztgenannten Möglichkeit entstehen für das Institut keine Kosten, wenn das Manuskript reprofahig geliefert wird oder wenn zusammen mit dem Verleger anderweitig ein Subventionsantrag gestellt wird, zum Beispiel bei der Niederländischen Forschungsgemeinschaft, NWO. - Es ist eine ziemlich neue Entwicklung, daß das Institut einen Subventionsvertrag mit einem wissenschaftlichen Verleger schließt. Danach nimmt der Verleger die Produktionskosten auf seine Rechnung, beantragt aber beim Institut eine Subvention für den Betriebskostenverlust. Ein derartiger Vertrag hat zwei Vorteile:
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er ist preiswerter als die eigene Produktion und das Institut kann den Verkaufspreis der Bücher mitbestimmen. Außerdem ist das Institut am Gewinn beteiligt, falls der Verkauf die vereinbarte Anzahl übersteigt. - Leseausgaben werden ausschließlich bei literarischen Verlegern untergebracht. Das ist eine alte Vereinbarung, die seinerzeit mit dem Ministerium für Unterrichtswesen und Wissenschaften getroffen wurde, damit unlauterer Wettbewerb mit den Verlegern vermieden wird. Die Herausgabe von Leseausgaben durch literarische Verleger enthält für das Institut drei Vorteile. An erster Stelle entstehen ihm keine Kosten, da Verleger die Möglichkeit haben, Subventionen bei einer staatlichen Instanz, dem Niederländischen Literarischen Produktions- und Übersetzungsfonds, zu beantragen. Dies ist eine vom Staat finanzierte kulturelle Einrichtung, die die Produktion bedeutender literarischer Ausgaben finanziell ermöglicht. Die Verleger ergreifen diese Chance mit beiden Händen. Das Constantijn Huygens Institut hat sich inzwischen einen derart guten Namen erworben, daß seine Editionen nahezu automatisch subventioniert werden. Der zweite aus dem Vertrag mit literarischen Verlegern resultierende Vorteil besteht darin, daß das Institut in den meisten Fällen sich Tantiemen ausbedingen und sich am Gewinn beteiligen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht um spektakuläre Beträge, da Auflage und Verkauf in den Niederlanden im allgemeinen durch den kleinen Sprachraum relativ begrenzt sind. Der dritte Vorteil ist nicht von finanzieller, sondern von politisch-wissenschaftlicher Art. Durch die von literarischen Verlegern publizierten Leseausgaben mit dem darin erwähnten Namen des Instituts werden Forschungsergebnisse einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Bekanntheit des Namens und der ,Goodwill', den das Institut dadurch erwirbt, sind von großer Bedeutung. Sie erleichtern die Beantragung von und vergrößern die Aussicht auf Subventionen. Aber was weitaus wichtiger ist: Die Editionsphilologie und im Zusammenhang mit ihr die Anforderungen, die an eine zuverlässige Edition gestellt werden müssen, werden in weitem Umkreis bekannt und akzeptiert. So erschien das Werk des beliebten Autors Nescio im September 1996 als Gesamtausgabe mit dem Vermerk, daß die Edition unter den Auspizien des Constantijn Huygens Instituts zustande gekommen war. Diese zweibändige Ausgabe enthielt mehr als dreihundert Seiten Anmerkungen, bibliographische Notizen, abweichende Fassungen, Texteingriffe sowie einen ausführlichen Bericht des Herausgebers. Früher hätte ein literarischer Verleger sofort Einspruch gegen einen derart umfassenden Apparat und Kommentar erhoben, doch in den vergangenen zehn Jahren hat man allmählich beides als unentbehrlichen Teil einer zuverlässigen Leseausgabe allgemein akzeptiert. Alle Zeitungen und Wochenblätter, Rundfunk und Fernsehen haben von dem Erscheinen der Nescio-Ausgabe berichtet, und niemand beanstandete in irgendeiner Weise den wissenschaftlichen Charakter der Edition. Im Gegenteil, sie erhielt großes Lob, und der VerVgl. für die damit zusammenhängenden spezifischen Probleme H. T. M. van Vliet: Editionswissenschaften in den Niederlanden. In: editio 8, 1994, S. 13-20.
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kauf war ein Erfolg: 6000 Exemplare innerhalb eines halben Jahres! Ein derartiger Verkaufserfolg kommt natürlich längst nicht immer zustande. Doch eingedenk der genannten Vorteile ist es unser Bestreben, nach Vollendung und Publikation einer historischkritischen Edition so schnell wie möglich von demselben Text eine Leseausgabe für den literarischen Verleger herauszubringen. 7. Kontakte Die unabhängige Position des Instituts als nationalen Zentrums birgt auch eine Gefahr in sich. Edieren ist grundsätzlich eine Geduldsarbeit, die Konzentration und Akribie erfordert. Durch die Art der Arbeit neigen Editoren dazu, sich am liebsten in die , splendid isolation' zurückzuziehen. Es kommt noch hinzu, daß das Edieren in den Niederlanden nicht in der Niederlandistik eingebettet ist, wie dies wohl in Deutschland in der Germanistik der Fall ist. Um nun zu vermeiden, daß das Constantijn Huygens Institut in eine Elfenbeinturmposition gerät, wurde ein externer Kurs für das Institut als ganzes sowie für die einzelner Mitarbeiter entwickelt. Das Institut unterhält Kontakte zu Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen im In- und Ausland. Das Editionsprogramm des Instituts wird nach einer ausgedehnten Beratung von den Forscherkollegen an den Universitäten sowie nach Rücksprache mit der Wissenschaftskommission des Instituts festgelegt. Diese Kommission, in der die meisten Universitäten vertreten sind, berät über das wissenschaftliche Vorgehen. Ferner ist mit den verschiedenen Projekten eine externe Kommission von Sachverständigen verbunden, die in inhaltlichen Fragen berät. Das Institut organisiert auch Studientage, Kolloquien und Kongresse, die wir als ausgezeichnete Möglichkeit betrachten, Literaturwissenschaftler aus dem In- und Ausland mit der Arbeit des Instituts bekannt zu machen. Seit 1990 ist der Direktor des Instituts in dessen Auftrag als Hochschullehrer der Editionswissenschaft an der Freien Universität Amsterdam tätig. Durch ein jährliches Seminar über Editionsphilologie lernen junge Menschen dieses Fachgebiet kennen und können möglicherweise für eine ,Karriere' als Editor gewonnen werden. Das Institut bietet Studenten auch Praktikantenstellen an. Beide Parteien profitieren davon: Die Studenten lernen die wissenschaftliche Forschung in der Praxis kennen, und das Institut kann routinemäßige oder einfache Arbeiten preiswerter verrichten lassen. Die Mitarbeiter des Instituts werden angeregt, außerhalb des Instituts Vorträge zu halten, Kongresse und Symposien im In- und Ausland zu besuchen, an wissenschaftlichen Vereinigungen, Redaktionen usw. zu partizipieren. Sofern solche Aktivitäten für den jeweiligen Mitarbeiter des Instituts sinnvoll sind, werden alle damit verbundenen Kosten ersetzt; finanzielle Hindernisse bestehen also in der Regel nicht. 8. Neue Perspektiven Für Förderung der Integration zwischen klassischer und moderner Editionsphilologie ist die Kommission Methoden und Techniken zuständig, der Vertreter aus allen Abteilungen des Instituts angehören. Die Kommission diskutiert über allerlei theoretische
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Aspekte des Edierens. 1996 bestand ihre Tätigkeit in der Festlegung von Richtlinien für eine neue Serie von Ausgaben, mit der das Institut möglicherweise starten wird. Es handelt sich um eine Serie von Werken niederländischer Gelehrter der Vergangenheit. Die Idee für eine derartige Reihe rührte von einer privaten Initiative her, die bei der Akademie eingereicht und von ihr übernommen worden war. Es besteht die Absicht, die Werke berühmter niederländischer Gelehrter vom Mittelalter bis zum zwanzigsten Jahrhundert in wissenschaftlich zuverlässigen Editionen neu herauszugeben. Neben dem Text der Werke werden die Editionen eine Einleitung und einen ausführlichen Kommentar enthalten, damit sie dem heutigen Leserkreis von Wissenschaftlern und Interessenten leichter zugänglich werden. Durch eine parallele Übersetzung des Textes ins Englische können die Werke der niederländischen Gelehrten auch im Ausland größere Bekanntheit erwerben. In der Vergangenheit würde man mit einer derartigen Initiative wahrscheinlich sehr schnell und ohne Planung begonnen haben. Jetzt aber hat man erst eine Kommission gebildet, die sich die Kriterien für die Auswahl von Werken und Gelehrten ausdenken und anschließend, nach Rücksprache mit einer größeren Anzahl Sachverständiger eine Liste mit Werken erstellen sollte, denen bei der Herausgabe der Vorzug einzuräumen wäre. Das Constantijn Huygens Institut wurde daraufhin gebeten, den Plan weiter auszuarbeiten. Die Kommission Methoden und Techniken ist bei der Festlegung der editorischen Richtlinien von einer Reihe von Studienausgaben ausgegangen. Sie hat bei der Ausarbeitung der verschiedenen Bestandteile regelmäßig die Perspektiven der drei Perioden zu ihrem Recht kommen lassen. Man findet also in jedem Bestandteil spezifische Sachen aus dem Mittelalter, der Renaissance und der Neuzeit, ohne daß der Zusammenhang verlorengeht und drei verschiedene Reihen entstehen. Obwohl es sich um knappe Richtlinien handelt, scheinen sie sehr brauchbar zu sein. In der nachstehenden Reihenfolge werden beachtet: das Sammeln aller relevanten Textträger, die Wahl der Textgrundlage, die Textkonstitution, der Kommentar, die Bibliographie und die Register sowie Anweisungen für die Gestaltung der Manuskripte. Das Institut hat auch einen Rahmen entworfen, in welchem das Projekt ausgeführt werden könnte. Wir sind von vier- bis fünfjährigen Projekten ausgegangen. Wenn ein Band der Reihe mehr Zeit in Anspruch nimmt, wird er in Teilprojekte aufgeteilt oder von zwei oder mehreren Editoren erarbeitet. Um so schnell wie möglich die größtmögliche Menge an Manuskripten zu erhalten, wird vorgeschlagen, auch externe Mitarbeiter einzuschalten, die die Edition entweder als Dissertation schreiben oder sie zusätzlich in ihre reguläre Tätigkeit eingliedern. Für das wissenschaftliche Prestige dieser Reihe und im Zusammenhang mit der Möglichkeit, Sponsorengelder einzuwerben, wird ein Redaktionsrat aus prominenten Wissenschaftlern gebildet. Darüber hinaus wird eine Redaktion ernannt, die als Projektkommission des Constantijn Huygens Instituts funktioniert. Die Redaktion entscheidet über alle inhaltlichen Aspekte: Beginn der Projekte, Beurteilung der eingegangenen Manuskripte, Aufnahme in die Reihe, Reihenfolge der Publikationen u.s.w. Die Publikation dieser hoffentlich hohes Ansehen erzielenden Reihe niederländischer Gelehrter übernimmt die Akademie selbst.
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Die Liste mit ausgewählten Werken und Gelehrten zeigt eine große Vielfalt von Perioden und Wissenschaftsbereichen. In bezug auf das zwanzigste Jahrhundert wird beispielsweise an die Briefe und Schriften des Physikers und Nobelpreisträgers H. A. Lorentz (1853-1928) gedacht, an eine Auswahl aus den Werken des Astronomen W. de Sitter (1872-1934) und an die Dissertation des Arabisten C. Snouck Hurgronje (18571936). Ganz oben auf der Prioritätenliste steht eine Ausgabe der Briefe (und vielleicht später eine Neuausgabe der Werke) des Philosophen Frans Hemsterhuis' (1721-1790), der zahlreiche Beziehungen zu seinen deutschen Zeitgenossen hatte, u. a. zur Fürstin Gallitzin, zu Friedrich Heinrich Jacobi, Goethe und Herder. Da in Frankreich bereits eine neue Spinoza-Ausgabe vorbereitet wird, hat man sich für eine Edition von Schriften von mit Spinoza in Beziehung stehenden Personen entschieden, wie Lodewijk Meyer, Petrus van Baien und Franciscus van den Enden. Ein weiterer Sammelband müßte aus Abhandlungen und Ausschnitten über allerlei technische Erfindungen bestehen: im Wasserbau, in der Windmühlentechnik, in der Seefahrtkunde, Kartographie, Vermessungskunde usw. Die große Vielfalt der Themen ist die anziehendste und komplizierteste Seite des ganzen Projektes zugleich. Darin liegt für künftige Editoren das große Problem, insbesondere was den Kommentar zu den Texten betrifft. Editoren sind im allgemeinen Literaturwissenschaftler und keine Spezialisten auf anderen wissenschaftlichen Gebieten. Man wird also bei dem Projekt eine große Zahl von Spezialisten hinzuziehen müssen. Inwiefern dies in der Praxis ausführbar ist, wird die Zukunft zeigen. Vorläufig ist es nur ein Plan, der, wie soviele andere Pläne, auf die nötigen Finanzen wartet.
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North American Contributions to the Editing of Medieval Latin Philosophical Texts
Because most of what was written was still unknown, modern medieval studies, as historically constituted, by necessity were dedicated to the marriage of philology and philosophy. As Alain de Libera has pointed out, even today the synthetic histories of medieval philosophy that are rewritten two or three times each generation are based on a very slender segment of the extant textual record; only a scant number of the titles listed in Stegmuller's repertory of commentaries on the Sentences have been edited or printed. Indeed, each new major edition of a theologian or philosopher changes the topography of our synthetic accounts; thus, for example, upon the appearance of the modern edition of his works, William of Ockham became a „major figure", worthy in Marilyn McCord Adams' mind of being called „William Ockham", by analogy to Thomas Aquinas.2 Similarly, Henry of Ghent appears more and more in the scholarly literature as each new volume of his Opera omnia appears, and the thinkers whose works are being edited in the Corpus philosophorum Teutonicorum medii aevi, who were once classified as „minor authors", are now at the center of some of the liveliest discussions about medieval philosophy.3 Doubtless, the edition of the works of Giles of Rome will likewise elevate his status. Moreover, each new edition of a medieval work discovers among the quidam unknown thinkers whose writings must now be investigated seriously, and each new edition of the Latin Plato, Aristotle, Avicenna or Averroes revises our understanding of the way medieval thinkers received and used their common sources.5 Editions of anonymous commentaries and treatises reveal common currents of thought and influence and sometimes uncover innovative philosophical departures. For
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F. Stegmüller: Repertorium commentariorum in Sententias Petri Lombardi. 2 vols. Würzburg 1947. See the comments in A. de Libera: Penser au moyen age. Paris 1991, chapter 1 passim and p. 39798. M. M. Adams: William Ockham. 2 vols. Notre Dame, Indiana 1987 (Publications in Medieval Studies 28). Henrici de Gandavo Opera omnia. Co-ordinator R. Macken. Leuven 1979-. Corpus philosophorum Teutonicorum medii aevi. Directed by K. Flasch and L. Sturlese. Hamburg 1983-. The earlier series Dietrich von Freiberg: Opera omnia. Hamburg 1977-, was incorporated in the Corpus. Aegidii Romani Opera omnia. Directed by F. Del Punta and G. Fioravanti. Florence 1985-. The edition Plato latinus. London 1940-, was founded and directed by R. Klibansky (of Montreal and Oxford). Aristoteles latinus (Union Acadomique Internationale: Corpus philosophorum medii aevi). Rome - Bruges - Paris - Brussels - Leiden 1939-. Avicenna latinus (Union Acadomique Internationale). Louvain - Leiden 1968-. For the Averroes latinus, see n. 19 below.
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those who use them well, good critical editions reveal with great precision the actual circumstances, devices and processes of the medieval philosophic mind, and the actual lineaments of discussions which are not immediately our own. And precision is a philosophic virtue, required of those who would understand philosophical texts and perhaps even more of those who presume to edit them. Rigorous, exhaustive editing is not merely mechanical, but a thorough and complex hermeneutical and philosophic act. The Nature and Scope of North American Contributions North American scholars have made noteworthy contributions to the international effort to recover the manuscript record of medieval philosophy and theology. What follows is a classification of their work. Early-modern editors of medieval writings customarily used one or two available manuscripts. Now editors may avail themselves of detailed catalogues, repertories and inventories that lead them to all of the surviving manuscripts of a work; they can assemble microfilms of all of the manuscripts; advances in the specialized disciplines of paleography and codicology instruct them in medieval methods of book production and enable them to locate, contextualize and date the manuscripts they use more precisely; computers and scholarly databases (such as the Cetedoc Library of Christian Latin Texts) assist greatly their memory and manipulation of texts and allow them to search quotations more easily. American scholars have made significant contributions to the preparatory work of critical editions. The extraordinary heuristic works by Paul Oskar Kristeller are known well by all students of medieval texts and manuscripts, as are manuscript inventories and text repertories by other American scholars; North American
In the following notes, I do not pretend to cite every edition of medieval philosophical and theological texts produced by American scholars. My citations, which I hope are generous enough, are meant to be illustrative. Nor, generally, will I comment upon the widely differing scopes and methods of the editions cited. In my notes, I cite the names of editors in the first place. P. O. Kristeller, Latin Manuscript Books before 1500: A List of the Printed Catalogues and Unpublished Inventories of Extant Collections. Fourth revised and enlarged Edition by S. Kramer. Munich 1993 (Monumenta Germaniae Historica, Hilfsmittel 13); (first editions, New York 1948-52). Iter italicum. A Finding List of Uncatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance in Italian or Other Libraries. 6 vols. with 3 separate vols. of indices. London - Leiden 1963-96. Catalogus translationum et commentariorum. Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries (Annotated Lists and Guides). Directed by P. O. Kristeller, V. Brown and F. E. Cranz. Washington, D.C. I960-. See also M. W. Bloomfield, B.-G. Guyot, D. R. Howard and T. B. Kabealo: Incipits of Latin Works on the Virtues and Vices, 1100-1500 A. D., including a Section of Incipits of Works on the Pater Noster. Cambridge, Mass. 1979. L. Thorndike and P. Kibre: A Catalogue of Incipits of Mediaeval Scientific Writings in Latin. Cambridge, Mass. 1937, revised and augmented London 1963. P. Kibre: Hippocrates latinus. Repertorium of Hippocratic Writings in the Latin Middle Ages. New York 1985. D.C. Lindberg: A Catalogue of Medieval and Renaissance Optical Manuscripts. Toronto 1975 (Subsidia mediaevalia 4). C. H. Lohr: Latin Aristotle Commentaries. 3 vols. Florence 1988-95 (Subsidia ad Corpus philosophorum medii aevi 6, 10), original versions
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scholars have also composed important studies concerning medieval scripts, libraries, A — book production and textual transmission. Three great microfilm libraries of medieval manuscript collections are located in the United States: the Ambrosiana Microfilm and Photographic Collection, University of Notre Dame (Indiana); the Hill Monastic Manuscript Library, St. John's University (Collegeville, Minnesota); the Vatican Film Library, St. Louis University (Missouri).9 While technological advances and the progress of manuscript studies facilitate the work of editors, they also raise the standards of what one may justly expect from a critical edition.10 In recent decades, scholars have brought to light texts that expose the propaedeutic life of the medieval faculty of Arts; the result has been a considerable revision of our understanding of philosophical activity in the Middle Ages. North American scholars have contributed to this effort with editions of medieval logical treatises." North
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published in Traditio 23-30, 1967-74, Studies in the Renaissance 21, 1974, and Renaissance Quarterly 28-35, 1973-82. C. B. Schmitt with D. Knox: Pseudo-Aristoteles latinus. A Guide to Works Falsely Attributed to Aristotle before 1500. London 1985 (Warburg Institute Surveys and Texts 12). W. J. Courtenay has nearly completed a text- and manuscript-repertory of theological questions by fourteenth-century English authors (Quaestiones theologicae Anglicanae). See also the references to S. H. Thomson, n. 12 below. See, notably, L. E. Boyle, O. P.: A Survey of the Vatican Archives and its Medieval Holdings. Toronto 1972 (Subsidia mediaevalia 1). Medieval Latin Palaeography. A Bibliographical Introduction Toronto 1984 (Toronto Medieval Bibliographies 8). R. H. Rouse and M. A. Rouse: Preachers, florilegia and Sermons. Studies on the Manipulus florum of Thomas of Ireland. Toronto 1979 (Studies and Texts 47). Authentic Witnesses. Approaches to Medieval Texts and Manuscripts. Notre Dame, Indiana 1990 (Publications in Medieval Studies 27). Eds., with Latin text established by R. A. B. Mynors: Registrum Anglie de libris doctorum et auctorum veterum London 1991 (Corpus of British Medieval Library Catalogues 2). See the reference to S. H. Thomson, n. 12 below. The journal Manuscripta is published by the center in St. Louis. See, e. g., K. Emery, Jr.: Two More Copies of Henry of Ghent, Summa, and the Heuristic of Critical Editions. In: Manuscripta 36, 1992, p. 3-21. E. J. Ashworth (Ed.): Thomas Bricot: Tractatus insolubilium. Nijmegen 1986 (Artistarium 6); (with English translation) Pauli Veneti Logica Magna secunda pars. Tractatus de suppositionibus. Oxford 1988 (Classical and Medieval Logic Texts 5). N. Kretzmann (ed., with English translation): Pauli Veneti Logica Magna prima pars. Tractatus de terminis. Oxford 1979 (Classical and Medieval Logic Texts 2); with B. E. Kretzmann: The Sophismata of Richard Kilvington. Oxford 1990 (Auctores Britannici medii aevi 12). P. V. Spade (Ed.): An Anonymous Tract on Insolubilia from MS Vat. lat. 674. An Edition and Analysis of the Text. In: Vivarium 9, 1971, p. 1-18. The Treatises On Modal Propositions and On Hypothetical Propositions by Richard Lavenham. In: Mediaeval Studies 35, 1973, p. 49-59. Robert Fland's Consequentiae. An Edition. In: Mediaeval Studies 38, 1976, p. 54-84. Roger Swyneshed's Obligationes. Editions and Comments. In: Archives d'histoire doctrinale et littöraire du moyen age 44, 1977, p. 243-85. Richard Lavenham's Obligationes. Edition and Comments. In: Rivista critica di storia della filosofia 33, 1978, p. 225-41. Roger Swyneshed's Insolubilia. Edition and Comments. In: Archives d'histoire doctrinale et litte"raire du moyen age 46, 1979, p. 177-220. Robert Fland's Obligationes. An Edition. In: Mediaeval Studies 42, 1980, p. 41-60. Notes on Richard Lavenham's So-Called Summulae logicales, with a Partial Edition of the Text. In: Franciscan Studies 40, 1980, p. 370-407. Richard Lavenham's Treatise Scire. An Edition, with Remarks on the Identification of Martin (?) Bilond's Obiectiones consequentiarum. In: Mediaeval Studies 46, 1984, p. 1-30;
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American scholars likewise have contributed volumes to British series of editions of medieval philosophical and theological texts,12 have collaborated with European scholars in joint editing projects,13 and are collaborators in major European editions of the Opera omnia of various medieval thinkers.14
with G. A. Wilson: Johannis Wyclif Summa insolubilium. Binghamton, N. Y. 1986 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 41); with G. A. Wilson: Richard Brinkley's Obligationes. A Late Fourteenth-Century Treatise on the Logic of Disputation. Münster 1995 (BGPhThMA N. F. 43). E. A. Synan (Ed.): The Works of Richard of Campsall. 2 vols. Toronto 1968-82 (Studies and Texts 17, 58); also: Questions on the De anima of Aristotle by Adam Burley and Walter Burley. Leiden - New York 1997 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 55). See, e. g., the editions of Ashworth and Kretzmann (n. 11 above). A. G. Judy (Ed.): Robert Kilwardby: De ortu scientiarum. London 1976 (Auctores Britannici medii aevi 4). R. C. Dales (Ed.) with E. B. King: Robert Grosseteste: De cessatione legalium. London 1986 (Auctores Britannici medii aevi 7), and: Robert Grosseteste: De decem mandatis. Oxford 1987 (Auctores Britannici medii aevi 10). Dales separately edited Robert Grosseteste: Commentarius in VIII libros Physicorum Aristotelis. Boulder, Colorado 1963 (Studies and Texts in Medieval Thought). The series Studies and Texts in Medieval Thought, apparently discontinued after three volumes (1956-63), was founded by the great American paleographer and textual scholar, S. Harrison Thomson. Thomson published the first edition in the series: Jan Hus: Tractatus de ecclesia. 1956; much earlier he published an edition of Hus1 Tractatus responsivus. Princeton 1927, reprt. New York 1980. But he is known mostly for his ground-breaking paleographical manual: Latin Bookhands of the Later Middle Ages, 1100-1500. Cambridge 1969, and his heuristic works, which laid the foundation for the modem study of Grosseteste and Wycliffe: The Writings of Robert Grosseteste, Bishop of England, 1235-1253. Cambridge 1940. W. R. Thomson, in part from the notes of the late S. H. Thomson: The Latin Writings of John Wyclyf. An Annotated Catalog. Toronto 1983 (Subsidia mediaevalia 14). American scholars have edited volumes published in the series Corpus Christianorum Series Latina and Continuatio Mediaeualis, Tumhout: Brepols; the American Jesuit working in Germany, C. H. Lohr (Raimundus-Lullus-Institut, Freiburg im Breisgau; see n. 7 above), is General Editor of Raimundi Lulli Opera latina (to date CCCM 32-39, 75-80, 111-13, with concordances), 1975-; the volumes by K. Emery, Jr.: Dionysii Cartusiensis Bibliotheca manuscripta 1 A-B. 1991 (CCCM 12112la), are prolegomena to an edition of Dionysius' Opera selecta. The American R. Schenk, who teaches in Germany (Hannover), collaborated with the German and Austrian scholars J. Schneider, G. Leibold and E. Gössmann in the edition of Robert Kilwardy: Quaestiones in [IV libros] Sententiarum. 5 vols. Munich 1982-93 (Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe ungedruckter Texte aus der mittelalterlichen Geisteswelt 10, 12-13, 16, 17); Schenk edited Liber quartus (1993). The North Americans R. J. Long, S. F. Brown and J. Goering are collaborating with G. Leibold (Innsbruck), K. Rodler and A. Eichinger (Munich) and Sr. M. O'Carroll (London) in an edition of Richard Fishacre's Scriptum in IV libros Sententiarum, to be published by the Bayerische Akademie der Wissenschaften. Likewise, the American scholars H. G. Gelber and K. H. Tachau are collaborating in the critical edition of works by Petrus Aureoli, directed by L. O. Nielsen (Copenhagen); see Nielsen: The Critical Edition of Peter Aureoli's Scholastic Works. In: Editori di Quaracchi. 100 anni dopo bilancio e prospettive (Atti del Colloquio Internazionale Roma 29-30 Maggio 1995). Ed. A. Cacciotti and B. Faes de Mottoni, Rome 1997, p. 217-25. S. F. Brown has already edited some questions, Petrus Aureoli: De unitate conceptus entis (Reportatio Parisiensis in I Sententiarum dist. 2, p. 1, qq. 1-3 et p. 2, qq. 1-2). In: Traditio 50, 1995, p. 199-248. Gelber and Tachau collaborated with W. J. Courtenay and P. A. Streveler in the edition and study: Seeing the Future Clearly. Questions on Future Contingents by Robert Holcot. Toronto 1995 (Studies and Texts 119).
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Since its founding, the Pontifical Institute of Mediaeval Studies at Toronto has been the leading promoter in North America of medieval critical editions. The Pontifical Institute is an European import. Its founder, Etienne Gilson, was dedicated to the historical study of medieval philosophy, and his convictions were reflected in the Institute's pedagogy and publications. At the Institute, the study of manuscripts, paleography and textual editing have held and continue to hold a prominent place. Gilson conceived the Institute's pedagogy hierarchically: Manuscript studies were meant to be ancillary to analytic and synthetic doctrinal studies. Students at the Institute have often presented critical editions in their theses and dissertations; others have included partial working editions of philosophical texts, which document doctrinal studies. Although they are now far less concentrated on philosophy and theology than in the past, the Pontifical Institute's journal Mediaeval Studies and its monograph series Studies and Texts remain the most important publications in North America which present critical editions of medieval philosophical and theological works.15 The series Studies and Texts is the only place in North America where critical editions of long texts appear regularly. The editions published in this series are the offerings of individuals. Thus, the conception, scope, methods and techniques of editing often differ con14
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G. A. Wilson (see also n. 11 above) has edited several volumes in the series Henrici de Gandavo Opera omnia: Quodlibet VI (Opera omnia 10). Leuven 1987. Quodlibet VII (Opera omnia 11). Leuven 1991; Summa (Quaestiones ordinariae) art. XXXV-XL (Op. om. 28), Leuven 1994. Canadian and American scholars are collaborators with the Commissio Leonina: see B.-C. Bazan (Ed.): Thomae de Aquino Quaestiones disputatae de anima (Sancti Thomae de Aquino Opera omnia 24.1). Rome-Paris 1996. J. P. Reilly (Toronto) and K. White (Washington, D. C.) are also preparing volumes in this edition. Mediaeval Studies, Toronto-New York: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 1939-; Studies and Texts (Pontifical Institute of Mediaeval Studies), Toronto 1955-. The American journals Franciscan Studies, St. Bonaventure, N. Y.: Franciscan Institute 1924-, and Traditio, New York: Fordham University Press 1943-, also publish edited texts. Editions of medieval Latin scientific treatises, by M. Clagett, E. Grant, D.C. Lindberg, E.A. Moody et al. have been published in the series University of Wisconsin Publications in Medieval Science, Madison, Wisconsin 1952-. Some smaller American academic presses occasionally publish critical editions of medieval philosophical works, for example, the series Medieval & Renaissance Texts & Studies, now moved to the University of Arizona; see the titles edited by Spade and Wilson, n. 11 above, and by Kelley, n. 22 below, and J. Monfasani (Ed.): Collectanea Trapezuntiana. Texts, Documents, and Bibliographies of George of Trebizond. Binghamton, N. Y. 1984 (MRTS 25). The American Monfasani has published edited texts in many European scholarly journals. Likewise medieval editions by American scholars are sometimes published in the Transactions of the American Philosophical Society, Philadelphia; see R. E. Daniel (Ed.): Abbot Joachim of Fiore. Liber de concordia Noui ac Veteri Testament! (TAPS n.s. 73 pt. 8), 1983. J. Monfasani (with edited texts): Fernando of Cordova: A Biographical and Intellectual Profile (TAPS n.s. 82 pt. 6), 1992. S. J. Livesey (Ed.): Antonius de Carlenis, O. P.: Four Questions on the Subaltemation of the Sciences (TAPS n.s. 84 pt. 4), 1994. Two editions of medieval moral works, edited by S. Wenzel, have been published by American university presses (University of Georgia, Pennsylvania State University): Summa virtutum de remediis anime. Athens, Georgia 1984 (The Chaucer Library); with English translation. Fasciculus morum. A Fourteenth-Century Preacher's Handbook. University Park, Pennsylvania 1989. Wenzel is now directing an edition of Guillelmus Peraldus: Summa de vitiis.
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siderably from one volume to another. On the whole, the series is a miscellany; it was in this series, however, that Nikolaus Häring published his corpus of texts written by twelfth-century authors of „the school of Chartres".16 The Medieval Institute at the University of Notre Dame was founded as a colony of the Pontifical Institute at Toronto. The Notre Dame Institute also publishes a series of texts and studies (Publications in Medieval Studies), which began even earlier (1936) than the series at Toronto (1955). In the early years of the series, Philip Moore, C. S. C. (who had studied at L'Ecole des Chartes), Joseph Garvin, C. S. C., James Corbett and other scholars presented critical editions of twelfth- and thirteenth-century philosophical and theological texts.17 Since the retirement in 1975 of the Institute's longtime Director, the distinguished university historian Astrik L. Gabriel, there has been only one edition of philosophical texts published in the series.18 The overall character of the North American contribution to the editing of medieval philosophical texts is, in my judgment, individual and occasional. There is, however, one striking North American example of a long-term, collaborative editing project.19 16
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N. M. Häring (Ed.): Life and Works of Clarembald of Arras. A Twelfth-Century Master of the School of Chartres. Toronto 1963 (Studies and Texts 10); The Commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers. 1966 (Studies and Texts 13); Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres. 1971 (Studies and Texts 20). The North American P. E. Button also published his edition of The Glosae Super Platonem of Bernard of Chartres in this series (Studies and Texts 107), 1991. A. Landgraf (Ed.): Commentarius cantabrigiensis in Epistolas Pauli a schola Petri Abaelardi. 4 vols. Notre Dame, Indiana 1937-45 (Publications in Medieval Studies [= PMS] 2). P. S. Moore and J. A. Corbett (Eds.): Petri Pictaviensis Allegoriae super tabernaculum Moysi. 1938 (PMS 3). E. Hunt (Ed.): lohannis Dominici Lucula noctis. 1940 (PMS 4). P. S. Moore, M. Dulong and J. N. Garvin (Eds.): Sententiae Petri Pictaviensis. 2 vols. 1943-50 (PMS 7, 11). J. N. Garvin and J. A. Corbett (Eds.): The Summa contra haeriticos ascribed to Praepositinus of Cremona. 1958 (PMS 15). P. E. Beichner (Ed.): Aurora. Petri Rigae Biblia versificata. 2 vols. 1965 (PMS 19). R. Baron (Ed.): Hugonis de Sancto Victore Opera propaedeutica. 1966 (PMS 20). J. A. Corbett (Ed.): Praepositini Cremonensis Tractatus de officiis. 1969 (PMS 21). The first publication in the series (PMS 1, 1936) was Moore's dissertation at L'Ecole des Chartes. The Works of Peter of Poitiers, Master in Theology and Chancellor of Paris (1193-1205), a bio-bibliographical study that prepared the ground for subsequent editions of Peter of Poitiers. Editions of medieval vernacular texts were also published in the series. B. R. De la Torre: Thomas Buckingham and the Contingency of Futures, the Possibility of Human Freedom. A Study and Edition of Thomas Buckingham, De contingentia futurorum et arbitrii libertate. Notre Dame, Indiana 1987 (Publications in Medieval Studies 25). Gabriel edited the Liber receptorum Nationis Anglicanae (Alemanniae) in Universitate Parisiensi (Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis 6), Paris 1964. For a list of his other publications (until 1992), see A. L. Gabriel: The Paris Studium. Robert of Sorbonne and his Legacy. With a Preface by J. J. John. Notre Dame - Frankfurt am Main 1992 (Texts and Studies in the History of Medieval Education 19), p. 29-46. The Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem, conceived and directed by H. A. Wolfson, was originally published by the Mediaeval Academy of America, Cambridge, Mass. 1931-74. Three volumes of the Corpus Commentariorum ... versionum latinarum were published by the Mediaeval Academy: A. L. Shields and H. Blumberg (Eds.): Averrois Cordubensis Compendia librorum Aristotelis qui Parva naturalia vocantur. 1949. F. S. Crawford (Ed.): Commentarium Magnum in Aristotelis De anima. 1953. F. .H. Fobes and S. Kurland: Commentarium Medium in Aristotelis De generatione et corruptione. 1956. The project has now moved to Europe, and is centered at the Tho-
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The edition Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica, now complete, is by far the most impressive accomplishment of American editing.20 This edition was originally conceived and started in part by the European scholars, Hildebrand Bascour, Philotheus Boehner, Eligius Buytaert and Innocentius Dahm. It was subsequently executed, with remarkable efficiency, by a team of scholars centered at the Franciscan Institute at St. Bonaventure's University in New York. Although European scholars edited some volumes,21 most were produced by the Americans Stephen F. Brown, Girard Etzkorn, Gedeon Gäl, Francis E. Kelley, Joseph C. Wey and Rega Wood.22 This edition not only had an huge impact on historians of medieval philosophy throughout the world but it also attracted the attention of American analytic philosophers, who were intrigued to find something recognizable as philosophy among the writings of medieval authors. The edition of William's writings, which in turn generated English translations, played no small part in creating more interest in medieval philosophy in universities where the subject had been neglected. Because it suited the actual state of the manuscript transmission of William's texts, and by conviction, the editors of his works adopted the „rational method" developed by Victorin Doucet and his Quaracchi colleagues in editions of medieval Franciscan texts.
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mas-Institut der Universität zu Köln. See R. Hoffmann: Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem. In: Bulletin de Philosophie m£die"vale 20, 1978, p. 58-64. R. Hissette (Ed.): Averroes. Commentum medium super libro Peri hermenias Aristotelis. Translatio Wilhelme de Luna attributa (Averrois Opera. Series B. Averroes latinus 12). Leuven 1996. Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica. 16 vols. (Opera philosophica 1-6; Opera theologica 1-10). St. Bonaventure, N. Y. (Franciscan Institute) 1967-86. F. Del Punta (Pisa, Ed.): Venerabilis inceptoris Guillelmi de Ockham Expositio super libros Elenchorum. 1979 (Opera philosophica 3). G. Leibold and V. Richter (Innsbruck, Eds.): Venerabilis inceptoris Guillelmi de Ockham Expositio in libros Physicorum Aristotelis. Prologus et Libri I-III. 1985 (Opera philosophica 4). The various editors engaged in other critical editions, mainly published in European series. See, e. g., G. J. Etzkorn (Ed.): Roger Marston: Quodlibeta quatuor. Florence-Quaracchi 1968 (Bibliotheca Franciscana Scholastica Medii Aevi 26); with F. Delorme: Quodlibeta quatuor loannis Pecham. Grottaferrata - Quaracchi 1989 (BFSMA 25). G. Gäl (Ed.): Matthaeus de Aquasparta: Quaestiones disputatae de productione rerum et de providentia. Florence-Quaracchi 1956 (BFSMA 17); with A. Emmen, I. C. Brady and C. Piana: Matthaeus de Aquasparta: Quaestiones disputatae De anima separata, De ieiunio, et De legibus. Florence-Quaracchi 1959 (BFSMA 18); with C. Piana: Guilelmus de Militona: Quaestiones de sacramentis. 2 vols. Florence-Quaracchi 1961 (BFSMA 22-23); Sermones de SS. Francisco, Antonio et Clara. Sermo de potestate papae Matthaei ab Aquasparta. Florence Quaracchi 1962 (Bibliotheca Franciscana Ascetica Medii Aevi 10). F. E. Kelley (Ed.): Richard Knapwell: Quaestio disputata de unitate formae. Binghamton, N. Y. 1982 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 15). J. C. Wey (Ed.): Walter Chatton: Reportatio et Lectura super Sententias. Collatio ad Librum Primum et Prologus. Toronto 1989 (Studies and Texts 90). R. Wood (Ed.): Adam de Wodeham: Tractatus de indivisibilibus. Dordrecht-Boston 1988 (Synthese Historical Library 31). Wood is now embarked on an edition of the writings of Richard Rufus. S. F. Brown, who was the main editor or collaborated in five volumes of the Ockham edition, has published many editions of shorter texts in academic journals (see, e. g., n. 13 above); see also his Father Gedeon Gäl: An Appreciation. In: Franciscan Studies 53, 1993, p. 1-5.
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Kent Emery, Jr.
According to the „rational method", the text is based on a fairly small number of manuscripts, selected because they contribute positively to the reconstruction of the text. Comparison of the selected manuscripts, all deriving from the same source, enables one to eliminate the isolated accidents of individual copies. Certain merely verbal alterations are considered unimportant; thus, not every kind of variant is recorded in the apparatus but only „significant" ones, conceived generously, that affect sense.23 The „rational method" yields what one might call a „vulgate text", that is, a text that represents the standard medieval transmission. Such a method is at once more efficient and less ambitious, and clearer in its presentation and arguably more practical for most philosophic readers than the so-called „historical method", adopted, for example, by the editors of the works of Thomas Aquinas, John Duns Scotus and Henry of Ghent. The „historical method" is more comprehensive in its conception of relevant evidence, embracing negative as well as positive indications; it test-collates all of the surviving manuscripts and attempts to account for the whole transmission of the text in all of its redactional stages and sidereal forms; it records all of the variants evident in the manuscripts chosen for constituting the text, including corrections and codicological irregularities; it provides an ample and detailed Apparatus criticus, which allows readers, if they so desire, to reconstruct every family redaction of a text and even the text of single manuscripts; insofar as the evidence allows, it aims to recover an „original" text, based on manuscripts - existent or now lost - which were under the supervision of, or closest to, the author. Scholars centered at the Franciscan Institute are now embarked upon the critical edition of the philosophical works of John Duns Scotus. 4 Their work on this edition, I believe, will give rise to a fascinating discussion between the advocates of a „rational method" and those of an „historical method" of editing, such as that developed so elaborately by members of the Commissio Scotistica in the on-going edition of Duns Scotus' Ordinatio.25 That edition is governed by the famous MS A (Assisi, Biblioteca Comunale, Ms. 137), a copy that consults and reads Scotus1 personal Liber magistri, which he never had time to put in final order, against what had already become a standard redaction of Scotus1 text. As such, MS A is a privileged witness for the edition, which, used skillfully, will yield a real restoration of the text ad intentionem auctoris. Since the Ordinatio, as MS A especially demonstrates, substantially incorporates writings by Scotus that he had originally composed independently, Carl Balic and his fellow editors 23
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See G. Gäl and S. Brown (Eds.): Venerabilis inceptoris Guillelmi de Ockham Scriptum in Librum primum Sententiarum (Ordinatio). Prologus et distinctio prima (Opera theologica 1), 1967, p. 38*41*, and P. Boehner, Gäl and Brown (Eds.): Venerabilis inceptoris Guillelmi de Ockham Summa logicae (Opera philosophica 1), 1974, p. 67*-72*. References to articles by Doucet are cited there. The first volume has just appeared: R. Andrews, G. Etzkom, G. Gal, R. Green, F. Kelley, G. Marcil, T. Noone and R. Wood (Eds.): B. loannis Duns Scoti Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis Libri I-V (Opera philosophica 3), St. Bonaventure, N. Y. (Franciscan Institute) 1997.1 have not yet been able to consult this volume. The edition of Scotus1 commentary on Books VI-X of the Metaphysics is now in press. Doctoris subtilis et mariani loannis Duns Scoti O. F. M. Opera omnia. Vatican City 1950-.
North American Contributions to the Editing
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hypothesized a clearly-stratified chronological sequence of his writings and a corresponding „evolution of doctrine".26 Already, in close textual studies the North American scholars Allan Wolters and Stephen Dumont have called some of Balic's hypotheses into question - chiefly those concerning Scotus1 early works and the dates of his teaching in Oxford and Paris - and have shown the implications for doctrinal interpretation. The discussions in the introductions of the tandem editions of the Scotist Commission and the Franciscan Institute, considered in the light of each other, will serve to clarify many unresolved questions about Scotus' career, his manner of composition, and the subsequent editorial work of his students and followers. Summary The methods of editing medieval texts from manuscripts were transported from Europe to North America. Many American editors collaborate with European colleagues in editing projects, and most publish their editions in European series. As I have remarked, the North American contribution to the editing of medieval philosophical texts, with the exception of the editions of the Franciscan Institute, are individual and occasional. Editing texts is not a primary activity of American students of medieval philosophy and theology. Close inspection of my notes will reveal that the greater number of editions I cite were executed by a small group of scholars. In general, it seems true that in North America preparing critical editions is the luxury of well-established scholars, who have made their mark in other ways and can afford to set aside some time for careful and thorough editing. Seldom, however, will editing itself be the main object of their attention or their lifelong occupation. 'ja
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See C. Balio's introduction to the first volume of Scotus' Opera omnia: Ordinatio. Prologus. Vatican City 1950, p. *3-*329; Balic's other articles and monographs, developing his chronological scheme, are cited there. A. B. Wolters: Reflections on the Life and Works of Scotus. In: American Catholic Philosophical Quarterly 67, 1993, p. 1-36; God's Knowledge. A Study in Scotistic Methodology, and Duns Scotus at Oxford. In vol. 1 of: Via Scoti. Methodologica ad mentem Joannis Duns Scoti (Atti del Congresso Scotistico Internazionale Roma 9-11 marzo 1993). Ed. L. Sileo. Rome 1995, p. 165-82 and 183-92; Reflections about Scotus's Early Works. In: John Duns Scotus: Metaphysics and Ethics. Ed. L. Honnefelder, R. Wood and M. Dreyer. Leiden-New York 1996 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 53), p. 37-57. S. D. Dumont: The Question on Individuation in Scotus's Quaestiones super Metaphysicam. In vol. l of: Via Scoti, p. 193-227; William of Ware, Richard of Connington and the Collationes Oxonienses of John Duns Scotus. In: John Duns Scotus: Metaphysics and Ethics, p. 59-85. An original version of this essay contained an extensive analysis of institutional realities and academic attitudes in North America that affect editorial work. I have omitted the analysis here.
Paul Tombeur
Science et inconscience: les editions critiques. Propositions et esquisse d'une dynamique du provisoire L'essentiel n'est rien d'autre que ce que niglige. Christian Bob in
Soyons plus critiques, nous serons plus surs. Doutons davantage encore, et nous deviendrons tout ä fait certains. Jean Guitton
Un historien scrupuleux ne doit done se fier sans enquSte prealable ä aucune odition. Robert Marichar
On ne m'en voudra pas d'avoir mis en exergue ces trois textes: le poete-philosophe, le philosophe, le specialiste de la critique textuelle. Chacun nous dit 1'essentiel. Un essentiel ä partir duquel on acquiert la liberte, la seule liberte qui compte: celle qui se veut humble et inlassable recherche de l'impossible verite textuelle. Dans la seconde moitie du XIXe siecle, Gaston Paris demandait que le monde de edition de textes s'applique ä „creer ce qui nous manque le plus, une tradition scientifique". Ou en sommes-nous en cette fin du XXe siecle? S'il est incontestable que la flexion critique a considerablement progresse, que des monuments de l'edition scientifique ont vu le jour, evoluant au für et ä mesure des realisations et des reflexions — telles les publications de la Commission Leonine ou I'odition critique de la Vetus latino et de la Vulgate, pour nous en tenir ä ces grands exemples —, ne faut-il pas consentir aujourd'hui ä l'abandon des illusions et convenir que le tableau des editions scientifiques en general est celui d'un monde anarchique ou tout coexiste, 1'excellent, le bon comme le mauvais et le mediocre?4 De maniere generate, les comptes rendus des editions critiques sont essentiellement des accuses de reception et des descriptions tout exterieures. Christian Bobin: L'eUoignement du monde. Paris 1993, p. 40. Jean Guitton: Mon testament philosophique. Paris 1997, p. 244. Texte d'autant plus significatif qu'il a £crit au soir d'une vie de recherche. Robert Marichal: La critique des textes. In: L'Histoire et ses mithodes. Paris 1961, p. 1250. Etant donnö mon domaine d'observation et d'application, je m'en tiendrai, sauf exception, ä des exemples pris dans la tradition latine.
Science et inconscience: les editions critiques
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Ni l'eclat d'une collection, ni les titres academiques ne sont une garantie quant la valeur des textes edites. Et pourtant, bien des scientifiques ont consacre le meilleur d'euxmemes elaborer des editions critiques remarquables: leur ouvrage bien fait doit etre leur legitime fierte et ils savent quel point ils ont droh la reconnaissance du monde erudit. Π n'en demeure pas moins que le critique attentif a tendance aujourd'hui a etre de plus en plus severe face au decalage existant entre le progres de la reflexion critique, d'une part, et la valeur de bon nombre d'editions, d'autre part. II faut done faire le point et appeler une prise de conscience. Du meme coup sera-t-on contraint d'envisager des realisations plus modestes qui pourront ulterieurement s'approfondir et se developper, et ce, particulierement, grace un recours judicieux aux techniques informatiques. Disons d'emblee que ce ne sont ni les logiciels en tant que tels, ni les possibilites d'ecriture sur de nouveaux supports avec leur specificite propre, qui aboutiront en soi de meilleures editions: celles-ci ne seront que le resultat d'une reflexion de base entreprise en tenant compte des techniques. C'est d'ailleurs parce que l'ordinateur est un outil de syntaxe et non de semantique5 — l'homme demeurant le maitre du sens6 — que son emploi doit nous acculer la reflexion et la mise en acte d'une logique sans faille. Les questions de base ne sont pas d'ordre technique, mais de nature methodologique: quel est le chemin suivre? On n'imagine pas — hors d'une deviation pemicieuse et par essence malefique —, que Γόη veuille autre chose qu'un chemin qui aboutisse sinon au vrai, du moins l'approche la plus authentique du vrai qui demeure la limite in se inaccessible. Or, le chemin parcourir ne peut etre que celui de l'histoire et de l Observation des faits: Γ observation des choses que sont les manuscrits et les suites de signes graphiques articulos selon un sens qui n'est pas apparent, l'observation des realites langagieres ainsi dispersees sur les supports d'ecriture. La voie suivre ne peut etre autre que celle-l . On est ainsi contraint d'aborder une apologia philologiae, une apologie de la philologie parce que apologia uerbi, apologia sermonis, apologia rei. La question d'un choix entre une approche philologique ou une approche philosophique, par exemple, se resout ainsi d'elle-meme: entre philologie et philosophic, on serait en quelque sorte asUn outil qui lit et traite le συν-τάττειν, „ranger ensemble, combiner, ordonner", qui prend en charge les 5ήματα, „les signes", mais ne peut en donner le sens si ce n'est par une intrusion humaine, le sens αοηηέ e~tant alors un sens proalablement fourni, lu et ordonni, L'informatique est la fois une science et une technique, et utilise un outil que Γόη a tres judicieusement proposo d'appeler „l'ordinateur". Prdcisons combien il est nocessaire de distinguer informatique et bureautique. Celle-ci ne repre"sente que l'automatisation de tout ce qui touche aux travaux de secretariat. La plupart des chercheurs en sciences humaines n'utilisent en fait que la bureautique. Cf. Jacques Arsac: L'informatique et le sens. In: Hubert L. Dreyfus: Intelligence artificielle. Mythes et limites. Paris 1984, p. 420-421: „Je vois Pinformatique comme le lieu d'une bataille gigantesque et sans fin: des probtemes que nous avons cru totalement somantiques seront un jour formalisos, on trouvera des algorithmes de traitement, et un secteur que Γόη croyait relever typiquement de Γ intelligence humaine apparaitra mocanisable. Mais je crois aussi que naitront sans cesse de nouveaux problemes que notre cerveau abordera partir de leur sens, en sorte que cette course de Γ informatique est sans fin. Pour un probleme re~solu, dix nouveaux problemes resoudre ... Du moins cette course aura-t-elle un m£rite: nous aider voir clair dans ce qui est la specificite de l'homme, le SENS [sic]."
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sis entre deux chaises, c'est- -dire nulle part. II n'y a pas choisir entre les mots et les idees, parce que les mots sont les seuls supports des idees que nous puissions atteindre. L'erudit qui tente Γ elaboration d'une edition d'un texte du passe se doit d'en capter tous les signes, car on ne connait jamais d'emblee 1'importance des soi-disant details: seul l'ensemble des signes donne acces au reel textuel. Meme des signes anodins — comme Γ utilisation d'un i ou d'un y, y compris quelques lignes de distance et pour les memes vocables — sont revelateurs d'un etat d'esprit. De toute fafon, il faut bien rappeler une evidence: nous ne lisons pas les auteurs anciens. Nous lisons, dans les meilleurs cas, les manuscrits, c'est- -dire des temoins anciens de ce qu'ils ont pu dire ou ecrire, et nous lisons normalement des editions d'une epoque 'x' faite selon une methode 'y' — ou ... sans guere de methode rigoureuse — d'apres des manuscrits 'z' qui pourraient bien correspondre aux textes des auteurs anciens. Pourquoi ne pas aj outer immediatement que bien souvent, au lieu de soi-disant editions critiques, il vaudrait mieux etre modestes et vrais, et editer avec la plus grande conscience un temoin reel. Le drame, c'est que des editions melangent selon des criteres souvent douteux, des tas de temoins, formant ainsi un nouveau temoin qui n'a jamais existe dans le passe. II faut des lors prendre conscience de l'eventuelle fragilite, voire de l'erreur, de la base meme de nos affirmations. Ainsi, quand il s'agit d'hapax legomena ou d'attestations de faible frequence, que peut signifier une declaration du type „tel mot ou teile formule est atteste chez tel auteur"? Cela signifie assurement que cela se trouve, non pas chez tel auteur, mais dans teile edition de tel auteur. II est de fait possible — et je l'ai bien des fois remarque — que le phenomene n'apparaisse ni chez 1'auteur, ni ... dans le manuscrit de base de l Oeuvre de cet auteur, ni dans aucun manuscrit cito! Cela parait enorme, mais teile est bien la realite.7 La difficulte quotidienne laquelle nous sommes confrontes, c'est que, necessairement, nous passons sans cesse d'un type dEdition un autre. II faudrait done avoir constamment en tete la problematique concernant le texte que nous lisons. Le lecteur de la Patrologie latine est de toute evidence confronte ce probleme. On salt que Migne a ο pris son bien partout ou il le trouvait et, parfois, de maniere discutable; on retrouve Les exemples relatifs έ une teile constatation sont he"las loin d'etre rare. J'h&ite, comme on le comprendra volontiers, documenter chaque affirmation de ce type par des re"fe"rences procises: je ne veux ni attaquer ni donigrer. Mon propos est mithodologique et, de ce point de vue, alarmiste juste titre. Cf. R. Howard Bloch: Le plagiaire de Dieu. La fabuleuse Industrie de Γ abbe" Migne. Trad, de Tamoricain par Pierre-Antoine Fabre. Paris 1996. L'auteur n'he~site pas a ocrire p. 106 quant au „modus operandi de Migne: la piraterie est faite vertu — I'originaliti n'otant qu'un vice". L'abbo Migne affirmait lui-mlme (p. 129): „les B n dictins, comme les Josuites, ορέπαίεπί presque toujours sur des manuscrits, cause ρεφέΐυείΐβ de la multipliciti des fautes, pendant que les Ateliers Catholiques, dont le propre est surtout de ressusciter la Tradition, n'operent le plus souvent que sur des imprimis." On ne pourrait mieux souligner combien la Patrologie latine — et tous les sous-produits qu'on peut en tirer — se situe dans une perspective diffirente de la notre: „ressusciter la Tradition" importait plus que la „textualis ueritas" pour parier la maniere de JeYome! Jean Irigoin a ovoqu l'histoire du recours aux manuscrits et noto la nouveauto que fut Vemendatio ope codicum, „dej pratiquoe mo-
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lors dans ses colonnes tant des editions des XVIe, XVII6 et XVIIIe siecles que des editions reprises aux Monumenta Germaniae Historica, par exemple. Pour les editions anciennes, Mauristes ou autres, Raymond Etaix a rappele opportunement, propos du cas precis des Homelies sur l'Evangile de saint Gregoire le Grand, que selon l'usage de l'opoque, les Mauristes pour leur Edition ne sont pas partis des manuscrits, mais du texte tel qu'il £tait dej imprime et qu'ils ont tenti d'amoliorer. Pour ce faire, ils ont relevo, ou fait relever, les variantes de quelque importance que prosentaient les manuscrits, mais non pas les variantes mineures, comme les simples inversions de termes.9
Le Pere de Ghellinck avait dej souligne qu'il ne fallait pas s'adresser aux Mauristes pour ce qu'il appelait „certains details", en precisant „surtout s'il s'agit de recherches lexicographiques, de particularites stylistiques, du changement de place des mots, du respect des particules" — toutes choses qui, si elles peuvent etre appelees 'details', sont de premiere importance pour la connaissance du texte. „L'archeologue du savoir" demeure interdit devant la non attention aux presupposes „dotails". La derive est facile a partir de declarations de ce type et Γόη ne s'etonnera pas des lors qu'en 1986 encore des editeurs — en 1'occurrence la Commission scotiste — puissent pr ner la reproduction d'un texte o le linguistique cede le pas au doctrinal, un texte dont le principal merite n'est pas de restituer le monde du passe, mais d'etre ,/aciliter legibilis et intelligibilis". Le detail, en realite, est precisement le revelateur, sans oublier que — quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur — la notion meme de detail depend de la perception d'un chacun. A modifier ces pretendus details du passe, nous risquons de systomatiser des pensees anciennes selon nos propres perceptions, de changer des vouloirdire sans nous en apercevoir. Les 'signa' qu'il importe de capter, c'est bien 1'ensemble d'un texte; l'ordre des mots, les absences, les presences, les manieres d'ecrire, chaque
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destement par Pierre Danes", au cours de la premiere ιτιοίΐίέ du XVIe siocle. II faut attendre la seconde moitio du XVIII6 siecle pour constater: „Une viritable resolution se prepare dans l'odition des textes anciens, une rovolution copemicienne: au lieu de partir du texte imprimo et de l'amiliorer, 1'occasion, en s'aidant de lecons attestoes dans les manuscrits, on va partir des manuscrits euxmemes." Cf. Jean Irigoin: Tradition et critique des textes grecs. Paris 1997, p. 10. Raymond Etaix: Repertoire des manuscrits des homolies sur l'Evangile de saint Grogoire le Grand. In: Sacris Erudiri 36, 1996, p. 143. Joseph de Ghellinck: L'edition des Mauristes sous la direction de Dom Blampin. In: Patristique et Moyen Age. T. III. Gembloux - Bruxelles - Paris 1948, p. 471. Quoi qu'en dise le Pere de Ghellinck, il n'est pas rare que des emplois lexicaux soient affectos par des Ιβςοηβ imprimoes par les Mauristes. Ainsi, ricemment, Frangois Dolbeau nous signalait-il, dans un sominaire tenu Louvainla-Neuve, que dans une Vita Ursmari, franciloquus est devenu gallicus, deicus est transform^ en diuimts; quant a un iditeur moderne, il metpalatum la ou le manuscrit qu'il protend suivre apalatus. J'ai eu 1'occasion de citer le document de la Commissio Scotistica et de le commenter — ainsi d'ailleurs que le texte du Pere de Ghellinck — dans un article ou cette problomatique est ogalement abordoe: cf. Paul Tombeur: Pratiques oditoriales et criteres scientifiques?. In: Verhalende bronnen: repertoriCring, editie en commercialisering. Ed. Ludo Milis, Voronique Lambert, Ann Kelders, Gand, 1996, p. 51-66.
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chose a son importance: il s'agit bien d'un ensemble de 'mots', ecrits d'une certaine faςοη, associes d'une maniere qu'il faut respecter. Le document transmis n'est en definitive qu'un „arrangement de mots", ce qui m'offre 1'opportunite de rappeler cette assertion de Pierre Grimal: „le ,signe', c'est-a-dire le mot, est Γ instrument grace auquel nous avons acces au reel, et ce reel revele sa coherence a travers le langage, ce 'logos', qui est rarrangement des sons et des mots."12 II en decoule que Γόη ne peut privilogier 1'idee sur l'expression verbale: l'observation detaillee — et done en premier lieu le respect — de l'expression verbale est le point de depart de toute exogese rigoureuse. Proceder autrement, ce serait proceder a une exegese „a 1'ancienne". Beaucoup d'editions critiques aujourd'hui sont encore elaborees dans l'esprit d'un pourvoyeur de Glossa ordinaria: sans nier le moins du monde l'interet historique (et humain) prodigieux que revet la Close ordinaire, il n'en reste pas moins vrai que la realite du texte glose n'est jamais garantie; en d'autres termes, il y a confusion entre le textus recipiendus et le textus a quodam receptus. L'editeur scientifique, quant lui, doit offrir un texte dont la probabilite historique est maximale: ce ne peut etre qu'un texte „respecte", une res humblement transmise. Le malheur, c'est que Γόη cherche le plus souvent en vain des precisions sur la methodologie mise en oeuvre pour une edition de texte. L'accumulation des publications, les facilites apparentes qu'offre la technique aujourd'hui, doivent nous contraindre quelque „eloignement du monde" (pour demeurer dans la ligne de Christian Bobin). Cette prise de recul est necessaire pour se questionner soi-meme et se critiquer, pour defier 1'ennemi fundamental de tout progres: les habitudes, les fa9ons de faire. II en resulte que viennent ainsi au premier plan des questions de base: Qu'est-ce qu'un texte?14, qu'est-ce qu'une edition critique, mais aussi, tres concretement, quelle edition etablir maintenant pour tel texte precis? Notre chance devrait resider dans 1'opportunite de pouvoir reposer toutes les questions relatives la science et la technique editoriales. L'informatique elle-meme serait ainsi intogree d'abord comme maniere de penser, avant de n'etre qu'une maniere de faire. 12
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Pierre Grimal: Philosophie et langage. In: La langue latine: langue de la philosophic. Actes du colloque organise" par l'Ecole francaise de Rome (Rome, 17-19 mai 1990). Rome 1992, p. 2-3. Choisissons 1'exemple d'une technique iditoriale qui privilegie la comparaison des idoes au respect des formes: les Dionysiaca public's partir de 1937 par les meines de Solesmes. Personne ne niera les immenses mdrites du travail accompli par les iditeurs. II faut pourtant souligner qu'ils ont volontiere modifie* certains textes afin de favoriser l'observation des traductions latines. C'est bien pourquoi il faudrait reprendre aujourd'hui Γ edition des traductions de Denys sur d'autres bases: celles des „ipsissima uerba". Cf. les remarques que nous avons omises dans les introductions du Thesaurus Pseudo-Dionysii Aeropagitae. Textus graecus cum translationibus latinis. Turnhout 1993 et Versiones latinae cum textu graeco. Turnhout 1995. Dans son compte rendu paru dans le Bulletin de TheOlogie ancienne et mddi vale — 3, 1937-1940, p. 473 —, dom Mai'eul Cappuyns avail noto έ juste titre l'absence de garantie que represented les textes latins antirieurs Ambroise Traversari. Dans les deux volumes du Thesaurus Pseudo-Dionysii Aeropagitae cue's, on trouvera des longues listes de corrigenda, p. XXI LIX dans le volume groco-latin et p. XXV a XXVIII dans le volume latinogrec. Cf. Qu'est-ce qu'un texte? Eloments pour une hermdneutique. Sous la dir. d'Edmond Barbotin. Paris 1975.
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1. Textes et paratextes: necessite d'une heuristique rigoureuse et claire Un recent colloque sur les titres et les articulations du texte, de l'antiquite ä la renaissance, a abondamment illustre combien une rigueur nouvelle devrait etre appliquee dans la presentation generate des textes: leurs titres, leurs incipit et explicit.15 La documentation rassemblee lors de ce colloque me dispense de m'attarder davantage sur ce sujet. Disons-en simplement l'importance et que l'absence de rigueur en la matiere a de facheuses consoquences, non seulement pour l'histoire du vocabulaire ou de l'usage de tel ou tel terme par l'auteur concerne, mais aussi pour la perception genörale du contenu semantique d'une oeuvre, le titre ayant necessairement sä part de vouloir-dire. Parier sans plus du De trinitale d'Hilaire de Poitiers, c'est trahir l'essentiel de l'oeuvre,16 tout comme citer sans plus les Enarrationes in Psalmos d'Augustin, c'est ne pas provoquer la prise de conscience qu'il s'agit d'un titre erasmien et que le vocable 'enarratio' est totalement absent du vocabulaire augustinien. Je me permets de rappeler ici combien il serait souhaitable que chaque edition critique soit accompagnee desormais d'une fiche descriptive en la matiere, que l'auteur de l'edition precisement est ä meme de rediger mieux que quiconque.17 2. Lire II peut paraitre saugrenu de rappeler ici qu'il importe en premier lieu d'apprendre ä lire. Lire, c'est dochiffrer et c'est comprendre. Lire c'est done necessairement traduire, quelle que soit la langue utilisee. Lire implique la connaissance des signes d'ecriture et d'abreviation, celle de l'univers d'origine, et done des textes majeurs qui en ont modele le vecu. Comprendre exige essentiellement une connaissance rigoureuse des structures linguistiques du domaine concerne: structures lexicales, grammaticales et stylistiques. 15
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Titres et articulations du texte dans les oeuvres antiques. Actes du Colloque International de Chantilly, 13-15 decembre 1994, odites par J.-C. Fredouille, M.-O. Goulet-Caze, Ph. Hoffmann, P. Petitmengin avec la collaboration de S. Deleani. Paris 1997. Cf. Paul Tombeur: Latinito et informatique. Travaux realises par le CETEDOC. Perspectives et implications mithodologiques. In: The Editing of Theological and Philosophical Texts from the Middle Ages. Ed. Monika Asztalos. Stockholm 1986 (Studia Latina Stockholmiensia, XXX), p. 48-49. Cf. Id.: Le vocabulaire des titres: problemes de mothode. In: Titres et articulations du texte dans les oeuvres antiques, op. cit. (note 15), p. 577-578. II faut contrer ceux qui editent des textes sans les comprendre — et ils sont loin d'etre rares — ou qui, pour le moins, ne verifient pas ce que d'autres ont fait. Dans une odition d'un theologien du XIIe siecle on lit: illic passeres nidiflcabunt, Herodii domus dux est eorum. II ne s'agit pas la d'un nom propre, mais d'un oiseau: il faut lire herodii ou, si la graphic normalised est attested dans le manuscrit suivi, erodii. De plus ... c'est läun rappel de texte du Psaume 103,17. La PL avail mis un point apres nidificabunt au lieu d'une virgule, d'ou Herodii ... La lecture et la comprehension du texte auraient la faule. Bien des abreviations sont peu visibles, certaines sont ambigues dans 1'absolu: les connaissances linguistiques et la comprehension du texte permettront d'etre alertes quant ä la cessito d'un passif— finale en -ur souvent abregie —, d'un nominatif ou d'un accusatif— cf. toutes les abreviations pour les formes relatives ä l'entree lexicale qvi(s), relatif, interrogatif ou inddfini.
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II ne devrait done pas etre question de se lancer dans une entreprise oditoriale sans une formation paleographique et linguistique. Or, il faut bien constater que, dans la plupart des cas, cette double formation fait defaut. Un editeur de textes devrait etre ä la fois un lecteur de textes et un lecteur de grammaire. Si est dans le domaine de Occident medieval, on peut suggerer ä bon escient d'etre aussi un lecteur de la Close ordinaire, comme chacun peut etre aujourd'hui grace a la reimpression de edition strasbourgeoise d'Adolph Rusch: cela permet de connaitre ä la fois le texte biblique, les manieres de le lire et de le commenter, les divers sens de l'Ecriture, les principaux commentaires, les abreviations les plus usuelles. L'experience montre que, dans bien des cas, seul celui qui sait, peut lire et done dechiffrer le texte et le comprendre. Faut-il rappeler combien lire un incunable correspond ä lire un manuscrit? A partir d'une teile pratique, on sera davantage ä meme de faire du travail serieux. Remarquons que le probleme des capacites de lecture et de transcription correcte se pose pour tout texte. Ainsi le texte musical. Pour m'en tenir ä une information recente, il est suggestif de noter que „les musiciens qui jouent les oeuvres de Brahms commettent beaucoup d'erreurs parce que les premiers editeurs de ses partitions ä Leipzig, au XIXe siecle, ont fait de nombreuses fautes de retranscription"; ainsi Robert Pascall aurait decouvert pas moins de 281 erreurs pour la seule Premiere Symphonie. L'etude de l'oeuvre de Brahms dans le sens d'un retour ä l'original devrait prendre quelque trente ans!20 Le probleme de la fiabilite des editions touche done bien tout type de transmission textuelle, quel qu'en soit le genre. Ceci est de nature ä nous apprendre l'humilito, ä consentir ä de nouvelles lectures des sources. En definitive, de la meme maniere que le lecteur d'une partition doit pouvoir en entendre les signes, le lecteur d'un manuscrit doit etre un traducteur. C'est en se confrontant au sens meme que s'apercevra du non-sens de teile ou teile transcription, de teile resolution defectueuse d'une abreviation peut-etre ambigue, de teile ponctuation deficiente. La comprehension du texte et la perception generate de l'oeuvre permettront de juger dans la plupart des cas avec pertinence de ce qu'il faut considerer comme lapsus calami ou, au contraire, comme lectio difficilior. Ainsi quand on lit (Glossa ordinaria, e"d. de 1480-81, II Mac., 15, 40): alterius autem uti delectabile est, pourra-t-on juger du point de vue grammatical et du point de vue du sens qu'alterius est une coquille pour alternis. La confusion u - n est d'ailleurs assez frequente (ib., Jean, 12: clarificatus est iu eo). D'autres cas sont plus complexes. On connait les substitutions u - o. Si n'hesitera pas ä convertir in iextu: non potes me mudo sequi (Jean, 13) en non potes me modo sequi (pour renvoyer mudo dans l'apparat critique), la question est autrement delicate quand on se trouve face ä une opposition du type nubilis - nobilis. La encore, la Glossa ordinaria me permet de citer un exemple qui concourt ä illustrer son caractere
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Biblia latina cum Glossa ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/1481. 4 volumes. Turnhout 1992. Cf. Le Monde du 7 fovrier 1997.
Science et inconscience: les editions critiques
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formateur. Quand on lit Levitique 19, 20 dans le texte de la Glose ordinaire de 1480/81, on note: Homo si dormierit cum muliere coitu seminis quae sit ancilla etiam nobilis et tarnen pretio non redempta es t nee bert te donata, uapulabunt ambo et non morientur,
on a tendance avoir comme premiere reaction d'estimer qu'il s'agit d'une erreur 'evidente' et qu'il faut entendre nubilis et non nobilis et done mettre nu- in textu et no- dans 1'apparat critique. L'edition critique (Weber-Gryson) retient nubilis, mais note que nubilis est la Ιβςοη d'un manuscrit du VIIIe siecle, de Γ edition Clementine et de Γ edition romaine, qu'elle renvoie au textus hebraicus, mais que tous les autres manuscrits ont nobilis. La Ie9on qu'un editeur devra retenir est celle de son manuscrit de base. On sait du reste combien le sens spirituel fmit par tout justifier. Dans le cas cite, I'explication interlineaire precise la Ιεςοη nobilis: ancilla est explicite dans 1'interligne par per culpam, et etiam nobilis par per naturam. On ne peut imaginer meilleure illustration pour inciter la prudence et la simple reception de la res du passe: recourant au texte critique de la Vulgate tel que nous le lisons aujourd'hui, on ne comprend souvent plus les explications des auteurs du passe. L'exemple qui precede montre aussi que Γόη ne peut melanger les traditions textuelles et que, si Γόη se trouve devant une tradition plurielle, il faut s'en tenir un texte de base. Un temoin authentique a davantage de valeur qu'une reconstitution posterieure. Les apparats critiques doivent precisement servir offrir les tableaux des diversites, voire des deviations textuelles. Une fois encore il faut le redire: si un texte a etc mal compris par rapport une version originelle, c'est la mauvaise comprehension qui est objet d'histoire et non sa reconstitution presente. Curieusement cependant, les editeurs editent des passages qui n'ont aucun sens, alors que, clairement, le texte avait un sens et l il ne s'agit pas de sacramentaires de la fin du VIIIe siecle ou du debut du IXe siecle! Ainsi ce beau cas signale par le Pere Boyle pour les Lettres Lucilius de Seneque (96, 3). Tant dans l'edition de Teubner que dans celle d'Oxford et de Loeb, on lit: Vesicae te dolor inquietauil, epistulae uenerunt parum dulces, detrimenta continua, propius accedam, de capite timuisti.
L'edition des Belles Lettres comporte egalement la Ie9on epistulae et ajoute des conjectures inutiles. Que viennent faire dans ce probleme de vessie et dans la description progressive de ses retombees les epistulae parum dulcesl Une abreviation mal comprise doit etre la source de l'erreur et il faut lire:
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epulae uenerunt parum dulces.
Erasme avait bien lu epulae ... Mais il y a pire encore: ainsi, dans une edition d'un Pseudo-Quintilien lit-on un passage totalement incomprehensible: si in petro, intellegam uerum esse, quod quidam opinantur, ambitiosum patrem publicare uoluisse domus suae misericordiam ...
il faut lire inpetro, dont la forme normalisee est impetro ... S'il s'agit d'une coquille, eile est de taille. Pour le moins, le correcteur d'epreuves lisait sans comprendre. Une edition d'un texte du XIIe siecle, incroyablement mauvaise nonobstant les honneurs et les louanges officiels, auxquels 1'editeur a eu droit pour son oeuvre scientifique, prosente de la meme maniere, labor aueris au lieu de laboraueris, tout comme discebas au lieu de dicebas, presbiteris au lieu de presbiterii, uerum au lieu de utrum, quum (ä plusieurs reprises) au lieu de quoniam, faller au lieu de fallor, plurimum au lieu de populum ou mieux encore — si je puis dire — nominarentur au lieu de nominetenus (nomineien^ dans le manuscrit). Dans tous ces cas, le texte de 1'editeur est incomprehensible. Ajoutons encore que la ou le manuscrit a cognosse — qui convient parfaitement — il imprime cognosce, mentionnant dans 1'apparat critique que le manuscrit porte la lefon cognosce*. Dans ce cas ce n'est pas de la pseudo-science, c'est franchement de 1'anti-science. Dans tous les cas cites, pour eviter des erreurs, il aurait suffide'lire'! 3. L'attention ä la vie du texte: la reception des graphics Une fois de plus, il me faut revenir sur le probleme ddes graphics,22 car 1'experience montre qu'il s'agit encore pour beaucoup d'une matiere ä discussion. Pour beaucoup en Cf. L.E. Boyle: «Epistulae uenerunt parum dulces». La place de la codicologie dans l'odition des textes latins modie'vaux. In: Les problemes posos par I'odition critique des textes anciens et midie'vaux. Ed. Jacqueline Hamesse. Louvain-la-Neuve 1992, p. 220-221. Une coquille s'est glissoe dans le texte imprimo du Pere Boyle (p. 220, derniere ligne): proprius au lieu de propius (qui apparait supra, p. 220,1. 7). Une erreur de ce type —proprius pom propius — est assez froquente. Cf. Paul Tombeur: De polygraphia. In: Actes du colloque Grafia e interpunzione del latino nel Medioevo (Rome, 27-29 septembre 1984). Ed. A. Maieru. Rome 1987, p. 69-101. Id.: Informatique et lexicographic philosophique. Pour une roelle ocoute des textes dans toute leur dimension his tori que. In: Hyparxis e Hypostasis nel Neoplatonismo. Atti del I Colloquio Internazionale del Centro di Ricerca sul Neoplatonismo (Catania, 1-3 ottobre 1992). A cura di F. Romano e D. P. Taormina. Florence 1994, spocialement p. 190 et 194. Voir ogalement de nombreuses notes dans plusieurs introductions des Instrumenta Lexicologica Latino. Le probleme de la question des orthographica et de IMntoret de les respecter dans une idition scientifique a repris par Pascale Bourgain: Sur I'odition des textes littoraires latins me"diqa»se»«n)* 'externorurn in r( quam corpuscoqnt (cnpomm)* est unum per se.anumpa·«* nempe in ipsa forma substanüali, quae repraesentabcaim«M«i conjuncta est cum reacüoneBiois* seu conatUMtunu (coiaii)* sive' appeütu««ötni (« , ««·)* secundum hanc cogmb Hanc formam substantialem necesse est reperin in omnibus substantiis corporeis,!*5wt»tctpoi«,»:oijii·«* quae sunt unum per se mmpi»«j«uMii)* necesse est fo substantiates habere quae dicuntur amrnae «im»(a«)* Caetera autem corpora««pas(t«p(««i»n)* quae forma substantial! carent sunt tantum aggregata corporurn«s»«g«n!ii«»po«am* ut struesswi«!* lignorum, congenes lapidurruo»«"»«* neque proinde cograbonenicosuiic (camume)* aut appetituiniKreiojsCiti.««»,««»)* 'habent- Omnis substantiat*««** q sua natura perpetuapei«Maaiisnip«>iit»s)" est, et quomodo Mensem»* Arüma,»uDa C*M)* forma substanüalisjumtniiitMiiiii u * in EnbbuS per se.aisptrsi.peiKlJlms' allter quam creatlOne * in ovanum»m>* delato et ibi cre\scente; et vicissim saepe' non extinctionern«ai«tio(