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German Pages 174 [176] Year 1994
B E I H E F T E
ZU
editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER
Band 6
Philosophische Editionen Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11.-13. Juni 1992 Berlin) Herausgegeben von Hans Gerhard Senger
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Editio / Beihefte]: Beihefte zu Editio. - Tübingen : Niemeyer. Früher Schriftenreihe Fortlaufende Beil. zu: Editio NE. HST Bd. 6. Philosophische Editionen. - 1994 Philosophische Editionen : Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie ; (11. - 13. Juni 1992 Berlin) / hrsg. von Hans Gerhard Senger. - Tübingen : Niemeyer 1994 (Beihefte zu Editio ; Bd. 6) (Beiträge zur ... Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen ; 6) NE: Senger, Hans Gerhard; Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland / Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen: Beiträge zur ... ISBN 3-484-29506-6
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
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Albert Zimmermann Eröffnungsansprache des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen
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Hans Lenk Grußwort des Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland ....
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Winfried Woesler Grußwort des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
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Werner Becker Philosophische Editionen: Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie
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Friedrich-Wilhelm von Herrmann Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe
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Fokke Akkerman Was ist von einer neuen Spinoza-Edition zu erwarten?
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Claus Huitfeldt Toward a Machine-readable Version of Wittgenstein's Nachlaß. Some Editorial Problems
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Jörg Jantzen Objektivität der Editionen?
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Annemarie Pieper Akzeptanzbarrieren für philosophische Editionen?
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Heinz-Günther Nesselrath Neuere Tendenzen in der altphilologischen Edition
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Gunter Martens Neueren Tendenzen in der germanistischen Edition
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VI Roswitha Wollkopf Zur Geschichte, archivischen Betreuung und Edition des Nachlasses von Friedrich Nietzsche
83
Workshop: EDV-Funktionen für Editionen
91
Wilhelm Ott Der Computer als wissenschaftliches Arbeitsmittel für Editionen
93
Hermann Schnarr Umstellung einer Edition auf EDV am Beispiel der Sermones-Edition des Nikolaus von Kues
104
Hannelore Ott Umstellung einer Edition auf EDV Technische Anmerkungen zum Beitrag von Hermann Schnarr
111
Werner Wegstein Zeichenerkennung und elektronische Texterfassung
118
Michael Trauth Vom maschinellen Zerhacken der Texte: Register, Indizes, Konkordanzen, Bibliographien
125
Berichte über die Arbeit der Kommissionen (Berichtszeitraum 1988-1992)
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Norbert Henrichs Bericht über die Arbeit der Kommission Technik
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Helmut Holzhey Bericht über die Arbeit der Kommission Text
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Wilhelm G. Jacobs Bericht über die Arbeit der Kommission Publikation und Publizität
162
Anhang: Transkriptionendepots
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Vorwort des Herausgebers
Seit ihrer Gründung im Jahre 1973 hat die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland eine Reihe von Fachtagungen veranstaltet. Sie bot damit Editoren und Verlegern ein Forum zur Diskussion editionswissenschaftlicher Fragen, die teils aktuellen, teils bleibenden editionsspezifischen Problemen gewidmet waren. Diese Fachtagungen stellten für die Editoren eine ausgezeichnete Möglichkeit dar, die Fragen zu diskutieren, die spezifische Probleme der einzelnen Editionsunternehmungen übersteigen. Feste Bestandteile der Tagungen waren jeweils auch die Information über neuere Tendenzen im Editionsbereich und die Demonstration der Entwicklung im Bereich elektronischer Datenverarbeitung, soweit sie für die Editionsarbeit anwendbar ist. Als im Sommer 1988 mit der Vorbereitung der sechsten Tagung begonnen wurde, die in Berlin stattfinden sollte, war zunächst daran gedacht, diese in den Gebäuden der damals bestehenden zwei Akademien der Wissenschaften in den beiden Teilen der getrennten Stadt auszurichten. Die politische Entwicklung hat diesen Plan in anderer Weise Realität werden lassen. Die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen konnte ihre VI. Internationale Fachtagung vom 11. bis 13. Juni 1992 im geeinten Berlin, im Gebäude der alten Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt veranstalten. Das Thema der Tagung lautete: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Die mit über 120 Teilnehmern diesmal besonders große Beteiligung kam nicht zuletzt dadurch zustande, daß vielen Editoren erstmals die Möglichkeit zur Teilnahme offenstand. So erhielt die Tagung als Forum eine besondere Bedeutung, da sie Editoren zusammenführte, die sich bisher nur aus Publikationen und dem Namen nach kannten. Der vorliegende Band enthält (von zwei Ausnahmen abgesehen) die während der Tagung gehaltenen Referate. In ihnen werden zum einen Erwartungen artikuliert, die von Benutzern an die verschiedenen Editionsformen gestellt werden; zum anderen wird über Wirkungen referiert, die Editionen, die als repräsentativ gelten können, erkennbar erzielten oder, soweit sie noch im Fortgang oder erst in Planung sind, mutmaßlich haben könnten. Der Band enthält darüber hinaus Berichte über neuere Entwicklungen bei Editionen benachbarter philologischer Disziplinen, über Probleme philosophischer Nachlässe und deren archivische Betreuung; er dokumentiert des weitern die Ergebnisse eines Workshops 'EDV-Funktionen für Editionen' und berichtet schließlich über die Arbeit der Kommissionen der Arbeitsgemeinschaft seit der letzten Fachtagung im Mai 1988 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.- Der
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Hans Gerhard Senger
Bericht über die Mitgliederversammlung ist hier nicht aufgenommen; er wird im nächsten Rundbrief (Nr. 11) der AGphE erscheinen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat mit einer finanziellen Unterstützung auch diese VI. Internationale Fachtagung ermöglicht. Die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen hat außerdem viele Jahre die Förderung des Stifterverbandes ßr die Deutsche Wissenschaft erfahren, ohne die sie die Arbeit nicht hätte leisten können, deren Ergebnisse sich nicht zuletzt in den Fachtagungen darstellen. Der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft, Herr Prof. Dr. Albert Zimmermann, hat an anderer Stelle dieses Bandes den Dank an beide Institutionen zum Ausdruck gebracht. Sein Dank gilt aber auch allen, die der Tagung ihre Unterstützung gegeben haben: dem Verwaltungsdienst der KAI e.V. (Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung in den neuen Ländern), Berlin, der Senatsverwaltung ßr Wissenschaft und Forschung, Berlin, und der MAKROLOG GmbH, Wiesbaden, die die technische Ausrüstung für den Workshop zur Verfügung stellte. Es bleibt dem Herausgeber noch denen zu danken, die ihn persönlich bei der Vorbereitung der Tagung unterstützt haben: den Kommissionen der Arbeitsgemeinschaft und deren Vorsitzenden, sodann Herrn Achim Wurm und Herrn Heiner Riggert für die in Köln geleistete Hilfe und besonders Herrn Prof. Dr. Walter Jaeschke, der in Berlin das organisierte, was aus der Ferne zu tun nicht möglich war. Die Akademische Buchhandlung am Gendarmenmarkt/Gropius'sehe Buch- und Kunsthandlung hat die Tagung durch eine Buchausstellung aus den Bereichen Philosophische Editionen und Editionswissenschaft bereichert. Der Herausgeber dankt schließlich allen, die zum Erscheinen dieses Bandes beigetragen haben: den Referenten für die Bereitschaft, ihren Beitrag hier erscheinen zu lassen und eine Diskettenversion für den Druck zur Verfügung zu stellen. Für die Drucklegung wurden Eingriffe in die Manuskripte zum Zweck der Vereinheitlichung möglichst gering gehalten; die Verantwortung für Form und Inhalt liegt also in erster Linie bei den Autoren. Dem Herausgeber der Beihefte zu editio, Herrn Prof. Dr. Winfried Woesler, ist für die Aufnahme des Referatbandes in diese Reihe, aber auch für redaktionelle Hilfe zu danken, dem Max Niemeyer Verlag, Tübingen, für die Unterstützung bei der Herstellung der Druckvorlage, die von Heiner Riggert sachund fachkundig angefertigt wurde; ihm gilt dafür ein ganz besonderer Dank. Köln, Ostern 1993 Hans Gerhard Senger
Eröffnungsansprache Albert
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Zimmermann
Eröffnungsansprache des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland begrüße ich Sie auf das herzlichste. Seit ihrer Gründungsveranstaltung im Jahre 1973 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, die zugleich ihre erste Internationale Editorentagung war, hat die Arbeitsgemeinschaft in einem drei- bis fünfjährigen Turnus weitere Editorentagungen veranstaltet: 1976 in der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 1980 in der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, 1983 in der Universität zu Köln und 1983 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Als wir 1988 sogleich nach der Wolfenbütteler Tagung als nächsten Treffpunkt Berlin auswählten, hatten wir den Wunsch und die Hoffnung, unserer Arbeit in beiden Teilen der geteilten Stadt nachgehen zu können. Was damals Hoffnung war, ist nun durch die politischen Ereignisse, die seinerzeit nicht vorauszusehen waren, auf andere Weise Wirklichkeit geworden. Wir freuen uns darüber, daß in dem wieder geeinten Berlin mehr Teilnehmer als bisher zu unserer Tagung gekommen sind. Hier in Berlin sind wir in einer Stadt der Editionen. Sie war dies in vergangener Zeit; ich erinnere nur an das große, noch immer unvollendete Unternehmen der KantAusgabe, die hier ihren Anfang nahm, als die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften 1894 den Beschluß faßte, Kant's gesammelte Schriften herauszugeben. Und sie ist dies auch heute noch und wieder, wie der Berliner Arbeitskreis für Editionswesen mit seiner Dokumentation Berliner Editionsprojekte jüngst eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Unter den zahlreichen darin aufgeführten Projekten und Vorhaben aus den verschiedenen Fachbereichen sind rund ein Dutzend philosophische und theologische Editionen, von Texten des Antiken Atomismus angefangen über solche mittelalterlicher Autoren bis hin zu Werken von Philosophen des 19. Jahrhunderts. Editionen haben es, vor allem in jüngerer Zeit, oft schwer, sich neben anderen wissenschaftlichen Unternehmen zu behaupten, vor allem angesichts einer dominierenden Naturwissenschaft und Technologie. Durch die politischen Veränderungen sind nicht nur hier, aber vor allem hier in Berlin neue Probleme hinzugekommen. Die künftige Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften wird viele Edi-
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Albert Zimmermann
tionen neu übernehmen, unter ihnen bewährte und renommierte Unternehmen, die zum Teil als Langzeitprojekte geführt werden müssen. Dies kann man als einen Glücksfall werten, wenn man daran denkt, daß manche Alt-Akademie ihre Arbeitsvorhaben langsam über Jahre hindurch aufbauen mußte. Mit einer solch schnellen Entwicklung sind jedoch auch große Probleme struktureller und finanzieller Art verbunden. Bei dieser Gelegenheit obliegt es dem Sprecher der Arbeitsgemeinschaft, auf die Sorgen alter und neuer Editionen hinzuweisen. Sie betreffen die Sicherung der einzelnen Editionen, personell sowohl wie auch hinsichtlich Ausstattung und Unterbringung. Im Namen der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen möchte ich dem Senat von Berlin danken für das, was bisher in diesem Bereich geschehen ist und in absehbarer Zukunft noch geschehen wird. Ich darf aber auch unsere Besorgnis um das, was noch geschehen muß, nicht verhehlen. Es ist mir eine Ehre und besondere Freude, hier so viele Kolleginnen und Kollegen begrüßen zu dürfen. Viele Editoren aus den neuen Bundesländern sind zum erstenmal bei uns, unter ihnen wiederum viele aus dieser Stadt. Sie heiße ich besonders willkommen. Wir wissen, daß für manche von Ihnen die Probleme, die die politische Veränderung mit sich gebracht hat, noch nicht gelöst sind. Sodann begrüße ich den Geschäftsführer der Allgemeinen Gesellschaft fiir Philosophie in Deutschland - unserer "Mutterorganisation" -, Herrn Professor Dr. Werner Becker, der den Eröffnungsvortrag halten und vorher das Grußwort des Präsidenten AGPD, Professor Dr. Hans Lenk, verlesen wird. Herr Kollege Lenk mußte von seinem Vorhaben, nach Berlin zu kommen, wegen einer anderweitigen Verpflichtung leider Abstand nehmen. Ferner begrüße ich die Kollegen, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, sowie die Vertreter benachbarter Fachgebiete, insbesondere den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, Professor Dr. Winfried Woesler, der gleich ein kurzes Grußwort verlesen wird. Mit der uns seit ihrer Gründung befreundeten Schwester-Arbeitsgemeinschaft besteht schon seit längerem eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit, die sich nicht nur durch gegenseitige Besuche bei den Veranstaltungen dokumentiert, sondern auch durch Mitarbeit in den jeweiligen Ausschüssen und durch Publikationen unserer Mitglieder in der Zeitschrift editio. Ferner begrüße ich die zahlreich anwesenden Verleger und Mitarbeiter renommierter Verlage. Editoren sind auf Sie, meine Damen und Herren, und auf Ihren Wagemut angewiesen. Denn daß das Verlegen von Editionen nicht das lukrativste Geschäft im Verlagswesen ist, wissen wir Editoren genau so gut wie Sie selbst. Ich hoffe, daß diese Tagung dazu beitragen wird, die Zusammenarbeit von Editoren und Verlagen, wo nötig oder möglich, zu verbessern und zum Wohle beider weiterhin eine gute Zusammenarbeit zu bewahren. Die vornehme Pflicht des Dankens läßt mich zuerst den Damen und Herren danken, die freundlicherweise bereit waren, die ihnen angetragenen Referate zu übernehmen. Sie machen diese Tagung möglich, für deren Zustandekommen die erste Voraussetzung die Gewährung einer finanziellen Zuwendung war, für die ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch an dieser Stelle herzlichen Dank sage. Ebenso gilt der Dank dem Stifterverband fur die Deutsche Wissenschaft, der unsere Arbeitsgemeinschaft 18 Jahre lang, bis zu diesem Jahr, finanziell gefördert hat.
Eröffnungsansprache
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Schon jetzt bedanke ich mich beim Senat von Berlin für die Einladung zu dem Empfang heute abend. Er gibt unserer Tagung gleich zu Beginn einen Rahmen, der für die weiteren Bemühungen nicht unwichtig ist. Diese Einladung verstehen wir auch als Anerkennung der Ziele, die unsere Arbeitsgemeinschaft seit nunmehr 20 Jahren verfolgt. Eine Tagung bedarf mannigfacher Unterstützung. Das gilt in besonderem Maße, wenn die Geschäftsstelle, die mit der Vorbereitung beauftragt ist, ihren Sitz nicht am Tagungsort hat. Zwischen dem derzeitigen Geschäftsstellensitz Köln und dem Tagungsort Berlin liegen hinderliche 600 km, die nur durch die uneigennützige Mithilfe vieler überbrückt werden konnten. Lassen Sie mich im Namen unseres Geschäftsführers, Herrn Dr. Senger, ganz besonders all denen danken, die dazu beigetragen haben, daß wir uns in diesem Rahmen treffen können. Im einzelnen möchte ich danken: den Mitarbeitern des Verwaltungsdienstes der Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung in den neuen Ländern KAI e.V. Durch ihr großzügiges Entgegenkommen wurde es möglich, als Tagungsstätte die altehrwürdige Berliner Akademie am Gendarmenmarkt zu gewinnen. Wir danken für das Gastrecht in diesem für unser Vorhaben bestens geeigneten Gebäude, sozusagen dem natürlichen Ort eines Editorentreffens, für die Hilfen, die wir bei der Vorbereitung erfahren haben und in den nächsten Tagen erwarten dürfen, auch dafür, daß wir die erforderlichen Einrichtungen und Hilfsmittel, die nun einmal für eine solche Tagung erforderlich sind, benutzen dürfen. Ein besonderer Dank gilt dem Kollegen Professor Dr. Walter Jaeschke, der sich stets hilfreich und bis zuletzt unverdrossen um die Vorbereitung hier am Tagungsort gekümmert hat. Ohne die Mithilfe dieses bewährten Amtsvorgängers in der Geschäftsstelle wäre die Organisation von Köln aus wohl kaum möglich gewesen. Zu danken ist auch den Kommissionen und Kommissionsvorsitzenden unserer Arbeitsgemeinschaft für ihre Mithilfe bei der Ausarbeitung und Durchführung des Tagungsprogramms. Ein weiterer Dank gilt denen, welche die beiden Ausstellungen, die unser Treffen optisch-informativ bereichern, veranstalteten: der Akademischen Buchhandlung am Gendarmenmarkt/Gropius'sehe Buch- und Kunsthandlung für eine Ausstellung aus dem Bereich Philosophische Editionen und Editionswissenschaft. Ausdrücklich sei erwähnt, daß sie dankenswerterweise von einigen Verlagen unterstützt wurde. Sodann den Verantwortlichen unserer Kommission Technik, die neben den Vorbereitungen für die morgigen Workshops auch die Demonstration 'Umstellung einer Edition auf EDV' ins Werk setzten. Diese Kommission wurde großzügig unterstützt von der Firma MAKROLOG GmbH, der wir verpflichtet sind, weil sie die für Workshops und Demonstration erforderliche EDV-Technik zur Verfügung stellt. Ein letzter und ganz besonders herzlicher Dank gilt dem Geschäftsführer unserer Arbeitsgemeinschaft, Dr. Hans Gerhard Senger, der die Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Tagung in Händen hat. Nach der angenehmen Pflicht, so vielen Helfern für ihre Unterstützung und Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Geduld während der langen actio gratiarum zu danken, wünsche ich unserer Tagung einen guten Verlauf und vollen Erfolg.
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Hans Lenk
Hans Lenk
Grußwort des Präsidenten der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland
Editionen sind die Adern des philosophischen Lebens und der intellektuellen Tradition. Ohne Adern kein Leben, zumal kein Weiterleben des Geistes - zumindest nicht auf hohem Niveau und dem Stand, den das Denken in der Philosophie bereits früh erreichte. Was wäre die Kenntnis philosophischer Probleme, Ansätze, Ideen und Argumente oder die Kenntnis antiker Autoren - zumal Piatons und Aristoteles -, ohne die opfervolle Überlieferungsarbeit, sorgfaltige Abschreibtätigkeit durch arabische Gelehrte und europäische Mönche während des Mittelalters? Diese Gelehrten nahmen die entsagungsvolle Tätigkeit späterer Editoren des Druckzeitalters sozusagen in handgestrickter Form, hingegeben an die Aufgabe und derzeit erfüllbaren Kriterien genauer Wiedergabe, voraus. Die hingebungsvolle Arbeit am Text und der Dienst am Buchstäblichen unter dem Kriterium der Genauigkeit, der Absicherung, der Quellenvergleiche und -Überprüfung sind auch im Zeitalter der buchtechnischen Reproduzierbarkeit des Wortes geblieben: ein entsagungsvoller Dienst, der den ganzen Einsatz der konzentrierten Person und aller verfügbaren technischen Mittel, kontinuierlichen Einsatz, in der Regel jahrzehntelange Hingabe an die nicht endenwollende Präzisionsaufgabe erfordert und in getreulichem Geist im Verborgenen ausgeführt werden muß. Denn spektakuläre Erfolge und aufsehenerregende Wirkungen sind zumeist durch kritische und wissenschaftlichen Kriterien genügende Editionen kaum zu erreichen. Besonders gegenwärtig - nachdem das große Jahrhundert der philologischen und geisteswissenschaftlichen Aufarbeitung der klassischen Traditionstexte längst vorüber ist (die Weiterführung großer, bislang unvollendeter kritischer Editionen wie die Leibniz-, die Kant-, die Schelling-Edition u.a. bestätigen als Ausnahmen die Regel), bleibt unter den sehr eingeengten Möglichkeiten heutiger Gelehrtenförderung in den Geisteswissenschaften im wesentlichen nur die Aufgabe, die einst im großen editorischen Zeitalter begonnenen Projekte weiterzutreiben und zu Ende zu führen. Eine in der Tat spektakuläre Ausnahme war zweifellos die kritische Gesamtausgabe Nietzsches, die die notorischen Verzerrungen, Verstellungen, Eliminationen und Manipulationen der ersten Textausgaben verläßlich zu korrigieren vermochte und zum Lebenswerk der beiden Editoren wurde, die interessanterweise nicht aus dem Inland stammten! Mit dem mühsamen Werk der Editionsfinanzierung unter wissenschaftlich-kritischen Kriterien kann sich auch ein wissenschaftlicher Verlag auf dem Markte heute kaum behaupten, geschweige denn wirklich nennenswerte Gewinne (unter Berücksichtigung der außerordentlich hohen und langwierigen Planungs- und Arbeitskosten
Grußwort des Präsidenten
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und der langfristigen Vorausinvestitionen) erwirtschaften. Entsprechendes gilt für die Editorengruppen selbst. Besonders sie sind auf Förderung unter erschwerten Bedingungen der Nicht-Spektakularität angewiesen - heute mehr denn je. Die Behauptung intellektueller Produkte und Produzenten auf dem Markt ist ohnehin schwer genug: Je länger - und aufwendiger die Projekte - und große editorische Vorhaben gehören zu den aufwendigsten! -, desto utopischer mutet heute eine Selbstfinanzierung durch laufende Akadamiekosten oder Verlagsinvestitionen bzw. Vorausaufwendungen an. Die philosophischen Editionen aber sind für das niveauvolle Weiterleben der philosophischen Problemstellung, Problemerkenntnis und die Diskussion der klassischen Ansätze sowie ihre Weiterentwicklung und überhaupt für die auf der Höhe der Zeit und dem Stand der Diskussion stattfindende Weiterentwicklung der Disziplin unbedingt nötig. Ohne Adern kein Weiterleben. Oder sollte man Editionen lieber mit dem frühen Wachstum der Nervenstränge vergleichen, das ähnlich unverzichtbar ist für die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten? Hätten wir demnach die sensiblen Phasen des Nervenwachstums schon hinter uns? Wie dem auch sei - ein Grußwort kann solche Fragen natürlich nicht beantworten, die sicherlich bei Ihrer internationalen Fachtagung an konkreten Beispielen und somit viel substantiierter diskutiert werden, als ich das könnte. Die Allgemeine Gesellschaft für Philosophie in Deutschland ist sich jedenfalls der Bedeutsamkeit und Wichtigkeit der philosophischen Editionen und ihrer Förderung und weiteren Ermöglichung bewußt und weiß auch die jahrzehntelange hingebungsvolle Arbeit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen hoch zu schätzen. Sie wird, wie der Vorstand in seiner letzten Sitzung beschlossen hat, versuchen, mit ihren beschränkten Mitteln gewisse Zuschüsse zu ausgefallenen Förderungsmitteln aufzubringen. Als Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland werde ich mich bei privaten Sponsoren um eine spätere Weiterförderung der Philosophie in Gestalt der Editionen bemühen. Man muß freilich derzeit bedenken, daß sich die Wirtschaft allgemein in einer beginnenden Rezessionsphase befindet und die Spendenfreudigkeit bzw. Förderbereitschaft erheblich abgenommen hat. Als Fachgesellschaft werden wir versuchen, den Bemühungen der Arbeitsgemeinschaft bei der Gewinnung neuer Förderer möglichst tatkräftig zur Seite zu stehen. Im Namen des Vorstandes der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland und durch den Mund ihres Geschäftsführers möchte ich Ihnen die besten Wünsche für den Verlauf Ihrer Tagung und unsere Hochschätzung der philosophischen Editionsarbeit und ihrer Betreuung durch die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen übermitteln und auf einen guten Verlauf Ihrer Tagung hoffen. Um beim Anfangsbild zu bleiben: Möge es Ihnen gelingen, den finanziellen Aderlaß in gemeinsamer Anstrengung zu überwinden und weiterhin die so fruchtbare Arbeit der Betreuung der philosophischen Editionen weiterzuführen, damit durch diese Adern der philosophische Geist lebendig bleibt und unsere auf sorgfältige Editionen angewiesene Disziplin weiter überleben und sich weiterentwickeln kann. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Lenk
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Winfried Woesler
Grußwort des Sprechers der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
Im Namen der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition darf ich Ihnen zu Ihrer VI. Internationalen Fachtagung herzliche Grüße ausrichten. Wir haben unsere Editoren-Arbeitsgemeinschaft nach dem Vorbild der Arbeitsgemeinschaft der Philosophen aufgebaut. Damit waren wir sehr gut beraten. Heute kommen die germanistischen Editoren wie Sie in regelmäßigen Plenar- und mehreren Kommissionssitzungen zusammen. Die gute Kooperation beider Arbeitsgemeinschaften wird durch vielfältige Informationen, Kontakte und gegenseitige Einladungen belegt; auch dafür danken wir Ihnen. Die Aufgaben und Probleme bei der wissenschaftlichen Edition von historischen Texten sind in der Philosophie und in der Neuphilologie sicher einerseits spezifisch, andererseits aber auch im wesentlichen identisch. Insbesondere können wir gemeinsam nach außen hin die Bedeutung der Geisteswissenschaften in der heutigen Gesellschaft besser vertreten. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir ein werbendes Wort für "editio"; dieses "Internationale Jahrbuch für Editionswissenschaft" wird in Verbindung mit beiden Arbeitsgemeinschaften inzwischen zum sechsten Mal erscheinen und ist auch eine gute Möglichkeit der Außendarstellung. Ein noch etwas stärkeres Engagement der philosophischen Editoren wäre begrüßenswert, und ich hoffe, daß die Beiträge dieser Berliner Tagung bald in einem Beiheft von "editio" nachzulesen sind. Zu Ihrer Tagung "Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie" wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Prof. Dr. Winfried Woesler
Philosophische
Editionen: Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie
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Werner Becker
Philosophische Editionen: Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie
Die im Tagungsthema ausgedrückten Fragestellungen liegen Philosophen nahe und fern zugleich. Ich halte mich für berechtigt zu behaupten, daß ein normaler akademischer Philosoph, wie ich einer bin, während seiner Laufbahn - von der Studentenexistenz bis zum Dasein als Lehrstuhlinhaber - keine Berührung mit der Editionstätigkeit hat. Jeder von uns 'Normalphilosophen' hat gute Bekannte und befreundete Kollegen, die sich mit der Herausgabe von kanonisch gewordenen großen Denkern der philosophischen Tradition befassen. Doch man ist im Normalfall selber weder Leiter eines Editionskollegiums noch Mitglied eines solchen. Man macht sich in der Regel auch keine Gedanken darüber, wie die Texte zustandegekommen sind, auf die man sich in seinen Veröffentlichungen bezieht. Man verläßt sich darauf, daß die gängigen Ausgaben von Plato, Thomas, Kant, Hegel, Heidegger oder Wittgenstein nach den Regeln editorischer Handwerkskunst hergestellt sind. Wie diese Regeln aussehen und welche Methodenfragen bei der Edition historischer Texte schon immer - und heute wohl mehr denn je - zu beantworten sind, - darüber macht sich unsereiner keine Gedanken. Mit diesem Eindruck beschreibe ich die Ferne, in der wir uns als Philosophen im akademischen Alltag zur Tätigkeit von Editoren befinden. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen wir den Editoren jedoch auch wieder nahe, denn wir sind alle auf ihre Produktionen angewiesen. Wir bemühen uns in der Regel, bei Zitationen und Auseinandersetzungen mit den Großen unserer philosophischen Tradition auf die neueste und am besten beglaubigte Edition der Werke zurückzugreifen. Wenn ich versuche, das Verhältnis zwischen Nähe und Ferne zum Geschäft des Edierens aus der Perspektive des akademischen Normalphilosophen zu gewichten, dann spielt nach meiner Einschätzung jedoch die Ferne die dominierende Rolle. Ich will meinen Eindruck begründen. Unsere Situation ist heute durch den Primat des systematischen Philosophierens geprägt. Zwar hat uns kein moderner Husserl die Befolgung des Postulats "Zu den Sachen selbst" verordnet. Doch die meisten von uns, die die Philosophie an der Universität vertreten, definieren ihre philosophische Tätigkeit durch den Vorrang systematischer Fragestellungen. Ich sage z.B. von mir, daß ich mich bezüglich meines Hauptinteresses durch die Beschäftigung mit dem Problemkreis der politischen Philosophie definiere. Ich habe in den letzten 15 Jahren Veröffentlichungen über die philosophischen Grundlagen der liberalen Demokratie vorgelegt und habe meine kritische Auseinandersetzung etwa mit den führenden marxistischen und neomarxistischen Positionen auf der Grundlage von Kriterien geführt,
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die dem systematischen Kontext des klassischen und modernen Liberalismus und der Theorie der Mehrheitsdemokratie entstammen. Ich habe mich in diesem Zusammenhang an große Denker aus der Tradition meiner philosophischen Disziplin gehalten: von John Locke über Immanuel Kant und John Stuart Mill bis zu dem jüngst verstorbenen Friedrich August von Hayek. Mir ging es dabei nicht um diese selber: nicht um eine besseres Verständnis etwa der Freiheitskonzepte von Locke und Kant, sondern ich habe mich aus Gründen der Bestätigung von Grundauffassungen, denen ich mich anschließe, auf große politische Philosophen wie Locke und Kant bezogen. Ich vermute, daß die meisten von uns ein ähnlich definiertes Verhältnis zu ihrer philosophischen Grundposition besitzen. Am deutlichsten kommt der Primat des systematischen Zugangs bei den Logikern und den Wissenschaftstheoretikern zum Vorschein. Sie verstehen sich unter den Philosophen am nachdrücklichsten als allein mit Sachfragen beschäftigte Fachwissenschaftler - die Logiker mehr in Analogie zu den Mathematikern; die Wissenschaftstheoretiker der nomologischen Ausrichtung mehr nach dem Vorbild der für sie paradigmatischen naturwissenschaftlichen Fächer; die mehr hermeneutisch ausgerichteten Wissenschaftstheoretiker mehr nach dem Vorbild der Geschichtswissenschaften. Doch auch die an einigen Universitäten erstaunlich lebendigen Phänomenologen, die auf die Husserl-Schule zurückgehen, stellen die systematischen Fragestellungen ihrer Grundposition in den Vordergrund. Nicht anders liegen die Dinge in Bereichen wie der Kommunikationsphilosophie der Neo-Frankfurter Schule. Selbst die als Ausrufung einer Postmoderne verstandene PluralismusDebatte der Gegenwart wird von den meisten Vertretern der Position als Methodendiskussion über Wissenschafts- und Rationalitätskonzepte geführt. Besonders deutlich wird der Primat des Systematischen bei den aktuellen Diskussionen, an denen unser Fach an vorderster Stelle beteiligt ist: bei der Ethik und z.B. auch bei den modernen Leib-Seele-Diskussionen. Ich will mit all dem sagen: Heutige Philosophen beziehen ihr fachliches Selbstverständnis aus der Zuordnung zu systematischen Fragestellungen und systematischen Grundpositionen und nicht aus der Beschäftigung mit der Geschichte und der Tradition ihres Fachs. Sie haben von diesem verbreiteten Grundverständnis her kein originäres Verhältnis zu editorischer Tätigkeit, die eine Tätigkeit im Licht des historisierenden Zugangs zu philosophischen Fragestellungen und Reflexionen ist. Der Bezugspunkt der editorischen Tätigkeit ist der Werkbegriff, und dieser wiederum ist an den bedeutenden Denker in seiner historischen Einmaligkeit gebunden. Wir wissen, daß die Lage noch bis in die 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts in unserem Fach anders war. Bis in diese Zeit lag der Schwerpunkt des Selbstverständnisses unter den Philosophen auf dem historisch-hermeneutischen Zugang. Das galt vor allem für den Universitätsunterricht in den Disziplinen der Philosophie. Es liegt auf der Hand, daß unter jenen Bedingungen eine größere innere Nähe der Universitätsphilosophie zur Editionstätigkeit als heute bestand. Um meine Bemerkungen über das Übergewicht des systematischen Zugangs heute zu vervollständigen, eines Übergewichts, welches die Ferne der meisten zur Editionstätigkeit bedingt, will ich den Blick auch noch kurz auf die Form lenken, in der die Philosophie sich in der Gegenwart in der Universitätslehre darstellt. Man muß sich zu diesem Zweck die Studien- und Prüfungsordnungen für unser Fach ansehen. Fast alle
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Ordnungen, die ich kenne, bestätigen den Primat des systematischen Selbstverständnisses. Die Anforderungen in den Magister- wie in den Lehramtsstudiengängen werden durchgängig nach den Gesichtspunkten der systematischen Fachbeschreibungen formuliert. Die systematisch ausgerichteten Kategorien reichen von den alten, ehrwürdigen Bereichsbezeichnungen 'Metaphysik' und 'Ontologie' bis zu den Namen der einschlägigen philosophischen Einzeldisziplinen wie Logik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre, Anthropologie, Ethik und Ästhetik sowie der Bindestrich-Philosophien Geschichtsphilosophie, Naturphilosophie, Sprachphilosophie, Religionsphilosophie, Staats- und Sozialphilosophie. Natürlich gibt es auch immer wieder Hinweise auf die historische Dimension der Philosophie, so etwa in der einen oder der anderen Prüfungsordnung für das Gymnasiallehrerstudium die Forderung von Veranstaltungen, in denen die Texte bedeutender Philosophen der Tradition behandelt werden sollen. Doch der Tenor, in dem unsere Prüflings- und Studienordnungen abgefaßt sind, ist durchweg vom Geist einer an systematischer Problemlösung orientierten Wissenschaftlichkeit geprägt. Hält man sich nur an den Primat des systematisch orientierten Zugangs zur Philosophie, wie er im Selbstverständnis der meisten heute und in der Terminologie der Prüfungs- und Studienordnungen zum Ausdruck kommt, dann muß man den Eindruck gewinnen, Kants Ideal der Verwissenschaftlichung der Philosophie habe sich nach langen Irrungen und Wirrungen am Ende doch durchgesetzt. Ich bringe die diesbezüglichen - so berühmt gewordenen wie programmatischen - Sätze aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wieder einmal in Erinnerung; zunächst der negative Teil: Der Metaphysik, einer ganz isolierten spekulativen Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt, und zwar durch bloße Begriffe (nicht wie Mathematik durch Anwendung derselben auf Anschauung), wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll, ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte; ob sie gleich älter, als alle übrige, und bleiben würde, wenn gleich die übrigen insgesamt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen werden sollten... In ihr muß man unzählige Male den Weg zurück tun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch so weit davon entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können. Danach der positive Teil, in dem Kant die bekannten Vorbilder im Bereich der Wissenschaften benennt, nach deren Leitfaden die Metaphysik "revolutioniert" werden soll, um ihrerseits den sicheren Gang einer Wissenschaft nehmen zu können: Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, wäre merkwürdig genug, um dem wesentlichen Stücke der Umänderung der Denkart, die ihnen
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so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, so viel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmend Wir wissen, daß Kant mit seiner Ausführung des Programms in der Tat eine epochemachende Revolutionierung der Metaphysik erreicht hat. Wir wissen zugleich auch, daß die erhoffte Verwandlung der Philosophie in eine Lehrbuchwissenschaft nach dem Vorbild der modernen Naturwissenschaften auch durch Kants Revolutionierung nicht eingetreten ist. Unter 'Lehrbuchwissenschaften' verstehe ich Wissenschaften, die wie die meisten Naturwissenschaften und einige Sozialwissenschaften auf jeder Etappe ihrer Theorieentwicklung einen konsensfähigen Kernbestand bewährter Theorien besitzen. Wenn sich dieser Zustand heute als eine angemessene Reformulierung des Kantischen Ideals der Wissenschaftlichkeit generell verstehen läßt, dann muß man zugeben, daß die Philosophie wie die meisten anderen Geisteswissenschaften und ein beträchtlicher Teil der Sozialwissenschaften in ihrem seitherigen Gang auch nach Kant dem Ideal nicht nähergekommen ist. Sie ist nach wie vor der Kampfplatz, der dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können. Wir finden das heute nur nicht mehr so dramatisch, weil die Kriterien für wissenschaftliche Geltung selbst in den 'idealtypischen' Naturwissenschaften nicht mehr von der Strenge sind, die Kant mit seinem Anspruch auf eine im Prinzip unumstößliche Ewigkeitsgeltung praktiziert hat. Spätestens seit der Revolutionierung der Physik durch Plancks Quanten- und Einsteins Relativitätstheorie hat man sich auch in dieser für Methodenfragen 'paradigmatischen' Wissenschaft vom Dogma unumstößlicher Erkenntnisbestände verabschiedet. Trotzdem gilt auch unter den in ihrer Strenge zurückgenommenen Bedingungen, daß bestimmte Theorien mit Grundlagencharakter wie heute etwa Einsteins Relativitätstheorie in der modernen Physik - bis auf weiteres bewährte Lehrbuchwissensbestände darstellen. Obwohl für die Philosophie in all ihren Sparten Ähnliches bis auf den heutigen Tag nicht erreicht werden konnte, stellen wir das Fach heute dennoch gern so dar, als gäbe es ein vergleichbares Wissen. Doch selbst wenn wir Philosophen abstreiten würden, daß es im Fach selber so verstanden wird - wir wissen schließlich selber am besten über die Dominanz des Kampfplatzcharakters in unseren philosophischen Disziplinen Bescheid -, haben wir nichts dagegen, daß im kulturellen Bewußtsein außerhalb des Faches der Eindruck eines Lehrbuchwissensfaches besteht. Denn eben dies ist die Wirkung, die wir in der Philosophie und für die Philosophie heute erzeugen, indem wir uns in unserem Selbstverständnis und über die Fachbezeichnungen der Prüfungs- und Studienordnungen fast ausschließlich als an systematischer Problemstellung orientierte Denker definieren. In Wirklichkeit aber sind die Beziehungen zur großen Tradition der Philosophie im Fach selber wie in all seinen Sparten praktisch wie theoretisch sehr viel enger, als es nach unserem normalphilosophischen Selbstverständnis heute aussieht. Die großen 1
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Werke hgg. v. W. Weischedel, Bd. 3, S. 24f.
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kanonisierten Denker der philosophischen Tradition von Plato und Aristoteles bis Heidegger und Wittgenstein spielen in der akademischen Praxis doch eine erheblich größere Rolle, als es im problembezogen-systematisch orientierten Selbstverständnis von uns Philosophen gegenwärtig zum Ausdruck gebracht wird. Mit der Rolle, die der traditionelle Kanon der Werke der großen Philosophen für das gegenwärtige Philosophieren und die akademische Lehre spielt, ist in erster Linie ersichtlich das Geschäft der Editionen verknüpft. Die allererste Erwartung, die ich an die Editionen und an die Tätigkeit der Editoren knüpfe, ist die, daß sie sich als Treuhandverwalter einer der bedeutendsten intakten Traditionen der abendländischen Kultur verstehen. Wie kein anderes Fach der Geistes- und Geschichtswissenschaften hat die Philosophie einen Kanon der großen Denker und der großen Werke. Dieser Kanon der Philosophie ist unbeschadet der nationalen Verzweigungen der letzten 200 Jahre, die in ihren eigenen Grenzen ihrerseits wieder ihre kanonischen Philosophentraditionen hervorgebracht haben, im Gegensatz zu ehedem ebenfalls kanonischen Traditionen anderer Geisteswissenschaften bis heute nicht erschüttert worden. Keiner im Fach bezweifelt, daß die heutigen Philosophengenerationen - im Massenzeitalter ebenfalls bereits massenhaft - auf den Schultern der großen philosophischen Denker der Tradition stehen, deren Reihe mit Plato und Aristoteles beginnt und die mit nationalen Größen - ich denke bei uns an die schon genannten Heidegger und Wittgenstein - in unserem Jahrhundert endet. Einerseits ist man als Mitglied einer Gruppe von Editoren zwar mit einer eher unspektakulären Tätigkeit befaßt, bei der der persönliche Ehrgeiz und auch die individuellen Wünsche, sich mit dem eigenen Namen zu profilieren, zurücktreten müssen. Andererseits kann man sich jedoch durch das Bewußtsein bestätigen, an der Bewahrung und Aktualisierung einer die Zeiten überdauernden geistigen Geltung mitzuwirken. Ich sage jedoch nichts Neues, wenn ich die Feststellung treffe, daß der Sinn der editorischen Tätigkeit nicht auf der Seite der Zuarbeit zur Alltagspraxis der Universitätsphilosophie liegt. Wir kommen in unseren Seminaren mit den Ausgaben aus, die die Verlage meist als Taschenbücher preiswert anbieten. Wir fragen in der Regel nicht danach, wie weit die Gebrauchsausgaben mit den historisch-kritischen Ausgaben nach den modernsten Editionskriterien abgestimmt sind. Wenn es Kritik an den Buchhandelsausgaben unserer großen Denker gibt - ich weiß es nicht dann sollten die Editoren auf philosophischen Kongressen deutlich damit hervortreten. Ich glaube jedoch, daß die editorische Arbeit, die Arbeit an der Erhaltung des Kanons der philosophischen Tradition, demnächst wieder größere Bedeutung erhält. Um zu erläutern, wie ich es meine, komme ich wieder auf das vorherrschende fachliche Selbstverständnis von uns Philosophen zurück. Ich behaupte, daß wir in der gegenwärtigen Lage der Philosophie zunehmend in eine Situation hineingeraten, in der die Einheit des Faches wie nie zuvor an den großen Werken der Tradition hängt. Einerseits verstehen wir uns als moderne Philosophen entsprechend dem beschriebenen problembezogen-systematischen Selbstverständnis. Andererseits ist es uns nicht gelungen, dem Leitfaden des Kantischen Ideals des "sicheren Gangs der Wissenschaft" folgend, den Status einer 'Lehrbuchwissenschaft' zu erreichen. Überall, wo
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Werner Becker
wir uns heute im Fach und in seinen Disziplinen umsehen, hat sich als Ergebnis jenes 'Einerseits' und dieses 'Andererseits' ein Pluralismus der Unübersichtlichkeit etabliert. In der äußeren Wirkung auf die öffentliche Kultur signalisiert dieser Pluralismus eine durchaus als wohltuend empfundene Entspannung im Vergleich mit den Epochen hinter uns, in denen die Philosophen an den Weltanschauungsfronten in der vordersten Linie zu finden waren. In der Innenwirkung spitzt sich der Pluralismus jedoch nur auf Tagungen der entsprechenden Fachleute zu produktiv ausdiskutierten Gegensätzen in der Sache und interessanten antagonistisch geführten Diskussionen der Probleme zu, auf Tagungen, die meist an landschaftlich schönen, entlegenen Orten stattfinden und schon dadurch dem öffentlichen Interesse meist entgehen. Mit dem Pluralismus der Unübersichtlichkeit meine ich den Zustand, den jeder von uns kennt, obwohl ihn keiner sich und anderen allzu offen einzugestehen getraut: Man findet weder den Zusammenhalt seiner philosophischen Disziplin - vom Fach der Philosophie insgesamt will ich schon gar nicht reden - in der Einheit einer sachlichen Problemstellung, noch ist man heutzutage in der Lage, auch nur im Rahmen seiner philosophischen Disziplin die einschlägigen Veröffentlichungen zu verfolgen. Ich will beides nur kurz aus meiner Sparte, der politischen Philosophie, belegen. Eine Richtung hat sich ganz in der Verlängerung des methodischen Ansatzes von Joseph Schumpeter dem Modelldenken der "Ökonomischen Theorie der Politik" verschrieben. Bei ihr sind zwar das wissenschaftliche Selbstverständnis und Selbstbewußtsein besonders stark ausgeprägt, doch sind hier die Grenzen zwischen philosophischer und ökonomischer Betrachtungsweise kaum noch zu sehen und zu ziehen. Das heißt: Die Philosophen bezahlen die Nähe zu wissenschaftlicher Methodik mit dem Preis der eigenständigen Identität als Fach. Eine andere Richtung ist mehr institutionentheoretisch ausgerichtet und hat Schwierigkeiten, sich von den gleichgelagerten politologischen Ansätzen zu unterscheiden. Auch hier die gleiche Gefahr des Identitätsverlusts. Wieder eine andere Richtung, die dem Kritischen Rationalismus Karl Poppers nahesteht, rechtfertigt ihr philosophisches Politikverständnis methodologisch über Rationalitäts- und Erkenntniskonzepte im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Diskussion. Einige andere wiederum, die den philosophischen Blick aufs Ganze des Politischen nicht preisgeben wollen, verlassen sich auf eine Eigenständigkeit des persönlichen Urteils und äußern sich zum Phänomen des Politischen im Prinzip nicht anders als gute Journalisten, indem sie sich ziemlich eklektisch wissenschaftlicher Theorien und der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen in Politologie, Ökonomie, Soziologie und Geschichtswissenschaften bedienen und mit dem Mut und dem Risiko der individuell-subjektiven Meinung und Erfahrung ganzheitliche politische Thesen formulieren. Nun kann man im Fach heute weder die internen Diskussionen der einzelnen Richtungen über ihre Fachzeitschriften verfolgen, noch kann man die interessanten, häufig durchaus aufregenden Bücher der Einzeldenker des Politischen von Dahrendorf über Habermas bis Lübbe mit konzentriertem Interesse verfolgen. Neben all dem besteht die zusätzliche Verpflichtung, sich mindestens auch im englischsprachigen Bereich der Disziplin einigermaßen auf dem laufenden zu halten. Wer nur in Ansätzen versucht, seinen rezeptiven Pflichten im Fach nachzukommen, kommt nicht dazu, selber etwas aufs Papier zu bringen, zumal wir ja
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unseren Lehrverpflichtungen und den anderen institutionellen Pflichten einer Universität genügen müssen. Es geht, ich bin mir da sicher, keinem aus den anderen Disziplinen und Sparten der Philosophie anders. Besonders eindrucksvoll dokumentiert sich der zeitgenössische Pluralismus der Unübersichtlichkeit unseres Gesamtfachs am Zustand der Disziplin, die den Lehrbuchwissenschaften am nächsten steht, - ich denke an die Wissenschaftstheorie bzw. Wissenschaftslehre. Auch dort gibt es mittlerweile den Pluralismus der Unübersichtlichkeit trotz des Programms, mit dem man einmal in den Fußstapfen des 'Wiener Kreises' angetreten war, die Erkenntnistheorie und die Philosophie im Licht des Kantischen Ideals auf den Boden der 'Lehrbuchwissenschaften' zu stellen. In der Ethik, unserer Modedisziplin, liegen die Dinge genauso. Nun könnte ja für die Philosophie in ihrem heutigen Zustand eintreten, was nach dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern passiert ist, das heißt: daß man uns nackt sieht, nämlich die einen als Fachwissenschaftler - zum Beispiel diejenigen als Ökonomen, die sich im Rahmen des ökonomischen Ansatzes mit Politik befassen, - und die anderen - die Individualisten mit ihrer eigenen persönlichen Note - als die akademischen und deswegen am unabhängigsten denkenden Repräsentanten des allgemeinen politischen und kulturellen Diskurses, eines Diskurses, der in den Medien von Journalisten, Literaten und Politikern bestritten wird. Trotzdem glaube ich nicht, daß der Philosophie in der modernen Ära eines Pluralismus der Unübersichtlichkeit die Gefahr der Aufspaltung in Fachwissenschaft und Jornalismus droht. Ich glaube vielmehr, daß die arbeitsteiligen Spezialisierungstendenzen im Wissenschafts- und Kulturbereich selber ständig dafür sorgen, daß eine objektiver Bedarf an philosophischer Reflexion vorhanden ist. V o n daher sehe ich die Identität unseres Faches nicht bedroht. Nichtsdestoweniger bleibt der Sachverhalt bestehen, dem ich den Namen 'Pluralismus der Unübersichtlichkeit' gegeben habe und den wir dem Umstand verdanken, daß wir es weder als Gesamtfach noch im Rahmen unserer philosophischen Disziplinen zu identitätsstiftenden Lehrbuchwissensbeständen gebracht haben. Stellt man nun beide Tatbestände in Rechnung, dann kann man mit guten Gründen eine Renaissance unserer kanonischen Tradition prognostizieren. Denn wir werden uns aus Gründen der Identitätswahrung wieder mehr im Zeichen der großen Namen der Vergangenheit zusammenfinden müssen. Indizien für die neue Hinwendung zur Tradition der großen Denker gibt es. So traten etwa auf Hegel-Kongressen der letzten Jahre bekannte zeitgenössische Philosophen der analytischen Richtung auf, die von ihren eigenen Ansätzen her nichts mit Hegelischer Metaphysik, Geschichtsphilosophie und dialektischer Methode zu tun hatten. Bei Tagungen im Namen von Spinozas Philosophie versammeln sich diejenigen, die über Toleranz als politischen Grundwert arbeiten. Jeder bedeutende Philosoph des tradierten Kanons hat mittlerweile seine Gesellschaft, die sich für die Pflege seiner Werke und des Gedächtnisses an ihn einsetzt. Von neueren Gesellschaften nenne ich nur die Fichte-, die Frege-, die Wittgenstein-, die Heidegger- und die Jaspers-Gesellschaft. Für die Fachphilosophen liegt ein zentrales Motiv der Mitgliedschaft darin, das eigene systematische Interesse über einen der anerkannt-großen Denker mit dem Kanon der Tradition in Verbindung zu setzen.
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Werner Becker
Wenn meine Behauptung zutrifft, daß wir uns in der Philosophie in einer Phase der zunehmenden Hinwendung zur Tradition befinden, dann bedeutet das erstens, daß die Arbeit derjenigen an Bedeutung gewinnt, die die Treuhänder der Tradition sind, das heißt: die Arbeit der philosophischen Editoren. Zweitens läßt sich auch eine Befürchtung mit der Hinwendung zur Tradition verbinden: die Furcht vor einer Historisierung des Philosophierens. Man braucht jedoch die Befürchtung einer Historisierung des philosophischen Denkens aus zwei Gründen nicht zu hegen. Einmal befördert die Befassung mit den großen Werken gerade in der Philosophie nicht den Biographismus. Wer Plato, Aristoteles, Leibniz und Kant mit Verständnis für begriffliche und theoretische Nuancen zu interpretieren lernt, der lernt systematisches Philosophieren. Auch in früheren Phasen der Hinwendung zur Tradition hat für die Philosophie im Unterschied zu anderen Geisteswissenschaften am wenigsten die Gefahr des historisierenden Biographismus bestanden. Man nehme nur Beispiele aus der Epoche des typologisierenden Denkens um die Jahrhundertwende und danach. Die historische Bildung in Philosophie hat von Max Weber bis Hans Leisegang Entwürfe von Rationalitätskonzepten gefördert, die in systematischer Absicht entwickelt wurden und über die noch heute - von Ernst Topitsch bis Jürgen Habermas - fruchtbare Auseinandersetzungen stattfinden. Zum andern ist es - meiner Kernbehauptung entsprechend - die Reaktion auf den zeitgenössischen Pluralismus der Unübersichtlichkeit, die uns die Bezugnahme auf die kanonische Tradition nahelegt. Es sind mithin Interessen an einer Fokussierung unserer systematischen Diskussionen und nicht genuine, eigenständige Interessen an historisierender Bildung. Der Kanon der Tradition als identitätsbewahrender Ersatz für den Mangel an Lehrbuchwissensbeständen in einer Zeit, in der auch die Fachleute die Übersicht nicht mehr behalten können, - das scheint mir die zutreffende Benennung des Vorgangs zu sein, den ich als neue Zuwendung zur Tradition im Auge habe. Trotzdem will ich zum Abschluß auf eine Gefahr hinweisen, die der philosophischen Tradition vom Pluralismus her droht. Es ist die Gefahr, daß die Tradition selber vom Pluralismus erfaßt wird, indem sie ihren kanonischen Charakter verliert. Tradition ist eine Form anerkannter Geltung kraft geistiger Autorität. Im Rahmen der Philosophiegeschichte geht es von Plato über Kant und Hegel bis Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein um exemplarische Ausformungen geistiger Autorität, in denen die spezifische Art des philosophischen Fragens sowie die spezifischen Methoden zum Ausdruck kommen, die diese Denker bei ihren Antworten benutzt haben. Die spezifischen Antworten selber waren und sind umstritten. Sie sind nicht im selben Maß zu Bestandteilen der geltenden Tradition geworden. Deshalb handelt es sich bei der Tradition der Philosophie nicht um eine Autorität aus Gründen unumstößlicher Erkenntnisse - und insofern also nicht um 'Sachautorität' -, sondern um eine Autorität des intellektuellen Habitus, nämlich der geistigen Entdeckung wie bei Plato und Kant, der umfassenden Systematisierung wie bei Aristoteles und Hegel, der originellen Perspektive wie bei Pascal und Nietzsche oder auch der konsequenten Durchführung eines einzigen Grundmotivs wie bei Descartes und Leibniz. Wenn aber die Tradition großer Philosophie in der Vorbildlichkeit des intellektuellen Habitus liegt, dann ist der Pluralismus, den wir als Bedingung der geistigen Freiheit in der Gegenwart zu
Philosophische
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loben und zu verteidigen haben, diesem Habitus in der Tat nicht förderlich. Denn die Unübersichtlichkeit, die das gegenwärtige Charakteristikum des Pluralismus ausmacht, begünstigt durch die Anonymisierungstendenzen zwar die systematisch-sachliche Ausrichtung unseres fachlichen Selbstverständnisses. Sie begünstigt jedoch eben darum nicht die Seite der philosophischen Tradition, nach der Philosophieren zugleich in der Ausprägung eines persönlichkeitsgetränkten intellektuellen Habitus besteht. Denn im Pluralismus der Unübersichtlichkeit tritt das Subjektiv-Habituelle und das Persönliche des Denkens notgedrungen in den Hintergrund. Vielleicht ist die Situation der Philosophie heute sogar noch dialektischer, als ich sie bisher beschrieben habe. Vielleicht befindet sich das Philosophieren heute in der Lage des Odysseus zwischen Scylla und Charybdis: Der demokratische Zeitgeist des liberalen Pluralismus zwingt uns auf der einen Seite die Versachlichung und das heute vorherrschende sachorientiert-systematische Selbstverständnis auf und als Ergebnis davon jedoch die enttäuschende Konfrontation damit, daß wir dennoch kein Lehrbuchwissensfach sind und werden können. Das die Scylla. Die mit dem Pluralismus zugleich einhergehende Unübersichtlichkeit der Diskussionen treibt uns auf der anderen Seite zum Zweck der Identitätsbewahrung in die Orientierung an unserer Tradition, deren intellektueller Habitus für uns jedoch nicht mehr erreichbar ist, weil er der Habitus das Ganze ergreifender Denkerpersönlichkeiten ist. Das die Charybdis. Ich ziehe mein Fazit: Daß ich sowenig über Erwartungen an die philosophischen Editoren gesagt habe, geht einerseits auf das Konto meiner Unkenntnis der Editionsarbeit und andererseits auf das Konto der Zufriedenheit mit den Ergebnissen, die man in Forschung und Lehre benutzt. Umso mehr Gewicht habe ich auf meine Einschätzung der Wirkung der editorischen Arbeit gelegt: Die philosophischen Editoren leisten mit dem, was sie als Treuhänder der großen Tradition der Philosophie tun - nach meiner Prognose: mit steigender Bedeutung in der Zukunft -, einen sehr wichtigen Beitrag zur Bewahrung der fachlichen Identität der Philosophie in unserer Epoche eines Pluralismus der Unübersichtlichkeit.
Friedrich-Wilhelm
von Herrmann
Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe
1. Erkennbare Wirkungen der bisher erschienenen 40 Bände a) Die Marburger Vorlesungen b) Die frühen Freiburger Vorlesungen c) Die
"Beiträge zur Philosophie",
die geschichtlichen
Vorlesungen
und die
Hölderlin-
Vorlesungen 2. Welche Erwartungen dürfen im Vorblick auf die künftig noch erscheinenden Teile der Gesamtausgabe gehegt werden? a) Die noch ausstehenden Abhandlungen b) Die Aufzeichnungen zu den Seminaren c) Die Hinweise zu bereits veröffentlichten Schriften Schlußbemerkung
Seit Herbst 1975 sind von der mit 100 Bänden veranschlagten Martin-Heidegger-Gesamtausgabe 40 Bände erschienen. Daher gliedere ich meine Ausführungen in zwei Abschnitte und spreche zuerst über erkennbare Wirkungen des bisher Erschienenen und anschließend über die Erwartungen, die im Vorblick auf die künftig noch erscheinenden Teile der Gesamtausgabe gehegt werden können. 1.
Erkennbare Wirkungen der bisher erschienenen 40 Bände
Von den bisher erschienenen 40 Bänden gehören neun der I. Abteilung an, in der die von Heidegger selbst bis zum Beginn der Gesamtausgabe veröffentlichten Schriften versammelt sind. Bei den übrigen 31 Bänden handelt es sich um 30 Bände Vorlesungen aus der II. Abteilung und um einen Band aus der III. Abteilung "Unveröffentlichte Abhandlungen". Das Schwergewicht in der zurückliegenden 16jährigen Editionstätigkeit liegt somit auf der Herausgabe der Vorlesungen, wodurch einer klar geäußerten Anweisung des Autors entsprochen wird. Mit der im Herbst 1973 getroffenen Entscheidung für eine Gesamtausgabe hatte sich Heidegger vor allem zu einer Nachlaß-Veröffentlichung entschlossen. Denn fünf Sechstel der für die Gesamtausgabe vorgesehenen Manuskripte werden erstmals durch die Gesamtausgabe zugänglich gemacht. Die Erwartungen, die sich an diese Ausgabe richteten und weiterhin richten, beziehen sich deshalb vorrangig auf die Erstveröffentlichungen, zumal es sich auch bei der I. Abteilung lediglich um eine Werkausgabe, nicht aber um eine historischkritische Ausgabe handelt.
Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe
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Doch über den Wiederabdruck hinaus werden in den Bänden dieser Abteilung Heideggers Randbemerkungen aus seinen Handexemplaren in Form von Fußnoten abgedruckt. Die Bedeutung dieser Randnotizen läßt sich dreifach gliedern: 1. Verdeutlichungen einer Textstelle auf der Besinnungsebene des Textes, 2. selbstkritische Bemerkungen von einer gewandelten Besinnungsebene her, 3. Grundworte aus dem Ereignis-Denken, die im abgedruckten Text verschwiegen wurden. Zu der Entscheidung, die Veröffentlichung des bisher Unveröffentlichten mit den Vorlesungen beginnen zu lassen, gehört auch der Entschluß, die Vorlesungsabteilung und ihre Veröffentlichung mit den Marburger Vorlesungen anfangen zu lassen. Ich spreche daher zuerst über die Wirkung dieser Vorlesungen, soweit sie bisher erschienen sind. a)
Die Marburger Vorlesungen (1923-1928)
Die zwischen 1975 und 1979 erschienenen fünf von insgesamt zehn Marburger Vorlesungen konnten ihre Wirkung nicht verfehlen, handelt es sich doch bei ihnen um jene Vorlesungen, die die 1922 beginnende Ausarbeitung von "Sein und Zeit" begleiten und zugleich in die Zeit der Bemühung um eine zweite Ausarbeitung des dritten Abschnittes "Zeit und Sein" fallen. Was an Analysen in "Sein und Zeit" in werkmäßig äußerster Verdichtung vorliegt, findet sich in den Vorlesungen in phänomenologischer Breite mit didaktischer Abzielung. Ferner lassen die Vorlesungen sehen, wie alle sachlichen Analysen aus "Sein und Zeit" in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Überlieferung gewonnen sind. Allein diese fünf Marburger Vorlesungen haben zu einer neuen Aneignung des Denkens von "Sein und Zeit" geführt. Umge-
kehrt zeigt ein Vergleich zwischen "Sein und Zeit" und diesen Vorlesungen, daß Vorzug und Stärke jenes Werkes in der systematischen Gestaltung und Architektonik liegen, mit deren Kenntnis wiederum die mehr in didaktischer Absicht ausgearbeiteten Vorlesungen gelesen werden müssen. Aus den sechs veröffentlichen Marburger Vorlesungen ragen zwei heraus, weil sie über die Fortsetzung des 1927 nur als Erste Hälfte veröffentlichten Werkes Auskunft geben. Die wenige Tage nach dem Erscheinen von "Sein und Zeit" (Ende April) Anfang Mai beginnende Vorlesung "Die Grundprobleme der Phänomenologie" ist von Heidegger in der Handschrift als "Neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des I. Teiles von 'Sein und Zeit'" gekennzeichnet.1 Mit ihr begann im November 1975 die Veröffentlichung der Gesamtausgabe als Band 24. Wie jetzt in Band 49 nachzulesen ist, hatte sich Heidegger in den ersten Januartagen 1927 entschlossen, "die bis dahin erreichte Ausarbeitung" von "Zeit und Sein" abzubrechen, weil sie ihm für den Leser als "unverständlich" erschien.2 Gemäß einer im Nachlaß liegenden Aufzeichnung hat 1
2
Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Gesamtausgabe Bd. 24. Hrsg. F.W. v. Herrmann. 2. Auflage 1989. Frankfurt a. M. 1975, S. 1. Heidegger: Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809). Gesamtausgabe Bd. 49. Hrsg. Günter Seubold. Frankfurt a. M. 1991, S. 48f.
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Friedrich-Wilhelm v. Herrmann
Heidegger diese erste Ausarbeitung "vernichtet", "um sogleich auf mehr geschichtlichem Wege" einen neuen Anlauf "in der Vorlesung vom SS 1927" zu machen. Auch wenn der systematische Aufriß dieser Vorlesung und somit der zweiten Ausarbeitung der Thematik von "Zeit und Sein" nicht vollständig ausgeführt ist, so enthält dieser Text doch zum einen im 1. Kapitel des II. Teiles den Aufweis der in der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins gezeitigten horizontalen Zeit als den in der Seinsfrage gesuchten Sinn von Sein überhaupt und zum anderen den systematischen Überblick über die "Grundstrukturen und Grundweisen des Seins", die sich gliedern in die vier aus der Fundamentalfrage entspringenden Grundprobleme der ontologischen Differenz, der Grundartikulation des Seins, der Modifikationen des Seins und des Wahrheitscharakters des Seins. Erst mit der Veröffentlichung dieses Vorlesungstextes findet die in "Sein und Zeit" gestellte Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt ihre entscheidende systematische Antwort. Die Veröffentlichung dieser Vorlesung hätten sich alle, die an "Sein und Zeit" philosophisch interessiert sind, einige Jahrzehnte früher gewünscht. Die als Band 26 erschienene letzte Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1928 "Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz" greift den Zusammenhang der Fundamentalfrage und der vier Grundprobleme wieder a u f 3 und kennzeichnet die temporale Analytik von "Zeit und Sein" zugleich als "die Kehre, in der die Ontologie selbst (Fundamentalontologie) in die metaphysische Ontik (...) ausdrücklich zurückläuft".4 Die metaphysische Ontik, jetzt als Metontologie bezeichnet, ist die im Horizont der ausgearbeiteten Fundamentalontologie auszuführende regionale Ontologie der verschiedenen Seinsbereiche aus dem Seienden im Ganzen. Erst durch die Kenntnis dieser Vorlesung wird jene berühmte Textstelle aus dem "Brief über den Humanismus" (1946) durchsichtig, in der Heidegger die Mitteilung macht, daß der Abschnitt "Zeit und Sein" zurückgehalten wurde, "weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte".5 Wir können diese Kehre die fundamentalontologische Kehre nennen, um sie von jener Kehre zu unterscheiden, die zum EreignisDenken gehört. b)
Die frühen Freiburger Vorlesungen
Die Entscheidung, die Vorlesungs-Abteilung mit den Marburger Vorlesungen beginnen zu lassen, enthielt zugleich die Entscheidung, die frühen Freiburger Vorlesungen (1919-1923) vorerst nicht zu veröffentlichen, ohne daß damit die Aufnahme dieser Vorlesungen in die Gesamtausgabe zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen werden sollte. Von den acht erhaltenen Vorlesungsmanuskripten sind inzwischen vier in drei Bänden erschienen, darunter die erste vom Kriegsnotsemester (Januar bis April 1919) und die letzte vom Sommersemester 1923. Die Marburger Vorlesungen beginnen fast gleichzeitig mit der einsetzenden Ausarbeitung der Ontologie des Daseins 3
4 5
Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Gesamtausgabe Bd. 26. Hrsg. Klaus Held. 2. Auflage 1990. Frankfurt a. M. 1978, S. 171ff. Heidegger 1978, vgl. Anm. 3, S. 201. Heidegger, Brief über den Humanismus. In: Wegmarken. Gesamtausgabe Bd. 9. Hrsg. F.-W. v. Herrmann. Frankfurt a. M. 1976, S. 328
Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe
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und tragen zum Verständnis von Entstehen und Werden von "Sein und Zeit" unendlich viel bei. Die frühen Freiburger Vorlesungen zeigen aber ihrerseits den Weg auf, auf dem der Ansatz für "Sein und Zeit" gewonnen wurde. Hier ist es insbesondere die erste Vorlesung aus dem Kriegsnotsemester, die die Einsatzstelle des eigenständigen Fragens deutlich macht. Schon ihr Titel "Die Idee der Philosophie" zeigt an, daß hier das Wesen der Philosophie und ihrer Fragen prinzipiell neu gefaßt und bestimmt werden soll. Durch eine Radikalisierung des phänomenologischen Grundprinzips Husserls "Alles, was sich in der 'Intuition' originär (...) darbietet, einfach hinzunehmen (...) als was es sich gibt" 6 kommt Heidegger zur Einsicht, daß bereits in die Art, wie Husserl die Erlebnissphäre für ihre phänomenologische Befragung ansetzt, sich der seit den griechischen Anfangen herrschende "Primat des Theoretischen" eingeschlichen hat. 7 Durch diesen aber wird das Erlebnis in seinem vortheoretischen Eigencharakter verdeckt. Daher bedarf es der Philosophie als der hermeneutisch-phänomenologischen Urwissenschaft, die das vortheoretische Leben und seine Erlebnisse in ihrem Eigenwesen aufschließt. Dieses Eigenwesen kennzeichnet Heidegger als "Ereignis", sofern ich selbst das Erleben mir er-eigne. 8 Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern sie aus dem Eigenen leben und Leben nur so lebt". 9 Was hier als Ereignischarakter der Erlebnisse gefaßt wird, ist ein Vorgriff auf das, was schließlich in "Sein und Zeit" der Existenz-Charakter bzw. existenziale Charakter des Besorgens und Fürsorgens genannt wird. Am Beginn seines eigenen Weges steht die Urwissenschaft von den Umwelterlebnissen, die Heidegger in seiner letzten frühen Freiburger Vorlesung zur "Hermeneutik der Faktizität" ausgestaltet hat. 1 0 Diese ist aber nichts anderes als das, was er von nun ab als existenzial-ontologische Analytik des Daseins ausarbeitet, die den Ausarbeitungsweg für die Grundfrage der Philosophie nach dem Sinn von Sein überhaupt bildet. Die Veröffentlichung der frühen Vorlesungen zeigt den eigenen phänomenologischen Weg Heideggers im status nascendi. Nur dadurch, daß dieser Weg beginnt mit der hermeneutisch-phänomenologischen Frage nach dem eigensten Charakter des Erlebens, wurde der neue Leitfaden für die Philosophie und ihre Fragen gewonnen und ließ sich die antike Frage nach dem Wesen des Seienden ursprünglicher fragen: als das Fragen nach dem Sein selbst und seiner Wahrheit. Die Einsicht in den Ereignischarakter der Erlebnisse führte zur Aussicht auf ein ursprünglicheres Wesen des Menschen, ursprünglicher als das Zoon logon echon und das animal rationale, das den Leitfaden auch der Husserlschen Phänomenologie des Bewußtseins bildet. Nur das ursprünglichere Wesen des Menschen denn das vernünftige Lebewesen, nur das Dasein in seiner seinsverstehenden Existenz ermöglichte ein ursprünglicheres Fragen aller überlieferter Grundfragen der Philosophie. 6
7 8 9 10
Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem. In: Zur Bestimmung der Philosophie. Gesamtausgabe Bd. 56/57. Hrsg. B. Heimbüchel. Frankfurt a. M. 1987, S. 109. Heidegger 1987, vgl. Anm. 6, S. 87. Heidegger 1987, vgl. Anm. 6, S. 75. Heidegger 1987, vgl. Anm. 6, S. 75. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). Gesamtausgabe Bd. 63. Hrsg. Käte Bröcker-Oltmanns. Frankfurt a. M. 1988.
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Friedrich-Wilhelm v. Herrmann Die "Beiträge zur Philosophie", die geschichtlichen Vorlesungen und die Hölderlin-Vorlesungen
Die Entscheidung Heideggers, die Nachlaß-Veröffentlichung mit den Vorlesungen beginnen zu lassen, wurde zugleich von der Anweisung begleitet, erst nach Abschluß der Vorlesungs-Abteilung mit der Veröffentlichung aus der III. und IV. Abteilung einzusetzen. Für die III. Abteilung sind vor allem unveröffentlichte Abhandlungen vorgesehen, 14 an der Zahl, von denen drei in Gesprächsform verfaßt sind, ferner ein Band unveröffentlichter Vorträge, der auch eine Reihe von nicht gedruckten Fassungen bereits gedruckter Vorträge enthalten wird, und zwei Vortrags-Reihen. Bis auf eine dieser 14 Abhandlungen gehören sie alle zum zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, dem seinsgeschichtlichen Weg oder Weg des Ereignis-Denkens, der mit den Jahren 1931/32 einsetzt. Die Anweisung, mit der Herausgabe der Abhandlungen aus der III. Abteilung erst nach der Veröffentlichung aller Vorlesungen zu beginnen, begründete Heidegger mit der Bemerkung, daß die Aneignung der Vorlesungen eine sachliche Voraussetzung sei für ein zureichendes Verständnis der Abhandlungen. Nachdem zum Zeitpunkt des 100. Geburtstages Heideggers alle handschriftlich noch vorhandenen Vorlesungen entweder bereits veröffentlicht oder doch wenigstens zur Bearbeitung an die Herausgeber vergeben waren, konnte die unter allen 14 Abhandlungen bedeutsamste im Frühjahr 1989 als erste Veröffentlichung aus der III. Abteilung erscheinen. Es handelt sich um die "Beiträge zur Philosophie", deren Plan in den Grundzügen seit dem Frühjahr 1932 feststand und deren Manuskript zwischen 1936 und 1938 ausgearbeitet wurde. Seitdem dieser Text als Band 65 vorliegt, ist aber ebenso klargeworden, daß seine Kenntnis und denkende Aneignung auch eine Voraussetzung für eine zureichende Aneignung der Vorlesungen der dreißiger und vierziger Jahre ist. Denn die "Beiträge zur Philosophie" nehmen deshalb unter den noch unveröffentlichten Abhandlungen einen herausragenden Rang ein, weil sie "die erste Durchgestaltung der Fuge", d.h. des Gefüges des seinsgeschichtlichen Denkens sind. Wie "Sein und Zeit" den systematischen Aufriß der fundamentalontologisch angesetzten Seinsfrage verzeichnet, so lassen die "Beiträge" den fugenmäßigen Aufriß des Ereignis-Denkens sehen. Allein deshalb sind die "Beiträge" Heideggers zweites Hauptwerk, die für alle folgenden Abhandlungen maßgebende Ausarbeitung der seinsgeschichtlichen Blickbahn, die aus einem immanenten Wandel der fundamentalontologischen Blickbahn gewonnen wurde. Von der ersten "Durchgestaltung der Fuge" unterscheidet Heidegger, wie wir aus den "Beiträgen" erstmals erfahren, die "Heraushebung einzelner Fragen", wie z.B. die Ausarbeitung der Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes, die "auf die gleichmäßige Eröffnung und Durchgestaltung des ganzen Fugenbereiches verzichten" muß. 11 Allein diese knappe Mitteilung ist von unschätzbar erhellender Kraft. Mit einem Schlage erhellt sich die Situation aller nach 1930 verfaßten Vorlesungs-, Vortrags- und Aufsatz-Manuskripte. Sie alle verfolgen einzelne Fragen aus dem Wegfeld 11
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Hrsg. F.W. v. Herrmann. Frankfurt a. M. 1989, S. 59f.
Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe
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des Ereignisdenkens, ohne daß sie selbst dieses Wegfeld in seinem Gefügecharakter sichtbar machen und durchgestalten. Diese Aufgabe fällt erstmals den "Beiträgen" zu. Die Veröffentlichung der "Beiträge" stellt eine Revolution in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Heideggers dar. Weithin ist verstanden worden, daß von den "Beiträgen" her alle Schriften seit dem Anfang der dreißiger Jahre, die von Heidegger selbst veröffentlichten und diejenigen, die erstmals in der Gesamtausgabe erscheinen, neu durchdacht werden müssen, weil die "Beiträge" die Blickbahn thematisch durchgestalten, in der alle jene Schriften verfaßt worden sind. Der Aufriß der "Beiträge" ist die in sechs Fügungen gefügte Fuge der geschichtlichen Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis: der Anklang, das Zuspiel, der Sprung, die Gründung, die Zukünftigen, der letzte Gott. Zu Beginn der zweiten Fügung "Das Zuspiel" erhalten wir die Mitteilung, daß "alle geschichtlichen Vorlesungen" im "Zuspiel" ihren fugenmäßigen Ort haben.12 Denn das "Zuspiel" ist die geschichtliche Besinnung, in der sich die Geschichte des überlieferten Denkens als der erste Anfang und die Möglichkeit des anderen Anfangs zuspielen. Das schließt nicht aus, daß die Vorlesungen auch Gedankenzüge aus den anderen Fügungen enthalten. Bei den "geschichtlichen Vorlesungen" handelt es sich um die Freiburger Vorlesungen der dreißiger und vierziger Jahre, die von Anaximander, Heraklit und Parmenides, von Piaton und Aristoteles, von Descartes und Leibniz, von Kant, Hegel und Schelling und von Nietzsche handeln und deren Veröffentlichung in bisher 16 Bänden weitgehend abgeschlossen ist. Erst von den "Beiträgen zur Philosophie" her wird die verborgene Absicht dieser Vorlesungen sichtbar. Die drei Hölderlin-Vorlesungen (WS 1934/35, WS 1941/42, SS 1942), erschienen als Band 39, 52 und 53, nehmen innerhalb der Vorlesungsreihe eine Sonderstellung ein. Während die Denker von Anaximander bis Nietzsche, denen sich die "geschichtlichen Vorlesungen" widmen, Denker des ersten Anfangs und seiner Geschichte sind, gelten die Hölderlin-Vorlesungen dem Dichter des anderen Anfangs. Auch hier sind es die "Beiträge zur Philosophie", die erstmals sicheren Aufschluß geben über die Stellung, die die Dichtung Hölderlins innerhalb des Gefüges des Ereignis-Denkens einnimmt. Die entscheidende denkerische Erfahrung, die zum Übergang aus dem transzendental-horizontalen Weg in den seinsgeschichtlichen Weg führt, kommt aus der Geworfenheit des geworfenen Seinsentwurfes: Die Geworfenheit wird hermeneutischphänomenologisch erfahren als das Ereignetsein aus einem ereignenden Zuwurf und Zuruf. Damit wird der Seins-Horizont des transzendierenden Seinsentwurfs zurückgenommen in den geschichtlich ereignenden Zuwurf. Das zum fundamental-ontologischen Weg gehörende Bezugs-Verhältnis von Transzendenz und Horizont wandelt sich immanent in den Bezug des ereignenden Zuwurfs zum ereigneten Entwurf und in das Verhältnis des ereigneten Entwurfs zum ereignenden Zuwurf. Das Ganze dieses Verhältnisses und jenes Bezuges nennt Heidegger "das Ereignis". Das Ereignis selbst ist der Gegenschwung von ereignetem Seinsentwurf und ereignendem Zuwurf, und dieser Gegenschwung ist die "Kehre im Ereignis".
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Heidegger 1989, vgl. Anm. 11, S. 167 und 169.
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Von diesen den Wesensbau des Ereignisses bildenden Bezügen und Zusammenhängen her hellt sich auf, was der späte Heidegger in den Korrespondenz-Wendungen wie "Anspruch und Entsprechen" oder "Gegnet und Gelassenheit" und anderen denkt: Nichts anderes als das Ereignis, das aber kein mystischer oder ostasiatischer Gedanke, sondern ein hermeneutisch-phänomenologisch erfahrenes und gedachtes Strukturgefiige ist. Der Einblick in das Zusammengehören von Wahrheit des Seyns und Dasein gelang im Herkommen aus der transzendental-horizontalen Blickbahn der Fundamentalontologie. In diese Blickbahn konnte aber das Denken nur deshalb einschwingen, weil es einsetzte mit der hermeneutisch-phänomenologischen Frage nach dem vortheoretischen Eigencharakter der Er-lebnisse. Damit zeichnet sich trotz immanenter Wandlungen oder "Umkippungen", wie Heidegger sie genannt hat, ein einheitlicher Grundzug auf dem Denkweg von 1919 bis 1976 ab. 2.
Welche Erwartungen dürfen im Vorblick auf die künftig noch erscheinenden Teile der Gesamtausgabe gehegt werden?
Die Erwartungen, von denen hier die Rede sein soll, erstrecken sich auf die künftigen Veröffentlichungen innerhalb der III. und IV. Abteilung. Auch diesen Abschnitt gliedere ich dreifach. a)
Die noch ausstehenden Abhandlungen der III. Abteilung
Die "Beiträge zur Philosophie" stehen zu vier weiteren Abhandlungen in einer besonderen Nähe. Die Titel dieser Abhandlungen lauten: "Besinnung" (1938/39), "Über den Anfang" (1941), "Das Ereignis" (1941/42) und "Die Stege des Anfangs" (1944). In jeder dieser vier zeitlich aufeinander folgenden Abhandlungen wird über die vorangehenden Durchgestaltungen hinaus ein neuer Anlauf unternommen, das Gefüge des erstmals in den "Beiträgen" durchgestalteten Ereignis-Denkens darzustellen. Doch in jedem dieser neuen Anläufe wird die erstmals in den "Beiträgen" durchgestaltete Blickbahn grundsätzlich beibehalten. Deshalb kann Heidegger 1962 rückblickend sagen: "Die den Wesensbau des Ereignisses ausmachenden Bezüge und Zusammenhänge sind zwischen 1936 und 1938 ausgearbeitet worden".13 Aber keine der genannten vier Abhandlungen versteht sich als Abschluß, weil das seinsgeschichtliche Denken von seiner Sache her wesenhaft unabschließbar ist. Diese fünf Abhandlungen, die wir ihrer besonderen Zusammengehörigkeit wegen als Pentalogie bezeichnen können, bilden zweifellos die Mitte der in der III. Abteilung zur Veröffentlichung gelangenden Abhandlungen und Schriften. b)
Die Aufzeichnungen zu den Seminaren
In dem von Heidegger für die IV. Abteilung gewählten Titel "Aufzeichnungen und Hinweise" beziehen sich die "Aufzeichnungen" vor allem auf diejenigen zu den Seminaren bzw. Übungen. Von diesen z.T. äußerst umfangreichen Aufzeichnungen sagt Heidegger selbst, daß sie "in ganz verschiedener Ausführlichkeit wichtigste Ergänzungen, sei es zu den Vorlesungen, sei es zu den eigentlichen Arbeiten am Werk" 13
Heidegger, Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, S. 46.
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enthalten. Um einen Einblick in die Vielfalt und Breite dessen zu geben, was in den Seminar-Bänden der IV. Abteilung erwartet werden darf, nenne ich die wichtigsten Themenbereiche: Piatons "Phaidros" (SS 1932), der Satz vom Widerspruch bei Aristoteles (SS 1933), die Zeit-Untersuchung Augustins (WS 1930/31), Leibnizens Monadologie (WS 1935/36), Kants transzendentale Dialektik und praktische Vernunft (WS 1931/32), Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft (SS 1936), Schillers philosophische Schriften über die Kunst (WS 1936/37), Schelling und der deutsche Idealismus (zwischen 1941 und 43), Hegels Phänomenologie des Geistes, Hegels Rechtsphilosophie (1934/35), Herders Sprachphilosophie (SS 1939), Nietzsches metaphysische Grundstellung (SS 1937), die metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens (WS 1937/38). Der Aufzeichnungscharakter dieser im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Seminare entstandenen Manuskripte bringt es mit sich, daß an ihre Edition noch einmal besondere Anforderungen gestellt werden. c)
Die Hinweise zu bereits veröffentlichten Schriften
Was im Titel der IV. Abteilung als "Hinweise" angezeigt wird, bezieht sich auf eine Gruppe von Manuskripten, in denen sich Heidegger sowohl während des Übergangs aus der fundamentalontologischen in die seinsgeschichtliche Blickbahn als auch im späteren Rückblick vor allem mit "Sein und Zeit" und mit "Vom Wesen des Grundes", also mit den Grundschriften des fundamentalontologischen Weges, immanent auseinandersetzt. Diese Manuskripte sind zum überwiegenden Teil in den "Beiträgen zur Philosophie" erwähnt. Bei diesen handelt es sich im wesentlichen um die "Laufenden Anmerkungen zu 'Sein und Zeit'" (1936), um die "Anmerkungen zu 'Vom Wesen des Grundes'" (1936), ferner um das Manuskript "Eine Auseinandersetzung mit 'Sein und Zeit'" (1936), die Heidegger auch als seine "Selbstkritik" bezeichnet hat, und "Der Weg. Der Gang durch 'Sein und Zeit'" (Anfang der vierziger Jahre). Alle diese "Hinweise" auf "Sein und Zeit" und "Vom Wesen des Grundes", in denen Heidegger die transzendental-horizontale Blickbahn der Seinsfrage durch immanente Auseinandersetzung ins Verhältnis zur seinsgeschichtlichen Blickbahn setzt, werden in einem Band vereinigt, mit dem die IV. Abteilung eröffnet werden soll. Schlußbemerkung Mit dem Erscheinungsbeginn der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe hat eine neue Zuwendung zum Denken Heideggers eingesetzt, die bis zum heutigen Tage anhält. Ein sichtbares Zeichen für die weltweite Wirkung, die von der jährlich um zwei Bände anwachsenden Ausgabe ausgeht, waren die weit über hundert veranstalteten internationalen Symposien anläßlich des 100. Geburtstages Heideggers. Und aus dieser kaum überschaubaren Reihe ragt wiederum das von der Alexander-von-HumboldtStiftung durchgeführte einwöchige Symposion heraus, an dem 120 Stipendiaten aus 33 Ländern teilnahmen, um sich in ein Gespräch "Zur philosophischen Aktualität Heideggers" einzulassen. Die weltweite Wirkung der Nachlaßveröffentlichung spiegelt sich in großer Anschaulichkeit wider in den von Otto Pöggeler in drei Bänden verei-
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nigten und herausgegebenen Beiträgen dieses größten Symposion, das bisher zum Denken Heideggers veranstaltet wurde.14 Erst durch das Erscheinen der Gesamtausgabe wird das Gefüge der inneren Bezüge und Zusammenhänge sichtbar, die alle Schriften Heideggers und somit auch jene, die er selbst veröffentlicht hat, durchziehen.
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D. Papenfuß u. O. Pöggeler (Hrsg.), Zur Philosophischen Aktualität Heideggers. Symposium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung v. 24. - 28. April 1989 in BadGodesberg. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1990ff. Band 1: Philosophie und Politik (1991); Band 2: Im Gespräch der Zeit (1990); Band 3: Im Spiegel der Welt: Sprache, Übersetzung, Auseinandersetzung (1992).
Fokke Akkerman
Was ist von einer neuen Spinoza-Edition zu erwarten?!
Spinoza nimmt in der Geschichte der Philosophie einen besonderen Platz ein. Sein Einfluß auf spätere Generationen von Philosophen ist schwer zu bestimmen, sein Denken hat sich in dem Strom der philosophischen Entwicklungen nicht aufgelöst, vielmehr ist es wie ein zeitlos funkelnder Edelstein am Ufer liegen geblieben.2 Dabei ist Spinoza in bestimmten Zeiten und Kreisen auf sehr großen Widerstand gestoßen, hat aber andererseits einen unwahrscheinlich großen Kreis von Lesern und Bewunderern bis weit außerhalb des eigentlich philosophischen Betriebes um sich versammelt. Diese besondere Stellung Spinozas in der Philosophiegeschichte hat dann auch eine entsprechende Geschichte der Edition und Übersetzung seiner Texte mit sich gebracht. Weil Spinoza noch Lateinisch schrieb und auch einige Stücke in niederländischer Sprache auf uns gekommen sind, ergab sich die Notwendigkeit, sowohl zu seiner Zeit als auch später, sein Werk zu übersetzen. Schon im 17. Jahrhundert gibt es Übersetzungen ins Niederländische, Französische und Englische, und vom Anfang des 19. Jahrhunderts an sind die Bücher Spinozas einzeln oder sämtlich immer wieder übersetzt worden, in jüngster Zeit in praktisch alle Kultursprachen der Welt. Ebenfalls vom Anfang des 19. Jahrhunderts an sind die lateinischen und niederländischen Originaltexte in einer Reihe von neuen Drucken oder Editionen erschienen. Und da seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts das Interesse für Spinoza, nach einem relativen Rückgang in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit, wieder gewaltig zugenommen hat,3 ist auch allmählich die Übersetzungs- und Editionstätigkeit wieder in Gang gekommen. Jetzt wurden aber auch die lange als genügend oder sogar als definitiv betrachteten Editionen von Van Vloten-Land und Gebhardt von neuem kritisch geprüft, und es mußte festgestellt werden, daß sie die Anforderungen, die man heute an eine gute Textedition stellen muß, nicht mehr erfüllen können.4
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Ich möchte Herrn Prof. S.L. Radt herzlich danken für seine freundliche Hilfe bei der sprachlichen Gestaltung dieses Aufsatzes und Piet Steenbakkers für seine kritischen Bemerkungen zu einer ersten Fassung. Siehe C. Wilson: Spinoza, the outsider. In: S. Hessing (Ed.), Speculum Spinozanum. London 1977, S. 525-542. Für die Jahre 1971-1983 verzeichnen Theo van der Werf, Heine Siebrand und Coen Westerveen 2265 Veröffentlichungen über Spinoza: Α Spinoza Bibliography 1971-1983. Leiden 1984 (Mededelingen XLVI vanwege het Spinozahuis). Siehe F. Akkerman, Studies in the Posthumous Works of Spinoza. On style, earliest translation and reception, earliest and modern edition of some texts. Groningen 1980. S.
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Deshalb hat sich vor einigen Jahren eine Gruppe Spinozisten vereinigt, die sich zum Ziel setzte, alle Schriften Spinozas in einer neuen zweisprachigen Edition herauszubringen, die lateinischen und niederländischen Originaltexte mit französischen Übersetzungen. Diese 'Groupe de Recherches Spinozistes' zählt etwa fünfzehn Teilnehmer und steht unter der Leitung von Pierre-Francois Moreau (Paris), der zusammen mit Jacqueline Lagree (Caen) die Initiative ergriffen hatte. Der Fachausdruck 'historisch-kritische Edition' kann nicht als eine Zauberformel gelten, die immer dasselbe Arbeitsverfahren und dieselben Resultate decken muß. Die Entscheidungen, die man treffen muß, hängen von den verschiedensten Gegebenheiten ab, so daß man fast sagen könnte, jede Ausgabe sei ein Sonderfall. Ich will nun erstens auf die besondere Art der Spinoza-Schriften und ihre Überlieferungsgeschichte eingehen, danach auf unsere Prinzipien und Methoden und zum Schluß noch etwas über die Aussichten der ganzen Unternehmung sagen. Spinoza hat eine kleine Anzahl abgeschlossener, vollendeter Bücher und Aufsätze geschrieben, die eine klare, zielsichere Struktur aufweisen, sauber gearbeitet und auch sorgfältig gedruckt worden sind. Das gilt für sein Anfangswerk Principia philosophiae Renati Descartes, zusammen mit der Appendix continens Cogitata metaphysica gedruckt im Jahre 1663, ferner für seinen Tractatus theologico-politicus, gedruckt im Jahre 1670, und ebenso für die Ethica, die 1675 für den Druck fertig war, aber dann umständehalber erst nach dem Tode des Autors im Jahre 1677 gedruckt worden ist. Dasselbe gilt eigentlich auch noch für den Tractatus politicus, der zwar beim Tode des Philosophen noch nicht vollendet war, dessen Vollendung und dessen Inhalt er aber ganz genau geplant und den Freunden in einem Brief mitgeteilt hatte.5 Es ist natürlich so, daß in den beiden letztgenannten Fällen die Freunde das Werk für den Druck fertiggestellt haben; aber es sind eben dieselben Männer - Jarig Jelles, Lodewijk Meyer und Jan Rieuwertsz -, die auch schon die früheren Bücher mitbesorgt hatten und die Spinoza immer gerne für Herausgeberarbeiten zur Hilfe herangezogen hatte. Was die überlieferte Korrespondenz betrifft, so kann man hier klar feststellen, daß Spinoza viele dieser Briefe wie richtige Aufsätze geschrieben hat; einige dieser haben in einer von den Freunden sprachlich und stilistisch verbesserten Form als Manuskripte unter Interessierten zirkuliert und sind dann später, vielleicht nochmals etwas überarbeitet, von den Freunden in den Opera posthuma abgedruckt worden.6 Überall, wo man ihre Hand spüren kann, handelt es sich um sprachliche, stilistische oder editionstechnische Kleinigkeiten, niemals um unerlaubte inhaltliche Eingriffe, sieht man einmal davon ab, daß die Freunde natürlich darüber entscheiden mußten, welche Texte sie in die Opera posthuma aufnehmen wollten.7 Es ist evident, daß ihnen unsere modernen philologischen Kriterien weitgehend fremd gewesen sind
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auch F. Akkerman 1977, vgl. Anm. 6, und die in Anm. 11 angeführten Veröffentlichungen. Spinoza, Epistola 84, vermutlich an Jarig Jelles. Siehe F. Akkerman: Vers une meilleure edition de la correspondance de Spinoza. In: Revue internationale de philosophic 119-120 (1977) S. 1-26; auch in: F. Akkerman 1980, vgl. Anm. 4, S. 37-59. So nahmen sie nicht alle Briefe auf, die sie vorfanden; auch strichen sie bisweilen Namen und Teile von Briefen, die ihnen unwichtig vorkamen.
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und daß sie,wie auch die Setzer, Fehler gemacht haben können. Da nun die meisten Schriften Spinozas nur in diesen ausgefeilten lateinischen Editionen des 17. Jahrhunderts überliefert sind, für die es keine Handschriften gibt, und da es keine vom Autor revidierten weiteren Neuauflagen gibt, ist damit auch das wichtigste Prinzip einer neuen Ausgabe gegeben: Wir werden so getreu wie immer nur möglich die ersten, einzig authentischen Quellentexte herausgeben. Darüber gleich noch etwas mehr. Diese für einen Herausgeber nahezu ideale Lage ist nun doch in dreierlei Weise kompliziert: 1. Erstens durch die Existenz der alten niederländischen Übersetzungen der Schriften Spinozas. Das Leserpublikum in Holland, für das er in erster Linie schrieb, war durchaus geprägt von den universitären Schulrichtungen in Philosophie, Wissenschaft und Theologie, aber dennoch zu einem großen Teil auch wieder nicht so gründlich gebildet, daß es lateinische Bücher ohne weiteres hätte lesen und diskutieren können. Dieser intellektuelle Zustand erklärt die überaus große Übersetzungsaktivität in den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 8 Es war auch in dem kleinen Umkreis von Freunden und Schülern Spinozas einfach eine Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit, daß alles, was er schrieb und was anfangs nur handschriftlich zirkulierte und gelesen wurde, schon sehr bald, bisweilen sofort ins Niederländische übersetzt wurde. Der Philosoph wußte davon, er war damit einverstanden, es wurde mit ihm darüber gesprochen; und somit ist es durchaus möglich, daß er hier und da auf diese Übersetzungen Einfluß genommen hat. 9 Man muß daher auch diese für eine neue Ausgabe sicherlich berücksichtigen. Eine seiner Schriften, die Körte Verhandeling van God, de Mensch en deszelvs Welstand, ist ja auch nur in einer solchen frühen Übersetzung, und zwar nur handschriftlich, auf uns gekommen. Aber es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß Spinoza an diesen Übersetzungen aktiv beteiligt gewesen wäre, daß er Briefe, die er in Niederländisch geschrieben hatte, selbst ins Lateinische übersetzt hätte oder daß die niederländischen Texte als frühere Fassungen oder als zweite Auflage seiner philosophischen Auseinandersetzungen zu betrachten wären. 10 Es ist dieses Miß8
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Der bekannte Spinoza- und Descartesübersetzer Jan Hendrik Glazemaker übersetzte 65 Bände; der von der Universitätsbibliothek Amsterdam 1982 veröffentlichte Katalog seiner Werke zählt 123 Nummer: Glazemaker 1682-1982. Catalogue bij een tentoonstelling over de vertaler Jan Hendriksz Glazemaker in de Universiteitsbibliotheek van Amsterdam. Amsterdam 1982. Über ihn und sein Werk s. auch F. Akkerman: J.H. Glazemaker, an early translator of Spinoza. In: Spinoza's political and theological thought. International Symposium under the Auspices of the Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences commemorating the 350th Anniversary of the Birth of Spinoza. Amsterdam 24-27 November 1982, ed. by C. de Deugd. Amsterdam, Oxford, New York 1984, S. 23-29. Spinoza schreibt über Übersetzen in Ep. 21 (am Schluß, über die Principia philosophiae Renati Descartes), in Ep. 28 (Ethica) und in Ep. 44 (Tractatus theologico-politicus). Zu den niederländischen Übersetzungen als früheren Fassungen s. Spinoza Opera. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Carl Gebhardt. Heidelberg 1925, 21972, Bd. II, S. 315-317; 340-345. S. dazu F. Akkerman 1980, vgl. Anm. 4, S. 95-101 und passim. Zum niederländischen Text als eine zweite Auflage s. Spinoza Opera, Bd. I, 611-613; ferner: Spinoza: Körte Geschriften, bezorgd
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Verständnis, das die Edition von Carl Gebhardt, vor allem die der Ethica und der Briefe, teilweise verdorben hat. 2. Eine zweite Komplikation kommt aus denjenigen Schriften, die vom Autor nicht zu Ende gefuhrt worden sind und schließlich von ihm auch nicht in der überlieferten Form für den Druck bestimmt worden waren. Ich denke an die schon genannte Körte Verhandeling und an den Tractatus de intellectus emendatione.11 Und schließlich gibt es dann auch noch die zwei kleinen Schriftchen über den Regenbogen und über die Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren Authentizität im Jahre 1983 von Dr. J.J.V.M. de Vet aus Nijmegen mit schwerwiegenden Argumenten geleugnet worden ist, was dann zu heftigen Diskussionen Anlaß gegeben hat. 12 3. An dritter Stelle bildet die Korrespondenz insofern eine Schwierigkeit, als von einer Anzahl von Briefen mehr als eine Fassung, manchmal sogar drei, handschriftlich und im Druck, lateinisch und holländisch überliefert sind: Das gibt Probleme für den Herausgeber, übrigens keine anderen als die, welche man auch bei anderen Korrespondenzen und Autoren aus früheren und späteren Zeiten kennt. Ich kann hier natürlich nicht genauer auf die Editionsgeschichte der Werke Spinozas in der neueren Zeit eingehen. Obwohl es in den letzten zwei Jahrhunderten eine beträchtliche Anzahl von Editionen und Übersetzungen seiner Texte gegeben hat, kann man leider nicht sagen, daß sie ein entsprechendes Wachstum an philologischer Genauigkeit oder Bereicherung unserer Kenntnis der Texte aufweisen. Nur ein paarmal hat es Ansätze zu wirklich neuen und originellen Untersuchungen gegeben. Vielleicht konnte man von der ersten vollständigen Ausgabe in moderner Zeit, von der von Paulus (1802-1803) besorgten, noch keine wirklich kritische Leistung erwar-
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door F. Akkerman, H. G. Hubbeling, F. Mignini, M.J. Petry, N. en G. van Suchtelen. Amsterdam 1982, S. 20-21. Für die Körte Verhandeling s. Spinoza: Körte Verhandeling. Breve Trattato, introduzione, edizione, traduzione, commento di Filippo Mignini. L'Aquila: Japadre 1986 (Methodos. Collana di studi filosofici diretta da E. Berti, 13). Über den Tractatus de intellectus emendatione s. F. Mignini: Per la datazione e l'interpretazione del Tractatus de intellectus emendatione di B. Spinoza. In: Cultura 17 (1979) S. 87-160. F. Mignini: Nuovi contributi per la datazione e l'interpretazione del Tractatus de intellectus emendatione. In: Spinoza nel 350° anniversario delle nascita. Atti del congresso internazionale Urbino 4-8 ottobre 1982, ed. E. Giancotti Boscherini. Napoli 1984. F. Mignini: Donnees et problemes de la Chronologie spinozienne entre 1656 et 1665. In: Revue des Sciences philosophiques et theologiques 71 (1987) n° 1, S. 9-22. F. Akkerman: La latinite de Spinoza et l'authenticite du texte du Tractatus de intellectus emendatione ebd. S. 23-29. Der Tractatus politicus und das Compendium grammatices linguae Hebraeae haben einen anderen Status als die zwei genannten Werke, weil sie nicht vom Autor verworfen (KV) oder ihm fraglich geworden waren (TIE), sondern einfach nicht vollendet sind. J.J.V.M. de Vet: Was Spinoza de auteur van "Stelkonstige Reeckening van den Regenboog" en van "Reeckening van Kanssen"? In: Tijdschrift voor Filosofie 45 (1983), S. 602-639. J.J.V.M. de Vet: Spinoza's authorship of Stelkonstige Reeckening van den Regenboog and of Reeckening van Kanssen once more doubtful. In: Studia Spinozana 2 (1986), S. 267-309. Spinoza's Algebraic calculation of the rainbow & Calculation of chances. Ed. and transl. with an introd., explanat. notes and an append, by M.J. Petry. Dordrecht, Boston, Lancaster, 1985 (International archives of the history of ideas, 108).
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ten. 13 Paulus hat überhaupt nicht daran gedacht, dieselben kritischen Maßstäbe anzulegen, die die Altphilologen damals schon entwickelt hatten und die schon 1745 zu der ersten historisch-kritischen Edition innerhalb der deutschen Literatur geführt hatten. 14 Er ließ einfach die alten Bücher aufs neue setzen, verbesserte gelegentlich evidente Druckfehler (vergaß aber, die Liste der corrigenda in den Opera posthuma zu berücksichtigen!), machte auch selber wieder neue und erlaubte sich einige Freiheiten, die wir uns heute nicht mehr gestatten würden. Gfroerer (1830) hat keine eigenen kritischen Arbeiten angestellt; 15 Bruder (1843-1846) las die alten Editionen aufs neue genau durch. 1 6 Von ihm stammen somit eine ganze Reihe von Vorschlägen für bessere Lesarten, aber er wiederholte auch sonderbare Fehler, die Paulus gemacht hatte, so z.B. im Schol. zu Eth. V, Prop. 33, wo Paulus statt Mens irrtümlicherweise Metus liest und Bruder den Fehler auch wieder in seinem Text hat. 1 7 Die Ginsbergsche Ausgabe (1875-1882) sollte man besser vergessen. Sie ist nicht viel mehr als ein Plagiat von Bruder und macht zudem aus Nachlässigkeit noch zahlreiche zusätzliche Fehler. 18 Die erste vollständige Edition, die heute noch Beachtung verdient, ist die von Van Vloten und Land (1882-1883). 19 Die Herausgeber verzeichnen die Korrekturen, die sie im Text anbringen, in Fußnoten; damit bieten sie ansatzweise einen kritischen Apparat. In ihrer Einleitung gehen sie ausführlich auf die Textgeschichte ein, und sie entwickelten soviel Verständnis für die verschiedenen Fassungen der Briefe, daß sie in einer Reihe von Fällen zwei Fassungen abdrucken lassen. Damit geben sie die Möglichkeit zum Vergleich und zu weiteren Untersuchungen. Zudem hat Land, der die eigentliche philologische Arbeit geleistet hat, noch drei Aufsätze geschrieben, worin er die Überlieferungsgeschichte, Textprobleme und das Latein Spinozas behandelt. 20 Damit hat Land einer Textphilologie für Spinoza auf die Beine geholfen, die 13 14 15
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Benedicti de Spinoza Opera quae supersunt omnia. Ed. H.E.G. Paulus. 2 Bde. Ienae: in bibliopolio academico, 1802-1803. S. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billman. Darmstadt 1990, S. 40f. Benedicti de Spinoza Opera philosophica omnia. Ed. A. Gfroerer. Stuttgardiae: typis I. B. Metzleri, 1830 (Corpus philosophorum optimae notae, qui ab restauratione litterarum ad Kantium usque floruerunt. 3. Scripta Spinozae philosophica omnia continens). Benedicti de Spinoza Opera quae supersunt omnia. Ed. C.H. Bruder. 3 Bde. Lipsiae: Tauchnitz, 1843-1846. Auch Riedel und Ginsberg haben im 19. Jh. diesen Fehler nicht bemerkt. Spinozae Opera philosophica im Urtext. Ed. H. Ginsberg. 4 in 5 Bdn. Leipzig: E. Koschny (Bde I-III) & Heidelberg: G. Weiss (Bd IV), 1875-1882. Benedicti de Spinoza Opera quotquot reperta sunt. Ed. J. van Vloten & J.P.N. Land. 2 Bde. Hagae Comitum: M. Nijhoff. 1882-1883; editio altera, 3 Bde. 1895; editio tertia, 4 in 2 Bde, 1914. Eine Separatausgabe der Ethica in: Benedicti de Spinoza Ethica ordine geometrico demonstrata, ex editione Operum quotquot reperta sunt quam curaverunt J. van Vloten et J.P.N. Land seorsum repetita. [Ed. W. Meijer]. Hagae Comitis: M. Nijhoff, 1905, 21914. J.P.N. Land: Over de eerste uitgaven der brieven van Spinoza. In: Verslagen en mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, afdeeling letterkunde, tweede reeks, negende deel. Amsterdam: Müller, 1880, S. 144-155.- J.P.N. Land: Over de uitgaven en den text der Ethica van Spinoza. In: Verslagen en mededeelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, afdeeling letterkunde, tweede reeks, elfde deel. Am-
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dann sehr wesentlich weiterentwickelt worden ist von Jan Hendrik Leopold in einem kleinen Büchlein von 92 Seiten (1902), lateinisch geschrieben, das zu einem Drittel Spinozas Latein behandelte und zu zwei Dritteln der Textkritik gewidmet war. 2 1 Leopold zeigte auf, wie weit die Edition von Van Vloten und Land noch vom idealen Ziel entfernt war, wie weit sie, wie er es 1903 nochmals formulierte, praktisch noch hinter jeder Edition, sogar des geringsten klassischen Autors zurückstand. 22 Leopold war ein Altphilologe, gründlich im Fach geschult an der Universität von Leiden. Er hat dann später, im Jahre 1905, nochmals in ein paar schlichten Sätzen die Anforderungen formuliert, denen eine wirklich gute Edition von Spinoza entsprechen sollte. 23 In dieser Richtung und auf diesem Niveau hätte die Editionsarbeit in der großen fünfbändigen Ausgabe der Heidelberger Akademie weitergeführt werden sollen. Aber das ist leider nicht geschehen. Ich habe schon früher Kritik geübt an der Edition von Gebhardt und wiederhole hier nur einige Punkte. 24 1. Die oben schon erwähnten MißVerständnisse über die Beziehungen zwischen den lateinischen Texten und den niederländischen Übersetzungen, die übrigens auf Lands Ansichten zurückgehen und die auch Leopold nicht zu beseitigen gewußt hatte, haben Gebhardt dazu verführt, namentlich in der Ethica und in den Briefen kontaminierte Texte hervorzubringen, wie sie heute nicht mehr erlaubt sind. 25 Es kommt hinzu, daß seine Edition des Briefwechsels oftmals die falsche Version als die am meisten authentische ausgibt. 26 2. Gebhardt wußte nicht, wie man einen kritischen Apparat verfaßt. Seine Noten zur Textgestaltung sind dadurch weitschweifig und enthalten auch zu viel Stoff heterogener, z.B. sprachlicher Art, der in einem kritischen Apparat nicht am Platze ist; und dies ist wieder verursacht durch ein ungenügendes Verständnis für das Latein des 17. Jahrhunderts im allgemeinen und Spinozas Sprachgebrauch im besonderen. Auch war Gebhardts Vertrautheit mit dem Niederländischen nicht groß genug. 3. Man muß feststellen, daß Gebhardt die Arbeitsmethoden, die er sich zur Auflage gemacht hatte, nicht geduldig bis zum Ende durchzuführen wußte, daß seine Texte zu viele Fehler verschiedener Art enthalten und daß er weder textkritisch noch textlich
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sterdam: Müller, 1882, S. 4-24.- J.P.N. Land: Over vier drukken met het jaartal 1670 van Spinoza's Tractatus theologico-politicus. Ebd., S. 148-158. J.H. Leopold: Ad Spinozae Opera posthuma. Hagae Comitis: Μ .Nijhoff, 1902; über Leopold und Spinoza s. F. Akkerman: Leopold en Spinoza. In: Ontroering door het woord. Over J.H. Leopold. Redactie P.M.Th. Everard, H. Hartsuiker. Groningen 1991, S. 13-47. J.H. Leopold: Brieven van Spinoza. In: De Nederlandsche Spectator 1903, no. 43, 24 October, Sp. 340. J.H. Leopold in einer Rezension der Separatausgabe der Ethica, s. Anm. 19. In: Museum. Mandblad voor Philologie en Geschiedenis 13,4 (Januari 1906), Sp. 146f. Siehe F. Akkerman 1977, vgl. Anm. 6; F. Akkerman: L'edition de Gebhardt de l'Ethique de Spinoza et ses sources. In: Raison presente (Nouvelles editions rationalistes, Paris) no. 43 (1977), S. 37-51; F. Akkerman 1980, vgl. Anm. 4. F. Akkerman 1987, vgl. Anm. 11. H. Kraft 1990, vgl. Anm. 14, S. 43, 46. F. Akkerman 1977, vgl. Anm. 6; ders., 1980, vgl. Anm 4, S. 37-59.
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die Informationen bietet, die Leopold schon 1905 als absolut erforderlich bezeichnet hatte. Die späteren Editionen der lateinischen Texte (oder auch die früheren, die dann später nach Gebhardt verbessert wurden) haben zwar mehr oder weniger von Gebhardts Ausgabe Abstand genommen und mehr oder weniger Fehler verbessert, aber sie stützen sich doch alle weitgehend auf sie. 27 Aber nun zur Frage: Was ist von einer neuen Spinoza-Edition zu erwarten? In erster Linie: eine textkritische Ausgabe der Quellentexte. In der Neuausgabe der Ethica, die Piet Steenbakkers und ich übernommen haben, werden wir den Text den Opera posthuma von 1677 entnehmen und daran so wenig wie möglich ändern. Wir wissen, daß die alte niederländische Übersetzung eine Anzahl interessanter Varianten bietet, zumal in den ersten zwei Teilen, und wir werden diese in einem Apparat am Fuß der Seite in der ursprünglichen Sprache verzeichnen. 28 Aber wir werden diesen Apparat streng getrennt halten vom kritischen Apparat, ebenfalls am Fuß der Seite, weil wir diese Varianten für Leser- und Übersetzerredaktionen halten, die aus dem Kreis der Spinozafreunde stammen. Übrigens werden wir uns in diesem Variantenapparat sehr beschränken. Zahlreiche Übersetzungsfehler oder größere und kleinere Übersetzungsfreiheiten, denen man in großer Menge begegnet, lassen wir beiseite. Dieser Variantenapparat wird dann auf der gegenüberliegenden Seite, das ist die Seite mit der französischen Übersetzung, auch ins Französische übersetzt. Auch im kritischen Apparat kann die niederländische Übersetzung eine Rolle spielen, weil sie, wenigstens teilweise, noch nach den Handschriften angefertigt worden ist und so ein unabhängiger Zeuge dieser verlorenen Manuskripte ist. 29 Ferner kommen in den kritischen Apparat natürlich alle von uns verworfenen Lesarten des Quellentextes und eine selektive Auswahl aus den Vorschlägen zur Verbesserung von anderen Herausgebern oder Übersetzern, die von uns nicht übergenommen werden. Wo ein Problem
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Spinoza: Ethique, demontree suivant l'ordre geometrique et divisee en cinque parties. Texte Latin, Traduction nouvelle, avec notice et notes par Charles Appuhn. Tome premier. Paris 1977, 21983 (Nachdruck der ersten Edition von 1934, die eine Bearbeitung der Edition von 1906 < Garnier > war.).- Benedicti de Spinoza Ethica. Testo latino tradotto da Gaetano Durante. Note di Giovanni Gentile rivedute e ampliate da Giorgio Radetti. Firenze 1963. (Erste Edition Bari 1915, 21935). Spinoza: The political works: the Tractatus theologico-politicus in part and the Tractatus politicus in füll. Ed. & tr. A.G. Wernham. Oxford: The Clarendon press, 1958. Spinoza, Opera/Werke: Lateinisch und deutsch. Zweiter Band: Tractatus de intellectus emendatione, Ethica. Ed. K. Blumenstock. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967, 21978, 31980, 41989. Erster Band: Tractatus theologico-politicus. Ed. Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, 21989. Die erste Übersetzung der Ethica, wenigstens die der ersten zwei Teile, ist entstanden in dem Kreis der Freunde, vermutlich angefertigt von Pieter Balling. Später ist sie dann von Glazemaker überarbeitet und in dieser Form in den Opera posthuma publiziert worden. Siehe dazu F. Akkerman 1980, vgl. Anm. 4, S. 77-203. Es ist durchaus möglich daß Glazemaker teilweise nach den bereits gedruckten Bogen der Ethica gearbeitet hat, teilweise nach den Handschriften Spinozas, so wie man es auch für die Briefe feststellen kann.
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Fokke Äkkerman
dazu Anlaß gibt, werden wir in einem gesonderten Notenapparat unsere Wahl verantworten. Weiter werden wir in diesem Notenapparat auch Zitate, Verweise auf andere Teile desselben Textes oder auf andere Texte, Erklärungen besonderer Wörter, Namen usw. aufnehmen. In keinem Fall plant die Herausgebergruppe ausführliche Kommentare, weder Sachkommentare noch philosophische Diskussionen. Natürlich hat auch der Übersetzer seinen Beitrag zum Notenapparat zu liefern. Wir sind noch nicht so weit, daß ich schon genau sagen könnte, wie sich dies alles auswirken wird. Wir werden nichts an der Orthographie der als Grundlage gewählten Texte ändern. Viele Herausgeber neulateinischer Texte bringen die Orthographie in Einklang mit dem, was in den Ausgaben klassischer Autoren heutzutage üblich ist, wofür es auch gute Argumente gibt. 30 Wir werden also die Orthographie, die die Freunde Spinozas im 17. Jahrhundert für gut befanden, respektieren. Sie wird keinem Leser Schwierigkeiten bereiten, auch nicht, wenn auf ein und derselben Seite spatium neben spacium erscheint oder wenn nebst foelix auch felix oder sogar faelix vorkommt. Auch Spinozas eigene Orthographie war nicht besonders klassisch oder gar konsequent. Es gibt jedoch keine Ausgabe ohne Kompromisse. Eine Ausnahme von unserer Regel bilden die groß geschriebenen Anfangsbuchstaben vieler Wörter, die wir nicht aufnehmen werden, weil sie nicht vom Autor herrühren und weil sie mit wenig Konsequenz angewendet worden sind. Sie dürfen auf keinen Fall bei der Interpretation eine Rolle spielen. Und weiter hat die Gruppe sich dafür entschieden, die Interpunktion nach festen, von der syntaktischen Struktur der Sätze sorgfältig bestimmten Regeln zu modernisieren. Darüber ist lange diskutiert worden. So wie wir die Interpunktion in unseren alten Editionen vorfinden, ist sie nicht besonders brauchbar; und sie geht auch sicherlich nicht auf den Autor zurück. Es ist selbstverständlich, daß man die Interpunktion, die man in einer neuen Edition handhabt, ebenso wie die Orthographie in der Einleitung verantwortet. Leider tut man das noch nicht häufig. Was die Akzente oder, besser gesagt, die diakritischen Zeichen betrifft, wovon es in unseren alten Editionen wimmelt, so werden wir sie einfach weglassen. Auch sie stammen nicht vom Autor; sie sind schwer zu korrigieren, wo sie nicht konsequent gesetzt worden sind, und würden wiederum viel Rechenschaft nötig machen. Sie tragen auch eigentlich nichts bei zum Verstehen des Textes. Aber ganz uninteressant sind sie auch wieder nicht und darum hat Piet Steenbakkers sich viel Mühe gegeben, die Herkunft, Entwicklung, Funktion und den Untergang des ganzen Akzentuierungssystems des Lateins aufzuspüren. 31 Es stellte sich heraus, daß noch niemand diese Erscheinung von Akzenten in den gedruckten Texten des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht hatte. 30
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Einerseits weil man den Lesern nicht noch mehr Mühe bereiten will, als sie ohnehin heutzutage schon mit dem Latein haben, und dann auch, weil man die neulateinischen Texte lieber nicht zu weit von den klassischen Texten entfernen will, die ja heute alle in einheitlicher Orthographie herausgegeben werden. P. Steenbakkers: Towards a history of diacritics in Latin: function, origins and obsolescence of the accentuation system of Latin in the 16th and 17th centuries; erscheint demnächst in: Proceedings of the eighth international Congress of Neo-Latin Studies. Kopenhagen (Medieval & Renaissance Studies, Binghamton, New York).
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Ein wichtiger Punkt ist die Aufgliederung des Textes in Absätze. Man denke dann vor allem an die langen, in diskursiver Prosa abgefaßten Werke wie den Tractatus theologico-politicus, dessen erste Ausgabe von 1670, die auch für Gebhardt der Basistext gewesen ist, in einigen Kapiteln eine ziemlich gute Alineierung hat, aber in den meisten eine eher dürftige, wenn sie nicht ganz fehlt. Ich glaube, man sollte dem Autor hier zu Hilfe kommen, denn er hat sowohl in dem TTP wie auch sonst überall den Stoff sehr sorgfältig eingeteilt, auch in den Briefen. Ja, man bekommt den Eindruck, daß er jeden Text, den er schreiben wollte, sehr planmäßig konzipiert hat. 32 Man kann also den soliden Bauplan seiner Werke durch eine klare Aufgliederung sichtbar machen. Die praefatio des TTP besteht aus fünf Teilen, die bei genauem Hinsehen die Funktionen einer ciceronianischen Rede erfüllen: exordium, propositio, narratio, divisio, peroratio. Nur die argumentatio oder probatio fehlt; sie wird in der divisio nur angekündigt, um dann in den zwanzig Kapiteln des Buches ausgeführt zu werden. 33 Auch das 16. Kapitel ist ganz klar gegliedert: Nach einer kurzen Ankündigung des Themas folgt eine Einteilung in fünf größere Abschnitte, die nahezu den gleichen Umfang haben und in natürlicher Reihenfolge die fünf Gegenstände des Kapitels behandeln: 1. das Naturrecht; 2. den Übergang vom status naturalis zum status civilis; 3. die beste Staatsform; 4. das ius civile (das im Staat geltende Recht); 5. das ius sacrum oder ius circa sacra.34 Wenn man die Abschnitte so einteilt und mit Nummern versieht, 35 erhält man bequem die Möglichkeit, die zahlreichen Verweise, die man auch im Traktat findet, ganz genau auf die vom Autor gemeinten Stellen zu beziehen. Für unsere Gesamtausgabe übersetzen Moreau und Lagree den Text; sie geben dabei genaue Inhaltsanalysen. Ich erwarte von unserer Ausgabe, daß sie in dieser Hinsicht besser, als es je getan worden ist, die Texte als Ganzes für sich sprechen lassen wird. Inzwischen habe ich auch noch einmal den ganzen Text des TTP in der Ausgabe von Gebhardt mit der Erstausgabe von 1670 verglichen. Abgesehen von Orthographie, Interpunktion, Akzentuierung und Einteilung, glaube ich, den Gebhardtschen Text noch an etwa 80 Stellen verbessern zu können. Nun haben auch A. G. Wernham für die Teile, die er in seine Edition aufgenommen hat (1958), und G. Gawlick für das ganze Buch (1979) die alten Editionen schon sehr sorgfältig überprüft und an vielen Stellen den Text korrigiert, so daß unser Text des TPP nicht mehr viele Korrekturen zu erhalten braucht. 36
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Auch in den Briefen beantwortet er die Fragen seiner Korrespondenten sehr methodisch, wie man an den von Spinoza numerierten Absätzen in dem Autograph von Ep. 29 beobachten kann. Die Teile fangen in der Edition von Gebhardt an bei S. 7, Z. 2 (exordium); 7.6 (propositio); 8.1 (narratio); 9.16 (divisio); 12.2 (peroratio). Siehe F. Akkerman: Le caractere rhetorique du Traite theologico-politique. In: Spinoza entre lumiere et romantisme (Les cahiers de Fontenay, no. 36 ä 38) mars 1985, S. 381-390. Die Absätze bei Gebhardt, Bnd III: 189.12; 191.11; 193.19; 195.35; 198.4. So wie Bruder es getan hat; wenn man vor diesem Eingriff in einer kritischen Textedition zurückschreckt, dann könnte man es wenigstens in einer Übersetzung so halten. Die Textedition des Tractatus theologico-politicus von G. Gawlick, vgl. Anm. 27, ist die beste, die es heute gibt. Abgesehen von einer Anzahl grammatikalischer und orthographischer Anomalien, denen man in dem ersten Druck von 1670 begegnet und die
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Zum Schluß noch ein paar Worte über die Aussichten. Filippo Mignini wird die Texte der Körte Verhandeling und des Tractatus de intellectus emendatione liefern. Der erste ist im wesentlichen schon vorhanden in seiner Ausgabe von 1986; er wird höchstens noch in Kleinigkeiten zu verbessern sein; den zweiten hat er nahezu fertiggestellt. Die französischen Übersetzungen sind in Vorbereitung. Als erster Teil wird hoffentlich der TTP erscheinen, vermutlich 1995. Als nächstes Werk müßte dann 1996 die Ethica fertig werden; die weitere Reihenfolge ist festgelegt worden; sie kann aber noch variieren. Man kann also sagen, daß die meiste Arbeit auf dem Weg ist. Die ganze Ausgabe wird vermutlich fünf oder sechs Bände umfassen; sie wird herausgebracht von den Presses Universitaires de France in Paris. Alles soll vor dem Jahre 2000 abgeschlossen sein. Die Gruppe der Spinozisten zeigt eine gute Kohärenz und hat eine zielsichere Leitung. Man kommt ab und zu zusammen, um den Fortgang der Arbeiten zu besprechen. Im Jahre 1990 wurde in Groningen ein Kolloquium organisiert, auf dem editionstechnische, philologische, bibliographisch-analytische und sprachliche Aspekte zu Wort kamen.37 Bei dieser Gelegenheit hat auch Dr. H.G. Senger zu uns gesprochen. Wir haben damals bewußt Anschluß gesucht an die Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen, um von ihrer Erfahrung zu lernen und um das Risiko so gering wie möglich zu halten, daß unser Unternehmen in Dilettantismus stecken bleibt, eine Gefahr, die in Sachen, die Spinoza betreffen, immer auf der Lauer liegt. Es gibt aber auch Schwachstellen bei unseren Plänen. Die institutionelle Verankerung ist nicht stark genug. Die Universitäten sind keine guten Orte für langfristige Projekte. Dennoch gibt es Hoffnung. Es entstehen gerade jetzt in den Niederlanden größere Forschungseinheiten an den Universitäten; vielleicht werden die etwas weiter blicken als nur jeweils bis zum nächsten Haushaltsjahr. Die Niederländische Organisation für Wissenschaftliche Forschung hat uns gewaltig geholfen, indem sie Piet Steenbakkers für einige Jahre eine Forschungstelle verliehen hat, aber die Frist läuft nun ab. In Frankreich wird die Vorbereitung der Ausgabe vom CNRS unterstüzt. Ein anderes Problem ist der Mangel an Latinisten, wodurch zuviel Editionsarbeit von zu wenig Teilnehmern geleistet werden muß. Aber dennoch sind die Pläne nun in Ausführung. Allzu finster sehen wir der Zukunft nicht entgegen.
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Gebhardt wie auch Gawlick - Gebhardt folgend - normalisiert haben, die man lieber nicht ändern sollte, möchte ich noch verbessern: 5.7 in dubio est; 26.32 cautem; 72.8 praedicit; 165.13 adulterinum; 183.10 Exod. 34; 218.14dari. Im Verlag Van Gorcum/Assen und Bibliopolis/Neapel wird nächstes Jahr ein Band mit Aufsätzen zu diesen Themen erscheinen.
Claus Huitfeldt
Toward a Machine-Readable Version of Wittgenstein's Nachlaß Some Editorial Problems
Abstract The paper gives a brief presentation of the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, and then proceeds to discuss some problems relating to Wittgenstein's Nachlaß and the posthumous editions. The methods employed and some problems encountered in the Wittgenstein Archives' attempt at creating a machine-readable version of the Nachlaß are examined. Some suggested features of an electronic edition are outlined, and possible effects of such an edition are pointed out. 1. The Wittgenstein Archives at the University of Bergen The aim of the Wittgenstein Archives at the University of Bergen is to produce a complete, machine-readable transcription of Wittgenstein's entire philosophical Nachlaßj1 to develop software for the presentation and analysis of the texts; and to give scholars access to the material. The Wittgenstein Archives was founded in June 1990.2 However, similar activities in Norway started already in 1980 with a project called the Norwegian Wittgenstein Project.3 This project, which was discontinued in 1987, produced transcriptions of more than 3.000 pages. The Wittgenstein Archives was permitted to take over this material, which has been an important basis for further work. The Wittgenstein Archives is organized as a research project at the Department of Philosophy at the University of Bergen, funded by the university and private and public Norwegian funds. According to the project plan the entire Nachlaß shall be transcribed by 1996.
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By the term 'Nachlaß' I refer exclusively to the philosophical writings catalogued by Georg Henrik von Wright: The Wittgenstein Papers. In: G.H. von Wright: Wittgenstein. Oxford 1982 (first published in: The Philosophical Review 78, 1969). The catalogue does not include letters, unauthorized lecture notes, notes on conversations etc. The Wittgenstein Archives at the University of Bergen: Background, Project Plan, and Annual Report 1990. Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, No 2, Bergen 1991. Claus Huitfeldt and Viggo Rossvaer: The Norwegian Wittgenstein Project Report 1988. The Norwegian Computing Centre for the Humanities. Report Series no 44, Bergen 1989.
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Claus Huitfeld
The Wittgenstein Trustees4 have given their permission to the University of Bergen to prepare and publish the Wittgenstein Archive's machine-readable transcriptions and electronic facsimile of Wittgenstein's Nachlaß. Publication of Wittgenstein's complete works in print on the basis of the machine-readable texts may also be considered at a later stage. We have proposed the publication of a facsimile CD-ROM with bit-mapped raster images of the entire Nachlaß as a possible first step in this process. Later, the electronic facsimile will be supplemented with transcriptions currently in progress at the Wittgenstein Archives. In the meantime, scholars have access to a nearly complete photocopy of the Nachlaß and the transcriptions in progress by visiting us as Guest Scholars in Bergen. 2.
Wittgenstein's Nachlaß and the Posthumous Book Editions
Although Wittgenstein published very little and also destroyed some of what he wrote, he left behind approximately 20.000 manuscript pages. His Nachlaß is not a tidy collection of writings ready for print. Any publication of the material in book form necessitates extensive editorial work. Not unlike many other modern manuscript sources, Wittgenstein's writings contain deletions, overwritings, interlinear insertions, marginal remarks and annotations, substitutions, counterpositions, shorthand abbreviations, and also orthographic errors and other slips of the pen. A particular problem is posed by Wittgenstein's habit of combining interlinear insertion, marking, and often also deletion, to form alternative expressions. In some cases he has clearly decided in favor of a specific alternative, in others the decision has been left open. In addition, Wittgenstein had his own peculiar writing conventions such as an elaborate system of section marks, cross-outs, crossreferences, and marginal marks and lines, various distinctive types of underlining, the so-called secret code (Geheimschrift, consisting roughly in a reversal of the alphabet), and so on. 5 To some extent, these features are results of Wittgenstein's continuous efforts to revise and rearrange his writings. Part of the revisions consisted also in copying or dictating parts of the text of one manuscript into another. The Nachlaß is therefore somewhat repetitious - it contains, one might say, several 'layers' or stages of basically similar pieces of text. These intertextual links are complicated and by no means fully known, yet of distinctive interest to scholars studying the development of Wittgenstein's thought. In his will, Wittgenstein gave the copyright in his Nachlaß to his colleagues and friends G. Ε. M. Anscombe, Rush Rhees and Georg Henrik von Wright, asking them 4
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Professor G.E.M. Anscombe (Cambridge), Sir Anthony Kenny (Oxford), Professor Peter Winch (Urbana-Champaign, Illinois), and Professor Georg Henrik von Wright (Helsinki). In pointing out these difficulties, it should also be added that quite a number of manuscripts are fair copies to which only few such problems pertain. On Wittgenstein's style, see Alois Pichler: Wittgenstein's Later Manuscripts. Some Remarks on Style and Writing. In: Paul Henry and Arild Utaker (eds.): Wittgenstein and Contemporary Theories of Language, forthcoming in: Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, Bergen 1992.
Toward a Machine-Readable Version of Wittgenstein's 'Nachlaß'
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to publish as many of his unpublished writings as they thought fit. Starting with the edition by Anscombe and Rhees of Philosophical Investigations6 in 1953, a considerable part of the Nachlaß has subsequently been published in book form. 7 However, there are still large parts of the Nachlaß which have not been published at all. Although it is safe to say that the most important aspects of Wittgenstein's philosophical themes and arguments are known from what is published, the posthumous publications do not give an entirely complete picture, 8 and they do not give all the details of the picture. The editors have sometimes put together selections from different manuscripts, without always documenting the selections and their relationships to the manuscript sources in any exact detail. 9 The posthumous publications are results of different editorial approaches to the manuscripts, some of them containing a lot of editorial intervention, others less, - but in general they contain no critical apparatus. In this respect, the Prototractatus10 represents an exception. Kenny compares the Prototractatus to one of the other publications, Philosophical Grammar,n in which the editor had taken the so-called Big Typescript12 as a point of departure, following Wittgenstein's instructions to include text from several other manuscripts. Kenny notes that the Philosophical Grammar contains a substantial amount of unrecorded editorial intervention, and says: The choices between alternatives almost always affect only the style and not the sense. [...] To have noted each editorial decision would have been to cumber the text with a mass of mainly useless information.13 Moreover, according to Kenny: 6 7
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Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations (Philosophische Untersuchungen), edited by G.E.M. Anscombe and R. Rhees. Oxford 1953. See e. g. Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden. Frankfurt am Main 1989, which comprises approx. 3.500 pages and includes most - but not all - the major works by Wittgenstein published so far. Pichler estimates that "approximately one quarter to one third of the Nachlaß material" has been published. "However, [...] the 'same' text may appear as rough draft in a notebook, as fair copy in several manuscripts, and then again in different typescripts. [...] the Nachlaß includes all such revisions and rearrangements." (Michael Biggs and Alois Pichler: Wittgenstein. Two Source Catalogues and a Bibliography, forthcoming in: Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, Bergen 1993). A complete list of correspondences between the published editions and their manuscript sources is given in Michael Biggs and Alois Pichler, op.cit. (see note 8). Ludwig Wittgenstein: Prototractatus, edited by T. Nyberg, B.F. McGuinness, and G.H. von Wright. London 1971. Ludwig Wittgenstein: Philosophical Grammar (Philosophische Grammatik), edited by R. Rhees. Oxford 1969. Catalogue number 213 in von Wright's catalogue. Anthony Kenny: From the Big Typescript to the Philosophical Grammar, in: The Legacy of Wittgenstein. Oxford 1984, p. 28 (first published in: Acta Philosophica Fennica, vol. 28, 1976).
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Claus Huitfeld
The scale of this [the Prototractatus] edition shows the difficulty and expense of reproducing on the printed page the meticulous and thoroughgoing revision to which Wittgenstein subjected his writing. The Big Typescript is much longer than, and underwent much more drastic revision than, the Prototractatus. An edition of it in the style of the Prototractatus edition would no doubt involve .expense far in excess of any foreseeable gain to philosophical scholarship.14 On this background, we have to ask ourselves whether a complete, text-critical edition of Wittgenstein's Nachlaß is at all possible. And we may also have to ask ourselves whether, even if possible, such an edition is desirable. I shall not try to answer these questions directly. Instead, I will outline what is involved in the production of a machine-readable version of the Nachlaß and what such a version may ultimately look like. I will leave the reader to judge for himself whether in this perspective a complete, text-critical edition in book form is desirable, or whether the presumably much less expensive machine-readable version will perhaps serve the purposes of a complete book edition in a more efficient way. 3.
The Machine-Readable Version in Progress at the Wittgenstein Archives
The basic minimal requirement of our work at the Wittgenstein Archives is that it should be possible to produce from our transcriptions both a strictly diplomatic and a normalized and simplified reading-version of each and every individual manuscript. We also see to it that the transcriptions lend themselves to some kinds of computer-assisted analysis for which we know or strongly believe there will be an actual demand, such as retrieval, the production of variously selected and ordered graphword lists, and word frequency counts; but we do not, e. g., tag the texts grammatically. We hope that our work may also provide the basis for a synthetic, scholarly commented critical edition, but we ourselves supply only rudimentary comments on the relationships to the published book editions, and we are not trying to 'synthesize' different revisions of closely related manuscripts. We do not include scholarly comments on the philosophical contents of the texts. Even so, we are including much more information in our transcriptions than one normally does in any book edition. The reason why we are able to do this, is that computerized texts, being properly marked up, may be differently extracted and manipulated for display and analysis by different programs, so that one can concentrate on one aspect of the information at a time.
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Op.cit., see note 13, p. 37.
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A generic encoding system (markup language) called MECS15 and a software package has been developed, and an application of this system, MECS-WIT16, has been designed especially for the encoding of Wittgenstein's manuscripts. Some of the markup simply describes physical properties and layout characteristics of the manuscripts, some of it is more interpretational or analytic, and some of it supplies suggested corrections, emendations or extensions to the source text. The almost 290 different codes17 of the system fall into the following 20 groups: 1. Text documentation; 2. pages and pagination; 3. sections and sentences; 4. lines, indentation, columns, and tables; 5. difficult reading; 6. marks, numbers, and lines in margins; 7. underlining and canceled underlining; 8. letter-spacing and capitalization; 9. deleted text; 10. insertions and additions outside regular lines; 11. text overwriting other text; 12. substitutions and counterpositions; 13. annotated text and text from other sources; 14. annotated text attributes; 15. datings and dates; 16. language, notation, and typography; 17. front matter, headlines, and chapters; 18. names, abbreviations, cross-references, quotations, etc.; 19. transcriber's amendments, comments, and extensions; and 20. character disambiguation.18 Thus, the encoded source transcriptions are heavily marked up, and in this primary format they are of little use except for those who have an intimate knowledge of the technicalities of the code system. From these source transcriptions, however, our computer programs currently produce: 1. 'diplomatic' printouts in which details such as deleted words and letters, shorthand abbreviations, orthographic errors, inconsistencies in punctuation etc. are faithfully reproduced; 2. 'simplified and normalized' printouts in which deleted text is suppressed, shorthand abbreviations extended, orthographic errors corrected, and punctuation normalized; 3. alphabetically ordered graphword lists and concordances; 4. indexes of proper names, dates etc. in standard formats; 5. various kinds of numeric and structural information on the structure of the source transcriptions, listing the number and distribution of all encoded features of the texts, displaying the relationships between these features in various ways, etc. All these alternative views to the texts and all the numeric and structural information is extracted automatically from one and the same source transcription - so the value
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Claus Huitfeldt: MECS - A Multi-Element Code System. Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, No 3, Bergen 1992. Claus Huitfeldt: MECS-WIT - A Registration Standard for the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, forthcoming in: Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen. This number does not include the approx. 160 entity references indicating special characters outside the ASCII table. This classification is entirely heuristic and does not reflect any attempt to classify codes according to theoretically or methodologically based criteria.
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Claus Huitfeld
and reliability of those data depend entirely on the accuracy and appropriateness of the marked-up text. The kind of markup employed by the Wittgenstein Archives is often called 'descriptive markup'. The term may be somewhat misleading. Transcription guided by descriptive markup should not be considered objective or non-interpretational, as the following passage from the MECS-WIT guidelines may serve to explain: The point is that we describe features, - of whatever kind and on the basis of whatever kind of evidence - by means of codes which in themselves are neutral as to the mode of presentation of the features in question. Transcriptions should of course also be as neutral as possible in respect to interpretational issues. One may sometimes feel tempted to think that the physical or typographical facts about a text are less dependent on interpretation, and therefore less subjective, than other aspects of the text, which may be subject to interpretational conflict. However, we will encode both structure and appearance, and we will have to realize that the borderline between them is fuzzy. Being a matter of interpretation does not in itself mean being less objective. All aspects and parts of transcription presuppose interpretation. All interpretational decisions may in principle be subject to doubt or conflict. Transcribers have to draw heavily on their knowledge, not only of philosophy in general and of Wittgenstein's philosophy in particular, but also of Wittgenstein's life and times. They should use this knowledge in order to spot the points in a text which may not only in principle, but also in practice be subject to interpretational conflict, not between any readers whatsoever, but between scholarly competent readers. In such cases, it may be particularly difficult, yet all the more important, to secure the required level of detail and accuracy in transcriptions. Difficult -because the facts cannot be described independently of any interpretation whatsoever, important - because providing the scholarly community with all the pros and the cons of the matter is more relevant in cases where the likelihood of disagreement is higher. Therefore, the transcriber should provide as much evidence about the texts as one can reasonably expect to be demanded in order for competent readers to reach the same conclusions from reading the transcription as from reading the original. However, this should not be carried into the extreme. A transcription is created on the basis of a certain visual evidence. It is not meant to (and cannot) describe the evidence exhaustively, nor is it meant to replace the evidence. There are certain purposes which are better served by the use of facsimile than by transcription. 19
Since the value of the transcriptions depends to a large extent on explicitness and consistency of transcription procedures, much work has gone into the design of precise and well documented rules. For example, there is a whole set of quite elaborate rules for the transcription of interlinear insertions, substitutions, and deletions. There is a constant interplay here between the adjustment of ongoing transcription to previously established practice and adjustment of the rules in the course of new cases which are not well accounted for by the previously established practice as described by the rules. 4.
What May We Expect From an Electronic Edition?
Our preliminary publication plan was outlined at the beginning of this paper. When our project has been finished, an electronic Wittgenstein edition may include, in ad19
Op. cit., see note 16.
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dition to the scanned raster images of the entire Nachlaß and source transcriptions in the primary MECS-WIT format, a software package allowing users to design user-defined filtering profiles and formats; browse transcriptions and images in parallel; extract structural and statistical information and variously selected and ordered graphword lists; and convert transcriptions to other generic or presentational formats. Furthermore, the transcriptions should be supplied not only in the primary format but also in a generally accepted generic interchange format, such as the TEI SGML markup scheme20, and in filtered versions of the source transcriptions presenting different 'views' to the texts, such as the strictly diplomatic on the one hand and the normalized and simplified on the other, both of them in several widely accepted presentational formats. 21 The electronic edition should also include a bibliographic database, and provide for access to the text through a free text retrieval system, including cross-references between different versions and revisions of similar material and to bibliographical data. Which effects are we to expect from such an edition on Wittgenstein scholarship? Firstly, the entire Nachlaß will be widely distributed in a readily accessible form. This is in itself an important improvement compared to the present situation, where most scholars' access to the material is limited by practical constraints such as geographical distance from the archival institutions, difficulties in acquiring good microfilm copies, etc. Secondly, the availability of the encoded transcriptions with user-controlled programs for presentation, manipulation and analysis may open up and encourage new kinds of research on Wittgenstein's writings. Thirdly, since transcriptions will be available alongside facsimile, scholars will always be in the position to validate transcriptions on the basis of inspection of the manuscripts. Lastly, if the transcriptions provided are judged to be incorrect or inadequate for some purpose, scholars may correct and enrich the transcriptions locally in order to serve the particular purpose at hand, or they may report back to us, thus contributing to an improvement of later editions. The last point has been brought up in relation to a number of similar projects. 22 There seems to be a potential in information technology to make editorial work much more of a collective enterprise than it used to be. 20
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22
SGML is an ISO standard for the design of text markup systems, see: Information Processing-Text and Office Systems Standard Generalized Markup Language (SGML), ISO 8879-1986, International Organization for Standardization, Geneva 1986. The TEI (Text Encoding Initiative) is a major international cooperation project developing a standard interchange format for electronic texts in the humanities, based on SGML. See: Guidelines for the Encoding and Interchange of Machine-Readable Texts, TEI PI, Draft Version 1.1, edited by C. M. Sperberg-McQueen and Lou Burnard, Chicago and Oxford 1990. By presentational formats I refer to graphical page description languages like PostScript, TeX, etc., and to word processor formats like WordPerfect, Microsoft's Word, etc. See for example M. Neuman: The pilot project of the Electronic Peirce Consortium. In: Conference Abstracts and Programme. Association for Literary and Linguistic Computing and Association for Computing in the Humanities joint Conference 1992. Oxford 1992.
Jörg Jantzen
Objektivität der Editionen?
i.
Die Formulierung des Themas spricht pluralisch von Editionen - und in der Tat: Texte können auf sehr verschiedene Art und Weise ediert werden. Wir unterscheiden zwischen historisch-kritischen Ausgaben und solchen, die dies nicht sind, die vielmehr nur kritisch sind oder Auswahl-, Studien- bzw. sogenannte Lese-, wenn nicht gar Volksausgaben darstellen. Und daneben gibt es noch die hochspezialisierten wissenschaftlichen Sonderformen wie die Regesten und die Repertorien.1 Historisch-kritische Ausgaben stehen unter dem Anspruch, das Oeuvre eines Autors vollständig und textkritisch darzubieten; in aller Regel kommen sogenannte erklärende Anmerkungen, die den 'Denkraum' des edierten Textes erhellen sollen, ebenso hinzu wie Darstellungen der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Textes. Entscheidend sind aber Vollständigkeit und Textkritik: Die historisch-kritische Ausgabe ediert jeden ihr bekannten Text eines Autors, und dies bedeutet, daß sie auch alle Lesarten und Varianten, Fassungen und Schichten eines Textes in geeigneter Form festhält und zusammen mit dem Text selbst ediert. Die Vollständigkeit der Wiedergabe von Werk und einzelnem Text macht die historisch-kritische Ausgabe aus: sie ist die Darstellung der gesamten Entwicklung, die ein Text zu Lebzeiten des Autors in den uns überlieferten relevanten Zeugen durchlaufen hat und die gegebenenfalls von den ersten Entwürfen bis zur letzten autorisierten Ausgabe führen kann. 2
Mit Kritik ist also nicht oder nicht nur die 'Reinigung der Texte' gemeint, von der Dilthey spricht, sondern vielmehr bzw. auch die genetische oder dynamische Textkonstitution.3 Hans Gerhard Senger hat darauf hingewiesen, daß es Friedrich Schle1
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Zu den verschiedenen Editionstypen vgl. Waltraud Hagen: Von den Ausgabentypen. In: Vom Umgang mit Editionen. Berlin 1988, S. 31-54. Zur Notwendigkeit textspezifischer Editionsformen vgl. editio 3, 1989 (Dramenedition) und Volker Mertens/Hans-Jochen Schiever: Erschließung einer Gattung. Edition, Katalogisierung und Abbildung der deutschsprachigen Predigt des Mittelalters. In: editio 4, 1990, S. 93-111. Hagen 1988, vgl. Anm. 1, S. 40. - Vgl. Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1-44. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/Main 1981, S. 268. Zur dynamischen Textedition grundlegend Gunter Martens: Textdynamik und Edition. In: Martens/Zeller 1971, vgl. Anm. 2, S. 165-201; vgl.
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gel ist, dem wir die Konzeption der historisch-kritischen Ausgabe verdanken - nämlich einerseits "Absonderung des Falschen und Unechten" zu sein, um andererseits "Konstruktion und Erkenntnis des Ganzen" vorzustellen. 4 Historisch-kritische Ausgaben sind allerdings nicht immer möglich, und sie sind auch keineswegs immer notwendig oder erforderlich. Die historisch-kritische Ausgabe verdankt sich einer Auswahl, und diese wird nicht willkürlich, sondern begründet getroffen: Das Herausragende und Bedeutende soll gewürdigt und festgehalten werden, um exemplarisch Literatur- bzw. Philosophiegeschichte zu repräsentieren. Aber die Entscheidung, einen Autor historisch-kritisch zu edieren, kann nicht bedeuten, einen anderen Autor herabzusetzen. Zum Beispiel denke ich, daß eine Auswahlausgabe, die den Autor nicht in Redundanz ertränkt, durchaus objektiv sein kann. Der Editor trifft seine Auswahl - Hans-Ulrich Lessing hat darauf hingewiesen nicht willkürlich, sondern begründet. 5 Vollständigkeit bedeutet noch nicht Objektivität, sondern kann sich auch, um an ein Diktum von Paul Rilla zu erinnern, als Vervollständigung von Nebensachen durchsetzen. 6 Man kann natürlich einwenden, daß Redundanz und Nebensächlichkeit unscharfe Kriterien sind. Aber der Einwand trägt nicht, denn die Kriterien lassen sich durchaus schärfen, wenn man zurückgreift auf den Begriff der begründeten Entscheidung bzw. Auswahl, der ja - allerdings indirekt - auch das Prinzip der historisch-kritischen Ausgabe ist. Sicherlich könnte der Kritiker jetzt fragen, was begründet heißt, und er könnte versuchen, eine philosophische bzw. wissenschaftstheoretische Debatte in Gang zu setzen, deren Abschluß unabsehbar ist. Aber ein Editor braucht sich darauf nicht einzulassen, weil er faktisch weiß, worum es geht; er ist - Hermann Krings hat hierauf hingewiesen - vernünftig und sachverständig, er kennt den Autor, und zwar den ganzen Autor. 7 Auch die Entscheidung für eine sogenannten Lese- oder Studienausgabe, die den Text der historisch-kritischen Ausgabe, aber nicht deren Apparate hat, wird man kaum als Entscheidung gegen Objektivität und für Subjektivität interpretieren können; denn auch sie wird in aller Regel begründet sein. Und überdies bringt die Leseausgabe ja genau den historisch-kritisch edierten Text; der Verzicht auf die Apparate und die sonstigen Beigaben der historisch-kritischen Ausgabe kann die Objektivität des Textes recht eigentlich nicht beeinträchtigen.
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auch Gunter Martens/Günter Dammann: Einführung in die textgenetische Darstellung der Gedichte Georg Heyms. In: editio 5, 1991, S. 178-198. Hans Gerhard Senger: Die historisch-kritische Edition historisch-kritisch betrachtet. In: Buchstabe und Geist. Hrsg. von Walter Jaeschke u.a. Hamburg 1987, S. 1-20 (17). Hans-Ulrich Lessing: Vollständigkeitsprinzip und Redundanz. Überlegungen am Beispiel der Edition der Nachschriften von Diltheys systematischen Vorlesungen. In: editio 3, 1989, S. 18-27; vgl. Guy van Kerckhoven: Unvollständige Vollständigkeit und erträgliche Redundanz. In: editio 4, 1990, S. 73-85 und Hans Gerhard Senger: Redundante Vollständigkeit?. In: ebd., S. 86-92. Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. von Paul Rilla. Berlin 1954, Bd. 1, S. 19. Hermann Krings: Historisch-kritische Methode und die Idee des Zwecks. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 38, 1984, S. 56-67 (64f.).
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Eine derartige Behauptung bringt gerade denjenigen in Schwierigkeiten, der den Rechtsanspruch der historisch-kritischen Ausgabe auf Objektivität vertritt. Denn wenn der edierte Text als objektiv erst dann gilt, wenn auch der textkritische Apparat mitediert wird, bedeutet Objektivität zumindest nicht Eindeutigkeit. Seit Beißners Hölderlin-Ausgabe gilt der textkritische Apparat ja nicht mehr als Verzeichnis von Lesarten, sondern als Darstellung von Varianten, die der Verfasser selbst verfaßt, autorisiert hat. Man denke an verschiedene Auflagen, Handexemplare, Manuskripte, Typoskripte, Tonbänder, Disketten usw. Die bisweilen hochkomplexen Verhältnisse, die man systematisch und rigide von der sogenannten Überlieferungsgeschichte unterscheiden muß, sind aus den einschlägigen Publikationen hinreichend bekannt. Es geht um Varianten, also nicht um Lesarten eines gleichsam besten Textes, sondern vielmehr um zeitlich abzugrenzende Stufen, Schichten, Fassungen innerhalb einer Entwicklungsgeschichte des Textes. Der textkritische Apparat gibt zum Text ebendiese Geschichte. Aber daß die Hinzugabe des textkritischen Apparats zum sogenannten konstituierten Text unbefriedigend ist, weil sie den Fluß der Textentstehung, -Veränderung, -bearbeitung usw. nicht wiedergibt, hat wiederum eine Hölderlin-Ausgabe deutlich gemacht. Die Frankfurter Ausgabe beschränkt den textkritischen Apparat auf die gelegentliche Feststellung zweideutiger Lesungen und stellt ansonsten systematisch und typographisch hochkompliziert den Prozeß der Textentstehung und bearbeitung vor. Überdies gibt sie Faksimiles der Texte, von denen man allerdings nicht recht weiß, wozu sie dienen, die aber immerhin einen Beleg für den real existierenden Text geben. Eine Reihe neugermanistischer Editionen ist der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe gefolgt, um diese bisweilen in der konsequenten Durchführung des leitenden Editionsprinzips noch zu überbieten, d.h. auf die Wiedergabe eines konstituierten Textes zu verzichten.8 Die genetische bzw. dynamische Edition ist auf merkwürdige Weise positivistisch. Mit großem Arbeitsaufwand und komplizierter Technik versucht sie ein Äußerstes an Objektivität; der Editor nimmt sich selbst als Textverantwortlichen soweit wie möglich zurück: Er druckt alles, was er hat. Aber gerade dadurch wird der Text auch der Beliebigkeit überliefert oder anders gesagt: Dem Leser, der sich seinen Text erst suchen muß, wird die Verantwortung übertragen.9 Im übrigen liegt die Vermutung nahe, daß die Edition eines unabgeschlossenen Textes nicht unbedingt in der Intention des Autors liegt. Aber dies ist mit großer Vorsicht zu sagen; wir kennen die Intention des Autors nicht und können sie auch nicht kennen. Ich will auf die Problematik der genetischen bzw. dynamischen Editionen nicht weiter eingehen; jedenfalls scheint mir dieser Editionstypus als Spätform der historisch-kritischen Ausgabe Objektivität nicht zu verbürgen. Überdies sollte man nicht die Rolle des Zufalls verkennen. Eine Textüberlieferung kann außerordentlich materialreich sein (wenn es z.B. einen Nachlaß gibt), aber dies ist keineswegs immer der 8
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Vgl. Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von B. Dedner. Frankfurt/Main 1987. Vgl, Jörg Jantzen: Rezension von editio 1-3. In: Philosophisches Jahrbuch 98, 1991, S. 218-221.
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Fall. Bisweilen haben wir nur den Text und keine Stufen, Schichten, Fassungen. Ist Hölderlins Idylle "Emilie vor ihrem Brauttag" weniger objektiv ediert, weil die Edition nur auf einen Erstdruck zurückgreifen kann, als etwa "Die Völker schwiegen, schlummerten ...", dessen Text erst aus dem Nachlaß ediert wurde? Die Frankfurter Ausgabe differenziert in solchen Fällen zwischen einem "emendierten Text" ( = "Emilie") und einem (von ihr, der FA, aus der Hs.) "konstituierten Text". Das ist legitim; aber eine Unterscheidung zwischen 'subjektiv' und 'objektiv' wäre illegitim. Endlich: Die zahlreichen bzw. zahllosen Stufen des Textes vor, zwischen und nach seinen zufällig überlieferten Fassungen sind nie und nimmer einzuholen, denn sie zeichnen sich gerade dadurch aus, nicht auf einem Schrift- oder Tonträger festgehalten zu sein. Sie spielen sich, neudeutsch gesagt, 'im Kopf' ab, gehören, mit anderen Worten, genuin dem Subjekt an und sind als solche früher als jede Objektivierung, d.h. gegenständliche Fixierung. Der Versuch, einen Text objektiv im Sinne der genetischen bzw. dynamischen Edition zu edieren, scheitert bezeichnenderweise an der subjektiven Herkunft des Textes. Michel Foucault - dessen Kritik am Begriff der Einheit eines Textes und eines Oeuvres bedenkenswert ist - hat darauf hingewiesen: Immer gibt es einen Ursprung, und er ist so geheim und fundamental, daß er nie ganz erfaßt werden kann. 10 Der Editor - und wenn nicht er, dann ersatzweise der Leser - kommt nicht darum herum, eine Textfassung zu autorisieren. Friedrich Sengle hat einmal von der "ästhetischen Verantwortung" des Editors gesprochen, die zur "juristischen" hinzukommt (im Fall philosophischer Edition müßte dies eine sachliche, also philosophische Verantwortung sein). 11 Der Editor muß - als Interpret, Kenner - entscheiden, welche Fassung unter mehreren die 'bessere' ist. Fritz Strich, Klaus Hurlebusch, Herbert Kraft sehen ebenfalls Textautorisation als editorische Handlung an: Als Wahl der Fassung, die das Telos des Werks erfüllt (Strich); als die Handlung, durch die überlieferte Texte bestimmten Sprachbenutzern zugeschrieben werden, und zwar prinzipiell auf dem Wege einer zeichentheoretischen Sprachanalyse (Hurlebusch); schließlich: Als autorisiert gilt die authentische (literar-) historisch-relevante Fassung. Der Begriff 'authentisch' meint die Zugehörigkeit des Ganzen (zu einem bestimmten Autor), die, indem sie auf das Ganze bezogen ist, durch Einzelheiten nicht aufgehoben wird (Kraft).12 Zwei Pole in der Debatte über Textautorisation bilden Siegfried Scheibe und Hermann Krings: Scheibe betont Autorisation als die Ermächtigung, "die der Autor ei10 11 12
Michel Foucault: The Archaeology of Knowledge. New York 1972, S. 25. Friedrich Sengle: 'Morgenphantasie' und 'Des Morgens' oder bessere Fassung und autorisierte Fassung. In: Hölderlin-Jahrbuch 1948/49, S. 132-138. Fritz Strich: Über die Herausgabe gesammelter Werke. In: Kunst und Leben. Bern/München 1960, S. 24-41; Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode der philologischen Forschung. In: Martens/Zeller 1971, vgl. Anm. 2, S. 117-142 (137); Herbert Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition. Bebenhausen 1973, S. 41.
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nem Text gibt, der von ihm verfaßte und damit der von ihm gewollte Text zu sein". Krings hat dagegen den Begriff des "wahren Textes", d.h. eines "Primärtextes", der gegenüber gedruckt vorliegenden Texten gereinigt oder ergänzt ist, der gegenüber Manuskripten transkribiert und oft auch zusammengestellt ist.13 Um ein erstes Fazit zu ziehen: Das Vollständigkeitsgebot, unter dem historisch-kritische Editionen stehen und das einerseits das Oeuvre überhaupt und das andererseits die Fassungen eines Textes betrifft, generiert nicht einen objektiven Text. Objektiv bzw. wahr ist vielmehr diejenige Textfassung, die vom Editor vernünftigerweise als der Text autorisiert wird. (Vernünftigerweise gilt formal, also unbeschadet der Möglichkeit sachlicher Differenzen!). Die objektive Fassung verdankt sich also allererst einer vernünftigen subjektiven Entscheidung. Dies trifft sich mit dem eher historischen Sachverhalt, daß historisch-kritische Ausgaben keineswegs immer möglich sind. Altphilologische Editionen haben eine andere Struktur; denn hier sind es in der Tat lectiones, die die editionstypische Konstellation von Identität und Differenz begründen. Die altphilologische Edition verfügt über ihren Text nur in dessen Überlieferungsformen, die vom Autor ganz unabhängig sind. Ihr Bemühen geht darauf, die Abschriften (z.T. auch die frühen Drucke), in denen der Text vorliegt, stemmatisch auf einen Archetypus zu bringen, der als Vertreter einer Handschrift des Autors gelten kann. Die altphilologische Edition - selbst sozusagen der Archetypus des Edierens - unterscheidet sich auf grundsätzliche Weise von der neuphilologischen. Die eine Edition hat es mit Überlieferungshandschriften zu tun und versucht, einen 'authentischen' Text zu erschließen und durch Konjektur und Emendation herzustellen; die andere Edition hat es mit Entstehungshandschriften (bzw. -drucken) zu tun, also mit bereits authentischen Texten, und sucht den Text in der Breite und Vielfalt seiner Entwicklung darzustellen. Die Verschiedenheit der Editionstypen läßt sich aber kaum im Sinne einer verschiedenen Objektivität deuten, zumal sie historisch zufällig ist. II. Edieren bedeutet Erkennen. Der Editor erkennt die Textgestalt, indem er die Sache, von der der Text handelt, erkennt. Bei Schelling heißt es einmal "... in einem endlichen Progressus ..." (EE, SW III, S. 15); aber der Wortlaut ermöglicht kein Textverständnis. Es muß heißen: "... in einem unendlichen Progressus ..,". 1 4 Aber auch umgekehrt ermöglicht die Erkenntnis der Textgestalt erst die Erkenntnis der Sache. Einen Beleg dafür gibt Roland Reuß in seiner Reflexion über den Gebrauch von sowohl "Commendant" als auch "Kommandant" in Kleists die "Marquise 13
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Siegfried Scheibe: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4, 1990, S. 57-72 (71).; Krings 1984, vgl. Anm. 7, S. 61; vgl. auch Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Martens/Zeller 1971, vgl. Anm. 2, S. 44-89 (56ff.). Vgl. zum Problem des Textfehlers die Aufsätze von Karl Konrad Polheim, Winfried Woesler und Waltraud Hagen in editio 5, 1991, S. 38-81.
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von 0 . " . Die abweichende Schreibweise ist nicht unbedingt ein Zufall oder eine Nachlässigkeit. Sie deutet vielmehr auf die Charakterkrise des Obristen, dem seine Familie anvertraut ("commendiert") ist, der sich ihr gegenüber aber als Kommandant verhält. 15 Das editorische Erkennen ist sogleich eine Tätigkeit eigentümlicher Art. Der Editor stellt etwas her, was nicht ihm zu eigen ist (deswegen hat sich das Urheberrecht mit Editionen auch schwer getan). Edieren ist produktiv, aber doch kein eigentliches Hervorbringen oder 'poiein', sondern eher ein Verrichten oder 'apergazesthai'. Edieren hat also die Struktur der Praxis; es ist ein Besorgen, ein 'curare', und dies ist ja in der Tat eine klassische Bezeichnung für das Edieren. Das Edieren läßt sich vergleichen mit der restaurierenden bzw. bewahrenden Tätigkeit eines Kunsthistorikers. Der Kustos bewahrt (Kunst-) Gegenstände, indem er sie katalogisiert und beschreibt und ausstellt; allein damit bringt er sie bereits in bestimmte kunsthistorische und kulturelle Zusammenhänge, die Konstrukt sind, aber dem Gegenstand auch erst Bedeutung geben. Die griechische Vase - Krater, Amphora, Phiale - hat als Bestandteil einer Antikensammlung Bedeutung; und diese Sammlung steht im Zusammenhang mit anderen Sammlungen, konstituiert durch das Corpus Vasorum Graecorum. Ein im Museum bzw. im Corpus aufgehobener Gegenstand hat als solcher eine eigene Bedeutung, von der fraglich ist, ob sie die 'objektive' Bedeutung ist, und die Fraglichkeit bleibt auch dann, wenn der kundige Kustos die Vase im Kontext einer Ausstellung "Kunst der Schale - Kultur des Trinkens" vorstellt. Bei Gegenständen, die von vornherein keinen profanen oder spirituellen Gebrauchswert besessen haben, sondern als bloße Kunstwerke hervorgebracht worden sind, gilt dies nicht minder (allerdings mit einer Einschränkung, auf die noch zu kommen ist); denn wir führen den Diskurs, an dem z.B. Botticellis "Primavera" von 1482 produktiv teilnahm, nicht mehr. Unser Diskurs wird, wenn ich abkürzend so sagen darf, von Bernard Berenson oder Aby Warburg bestimmt, und die "Primavera" nimmt, nun in den Uffizien hängend, ganz anders am Diskurs teil als seinerzeit im florentinischen Stadtpalast des Lorenzo di Pierfrancesco. 16 Der Restaurator hat die Absicht, 'etwas' - eine Fassade, ein Fresko, eine Vase usw. - so wiederherzustellen, wie es einmal war. Aber in aller Regel läßt sich ein ursprünglicher Zustand nur erschließen - ganz abgesehen davon, daß er als solcher nicht restituiert werden kann. Überdies greifen Restaurierungen in Rezeptionstraditionen und theoretisch überformte Sehweisen ein, die in gewisser Weise das Kunstwerk mitkonstituieren. Man denke etwa an die Kontroverse um die Restaurierung der Sixtinischen Kapelle und an den erbitterten, auch vor Gericht ausgetragenen Streit über die Pflasterung der Piazza della Signoria in Florenz: Sind die auf zeitgenössischen Gemälden
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Roland Reuß: Was ist das Kritische an einer kritischen Ausgabe? In: Berliner Kleist Blätter 2, 1989, S. 3-20. Vgl. auch Albrecht Schöne, in: Mitgliederversammlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, München, Residenz, 10. Mai 1990: Ansprachen und Festvortrag, bes. S. 24-26. Ronald Lightbow: Sandro Botticelli. Life and Work. New York 1989, S. 112.
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erkennbaren roten Ziegel der Renaissance original oder sind es die großen Steinplatten, die im 18. Jahrhundert verlegt wurden? Die Restaurierungsproblematik, zu der im Fall des Bauwerks auch das Verhältnis zu seiner Umgebung gehört, ließe sich mühelos durch weitere Beispiele belegen etwa um die merkwürdige Farbigkeit griechischer Tempel und Statuen, die zu sehen wir uns nicht angewöhnen mögen. Und erwähnt sei noch die Rücknahme von restaurierenden Eingriffen, wie sie beispielhaft bei den Münchner Aegineten-Friesen vorgenommen wurde. Die Darbietung von Torsi und Bruchstücken gilt dem Original näher als die Ergänzung (durch Thorvaldsen). Das Beispiel zeigt, wie 'subjektiv' die genannten Tätigkeiten sind. Aber sie sind es nicht so sehr im umgangssprachlichen Sinn des Wortes, der Voreingenommenheit unterstellt, sondern in einem systematischen und darum weniger gravierenden Sinn. Editor, Kustos, Restaurator arbeiten wissenschaftlich; sie konstituieren die ihnen vorliegenden Gegenstände sine ira et studio (Tacitus, Ann. 1,1,1) methodisch, kritisch und natürlich falsifizierbar als Gegenstände eines besonderen Diskurses, nämlich als Gegenstände von Erkenntnis. Das ist nicht selbstverständlich; ein Kelch könnte auch als Kult- oder Gebrauchsgegenstand fungieren und hat dies wahrscheinlich auch getan. Aber auch an das Vergessen ist zu denken, z.B. an den Helm des längst gefallenen Kriegers, der von Erde bedeckt und unerkannt darauf wartet, ausgegraben zu werden.17 Natürlich 'wartet' der Helm nicht. Vielmehr muß ein Archäologe die attische oder kilikische Erde als ein 'Archiv' deuten. Wer wie der Bauer aus einem anderen Grund gräbt, findet nur nebenbei ein Zeugnis antiker Kultur. Geschichte gibt es, noch ehe sie erzählt wird, in 'Archiven', und nur weil es sie in 'Archiven' gibt, kann sie erzählt werden. Das 'Archiv' ist das Fundament für den "Aufbau der geschichtlichen Welt". 18 Die Konstitution des geschichtlichen Gegenstands beginnt als Einrichtung des 'Archivs', d.h. als Unterscheidung von Quellen, Überresten, Denkmälern und vor allem als deren Kritik. Sie ist nach Droysen vierfach: 1. Kritik der Echtheit, 2. Kritik des Früheren und Späteren, 3. Kritik des Richtigen, d.h. eine Kritik, die das Echte und Falsche auch der Sache nach unterscheidet, 4. kritische Ordnung: "Mit dieser Ordnung des Materials schließt die Aufgabe der Kritik und die Interpretation übernimmt das weitere".19 Die Interpretation bzw. die Darstellung von Geschichte hat die Vergangenheit also nicht "objektiv", sondern nur in vermittelter Weise, d.h. in Form von 'Archivalien' vorliegen.20 Mit der so vollzogenen 'Entnaturalisierung' der Geschichte wird zugleich 17 18 19
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Vgl. Krings 1984, vgl. Aran. 7, S. 67. Vgl. Dilthey 1981, vgl. Anm. 3, S. 108ff. Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. von Rudolf Buchner. 7. Auflage. München 1937, S. 99 (vgl. S. 37-38, 92-99); vgl. Dilthey 1981, vgl. Anm. 3, S. 267f.: "Mit der Auslegung der auf uns gekommenen Reste ist innerlich und notwendig die Kritik derselben verbunden. Sie entsteht aus den Schwierigkeiten, welche die Auslegung bietet, und führt so zur Reinigung der Texte, zur Verwerfung von Aktenstücken, Werken, Überlieferungen." Natürlich könnte man Zirkelhaftigkeit einwenden: Der Archivar muß bereits Kenntnisse der Geschichte besitzen, um das Material archivieren zu können. Aber dies ist ein "Zirkel
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der Begriff der Objektivität neu bestimmt, d.h. auf das Methodische eingeschränkt.21 Damit wird allerdings fraglich, inwiefern und ob überhaupt wahre Aussagen über Vergangenes von falschen Aussagen unterschieden werden können. Aber gerade die Methode liefert ein Kriterium zur Unterscheidung. Natürlich kennen wir Geschichte nur durch Beschreibung ("by description"); aber die Beschreibung kann und muß methodisch kontrolliert den 'Archivalien1 entsprechen: Die Übereinstimmung von Quellenlage und Erzählung, und damit der Wahrheitswert der intendierten historischen Aussage verweisen sonach auf eine zugrundeliegende Konzeption von Quellenkritik, deren Fundament intersubjektive Anerkennung darstellt. 22
III. Edieren heißt einen Text archivieren, um ihn der Interpretation zu übergeben. Da die Interpretation des Textes unter einem Wahrheitsanspruch steht, fordert sie eine regelrechte Textarchivierung. Aber regelrecht muß nicht 'historisch-kritisch' bedeuten. Es wurde bereits daraufhin gewiesen, daß die Art der Textüberlieferung, aber auch die Art der Texte selbst verschiedene Editionstypen fordert und legitimiert. Das wird deutlich, wenn man z.B. an die Vorsokratiker oder die frühen Stoiker denkt, deren Texte uns nur in Fragmenten vorliegen, die wiederum aus ganz anderen Texten herausgezogen sind. Damit sind besondere editorische Probleme ebenso gegeben wie bei der Edition von Papyri oder gar einer Inschrift wie derjenigen des Diogenes von Oinoanda.23 Hier und in ähnlichen Fällen nur eine Schwundstufe von editorischer Objektivität anzunehmen, wäre absurd. Denn man müßte der (Text-) Geschichte vorwerfen, eben dies: Geschichte zu sein, d.h. Texte faktisch verschieden hervorzubringen und verschieden zu überliefern. Allein die Methode des Edierens, die regelrechte Textarchivierung gibt Kriterien ab für eine sogenannte Objektivität. Aber der Terminus ist irreführend: Objektivität kommt in der Edition nur dem Gegenstand selber zu, der indes immer der (subjektiven) Vermittlung bedarf: der Handschrift oder dem (authentischen) Druck. 24 Aber dies ist eine Objektivität, die nicht im Verhältnis mit einer Subjektivität steht (so wie sich oben umgekehrt die editorische Subjektivität ohne das Korrelat einer Objektivität zeigte). Wir haben es mit einer Objektivität zu tun, die nicht auf Urteile und Erzählungen bezogen ist, die unabhängig von Erkennen und Verstehen besteht,
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der hermeneutischen Vernunft" (Krings 1984, vgl. Anm. 7, S. 62) und hindert nicht den Gang der historischen Wissenschaften. Vgl. Droysen 1937, vgl. Anm. 19, S. 420ff. (vgl. 96f.). Hans Michael Baumgartner: Narrative Struktur und Objektivität. In: Historische Objektivität. Hrsg. von Jörn Rüsen. Göttingen 1974, S. 48-67 (60). Diogenes von Oinoanda. Hrsg. von C.W. Chilton. Leipzig 1967 (engl. Übersetzung und Kommentar, London 1971). Kraft 1973, vgl. Anm. 12, S. 72.
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weil sie prinzipiell früher ist und nicht erst in einem Urteil bzw. der Urteilsform konstituiert wird. Diese Redeweise erinnert an den Begriff des 'Dings an sich'. Aber in unserem Zusammenhang spielen Dinge keine Rolle, und Dinge an sich schon gar nicht. Es handelt sich eher um 'Diskurse', um mit Michel Foucault zu sprechen, dessen "Archäologie des Wissens" ich auch den Terminus Positivität entnehme, um ihn an die Stelle von Objektivität zu setzen. Foucault benutzt ihn, um einem historischen Diskurs ein Recht sui generis zuzusprechen, das gegenüber einer Darstellung gelten soll, die den Diskurs im Blick auf die Gültigkeit und Wahrheit seiner Aussagen beschreibt und klassifiziert. Dieser Blick bedeutet ein formales α priori: Er urteilt post festum, d.h. ahistorisch, und er generiert die Aussagen des Diskurses als Urteile, über deren Wahrheitswert und objektive Gültigkeit der (Wissenschafts-) Historiker befindet. 25 Positivität dagegen bedeutet ein historisches α priori: Es ist Bedingung für die Wirklichkeit der Aussagen. Das historische a priori generiert die Aussagen in diesem Sinn und tut dies natürlich nicht im Blick auf spätere Entwicklungen. Der unter dem Blickwinkel der Positivität gesehene Diskurs ist a priorisch insofern, als er prinzipiell früher ist als seine Darstellung und Beurteilung. Foucaults Unterscheidung, die im übrigen außerordentlich stark an Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie erinnert, bringt den Sachverhalt der Faktizität ins Spiel. 26 Er ist hier von besonderer Bedeutung; denn die fragliche Faktizität ist sogleich und unmittelbar (anders als bei der griechischen Vase) diejenige von Bedeutungen und Wahrheits- und Gültigkeitsansprüchen. Eben auf diese Weise konstituiert sich ein Diskurs, und zwar nicht zuletzt in Abgrenzung zu anderen Diskursen. Aber es wäre falsch, das historische a priori umdeuten zu wollen zu einem formalen a priori, das Geschichte impliziert und tatsächlich besitzt. Die Ebenen müssen genau unterschieden bleiben. Die Vase ist als museale eine andere geworden, als sie ursprünglich war. Aber nun und abschließend ist zu sehen, (1.) wieweit die Analogie reicht und (2.) welcher Gewinn aus den Foucaultschen 'a priori' zu ziehen ist. 1. Andere Dinge, die vielleicht aus der Erde gegraben oder in dem Schutt und Gerümpel alter Kirchen oder lang unbewohnter Schlösser sich erhalten haben, sind, da sie vor hundert oder dreihundert Jahren gleichsam in Gedanken stehengeblieben sind, um so mehr beredte Zeugen aus vergangenen Zeiten. So charakterisiert Droysen jene historischen Materialen, die er als Überreste bezeichnet und von den sogenannten Quellen und Denkmälern unterscheidet.27 25 26
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Foucault 1972, vgl. Anm. 10, S. 126ff.; vgl. ders.: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 1971, S. 203ff. Schelling unterscheidet: ... die negative Philosophie ist apriorischer Empirismus, sie ist der Apriorismus des Empirischen, aber eben darum nicht selbst Empirismus; dagegen ist die positive Philosophie empirischer Apriorismus, oder sie ist der Empirismus des Apriorischen ... Droysen 1937, vgl. Anm. 19, S. 38.
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"Gleichsam in Gedanken stehengeblieben" ist der von Erde überdeckte Helm; ausgegraben gerät er sogleich in den Kontext einer Fortschreibung des Gedankens, d.h. in den Kontext von Bedeutung. Aber die Fortschreibung ist genau jener Diskurs, den das formale a priori generiert. Auch der Text ist ein Überrest, vergangene Gegenwart. Aber er ist in besonderer Weise gegenwärtig; ihn zeichnet Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart aus. Die Objektivität, die in der Edition nur dem Gegenstand - der Handschrift, dem Erstdruck - zukommt, ist mehr als die materielle Gegenständlichkeit des beschriebenen Papiers. Denn eben: Es ist beschrieben. Der Text ist in Gedanken stehengeblieben, aber er ist zugleich auch stehengebliebener Gedanke. Hier kommt ein Unterschied zu anderen sogenannten Überresten zum Vorschein. Der Text trägt Bedeutung anders als Helm und Vase, Tempel und Urkunde. Diese deuten nicht auf sich selbst; die Urkunde z.B. vertritt den Rechtsakt, aber stellt ihn nicht dar (und ist für den Historiker juristisch auch uninteressant). Dagegen ist der philosophische, aber auch der poetische Text kein Zeugnis für etwas, das von ihm unterschieden werden muß. Er deutet nicht - jedenfalls nicht allein - auf etwas anderes, sondern auf sich selbst. Dafür läßt sich, jedenfalls was den philosophischen Text angeht, ein systematischer Grund angeben; Josef König hat ihn in dem Vortrag "Das spezifische Können der Philosophie als eu legein" herausgearbeitet. 28 Der philosophische, aber auch der poetische Text besitzt eine andere Gegenwärtigkeit als die von Droysen so genannten Überreste, die im Kontext von Archiv und Museum ihre Bedeutung finden und in der Tat vergangene Gegenwärtigkeit sind. Der Text dagegen bringt seine Bedeutung mit. Er ist in dieser Hinsicht autonom, unbeschadet der Tatsache, daß er - möglichst historisch-kritisch - ediert werden muß bzw. soll. Die Autonomie bedeutet Zeitlosigkeit; der stehengebliebene Gedanke ist als Text da, und Geschichte ist in diesem Fall kein Konstrukt. Die Bestimmung des historischen α priori als Diskurs, d.h. Text, ist kein Zufall. Denn nur hier ist der Begriff des historischen a priori paradigmatisch. 2.
Die Besonderheit des historisch überlieferten Textes, der sich nicht in Droysens klassische Einteilung des historischen Materials fugen läßt, wird in der Edition deutlich. Denn sie ist der Ort, an dem sich die Ebenen des historischen a priori und des formalen a priori überschneiden. Die Edition überliefert mit einem seit den Alexandrinern ausgebildeten methodischen Bewußtsein den positiven Text, sie hält ihn fest und bewahrt ihn. Aber zugleich gibt sie einen verstandenen, d.h. kommentierten Text. Sie übt Textkritik und gibt darüber hinaus in besonderen Fällen auch Erläuterungen, Nachweise usw. Ich habe natürlich die historisch-kritische Ausgabe dabei vor Augen, deren Vorzug gegenüber anderen Ausgaben nun eben darin besteht, daß sie den positiven Text tradiert. Insbesondere die historisch-kritische Ausgabe bringt das histori28
Josef König: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. von Günther Patzig. Freiburg/München 1978.
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sehe a priori zur Geltung, indem sie es in den Kontext des formalen α priori stellt. Sie tut dies, indem sie, abgekürzt gesagt, von Schleiermachers berühmter Formel Gebrauch macht: "Die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber." 29 Die Überschneidung der beiden Ebenen ist das Besondere der Textedition. Die Bedingung ihrer Möglichkeit ist noch nachzutragen. Sie heißt Wahrheit. Der philosophische Text beansprucht Wahrheit. Der Anspruch gilt im logischen Sinn zeitloser Sätze, und insofern unterliegt er auch schon immer der Kritik. Ihre Wahrheit setzt Textkritik voraus, so daß Kritik zunächst Textkritik sein muß. Vorhin hatte ich neben den philosophischen Text noch den poetischen Text gestellt. Ich hoffe zu Recht; denn ich vermute, daß die Überschneidung der Ebenen auch die poetische bzw. literarische Edition kennzeichnet, nur daß dort nicht philosophische, sondern ästhetische Wahrheit Möglichkeitsbedingung wäre - also Schönheit. Und damit ist nun auch endlich die 'Einschränkung', von der oben anläßlich des Kunstwerks die Rede war, benannt. Denn wie der philosophische und der literarische Text hat wohl auch der als Kunstwerk verfaßte und verstandene Gegenstand eine Bedeutung für sich. Er stellt das 'Schöne' dar (oder was dafür gehalten wird) und rückt ebendeswegen ins Museum der schönen Künste ein (auch wenn er einmal 'bloßer' Gebrauchsgegenstand war). Aber er muß auch ins Museum, d.h. in den Kontext des formalen a priori einrücken, wenn seine eigene Bedeutung, d.h. sein historisches a priori gewahrt sein soll. Die Überschneidung der Ebenen, die hier nicht weiter auszuführen ist, richtet den Blick auf jenes besondere historische Material, das unter dem Anspruch auf 'Wahrheit' und 'Schönheit' steht. Vor allem wird der Blick auch auf jene besonderen Tätigkeiten gerichtet, die diesen Anspruch besorgen, und zu ihnen gehört die Edition zumal. 30
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Vgl. Fran^oise Breithaupt/Alain Brousse/Alain Deligne/Anne Desbordes: Was heißt die hermeneutische Formel: "Die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber"? In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Berlin/New York 1985, S. 601-611 (= Schleiermacher-Archiv, Band 1, Teilband 1). 30 pür die Erstellung des satzfertigen Manuskriptes danke ich Beatrice Rauschenbach M.A.
Annemarie Pieper
Akzeptanzbarrieren für philosophische Editionen?
Große wissenschaftliche Editionen sind langfristige und teure Unternehmen. Als solche sind sie in besonderem Maß auf das Wohlwollen eines breiten Leserpublikums angewiesen, das von den Ausgaben profitiert. Daher ist es eminent wichtig, vorhandene Akzeptanzbarrieren ausfindig zu machen und nach Möglichkeiten ihrer Überwindung Ausschau zu halten. Wenn ich im folgenden einige solcher mir bekannter Barrieren aufliste, so bitte ich dabei zu bedenken, daß sie (a) nicht alle philosophischen Editionen in gleicher Weise betreffen und (b) nicht repräsentativ für jede Art von Benutzer sind. Ich beginne mit dem bibliographischen Verhalten von Verfassern wissenschaftlicher Arbeiten. Nach welchen Ausgaben zitieren sie gewöhnlich? Wirft man einen Blick in größere Monographien über einen philosophischen Autor, so wird dort in der Regel die jeweils maßgebliche historisch-kritische Ausgabe für Textbelege herangezogen. Wenn daneben noch auf andere Ausgaben zurückgegriffen wird, so meistens aus dem Grund, weil die historisch-kritische Edition noch unabgeschlossen ist und für die noch nicht kritisch edierten Texte frühere Werkausgaben herangezogen werden müssen. Ältere Ausgaben werden oft dann bevorzugt, wenn die Neuedition noch nicht weit fortgeschritten ist und der Verfasser um der Einheitlichkeit willen seinen Ausführungen eine abgeschlossene Werkedition zugrundelegen möchte. In dem Fall ist es jedoch üblich, in Klammern auf die Neuedition zu verweisen, soweit sie bereits gediehen ist. Mir scheint, daß dieses Nebeneinander von verschiedenen zitierten Werkausgaben seinen Grund in der Natur der Sache hat und keine Diskriminierung historisch-kritischer Ausgaben bedeutet. Was als 'work in progress' noch nicht komplett ist, bedarf der Ergänzung von anderer Seite, auch wenn dabei in Kauf genommen werden muß, daß ältere Ausgaben erhebliche Fehlerquellen beinhalten können, weil sie nicht sorgfältig genug oder nicht nach wissenschaftlichen Kriterien ediert wurden. Ein Blick in Sammelbände und Zeitschriften ergibt ein anderes Bild von der gängigen Zitierweise. Dort werden die Textbelege häufig nicht den bereits fortgeschrittenen großen historisch-kritischen Editionen entnommen, sondern den Paperback-Ausgaben, die auf dem Markt sind. Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Die meisten Verfasser von Aufsätzen, Vorträgen, Lexikon- und Handbuchartikeln arbeiten in ihrer häuslichen Bibliothek. Dort befinden sich von den philosophischen Klassikern höchst selten die historisch-kritischen Großeditionen, sondern im Normalfall die handlichen Taschenbuchausgaben. Sie sind preiswert und benutzerfreundlich, da man in ihnen nach Belieben anstreichen kann, und sie sind relativ zuverlässig, jedenfalls
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für den Hausgebrauch. Außerdem nehmen sie bedeutend weniger Platz weg als die unhandlichen, großformatigen und dickleibigen Folianten der historisch-kritischen Ausgaben. Überdies benutzen wir auch in unseren Seminaren mit Rücksicht auf den schmalen Geldbeutel der Studierenden ebenfalls die Paperbacks, aus denen dann in den Referaten und Hausarbeiten mit größter Selbstverständlichkeit zitiert wird. Ich denke, daß im Hinblick auf diese Benutzergruppe etwas für die größere Akzeptanz der Editionen getan werden kann, nämlich indem die Verlage - wenn überhaupt - nicht erst nach Jahren, wenn ein Großteil der gebundenen Ausgabe abgesetzt ist, eine Studienausgabe ins Auge fassen, sondern schon so früh wie möglich. Die gebundenen Ausgaben sind Bibliotheksausgaben, die auch nur dort benutzt werden und auf eine entsprechend kleine Resonanz stoßen. Eine Studienausgabe hingegen fände ein breiteres Publikum und würde sich bei entsprechender Auflage wohl auch verlegerisch rentieren. In diesem Zusammenhang verweise ich exemplarisch auf die dtv-Ausgabe von Nietzsches Werken und Briefen, die sich großer Beliebtheit erfreut und neben der gebundenen Originalausgabe verkauft wird. Es ist nicht einzusehen, warum diese Beispiele nicht auch bei anderen Editionen Schule machen sollten. Eine weitere Akzeptanzbarriere besteht nach meiner Erfahrung in der kritischen Textgestaltung wissenschaftlicher Editionen. Je nach Anzahl der zu korrigierenden Druckfehler, der verschiedenen Lesarten und sonstiger Varianten kann eine Seite durch den textkritischen Apparat so überfrachtet sein, daß es außerordentlich mühevoll und zeitraubend ist, sich den Inhalt des Textes über die zahlreichen Zerstückelungen hinweg anzueignen. Dieser Mühe unterzieht sich meistens - und dies auch bloß partiell - nur derjenige, der an einer bestimmten Stelle Interpretationsschwierigkeiten hat und sich durch eine minutiöse Rekonstruktion des Textes mitttels der philologischen Hilfen des Apparats Aufschlüsse über ein angemessenes Textverständnis erhofft. Der normale Leser wird jedoch lieber zu einer Ausgabe greifen, die vom Ballast des kritischen Apparats weitestgehend befreit ist und eine Lektüre erlaubt, bei der das Auge nicht ständig unterbrochen und abgelenkt wird. Hinzu kommt noch ein weiterer 'Störfaktor'. Viele Leser, vor allem die jüngeren, bekunden bei älteren deutschsprachigen Texten Schwierigkeiten mit den alten Schreibweisen, also mit der Orthographie und Interpunktion der Erstdrucke, die den kritischen Editionen in der Regel zugrundegelegt werden. Es braucht eine gewisse Übung, bis man einen Originaltext von Kant oder Fichte oder Schelling etwa lesen kann, ohne über die ungewohnte, dazu noch nicht einmal einheitlich durchgehaltene Schreibart der Wörter zu stolpern. Dies hat zur Folge, daß selbst dort, wo eine preisgünstige kritische Paperbackausgabe des Gesamtwerks in der Originalversion vorhanden ist, oft eine andere, bereinigte und der heutigen Schreibweise angepaßte Ausgabe vorgezogen wird. Kant z.B. wird sicher ebenso häufig nach der Akademie-Ausgabe wie nach der Weischedel-Ausgabe zitiert. Aber selbst wenn sich die bibliographischen Angaben für zitierte Texte auf die Akademie-Ausgabe beziehen, sind die Zitate selber doch einer moderneren Ausgabe entnommen. Die wohl gängigste Zitierweise Kants ist die, daß Bezug auf die Seitenzahlen der ersten oder zweiten Auflagen der "Kritiken" genommen wird, die zitierten Textpassagen aber aus der Meiner- oder Reclam-Ausgabe stammen. Die wenigsten Leser oder Verfasser haben je einen Nach-
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druck des Originals wirklich in der Hand gehabt und die von ihnen zitierten Stellen darin nachgeprüft. Was die Textgestaltung der kritischen Editionen betrifft, so muß man bezüglich der eben erwähnten Benutzerprobleme einräumen, daß der textkritische Apparat manchmal durchaus etwas Abschreckendes hat, vor allem dann, wenn es um die Verzeichnung von Dingen geht, die dem ungeschulten Leser als nebensächlich und daher verzichtbar erscheinen. Nach seiner Meinung haben sie einen zu geringen Informationswert, als daß es sich lohnt, sie eigens mitzuteilen. In bezug auf die genannten Akzeptanzbarrieren möchte ich zwei Vorschläge zu ihrer Beseitigung machen. (1) Aus der Sicht der Editoren ist ein textkritischer Apparat unverzichtbar. Es muß schließlich jederzeit nachprüfbar sein, wie und über welche Etappen die im Haupttext angebotene Original version zustandegekommen ist. Dieser Weg läßt sich nur über den textkritischen Apparat dokumentieren. Andererseits ist zu fragen, ob es wirklich nötig ist, alles und jedes, was einem z.B. bei der Textkollationierung aufgefallen ist, zu verzeichnen. Könnten nicht z.B. reine Druckfehler, die eindeutig als solche erkennbar sind, stillschweigend korrigiert werden, erst recht dann, wenn Druckfehlerverzeichnisse vorhanden sind, die nicht eigens als Quelle für die vorgenommene Korrektur fungieren müssen. Befreit man den textkritischen Apparat von solchen und ähnlichen Quisquilien, so erübrigen sich auch so triviale Entscheidungen wie die, ob z.B. ein i-Punkt wirklich vorhanden ist oder ob sich auf dem Papier ein Fliegenschiß befindet, der eine Korrektur erforderlich machen würde. Der Apparat sollte also soweit wie möglich, freilich ohne Substanzverlust, gestrafft und von überflüssigem Ballast befreit werden, damit der zur Verfügung stehende Raum dem erkennbar wichtigen Material vorbehalten bleibt. Ob man den gesamten Apparat besser zusammen mit dem Haupttext auf derselben Seite druckt oder ihn nach hinten in den Anhang verbannt, da gehen bekanntlich die Meinungen der Fachleute auseinander. Während die einen gern alles auf einen Blick beisammen haben und sich ärgern, wenn sie ständig nach hinten blättern müssen, bevorzugen die anderen einen fortlaufenden Text und eine ungestörte Lektüre. Ich vermute, daß darüber kein Konsens herzustellen ist und die Entscheidung je nach Textlage verschieden ausfallen kann. (2) Was die Schwierigkeiten von Benutzern kritisch edierter Texte beim Lesen und überhaupt im Umgang mit solchen Texten angeht, so könnten wir, wenigstens auf Universitätsebene, selber einiges dazu beitragen, um die Akzeptanz bei den Studierenden zu fördern. Es wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, im philosophischen Seminarbetrieb in regelmäßigen Abständen bereits auf der Proseminarstufe eine Einführung in editionswissenschaftliche Grundbegriffe und Arbeitsweisen anzubieten. durchaus verbunden mit einer Textlektüre. Verschiedentlich geschieht dies schon, aber die philologischen Fächer haben uns diesbezüglich einiges voraus. Es ist sicher nicht ganz einfach, eine solche Übung attraktiv zu gestalten und den Leuten schmackhaft zu machen, aber wenn wir wollen, daß die immense Arbeit und der enorme Aufwand, mit dem philosophische Editionen betrieben werden, wenigstens annäherungsweise so gewürdigt werden, wie sie es verdienen, dann müßte davon einiges vermehrt in die akademische Lehre einfließen, damit unsere Studenten sich von Anfang an daran gewöhnen, neben ihren üblichen Leseexemplaren auch die modernen
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kritischen Ausgaben mit heranzuziehen. Und man gewinnt sie dafür m. E. nur, wenn es gelingt, ihnen die Vorzüge dieser Ausgaben sinnfällig vor Augen zu führen. Dies läßt sich am ehesten noch über den Nutzen der Kommentierungen bewerkstelligen, deren reichhaltiges Material die Aufschlüsselung des Textes erleichtert. Wenn den Philosophiestudenten gleich zu Beginn ihres Studiums klar gemacht wird, welche Vorarbeit ihnen dank der texterläuternden Zusätze in bezug auf philosophiegeschichtliche Hintergründe, direkte und verdeckte Zitate, Anspielungen auf andere Autoren, Hinweise auf Vergleichsstellen im Gesamtwerk usf. abgenommen wurde, dann greifen sie nicht nur weniger widerwillig, sondern vielleicht sogar mit einem gewissen Respekt und mit größerer Selbstverständlichkeit zu den wissenschaftlichen Editionen, um dieses Angebot zu nutzen. Sobald man sich an den Umgang mit kritisch edierten Texten gewöhnt hat, fallen die beschriebenen Schwierigkeiten bei der Lektüre meistens von selbst weg, da man auch ein selektives Auge für die im Zusammenhang der eigenen Forschung wichtigen und weniger wichtigen Belege bekommt. Ich komme zu einem weiteren Fragenkomplex. Wie steht es denn mit der A k zeptanz philosophischer Editionen in der scientific community der Philosophiedozenten insgesamt? Wie rezipieren sie kritische Textausgaben und das Geschäft des Edierens? Diese Fragen lassen sich nicht ohne weiteres befriedigend beantworten. Denn zieht man die einschlägigen Zeitschriftenorgane heran, um unter der Rubrik 'Buchbesprechungen' etwas über die Resonanz der Fachkollegen auf editorische Neuerscheinungen in Erfahrung zu bringen, so fallt auf, daß die meisten Rezensionen von Verfassern geschrieben wurden, die selber editorisch tätig sind, so daß sich die Rezensenten zu einem großen Teil aus ihren eigenen Reihen rekrutieren. Beim Außenstehenden erweckt dies natürlich den Eindruck, daß hier einerseits pro domo geurteilt wird und andererseits kritisch Ediertes offenbar zu einer so komplizierten Textgattung gehört, daß nur noch die Eingeweihten, d.h. die Mitglieder der Editorenzunft imstande sind, sich darin zurechtzufinden und ein begründetes Urteil über die von ihresgleichen erstellten Werkausgaben abzugeben. Da ist zweifellos etwas dran. Andererseits besteht von Seiten der Editionen und der Verlage ein berechtigtes Interesse daran, daß nur fachkompetente Wissenschaftler sich zu derart aufwendig hergestellten Büchern äußern, da sonst die Gefahr besteht, daß die Würdigung nicht angemessen bzw. nach nicht angemessenen Kriterien ausfällt. Trotzdem schiene es mir sinnvoll, gelegentlich auch einmal diejenigen um eine Rezension zu bitten, die ernsthaft mit den verschiedenen Ausgaben arbeiten, ohne selber Editoren zu sein. Haben sie Desiderata, wo sind sie als die eigentlichen Benutzer des Lobes voll usf.? Ich persönlich sehe ein gewisses Problem in der Vielzahl und in dem Umfang von Editionen. Obwohl ich es durchaus begrüßenswert finde, daß inzwischen nicht mehr nur die sogenannten Klassiker, sondern auch andere bedeutende Autoren der Philosophiegeschichte ediert werden, frage ich mich doch manchmal, ob bei all diesen Unternehmen das Prinzip der Vollständigkeit nicht übertrieben und zu Tode geritten wird. Muß man denn von jedem Autor, wie bedeutend er in den Augen der Editoren auch sein mag, alles und jedes drucken? Ich denke, zu einer vernünftigen Edition gehören auch Kriterien einer sinnvollen Materialbegrenzung. Wenn z.B. durch Faksi-
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mile-Nachdrucke viele Erstdrucke, an die man sonst schlecht herankommt, zugänglich gemacht werden, so ist dies sicher eine gute Sache. Aber muß eine solche Edition gleich so inflationär ausfallen wie z.B. die Christian-Wolff-Ausgabe? Eine repräsentative Auswahl, verbunden mit einer textkritischen Erschließung insbesondere der lateinischen Schriften wäre m. E. fruchtbarer als die mehr oder weniger wahllose Herausgabe unzähliger, relativ dürftig kommentierter Bände, deren Inhalt sich vielfach überschneidet und redupliziert. Es sollte zwar kein Kriterium tür eine Werkausgabe sein, ob die Gruppe der potentiellen Interessenten größer oder kleiner ist, aber in jedem Fall kann der Sinn philosophischer Editionen nicht darin bestehen, einen Autor bis zum letzten handschriftlichen Zettel zu edieren, ganz gleich, ob es sich um bloß hingeworfene Notizen, Lesefrüchte, Rohentwürfe oder Vorstufen eines später ausgearbeiteten Textes handelt, - wenn dadurch nur den Bedürfnissen einer Kultgemeinde nachgekommen werden soll. Ein Beispiel hierfür ist die Rudolf Steiner-Ausgabe. Andererseits gebe ich zu, daß es nicht immer leicht zu entscheiden ist, was publikationswürdig ist und was besser ungedruckt bleibt, da es den Rang eines Zettelkastens nicht übersteigt. Dennoch geht es nicht an, diese Entscheidung dem Leser aufzubürden, denn der wird in Anbetracht der Materialfülle ohnehin die Segel rasch streichen und sich über das unnütz vergeudete Papier ärgern. Wir haben z.B. im Karl Jaspers-Stiftungsrat beschlossen, die Edition des Nachlasses mit den Vorarbeiten zur Philosophischen Logik und zur Geschichte der Gehalte endgültig abzuschließen. Natürlich existieren noch tausende unpublizierter handschriftlicher Seiten, aber Hans Saner, der Projektleiter der Jaspers-Edition, hält sie für nicht publikationswürdig. Also machen wir jetzt Schluß; die Papiere werden jedoch den Interessierten in Marbach zugänglich sein. Als letztes möchte ich noch auf Akzeptanzbarrieren für das Geschäft der Edition im Vergleich zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten eingehen. Wilhelm G. Jacobs hat bereits vor genau zwanzig Jahren (1972) die Widersprüchlichkeit der Situation beklagt, die darin besteht, daß in der Editionsarbeit wissenschaftliche Leistungen erbracht würden, auf die sich Forschung und Lehre selbstverständlich stützen, ohne daß diese Arbeit jedoch als philosophische wirkliche Anerkennung und Resonanz finde. Er führte dies damals auf die Abwertung des Historismus als maßgeblicher Methode in den Geisteswissenschaften zurück und plädierte dafür, die Notwendigkeit von kritischen Editionen im Zusammenhang mit dem zentralen Interesse zu sehen, das die Philosophie an der Sicherung und Rekonstruktion ihrer eigenen Geschichte habe. 1 Ahnlich argumentierte ein Jahr später (1973) Heinrich Schepers, indem er die historisch-kritische Edition von bedeutenden deutschen Philosophen als eine nationale Aufgabe bezeichnete und die mangelnde Wertschätzung gegenüber dieser Aufgabe von Seiten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf die unzureichende Institutionalisierung langfristiger editorischer Unternehmen zurückführte. Auch er wies darauf
W.G. Jacobs: Bedeutung und Problematik philosophischer Editionen. In: Philosophisches Jahrbuch 79, 1972, S. 385-394.
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hin, daß der Verzicht auf historisch-kritische Editionen letztlich einen Verzicht auf gesicherte Geschichte bedeute. 2 In den seither vergangenen Jahren hat sich in puncto institutioneller Absicherung der Editionen an Akademien und Universitätsinstituten eine Menge getan. Zwar wäre eine größere finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung von mehr Personalmitteln zur Beschleunigung der Editionsarbeiten zweifellos wünschenswert, aber das gilt nicht nur für die Editionen, sondern für fast alle Bereiche der Geisteswissenschaften, die bei ohnehin knappen Mitteln generell stiefmütterlich behandelt werden. Seit 1972 sind auch große Fortschritte in bezug auf die Anzahl der erschienenen Bände zu verzeichnen, von neu hinzugekommenen Editionsunternehmen ganz zu schweigen. Aber wie steht es mit dem Ansehen philosophischer Editionen? Hat die Wertschätzung, die vor zwanzig Jahren vermißt wurde, in gleichem Maß zugenommen wie die Publikationen? Etwa zur Halbzeit, im Jahre 1980, hat Hermann Krings beim III. Internationalen Rundgespräch der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen die Wichtigkeit der Editionsarbeit nachdrücklich herausgestellt: Die Sicherung und Erschließung der Texte ist nicht nur ein Service mit Relevanz für die Philosophie; diese Arbeiten sind selber ein Teil der philosophischen Forschung, und die Eröffnung eines authentischen Textes ist als solche ein Stück Philosophie. Sie bedarf des philosophischen Denkens. Es gibt philosophische Argumente fürs Edieren. 3
Uns allen, die wir hier versammelt sind, ist die enge Verschränkung von Philosophieren und Edieren fraglos klar. Wir wissen, daß die Beherrschung des philologischen Handwerks allein nicht ausreicht, um an einer historisch-kritischen Werkausgabe eines Philosophen kompetent mitzuarbeiten. Um einen zuverlässigen, den Kriterien der Authentizität und der Chronologie gerecht werdenden Text herzustellen, von dem man annehmen darf, daß er dem hypothetisch unterstellten Autorwillen entspricht, ist Vertrautheit mit den Schriften ebenso unerläßlich wie eine gründliche Kenntnis des philosophiegeschichtlichen Umfelds. Auch dann ist noch viel detektivisches Gespür vonnöten, um die Entstehungs- und die Problemgeschichte der zu edierenden Schriften korrekt zu recherchieren, um Handschriften zu entziffern, Vorstufen zum bearbeiteten Material zu erkennen und diese zu datieren usf. Kurz: Selberdenkenkönnen ist die unabdingbare Voraussetzung für die Edition philosophischer Texte. Gut, wir wissen das. Aber wissen es inzwischen auch die Nutznießer unserer Editionen? Haben sie eine Vorstellung davon, wieviel philosophisches Potential auch und gerade in der Kleinarbeit steckt? Mein Eindruck ist der, daß nach wie vor die Meinung vorherrscht, eigenständige philosophische Leistungen erbringe nur derjenige, der selber philosophische Bücher schreibt. Im Vergleich dazu nehme sich die Editionsarbeit wie die Tätigkeit eines Bilderrestaurators aus, der nicht imstande sei, selber Bilder zu malen. Ihm wie dem Editor mangele es an Kreativität. Ich fürchte, dieses Vorurteil des philosophischen Banausentums ist unausrottbar, weil die, die es hegen, selber nicht edieren und nur die Früchte der Editionen genießen, ohne den philosophischen Input zu 2
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H. Schepers: Probleme des Aufbaus einer Edition. Ein Vorschlag zur Abschätzung der Effizienz von Editionsarbeiten. In: Philosophisches Jahrbuch 80, 1973, S. 391-395. H. Krings: Einleitung. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 3, 1980, S. 2.
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erkennen, geschweige denn anzuerkennen. Aber mit dieser Akzeptanzbarriere sollten wir leben können, zumal die meisten von uns ja nicht nur philosophierenderweise Texte edieren, sondern ebenfalls philosophierenderweise auch eigene Aufsätze und Bücher schreiben, in denen vielleicht das editorische Handwerk seine Spuren hinterläßt. Um das Ansehen der Editorik insgesamt zu verbessern, indem ihre kulturelle Bedeutung im und für den akademischen Betrieb erst einmal bewußt gemacht wird, haben wir in Basel auf Anregung meiner Kollegen von der Germanistik, Karl Pestalozzi und Wolfram Groddeck, die Gründung eines Instituts für Editionswissenschaft beschlossen. In Basel bestehen besonders günstige Voraussetzungen für ein solches universitäres Institut, das über eine feste Infrastruktur verfügen soll, mittels deren es die laufenden und neu einzurichtenden Editionsprojekte koordinieren und fördern kann, denn per Zufall haben sich dort eine große Anzahl von kritischen Editionen etabliert: die Gottfried Keller-Ausgabe, ein Teil der Friedrich Nietzsche-Ausgabe (Werke und Briefe), eine Franz Overbeck-Ausgabe, eine Johann Jakob Bachofen-Ausgabe, eine Ausgabe der Briefe von Leonhard Euler und eine ebensolche der Brüder Johann und Jakob Bernoulli. Eine neue wissenschaftliche Gesamtausgabe der Werke von Jacob Burckhardt ist vorgesehen Wenn es gelingt, alle diese und noch einige kleinere Editionen unter ein gemeinsames Dach zu bringen, dann, so hoffen wir, präsentiert sich dieses interdisziplinäre Institut als eine respektable und auch als solche anerkannte Forschungsstätte, aus der innovative Impulse sowohl in die Lehre als auch in die jeweils zugehörigen Wissenschaften eingehen. Ich möchte schließen mit einem Zitat von Jacques Derrida: "... die Schrift als Ursprung der reinen Geschichtlichkeit, der reinen Überlieferbarkeit ist nur das Telos einer Geschichte der Schrift, deren Philosophie immerfort aussteht. " 4
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J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976, S. 25.
Heinz-Günther Nesselrath
Neuere Tendenzen in der altphilologischen Edition
Gibt es neuere Tendenzen in der 'altphilologischen Edition'? Wenn man die heute in der Klassischen Philologie gebräuchlichen kritischen Ausgaben antiker Autoren aufschlägt, möchte man diese Frage fast verneinen, denn der erste dabei sich einstellende visuelle Eindruck ist in der Regel der gleiche wie schon vor Jahrzehnten: Unter den oberen zwei Dritteln oder drei Vierteln jeder Seite mit dem eigentlichen Text sieht man da auf dem darunter verbleibenden Raum den sogenannten kritischen Apparat, der vor allem über die Handschriften Aufschluß geben soll, auf denen der vom Editor konstituierte Text basiert; hier wird auf die in den Handschriften zu findenden abweichenden Lesarten hingewiesen und klargemacht, welche von ihnen der Editor als die richtige (d.h. die ursprüngliche seines Autors) ansieht und deshalb in seinen Text gesetzt hat. Hat ihn keine von diesen Lesarten befriedigt, dann hat er entweder eine 'Konjektur', einen Lese Vorschlag, der von ihm selbst oder von einem seiner Vorgänger stammt, in den Text gesetzt (und dies wieder im Apparat dokumentiert) oder aber (durch entsprechende Zeichen) die Textkonstituierung an der fraglichen Stelle offengelassen, wenn ihm auch keiner dieser Textvorschläge das Richtige zu treffen scheint. In einer vor dem Text stehenden Praefatio gibt der Editor nähere Auskunft über den Charakter der von ihm zur Textkonstitution herangezogenen Handschriften, über ihren jeweiligen Zuverlässigkeitsgrad und ihr Verhältnis zueinander, soweit sich dieses noch bestimmen läßt; ferner nimmt er Stellung zu früheren Editionen seines Autors und zu der Frage, welche Fortschritte er mit seiner eigenen Edition zu erzielen hofft. In etwa dieser Form präsentieren sich die kritischen Ausgaben griechischer und lateinischer Autoren etwa seit der Mitte des letzten Jahrhunderts (zum Teil auch schon vorher), und auch die ungefähr 25 in den letzten fünf Jahren erschienenen Ausgaben, die zur Vorbereitung dieses Referats etwas näher in Augenschein genommen wurden, sind in dieser Weise angelegt. Seit zum ersten Mal wenigstens alle wichtigeren antiken Autoren in gedruckten Ausgaben vorgelegt wurden, ist überdies schon ungefähr ein halbes Jahrtausend vergangen; da könnte sich die Frage geradezu aufdrängen, ob innerhalb dieser langen Zeit für die Edition dieser Autoren nicht längst alles Wesentliche getan ist - insbesondere seitdem sie eben in der oben skizzierten Form und mit den vor allem im 19. Jahrhundert entwickelten Standards ediert worden sind. Um diese Frage noch etwas schärfer zu fassen: Ist das, was in den Editionen der Klassischen Philologie heute geschieht, vielleicht nur noch lästige - und kostenaufwendige Wiederholung einer bereits zur Genüge besorgten Tätigkeit, und sind allenfalls noch besonders abgelegene Texte aus ihren Winkeln hervorzuziehen und auf den Stand der übrigen Editionen zu bringen, wonach wir dann das Edieren altsprachlicher Texte
Neuere Tendenzen in der altphilologischen Edition
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vergessen könnten? Daß dem keineswegs so ist, sollen die folgenden Hinweise zu zeigen versuchen. Fragen wie die gerade gestellten beruhen nämlich unausgesprochen auf der Prämisse, daß unsere antiken Texte nach eben bereits jahrhundertelanger Arbeit der Philologen ein in allen wesentlichen Dingen inzwischen feststehendes Aussehen bekommen haben. Daß dies leider ein Trugschluß ist, demonstriert der Fall von zwei in der Mitte der achtziger Jahre fast gleichzeitig erschienenen neuen Ausgaben des römischen Dichters Horaz,1 die den Text an nicht weniger als 350 Stellen2 voneinander abweichend darbieten, was zu einem großen Teil auf die recht verschiedene Einstellung der beiden Editoren zur handschriftlichen Überlieferung zurückzuführen ist: Der eine versuchte diese so oft, wie ihm nur irgend möglich schien, zu halten, der andere dagegen glaubte, so oft, wie er es für nötig erachtete, ändern zu müssen; die Spielräume sind also auch heute noch offenbar viel größer als oft angenommen. Nun könnte man für das gerade geschilderte Phänomen in einem hohen Maße einfach menschliche Subjektivität verantwortlich machen; daß aber zur Neuedition antiker Texte auch eine Reihe objektiver Desiderata veranlassen kann und in der Erfüllung dieser Desiderata sich auch die wichtigsten Tendenzen der modernen altphilologischen Edition manifestieren, kann ein Blick auf die Autoren zeigen, die in den letzten fünf Jahren neu ediert worden sind: Erst im letzten Herbst ist eine neue Textausgabe der homerischen Odyssee herausgekommen,3 im gleichen Jahr 1991 eine Neuedition der Werke des römischen Historikers (und Schulautors) Sallust4 sowie eine neue Ausgabe der Eudemischen Ethik des Aristoteles;5 aus dem Sommer davor (1990) stammen neue Texte sämtlicher Stücke der beiden Tragiker Sophokles und Aischylos;6 für das Jahr 1988 sind mehrere kritische Einzelausgaben von Stücken des Euripides zu verzeichnen;7 und diese Liste ließe sich ohne Schwierigkeiten erweitern. In den Niederlanden ist man derzeit damit beschäftigt, die handschriftliche Grundlage der achten Tetralogie des Corpus Platonicum (umfassend die Dialoge Kleitophon, Staat, Timaios und Kritias) neu durchzuarbeiten;8 und in Großbritannien ist die Ersetzung der bisherigen Oxford-Ausgabe der Werke Piatons geplant (bzw. schon in Arbeit). Es wäre einigermaßen absonderlich, wenn es sich bei allen diesen Ausgaben 1
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Q. Horati Flacci Opera, ed. S. Borzsäk. Leipzig 1984. Q. Horati Flacci Opera, ed. D.R. Shackleton Bailey. Stuttgart 1985. Die Zahl findet sich in der von J. Delz geschriebenen Rezension von Shackleton Bailey 's Ausgabe, Gnomon 60, 1988, S. 495. Homeri Odyssea, rec. H. van Thiel. Hildesheim 1991. Sallusti Opera, rec. L.D. Reynolds. Oxford 1991. Aristotelis Ethica Eudemia, recc. R.R. Walzer et J. Mingay. Oxford 1991. Sophoclis Fabulae, recc. H. Lloyd-Jones et N.G. Wilson. Oxford 1990. Aeschyli Tragoediae cum incerti poetae Prometheo, ed. M.L. West. Stuttgart 1990. Euripidis Hercules, ed. K.H. Lee. Leipzig 1988. Euripidis Iphigenia Aulidensis, ed. H.C. Günther. Leipzig 1988. Euripidis Phoenissae, ed. D J . Mastronarde. Leipzig 1988. Angaben dazu bei G. Boter: The textual tradition of Plato's Republic. Leiden 1989 (Mnemosyne Suppl.107), S. XIX; vgl. auch die bisher erschienenen textkritischen Beiträge des für diese Ausgabe vorgesehenen Editors, S.R. Slings in: Mnemosyne 40, 1987, 27-34 und 35-44; 41, 1988, 276-288 («a new edition of the Politeia can only be justified if it is based on an exhaustive examination and evaluation of papyri, indirect tradition and me», 276). 42, 1989, 380-397; 43, 1990, 341-363.
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nur um das Wiederaufwirbeln von längst gedroschenem Stroh handeln sollte; und daß dies in der Tat nicht der Fall ist, ergibt sich aus dem, was von den Editoren der Texte zu Recht als das in diesen Ausgaben Neue herausgestellt wird: Die genannte OdysseeAusgabe basiert auf elf Handschriften, die zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vollständig kollationiert, d.h. miteinander verglichen und auf das hin überprüft worden sind, was sie an Wortlaut eigentlich bieten;9 es hat sich nämlich erwiesen, daß eine seit langem maßgebliche Odyssee-Ausgabe10 auf Handschriftenangaben beruhte, die vielfach ungenau bzw. sogar falsch sind. Sogar also in einem so elementaren Editionsstadium - der Feststellung dessen, was in den handschriftlichen Zeugen eigentlich steht (eine Arbeit, die man sich längst abgeschlossen vorstellen könnte) - sind bei so kardinalen Autoren wie Homer offenbar Überprüfungen erforderlich. In anderen Fällen hat es sich als notwendig erwiesen, den Umfang der verwendeten Textzeugen zu erweitern, also bisher noch nicht ausgewertete Handschriften neu zur Konstituierung eines Textes heranzuziehen: Die neue Aischylos-Ausgabe ruht erstmals auf einem breiten Fundament von 40 Handschriften (vorhanden sind freilich, vor allem bei den in byzantinischer Zeit am häufigsten gelesenen Stücken, über 100).11 Auch die erwähnte neue Sallust-Ausgabe hat (aus einem Bestand von über 500 für manche Teile des Werkes!) neue Textzeugen herangezogen.12 Neben Überprüfung und gegebenenfalls Erweiterung der Textbasis haben Fortschritte in der Textgeschichte (d.h. bei der Untersuchung, aus welcher Zeit welche Handschriften stammen und welche Beziehungen sie untereinander haben) dazu geführt, daß man auch bereits bekannte und zur Textkonstituierung auch schon herangezogene Handschriften anders bewerten und ihren Lesarten infolgedessen einen anderen Platz bei der Herstellung des Textes einräumen muß; in der neuen SophoklesAusgabe sieht manches anders aus, weil eine früher eher gering eingestufte Handschrift durch eine Umdatierung nunmehr zum Zweitältesten unter den noch vorhandenen Textzeugen der Sophokles-Stücke avanciert ist. 13 Auch im Fall der Eudemischen Ethik des Aristoteles hat sich in neuerer Zeit ein anderes Bild der Überlieferungslage ergeben, und dieses Bild ist der im letzten Jahr erschienenen Neu-Edition zugrundegelegt. Zum tieferen Eindringen in diese Textgeschichte hat sich mitunter eine neue Teildisziplin der Altertumswissenschaft als sehr förderlich erwiesen, die erst in den letzten drei bis vier Jahrzehnten richtig aufgeblüht ist:14 die Kodikologie, die sich vornehmlich mit dem äußeren Zustand der Handschriften (Einband, Be9 10
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Vgl. van Thiel 1991 (s. Anm. 3), S. III u. XVIII. Homeri Opera III. IV, ed. T.W. Allen, Oxford 21917. 1919; Ähnliches gilt für die ebenfalls in Oxford erschienene //iaj-Ausgabe von Allen (Oxford 31920); vgl. zu beiden auch N.G. Wilson: Thomas William Allen (1862-1950). In: Proceedings of the British Academy 76, S. 316 («There is so much inaccuracy in what Allen states about the readings of the manuscripts that one »cholar). Vgl. West 1990 (s. Anm. 6), S. IV. Vgl. Reynolds 1991 (s. Anm. 4), S. XIV. XXI. Vgl. Lloyd-Jones/Wilson 1991 (s. Anm. 6), S. VIII. Auch in der neuen Ausgabe der Silven des Statius (ed. E. Courtney, Oxford 1990) hat sich durch neue Forschungen zur Textgeschichte ein verändertes - in diesem Fall vereinfachtes - Bild der Überlieferung ergeben (vgl. p. V-XX der Praefatio). Vgl. A. Kleinlogel: Archetypus und Stemma. Zur Problematik pfognostisch-retrodiktiver Methoden der Textkritik. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2, 1979, 58f.
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schreibstoff, Tinte etc.) befaßt und damit auch oft helfen kann, die Zusammenhänge der Überlieferung zu klären. Die dabei erzielten Ergebnisse können manchmal von großer Tragweite sein; und ein besonders eklatanter Fall, der in Fachkreisen schon seit längerem berühmt, einem weiteren Publikum aber vielleicht nicht unbedingt so geläufig ist, sei hier kurz noch einmal nacherzählt:15 Die Hälfte der uns noch erhaltenen Euripides-Stücke (9 von 18) ist in lediglich zwei Handschriften zu finden; und deren Verhältnis zueinander (sind beide unabhängige Textzeugen, oder ist die eine nur eine Abschrift der anderen?) war lange Zeit sehr umstritten, bis 1960 Günther Zuntz, der die Euripides-Überlieferung damals neu erforschte, eine bemerkenswerte Entdeckung machte: In beiden Handschriften ist in einem bestimmten Vers ein eindeutig falsches Satzzeichen gesetzt - so schien es jedenfalls; denn als die Bibliothekarin der florentinischen Biblioteca Laurenziana in Gegenwart von Zuntz in der einen der beiden Handschriften mit dem Finger über die fragliche Stelle strich, löste sich das falsche Satzzeichen ab; es war nur eine Strohpartikel gewesen - die aber der Schreiber der anderen Handschrift (wie alle ihre Leser bis 1960) eben für ein Satzzeichen gehalten und als solches abgeschrieben hatte; und damit war klar, daß diese zweite Handschrift eine Abschrift der 'Handschrift mit der Strohpartikel' war und daher nur noch diese als unabhängiger Textzeuge gelten konnte. Bisher ging es nur um mittelalterliche Handschriften, die immer noch (und wohl auch weiterhin) die zentrale Grundlage für eine Edition griechischer und lateinischer Autoren darstellen; doch sind daneben vor allem in neuerer Zeit zwei weitere Überlieferungsquellen stärker ins Auge gefaßt worden, die ebenfalls in nicht wenigen Fällen wichtige Beiträge zur besseren Kenntnis der Überlieferung und oft auch zur richtigen Wiederherstellung der Texte selbst leisten können. Das eine ist eine Gruppe von Textzeugen, die etwa seit Beginn dieses Jahrhunderts (in vereinzelten Fällen auch schon etwas vorher) eine zunehmend größere Rolle innerhalb der Edition antiker Schriften zu spielen begonnen hat: die Papyri, oft sehr umfangreiche Reste von noch in der Antike selbst beschriebenen Schriftrollen, die vor allem aus dem trockenen Sand Ägyptens wieder zutage gefördert worden sind, zum Teil aber auch aus der Vulkanasche, mit der 79 n. Chr. der Vesuv die italischen Städte Pompei und Herculaneum zudeckte. Die herculanensischen Papyri wurden zum großen Teil schon im 18. und 19.Jahrhundert geborgen und damals auch in Ausgaben zugänglich gemacht; sie müssen aber in der Regel heutzutage noch einmal alle und sorgfältiger gelesen und ediert werden, was derzeit geschieht; zutage gekommen sind dabei vor allem die Werke eines epikureischen Philosophen (Philodem), von dem zuvor aus der 'normalen' handschriftlichen Überlieferung nur eine Reihe erotischer Epigramme bekannt war. Übrigens harren noch manche Teile Herculaneums der Ausgrabung, und man darf hoffen, daß dabei noch weitere Texte auf Papyri ans Licht kommen. Um ein Vielfaches größer als die Ausbeute der herculanensischen Papyri aber ist die der in Ägypten gefundenen, die zu einer beträchtlichen Vermehrung der antiken literarischen Texte, vor allem in der griechischen Literatur, geführt haben (es gibt nur vergleichsweise wenige lateinische Papyri). Einer der bedeutendsten griechischen Ko15
Vgl. Kleinlogel 1979 (s. Anm.14), S. 61.
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mödiendichter, der gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. in Athen tätige Menander, ist uns auf diese Weise überhaupt erst wieder zugänglich geworden (Ende der 50er Jahre wurde ein fast vollständig auf dem Papyrus einer Schweizer Privatbibliothek erhaltenes Menander-Stück zum allerersten Mal ediert; 16 und große Teile weiterer Stücke sind schon vorher und auch noch nachher aufgetaucht); vorher war von Menander nur eine Reihe Sentenzen bekannt, die seine Qualitäten als dramatischer Dichter kaum mehr ahnen lassen. Über Menander hinaus ließe sich inzwischen eine lange Liste von durch Papyri (zumindest teilweise) wiedergewonnenen dramatischen und lyrischen Gedichten aufstellen; daneben darf aber auch die Bedeutung von Papyri keineswegs gering geschätzt werden, die Texte enthalten, die bereits aus der handschriftlichen Überlieferung bekannt sind: Diese Papyri sind oft tausend oder noch mehr Jahre älter als die frühesten aus dem Mittelalter erhaltenen Handschriften und können mitunter dem Verfasser des betreffenden Textes selbst zeitlich noch sehr nahestehen; manche Platon-Papyri datieren aus einer Zeit, die weniger als hundert Jahre nach Piatons Tod liegt 17 (näher kommt man den in jedem Fall verlorenen Autographen fast nie). Bei solchen zeitlichen Verhältnissen gibt es bei dem Wortlaut, den die Papyri bieten, Überraschungen sowohl positiver als auch negativer Art: Auf der einen Seite läßt sich nämlich feststellen, daß viele der zum Teil erheblichen Textentstellungen, die man in Handschriften antrifft, leider auch schon in den viel älteren Papyri zu finden sind; auf der anderen Seite bieten Papyri aber auch nicht selten dort eine Lösung, wo sich in den Handschriften nur noch Korruptelen konstatieren lassen. In jedem Fall verlängern die Papyri die Geschichte eines Textes weit über das aus den Handschriften erschließbare Stadium hinaus und müssen, soweit jeweils vorhanden, auch berücksichtigt werden; 18 was bei vielen Autoren noch nicht geschehen ist und daher ein Desiderat künftiger Editionen bleibt (zudem ist der Zufluß an Papyri immer noch im Gange, weitere Bereicherungen - sowohl des Textes bekannter Schriften als auch noch unbekannter - sind also durchaus zu erwarten). Handschriften und Papyri sind sogenannte 'direkte' Zeugen und Träger antiker Schriften; daneben gibt es aber auch - und dies ist die zweite Gruppe von Textzeugen, die heute vermehrte Beachtung in den Editionen findet (oder jedenfalls finden sollte) - eine 'indirekte' Überlieferung, in der Form von Zitaten aus den betreffenden Autoren in anderen Werken. Solche Zitate können grundsätzlich überall zu finden sein; eine besonders ergiebige Quelle - vor allem für Tragödien- und Komödienzitate - stellen spätantike oder byzantinische Lexika dar (letztere gehen in der Regel auf spätantike Sammlungen zurück). Das Wichtige und Wertvolle an diesen Zitaten ist, daß sie nicht den - oftmals sehr entstellend wirkenden - Fährnissen der handschrift16
17
18
V. Martin: Papyrus Bodmer IV, Menandre: Le Dyscolos. Genf 1958r (so auf dem Titelblatt; tatsächlich erschienen 1959). Die Flinders Petrie Papyri I nr. 5-8 enthalten Bruchstücke des Phaidon und stammen aus der ersten Hälfte des 3. Jh. v. Chr.; Flind. Petr. Pap. II nr. 50 mit Stücken des Laches wurde sogar möglicherweise noch vor 300 v. Chr. geschrieben. Zu der Frage, wie gewichtig Papyrus-Varianten gegenüber einer Handschriften-Tradition sind oder sein können, vgl. die durchaus gegensätzlichen Auffassungen von S.R. Slings, in: Mnem. 40, 1987, S. 29ff. und M. Haslam, in: Mnem. 44, 1991, S. 341ff.
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liehen Überlieferung der Werke unterworfen waren, aus denen die Zitate stammen; sie bieten daher die zitierten Textstellen oft in einer weniger entstellten Form und können auf diese Weise manchen Einblick in den Prozeß der Textentstellung geben, der in der direkten handschriftlichen Überlieferung oft eingetreten ist. Gerade weil aber diese sekundären Zeugnisse für einen Autor und seine Schriften in vielen Fällen weit in der übrigen antiken Literatur verstreut sind, sind sie auch oft noch nicht umfassend gesammelt und für die Textkonstitution des entsprechenden Werkes fruchtbar gemacht worden. In der bereits erwähnten neuen Aischylos-Ausgabe ist dies nun geleistet;19 und es steht zu hoffen, daß es bald auch noch für möglichst viele andere Autoren geleistet wird. Nebenbei sei hier noch darauf hingewiesen, daß in allen Fällen, wo ein antikes Werk nicht handschriftlich überliefert (und auch noch nicht wieder auf Papyrus aufgetaucht) ist, die Sammlung der sekundären Zeugnisse die einzige Möglichkeit darstellt, noch etwas aus diesem Werk (oder über es) zurückzugewinnen; dies geschieht in sogenannten Fragmentausgaben, die derzeit ebenfalls ein wichtiges Teilgebiet der Editionsarbeit in der Klassischen Philologie darstellen. Eine neue und umfassend (auf zehn Bände) angelegte Ausgabe sämtlicher Überreste der griechischen Komödie und ihrer einstmals buchstäblich Hunderte von Autoren ist schon bis zur Hälfte (fünf Bände) gediehen; 20 innerhalb einer ähnlich umfassenden Sammlung der Überreste der einst ebenfalls Hunderte von griechischen Tragödien fehlt nur noch der umfangreiche Euripides-Band;21 auf dem Gebiet der antiken Philosophie ist in diesem Bereich die vierbändige Ausgabe der 'Fragmente zur Dialektik der Stoiker' zu nennen (1987-1988 entstanden). "Und wo bleibt bei so vielfältigen neuen Unternehmungen, bei der Berücksichtigung neuer Zeugnisse und bei der sorgfältigeren und umfassenderen Neuauswertung bereits vorhandener eine Verwendungsmöglichkeit für moderne Techniken wie den Computer?", wird in dieser Zeit eine weitere Frage an die Editoren der Klassischen Philologie lauten. Bereits vor etwas mehr als 20 Jahren (1970) hat sich ein Philologe (genauer: ein Patristiker) diese Frage auch gestellt22 und bei ihrer Beantwortung vier mögliche Bereiche unterschieden, in denen eine Anwendung denkbar wäre, wobei in der Praxis aber - damals jedenfalls, zum großen Teil aber auch noch heute - unterschiedlich große Abstriche gemacht werden müssen: 1) "Dokumentation", d.h. Aufstellung einer Liste möglichst sämtlicher Handschriften und weiterer wesentlicher (kritischer) Literatur; da diese Dinge damals (aber auch jetzt noch, 20 Jahre später) noch keineswegs alle elektronisch erfaßt und abrufbar sind, muß sich eine entsprechende Materialsammlung noch sehr weitgehend auf den traditionellen, also mechanischen bzw. manuellen, Bahnen bewegen. 2) "Collation des manuscrits": 1970 hielt Froger es für wesentlich einfacher und zeitsparender, Handschriften und ihre Textvarianten nach der alten manuell-direkten 19 20
21 22
Vgl. West 1990 (s. Anm. 6), S. XXIf. Poetae Comici Graeci, edd. R. Kassel et C. Austin. Berlin - New York 1983ff.; bisher erschienen sind die Bände IV (1983), III 2 (1984), V (1986), VII (1989) und II (1991). Tragicorum Graecorum Fragmenta, edd. B. Snell, R. Kannicht, St. Radt. Göttingen 1971ff. Dom Jacques Froger, La critique des textes et l'ordinateur. In: Vigiliae Christianae 24, 1970, 210217; vgl. zuvor schon dens.: La critique des textes et son automatisation. Paris 1968.
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Weise des Philologen zu erfassen, der die Textträger mit eigenen Augen prüft und mit der eigenen Hand die Abweichungen notiert (und dem inzwischen Fotografien und Mikroskope die Arbeit wesentlich unterstützen können). Selbst wenn seit damals die Scanner wesentlich besser geworden sind, mit denen man - theoretisch - den Inhalt von Handschriften direkt auf elektronische Datenträger übertragen könnte, sind sie immer noch nicht (und werden es vielleicht auch nie sein) so genau und 'scharfäugig' und vor allem so 'intelligent' im Lesen, daß man das von ihnen auf Festplatte oder Diskette Eingelesene nicht ständig überprüfen müßte;23 und damit ginge jeder gewonnene Zeitvorteil wieder verloren. 3) "Reconstitution de l'archetype": Hier war Froger 1970 noch am zuversichtlichsten, daß es mit Hilfe von auf mathematischen Theoremen basierenden Computerprogrammen gelingen könnte, über den Weg eines sehr stark mechanisierten Fehlervergleichs und den dadurch zu ermittelnden Grad der Abweichung der jeweiligen Handschrift von einer gewissen Norm das Verhältnis dieser Handschriften zueinander und ihren relativen Stellenwert zu ermitteln und damit die Grundlage für einen zuverlässig konstituierten Text zu schaffen. Aber auch in diesem Bereich stellen sich immer noch mehrere Fragen: Die Fehler, die in einer handschriftlichen Überlieferung auftreten können (und auch tatsächlich auftreten), sind ihrer Natur nach sehr vielfältig und auch von sehr verschiedenem Gewicht (sie reichen von rein mechanischen Auslassungen und Verschreibungen bis zu bewußten Änderungen von Nicht-Mehr-Verstandenem); ein mechanisiertes Computerprogamm würde dies alles über einen Kamm scheren. Was ist ferner die Norm (d.h. der authentische Text), an der die Abweichungen gemessen werden sollen? Sie muß ja in vielen Fällen überhaupt erst ermittelt werden. Und schließlich ist ein solches Verfahren auch nur dann überhaupt anwendbar, wenn die vorhandenen Handschriften sich wirklich in ein geschlossenes System, ein sogenanntes Stemma, bringen lassen, das auf einen - erschlossenen - 'Urahn', einen Archetypus, zuläuft; dies aber ist in vielen Fällen, gerade bei vielgelesenen Autoren mit reicher handschriftlicher Überlieferung, nicht der Fall; vielmehr hat es dort oft einen so umfänglichen 'horizontalen' Austausch von Lesarten zwischen den Handschriften gegeben, daß die Überlieferung eine 'offene' ist und sich in kein geschlossenes System mehr bringen läßt. Hier kann dann nicht mehr ein mechanischstatistisches Verfahren, sondern nur das geschulte, die Signifikanz von Fehlern zu beurteilen vermögende iudicium des menschlichen Kritikers noch Gruppen zusammenstellen und unterscheiden, deren wichtigste Vertreter er dann zur Konstituierung des Textes heranziehen kann.24 4) "Analyse statistique des textes": Dies liefe im wesentlichen auf eine elektronische Konkordanz des Autors hinaus, die man in verschiedenster Weise befragen könnte, um die "habitudes de l'auteur", seinen Gebrauch bestimmter Wörter und gramma23
24
Im Rahmen der Berliner Tagung wurde mir von fachmännischer Seite versichert, daß es in der Tat heute (Mitte des Jahres 1992) noch keinen Scanner gibt, der das in Handschriften Stehende zuverlässig erkennen und in elektronische Daten umsetzen kann. In der auf dieses Referat folgenden Diskussion gab es zu diesem Punkt ein uneinheitliches, im Ganzen aber (gerade auch von Fachleuten der Datenverarbeitung) eher zurückhaltend-zustimmendes Echo, was die vorgetragenen Bedenken gegen eine vom Computer zu erarbeitende Stemmatik anging.
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tisch-sprachlicher Erscheinungen festzustellen, was dem Editor dann wieder Entscheidungshilfen bei der Konstitution fraglicher Textstellen an die Hand geben kann. Dies wird heute schon vielfach gemacht, denn inzwischen ist der größte Teil der antiken griechischen und ein sehr großer (und größer werdender) Teil der lateinischen Literatur elektronisch gespeichert und damit sehr bequem abruf- und befragbar; und in dieser - freilich eher subsidiären - Funktion leistet der Computer gute Dienste. Die gerade gegebene (eher zurückhaltende) Beurteilung der Verwendungsmöglichkeiten des Computers beim Edieren griechischer und lateinischer Autoren wird von der Praxis der Editionen - zumindest bislang - durchaus bestätigt: Nur in vier der erwähnten 25 Ausgaben, die in den letzten fünf Jahren erschienen sind, habe ich Hinweise auf Computer-Benutzung gefunden; in drei davon ist der Computer lediglich als Word processor benutzt worden, um das Manuskript des Editors für die endgültige Druckvorlage herzurichten, bei der vierten hat er offenbar als elektronische Konkordanz gedient, um bestimmte Sprach-Übereinstimmungen festzustellen.25 Bisher war in diesem Überblick nur von 'reinen' kritischen Editionen (also solchen, die lediglich den Text und sein Zustandekommen dokumentieren) die Rede und von den derzeit gebräuchlichen Tendenzen bei ihrer Erarbeitung; zum Abschluß soll hier aber noch eine weitere Art der Edition ins Auge gefaßt werden, die in der Klassischen Philologie derzeit recht emsig betrieben wird und deren Fortführung wichtig und begrüßenswert ist, gerade wenn es darum geht, auch über die Grenzen der eigentlichen Fachdisziplin hinaus zu wirken: Gemeint sind Editionen, die nicht nur einen Text und einen kritischen Apparat, sondern auch eine Übersetzung und sachliche und sprachliche Erläuterungen (im Idealfall einen regelrechten Kommentar) bieten. In einer Zeit, in der zum einen die Fachvertreter der Klassischen Philologie nur noch einen recht geringen Anteil am wissenschaftlich-kulturellen Establishment stellen und allen Grund haben, die Früchte ihrer Arbeit auch Nicht-Spezialisten ihrer Disziplin zugänglich zu machen, in der aber eben andererseits eine solche Zugänglichkeit erheblich dadurch erschwert wird, daß Latein und - noch weit stärker - Griechisch nicht mehr in dem Maße auf den Schulen unterrichtet werden, daß man den ehemaligen Schülern einen reinen Originaltext zumuten könnte, in einer solchen Zeit kommt zweisprachigen Ausgaben mit Erläuterungen eine wahrscheinlich größere Bedeutung zu als je zuvor. Das Heil kann nicht im Präsentieren reiner Übersetzungen liegen; jeder, der mit fremden Sprachen zu tun hat, weiß, daß ein verläßliches und fundiertes Arbeiten mit einem einer fremden Sprache entstammenden Text nur in dessen Originalsprache zu leisten ist. Damit dies auch bei griechischen und lateinischen Autoren möglich bleibt - und zwar auch und gerade für Leute in benachbarten Disziplinen, die dann (bei gewissen eigenen Sprachkenntnissen) nicht einer Übersetzung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert wären -, muß (und wird) die Form der zweispra25
Die Druckvorlage von van Thiels Odyssee-Έ,άιύοη (vgl. Anm. 3) wurde auf Computer erstellt; vgl. ferner Mastronarde 1988 (s. Anm. 7), S. XXV («.. machinam paene divinam quam dicunt Macintosh, ad opus huius generis conficiendum perpoliendumque perutilem ...»); J. Briscoe: Titi Livi Ab Urbe Condita Libri XXXI - XXXV. Stuttgart 1991, S. XXII («Suzanne Davies, quae, machina verba ordinante peritissime usa, exemplar maioris partis textus effecit . ..»); Walzer/Mingay 1991 (s. Anm.5), S. X ().
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chigen, kommentierten wissenschaftlichen Einzeledition sicher einen zukunftsträchtigen Faktor darstellen,26 im Fortbestand der Klassischen Philologie selbst und in ihrem Bemühen, ihre Ergebnisse Nicht-Fachkreisen zu vermitteln und dadurch erst - im Rahmen der Sicherung des antiken Kulturerbes auf dieser Welt - fruchtbar zu machen.
26
Ähnliche Feststellungen bei S. Mariotti: Gli orientamenti dell1 ecdotica dei testi latini antichi nel nostra secolo. In: G. Cavallo (ed.): Le strade del testo. Bari 1987, S. 147. G.C. Hansen: Aufgaben und Probleme der Editionen. In: J. Herrmann (ed.): Das historisch-kulturelle Erbe vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen und seine zeitgenössische Bedeutung (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften der DDR, W 2), 1981, S. 170f.
Gunter Martens
Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition
Die Editionsdiskussion in der Germanistik hat in den vergangenen 30 Jahren einen vorher kaum gekannten Aufschwung erfahren. Allenfalls vergleichbar mit den editorischen Aktivitäten in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist eine Fülle wissenschaftlich fundierter Ausgaben in Gang gesetzt und sind die damit zusammenhängenden Probleme in einer breiteren Fachöffentlichkeit erörtert worden, vor allem jedoch entwickelte sich in dieser Zeit eine allgemeine Reflexion über die theoretische und terminologische Fundierung editorischer Arbeit, über die ich im folgenden referieren werde.1 Niedergeschlagen hat sich dieses außerordentliche Interesse in einer Reihe international ausgerichteter Kongresse, die seit 1964 zunächst vor allem von der DFG, dann - seit 1985 - von der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition initiiert wurden.2 Die auf diesen Kolloquien angestrebte und in Ansätzen verwirklichte Interdisziplinarität der Diskussion macht es mir im übrigem in manchem durchaus schwer, mich auf Tendenzen in der germanistischen Edition zu beschränken; der hier begonnene Dialog mit Romanisten, Anglisten, Slawisten und nicht zuletzt mit Vertretern philosophischer Editionsprojekte hat begrüßenswerterweise dazu beigetragen, in vieler Hinsicht die engeren Fachgrenzen zu überschreiten. Seit 1987 sind diese bemerkenswerten Aktivitäten dokumentiert in den sechs bislang erschienenen Bänden von editio; und wenn dieses Fachorgan sich ein "Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft" nennt, so ist ein solcher Titel zugleich auch als Ausdruck der neuen Qualität editorischer Tätigkeit zu verstehen. Die Entwicklung der Bditionstechnik des 19. Jahrhunderts zur Editionswissenschafi heutiger Zeit und damit die Emanzipation der früheren Hilfswissenschaft zu einer eigenständigen Editions- und Textphilologie kennzeichnet das gestiegene Selbstbewußtsein der jüngeren Editorengeneration. Mag 1
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Schon 1988 hatte es sich Hans Zeller in seinem Eröffnungsvortrag zur Arbeitstagung der "Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" zur Aufgabe gemacht, die wichtigsten Tendenzen der letzten "Fünfzig Jahre germanistischer Edition" zusammenfassen (abgedruckt in: editio 3, 1989, S. 1-17). Ich verweise insgesamt auf diesen wichtigen Beitrag zur Geschichte der germanistischen Edition. Im folgenden werden sich gelegentliche Wiederholungen und Überschneidungen mit den Ausführungen Hans Zellers nicht ganz vermeiden lassen; im vorgegebenen Rahmen eines Überblicks werde ich jedoch einzelne Probleme neu akzentuieren und zugleich die Darstellung Hans Zellers um einige Aspekte ergänzen. Es war insbesondere das Verdienst Winfried Woeslers, die zuvor verstreuten, oftmals in überflüssiger Polemik sich verzettelnden Positionsbestimmungen germanistischer Edition in den international und interdisziplinär ausgerichteten Kolloquien zusammenzuführen und mit der 1987 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" ein allgemeines Diskussionsforum anzubieten.
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Gunter Martens
auch der Anspruch einer eigenen Disziplin3 schon eine gehörige Portion Anmaßung enthalten - und fürwahr übersieht eine solche Kontrastierung von Editionstechnik und Editionswissenschaft, daß die Versuche, das Geschäft des germanistischen Textkritikers in einen wissenschaftlich begründeten Rahmen zu stellen, weit in das 19.Jahrhundert zurückreichen 4 -, so ist doch zweifellos richtig, daß das Interesse an einer theoretischen Fundierung und Ausrichtung der Herausgebertätigkeiten gerade innerhalb der Germanistik in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen ist. Noch in den Programmen der beiden letzten Fachkongresse - 1990 in Basel und 1992 in Hamburg - ist diese Tendenz abzulesen, wenn die Plenarsitzungen weitgehend der Diskussion von Grundsatzproblemen vorbehalten blieben, kleinere Arbeitsgruppen sich demgegenüber in ' Werkstattgesprächen' den Fragen editorischer Praxis zuwandten. Sicherlich: Diese (germanistische) Editionsphilologie verfügt bislang über keine eigene, in sich konsistente Theoriebildung - und welches Fach könnte das schon für sich in Anspruch nehmen? doch aus dem Bestreben heraus, dem Benutzer eine begründete, in den zugrunde liegenden Entscheidungen nachvollziehbare, und das heißt gerade auch eine leserfreundliche und gebrauchsorientierte Textausgabe an die Hand zu geben, wurde eine Reflexion in Gang gesetzt, die nach den Bedingungen und Zielsetzungen der Edition, nach den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Realisation fragte. Ein maßgebender Gesichtspunkt war dabei, die allenthalben beklagte Uneinheitlichkeit der Begrifflichkeit und editorischen Kennzeichnung zu überwinden; denn die Eigenwilligkeit der Herausgeber, ein möglichst originelles Darstellungs- und Siglierungssystem zu entwickeln, stellt für den Benutzer ein erhebliches Handicap dar. Die Einsicht, daß die Begrifflichkeit und Verfahrensweisen der Edition von der Subjektivität und Beliebigkeit des Herausgebers gelöst werden müßten, führte schon Anfang der sechziger Jahre in der Berliner Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften zu dem Entschluß, die editorische Arbeit auf eine zuverlässige und in sich konsistente terminologische Grundlage zu stellen. Die in diesem Zusammenhang unter Leitung Siegfried Scheibes erstellten Grundlagen der Goethe-Ausgabe5 waren ein entscheidender Motor für die Neuorientierung der germanistischen Editorik, über die ich hier zu berichten habe, wenn auch festzuhalten bleibt, daß diese Versuche, für Begriffe wie Fassung, Variante, historisch-kritische Ausgabe usf. zu einer allgemeingültigen Klärung zu kommen, weniger aus einer durchgehenden Theoriebildung her3
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Verstanden wird eine solche Editionswissenschaft freilich immer als Teildisziplin einer übergreifenden Philologie, der sie in sprach- und literaturwissenschaftlicher Hinsicht vielfach verbunden bleibt. Auf diese Zusammenhänge wurde in den letzten Jahren mehrfach hingewiesen, so etwa auch von Hans Zeller in "Fünfzig Jahre germanistischer Edition", vgl. Anm. 1, S. 15f., und insbesondere von Hans Gerhard Senger in seinem Aufsatz "Die historisch-kritische Edition historisch-kritisch betrachtet" (in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hrsg. von Walter Jaeschke, Wilhelm G. Jacobs u.a. Hamburg 1987, S. 1-20.) Die "Grundlagen der Goethe-Ausgabe", die lange Zeit in Form eines vervielfältigten Manuskriptes nur für Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zugänglich waren, sind nunmehr in Scheibes Darstellung "Editorische Grundmodelle" (in: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, S. 23-48) allgemein greifbar.
Neuere Tendenzen in der germanistischen
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vorgegangen sind als aus den Bedingungen und Erfahrungen pragmatisch ausgerichteter Editionstätigkeit. Wichtig bleibt jedoch vor allem: Die Theorieansätze, die von den Berlinern und im Anschluß daran an verschiedenen Orten des deutschen Sprachraumes entwickelt wurden, wollen nicht nachträglich begründen, was in der Editionspraxis bereits vollzogen, sondern haben Perspektiven editorischer Arbeit aufgezeigt, die gerade auch für die Konzeption und Ausführung jüngster Editionsprojekte von großer Bedeutung geworden sind. Wenn ich im folgenden kurz auf diese Theoriediskussion eingehen möchte, so strebe ich dabei in keiner Weise eine erschöpfende Darstellung an, sondern beschränke mich vielmehr auf einzelne, mir bedeutsam erscheinende Gesichtspunkte. Von größter Tragweite für die Ausbildung neuer Tendenzen in der germanistischen Edition waren zweifellos die Überlegungen zur Rolle des Herausgebers. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein galt die Herausgabe von Texten als eine der verbliebenen Domänen des Positivismus: Hier schien es selbst im Bereich der Geisteswissenschaften immerhin noch möglich, sich an Fakten zu orientieren und mit Hilfe eines vorgegebenen textkritischen Regelwerks zu objektiv-gültigen Ergebnisse zu kommen. Noch heute begegnen Stimmen, die ein solches Selbstverständnis der Editoren vertreten; auf der Hamburger Editorentagung (1992) konnten wir sogar hören, daß die "historisch-kritischen Texteditionen" als Indikatoren einer neu erwachten Konjunktur "positivistischer Forschung" zu werten seien.6 Trotz dieser - doch eher vereinzelten - Meinung hat sich unter den Herausgebern allgemein die Auffassung durchgesetzt, "Edition ist Interpretation". Diese Formel, die Manfred Windfuhr - der heutige Herausgeber der Düsseldorfer Heine-Ausgabe - bereits 1957 prägte7 und die seitdem in vielfacher Variation wiederholt wurde,8 fordert geradezu heraus, die Position des Editors und die Tragweite seiner subjektiven Entscheidungen genauer zu bestimmen. Man begnügte sich nicht mehr damit, generell die Deutungsabhängigkeit editorischer Arbeit zu konstatieren, sondern versuchte zu ergründen, inwieweit sich der "Schatten des Herausgebers" auf die Textkonstitution, auf die Variantendarstellung und die beigegebenen Erläuterungen erstreckt. Die Forderung Hans Zellers, in der editorischen Präsentation grundsätzlich "Befund und Deutung"9 voneinander zu scheiden, um auf diese Weise dem Leser den Anteil der subjektiven Herausgeberentscheidungen deutlich zu machen, ist die wohl folgenreichste methodische Konsequenz 6
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Günter Berg: Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben. Bertolt Brechts Werke in 30 Bänden. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 5), z.Zt. im Druck. Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 31, 1957, S. 425-442, hier S. 440. Zu verweisen ist hier vor allem auf die Arbeiten von Karl Konrad Polheim, der für sein Projekt der "Kritischen Texte und Deutungen" (mit dem er die Werke von Marie von Ebner-Eschenbach und von Ferdinand von Saar editorisch zu erschließen sucht) von der Einheit von Edition und Interpretation ausgeht. Vgl. dazu neuerdings den programmatischen Aufsatz von Jens Stüben: Interpretation statt Kommentar. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen, vgl. Anm. 6. Vgl. dazu grundlegend den gleichnamigen Aufsatz in: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45-89.
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dieser Diskussion. Und wenn die Frankfurter Hölderlin Ausgabe10 jeden Text dieses Dichters in vierfacher Weise wiedergibt - als Faksimile, als differenzierte typographische Umschrift des Textzeugen, als genetisch interpretierten Textzusammenhang in Form der 'linearen Textdarstellung' und schließlich als 'konstituierten' (bzw. 'emendierten'/'unemendierten') Text -, so hat in diesem Modell die Zellersche Trennung von Befund und Deutung ihre konsequenteste Ausprägung gefunden: Ist noch die Faksimilewiedergabe weitgehend frei von Eingriffen des Herausgebers, so steigt von der typographischen Umschrift bis hin zur Erstellung eines 'konstituierten Textes' sukzessive der deutungsabhängige Anteil der Edition; umgekehrt hat der Leser die Möglichkeit, am dokumentierten handschriftlichen Befund die Deutung zu kontrollieren. Eine zweite Tendenz der editionstheoretischen Diskussion können wir am ehesten fassen unter dem Stichwort 'Rückzug auf den Text'. Sie wurde eingeleitet durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Argument der Autorintention und der daraus resultierenden Lösung von einer Auffassung, die den Herausgeber als Testamentsvollstrecker des Autors zu definieren suchte. Die Frage, wie denn eigentlich der authentische Autorwille herausgefunden werden könne, führte zur Einsicht, daß hinter der oftmals vorgeschützten 'Autorintention' eine bloße Kaschierung der nicht weiter begründeten Herausgeberentscheidung stand: Die vielberufene Intention des Autors war selbst nichts anderes als das Ergebnis der deutenden Operation des Editors. Und selbst wenn ein 'letzter Wille' des Autors vorliegt, ist er für den Herausgeber maßgebend? Ich kann hier nur an das oft zitierte Beispiel der Werke Kafkas erinnern: Wer wollte schon die editorischen Konsequenzen verantworten, die sich aus Kafkas testamentarischer Bestimmung ergeben würden, seine drei großen Romanfragmente nach seinem Tode zu vernichten?11 Daß in einem solchen Fall der Autorintention nicht zu folgen ist, dürfte hier fraglos gelten. Doch wie steht es mit der 'Ausgabe letzter Hand', die zweifellos den letzten Willen des Dichters dokumentiert? Kollidiert nicht auch hier die Autorintention mit dem historisch-kritischen Geschäft des Herausgebers? Hat der Editor nicht geradezu die Aufgabe, den überlieferten Text gegenüber der jeweils altersbedingten Sicht seines Produzenten in Schutz zu nehmen?12 Und hat er nicht andererseits mit begründeten Ansprüchen des Lesers zu vermitteln, der even10
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Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. Frankfurt am Main 1976ff. Sehr viel grundsätzlicher diskutiert Gerhard Neumann die hier sich ergebende Problematik, wenn er generell den Herausgeber der Werke Kafkas zwischen den gegenseitig sich ausschließenden Möglichkeiten gestellt sieht, entweder das vom Autor lizensierte 'Werk' oder aber die private 'Schrift' - "als schmerzhaften Akt intimer Sinngenerierung" - zu edieren. (Werk oder Schrift? Vorüberlegungen zur Edition von Kafkas "Bericht für eine Akademie". In: Edition und Interpretation. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1981 (Jahrbuch für internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 11), S. 154-173.) So Jochen Golz in: Friedrich Dieckmanns neuer Schiller. In: Sinn und Form 35, 1985, S. 638-645, hier S. 640. Siegfried Scheibe stellt in seinem grundlegenden Beitrag "Editorische Grundmodelle" zu diesem vieldiskutierten Problem fest: "Um die verschiedenen Werke eines Autors in einer seinen Entwicklungsgang widerspiegelnden vergleichbaren Textform wiedergeben zu können, empfiehlt sich der Abdruck von Textfassungen 'früher Hand' " (in: Zu Werk und Text, vgl. Anm. 5, S. 30).
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tuell gerade das Interesse hat, hinter der vom Autor oder auch vom Zensor sanktionierten Werkgestalt auf das weitere überlieferte Material zurückzugreifen? Diese Überlegungen führten letztendlich zum Schluß, den Autor aus den Entscheidungskriterien des Herausgebers weitgehend herauszunehmen und die Gestalt und Umstände der Textüberlieferung als die maßgebenden Größen für die Ausrichtung einer Edition anzusehen. Schon zum Ausgang des russischen Formalismus hat Boris V. Tomasevskij eine solche geschichtliche Dimension gegen jede nur spekulativ zu ermittelnde Autorintention ausgespielt: "Wichtig ist nicht, wohin der Autor zielt, sondern wohin er fällt". Der Text als ein "geschichtliches Faktum", so führt Tomasevskij weiter aus, trage sein Telos in sich. Entsprechend könne es keine auf ein letztes Ziel gerichtete Werkentwicklung, keinen "besten Text" geben, sondern alle Entwicklungsstufen, die ein Werk durchlaufe, seien grundsätzlich gleichrangig, "jedes Stadium des poetischen Werkes ist für sich ein poetisches Faktum." 13 Dieser Diskurs ist freilich zumeist ohne wissentliche Anknüpfung an den Vertreter einer sowjetischen Textologie - bei den jüngeren germanistischen Editoren weitergeführt worden, so etwa bei Herbert Kraft, der den Begriff der Autorintention durch die Feststellung der "Faktizität der Texte" abzulösen sucht und in diesem Zusammenhang auf die semiologische Dimension des Textes verweist: "dem Text allein kommt Zeichencharakter zu, und zwischen ihm und den Rezipienten besteht die Kommunikation." 14 Ich selbst habe an verschiedenen Stellen darauf verwiesen, daß auch der Text aus editorischer Sicht - nicht zuletzt, weil er als ein Zeichen an die Bedeutungskonstitution durch den Leser gebunden ist - nicht als ein feststehendes Gebilde aufzufassen ist, sondern als eine dynamisch sich verändernde Größe in die Edition eingeht. 15 Diese Rückbindung an den Leser können wir schließlich auch in einer dritten Tendenz greifen, die mir innerhalb der germanistischen Diskussion hervorhebenswert erscheint: in den Überlegungen zu einer benutzerorientierten Edition. Schon im 19. Jahrhundert hatte man sich Gedanken über Zweck und Ziel wissenschaftlicher Ausgaben gemacht, doch in der praktischen Durchführung damaliger Editionsprojekte waren diese Einsichten weitgehend ohne Konsequenzen geblieben. 16 Die Nutzung editorischer Apparate als Erkenntnisgrund und Interpretationshilfe war an ein Konzept leserfreundlicher Ausgaben gebunden, wie es zum ersten Mal erst zu Beginn der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts von Friedrich Beißner in seiner Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe praktisch umgesetzt und in Fortführung seiner Initiative von vielen 13
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Boris V. Tomasevskij: Pisatel' i Kniga. Ocerk tekstologii [Der Schriftsteller und sein Werk. Abriß der Textologie], Moskva 21959 [1. Aufl. 1928], S. 98ff. - Die Übersetzungen aus diesem bis heute leider nicht in einer westlichen Sprache erschienenen Grundlagenwerk verdanke ich meinem Assistenten Thomas Wigger. Herbert Kraft: Die Aufgaben der Editionsphilologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982 (Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition), S. 4-12, hier S. 5. Die in meinem Aufsatz "Textdynamik und Edition" (in: Texte und Varianten, vgl. Anm. 9, S. 165-201) zuerst vorgetragene Position habe ich modifiziert wieder aufgenommen in "Was ist - aus editorischer Sicht - ein Text?" (in: Zu Werk und Text, vgl. Anm. 5, S. 135-156). Vgl. dazu im einzelnen die Ausführungen Hans Zellers in seinem Beitrag: Fünfzig Jahre germanistischer Edition, vgl. Anm. 1, S. 3f.
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Fachvertretern nach 1960 weiterentwickelt wurde. Ich gebe zu, daß hiermit eine entscheidende Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die wissenschaftliche Ausgabe nicht zu einem von wenigen Spezialisten nutzbaren Arbeitsinstrument verkommen zu lassen: Die Edition für Editoren: Welch ein fatales ΜißVerständnis des Anspruches einer Editionswissenschaft als einer eigenen Disziplin! Doch die kritische Auseinandersetzung mit dem epochemachenden Werk Friedrich Beißners zeigte zugleich, daß Übersichtlichkeit und ansprechende typographische Gestaltung nicht schon als solche ausreichten. Zum Selbstzweck erhoben, laufen sie Gefahr, vom Herausgeber vertretene ideologisch geprägte Verstehensweisen in der Edition zu kaschieren. So lautet denn die weitergehende Fragestellung der jüngeren editorischen Diskussion: Was soll die Edition leisten und an wen wendet sie sich? Nach wie vor ist es vor allem das analytische und interpretatorische Geschäft des Literaturwissenschaftlers, das die Zielrichtung der germanistischen Edition vorgibt. Die Verfeinerung der literaturwissenschaftlichen Untersuchungsverfahren hat die Forderung nach der 'Authentizität' der Textwiedergabe weiter in den Vordergrund gerückt: Der Leser erwartet von der benutzten Ausgabe Auskunft, inwieweit die in ihr gebotenen Texte 'belastbar' sind oder wo Unsicherheiten des Wortlauts oder auch der syntaktischen und genetischen Zuordnung des edierten Materials zu berücksichtigen sind. Das geschichtliche Interesse - wie auch immer motiviert - fragt nach der originalen historischen Textgestalt oder nach einer Erschließung des Verstehenshorizontes durch Kommentare und beigegebene Materialien usf. Durch die Antizipation vielfacher Benutzungsperspektiven suchen gerade die in den letzten Jahren begründeten Editionen ihre Projekte so anzulegen, daß sie nicht einer verengten Auffassung von Dichtung - etwa dem teleologischorganologischen Dichtungsverständnis bei Beißner - dienen, sondern für verschiedenartige Zugänge zu literarischen Texten nutzbar werden. In allerjüngster Zeit ist dieser Ansatz der Leserorientierung vor allem für eine Begründung einer Typologie der Editionen herangezogen worden. War früher die historisch-kritische Ausgabe der alleinige Gegenstand editionstheoretischer Bemühungen, so setzt sich heute allmählich die Einsicht durch, daß das Feld der Studien- und Leseausgaben nicht allein den Verlegern und ihren Lektoren überlassen bleiben sollte. Gerade in diesen Ausgabentypen, die für die weiteste Verbreitung von Texten sorgen, erwächst den Editoren besondere Verantwortung. Was früher als Paradoxon angesehen wurde, die wissenschaftliche Leseausgabe, ist in den letzten Jahren - etwa in Einzelbeispielen aus Reclams Universalbibliothek - Realität geworden. Mit editorischer Sorgfalt besorgter und begründeter Text, authentischer Wortlaut und nichtnormalisierte Orthographie gehören in diesen zukunftsweisenden Mustern zur selbstverständlichen Ausstattung wie die historische Erschließung in Anmerkungen und der jeweiligen Leserschaft angepaßten Kommentaren. Ja selbst beispielhafte Darstellungen der Genese der Texte können in Lese- und Studienausgaben eine Form finden, die dem Nichtspezialisten gerecht wird. Ich halte hier mit der Skizzierung editionstheoretischer Aktivitäten innerhalb der neueren Germanistik inne, um - auch wiederum nur an Einzelbeispielen - die editionspraktischen Konsequenzen der hier angedeuteten Überlegungen aufzuzeigen. Ich beginne mit dem Bereich der Textkonstitution. Ich habe im vorhergehenden bereits
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ausgeführt, daß in der neueren germanistischen Edition das Prinzip der Ausgabe letzter Hand weitgehend zugunsten einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller überlieferten Textfassungen aufgegeben wurde. Hier gibt es keine starre Regel mehr, sondern der Herausgeber muß in jedem Überlieferungsfall von neuem entscheiden und begründen, welcher Textgestalt er für die Auswahl des edierten Textes den Vorzug geben will. Daß alles verbleibende Material - zumindest soweit es auf den Autor selbst zurückzuführen ist - in die Variantendarstellung des Apparates eingehen muß, gehört zum unverzichtbaren Bestand historisch-kritischer Ausgaben. Kontrovers wird nach wie vor diskutiert, wie bei Autoren zu verfahren ist, deren Werküberlieferung aus ökonomischen Gründen nicht vollständig wiedergegeben werden kann. Der Auswahlapparat - noch immer ein weitverbreitetes Modell innerhalb der Germanistik - schränkt die Nutzungsmöglichkeiten stark ein und liefert den Leser - selbst bei Benennung der Auswahlkriterien - der Willkür des Herausgebers aus. Stattdessen empfiehlt sich eine gestufte Edition17, in der zu einzelnen, besonders signifikanten oder wichtigen Werken eine vollständige Variantendokumentation geboten, während in anderen nur auf die Überlieferungslage kurz hingewiesen wird. Eine solche Lösung hat den Vorteil einer späteren sukzessiven Ergänzung der Variantendarstellung. In der Textkonstitution selbst geht der Trend heute eindeutig zur unverfälschten Wiedergabe des Befundes. Eingriffe, Normalisierungen und Modernisierungen gelten heute bis hin zur Studienausgabe - trotz der gegenteiligen Auffassung des Deutschen Klassiker Verlages - als nicht mehr vertretbar. Die neue Marburger Büchner-Ausgabe lehnt nicht nur jede Kontamination verschiedener Fassungen ab - ein Verfahren, das bislang gang und gäbe war, um aus dem disparaten überlieferten Material zumindest halbwegs vollständige Werkgestalten abzuleiten -, sondern gibt selbst im edierten Text die verschiedenen Lesarten einer nicht autorisierten Textüberlieferung wieder und stellt die Entscheidung über den 'richtigen' Wortlaut dem Leser anheim. Eine bis heute die Gemüter erregende Kontroverse hat sich um die Frage des Textfehlers - Stellen also, wo der editorische Eingriff unumgänglich erscheint - entwickelt. Siegfried Scheibe definiert im Anschluß an Hans Zeller: "Kriterium fehlerhafter Stellen ist, daß sie der Struktur der textspezifischen Logik widersprechen (bei konventionellen Texten also, daß sie für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen)", und er fügt dann ausdrücklich hinzu: "der Eingriff darf aber nicht erfolgen, weil in anderen Zeugen eine vermeintlich bessere Variante vorliegt".18 Karl Konrad Polheim sieht durch eine solche Auffassung das kritische Geschäft des Textkritikers ernsthaft bedroht; für ihn ist gerade die Herstellung des künstlerisch besten Textes Aufgabe des Herausgebers.19 In seiner 1989 erschienenen Edition von Eichen-
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Zu diesem Problemkreis vgl. Karl Ludwig Schneider: Die wissenschaftliche Teilausgabe als Modell für die Edition expressionistischer Dichtungen. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 9, S. 285-292. Editorische Grundmodelle, vgl. Anm. 5, S. 31. Vgl. dazu im einzelnen seine Ausführungen in: Ist die Textkritik noch kritisch? In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin, New York 1985, Bd. 2, S. 324-336.
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dorffs Aus dem Leben eines Taugenichts20 gibt er dafür ein instruktives Beispiel, wenn er in dem allbekannten Wanderlied "Wem Gott will rechte Gunst erweisen ..." die Strophen 2 und 3 auf Grund eines 'Textfehlers1 umstellen zu müssen glaubt. In der Handschrift gibt Eichendorff das vierstrophige Gedicht zweispaltig wieder: Je zwei Strophen stehen untereinander. Aus dem Befund, daß der Autor über die Strophen der zweiten Liedeinlage "Wohin ich geh' und schaue [...]", die in der Handschrift ebenfalls zweispaltig erscheint, eine Strophenzählung setzt, nach der nicht die senkrecht untereinander, sondern die waagerecht nebeneinanderstehenden Strophen unmittelbar aufeinanderfolgen, schließt Polheim, daß diese Folge auch für das erste Wanderlied gelten muß. Er stützt diese Vermutung durch eine Interpretation, die in der gegenüber dem autorisierten Druck veränderten Strophenfolge "eine geradezu artistische Komposition" entdeckt: Auf diesem Weg werde die uns vertraute Abfolge der Strophen zum Textfehler.21 Doch sollte der von Polheim selbst herausgestellte Satz "in dubio pro auctore" nicht auch hier gelten? Kann nicht gerade die explizite Strophenzählung über dem Gedicht "Wohin ich geh' und schaue [...]" auf eine bewußte Abweichung von der sonst auch für Eichendorff geltenden Regel, nach der die beiden Spalten in der Abfolge der untereinanderstehenden Strophen zu lesen sind, verweisen, somit also die im (autorisierten) Druck erscheinende Textfolge durchaus 'richtig' sein? Und noch die Interpretation könnte eine Reihe von Argumenten beibringen, die eine solche Auffassung zu stützen vermögen. Die Konsequenzen des problematischen textkritischen Ansatzes bleiben in dieser Ausgabe freilich recht gering. Denn Polheim hat bewußt darauf verzichtet, einen edierten Text herzustellen; die von ihm für notwendig erachteten Fehlerkorrekturen schlagen sich allein im Fußnotenapparat des Textbandes sowie in den kommentierenden Erläuterungen zur Textgeschichte nieder. Dem Leser gibt Polheim mit der vorzüglichen Textdokumentation alle Möglichkeiten an die Hand, die von ihm vorgetragene Textkritik an der Überlieferung selbst zu überprüfen und sich auch notfalls anders zu entscheiden. Die konsequente Trennung von Befund und Deutung, die Polheim - entgegen seiner an anderen Stellen explizierten Auffassung - in seiner Taugenichts-Ausgabe praktiziert, erscheint auch in diesem Fall als die angemessene editorische Lösung. In zwei Beispielen - bei Büchner wie auch bei Eichendorff - sind wir somit auf Ausgaben gestoßen, die keinen für den Leser problematisch zu handhabenden edierten Text mehr darstellen. Generell kann in der germanistischen Edition festgestellt werden, daß in zahlreichen Fällen die Herstellung sogenannter edierter Texte fragwürdig geworden ist. Insbesondere hat sich vielfach die Einsicht durchgesetzt, daß die Herausstellung eines edierten Textes das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Fassungen unterläuft. Und das nicht allein in dem Sinne, daß der im Textteil herausgestellten Fassung schon als solcher eine größere Gewichtung zukommt, sondern vor allem auch dadurch, daß die Darstellung der Varianten auf den edierten Text ausge20
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Karl Polheim + und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des "Taugenichts". Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2 Bde. Tübingen 1989. Text und Textgeschichte des "Taugenichts", vgl. Anm. 20, Bd. 2, S. 94f. und 129f.
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richtet wird und somit vom edierten Text abweichende Fassungen ihre Eigenwertigkeit weitgehend verlieren. Die auf den edierten Text bezogene Variantenverzeichnung läßt noch den in der Germanistik ansonsten weitgehend aufgegebenen Grundsatz erkennen, daß die Textabweichungen die 'endgültige' Textgestalt zu begründen und zu erklären haben. Um demgegenüber die Eigenständigkeit überlieferter Textfassungen herauszustellen, ist es schon seit geraumer Zeit üblich geworden, im Textteil unterschiedliche Fassungen - synoptisch oder auch nacheinander zum Abdruck zu bringen. Dieses Verfahren ist inzwischen auch von Studienausgaben aufgegriffen worden, wie etwa das Beispiel der Frankfurter und Berliner BrechtAusgabe zu zeigen vermag, das vom Paralleldruck - in einzelnen Fällen bis zu drei Fassungen - ausgiebig Gebrauch macht. Für den Apparat hat insbesondere Hans Zeller mit seiner Ausgabe der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers eine vorbildliche Lösung entwickelt.22 Hier wird nun nicht das reichlich überlieferte Textmaterial punktuell als Varianten des edierten Textes verzeichnet, sondern jeweils in chronologisch angeordneten Überlieferungseinheiten etwa Handschriften oder frühere Drucke - als gesondert lesbarer Textzusammenhang wiedergegeben. Ein solches Verfahren, die gesamte Werküberlieferung in eigenständigen 'Textstufen' darzustellen, ist die konsequente editorische Umsetzung des Prinzips der Gleichwertigkeit aller Fassungen; es scheint sich innerhalb der neueren Germanistik in den letzten Jahren mehr und mehr durchzusetzen; die vom Ansatz her hochinteressante Rosenkavalier-Edition (im Rahmen der kritischen HofmannsthalAusgabe)23 und die soeben auf den Markt gekommene historisch-kritische Ausgabe der Werke Paul Celans24 bieten dafür instruktive Beispiele. Der Begriff des 'edierten Textes' und damit die traditionelle Trennung in 'Text' und 'Apparat' ist aber auch aus anderen Gründen fragwürdig geworden. Zum einen ist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Diskussion des Text-Begriffes zu verweisen: Kann man denn überhaupt von einem feststehenden 'Text' sprechen? Belehren uns nicht Autoren wie Hölderlin oder Brecht eines besseren, daß nämlich der Text im steten Flusse sich befindet, daß vielleicht gerade seine stete Veränderbarkeit seine eigentliche poetische Qualität ausmacht? Eine Aufteilung in Text und Apparat kann dieser Beobachtung nicht gerecht werden; eine integrale Darstellung aller Textstufen - ohne Voranstellung einer 'endgültigen' Textgestalt wäre die editorische Konsequenz. Die Frankfurter Hölderlin Ausgabe, die ich oben schon anführte, darf als Muster einer solchen editionsphilologischen Auffassung gelten, und die neue textgenetische Ausgabe der Gedichte Georg Heyms25 verzichtet so22
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Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1-7: Gedichte. Hrsg. von Hans Zeller. Bern 1963ff. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Bd. XXIII: Operndichtungen 1. Hrsg. von Dirk O. Hoffmann und Willi Schuh. Frankfurt/M. 1986. Paul Celan: Werke. Historisch kritische Ausgabe. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe Beda Allemann, Rolf Bücher u.a. Frankfurt am Main 1990ff. (Bislang erschienen die Bände 7 und 8 mit den Gedichtsammlungen "Atemwende" und "Fadensonnen", hrsg. von Rolf Bücher.) Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. Tübingen 1993.
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gar auf die Herausfilterung eines gesonderten 'emendierten Textes', den Sattler immerhin noch als Konzession an den Leser für jede einzelne Textstufe anbietet. Beide Ausgaben haben keinen 'Apparat' mehr im klassischen Sinn; für beide gilt: Text ist die gesamte Überlieferung zum jeweiligen Werk, die Überarbeitungen, Korrekturen, Streichungen usf. sind Teil dieses Textes, der entsprechend mit allen Varianten integral dargestellt wird. Herbert Kraft kommt in seiner Edition der Dramenfragmente Schillers 26 zu einer ähnlichen Lösung - freilich aus einem anderen, eher pragmatischen Grund: Die Frage, kann es in Fällen, in denen ein Autor selbst keinen endgültigen Text hergestellt hat, Aufgabe des Herausgebers sein, das vom Autor Versäumte nachzuholen, verfälscht der Herausgeber nicht geradezu durch die Konstituierung eines Textes den nicht-abgeschlossenen Charakter des Werkes, führt Kraft zum "editorischen Prinzip" der "räumlichen Anordnung". Dabei unterscheidet er - bei chronologisch zusammengehörenden Varianten - die "akzidentielle Räumlichkeit", die er durch die integrale Darstellung der Varianten innerhalb des Textkorpus auflöst, von der "strukturellen Räumlichkeit" nebeneinandergeschriebener, chronologisch jedoch differenter Texteinheiten, die er im Druck in der gleichen räumlichen Zuordnung diplomatisch abzubilden sucht. 27 In dieser Hinsicht berührt sich Krafts Edition mit den Projekten von NotizbuchEditionen, die ebenfalls die klassische Trennung von Text und Apparat hinter sich lassen. Die Tendenz zur Dokumentation, die sich als nahezu durchgehender Trend in den neuesten Ausgaben der Germanistik feststellen läßt, hat zur Einsicht geführt, daß es nicht ausreichen kann, das in Notizbüchern verzeichnete Textmaterial den jeweils zugehörigen Werken zuzuordnen und dort als Varianten wiederzugeben. Das Nebeneinander von biographischer Notiz und - oftmals ineinander verflochtenen Stichworten und Vorentwürfen zu einzelnen Werken hat als solches einen hohen Informations wert, dem eine Edition gerecht werden muß. Die Konzeption der Edition der Notizbücher Kafkas geht von dem prozessualen Charakter der hier versammelten Texte aus, der im diplomatischen Abdruck seinen editorischen Niederschlag finden muß. 28 Für die Notizbücher Thomas Manns hat Hans Wysling ein leserfreundliches, und dennoch die authentische Gestalt bewahrendes editorisches Verfahrens entwickelt. 29 Zu den neueren Tendenzen der Edition gehört nun gewiß vor allem die Art der Darstellung der Varianten. Die Anordnung des überlieferten Textmaterials in einer Weise, daß aus ihr die Genese des Werkes unmittelbar abgelesen werden kann, ist im In- und gerade auch im Ausland - zu Recht als die bahnbrechende Leistung der 26
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Schillers Werke. Nationalausgabe. B d . l l : Demetrius. Hrsg. von Herbert Kraft. Weimar 1971 und Bd. 12: Dramatische Fragmente. In Zusammenarbeit mit Klaus Harro Hilzinger und Karl-Heinz Hucke hrsg. von Herbert Kraft. Weimar 1982. Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. llOff. Vgl. dazu Gerhard Neumann: Schrift und Druck. Erwägungen zur Edition von Kafkas "Landarzt"-Band. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 101, 1982, vgl. Anm.14, S. 115-139. Thomas Mann: Notizbücher. 2 Bde. Hrsg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt am Main 1991 f.
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germanistischen Editorik angesehen worden. Hans Zeller, an der konsequenten Entwicklung dieses Verfahrens selber entscheidend beteiligt, hat vor vier Jahren in seinem Vortrag "Fünfzig Jahre neugermanistischer Edition"30 über diese Errungenschaft eingehend berichtet, so daß ich mich an dieser Stelle kurz fassen kann. Hervorhebenswert erscheint mir insbesondere, daß Hans Zeller in der Form der Zeilensynopse zumindest für den Bereich versifizierter Texte eine überzeugende Lösung gefunden hat für das Problem, wie stellen- und schichtenbezogene Darstellung von Varianten miteinander verbunden werden kann. Der traditionellen lemmatisierten Variantenverzeichnung konnte man im besten Fall die auf eine Werkstelle bezogenen Textveränderungen entnehmen, der graphische und vor allem entstehungsgeschichtliche Zusammenhang der Varianten untereinander und damit die eigenständige Einheit der einzelnen Fassungen blieben verborgen. Die Zeilensynopse wahrt demgegenüber den strukturellen Zusammenhang der einzelnen Fassungen, ohne dabei die Beziehbarkeit der graphisch und chronologisch differenzierbaren Schichten aufzugeben. Und etwas Zweites erscheint mir an dem von Hans Zeller initiierten und in der Folgezeit sodann in verschiedenen Modellen weiterentwickelten Verfahren der Variantendarstellung wesentlich: die gesonderte Kennzeichnung von Unsicherheiten in der Lesung und syntaktischen Zuordnung, vor allem jedoch in der Konstituierung von Schichtenzusammenhängen und chronologischen Abfolgen von Varianten. An solchen Stellen wird nun innerhalb der Variantendarstellung die methodische Trennung von Befund und Deutung deutlich: Denn als unsicher müssen all jene Stellen gelten, die aus der Überlieferung, insbesondere aus der Graphik einer Handschrift, nicht zweifelsfrei zu ermitteln sind, wo also der Herausgeber auf Grund seiner eigenen Deutung sich entscheiden mußte oder aber die Entscheidung dem Leser überläßt. Die Frage nach den neuesten Tendenzen im dritten traditionellen Bereich der Edition, in der Kommentierung, läßt bislang keine befriedigende Antwort zu. Gerade hier gehen nach wie vor die Auffassungen weit auseinander. Die Hamburger Tagung aus dem Frühjahr 199231 hat gezeigt, eine welche Fülle von Problemen hier weiterhin klärungsbedürftig ist, ohne selbst schon einer bestimmten Tendenz zum Durchbruch verholfen zu haben. Allenfalls ließe sich anführen, daß ein allgemeines Bedürfnis nach einer veränderten Kommentarsprache, die gerade bei poetischen Texten ohne dezidierte Bedeutungszuweisung arbeitet und dem Leser nicht das Geschäft eigner Textdeutung abnimmt, zu beobachten war. Die Entwicklung der Edition im Umkreis der Neugermanistik ist in vieler Hinsicht eng an ihren Gegenstand, die neuere deutsche Literatur, und die aktuellen Fragen ihrer Erforschung gebunden. Es ist unübersehbar, wie poetologische, strukturalistische, psychologische Fragestellungen und seit kurzem auch die spezifischen Aspekte einer 30 31
Vgl. Anm. 1. Die Beiträge der Hamburger Tagung, die immerhin zur Präzision der gegenwärtigen Diskussion beitragen dürften und zudem eine Fülle diskutabler Lösungsansätze an Hand praktischer Beispiele vorführen, werden in editio 7, 1993, sowie in Beiheft 5 zu editio, vgl. Anm. 6, im Druck erscheinen.
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postmodernen Literaturbetrachtung in die Konstitution wissenschaftlicher Ausgaben eingreifen. Dennoch meine ich, daß einige der neueren Tendenzen fachübergreifendes Interesse für sich beanspruchen zu können. In diesem Sinne hoffe ich, mit meinen mehr andeutenden als die Probleme ausdiskutierenden Ausführungen zu einem interdisziplinären Dialog der Editoren beigetragen zu haben.
Roswitha Wollkopf
Zur Geschichte, archivischen Betreuung und Edition des Nachlasses von Friedrich Nietzsche
Nicht selten empfangen wir im Goethe- und Schiller-Archiv Anfragen, die an das Nietzsche-Archiv in Weimar gerichtet sind. Wir beantworten diese Briefe mit dem Hinweis, daß das Nietzsche-Archiv als Institution seit Dezember 1945 nicht mehr existiert, der wissenschaftliche Nachlaß Friedrich Nietzsches, Teilnachlässe von Familienangehörigen und der Aktenbestand des ehemaligen Nietzsche-Archivs aber seit den fünfziger Jahren in unserer Institution aufbewahrt und für Forschungen zur Verfügung gestellt werden und das Erdgeschoß des Nietzsche-Archivs seit Ende 1990 als Gedenkstätte wiedereingerichtet und zu besichtigen ist. Die dreifache Bedeutung des Begriffes 'Archiv', nämlich als Bezeichnung fur eine Institution, für einen Handschriftenbestand und ein Gebäude, gibt in diesem Falle immer wieder Anlaß zu Verwechslungen. Aus diesem Grunde möchte ich, bevor ich mich dem eigentlichen Gegenstand meiner Ausführungen zuwende, die Geschichte der Institution und des Gebäudes "Nietzsche-Archiv" umreißen. Das Nietzsche-Archiv wurde im Februar 1894 von Elisabeth Förster-Nietzsche, der verwitweten Schwester des 1889 unheilbar erkrankten Philosophen, im Wohnhaus der Familie in Naumburg eröffnet. Elisabeth Förster-Nietzsche strebte mit der Archivgründung an: 1. den wissenschaftlichen und persönlichen Nachlaß ihres Bruders an einer Stelle zu konzentrieren, ihn zu erschließen und zu publizieren; 2. den Nietzscheverehrern, deren Zahl in den neunziger Jahren stark anstieg, eine Begegnungs- und Erinnerungsstätte zu errichten; 3. die eigene wirtschaftliche Existenz zu sichern. Nach Aufnahme von Kontakten zum Goethe- und Schiller-Archiv schien ihr die Verwirklichung dieser ehrgeizigen Ziele in der traditionsreichen Klassikerstadt Weimar leichter realisierbar als in Naumburg. Sie verlegte das Archiv im September 1896 dorthin. Ein Jahr später stellte ihr die Schweizer Nietzscheverehrerin Meta von Salis-Marschlins ein außerhalb der Stadt auf dem Silberblick gelegenes Haus in der ehemaligen Luisenstraße 36 zur Verfügung, in dem Nietzsche seine letzten Krankheitsjahre verbrachte und seine Schwester bis zu ihrem Ableben 1935, sein Vetter Max Oehler bis Ende 1945 dem Nietzsche-Archiv vorstanden. In der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg war das Archiv in progressive kulturelle Bestrebungen von Anhängern Friedrich Nietzsches einbezogen, die Weimar zu einer
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neuen Blüte verhelfen, es zum Ausgangspunkt für eine kulturelle Erneuerung machen wollten. Die von dem belgischen Künstler Henry van de Velde 1902 bis 1903 als Arbeits- und Gedenkstätte gestalteten Parterreräume des Archivs mit der NietzscheHerme Max Klingers legen davon Zeugnis ab. Die engen Verbindungen zu der künstlerischen Avantgarde der Jahrhundertwende waren für das Archiv jedoch nur ein Zwischenspiel. Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte es seinen Charakter und suchte seine Förderer überwiegend bei Anhängern antidemokratischer und antirepublikanischer Politik. Öffentliche Glorifizierungen sowohl Mussolinis als auch der Führer des Nationalsozialismus sowie enge Beziehungen zu ihnen bewirkten, daß sich die demokratischen Verehrer Nietzsches von der Tätigkeit des Archivs immer mehr distanzierten. 1 Neben seiner kulturpolitischen Wirksamkeit fungierte das Nietzsche-Archiv als Bestands- und Editionszentrum. Es beschäftigte zeitweise bis zu fünf Wissenschaftler. Das erforderte einen Etat, der die zwar steigenden, aber nicht kontinuierlichen Einnahmen aus dem Druck der Werke und Briefe Nietzsches und aus den biographischen Publikationen Elisabeth Förster-Nietzsches überstieg. Ihr Plan, das Archiv auch für die Zeit nach Ablauf der damals dreißigjährigen Schutzfrist der Werke Nietzsches und nach ihrem Ableben finanziell sicherzustellen, ließ sich mit eigenen Mitteln nicht verwirklichen. Wiederholte Erwägungen, es einer wissenschaftlichen Institution anzuschließen oder in eine selbständige Stiftung umzuwandeln, führten 1908 zur Gründung der Stiftung Nietzsche-Archiv. Sie wurde durch ein Kapital von 300 000 RM des schwedischen Großbankiers Ernest Thiel, der zugleich als Nietzscheübersetzer und Kunstmäzen wirkte, ermöglicht. Die Stiftung strebte an, "das Nietzsche-Archiv als Zentrum für die gesamte Nietzsche-Forschung und als Sammelpunkt für alle geistig-schöpferischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen" im Sinne Nietzsches auszubauen und zukünftig "jungen Männern aus den Berufskreisen der Juristen, Offiziere, Schriftsteller, Künstler und Gelehrten Stipendien zu gewähren". 2 Dem Vorstand gehörten unter anderen Nietzsches Vettern Adalbert, Max und Richard Oehler, die Philosophen Max Heinze, Raoul Richter und Hans Vaihinger, nach dem Ersten Weltkrieg zeitweilig auch Oswald Spengler, Carl August Emge und der klassische Philologe Walter F. Otto an. Da alle entscheidenden Publikations-, Finanz- und Repräsentationsangelegenheiten der Zustimmung Elisabeth Förster-Nietzsches bedurften, konnten die Vorstandsmitglieder, die in der Regel auf ihren Vorschlag berufen wurden, aber nur eine beratende Funktion ausüben. Nachdem das Stiftungsvermögen fast völlig der Inflation zum Opfer gefallen war, sollte auch die am 28. September 1926 in Weimar gegründete Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs dazu beitragen, "durch tatkräftige Unterstützung die dauernde Erhaltung des durch die Ungunst der Zeit in seinem
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Vgl. Roswitha Wollkopf: Das Nietzsche-Archiv im Spiegel der Beziehungen Elisabeth Förster-Nietzsches zu Harry Graf Kessler. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Bd. XXXIV, 1990, S. 125-167. Statut der Stiftung Nietzsche-Archiv vom Mai 1908. In: Goethe- und Schiller-Archiv (nachfolgend: GSA) 72/1579.
Zum Nachlass von Friedrich Nietzsche
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Bestand gefährdeten Nietzsche-Archivs zu sichern".3 Den entscheidenden Beitrag für das Fortbestehen des Archivs leisteten jedoch die zum gleichen Zeitpunkt einsetzenden staatlichen Unterstützungen und die von 1929 bis 1945 von dem Hamburger Zigarettenfabrikanten Philipp Reemtsma gewährten Zahlungen. Unter den zahlreichen Editionen des Nietzsche-Archivs nahm die von 1899 bis 1913 in neunzehn Bänden von Otto Crusius, Elisabeth Förster-Nietzsche, Peter Gast, Ernst Holzer, August und Ernst Horneffer, Wilhelm Nestle, Arthur Seidl, Otto Weiß herausgegebene Gesamtausgabe, zu der 1926 noch ein Registerband hinzukam, einen herausragenden Platz ein. 4 Sie diente weiteren Nietzscheausgaben als Textgrundlage. Nach dem Ersten Weltkrieg beabsichtigte das Nietzsche-Archiv, eine historisch-kritische Gesamtausgabe in Angriff zu nehmen. Das Zusammenschrumpfen des Stiftungsvermögens verzögerte die Realisierung dieses Planes. Er wurde Ende der zwanziger Jahre wieder aufgegriffen, als das Archiv mit dem Ablaufen der Schutzfrist für Nietzsches Werke sein Monopol über die Nietzscheeditionen einbüßte. Das Interesse der Nietzscheforschung an einer solchen Ausgabe war groß, da Vollständigkeit und Korrektheit der unter der Ägide von Nietzsches Schwester erarbeiteten Editionen immer mehr in Zweifel gezogen wurden, zumal die Leiterin des Archivs sich vehement dagegen wehrte, Außenstehenden eine Einsichtnahme in die nachgelassenen Manuskripte ihres Bruders zu gestatten. Der zunächst als Herausgeber vorgesehene Philosoph Hans Leisegang konfrontierte das Nietzsche-Archiv mit den Forderungen, ihm die Archivalien uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen und auf ein Mitspracherecht bei der Ausgabe zu verzichten. Daraufhin wurde Anfang 1931 aus den Mitgliedern des Stiftungsvorstandes Carl August Emge, Walter Jesinghaus, Richard Oehler und Oswald Spengler der Wissenschaftliche Ausschuß der historischkritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Friedrich Nietzsches gebildet. Er wählte im Dezember 1933 Walter F. Otto hinzu. Im Dezember 1935, nach dem Tode Elisabeth Förster-Nietzsches, erklärten Spengler und Emge ihren Austritt. An ihre Stelle traten die Philosophen Martin Heidegger und Hans Heyse. Heidegger verließ den Ausschuß aus von der Forschung noch nicht eindeutig geklärten Gründen im Dezember 1942. Die Bände wurden von jüngeren Wissenschaftlern erarbeitet, die der Werke vor allem von Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und Carl Koch, die der Briefe vor allem von Wilhelm Hoppe.5 Obwohl Nietzsches Philosophie im Nationalsozialismus umstritten war, wurde die Tätigkeit des Nietzsche-Archivs sowohl durch die Reichskanzlei (Hitler, Lammers) als auch durch das Amt Wissenschaft der NSDAP (Rosenberg, Baeumler) und seit 1941 durch das Reichspropagandaministerium (Günther Lutz) gefördert. Diese Protektion hatte auf den wissenschaftlichen Charakter der von 1933 bis 1942 im C. H. Beck-Verlag München erschienenen fünf Werk- und vier Briefbände keinen Einfluß. Da die Herausgeber zum Kriegsdienst eingezogen wurden, kamen die 3
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Statut der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs vom September 1926. In: GSA 72/3176. Friedrich Nietzsches Werke. Großoktavausgabe. 1899-1909 bei C.G. Naumann, seit 1910 bei Alfred Kröner in Leipzig erschienen. Friedrich Nietzsche. Werke u. Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. München 1933-1942.
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Arbeiten seit Anfang der vierziger Jahre nur schleppend voran. Als es Karl Schlechte im Frühjahr 1944 gelang, vom Kriegsdienst freigestellt zu werden, konnte der Druck der Ausgabe aufgrund der Kriegslage nicht mehr fortgesetzt werden. Über die Editionspraktiken des Nietzsche-Archivs zu Lebzeiten von Elisabeth Förster-Nietzsche, insbesondere im Zusammenhang mit der Nachlaßkompilation "Der Wille zur Macht", ist bereits hinlänglich be- und gerichtet worden.6 Wie aber ist die Wirksamkeit von Nietzsches Schwester aus archivarischer Sicht zu beurteilen? Nach der Aufgabe seines Lehramtes in Basel lebte Friedrich Nietzsche bis zu seinem geistigen Zusammenbruch zehn Jahre lang ohne festen Wohnsitz in verschiedenen Orten Italiens, der Schweiz und Südfrankreichs. Folglich kam dem Wohnhaus seiner Familie in Naumburg als Depot für seine persönlichen Gegenstände besondere Bedeutung zu. Offensichtlich mit dem Einverständnis Nietzsches wurden hier von Mutter und Schwester seit seiner frühesten Jugend Erinnerungsstücke und alle schriftlichen Äußerungen des von ihnen Bewunderten pietätvoll aufbewahrt. Nichts deutet auf eine kritische Sichtung des "Archivs" oder gar auf Vernichtung von Teilen durch Nietzsche hin, wie es uns beispielsweise von Goethe und in noch stärkerem Maße von Schiller überliefert ist. "Beinahe alles, was Nietzsche dachte, niederschrieb oder auch drucken ließ, ist durch handschriftliche Aufzeichnungen und Ausarbeitungen belegt, nicht alles in eigener Handschrift, das meiste aber doch von ihm geprüft und korrigiert, als authentisch und autorisiert also deklariert" - so die Einschätzung von Karl-Heinz Hahn. 7 Notizbücher, Studienhefte und Manuskriptfragmente sowie Druckmanuskripte, Korrekturfahnen und überarbeitete Erstdrucke lassen die Arbeitsweise Nietzsches und den Entstehungsgang seiner Werke erkennen. Zu der umfangreichen archivalischen Überlieferung des Nachlasses gehören auch Kompositionen, Kollegnachschriften und Schülerarbeiten Nietzsches. Hinzu kommen die Bestandskomplexe des Briefwechsels und der persönlichen Papiere.8 Da die Schwester während Nietzsches geistigen Zusammenbruchs im Januar 1889 in Paraguay lebte und erst im Sommer 1893 endgültig nach Deutschland zurückkehrte, lag das Zusammentragen und Zusammenhalten dieses Nachlasses zunächst ganz in den Händen der Mutter und der Freunde Franz Overbeck und Peter Gast. Das Verdienst Elisabeth Förster-Nietzsches ist es, den wissenschaftlichen und persönlichen Nachlaß ihres Bruders im Nietzsche-Archiv geschlossen bewahrt und zielbewußt ergänzt zu haben. Das geschah allerdings nicht mit so großen finanziellen Opfern und solcher Konsequenz, wie ihre Selbstdarstellungen vermuten lassen. Nach dem Er-
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Vgl. z.B. Eckard Heftrich: Zu den Ausgaben der Werke und Briefe von Friedrich Nietzsche. In: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hrsg. von Walter Jaeschke u.a. 1. Auflage. Hamburg 1987, S. 117-135 und David Marc Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Berlin - New York 1991 (Supplementa Nietzscheana Bd. 2). Karl-Heinz Hahn: Das Nietzsche-Archiv. In: Nietzsche-Studien Bd. 18, 1989, S. 2. Vgl. GSA: Findbuch Friedrich Nietzsche. Maschinenschriftliches Manuskript, Weimar 1961.
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scheinen der Briefbände in den Jahren 1900 bis 19099 vertrat sie die Ansicht, genügend Briefe ihres Bruders zu besitzen, und überließ Ankäufe gern dem Mediziner Hermann Gocht, dessen heute zersplitterte Autographensammlung vor dem Zweiten Weltkrieg nach den Nietzscheana in der Universitätsbibliothek Basel zu den bedeutendsten Nietzschesammlungen zählte. Während sich die Bestandsergänzung des Nietzsche-Archivs in den zwanziger Jahren auf die umfangreiche Literatur über den Philosophen konzentrierte, bemühten sich die Herausgeber der ersten historisch-kritischen Werk- und Briefausgabe seit Anfang der dreißiger Jahre noch einmal systematisch um Ermittlung, Kopierung und Erwerb von Autographen Nietzsches. Ein archivalischer Nachlaß, der von engen Familienangehörigen betreut wird, ist zwei Gefahren ausgesetzt, der der Dezimierung durch Verkauf oder Verschenken von Autographen und durch Vernichten von unliebsamen oder angeblich unbedeutenden Dokumenten sowie der des Vorenthaltens seiner Quellen für wissenschaftliche Forschungen. Elisabeth Förster-Nietzsche gab Originaldokumente nur in wenigen Ausnahmefällen fort. Einer war die als Dank gedachte Übersendung des Druckmanuskripts der "Götzendämmerung" an Ernest Thiel im November 1907, das dieser Anfang der zwanziger Jahre aber heimlich an den Archivar zurückschickte. Weniger zögerlich ging die Schwester Nietzsches bei dem Vernichten von Dokumenten vor. Teilweise zerstörte bzw. nur noch in sogenannten Urabschriften Elisabeth FörsterNietzsches überlieferte Briefe sowie das von Mazzino Montinari nachgewiesene Fehlen von Textänderungen Nietzsches für "Ecce homo" deuten darauf hin. 10 Welches Ausmaß die Vernichtung von Dokumenten hatte, die für die Schwester heikle Themen berührten, läßt sich nicht mehr feststellen. Bereits das über das Wirken Elisabeth Förster-Nietzsches allgemein Bekannte läßt erahnen, daß das vierzig Jahre lang von ihr geleitete Archiv in seiner Gesamtheit niemandem zugänglich war. Der seit der Archivgründung mit dieser Institution und mit Elisabeth Förster-Nietzsche verbundene Harry Graf Kessler notierte am 18. März 1926 in seinem Tagebuch, daß er es trotz seiner Unterstützung des Nietzsche-Archivs für das Vernünftigste hielte, es nach dem Ableben der Schwester mit dem Goetheund Schiller-Archiv zu vereinigen.11 Karl Löwith, der im Frühjahr 1930 eine Woche benötigte, bis ihm die Einsichtnahme in ein einziges Notizheft gestattet wurde, teilte dem Archivar Max Oehler seine Bedenken gegen die Wirksamkeit des NietzscheArchivs offen mit: Es war nicht so, wie es bei einem durch wissenschaftliche Institute verwalteten Nachlass der Fall ist, dass man bei genügender Legitimation den Nachlass vollständig zur Einsicht vorgelegt bekommt, sondern es war faktisch so, wie es nicht anders sein kann, wenn die Schlüsselgewalt über den Archivschrank in den besorgten Händen einer alten Dame liegt,
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Friedrich Nietzsches gesammelte Briefe. Bd. 1-5. Berlin - Leipzig bzw. Leipzig 19001909. Vgl. Mazzino Montinari: Ein neuer Abschnitt in Nietzsches "Ecce homo". In: Derselbe: Nietzsche lesen. 1. Auflage. Berlin - New York 1982, S. 120-168. Vgl. Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt/M. 1982, S. 490.
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welche grosse Angst hat, es könnte etwas daran verdorben werden und welche sich nur sehr ungern entschliesst, mit einem der Originalmanuskripte herauszurücken ,.. 12 Die Geschichte des Nietzsche-Archivs als Institution endet mit der Schließung und der Verhaftung des Archivars Max Oehler durch die Sowjetische Militäradministration im Dezember 1945. Die Rechte und Pflichten der 1956 aufgelösten Stiftung Nietzsche-Archiv wurden in der Folgezeit von dem Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs und den 1953 gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, heute Stiftung Weimarer Klassik, wahrgenommen. Die Archivbestände des ehemaligen Nietzsche-Archivs wie seine sämtlichen Arbeitsunterlagen und Geschäftsakten sind seit Ende 1950 in die Bestände des Goethe- und Schiller-Archivs eingeliedert. Der Direktor der genannten Forschungs- und Gedenkstätten Helmut Holtzhauer und Karl-Heinz Hahn als Direktor des zu ihnen gehörenden Goethe- und Schiller-Archivs ermöglichten Anfang der sechziger Jahre Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die Nietzschebestände in vollem Umfang für die Edition neuer kritischer Gesamtausgaben der Werke und des Briefwechsels Friedrich Nietzsches zu nutzen.13 Diese Ausgaben, von denen bisher 23 bzw. 16 Bände erschienen sind, wären ohne die Unterstützung des Goethe- und Schiller-Archivs nicht möglich gewesen. Sie sollen dazu beitragen, so lautet das Vermächtnis Mazzino Montinaris, daß wir "zu einer neuen, kritischen Weise gelangen, mit Nietzsche umzugehen und ihm gerecht zu werden".14 Die Geschichte der Nietzsche-Rezeption in der DDR ist unter Auswertung der einschlägigen Archivquellen noch zu schreiben. Sie ist in starkem Maße eine Geschichte des Verschweigens. Auf der letzten nachweisbaren Sitzung des Vorstandes der Stiftung Nietzsche-Archiv vom 26. Oktober 1949, kurz nach Gründung der DDR, wurde der Beschluß gefaßt: "Das Sterbezimmer Nietzsches wird seinen musealen Charakter wieder erhalten."15 Bis zur Rekonstruktion des Archivgebäudes in den achtziger Jahren, bei der die Wohnräume Nietzsches jedoch der Einrichtung eines Gästeappartements zum Opfer fielen, fanden wir bislang kein Dokument, das die Realisierung dieses Beschlusses anmahnte. Ein anderer Stellenwert wurde in der ehemaligen DDR dem wissenschaftlichen Nachlaß Friedrich Nietzsches beigemessen. Die im Goethe- und Schiller-Archiv aufbewahrten Handschriften und die in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zur Verfugung stehenden Bücher aus dem Besitz des Philosophen gehören seit Jahrzehnten zu den meistbenutzten Beständen. Keiner der Wissenschaftler aus aller Welt, die sich als Nietzscheforscher auswiesen, hatte ideologisch motivierte Benutzungseinschränkungen hinzunehmen. Eine umfangreiche mit Hilfe Weimarer Quellen entstandene Nietzsche-Literatur legt davon Zeugnis ab. 12 13
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Brief von Karl Löwith an Max Oehler vom 29. 05. 1930. In: GSA 72/1772. Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgi Colli und Mazzino Montinari. Berlin - New York 1967ff. und Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin - New York 1975ff. Vgl. Mazzino Montinari: Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukäcs. In: Derselbe, 1982, vgl. Anm. 10, S. 169-206. Protokoll des Vorstandes der Stiftung Nietzsche-Archiv vom 26. Oktober 1949. In: GSA 72/2627.
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Die Tatsache, daß es sich dabei fast ausschließlich um Arbeiten von Wissenschaftlern aus westlichen Ländern handelt, zeigt die Widersprüchlichkeit sozialistischer Kulturpolitik in der ehemaligen DDR, bei der - nicht nur im Falle Nietzsche Bevormundung und Verschweigen nach innen mit vorgeblicher Weltoffenheit nach außen einherging. Der Nachlaß Friedrich Nietzsches, Teilnachlässe von Familienangehörigen (unter anderm der Großeltern und Eltern, der Schwester und des Schwagers Bernhard Förster) und der umfangreiche Bestand an Arbeitsunterlagen und Geschäftsakten des ehemaligen Nietzsche-Archivs stehen der Forschung heute im wesentlichen in dem Umfang zur Verfügung, den diese Bestände bis zur Schließung des Nietzsche-Archivs Ende 1945 hatten. Einen bedeutenden Zuwachs erfuhr der Bestandskomplex im Goethe- und Schiller-Archiv mit dem Ankauf des Nachlasses von Nietzsches Schüler und Freund Peter Gast im Jahre 1966. Die seit zwei Jahren auch unserem Archiv neu eröffneten Möglichkeiten, wichtige Nachlässe durch Ankauf von Autographen zu ergänzen, konnten kürzlich mit dem Erwerb von 23 Briefen Nietzsches an seinen Jugendfreund Gustav Krug, die uns zuvor nur als Depositum zur Verfügung standen, sowie mit dem Kauf von Briefen Elisabeth Förster-Nietzsches an die Familie Krug genutzt werden. Bei Forschungen zur Nietzscherezeption und zur Geschichte des Nietzsche-Archivs sind darüber hinaus eine ganze Reihe von anderen Beständen des Goethe- und Schiller-Archivs, wie etwa die Korrespondenz der 1919 von Friedrich Würzbach gegründeten Münchener Nietzsche-Gesellschaft und die Geschäftsakten des Insel-Verlages, zu Rate zu ziehen. Weder die Nachlässe Nietzsches und seiner Familienangehörigen noch die Korrespondenzen und Sachakten des Nietzsche-Archivs waren vom Nietzsche-Archiv umfassend archivarisch erschlossen worden. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Archivalien in ihrem ursprünglichen Ordnungszustand belassen wurden. Insbesondere die frühen Aufzeichnungen und die nachgelassenen Konzepte und Notizblätter Nietzsches sowie seine Korrespondenzen dürften von Elisabeth Förster-Nietzsche und ihren Mitarbeitern mehrfach umsortiert worden sein. Im Goethe- und Schiller-Archiv wurden, einsetzend mit Beginn der Editionsarbeiten von Colli und Montinari, alle Nietzschebestände in vorläufigen Findbüchern verzeichnet. Die Erarbeitung eines gedruckten Inventars, in dem die Archivalien detailliert erfaßt sind und inhaltlich Zusammengehöriges verschiedener Archivalieneinheiten und Bestände mittels Zweitverzeichnung zusammengeführt wird, steht noch aus.16 Mit der in Angriff genommenen Ausarbeitung eines Projekts zur Überführung unserer konventionellen Findhilfsmittel in elektronische Datenbanken verbinden wir Überlegungen, im Interesse unserer Archivbenutzer zukünftig auch in Erschließungsfragen enger mit Partnerinstituten zusammenzuarbeiten. Das Hauptaugenmerk unserer Institution ist zur Zeit auf den besorgniserregenden Erhaltungszustand der Manuskripte und Briefe Friedrich Nietzsches gerichtet. Nicht immer sachgemäße Behandlung und Aufbewahrung, häufige Inanspruchnahme und 16
Es wird zur Zeit für die Goethebestände erarbeitet und liegt vor für den Nachlaß von Friedrich Schiller und seinen Familienangehörigen, vgl.: Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs. Gerhard Schmid, Bd. 1 Schillerbestand. Weimar 1989.
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dilettantische Restaurierungsversuche im ehemaligen Nietzsche-Archiv wie auch starke Benutzung in unserem Archiv haben den Zustand dieser einmaligen Dokumente derart beeinträchtigt, daß wir uns gezwungen sahen, einige für Benutzungen vorläufig zu sperren. Die bereits gedruckt vorliegenden Bände der kritischen Gesamtausgaben der Werke und des Briefwechsels von Nietzsche und Filmkopien des gesamten Nachlasses tragen nunmehr zur Schonung der Originale bei. Für viele der an uns herangetragenen Fragestellungen ist eine direkte Einsichtnahme jedoch unerläßlich. Um unsere Archivalien überhaupt kommenden Generationen zu erhalten, sind bei allen Beständen unseres Archivs umfassende Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen erforderlich. Dank finanzieller Unterstützung aus den USA und technischer und fachlicher Unterstützung aus Niedersachsen können wir bei Nietzsches Nachlaß voraussichtlich noch in diesem Jahr mit der Restaurierung der beschädigten und gefährdeten Archivalien beginnen. Das befreit uns Archivare von einer großen Sorge, enthebt uns aber auch zukünftig nicht des Dilemmas, die divergierenden Interessen von Benutzung einerseits, Bewahrung der Substanz andererseits, miteinander in Einklang bringen zu müssen.
Workshop: EDV-Funktionen für Editionen
Wilhelm Ott
Der Computer als wissenschaftliches Arbeitsmittel für Editionen
Der 'Normalphilosoph' verläßt sich darauf, daß die Editionen nach den Regeln der editorischen Handwerkskunst hergestellt sind: so Werner Becker am Beginn dieser Tagung zu der Frage, was die Philosophie von den philosophischen Editionen erwartet. Um diese Erwartungen erfüllen zu helfen, beschäftigt sich in der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen eine eigene Kommission mit der Technik, auf die sich diese Handwerkskunst stützt; sie befaßt sich dabei vor allem mit dem Teil der Technik, der die Arbeit der Editoren unmittelbar betrifft. Dabei steht seit einigen Jahren der Computer als innovatives Editionswerkzeug im Mittelpunkt. Über "EDV-Funktionen für Editionen" hat die Kommission Technik hier nicht nur theoretisch berichtet, sondern auch in Form eines workshops mit praktischen Demonstrationen informiert; sie hat mich gebeten, in Inhalt und Ablauf des workshops selbst einzuführen und vorab dessen Zielsetzung durch einige grundsätzliche Überlegungen zu erläutern. I. Grundlage: Professionalität der Arbeit Ich möchte diesen Überlegungen fünf (selbstverständliche) Grundsätze voranstellen, die sich aus der Forderung der Professionalität wissenschaftlich-editorischer Arbeit ergeben: 1. Man sollte dem Ergebnis einer Arbeit nicht auf den ersten Blick ansehen, daß es mit EDV erstellt wurde. Außer in der bildenden Kunst sind deutlich sichtbare Spuren des eingesetzten Werkzeugs meist kein gutes Zeichen. 2. Professionelle Ergebnisse setzen professionelle Arbeit voraus. Dies gilt auch, wenn EDV eingesetzt wird. 3. Professionelle Arbeit setzt professionelle Werkzeuge und Ausbildung im professionellen Umgang mit diesen Werkzeugen voraus. 4. Die Ergebnisse professioneller Arbeit sollten auch in professionellem Gewand präsentiert werden. 5. Die Profession eines wissenschaftlichen Editors ist nicht das Herstellen von Druckvorlagen, sondern das Erarbeiten eines zuverlässigen Editionstextes und der zugehörigen wissenschaftlichen Apparate.
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II. Teilbereiche der editorischen Handwerkskunst Auf diesem Hintergrund möchte ich von der Frage ausgehen, in welchen Bereichen und zu welchem Zweck der Computer als Werkzeug bei der Ausübung der editorischen Handwerkskunst sinnvoll eingesetzt werden kann oder vielleicht sogar unverzichtbar ist. Nun gibt es sicher ähnlich viele unterschiedliche Ausprägungen dieser Handwerkskunst, wie es Editionen gibt. Unabhängig von diesen Unterschieden lassen sich für unsere Fragestellung jedoch zwei Teilbereiche dieses Handwerks unterscheiden: a) das im engeren Sinn editorische Handwerk, das die eigentlich wissenschaftliche Editionsarbeit umfaßt, b) das mehr technische Handwerk des Publizierens (Satz und Druck). Letzteres sorgt dafür, daß das Ergebnis des erstgenannten Teilbereichs in einer ausreichenden Zahl identischer Kopien und in funktioneller, den alltäglichen Umgang und Gebrauch möglichst erleichternder Form zur Verfügung steht. Die Mittel dazu sind - neben der sich ständig ändernden Technik der Satzherstellung und der Druckverfahren - die in jahrhundertelanger Ausübung dieses Handwerks erarbeiteten und erprobten Regeln der Typographie. III. Satz der Edition: Vorschlag zur Arbeitsteilung Bis etwa Ende der 70er Jahre war es in jedem Fall ein eigener Berufsstand bzw. Wirtschaftszweig, der sich darum gekümmert hat, daß die typographische Aufbereitung der Druckvorlage und deren anschließende Vervielfältigung und 'Verpackung' zwischen zwei Buchdeckel dem Inhalt angemessen erfolgten. Eines der - gerade bei Editionen besonders gravierenden - Probleme für diese Arbeitsphase war die Frage, wie die Fehlerfreiheit der Publikation des in der Edition erarbeiteten Materials garantiert werden kann; etwas technischer gesprochen: wie das in der Edition erstellte Manuskript fehlerfrei in eine typographischen Ansprüchen genügende Druckvorlage umgewandelt werden kann. Seit etwa Anfang der 70er Jahre erlaubt der computer-gesteuerte Lichtsatz die direkte Übernahme von Texten, die auf einem Computer erstellt wurden. Damit kann diese letzte, mehr technische Phase der Erstellung einer Edition bei gleicher oder sogar größerer Zuverlässigkeit des Endprodukts wesentlich zeitsparender abgewickelt werden als mit konventionellen Mitteln. Die Editoren müssen lediglich die Schreibmaschine, mit der sie bisher ihr Manuskript erstellt hatten, durch ein Textverarbeitungssystem ersetzen; der Verlag erhält von der Edition zusätzlich zum ausgedruckten Manuskript einen Datenträger, auf dem dieser Text gespeichert ist. Während unserer Tagung zeigte eine Ausstellung, wie diese Technik der computergestützten Satzherstellung in ein bereits laufendes Editionsunternehmen integriert werden kann. Diese Ausstellung dokumentierte die Umstellung der Edition der Sermones des Nikolaus von Kues von konventioneller auf EDV-gestützte Arbeitsweise an Hand von Materialien, die in den einzelnen Arbeitsschritten erarbeitet bzw. benutzt wurden. Eine Einführung in die zugrundeliegende Arbeitsstrategie und die Abfolge
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der einzelnen Arbeitsschritte, die in Arbeitsteilung zwischen den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Edition einerseits und einer Satzherstellungsfirma andererseits erfolgen, geben die beiden Einleitungsreferate von Hermann Schnarr und Hannelore Ott, die in diesem Band ebenfalls abgedruckt sind. Auf die Technik der Satzherstellung selbst wird dabei nur am Rand eingegangen. Obwohl der computer-gesteuerte Satz einen ganz wesentlichen Rationalisierungsschritt für die Erstellung einer Edition bedeutet, da er viele externe Fehlerquellen ausschaltet und entsprechende Korrekturschritte beim Satz erspart; obwohl mit dem Vordringen des desk top publishing die technischen Möglichkeiten immer vielfaltiger und leichter zugänglich werden, am Arbeitsplatz des Wissenschaftlers nicht nur das maschinenlesbare Manuskript, sondern den kompletten Satz in der Edition selbst zu erstellen; und obwohl die Automatisierung des Satzes für viele Editionen der erste und hauptsächliche Anlaß ist, Computer einzusetzen, haben wir diesen Teilbereich der editorischen Handwerkskunst auch aus dem workshop selbst ausgeklammert. Wir trugen damit dem oben formulierten Grundsatz 4 Rechnung, der - zumindest in der Regel - eine strikte Trennung zwischen den beiden Teilbereichen wissenschaftliche Editionsvorbereitung und Satz nahelegt, und beschränkten uns im workshop auf die Arbeitsschritte, die notwendigerweise durch das wissenschaftliche Editorenteam selbst durchgeführt werden müssen. Genausowenig wie einem Setzer Teile der wissenschaftlichen Editionsarbeit überlassen werden sollten - was dies konkret heißen kann, wurde während der Tagung u.a. klar bei der Diskussion von Problemen der Interpunktion oder der Orthographie bei älteren Editionen -, genausowenig sollte sich ein als Editor tätiger Philosoph oder Philologe verführen lassen, ohne entsprechende Ausbildung das Handwerk des Setzers bzw. Typographen auszuüben. Die Forderung einer solchen Arbeitsteilung erscheint heute zunächst unzeitgemäß. Nicht nur der Reiz des Selber-Machens spricht dagegen, sondern auch das Ansinnen vieler Verlage, von den Autoren druckfertige Vorlagen zu verlangen. Unterstützt wird dies durch die Werbung für entsprechende Hardware und Software, die ja einen großen Absatzmarkt sucht und sich deswegen nicht auf die professionellen Anwender beschränkt. So ist es kein Wunder, daß viele Geisteswissenschaftler die Druckvorlagen-Herstellung am Arbeitsplatz für das eigentliche Ziel des Computereinsatzes halten und dies oft mit unzulänglichen Mitteln und Kenntnissen auch versuchen. Eine der Folgen davon ist der in den letzten Jahren zu beobachtende und oft beklagte Verfall der typographischen Qualität vieler wissenschaftlicher Publikationen. Es wäre aber nicht nur ein (wörtlich zu verstehendes) Armutszeugnis für die Geisteswissenschaften, sondern auch wissenschaftspolitisch und gesamtwirtschaftlich unverantwortlich, auf ein professionelles Erscheinungsbild des Endprodukts zu verzichten, insbesondere dann, wenn - wie in der Regel bei wissenschaftlichen Editionen - oft sehr teure Vorarbeiten zugrunde liegen.1 Es mag verständlich sein, daß selbst traditionsreiche Verlage die Kosten für die Satzherstellung gern einsparen, wenn nur Pflichtexemplare produziert oder nur Bibliotheken als Abnehmer bedient werden sollen. Bei Editionen, deren technische Herstellung häufig über Druckkostenzuschüsse finanziert wird, dürften solche Erwägungen eigentlich keine
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Wie verträgt sich aber die Forderung dieser Arbeitsteilung mit der Notwendigkeit, einen automatischen Weg vom Manuskript zum Satz zu suchen, um die Kosten für Satz und Umbruch zu minimieren, und vor allem um den erheblichen Zeitaufwand für die bei herkömmlichen Verfahren unvermeidlichen Korrekturen zu reduzieren? Wie das Ausstellungsprojekt zeigte, ist es hierfür keineswegs erforderlich, daß in der Edition die Druckvorlage selbst erstellt wird. Ich möchte sogar behaupten, daß die oben angesprochene Aufgabenteilung die Vorbedingung für professionelles und damit auch zeit- und kostengünstiges Arbeiten ist, da sich die Beteiligten nicht mit der Lösung von Aufgaben herumschlagen müssen, die andere professionell und routiniert beherrschen. Voraussetzung ist lediglich, daß die Schnittstelle zwischen den betreffenden Arbeitsschritten sauber definiert ist und in den jeweils übergebenen Daten alle Information enthalten ist, die zur Durchführung des jeweils nächsten Schrittes notwendig ist. Die Editoren werden sich demnach auch beim Einsatz des Computers darauf konzentrieren, das Editionsmanuskript zu erstellen und auf Datenträger zur Verfügung zu stellen. Dieses Editionsmanuskript muß aber außer den für die Publikation bestimmten Text selbst auch alle für den Satz notwendigen Informationen enthalten. Im Idealfall sind dies die für einen systematischen Einsatz des Computers als Werkzeug für die Editionsvorbereitung ohnehin notwendigen sachlichen, d.h. nicht typographischen, sondern auf den Inhalt der einzelnen Textteile bezogenen Markierungen. Diese sachbezogenen Markierungen sind in der Regel sehr viel detaillierter als eigens eingebrachte typographische Auszeichnungen. Deshalb ist es ein leichtes, aus diesen differenzierten inhaltlichen Markierungen die für den Satz erforderlichen typographischen Auszeichnungen automatisch zu erzeugen, die in der Regel weit weniger differenziert sind, da häufig inhaltlich verschiedene Befunde durch typographisch identische Mittel dargestellt werden. Die verwendeten Markierungen müssen zu diesem Zweck lediglich detailliert dokumentiert sein für die Stelle, die den Satz durchführt. Wie dies konkret aussehen kann, zeigte das Beispiel der in der Ausstellung präsentierten Cusanus-Edition. 2 Der Verzicht auf den Versuch, typographisch zu kodieren, und die damit verbundene Arbeitsteilung zwischen Editionsarbeit und Satzherstellung ist nicht nur eine optimale Voraussetzung für professionellen Satz, sondern ist Vorbedingung auch dafür, Rolle spielen. Denn die gleichen Geldgeber, die den Druckkostenzuschuß gewähren, haben zuvor ein Vielfaches der für die Herstellung des Buches notwendigen Mittel für die Editionsarbeit selbst aufgewandt, und es wäre unklug, das Ergebnis dieser Arbeit durch mangelhafte typographische Qualität der Veröffentlichung zu entwerten. Es ist bezeichnend für den Einfluß, der dem äußeren Erscheinungsbild einer Publikation auf deren Akzeptanz beigemessen wird, daß bei belletristischer Literatur generell ein derartiger Verfall typographischer Erscheinungsformen nicht zu beobachten ist. Die Verleger verwenden dort im Gegenteil in der Regel sehr viel Mühe auf ein ansprechendes und das Leservergnügen nicht beeinträchtigendes Äußeres. Dies sollte auch einem wissenschaftlichen Autor bzw. seinem Geldgeber die Augen öffnen. Diese Arbeitsteilung sollte deshalb auch dann durchgehalten werden, wenn in einer Edition genügend typographisches Wissen und entsprechende Erfahrung vorhanden sind, auch den Satz selbst zu erstellen. Aus der Vergabe der Satzherstellung nach außen wird dann eine zeitliche Aufteilung der Arbeitsabläufe.
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daß sich die an der Edition arbeitenden Wissenschaftler auf ihre spezifische Aufgabe konzentrieren können. Die Ablenkung von der eigentlichen editorischen Arbeit, die mit dem Versuch der Berücksichtigung typographischer Details in zu frühem Stadium verbunden ist, ist nicht unerheblich; sie ist um so größer, je weniger professionell mit dem Satz umgegangen werden kann. Es ist zu vermuten - einige Gegenbeispiele aus meinem Erfahrungsbereich zeigen dies daß diese Arbeitsteilung aufs Ganze gesehen auch die wirtschaftlichste Methode der Herstellung professioneller Publikationen ist. IV. Computerunterstützung für die wissenschaftliche editorische Arbeit: Zielsetzung und Ablauf des workshops Aus den genannten Gründen klammerten wir im workshop selbst den Teilbereich Satzherstellung aus und beschränkten uns auf die Unterstützung der wissenschaftlichen editorischen Arbeit durch den Computer. Den workshop selbst hatten wir in drei Parallelgruppen aufgeteilt, in denen mit etwa stündlichem Wechsel wichtige Funktionen vorgeführt wurden. Um mit drei Gruppen auszukommen, haben wir versucht, sachlich aufeinander bezogene oder methodisch verwandte Funktionen jeweils zusammenzufassen: Der erste workshop demonstrierte Werkzeuge zum Themenkreis Texterfassung und Texterkennung·, Werkstattmeister war Werner Wegstein vom Institut für deutsche Philologie der Universität Würzburg; er hat nicht nur Prinzipien und Arbeitsweise der optischen Texterfassung und Texterkennung erläutert, sondern das Einlesen gedruckter Texte mit Hilfe des Opfopiw-Lesesystems der Wiesbadener Firma Makrolog (die die Geräte auch für die beiden anderen Werkstätten zur Verfügung gestellt hat) demonstriert sowie die Vorbereitung so erfaßter Texte für die in den anderen Werkstätten gezeigte Weiterverarbeitung gezeigt. Ein zweiter workshop befaßt sich mit dem Themenkreis Register, Indizes, Konkordanzen, Bibliographien. Werkstattmeister waren Heinrich Schepers von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster und Michael Trauth vom Rechenzentrum der Universität Trier. Technische Grundoperationen, die dabei benutzt wurden, waren vor allem: Extrahieren von Elementen (z.B. Personennamen, Sachbegriffen, aber auch von entsprechend markierten, noch überarbeitungsbedürftigen Stellen) aus einem Text und deren Ordnung (Sortieren) nach unterschiedlichsten Gesichtspunkten (z.B. nach der in Namenregistern erwarteten Reihenfolge des Alphabets der zugrundeliegenden Sprache). Dieses Werkzeug dient nicht nur zum formalen und inhaltlichen Erschließen des Textes und zum Erstellen der in der gedruckten Edition selbst enthaltenen Register, Indizes, Bibliographien etc., sondern macht vor allem auch Hilfsmittel für die Arbeit am Editionstext selbst und an den Apparaten und sonstigen Erläuterungen verfügbar, wie: alphabetische Wortformenlisten, Häufigkeitslisten, rückläufige Wortformen-Indizes, KWIC-Konkordanzen (KWIC = key word in context). Der Nutzen solcher Hilfsmittel etwa für das Auffinden von Parallelstellen oder für die Prüfung der konsistenten Einhaltung von editorischen Prinzipien braucht hier nicht weiter erläutert zu werden.
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Die dritte Werkstatt schließlich führte unter den Stichworten Kollationieren, Suchund Korrekturfunktionen, Apparate weitere, vor allem für die Arbeit am Text und an den Apparaten selbst wichtige Grundfunktionen vor: das automatische Vergleichen, das halbautomatische Korrigieren, das Suchen und Austauschen komplexer Muster. Die systematische Kontrolle manueller oder automatischer Eingriffe in den Text sowie das Zusammenstellen der kritischen Apparate aufgrund von manuell oder automatisch gewonnenen, auf Dateien gespeicherten Kollationsergebissen bildeten einen Schwerpunkt der Vorführung. V. Werkzeuge für die wissenschaftliche editorische Arbeit Die in den einzelnen Werkstätten gezeigten Elementaroperationen und ihre Nutzung für das Geschäft der Editionsvorbereitung waren diesem Kreis nicht neu; sie sind u.a. bekannt aus der EDV-Fibel fiir Editoren3, deren Erstellung ja beim III. Internationalen Rundgepräch der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen im Jahr 1980 angeregt wurde. Seit Erscheinen dieser Fibel hat die Entwicklung der Computertechnik u.a. dazu geführt, daß man zur Nutzung der dort beschriebenen Techniken nicht mehr ein Rechenzentrum bemühen muß, sondern daß sie auf Personal Computern am Arbeitsplatz des Wissenschaftlers zur Verfügung stehen, zu Kosten, die die einer guten Schreibmaschine in den 70er Jahren nicht wesentlich überschreiten. Solche Geräte waren es auch, auf denen die genannten Funktionen im workshop demonstriert wurden. Wie in der Fibel nicht Lösungen oder Patentrezepte, sondern Grundtechniken des editorischen Arbeitens mit dem Computer im Vordergrund standen, so wurden auch hier in den drei Werkstätten auf den genannten Geräten keine Lösungen, sondern lediglich Basistechniken demonstriert. Neben den Geräten brauchte es für die Vorführung dieser Basistechniken auch Software. Obwohl inzwischen eine ganze Palette von Programmen verfügbar ist, die zumindest einige dieser Grundfunktionen anbieten, setzten wir in den drei Werkstätten - außer für die optische Texterfassung - als einziges System das Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen TUSTEP ein. Die Wahl eines einzigen Werkzeuges erleichtert die Konzentration auf das, was uns hier wesentlich ist, nämlich die Grundfunktionen als solche. Lassen Sie mich dennoch, bevor ich auf TUSTEP selbst kurz eingehe, an dieser Stelle auf einige andere Programmpakete hinweisen, die ernsthaft als wissenschaftliches Werkzeug im hier diskutierten Umfeld in Frage kommen. Für die Werkstatt 2 (Register, Indizes, Konkordanzen, Bibliographien) wären, wenn man von der Erstellung von Bibliographien absieht, vor allem die beiden Programme OCP und TACT zu nennen. OCP, das Oxford Concordance Program, ist das im geisteswissenschaftlichen Bereich weltweit wohl am weitesten verbreitete Programm zum Erstellen von Indizes, 3
EDV-Fibel für Editoren, von Wilhelm Ott, Hans-Walter Gabler, Paul Sappler im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Stuttgart: Frommann-Holzboog; Tübingen: Niemeyer 1982.
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Konkordanzen, Häufigkeitslisten und Wortstatistiken; es arbeitet "on text in any alphabetic language in the appropriate alphabet". Es wurde an der Universität Oxford entwickelt; die PC-Version wird von Oxford University Press vertrieben.4 Jünger als OCP und im Gegensatz zu diesem unentgeltlich zu erhalten ist das an der Universität Toronto entwickelte Text-Analyse-Paket TACT. 5 Es besteht aus zwei Teilen: MAKBAS errichtet aus dem Rohtext eine Textdatenbank; das Abfrageprogramm TACT selbst arbeitet auf dieser Datenbank. Auch TACT ist mehrsprachig; die Anzeige der gefundenen Textstellen erfolgt als KWIC-Index (key word in context), in Form von Grafiken, die die Verteilung der Fundstellen über den Text anzeigt, oder als Stellenindex. Für die Werkstatt 3 sei für die Funktionen 'Kollationieren, Apparate' auf das Programmpaket COLLATE von Peter Robinson hingewiesen, das auf Macintosh Computern läuft und das für wissenschaftliche Editionen - neben dem TUSTEP-Programm VERGLEICHE - wohl brauchbarste Instrument für diesen Zweck ist. 6 Bei den drei genannten Paketen handelt es sich um Programme, die mit TUSTEP gemeinsam haben, daß sie speziell für den wissenschaftlichen Umgang mit Texten entworfen wurden. Das unterscheidet sie von den marktgängigen Textverarbeitungsprogrammen wie WordStar (um den frühesten Vertreter zu nennen), WORD, WordPerfect etc., die zwar auch - vor allem bei der Erfassung der Daten - im wissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden, die aber zunächst für einen anderen Markt geschaffen wurden. Ihr primäres Einsatzfeld ist das Büro, ihre primäre Funktion der Ersatz der Schreibmaschine. Funktionen, die darüber hinaus für die Analyse und wissenschaftliche Bearbeitung von Texten notwendig sind, sind dort, wenn überhaupt, nur in Ansätzen vorhanden. Nun soll keineswegs bestritten werden, daß der Ersatz der Schreibmaschine durch ein Textverarbeitungssystem bereits enorme Vorteile für die wissenschaftliche Arbeit bringt. Die Möglichkeit der bequemen Korrektur und die Tatsache, daß die Teile eines Textes, die einmal fehlerfrei sind, während der ganzen Dauer eines Projekts bis hin zum Satz nicht ein zweites Mal abgeschrieben werden müssen (und daß damit eine sonst unvermeidbare Fehlerquelle vermieden wird), sind gerade für Editionen wichtig und ein nicht zu unterschätzender Rationalisierungsfaktor. Ein Werkzeug, das Schreibfehler vermeiden und Zeit für Schreib- und Korrekturarbeiten einsparen hilft, ist deshalb auch notwendiger Bestandteil des Werkzeugkastens eines wissenschaftlichen Editors. Für die Unterstützung der eigentlich wissenschaftlichen Arbeit am Text müssen freilich Werkzeuge hinzukommen, die die genannten Funktionen nicht nur ansatzweise, sondern in professioneller Form erlauben.
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Adresse: Walton Street, Oxford 0 X 2 6DP. Erhältlich vom Centre for Computing in the Humanities, Robarts Library, 130 St. George Street, Toronto, Ontario M5S1A5, Canada. COLLATE ist zu erhalten bei Peter Robinson, Oxford University Computing Service, 13 Banbury Road, Oxford OX2 6NN.
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VI. Das im workshop benutzte Werkzeug: TUSTEP Damit komme ich auf TUSTEP zurück und darauf, daß wir es wagten, in diesem workshop ein einziges Werkzeug für die wissenschaftliche Arbeit bei der Vorbereitung einer Edition vorzustellen. Der Grund liegt in der Summe der Eigenschaften dieses Werkzeugs, die für größere geisteswissenschaftliche Projekte wichtig sind, die ich im folgenden in einigen wesentlichen Punkten knapp umreißen möchte. Unterstützung für alle Arbeitsschritte in einem Paket Eines der Entwicklungsziele von TUSTEP war es, ein Programmsystem zu schaffen, das alle Phasen der wissenschaftlichen Arbeit an und mit Textdaten abdeckt, von der Eingabe mit Hilfe einer Tastatur (oder, wie in Werkstatt 1 gezeigt, der Übernahme der Texte von einer Lesemaschine) über alle Analyse- und Verarbeitungsschritte bis hin zum fertigen Satz. Dies hat Vorteile nicht nur bei der Beschaffung und Installation der Software, sondern auch beim Erlernen des Umgangs mit den Programmen (einheitliche Kommandostruktur für alle Arbeitsgänge) und vor allem bei der Verarbeitung der Daten, da Konvertiervorgänge und damit u. U. verbundene Fehlerquellen entfallen. Die Erfahrung zeigt, daß bestimmte Funktionen (z.B. der automatische Vergleich verschiedener Textfassungen zur Kontrolle der gerade durchgeführten Arbeitsschritte) in der Praxis nur ausgeführt werden, wenn dies ohne nennenswerten Aufwand möglich ist. Berücksichtigung wissenschaftlicher Aufgabenstellungen Die einzelnen Programmbausteine selbst berücksichtigen die Anforderungen des wissenschaftlichen Umgangs mit Textdaten. Dazu gehören ausgefeilte Suchfunktionen mit komplexen Muster-Erkennungs-Möglichkeiten ebenso wie die Berücksichtigung von ungewöhnlichen Buchstaben-Akzent-Kombinationen oder von nicht-lateinischen Zeichensätzen, und zwar nicht nur bei der Darstellung auf dem Drucker, sondern z.B. auch bei der Sortierung für die Erstellung von Wortlisten, Konkordanzen oder Bibliographien. Modularität als Voraussetzung für Flexibilität Die einzelnen Programmbausteine decken dennoch nur jeweils mehr oder weniger eine Grundfunktion ab. Im Unterschied etwa zum eben erwähnten OCP müssen, um eine einfache alphabetische Wortformenliste zu erstellen, drei dieser Bausteine mit solchen Grundfunktionen kombiniert werden: ein Programm namens RVORBEREITE, das den Text in die zu sortierenden Elemente zerlegt (hier also die Wortformen) und bei jedem dieser Elemente die Referenzen ergänzt sowie (über vom Anwender angegebene Parameter) festlegt, nach welchen Kriterien sortiert werden soll. Es folgt das Programm SORT, mit dem die so vorbereiteten Elemente sortiert werden. Ein drittes Programm, RAUFBEREITE, faßt die sortierten Elemente zu Registereinträgen zusammen, fügt zwischen dem Text und den Referenzen ggf. Häufigkeitsangaben ein und versieht diese Registereinträge ggf. mit Markierungen für die Weiterverarbeitung, z.B. zum Formatieren und Drucken für einen Arbeitsindex.
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Diese Modularität ist für den Anfänger sicher umständlicher zu handhaben als ein Aufruf etwa eines einzigen Programms; sie ist aber Voraussetzung für die Flexibilität des Werkzeuges, da bei Bedarf von der hier skizzierten Reihenfolge des Einsatzes der einzelnen Grundfunktionen abgewichen werden kann und beliebige andere Bausteine dazwischengeschaltet werden können. Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse Ein wesentliches Charakteristikum wissenschaftlichen Arbeitens ist die Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse. TUSTEP trägt dem u.a. dadurch Rechnung, daß alle Programme außer dem Editor nicht auf Interaktion mit dem Anwender angewiesen sind, sondern nach Regeln arbeiten, die der Anwender mit Hilfe von Parametern für die einzelnen Programme definiert. Diese Parameter stehen (meist zusammen mit den Programmaufrufen selbst) in Dateien, so daß jederzeit nachvollziehbar ist, welche Arbeitsschritte nach welchen Regeln durchgeführt wurden. Außer im Editor arbeiten alle Programme so, daß der Text von einer Quelldatei gelesen wird (und dort natürlich unverändert erhalten bleibt) und das Ergebnis in einer von der Quelldatei verschiedenen Zieldatei abgelegt wird. Dies ermöglicht nicht nur beliebig häufiges Wiederholen der einzelnen Arbeitsschritte mit u.U. verfeinerten Regeln, sondern auch - in vielen Fällen über automatischen Vergleich - die exakte Kontrolle der Ergebnisse, d.h. der Veränderungen, die sich in einem Arbeitsschritt am Text ergeben haben. Leistungskapazität, Effizienz Bei wissenschaftlichem Umgang mit Texten müssen auch große Datenmengen in einem einzigen Arbeitsgang bearbeitet werden können. Letzteres ist wichtig, wenn z.B. der Wortschatz von mehrbändigen Werken untersucht werden oder Konsistenzprüfungen sich auf mehr als einen Band einer Edition erstrecken sollen. Die größte Einzeldatei, die TUSTEP - entsprechende Kapazität auf den Magnetplatten vorausgesetzt - verarbeiten kann, umfaßt 7 Giga\byte (das sind 7000 Megabyte oder 7 Millionen K).
Die Verarbeitung großer Datenmengen setzt voraus, daß die eingesetzten Algorithmen effizient arbeiten, um den Zeitaufwand auf das notwendige Minimum zu reduzieren. Dem wurde durch entsprechenden Aufwand in der Programmierung Rechnung getragen.7 Zur Effizienz eines professionell einsetzbaren Programms gehört auch, daß es auf Rechnern der einem Projekt angemessenen Leistungsklasse zur Verfügung steht. Im workshop wurde TUSTEP auf (relativ leistungsfähigen) PCs vorgeführt. Es steht jedoch auch auf Workstations und Großrechnern unter den Betriebssystemen UNIX und VMS8 zur Verfügung, und zwar mit der gleichen Benutzeroberfläche und der glei7
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Beispiel: das Satzprogramm setzt und umbricht auf einer workstation IBM RS6000 Modell 560 pro CPU-Minute ein Buch mit mehr als 1500 Seiten. Die Versionen für IBM- und Siemens-Großrechner unter den Betriebssystemen MVS und VM/CMS bzw. BS2000 haben wir inzwischen ebenso eingefroren wie die noch ältere Version für Sperry UNIVAC bzw. Unisys OS 1100, da sich im Hochschulbereich auch
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Wilhelm Ott
chen Kommandostruktur wie am PC. Dies erlaubt bei Bedarf den problemlosen Übergang zu leistungsfähigeren Rechnern, wenn die Datenmenge oder die Komplexität der Arbeitsschritte und der damit verbundene Aufwand an Rechenzeit dies erfordern. Langfristige Verfügbarkeit Mit der Verfügbarkeit auf verschiedenartigen Rechnern ist eine weitere Eigenschaft eng gekoppelt, die gerade bei so langfristigen Unternehmungen wie Editionen wichtig ist: die Möglichkeit, über lange Zeit hinweg mit dem gleichen Werkzeug arbeiten zu können. Zwar wird auch TUSTEP ständig weiterentwickelt, um nicht nur mit dem Stand der Rechnertechnik, sondern auch mit neuen Anforderungen von seiten der Anwender Schritt zu halten. Jedoch sind neue Versionen 'aufwärtskompatibel' mit früheren Versionen. Das heißt, das einmal erarbeitete Prozeduren und Datenbestände unverändert weiterbenutzt werden können. Die TUSTEP-Mannschaft wird darauf achten, daß die Möglichkeit kontinuierlichen Arbeitens mit dem gleichen Werkzeug, die Heinrich Schepers am Beispiel der Leibniz-Edition vorgeführt hat, trotz der schnellen Entwicklung in der EDV-Technik auch für die Zukunft gegeben ist. 9 Nicht vorgefertigte Lösungen, sondern Werkzeug für den Fachmann Ich habe meine Einführung in den workshop unter das Stichwort 'Professionalität' gestellt und zuletzt einige Eigenschaften eines Werkzeugs skizziert, das als professionelles Werkzeug für wissenschaftliches Arbeiten an und mit Texten konzipiert ist. Dieses Konzept hat Konsequenzen, die auch im workshop sichtbar werden und die ich unter dem Stichwort Werkzeugcharakter zusammenfassen möchte. TUSTEP (außer für triviale Aufgaben wie das Schreiben und Ausdrucken etwa eines Vortragsmanuskripts oder einer Diplomarbeit) sinnvoll einsetzen kann nur, wer das zu lösende Problem analysieren, in Grundfünktionen zerlegen und die Regeln der Verarbeitung im Detail (z.B. bei einem spanischen Begriffsindex die Regeln für die Sortierfolge im Spanischen) vorgeben kann. Es wurde bei der Programmierung von TUSTEP bewußt darauf verzichtet, irgendwelches Sachwissen aus möglichen Anwendungsgebieten in die Programme selbst miteinzubringen; noch nicht einmal die Sortierregeln nach DIN für das Deutsche sind eingebaut; sie müssen vom Anwender über
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für die zentral betriebenen Rechner ein eindeutiger Trend weg von proprietären Betriebssystemen hin zu UNIX abzeichnet. An TUSTEP arbeiten wir - nach entsprechenden Vorarbeiten - seit 1970 in einer eigenen Abteilung am Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen; mit seinen wesentlichen Komponenten war es 1977 soweit verfügbar, daß wir im Herbst des genannten Jahres für die Ausbildung der geisteswissenschaftlichen Computeranwender von der Unterrichtung im Gebrauch herkömmlicher Programmiersprachen und eines nicht-numerischen Unterprogrammpakets übergehen konnten auf Kurse im Einsatz der TUSTEPBausteine. Den Namen TUSTEP hat das Programmsystem ein Jahr später erhalten.- Für die längerfristige Weiterarbeit an diesem System und für dessen Verfügbarkeit auch außerhalb der Universität Tübingen hat die Förderung, die diese Arbeit in den Jahren 1985 bis 1989 durch das Landesforschungsförderungsprogramm des Landes BadenWürttemberg erfahren hat, die Voraussetzungen geschaffen.
Der Computer als wissenschaftliches
Arbeitsmittel für Editionen
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Parameter definiert werden. Für diese Definition stehen jedoch alle notwendigen Mittel zur Verfügung. Mit anderen Worten: TUSTEP bietet für nichts eine Lösung, für vieles jedoch Werkzeuge an, mit denen der Anwender sein Problem lösen kann, sofern er es analysieren kann. Dies kommt nicht nur der Flexibilität des Pakets zugute, sondern macht das Zustandekommen eines Ergebnisses für den Anwender wirklich nachvollziehbar, da er die Elementar schritte, von der reinen Technik abgesehen, selbst im Detail vorgibt. Nur so kann er andererseits auch die Verantwortung für ein mit Computer-Hilfe gewonnenes Ergebnis wirklich übernehmen. Auch dies wurde bei den Demonstrationen im workshop deutlich. Aus den genannten Charakteristika von TUSTEP ergibt sich eine Eigenschaft, die TUSTEP häufig vorgehalten wird: TUSTEP sei kompliziert und nur mit hohem Lernaufwand überhaupt zu benutzen. Lassen Sie mich abschließend dazu drei kurze Anmerkungen machen: a. Soweit der höhere Aufwand aus der zuletzt erwähnten Notwendigkeit der Problemanalyse folgt, sehe ich darin keinen Nachteil von TUSTEP. b. Wenn der Aufwand addiert wird, der notwendig ist, um die verschiedenen Einzelsysteme bedienen zu lernen (z.B. WORD für die Texterfassung, COLLATE für das Kollationieren, OCP für Registerarbeit sowie für die Routinen, die notwendig sind, um die Daten vom Format des zuletzt benutzten System in das für den nächsten Schritt notwendige zu überführen), mit denen andernfalls die wichtigsten der genannten Grundfunktionen einigermaßen adäquat abgedeckt werden müßten, könnte es sein, daß dem gegenüber der Zeitaufwand für das Erlernen von TUSTEP recht gut abschneidet. c. Wenn man den Computer wirklich als professionelles wissenschaftliches Werkzeug zur Textdatenverarbeitung einsetzen will, sollte man bezüglich der sogenannten 'Bedienerfreundlichkeit' andere Maßstäbe ansetzen und andere Kriterien benutzen als dort, wo der Computer dem gelegentlichen Benutzer etwa eine Fahrplanauskunft geben soll oder wo er, etwa im Büro, Standardabläufe wie Korrespondenzabwicklung und Aktenablage unterstützen soll. Dort sind fertige Lösungen gefragt. Wo aber nicht Lösungen, sondern leistungsfähiges Werkzeug benötigt wird, sollte - wie in jedem Handwerk selbstverständlich - eine Ausbildung in der Handhabung dieses Werkzeugs10 mit eingeplant werden. Nur dann kann wirklich professionell, und das heißt auch zeitsparend damit umgegangen werden. Auch diese Einsicht soll der workshop vermitteln helfen. Professionalität ist auch beim Computereinsatz nicht gratis zu erhalten.
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Zur Einführung in den vollen Funktionsumfang von TUSTEP werden an der Universität Tübingen Kompaktkurse von dreiwöchiger Dauer angeboten. Der Zeitaufwand für das Erlernen des Umgangs mit diesem Werkzeug dürfte damit nicht wesentlich über demjenigen liegen, den man für den Erwerb eines Kfz-Führerscheins ansetzen muß.
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Hermann Schnarr
Hermann Schnarr
Umstellung einer Edition auf EDV - am Beispiel der Sermones-Edition des Nikolaus von Kues
Üblicherweise soll ein Referat das Wissen des Referenten auf einem bestimmten Gebiet zeigen. In meinem Referat aber möchte ich das Gegenteil erreichen: Ich möchte sozusagen mein Nichtwissen demonstrieren. Indem ich mein Nichtwissen zu demonstrieren unternehme, kann ich mich zugleich auf Nikolaus von Kues selbst berufen. Nikolaus von Kues ist bekannt geworden als der Philosoph der 'docta ignorantia', des belehrten Nichtwissens, eines Wissens, das über sein eigenes Nichtwissen belehrt ist. Nichtwissen in diesem Sinne ist nicht etwas Negatives, sondern im Gegenteil etwas höchst Positives. Wenn ich also in meinem kurzen Referat mein Nichtwissen im Bezug auf EDV aufzeige, so ist das durch Nikolaus von Kues selbst legitimiert. Je besser ich Ihnen zeigen kann, wie wenig ich im Umgang mit dem Computerprogramm weiß und auch zu wissen brauche, um so mehr habe ich mein Ziel erreicht, und zwar Ihnen zu zeigen: Trotz Nichtwissens, jedenfalls auf weiten Strecken, kann man das Tübinger Textverarbeitungsprogramm einsetzen. Die Cusanus-Ausgabe brauche ich Ihnen nicht vorzustellen. Das hat Hans Gerhard Senger bereits in hervorragender Weise getan und auf den quasi vorbildlichen Charakter und Anspruch dieser seit 1932 laufenden Edition hingewiesen, veröffentlicht unter dem Titel »Die Nikolaus von Kues-Ausgabe als Beispiel einer historisch-kritischen Editionen der »Zeitschrift für Philosophische Forschung«.1 Nochmals vorgestellt, verbunden mit einer philosophischen Legitimation eines solchen Editionsunternehmens, hat sie Werner Beierwaltes im »Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1987«.2 Ein Teil dieser auf 20 bzw. 22 Bände - zwei Bände Indices - berechneten Ausgabe sind der Edition der Sermones gewidmet. Es handelt sich um die Bände XVI-XIX, also um vier Bände. Die Predigt-Edition läuft unter der Leitung von Rudolf Haubst seit 1960; der erste Faszikel erschien 1970. Inzwischen liegt der erste Band, Band XVI der Gesamtausgabe, vollständig vor, herausgegeben von Rudolf Haubst und Martin Bodewig. Vom zweiten, also Band XVII, sind bisher zwei Faszikel erschienen.
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Vgl. Hans Gerhard Senger: Die Nikolaus von Kues-Ausgabe als Beispiel einer historisch-kritischen Edition. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 38, 1984, S. 73-83. Vgl. Werner Beierwaltes: Die Cusanus-Ausgabe. In: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1987. Heidelberg 1988, S. 101-106.
Umstellung einer Edition auf EDV
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Auf einige Sonderprobleme gegenüber den Bänden, die die philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues enthalten, darf ich aufmerksam machen: Der Text erscheint anders als in den anderen Bänden in zwei Kolumnen. Da für einen großen Teil der bisher erschienenen Sermones das Autograph und eine vom Autor korrigierte Abschrift Textgrundlage sind, hat man im Bemühen um eine möglichst genaue Textbeschreibung einige Sonderzeichen entwickelt. Der textkritische Apparat ist relativ aufwendig; es sind oft auch unwesentlich erscheinende Varianten notiert. Das hängt damit zusammen, daß die Abhängigkeit der einzelnen Handschriften voneinander noch nicht restlos geklärt ist. Diese Klärung kann erst erfolgen, wenn alle Handschriften kollationiert sind. Der bisher erschienene Band XVI und Faszikel 1 von Band XVII wurden noch im Bleisatz hergestellt, der Index-Faszikel zu Band XVI und Faszikel 2 von Band XVII bereits im Lichtsatz. Was sind nun die Gründe, die laufende Edition auf EDV umzustellen? Der Hauptgrund sind die Erfahrungen mit den bisherigen Drucklegungsverfahren, und zwar vor allem mit dem 'Korrekturlesen'. Beim zuletzt erschienenen Faszikel 2 von Band XVII zog sich das Korrekturlesen über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren hin. Niemandem, der solche Arbeiten schon einmal hinter sich gebracht hat, brauche ich klar zu machen, welche nervliche Belastung dieses Korrekturlesen in der geballten Form bedeutet. Bei der vorgesehenen Umstellung der Edition ist es natürlich unbedingt erforderlich, die Zustimmung des Verlages zu gewinnen. Die Anwesenheit der beiden Herren Meiner bestärkt mich in der Annahme, daß ich inzwischen glauben und hoffen darf, dem Verlag durch die bisher erzielten Ergebnisse die Gewißheit vermitteln zu können, daß die Umstellung der Edition ohne Einbußen bei der bisher erreichten typographischen Qualität gelingen wird. Hier ist nun der Punkt, die Frage zu stellen: Weshalb fiel bei der Umstellung der Edition auf EDV die Wahl auf das Tübinger Textverarbeitungsprogramm TUSTEP? Alle anderen Textverarbeitungsprogramme bieten nicht die Möglichkeit einer selbständigen automatischen Verwaltung von drei Anmerkungsapparaten. Jedes andere Programm hätte wieder nur zur Erstellung eines Manuskriptes im herkömmlichen Sinne geführt. Hier greife ich eine Unterscheidung und Formulierung von Heinrich Schepers aus den vorbereitendenden Gesprächen zu dieser Tagung auf: Man muß unterscheiden zwischen der Herstellung irgendeines Buches, auch eines wissenschaftlichen Buches, und der wissenschaftlichen Edition geistesgeschichtlich bedeutsamer Texte. Mit der Edition geistesgeschichtlich bedeutsamer, historischer Texte machen wir nicht irgendein Buch, sondern wir erstellen eine wissenschaftliche Edition. Durch die Anwendung von TUSTEP für diese wissenschaftliche Edition stellen wir daher nicht ein Manuskript her für irgendein Buch, das dann weitergeleitet wird an den Verlag, der es wiederum weiterleitet an eine Setzerei, sondern wir machen die Edition selbst, und zwar von Anfang an, von der ersten Eingabe in den Rechner an. Auf diesen Unterschied, nämlich den zwischen der Herstellung eines Manuskriptes und der Her-
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Stellung der Edition selbst, kann man beim Einsatz von EDV nicht deutlich genug aufmerksam machen. Man muß ihn immer wieder betonen. Welche Vorteile bringt nun die Umstellung einer bereits bestehenden und sich auch einigermaßen bewährt habenden Edition auf das Tübinger Textverarbeitungsprogramm? Einerseits ist man gebunden an Vorgaben der bestehenden Edition. Man kann also diese nicht frei entwerfen. Andererseits sind diese Vorgaben auch Hilfen und ersparen neue Entwürfe, da das bereits Bestehende sich bewährt hat. So ist man in der Edition der Sermones des Cusanus an die dort entwickelten Sonderzeichen gebunden. Die Frage ist nun die: Kann TUSTEP diese bestehenden Vorgaben umsetzen? Es kann sie umsetzen. Alle dort verwendeten Sonderzeichen sind im Zeichenvorrat von TUSTEP bereits vorhanden bis auf eines, das aber nach einer Zusage von Herrn Ott leicht noch entwickelt werden kann. Wie verläuft nun die Arbeit an der Edition mit Hilfe von TUSTEP? Welche Geräte sind nötig? Was sind die unbedingt notwendigen Grundkenntnisse zu dieser Arbeit? Die ersten Editionen, die mit Hilfe von TUSTEP erstellt worden sind, arbeiteten bzw. mußten am Großrechner arbeiten. Bei der Version von TUSTEP, mit der ich anfing, ist der Umgang mit dem Großrechner nicht mehr erforderlich. Ich kann meine ganze Editionsarbeit auf einem normalen PC abwickeln. Bei mir handelt es sich um folgendes Modell: Commodore PC 20-111. Für manchen von Ihnen wird das ein Uralt-Modell sein. Die Arbeit mit TUSTEP ist aber möglich. Neuere Modelle arbeiten natürlich schneller. Die einfachsten Grundkenntnisse, die für meine Arbeit erforderlich sind, unterscheiden sich kaum von denen, die zur Anwendung anderer Textverarbeitungsprogramme nötig sind. Zunächst ist da das richtige Aufrufen des Programms; es besteht einfach in der Eingabe des Wortes bzw. der Abkürzung: TUSTEP. Ebenso wichtig ist das richtige Verlassen des Programms. Bei falschem Verlassen, was am Anfang vorkommen kann, besteht nicht die Gefahr, daß Dateien verloren gehen können. Sie sind nur zunächst dem Zugriff entzogen. Mit einem Rettungsprogramm sind diese aber problemlos wieder zugänglich zu machen, so daß von da keine Gefahr droht, daß etwas endgültig verloren geht. Ist man einmal im Programm, muß man die zwei Ebenen der Befehle unterscheiden: die Kommando-Ebene, auf der Programme aufgerufen werden, und die Anweisungs-Ebene des Editors. Meine Arbeit kommt auf der Kommando-Ebene mit folgenden fünf Punkten aus: 1. 2. 3. 4. 5.
Einrichten von Dateien; Anmelden der eingerichteten Dateien; Aufrufen des Editors; Programmaufrufe für Formatieren und Ausdrucken der Dateien; eventuell ein Löschbefehl für eine überflüssiggewordene Datei.
Damit sind natürlich bei weitem nicht die Möglichkeiten der Kommando-Ebene erschöpft, aber für meine Arbeit sind sonst auf dieser Ebene keine weiteren Kenntnisse unbedingt notwendig.
Umstellung einer Edition auf EDV
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Auf der Anweisungsebene, d.h. im Editor, wird die Hauptarbeit geleistet; hier erfolgt die Texteingabe in den Rechner und die Arbeit an den eingegebenen Texten, deren editorische Aufbereitung durch bestimmte Codierungen nach Schriftarten, Absätzen, Texteinteilung, Anmerkungen unterschieden nach den drei verwendeten Apparaten etc., alles, was das Endergebnis der Edition letztlich bestimmt. Nach der Texteingabe hat man, jedenfalls bin ich so verfahren, zwei Möglichkeiten des Ausdruckes: 1. Ausdruck der Eingabedateien mit allen Codierungszeichen; 2. formatierter Ausdruck, der die Codierung für die Edition umsetzt. Erforderlich für diesen Ausdruck ist ein entsprechender Drucker. Im Institut verfügen wir über ein solches Gerät, einen HP Laser-Jet-Drucker Series II. Erforderlich ist auch die Erstellung eines einfachen Ausdruck-Programms. Diese Erstellung ist das Einzige, was über die üblichen Kenntnisse in EDV hinausgeht. Dabei war ich in der äußerst glücklichen Lage, daß ich dazu immer auf die sachkundige Hilfe von Herrn Dr. Michael Trauth vom Rechenzentrum der Universität Trier zurückgreifen konnte. Er hat mir auch die Grundkenntnisse in TUSTEP vermittelt. Wenn eine solche Hilfe nicht am Ort zur Verfügung steht, kann man sich, davon bin ich überzeugt, immer auch nach Tübingen um Hilfe wenden. Was sieht man bei einem solchen formatierten Ausdruck? Die Textverarbeitung nach Stücknummern. Alle verwendeten unterschiedlichen Schriftarten. Alle ApparatEinträge, unterschieden nach den drei Arten. Hier kann überall korrigiert werden. Was sieht man dabei noch nicht? Die endgültige Textverteilung auf Kolumnen, die damit verbundene Zeilenzählung und die sich daraus ergebende Zuordnung der Apparat-Einträge zu den entsprechenden Zeilen. All dies leistet mir dann aber ein Simulationsausdruck. Hier ist der Punkt, wo wir zu einer möglichst effektiven Arbeitsteilung gekommen sind. Um mir das zeit- und ernergieaufwendige Erlernen des Satzprogramms und des Arbeitens am Großrechner zu ersparen, wird das eigentliche Satzprogramm für die endgültige Fassung der Drucklegung nicht mehr in Trier, sondern in Tübingen von Frau Ott erstellt, wo auch von Zeit zu Zeit Simulationsausdrucke gemacht werden. Auf diesem Simulationsausdruck hat man dann schon das endgültige Druckbild. Das Programm für diese Simulation macht selbständig: die Verteilung des Textes auf zwei Kolumnen, die Zählung der Zeilen nach den Stücknummern und die sich aus der Zeilenzählung ergebende Zuordnung der Apparat-Einträge mit Angabe der entsprechenden Zeile im Apparat-Eintrag. Die Apparat-Einträge erscheinen selbstverständlich getrennt untereinander in den Apparaten eins bis drei. Die größte Schwierigkeit beim alten Satzverfahren war der Umbruch, die jeweils richtige Textverteilung mit den entsprechenden Apparat-Einträgen auf die jeweiligen Seiten. Das erforderte beim zuletzt erschienenen Faszikel mit dem herkömmlichen Verfahren mehrere Korrekturgänge. Bei diesem letzten Faszikel mußte man dabei an einer Stelle einen Kompromiß schließen, um nicht noch einmal das Ganze umstrukturieren zu müssen. Diesen Umbruch bewerkstelligt das Satz-Programm automatisch.
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Allein die automatische Abwicklung dieser komplizierten Prozedur bedeutet eine erhebliche Entlastung gegenüber dem bisherigen Verfahren. Auf eine Schwierigkeit, die mir entstand, inzwischen aber ausgeräumt ist und nicht mehr auftauchen wird, möchte ich noch hinweisen. Meine Dateien waren anfangs codiert für den einfachen Formatiere-Ausdruck auf dem Laser-Drucker im Institut. Der Code war viel zu sehr ausgerichtet auf Detail-Angaben und Einzelcodierungen. Für den Simulationsausdruck mußten die Dateien umcodiert werden, und zwar mit einem wesentlich einfacheren Code. Mit einem Umcodierungsprogramm und mit Makro-Befehlen war auch diese Schwierigkeit relativ leicht zu bewältigen. Der neue Code ist eine große Vereinfachung und damit auch eine Erleichterung gegenüber dem alten. Künftig werden die Dateien gleich von Anfang an mit diesem wesentlich vereinfachten Code versehen. Die von mir erstellten Dateien enthalten nicht nur den Text der Edition im eigentlichen Sinne, sondern auch Steuerbefehle für das weiterverarbeitende Programm: Weil der Rechner nicht wissen kann, ob ein Eintrag zum Text oder in einen Apparat oder zu den Fußnoten oder in die Editionsvorbemerkungen gehört, muß ihm dergleichen über Codes mitgeteilt werden. Um meine Eingabe in einem formatierten und in geeigneter Weise strukturierten Ausdruck überprüfen zu können, verwendete ich zunächst die speziellen Codes, die das FORMATIERE-Programm von TUSTEP versteht. Damit war - auf einer einfachen Ebene - für meine Bedürfnisse das Wichtigste realisierbar: Auszeichnungen der Schriften, Sonderzeichen, Kennzeichnung der Apparat-Einträge, marginale Zeilenzählung usf. Damit hätte es, soweit es mich betrifft, sein Bewenden haben können, doch war mit diesem Verfahren eine Schwierigkeit für die Weiterverarbeitung meiner Eingabe im SATZ-Programm verbunden: Da dieses ungleich leistungsfähiger ist als das FORMATIERE-Programm, verfügt es über einen ganz anderen, wesentlich größeren Befehlsvorrat als letzeres. Diese Inkompatibilität hätte einen weiteren Verarbeitungsschritt, nämlich den der Umcodierung der Steuerbefehle, erforderlich gemacht, wenn TUSTEP nicht auch dafür eine bemerkenswert simple Lösung bereithielte, die mir zusätzlich auch noch die Eingabe erleichterte: Je nachdem, welche Leistung von beiden Programmen (FO und SA) verlangt wird, sind partiell recht komplexe Befehlsfolgen vonnöten. Da sich diese aber stereotyp wiederholen, nur eben für beide Programme unterschiedlich sind, haben wir eine einfache Metasprache eingeführt, die beide Programme für sich korrekt interpretieren. Mit dem Begriff der Metasprache bzw. der Meta-Anweisung ist ein kleiner, überschaubarer Vorrat vierstelliger Kürzel (Makros genannt) gemeint, die von jedem Programm in die korrekte Anweisung aufgelöst werden. Ein Beispiel soll dies erläutern. In den Editionsvorbemerkungen zu jedem Sermo, Praenotanda genannt, gibt es die Unterrubrik »Dies«. Satztechnisch gesehen soll an dieser Stelle: 1. 2. 3. 4.
ein neuer Absatz stumpf beginnen; auf kursive Schrift und Sperrung umgeschaltet werden; das Wort »Dies« geschrieben werden; für die nachfolgenden Zeilen auf einen definierten Einzug umgeschaltet werden.
Umstellung einer Edition auf EDV
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All diese Befehle mußten vorher jeweils mit einzelnen Steuerzeichen versehen werden. Bei dem neuen Code brauche ich nur noch das Makro #f+&.di#f- einzugeben. Mit dem Simulationsausdruck hat man jeweils den vorläufigen Endzustand der Edition vor Augen, in den man aber immer wieder korrigierend und erweiternd eingreifen kann, was vor allem in den Anmerkungsapparaten 2 (Quellen) und 3 (Parallelen) der Fall ist. Diese Erweiterungen sind ohne Schwierigkeiten einzubringen, da der neu zu bewerkstelligende Umbruch vom Satzprogramm jeweils automatisch neu gemacht wird. Ist die editorische Arbeit abgeschlossen, geht das Material nach Tübingen, wo dann von berufsmäßig ausgebildeten Setzern eine sogenannte typographische 'Endschönung' vorgenommen wird. Nach dieser Endschönung dürfen keine Veränderungen mehr vorgenommen werden. Eventuelles Korrekturlesen beschränkt sich dann auf die Stellen, an denen 'Endschönungen' vorgenommen worden sind. Ein halbes Jahr nach Ablieferung des Materials in Tübingen wird der fertige Faszikel mit der Endschönung vorliegen. Aus dieser Arbeitsteilung ergibt sich für mich die Reduzierung der notwendigen EDV-Kenntnisse auf ein Minimum, eigentlich auf Handgriffe, wie sie bei der Anwendung jedes anderen Textverarbeitungsprogramms notwendig sind. Sie bietet mir aber zugleich alle Vorteile und Möglichkeiten von TUSTEP, die dieses Programm auszeichnet, die die anderen Programme gar nicht bieten können. Nur dieses Minimum ist nötig für den Anfang. Dem Erlernen der Ausnutzung weiterer Möglichkeiten des Programms sind keine Grenzen gesetzt. Der Computer bzw. das Textverarbeitungsprogramm erspart natürlich nicht das Korrekturlesen. Es tritt aber nicht mehr in der geballten Form auf wie in der Endphase der Drucklegung, sondern erfolgt kontinuierlich während der Editionsarbeit selbst. Das Korrekturlesen ist integriert in den Gesamtprozeß der Editionsarbeit selbst. Der Computer gewährleistet, daß der einmal erreichte Korrekturstand nicht mehr in Frage gestellt wird. Mit dieser Arbeitsteilung wird auch die Edition sicher beschleunigt werden. Die Finanzierung des Editionsprojekts ist begrenzt und läuft nur bis zum Jahre 2000. Falls die Edition bis dahin nicht zum Abschluß gekommen ist, droht die Sperrung der Mittel zur Weiterführung des Projektes. Durch die Umstellung der Edition auf EDV mit Hilfe von TUSTEP hoffen wir, die Edition zu beschleunigen. Wenn auch das ganze Unternehmen nicht bis zum Jahre 2000 abgeschlossen sein sollte, so wird durch einen zügigeren Fortgang der Edition dann doch ein Ende absehbar und der drohende Abbruch des Projektes unwahrscheinlicher. Abschließend möchte ich noch einmal zusammenfassend auf die Gründe hinweisen, die zur Umstellung der Edition auf EDV, speziell auf TUSTEP, geführt haben: 1. Vermeidung der nervlichen Belastung durch das geballte Korrekturlesen in der Endphase der Drucklegung; 2. Herabsetzung der Druckkosten durch Wegfallen der Satz- Korrektur- und Umbruchkosten im herkömmlichen Sinne; 3. Beschleunigung des Fortgangs der Edition; 4. Erhaltung der Finanzierung des Editionsprojektes.
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Hermann Schnarr
Nicht verschweigen möchte ich zum Schluß, daß auch für mich manche Schwierigkeiten und Engpässe sowohl bei der Einarbeitung in das Programm als bei der Erstellung der endgültigen Fassung auftauchten. In solchen Situationen habe ich aber immer in entgegenkommendster Weise Hilfe und Beratung erfahren, einmal von Herrn Dr. Michael Trauth vom Rechenzentrum der Universität in Trier und dann auch von Frau Hannelore Ott in Tübingen. Ohne die Hilfestellung der beiden wäre ich sicher nicht in der relativ kurzen Zeit soweit gekommen.
Hannelore Ott
Umstellung einer Edition auf EDV - Technische Anmerkungen zum Beitrag von Hermann Schnarr
Der Beitrag von Hermann Schnarr beschreibt die Umstellung eines laufenden Editionsprojekts aus der Perspektive des Editors. Hier sollen einige technische Anmerkungen dazu ergänzt werden. Vier Vorgaben waren bei dieser Umstellung zu berücksichtigen: 1. Die Edition muß in der bisherigen Form weiter erscheinen. 2. Die Umstellung mußte - zumindest in der Anfangsphase - mit minimalem EDV(hier: TUSTEP-) Wissen von seiten der Editoren erfolgen können. Die schon geleisteten Vorarbeiten mußten integriert werden können. 3. Die Editoren müssen ihren Teil der Editionsvorbereitung möglichst selbständig und unabhängig von Rechenzentrum und Setzereibetrieb durchführen können. 4. Die zu leistende Arbeit muß immer auch für künftige Arbeitsschritte nutzbar sein. Das verbietet beispielsweise jegliche Handarbeit, die zu einem späteren Zeitpunkt der Arbeit wiederholt werden muß, also z.B. Eingriffe von Hand nur zu dem Zweck, einen Zwischenausdruck in eine gefällige Form zu bringen. Bei der Umstellung eines laufenden Editionsprojekts auf EDV wird sich als erster Schritt die Umstellung der Satzvorbereitung anbieten, da diese einerseits viel Korrekturarbeit sparen hilft, andererseits durch vorläufige Indizes und Register zusätzliche Mittel für die Endkontrolle an die Hand gibt. Das endgültige Erscheinungsbild der Edition ist für diese Arbeitsphase genausowenig wichtig wie bei herkömmlicher Manuskriptvorbereitung. Es ist z.B. völlig unwesentlich, ob in einem Kontrollausdruck die Apparate gesammelt am Fuß der Seite stehen oder jeweils unmittelbar hinter dem Wort, auf das sie sich beziehen. Wesentlich ist jedoch, schnell und sicher die Zuordnung zu den verschiedenen Apparaten kontrollieren zu können. Wir haben die letztere Anordnung vorgeschlagen, da sie für diesen Zweck übersichtlicher gestaltet werden kann als der vor allem auf Platzersparnis ausgelegte Satz. Hat man sich dies klar gemacht, so entdeckt man, daß dem zunächst kompliziert wirkenden äußeren Erscheinungsbild (vgl. Abbildung 1) der Sermones-Edition eine sehr einfache Struktur zugrunde liegt: -
Überschriften, Kopftext für die einzelnen Sermones, Haupttext, Apparate.
Hannelore Ott
112 SERMO L
Sermo L Spiritus Sanctus superveniet in te Praenotanda 20' aut 25* martii (dies Annuntiationis) 1 4 4 J aut anno sequenti (v. ad S e r m o n e m X L I X ) .
Dies·.
See. KOCH CT
I 7 p.72:
Sermo
41.
C 1 io r lin.32 - 1 io v ; V , 73 r b lin.3 1 - 7 3 v b lin.26; D 3 j j v - 356"; U , B6W lin. 1 j — 87' l i n . 1 2 : Spiritus - doeet (n.1—4
Μss·.
v. MFCG
10 [197)]
I i ) ) et Sj"Hn.jj
— SS'lin.
16: G e n e s i s - superveniet (n.4
Divisio:
Prime:
Deinde: exempla
Cur
renasci
debeamus
Quo modo in f i l i i s Adae adiunguntur (n.6).
in spiritu
spiritus
mortis
reduetus
Sciendum, quod primam doctrinam, quam Christus doeuit 12 ( = Buchstaben/Wort)12 bezeugt die Verteilung der drei Texte FTXA: 84 - FTXB: 184 - FTXC: 156 eine ausgeprägte Vorliebe des Autors von Text Β und C für längere Wörter. steht sich von selbst, daß ein Indikator wie dieser in deutschen Texten noch lich stärker herausgearbeitet werden kann. Wortschatzvergleiche lassen sich jedoch nicht allein zwischen Texten durchführen. Ganz erstaunliche Resultate sind auch zu gewärtigen, wenn sie 10 11
12
Es verwesentin toto auf der
Es handelt sich um einen Auszug aus zwei Texten Martin Walsers: Die Brandung und Das fliehende Pferd. Es handelt sich um Texte der schon oben in Anm. 9 genannten Autoren. Weil die herangezogenen Textausschnitte von standardisierter Größe (jeweils 6.500 Wörter) waren, durften hier absolute Häufigkeitsangaben verwendet werden. Aus diesen wurden lediglich alle Types mit der Wurzel administrat- eliminiert, weil das frz. Verwaltungssystem einen einseitigen inhaltlichen Schwerpunkt eines der Texte bildet.
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Michael Trauth
Ebene der einzelnen Sätze (oder beliebig anders definierbarer Abschnitte) durchgeführt werden. Der Ansatz impliziert nichts anderes, als Miniatur-Indizes von allen diesen Einzelsätzen anzufertigen und jeden mit jedem zu vergleichen. Algorithmisch gesehen - wird dabei entweder jeder Satz in der Quelldatei nach vorzugebenden Optionen mit jedem Satz der Vergleichsdatei verglichen (Satz Al mit Bl, B2 ... Bn, danach Satz A2 mit B l , B2 ... Bn usw. bis Satz An mit Bn), - oder es werden dieselben Vergleiche nur innerhalb der Quelldatei angestellt werden (Satz Al mit A2, A3 ... An, danach Satz A2 mit A3, A4 ... An usw.). Wozu dieser Aufwand? Intendiert ist damit maschinelle Hilfe bei der Suche nach Parallelstellen, Textpassagen also, in denen ein Autor mit seiner Formulierung an eine andere, identische bis ähnliche, anknüpft. Dabei könnte es sich um eine werkinterne Wiederholung, eine imitatio oder ein Plagiat handeln. Selbstverständlich wird der Rechner keine auf die inhaltliche Aussage beschränkten Parallelstellen nachweisen können; es ist ihm also nicht möglich, die Ähnlichkeit zwischen den Bibelstellen • quod ab alio odis fieri tibi / vide ne alteri tu aliquando facias (Tobias 4,16) • omnia ergo quaecumque vultis ut faciant vobis homines et vos facite eis (Matth. 7,12) festzustellen. Hingegen ist es ihm ein leichtes, anhand der ausgeprägten Wortschatzübereinstimmungen (eis, et, faciant, facite, homines, ut, vultis) einen Hinweis auf die mögliche Parallelität der Stellen • omnia ergo quaecumque vultis ut faciant vobis homines et vos facite eis (Matth. 7,12) • et prout vultis ut faciant vobis homines et vos facite eis similiter (Lukas 6,31) zu geben. Die starre Fixierung des Rechners auf die ganz konkrete Erscheinungsform der Wörter kann dadurch gemildert werden, daß zuvor bestimmte Flexionsformen und vieles andere mehr unifiziert oder herausgefiltert werden. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die sehr häufigen FunktionsWörter, Partikel, Hilfsverben usw. den Nachweis von "Ähnlichkeiten" provozieren, die keine sind; auch hier besteht das Remedium darin, daß solche Wörter zuvor eliminiert werden. Der Einsatz des Programms 13 erbrachte z.B. für eine Untersuchung der Lukan-Imitation Arators (De actibus Apostolorum, Mitte des 6. Jhs.) neben den der Forschung bereits bekannten Parallelstellen noch mehrere bisher unbekannte, unter anderem LVCAN. 9,299 poenaque de victis sola est vicisse Catoni ARATOR 2,707 si desperat habet; sola est via vincere victis
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Es handelt sich um ein selbst entwickeltes Turbo-Pascal-Programm zum Einsatz auf MSDOS-Rechnern. Seine Aufgabe ist eine der wenigen, die ich mit TUSTEP nicht zu meistern vermochte. Die folgenden Hinweise verdanke ich einem Kollegen aus der Klassischen Philologie, Herrn Dr. Johannes Schwind, der die Untersuchung vorgenommen und ausgewertet hat.
Vom maschinellen Zerhacken der Texte
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An zwei Stellen gibt die auf diese Weise aufgedeckte Lukan-Imitation überdies die Erklärung für eine sonst wenig verständliche Formulierung Arators: LVCAN. 2,584 terra ... quocumque iacet sub sole . ARATOR 2,531 ... flammivomo sub sole iacet (vom Adler gesagt!) LVCAN. 3,461 ... et muros mirata est stare iuventus ARATOR 2,1191incolumen sic stare diu mirata iuventus (von Paulus, den eine Giftschlange gebissen hat!) Ein Handicap sei freilich nicht verschiegen: Weil das Programm in Abhängigkeit von der Textgröße ungeheuer viele Einzelvergleiche durchführen muß, stellt es höchste Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Hardware; die Verarbeitung größerer Texte kann dabei mehrere Tage in Anspruch nehmen. Der Aufwand lohnt gleichwohl, weil das Vergleichsergebnis - eine ASCII-Dateiausgabe jener "Parallelstellen" sich seinerseits erneut nach mehreren Kriterien quantifizieren läßt, was nach allen bisherigen Erfahrungen weitere vorzügliche Hinweise auf die Zusammengehörigkeit verwandter Texte ergibt. Der Vollständigkeit halber erwähne ich schließlich noch an dieser Stelle eine Variante des Index, die gemeinhin, wie ihr Name schon verrät, an anderer systematischer Stelle verbucht wird: das Reimregister (s. Abb. 12).14 Mit herkömmlichen Mitteln hätte sich die für die automatische Erstellung unverzichtbare formale Beschreibung eines Reims (Definition der vokalischen Entsprechung, Unterscheidung von betonten und unbetonten Silben), ferner seine korrekte Bestimmung bei nichtpaarweisem Auftreten und schließlich seine doppelte Verbuchung sowohl unter Reimwort Α wie auch unter Β als beachtliche Schwierigkeit erwiesen, doch konnten solche Hindernisse dank TUSTEP von vornherein auf den philologischen Part beschränkt bleiben. Alle hier vorgestellten Indizes lassen sich selbstverständlich nicht nur deskriptiv einsetzen, sondern auch zur Text-(Re-)Konstituierung, beispielsweise zur divinatio in Fällen verderbter Textstellen.
Wie das Beispiel des Reimregisters zeigt, ist die Grenze vom Index zum Register fließend. Traditionell wird letzteres überwiegend zur Aufschlüsselung von Buchinhalten verwendet, was in seiner eigentlichen Bedeutung fordert, oftmals höchst komplexe, ja abstrakte Sachverhalte durch hierarchische Registerbegriffe, "Schlagwörter" oder "Deskriptoren", abzubilden. Ursprünglich eine hoch bewertete Kunst, wie ein Thomas Carlyle zugeschriebenes Wort bezeugt: "Ein Register ohne Buch hat mir manchmal genützt, ein Buch ohne Register nie", verkümmert das ehedem stolze Sachregister seit geraumer Zeit zum wesentlich anspruchsloseren Personen- und Ortsregister - und selbst dieses degeneriert mehr und mehr zum simplen Index der konkret in einem Text erscheinenden Namen. Die schmalbrüstigen Indexfunktionen der etablierten Textverarbeitungsprogramme haben das Ihre dazu beigetragen, diese Tendenz 14
Die abgebildete Seite stammt aus: Reimregister zu Nikolaus Lenaus Versepen. Bearb. v. H.P. Delfosse, K.J. Skrodzki und M. Trauth (Indices zur deutschen Literatur, 24), Tübingen 1991.
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Michael Trauth
zu befördern. Was denn nun ein gutes Register ausmacht, ist darob schon fast in Vergessenheit geraten. 15 Es ist hier nicht der Ort, dies weiter auszuführen, doch sollte eines klar sein: Wie beim guten Index setzt die maschinelle Erstellung eines guten Registers jedenfalls ein hohes Maß an verstehender Verarbeitung und an Vorarbeit durch den Menschen voraus - und dies um so mehr, je voluminöser die Informationsmenge ist, die es zu beschreiben gilt. Die rein maschinelle Leistung, d.h. die zuverlässige Extraktion, Sortierung und (ggf. selektive) hierarchische Präsentation der Einträge, ist schließlich vergleichbar leicht zu realisieren wie im Falle der vorgestellten Indizes. Etwas anspruchsvoller fallen die anstehenden Arbeiten aus, wenn vom Rechner nicht bloß die Extraktion, sondern auch die selbständige Generierung von Registereinträgen verlangt wird. Ein Beispiel dafür sei eine große Bibliographie zur Geschichte der Menschenrechte 16 mit insgesamt ca. 17.000 Dokumenten. Für die Annotierung in einer rechner-verwertbaren Form entwickelte ich ein System von Deskriptoren, das die möglichst ökonomische Beschreibung (grundrechts-)systematischer, politisch-geographischer, personaler, zeitlicher und anderer Einschlägigkeiten gewährleisten sollte. (Dazu gehörten beispielsweise Siglen wie MEO für "Presse- und Meinungsfreiheit", FR für "Frankreich" etc.) Ergänzend erwies es sich als nötig, Inhalte auf verschiedenen Klammerebenen zu beschreiben zu können: Wenn etwa ein Autor in einem Kapitel seiner Studie von Politischer Partizipation in England (PCXPAS), in einem ganz anderen jedoch von Pressefreiheit in Deutschland (ME0*DT) handelt, so darf dieser Titel bei einer Auswertung durch den Computer selbstverständlich dann nicht ausgewiesen werden, wenn das Thema "Pressefreiheit in England" (ME0*AS) lautet - und eben dies wäre ja unvermeidlich, wenn eine inhaltliche Beschreibung nur durch die kumulative Vergabe von Deskriptoren erfolgte, beide Suchbegriffe (MEO & AS) also gemeinsam in der Annotierung vorhanden wären. Ich sah deshalb getrennte Informationsfelder vor, "Junkturen" genannt, die vom Computer fürs Register auch separat ausgewertet werden sollten. Die Hauptschwierigkeit bestand nämlich darin, die Antizipation des Benutzerinteresses in eine für den Benutzer brauchbare Form zu bringen: Wären die Deskriptoren nur als einfache Ein15
16
Eine sehr engagierte Zusammenfassung der Merkmale und Aufgaben eines Registers findet sich, zusammen mit Hinweisen zur Praxis der Registererstellung, bei Horst Kunze: Über das Registermachen, München-Pullach 1964. Zu den Perspektiven der EDV-technischen Verwirklichung hohen Registeranspruchs vgl. Reinhard Härtel: Mehr als ein Anhang. Das computererstellte Register. In: Historische Edition und Computer. [...] Hg. v. Anton Schwöb (u.a.), Graz 1989, S. 67-84. Härtels Beitrag verdanke ich auch den Hinweis auf das angeführte Zitat von Carlyle (S. 67). Grundfreiheiten - Menschenrechte, 1500-1850. Eine internationale Bibliographie. Hg. v. G. Birtsch, bearb. v. M. Trauth und I. Meenken. 4 Bde. & Registerband, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991-1992. Ich habe das Projekt an anderer Stelle ausführlicher vorgestellt: Michael Trauth: Literaturdokumentation und EDV. Rechnergestützte Verwaltung einer annotierten Bibliographie. In: K.H. Kaufhold/J. Schneider (Hg.): Geschichtswissenschaft und elektronische Datenverarbeitung (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 36), Wiesbaden 1988, S. 85-107 & Beilagen. Einen besonderen Hinweis verdient der Umstand, daß der Systemcharakter von TUSTEP die Bewältigung des gesamten Projekts, von der Aufnahme der Dokumente über sämtliche Datenbank-Verwaltungsaufgaben bis hin zur Registererstellung und zum (unter anderen Umständen außerordentlich teuren) Lichtsatz ermöglichte.
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träge in separate Register (systematisches, chronologisches, Personen- und andere Register) aufgenommen worden, so hätte die Suche etwa nach dem Beitrag John Lockes zur Toleranzdebatte in England bedeutet, daß in mehreren Registern geblättert und aus dem Ergebnis die Schnittmenge gebildet werden müßte - eine bei der großen Menge der Dokumente kaum zu bewältigende Zumutung. Die Lösung bestand darin, den Rechner anhand der Deskriptoren in jeder Junktur hierarchische Registereinträge unter verschiedenen Gesichtspunkten selbst bilden zu lassen; hierfür sollte er ganz einfach bestimmte Deskriptorentypen mit anderen zu allen korrekten Verbindungen permutieren. Das Resultat ermöglicht nun eine sehr viel differenziertere Suche unter vielfältig verknüpften Gesichtspunkten, für die ich Beispiele aus dem systematischen, dem chronologischen und dem Personenregister (s. Abb. 13-15) gebe. TUSTEP fand übrigens hierbei sowohl für die Generierung der Registereinträge als auch für die Herstellung des Registers bis hin zu seiner Drucklegung Verwendung. Ich breche an dieser Stelle ab, denn die Reihe der Exempla ließe sich ins uferlose fortsetzen. Das Gezeigte sollte jedoch genügen, um deutlich zu machen, daß die maschinelle Auswertung von Textbestandteilen auf kleinster Ebene mancherlei wichtige Hilfen bietet, daneben auch viele neue und interessante Perspektiven eröffnet. Die Realisierung der Rechner-Unterstützung solcher Arbeitsvorhaben ist unterdessen ganz unproblematisch geworden. Meine Erfahrungen zeigen freilich, daß die hier als eigener Wert propagierte Ansatzvielfalt regelmäßig auf der Strecke bleibt, wenn ein Sammelsurium von Programmen nur deshalb eingesetzt wird, weil diese zufällig über die eine oder andere benötigte Funktion verfugen. Allein der ständige Datenaustausch zwischen solchen Programmen ist ein mühseliges, retardierendes Moment, hinzu kommt, daß mit Konvertierungen nicht selten auch Konsistenz- und Integritätsverluste verbunden sind. Eine Bilanz hat festzuhalten, daß die wissenschaftliche Fruchtbarkeit jeder Arbeit mit dem Computer nur dann gewahrt bleibt, wenn eine Software mit ausgeprägtem Systemcharakter den Verfolg neuer Ideen in möglichst großer spektraler Breite gestattet. Es ist zu wünschen, daß sich der Softwaremarkt in gerade diesem Segment für die am und mit dem Text arbeitenden Geisteswissenschaften noch weiter belebt.
Michael Trauth
136 Datei:
VULGATA
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 1.12 1.13 1.14 1.15 1.16 1.17 1.18 1.19 1.20 1.21 1.22 1.23 1.24 1.25 1.26 1.27 1.28 1.29 1.30 1.31 1.32
Abb. 1
1
in principio creavit Deus caelum et terram terra autera erat inanis et vacua et tenebrae super faciem abyssi et spiritus Dei ferebatur super aquas dixitque Deus fiat lux et facta est lux et vidit Deus lucem quod esset bona et divisit lucem ac tenebras appellavitque lucem diem et tenebras noctem factumque est vespere et mane dies unus dixit quoque Deus fiat firmamentum in medio aquarum et dividat aquas ab aquis et fecit Deus firmamentum divisitque aquas quae erant sub firmamento ab his quae erant super firmamentum et factum est ita vocavitque Deus firmamentum caelum et factum est vespere et mane dies secundus dixit vero Deus congregentur aquae quae sub caelo sunt in locum unum et appareat arida factumque est ita et vocavit Deus aridam terram congregationesque aqüarum appellavit maria et vidit Deus quod esset bonum et ait germinet terra herbam virentem et facientem semen et lignum pomiferum faciens fructum iuxta genus suum cuius semen in semet ipso sit super terram et factum est ita et protulit terra herbam virentem et adferentem semen iuxta genus suum lignumque faciens fructum et habens unumquodque sementem secundum speciem suam et vidit Deus quod esset bonum
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Vom maschinellen Zerhacken der Texte Index
Verborum
zur
Vulgata
1
ab (4) 0.61% 1.11 14 2.28 30 abyssi (1) 0.15% 1.3 ac (4) 0.61% 1.7 35 43 44 a d (4) 0.61% 2.6 10 11 22 adfereiltem (2) 0.30% 1.29 2.18 agri (1) 0.15% 2.33 ait (3) 0.46% 1.24 2.5 13 anima (1) 0.15% 2.22 animae (1) 0.15% 1.48 animam (3) 0.46% 1.51 60 2.40 animantibus (2) 0.30% 2.16 20 annos (1) 0.15% 1.36 antequam (1) 0.15% 2.33 appareat (1) 0.15% 1.20 appellavit (1) 0.15% 1.23 appel1avitque (1) 0.15% 1.8 aquae (3) 0.46% 1.19 48 52 aquarum (2) 0.30% 1.11 23 aquas (4) 0.61% 1.4 11 13 56 aquis (1) 0.15% 1.11 arida (1) 0.15% 1.20 aridam (1) 0.15% 1.22 ascendebat (1) 0.15% 2.37 atque (1) 0.15% 1.51 a u t e m (2) 0.30% 1.2 34 avesque (1) 0.15% 1.57 benedixit (1) 0.15% 2.29 benedixitque (2) 0.30% 1.55 2.13 bestias (2) 0.30% 2.1 3 bestiis (1) 0.15% 2.8 b o n a (2) 0.30% 1.6 2.24 b o n u m (5) 0.76% 1.24 32 45 54 2.5 caeli (9) 1.37% 1.34 37 42 49 2.7 15 21 26 31 caelo (1) 0.15% 1.19 caelum (3) 0.46% 1.1 16 2.32 cessaverat (1) 0.15% 2.30 cete (1) 0.15% 1.50 congregationesque (1) 0.15% 1.23 congregentur (l) 0.15% 1.19 conplevitque (1) 0.15% 2.27 creatae (1) 0.15% 2.31 creavit (5) 0.76% 1.1 2.10 11 12 30 creavitque (1) 0.15% 1.50 crescite (2) 0.30% 1.56 2.14 cuius (1) 0.15% 1.27 cuncta (1) 0.15% 2.24 cunctis (1) 0.15% 2.20 de (1) 0.15% 2.38 dedi (1) 0.15% 2.18 Dei (2) 0.30% 1.4 2.11 Deus (28) 4.25% 1.1 5 6 10 12 16 18 22 24 32 34 39 45 47 50 54 59 2.3 5 10 13 17 24 27 30 32 35 38 dicens (1) 0.15% 1.55 die (3) 0.46% 2.27 28 32 diei (3) 0.46% 1.40 43 2.29
Abb. 2
Index
Verborum
zur
Vulgata
2
d i e m (2) 0.30% 1.8 35 dies (7) 1.06% 1.9 17 33 36 46 58 2.25 dividant (1) 0.15% 1.35 dividat (1) 0.15% 1.11 dividerent (1) 0.15% 1.44 divisit (1) 0.15% 1.7 divisitque (1) 0.15% 1.13 dixit (5) 0.76% 1.10 18 34 47 59 dixitque (2) 0.30% 1.5 2.17 dominamini (1) 0.15% 2.15 Dominus (3) 0.46% 2.32 35 38 duo (1) 0.15% 1.39 e (1) 0.15% 2.37 earn (1) 0.15% 2.14 eas (1) 0.15% 1.42 ecce (1) 0.15% 2.18 eis (1) 0.15% 1.55 eius (1) 0.15% 2.39 enim (1) 0.15% 2.35 eorum (1) 0.15% 2.26 eos (1) 0.15% 2.12 erant (3) 0.46% 1.13 14 2.24 erat (2) 0.30% 1.2 2.36 escam (1) 0.15% 2.20 esset (6) 0.91% 1.6 24 32 45 54 2.5 est (15) 2.28% 1.5 9 15 17 21 28 33 38 46 58 2.2 22 23 25 40 et (87) 13.20% 1.1 2 3 4 5 6 7 8 9 11 12 15 17 20 22 24 25 26 28 29 31 32 33 36 37 38 41 42 43 44 45 46 49 51 53 54 56 58 2.1 3 4 5 6 7 8 10 12 13 14 15 16 19 20 21 22 23 24 25 26 28 " 29 31 32 33 36 39 40 etiam (1) 0.15% 1.47 faceret (1) 0.15% 2.30 faciamus (1) 0.15% 2.6 faciem (2) 0.30% 1.3 2.39 faciens (2) 0.30% 1.26 30 facientem (1) 0.15% 1.25 facta (1) 0.15% 1.5 factum (8) 1.21% 1.15 17 28 38 46 58 2.23 25 factumque (4) 0.61% 1.9 21 33 2.2 factus (1) 0.15% 2.40 fecerat (1) 0.15% 2.27 fecit (4) 0.61% 1.12 2.3 24 32 fecitque (1) 0.15% 1.39 feminam (1) 0.15% 2.12 ferebatur (1) 0.15% 1.4 fiant (1) 0.15% 1.34 fiat (2) 0.30% 1.5 11 firmamento (5) 0.76% 1.13 34 37 42 49 firmamentum (4) 0.61% 1.11 12 14 16 fons (1) 0.15% 2.37
138
Michael Trauth
Programm: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Abb. 3
REGIS1
7
#= In der folgenden Registerroutine REGIS1 wird ein Text #= zunaechst (Programmteil RV) in seine Bestandteile #= (hier: Wortformen) zerlegt u n d mit Sortierschluessel #= u n d Referenz (= Belegstellenangabe) versehen. Danach #= werden die Registereintraege sortiert (SORTIERE) u n d #= schliesslich zu einem Index verborum zusammengefasst. #= #= #DA,REG.1 #RV,VULGATA,REG.1,MO=+, LO=+, PA=* * Nur die ersten 100 Datensaetze verarbeiten: MAX 100 * Mit dem Paramter TR werden in Form einer Liste * alle Zeichen u n d Strings bezeichnet, die im * Text Woerter voneinander trennen koennen. Mit * Hilfe dieser 'Separatoren' werden Registerein* traege e negativo als solche definiert. Ganz * konkret sind hier Spatien u n d die zwischen den * spitzen Klammern stehenden Buchreferenzen ange* geben: TR J |« Φ «Η
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140 Rückläufiger
Michael Trauth Index:
θαλάττης ταύτης τροφής τύχης χηλαΐς γεφύραις νομίσαις ταϊς Νύμφαις εις αίδεσθείς πολλάκις Πόλις οΕς λίθοις όμούοίς σπαργάνοις εύρίποις αίγός Λογος νοτίδος Θείος οίός εικός άρτιτόκος αίπόλος δρυμός διδασκόμενος βουλόμενος συλληφόμενος έπιπλανώμενος ήϊόνος εύδαίμονος ίχνος άγκώνος #άγρός ανδρός καιρός πρός γλαφυρός διάχρυσος γάλακτος κιττός αύτός βρέφος έγγός ώμους διετούς βρέφους ώς ώς πόλεως πεφυλαγμένως ανθρωπίνως πώς λάβρως θηλυ πάνυ ού Λέσβου ΛΟΓΓΟΥ
Abb. 5
ΛΟΓΓΟΣ (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (2) (1) (6) (1) (2) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (2) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (2) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (1) (2) (1) (1) (1) (1) (3) (1) (1) (2) (1) (1) (1)
0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.36% 0 .18% 1.08% 0.18% 0.36% 0.18% 0.18% 0 .18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.36% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0 .18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.36% 0 .18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0.18% 0 .18% 0.36% 0.18% 0.18% 0 .18% 0 .18% 0.54% 0.18% 0.18% 0.36% 0 .18% 0.18% 0.18%
6 1 1 5 2 2 1 1 2 6 4 3 2 1 5 4 4 2 1 3 0 4 6 5 2 5 2 2 6 5 5 2 1 1 2 6 1 1 6 3 4 5 2 2 4 6 2 4 4 3 3 6 1 2 5 3 5 5 4 1 1 0
1 2 2 3 2 1 1 2 1 2 1 1 1 1 2 1 3 1 1 1 3 1 2 3 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 1 2 2 2 1 3 3 2 1 1 1 3 2 1 1 2 2 2 2 2 2 2 3 3 1 1 1
6,1 5,1 5,1
6,1
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141
Vom maschinellen Zerhacken der Texte
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