Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte 9783110926910, 9783484297029

The volume assembles 21 contributions in handbook format on editing practice in connection with largely literary German-

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German Pages 480 Year 2005

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Table of contents :
Vorwort
Brecht-Editionen
Büchner-Editionen
Celan-Editionen
Droste-Editionen
Eichendorff-Editionen
Goethe-Editionen
Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)
Heine-Editionen
Herder-Editionen
Heym-Editionen
Hölderlin-Editionen
Kafka-Editionen
Kleist-Editionen
Klopstock-Editionen. Annäherungen an einen Autor
Lessing-Editionen
Marx-Engels-Editionen
Meyer-Editionen
Schiller-Editionen
Stifter-Editionen
Trakl-Editionen
Elektronische Edition
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Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte
 9783110926910, 9783484297029

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Bausteine zur Geschichte der Edition Herausgegeben von Rüdiger Nutt-Kofoth und B o d o Plachta

Band 2

Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte Herausgegeben von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche

Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de ISBN 3 - 4 8 4 - 2 9 7 0 2 - 6

Nationalbibliografie;

abrufbar.

ISSN 1860-1820

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2 0 0 5 Ein Unternehmen der K.G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. )ede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Rüdiger Nutt-Kofoth, Münster Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Buchbinder: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

Vorwort

VII

Erdmut Wizisla: Brecht-Editionen

1

Klaus Kanzog: Büchner-Editionen

13

Gunter Martens: Celan-Editionen

29

Bernd Kortländer: Droste-Editionen

55

Harry Fröhlich: Eichendorff-Editionen

77

Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen

95

Ferdinand van Ingen: Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)

117

Bodo Plachta: Heine-Editionen

141

Günter Arnold: Herder-Editionen

163

Gabriele Radecke: Heym-Editionen

179

Dierk O. Hoffmann, Harald Zils: Hölderlin-Editionen

199

Annette Steinich: Kafka-Editionen

247

Bernd Hamacher: Kleist-Editionen

263

Klaus Hurlebusch: Klopstock-Editionen. Annäherungen an einen Autor

285

Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen

315

Richard Sperl: Marx-Engels-Editionen

329

VI

Inhalt

Rüdiger Nutt-Kofoth: Meyer-Editionen

361

Bodo Plachta: Schiller-Editionen

389

Jens Stüben: Stifter-Editionen

403

Eberhard Sauermann: Trakl-Editionen

433

Fotis Jannidis: Elektronische Edition

457

Vorwort

Untersuchungen zur Entwicklung der neugermanistischen Edition waren bisher hauptsächlich an den Verfahren der Textkonstitution und der Darstellung der Varianten bzw. der Textgenese interessiert. Insofern richtete sich ihr Blick auf jene theoretischen und praktischen Schritte in der Editionsphilologie, die sich in der Vorstellung neuer Modelle oder der Diskussion bestimmter Verfahrensweisen manifestierten. Insbesondere aber waren es die je innovativen großen (historisch-)kritischen Ausgaben, in denen die editionstheoretischen Überlegungen ihre praktische Umsetzung erfuhren und die dadurch zu Leitpunkten für eine historische Rekapitulation wurden. Ohne Zweifel sind diese Editionen, insbesondere diejenigen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gewissermaßen die Leuchttürme in der Geschichte der neugermanistischen Editionsphilologie. Dennoch sind sie zugleich nur die Spitze des Eisbergs, nämlich die herausragenden Ergebnisse aus einer Fülle vielfältiger Editionen und mannigfaltiger Editionstätigkeit. Insofern mag es berechtigt erscheinen, nun den historischen Blick auch anders zu gewichten, um zugleich auch ein Stück weit die Breite und Tiefe dieser immensen editorischen Leistung für den weiteren Umgang mit den Texten zu vergegenwärtigen. Der vorliegende Band möchte darauf aufmerksam machen, daß die editionsmethodisch herausragenden Ausgaben der Germanistik im Regelfall nicht zuallererst aus einem allgemeinen oder abstrakt-theoretischen Interesse herrühren, sondern ganz praktisch auf den editorischen Zustand der jeweiligen Autorphilologie reagierten (wobei die zeitgeschichtlichen und wissenschaftspolitischen Kontexte natürlich nicht ohne Einfluß blieben). Wie also die Editionslage eines bestimmten Autors zu einem bestimmten Zeitpunkt aussah, darf als die Hauptantriebsfeder für das Bemühen um eine neue Ausgabe angesehen werden. Aus dem je zeitgenössischen Unbehagen, dem empfundenen Mangel der vorhandenen Ausgaben eines Autors dort, wo kaum wissenschaftlich reflektierte editorische Arbeit geleistet worden war oder die fachliche Entwicklung frühere Ausgaben nun als ungenügend auswies, entstand zuvorderst das Bemühen um Editionen, die dem aktuellen editorischen Stand entsprachen. Somit erweist sich die Ausgabenlandschaft zu einem bestimmten Autor als der historische Ausgangspunkt für neue Editionen. Zugleich reflektierten die anspruchsvollen neuen Editionen die zeitgenössische editionstheoretische und methodische Entwicklung, manchmal auch vor literaturwissenschaftlichem Hintergrund.

VIII

Vorwort

Aus diesem Grund möchte der vorliegende Band die Ausgabenlandschaft zu einzelnen Autoren in den Vordergrund rücken und in historischen Längsschnitten die wichtigsten editorischen Entwicklungen und die herausragenden Ausgaben vorstellen. Insofern läßt sich jeder Beitrag als ein handbuchartiger Abriß zur Ausgabengeschichte eines Autors verstehen, der den wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund im engeren und weiteren Sinne reflektiert. Gleichzeitig machen die einzelnen Beiträge aber auf die jeweiligen Verbindungen bestimmter Ausgabenkonzeptionen zu den zeitgenössischen editionsmethodischen Entwicklungen der Neugermanistik aufmerksam. Insofern versuchen die Beiträge, die Perspektive der Autorphilologie an solchen Stellen zu erweitern und den Horizont der allgemeinen editorischen Diskussion miteinzubringen. Deutlich soll damit werden, daß sich die historischen Entwicklungen weder beschränkt auf die Autorphilologie noch isoliert von dieser sachgerecht beschreiben lassen. Der Ansatz dieses Bandes, die Autorphilologie zum Ausgangspunkt zu nehmen, bedingt zwar, daß deren Zustand und Genese im Mittelpunkt des jeweiligen Beitrags steht, doch soll nicht nur durch die beitragsinternen Verknüpfungen mit der Fachdiskussion der Horizont erweitert werden. Auch die Gesamtheit der vorgelegten Beiträge mag diesem Anliegen dienen. So sei der Leser nachdrücklich dazu eingeladen, nicht nur aus dem Interesse für die Editionslage zu einem bestimmten Autor den zugehörigen Beitrag herauszugreifen, sondern gerade durch die Lektüre weiterer Beiträge des Bandes die editorischen Lösungen für bestimmte Überlieferungslagen bei anderen Autoren vergleichend heranzuziehen und somit zugleich die Breite des editorischen Feldes wahrzunehmen. Zugleich ergänzt der Fokus auf die Autorenphilologie in diesem zweiten Band der Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition deren ersten Band (Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition, Tübingen 2005), in welchem die Entwicklung von Editionstheorie und -praxis aus autordiachroner, fachhistorischer Perspektive dokumentiert wurde. So können die ersten beiden Bände der BausteineReihe durchaus den Eindruck verfestigen, daß durch die theoretischen Diskussionen und die Ausgabenpraxis, aber auch das Bemühen um die Entwicklung von Standards eine kompakte wissenschaftliche Leistung vorliegt, aufgrund deren sich die Editionsphilologie zu Recht einen legitimen Ort im ,Kernbereich' der Literaturwissenschaft erarbeitet hat. Zugleich läßt sich feststellen, daß trotz der verschiedensten editorischen Positionen die fachliche Diversifikation im Sinne eines ,anything goes' geringer als befurchtet ist. Der Band versammelt insgesamt 21 Beiträge, davon 18 zu Autoren der neueren deutschen Literatur. Exemplarisch wurde zumindest zweimal diese Beschränkung aufgebrochen, um Anknüpfungsmöglichkeiten und Übergänge zu anderen Bereichen anzudeuten. Das betrifft zum einen den einzigen Autor aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert, der Eingang gefunden hat, nämlich Grimmelshausen am Beispiel des Simplicissimus. Die Editionsverfahren für Autoren der Frühen Neuzeit und erst recht des Mittelalters sind durch die je andere Überlieferungslage zu verschieden von den Problemen und Aufgaben der Edition von Texten seit dem 18. Jahrhundert. Jenen müßte eine eigene Untersuchung vorbehalten bleiben. Doch sollte wenigstens ein Ausblick

Vorwort

IX

auf diese differenten Voraussetzungen die Problematik aufzeigen. Gleichfalls ist mit dem Beitrag zu den Marx-Engels-Editionen der literarische Rahmen in Richtung Philosophie und Soziologie aufgebrochen, und dies ganz bewußt in Hinblick auf die jüngeren Entwicklungen der Marx-Engels-Edition, die intensiv die neugermanistische Editionsdiskussion reflektiert haben. Insofern zeigt dieses Beispiel, daß editorische Verfahren nicht an der Fachgrenze enden, sondern der interdisziplinäre Blick wechselseitig bereichernd sein kann. Als einziger nicht autorbezogener Beitrag ist ein Überblick über die Geschichte der elektronischen Edition aufgenommen, weil sich hier in den letzten zwei Jahrzehnten geprägt durch die technische Entwicklung - ein rasanter Innovationsschub ereignet hat, an dem keine neue kritische Edition mehr vorbeisehen kann. Daher schien es angebracht, diesen Aspekt aus einer autordiachronen Perspektive mit in den Band einzuschließen. Die übrigen 18 Beiträge thematisieren das Bandanliegen für deutschsprachige literarische Autoren seit dem 18. Jahrhundert. Ausgewählt wurden dabei insbesondere solche Autoren, zu denen zumindest eine Edition erarbeitet worden ist, die in der neugermanistischen Editionsphilologie nachhaltig Bedeutung erlangt hat. In manchen Fällen war die Auswahl nicht leicht, insbesondere dann, wenn letztlich auf eine Aufnahme verzichtet wurde, weil die editorischen Sachverhältnisse in Hinblick auf einen Autor nicht aussagekräftig genug erschienen. In solchen Fällen darf noch auf das Handbuch der Editionen verwiesen werden.1 Sicherlich ließen sich mit guten Gründen z.B. Beiträge zu Arnim-, Bachmann-, Barlach-, Brentano-, Grillparzer-, Gotthelf-, Hofmannsthal-, Jean Paul-, Keller-, Mörike-, Musil-, Nietzsche-, Nestroy-, Novalis-, Storm- oder Wieland-Editionen einklagen. Auch darf nicht vergessen werden, daß die Ausgabenlandschaft auch solcher Autoren, denen bisher keine (historisch-)kritische Ausgabe gewidmet wurde, aufgrund einer Vielzahl guter Studienausgaben eine nähere Betrachtung verdienen würde. Zugleich ließen sich speziellere Blicke auf selbständige Briefeditionen werfen, wie etwa bei den Ausgaben zu den Brüdern Grimm, Therese Huber, Jacobi oder Lichtenberg, aber auch auf die Edition anderer biographischer Dokumente, wie z.B. der Kessler-Tagebücher. Doch verbot der anvisierte Umfang des Bandes schon von vornherein eine auch nur einigermaßen erschöpfende Auswahl aus dem Möglichen. Insofern möchte der vorliegende Band durch die Darstellung der Ausgabenentwicklungen bei bestimmten Autoren keineswegs Wertigkeiten gegenüber der Relevanz von Editionen zu nicht aufgenommenen Autoren implizieren. Zu deren Darstellung könnten statt dessen jedoch weitere Bände der Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition dienen. Die Beiträge erarbeiten ihr Thema im Regelfall in der Abfolge der Ausgabengeschichten. Doch blieb den Verfassern im Einzelfall die Freiheit, das Thema aufgrund

Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Waltraud Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin/DDR (auch: München) 1979.

χ

Vorwort

der sachlichen Gegebenheiten in anderen Schnitten aufzureißen. Das Literaturverzeichnis am Ende eines Beitrags nennt bestimmte grundlegende Ausgaben und Forschungsliteratur, doch blieb es den Verfassern aufgrund der Sachlage möglich, auch ausfuhrlicher Literatur zu benennen und zu den einzelnen Ausgaben - insbesondere wenn deren Zahl nicht zu hoch ist - genauere bibliographische Informationen zu geben. Insofern können die einzelnen Beiträge mit ihren durch die Überlieferungslage zu einem Autor, aber auch die editorische Position des Verfassers bedingten je individuellen Perspektiven als weitere Bausteine zu einer Geschichte der Edition dienen. Die Herausgeber haben den Verfassern der Beiträge sehr zu danken, daß der Band in dieser Form möglich wurde und damit auch als Ganzes einen Baustein zu jener größeren Geschichte bilden mag. Amsterdam, Hamburg und Münster im April 2005 Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta

Erdmut Wizisla

Brecht-Editionen

1.

Überblick

Brecht ist eine Herausforderung für Philologen. Bereits 1930 hat Walter Benjamin für die Arbeit des Autors und Regisseurs den Begriff „Laboratorium Vielseitigkeit" geprägt.1 Brechts Arbeitsweise und die daraus resultierende Überlieferung verlangen höchst komplexe editionswissenschaftliche Lösungen. Sie zu finden ist die Voraussetzung dafür, daß Brechts international beachtete Arbeit heute und in Zukunft adäquat rezipiert werden kann. Von Einzelausgaben abgesehen, entsprechen die BrechtEditionen bislang allerdings nicht dem, was zum Zeitpunkt ihrer Erarbeitung in der Editionsphilologie möglich war. Es gibt zudem kaum Vermittlungen: Die BrechtForschung ist in der Regel unphilologisch, und die Editionswissenschaft scheint weitgehend das Interesse an Brecht verloren zu haben. Die enormen Möglichkeiten einer Brecht-Edition gehen auf das Interesse des Autors an einem ,Archiv zu Lebzeiten' zurück. Überzeugt davon, daß der Entstehungsprozeß literarischer Werke Aufmerksamkeit verdient, sammelte Brecht auch Textentwürfe, Fassungen, Arbeitsnotizen und Quellen, die er über die Exiljahre bewahrte, vermehrte und mit Hilfe der von Ruth Berlau angefertigten Fotoreproduktionen dokumentierte und sicherte. Das Material war so umfangreich, weil Brecht wesentliche Teile seiner Arbeit auf dem Papier leistete: Arbeitsstufen wurden zerschnitten und neu zusammengesetzt, dann abgeschrieben, erneut bearbeitet, zerschnitten und zusammengesetzt - Brecht bezeichnete sich als „Meister der Klebeologie". Im Ergebnis entstanden diffizile - und heute im übrigen: fragile - Montagen.2 Zahlreiche Manuskripte tragen die Zeichen kollektiver Produktion, das heißt sie weisen neben Brechts Handschrift resp. seiner Art, Typoskripte herzustellen, Spuren anderer am Schreib- und Redaktionsprozeß Beteiligter auf. In gleichem Maße hängen die Probleme, mit denen jede Ausgabe seiner Werke zu tun hat, mit editionsbezogenen Entscheidungen Brechts zusammen. Die vom Autor veranlaßten oder zumindest begonnenen Werkeditionen - die Folge der Versuche (Literaturverzeichnis, Nr. 1), die 1938 im Malik-Verlag erschienene Ausgabe der Gesam-

2

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhausen Bd. 11,3. Frankfurt/Main 1977, S. 1455. Vgl. Bunge 1958, S. 25.

2

Erdmut Wizisla

melten Werke (Nr. 2) und die 1953 bei Suhrkamp und 1955 bei Aufbau begonnenen Ausgaben der Stücke, aus denen postum 40- resp. 39bändige Gesamtausgaben erwuchsen (Nr. 3 und 4) - sind, vor allem hinsichtlich Gliederung, Wahl der Textgrundlage und Kommentar, Hypotheken für jede Neuedition. Ausfuhrlicher sollen im folgenden die auf den Gesamtausgaben bei Suhrkamp und Aufbau (Nr. 3 und 4) fußende 20bändige werkausgabe edition suhrkamp von 1967 (Gesammelte Werke - Nr. 5) und die zwischen 1988 und 2000 erschienene Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe {Werke - Nr. 6) beschrieben werden. Ein dritter Abschnitt widmet sich schließlich zusammenfassend den Beziehungen zwischen Brecht-Edition und Editionswissenschaft, wobei Perspektiven einer künftigen Brecht-Edition angesprochen werden.

2.

Ausgaben

2.1.

Die werkausgabe edition suhrkamp (1967)

Die werkausgabe von 1967 entstand, weil der Suhrkamp Verlag auf dem Höhepunkt der Brecht-Rezeption aus Anlaß des 80. Geburtstages eine umfassende Ausgabe vorlegen wollte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Gesamtausgaben bei Suhrkamp und Aufbau noch nicht abgeschlossen. Diese wiederum waren hervorgegangen aus Brechts Interesse, mit einer repräsentativen Auswahl seiner Stücke auf dem Markt zu sein - in handlichem Format, mit Pappeinband, großer Type, damit eine voluminöse Ausgabe daraus werden könne.3 Brecht hatte die Redaktion seiner Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann übertragen, die Stücke zum Zwecke des Neudrucks jedoch bearbeitet oder zumindest durchgesehen und auch selbst die Grundsätze der Edition festgelegt. Konzept und Methodologie der Edition entstanden ohne Auseinandersetzung mit explizit editionswissenschaftlichen Erwägungen. Elisabeth Hauptmann war als Editorin Autodidaktin, auch wenn sie Brechts Texte seit den Versuchen bei Kiepenheuer betreute. Brecht hatte stets die strategische Wirkung einer Edition im Auge. Es ging ihm um den Ausweis seiner Arbeit: Das Erscheinen der Malik-Ausgabe hatte er 1938 beispielsweise als „einen immensen Geländegewinn" gewertet.4 Er komponierte Ausgaben als Künstler: Entscheidend waren ihm formal-inhaltliche Werkbezüge innerhalb der Bände, Einheitlichkeit in Umfang sowie Ausstattungs- und Layoutfragen (Umschlag, Einband, Satzbild, Formatierungen).5 Dabei stand ihm sein ausgeprägter Sinn für solide gearbeitete und ausgestattete Klassiker-Editionen Pate; der Pappeinband der StückeAusgabe bei Suhrkamp sollte alten englischen Klassikerausgaben ähnlich sein, erinnerte sich Siegfried Unseld.6 Die Textgrundlage fur die 5/wc^e-Bände bildeten in der

3 4 5

6

Vgl. Unseld 1964, S. 254. Bertolt Brecht an Wieland Herzfelde, 31. Mai 1938, G B A 29, S. 96. Vgl. die Erwägungen über die Zusammenstellung der Stücke-Bande der Gesammelten Ausgabe): Bertolt Brecht an Wieland Herzfelde, 24. August 1937, G B A 29, S. 44. Vgl. Unseld 1964, S. 254.

Werke (Malik-

3

Brecht-Editionen

Regel Fassungen letzter Hand, ohne daß Abweichungen vom Erstdruck oder auch nur dessen bibliographische Angaben nachgewiesen wurden. Das stand im Widerspruch zu Brechts historischem Bewußtsein. 7 Die Kommentare beschränkten sich auf Entstehungsdaten und den Wiederabdruck von Anmerkungen des Autors zu seinen Stücken. Nach Brechts Tod wurde aus der vom Autor veranlaßten und überwachten Ausgabe eine Edition, für die der Verlag und Elisabeth Hauptmann, also eine vom Autor und dessen Erben beauftragte Editorin, die zuvor Mitarbeiterin des Autors war, als Herausgeber zeichneten. 8 Erben und Verlag nahmen Brechts Wunsch auf, die anderen Gattungen anzugliedern. 9 Damit wurde die ÄücAe-Ausgabe nachträglich zu einer Abteilung der Gesamtausgabe. Die quellenmäßigen Voraussetzungen waren insgesamt günstig: Aufbereitung und Edition waren in enger Fühlung durch Elisabeth Hauptmann, die den Nachlaß auf Wunsch Brechts gemeinsam mit Helene Weigel verwaltete - zumindest in den ersten Jahren und zumindest offiziell. 1 0 Die Kriterien der Edition wurden beibehalten: chronologische Abfolge innerhalb einer Gattung, teilweise aufgrund neuen Materials zur Entstehung im Vergleich zur Ausgabe der Stücke revidiert; Prinzip letzter Hand für die Textgrundlage, wobei die umfangreicheren Buchfassungen den Bühnenfassungen vorgezogen wurden; Reduzierung der Kommentare auf Entstehungsdaten und wenige Zusatzinformationen. 11 Für die Ausgabe der Gedichte

konnten

noch Prinzipien und Anweisungen Brechts für Gliederung und Textgestalt berücksichtigt werden. 1 2 Ein Manko der werkausgabe liegt darin, daß Elisabeth Hauptmann, deren Verdienste für die Brecht-Edition nicht hoch genug geschätzt werden können,

7

8

9

10 11 12

Vgl. Brechts Vorwort Bei Durchsicht meiner ersten Stücke (GBA 23, S. 240): „Nur die Überlegung, daß die Literatur der Geschichte angehört und diese nicht gefälscht werden darf, sowie das Gefühl, daß meine jetzigen Ansichten und Fähigkeiten weniger wert wären ohne die Kenntnis meiner früheren - vorausgesetzt, da hat eine Besserung stattgefunden - hinderten mich, den kleinen Scheiterhaufen zu errichten." - Die Leser der Aufbau-Ausgabe erführen aus diesem, im Frühjahr 1953 verfaßten Vorwort (vgl. Brecht, Stücke 1955-1968, Literaturverzeichnis, Nr. 4, Bd. 1, S. 5-15), daß es unterschiedliche Fassungen gab und wo Brecht die erste Fassung wieder hergestellt hatte - Informationen, die den Lesern der SuhrkampAusgabe, für die das Vorwort geschrieben war, vorenthalten blieben, weil Peter Suhrkamp den Druck des Textes abgelehnt hatte (vgl. GBA 23, S. 540). Um diesen Zusammenhang zu kaschieren, datierte Siegfried Unseld das Vorwort später auf März 1954 und gab vor, es sei erst für die Aufbau-Ausgabe geschrieben worden (vgl. Unseld 1964, S. 254). Der Eintrag im Impressum lautete: „Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann". Vgl. Bertolt Brecht an Peter Suhrkamp, Ende November 1953: „Lieber Suhrkamp, die .Ersten Stücke' sind sehr schön geworden. So schön, daß ich mir sehr wünschte, wir könnten die Reihe schnell fortsetzen - nicht nur weil bei uns die Bedeutung eines Schriftstellers mit dem Zentimetermaß gemessen wird. Warum eigentlich nicht - anstatt der , Versuche' 1-8 - einfach die Dramen daraus drucken? Mit einem theoretischen Band dazu? Und dazu die Gedichte?" (GBA 30, S. 221). Auf einen Band der Gedichte im Format der Ersten Stücke kam Brecht im Februar 1956 noch einmal zu sprechen (vgl. Bertolt Brecht an Peter Suhrkamp, 9. Februar 1956, GBA 30, S. 427). - Elisabeth Hauptmann berichtete: „Brecht hat sich bis zuletzt mit der Vorbereitung der .Gedichte' beschäftigt, die sich unmittelbar an die .Stücke' anschließen sollten. Manuskriptmappen mit Gedichten, an denen er während seiner letzten Krankheit gearbeitet hatte, mit weiteren Korrekturen und Vorschlägen, lagen auf seinen Arbeitstischen" (Zur Ausgabe der „Gedichte". In: Brecht, Gedichte 1960-1976, Literaturverzeichnis, Nr. 3, Bd. 1, S. 205f.). Vgl. Bunge 1958, S. 23. Vgl. Anmerkungen zu den Bänden 1-7. In: Brecht 1967 (Literaturverzeichnis, Nr. 5), Bd. 1, S. l*f. Vgl. Zur Ausgabe der „Gedichte". In: Brecht, Gedichte 1960-1976, Literaturverzeichnis, Nr. 3, Bd. 1, S. 205 f.

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Erdmut Wizisla

den Texten häufig als Bearbeiterin gegenübertrat, wo sie Editorin hätte sein sollen. Das belegen schon die zahlreichen Gedichttitel, die nicht von Brecht stammen, sondern auf sie zurückgehen. Die werkausgabe von 1967 bündelte die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Ergebnisse der in den Gesamtausgaben entstandenen Editionen der Stücke, Gedichte, Prosa und Schriften. Sie führte die Abteilungen zusammen und griff sowohl auf die vorliegenden Bände der Gesamtausgaben zurück als auch auf noch nicht bearbeitete voraus. Editorisch verfuhr man wie gehabt: pragmatisch und ohne sich intensiv mit editionstheoretischen Problemen zu befassen. Vorgriffe auf Nachlaßeditionen, der Wechsel von Bearbeitern und nicht zuletzt die Tatsache, daß Archiv und Hauptbearbeiter im Osten, Verlag und andere Bearbeiter im Westen waren, brachten zudem Abweichungen von den Grundsätzen mit sich. Doch das ist nicht der einzige Grund dafür, daß die werkausgabe unter editionswissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht zu bestehen vermag. Brechts Werk erscheint unhistorisch, das heißt zum einen ohne seinen Kontext von Quellen, Entstehungsumständen, Erstdruck oder Aufführungspraxis. Zum anderen wurden die Texte ohne die Aufnahme oder Dokumentation früherer Fassungen um ihr dynamisches Element gebracht, was den Blick auf Brechts Arbeitsweise verstellte. Das starre Werk- und Autorverständnis der Edition - symbolisiert in der Fixierung auf das Prinzip letzter Hand - stand Brechts Selbstverständnis und Praxis diametral entgegen. Dabei gab sich die werkausgabe nüchtern und frei von Interpretationen. Scheinbar fern lag die Gefahr, der Editor könne, wie Friedrich Beißner, der Herausgeber der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, ihn charakterisierte, zum „mitdichtenden Deuter des zur Vollendung sich wandelnden Textes" werden.13 Tatsächlich enthält die Ausgabe jedoch interpretatorische Anteile in hohem Maße. Und die für Beißner fraglos notwendige Dokumentation des Entstehungsprozesses kam bei Brecht nicht vor. Am Werk waren nicht Philologen, sondern Mitarbeiter und Kenner Brechts, denen im Bestreben, den Autorwillen durchzusetzen, Inhalte wesentlicher waren als die getreue Dokumentation von Texten und Umständen ihrer Entstehung.14 Auf der anderen Seite machte die werkausgabe erstmals den Umfang und die Komplexität von Brechts Texten einem großen Leserkreis zugänglich. Sie wurde zu einem Meilenstein für die Rezeption des Dichters in der Bundesrepublik. Dabei lieferte sie für die Editionswissenschaft allenfalls ein warnendes Beispiel - eine Paradoxie, die paradigmatisch für die Kluft zwischen wissenschaftlicher Editionspraxis und Verlagspolitik gegen Ende der 1960er Jahre ist. Mit der Brecht-Ausgabe setzte sich der Typus der werkausgabe edition suhrkamp durch, den der Verlag 1964 fur Marcel Proust entwickelt hatte: Lese- oder Studienausgaben im Taschenbuchformat mit farbiger Leinenkaschur, verhältnismäßig unaufwendig in Erarbeitung und Herstellung. Die Werkausgaben von Proust und Brecht waren so erfolgreich, daß ihnen weitere folgten: Hesse 13 14

Beißner 1964, S. 74; vgl. auch Plachta 1997, S. 36. Vgl. Wizisla 2000, S. 4 0 9 f .

Brecht-Editionen

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(1970), Horväth (1972), Beckett (1976), Frisch (1976), Bloch (1977), Robert Walser (1978), Benjamin (1980) und Majakowski (1980). 15 Exkurs: Planung einer historisch-kritischen Brecht-Ausgabe

Die Möglichkeit, Brechts Werk mit den avanciertesten philologischen Methoden aufzubereiten, war theoretisch von Anfang an gegeben: An den Planungen für eine historisch-kritische Ausgabe wirkten seit Ende 1957 erfahrene Philologen mit: Friedrich Beißner, Ernst Grumach, der Herausgeber der Akademie-Ausgabe Goethes, dessen Analyse der Weimarer Ausgabe in der Goethe-Philologie wie eine „Art Erdbeben" gewirkt hatte, ferner Klaus Baumgärtner, der ebenfalls an der Vorbereitung der Goethe-Ausgabe der Akademie der Wissenschaften mitarbeitete, der Finno-Ugrist und Volkskundler Wolfgang Steinitz, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften, sowie der Sprachwissenschaftler Theodor Frings, Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. 16 Hans Bunge, Gerhard Seidel und Benno Slupianek entwickelten Editionsmodelle auf der Grundlage der aktuellen Wissenschaftsdiskussion. In den Beratungen über eine historisch-kritische Ausgabe diskutierte man die Grundfragen der Editionsphilologie: Gliederung, Textkonstitution, Textgenese, Arbeitsprozeß, Kollektivität der Produktion, Varianten, Apparat. 17 Im einzelnen ging man sogar weiter als die Herausgeber in Bearbeitung befindlicher Editionen. Das ist beispielsweise ersichtlich aus dem Protokoll der 3. Beratung für eine Historisch-Kritische Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts am 10. und 11. April 1959, an der auch Helene Weigel und Siegfried Unseld teilnahmen: Während Beißner, getreu seinem Verfahren, das „ideale Wachstum" eines Textes darzustellen, 18 den „dichterischen Prozeß" rekonstruieren und anschaulich machen wollte, plädierten Baumgärtner und Bunge für die „Darstellung des Arbeitsprozesses". 19 Deutlich war, daß eine historisch-kritische Brecht-Ausgabe „nicht einfach die Form anderer philologischer Arbeiten kopieren" kann, wie Hans Bunge warnte, sondern daß eine Form zu finden ist, „mit der Brechts textliche Varianten als Prinzip des Änderns, des Ändern-Könnens und des Ändem-Wollens demonstriert werden". 20 Nichts davon wurde jedoch realisiert. 1963 beschränkte Helene Weigel die Vorarbeiten zur historisch-kritischen Ausgabe auf die Beendigung von archivwissenschaftlichen Tätigkeiten wie die Systematisierung von Werkkomplexen und Briefen, die Erstellung einer Editionskartei und einer Bibliographie sowie die Drucklegung eines Findbuches. Damit seien „die entscheidenden Schritte getan, um einer Verfälschung der Arbeiten Brechts vorzubeugen". Den Institutionen, die maßgebliches Engagement 15 16

17 18 19 20

Dank an Wolfgang Jeske, Suhrkamp Verlag, für die Auskunft über die werkausgaben edition suhrkamp. Vgl. Günther Müller: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26, 1952, S. 378; vgl. auch Seidel 1977, S. 14. Vgl. Protokoll [1959], Beißner 1964, S. 81; vgl. auch Plachta 1997, S. 35. Vgl. Protokoll [1959], S. 5 5 - 5 7 . Bunge 1958, S. 29.

Erdmut Wizisla

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gezeigt hatten - die Akademie der Wissenschaften und die Akademie der Künste schlug sie vor, „dem nächsten Jahrhundert die Einschätzung der Bedeutung Brechts durch die Historisch-Kritische Ausgabe zu überlassen".21 Im gleichen Sinne erklärte der Verleger 1964, der Ruf nach einer historisch-kritischen Ausgabe sei zu früh erfolgt.22 Die Würfel waren jedoch schon vorher gefallen: Es war kaum Zufall, daß Elisabeth Hauptmann und Werner Hecht, der später die Schriften edierte, nicht an diesen Beratungen teilnahmen. Nach dem Abbruch der Arbeiten wurden die Protagonisten der „Arbeitsgruppe Historisch-Kritische Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts" nicht zu weiteren Editionsprojekten herangezogen. Das führte unter anderem dazu, daß die editionswissenschaftlichen Vorschläge von Gerhard Seidel, deren Reflexionsstand in der Brecht-Edition bislang unerreicht ist, nie eine Prüfung durch Praxis erfuhren. 23 2.2.

Die Berliner und Frankfurter Ausgabe (1988-2000)

In Ergänzung der werkausgabe von 1967 erschien in den folgenden Jahren eine Reihe textkritischer kommentierter Editionen von Einzeltexten, deren Bearbeiter den Stand der editionswissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis genommen hatten und auf jeweils ein Stück Brechts anwendeten.24 Die Editionen belegten, daß die vorliegenden Gesamtausgaben der komplexen Überlieferung im Bertolt-Brecht-Archiv nicht gerecht geworden waren. Mehr und mehr wurden Fassungen und Nachträge in unterschiedlichen Bänden publiziert. Der verbesserten Zugänglichkeit einzelner Texte entsprach jedoch die wachsende Unübersichtlichkeit in der Brecht-Edition insgesamt. Die Berliner und Frankfurter Ausgabe trat an, die Mißstände aus dem Weg zu räumen. Das gesamtdeutsche Unternehmen war, als es 1985 vereinbart wurde, kulturpolitisch ein Novum, auch wenn die Ost/West-Teilung für die Erarbeitung von mehr als einem Drittel der Bände ein Hindernis darstellte. Mit dem Abschluß des Bestandsverzeichnisses für das Bertolt-Brecht-Archiv 1973 hatte sich die Zugänglichkeit der Quellen verbessert.25 Im Zuge des Ausbaus der Sammlung des Archivs waren seit dem

21

22 23 24

25

Helene Weigel an die Deutsche Akademie der Wissenschaften und die Deutsche Akademie der Künste, 27. August 1963, Akademie der Künste, Berlin, Archiv der AdK der DDR, Z A A 338/1. - Dank an Petra Uhlmann für den Hinweis auf dieses Dokument. Vgl. Unseld 1964, S. 254. Vgl. u.a. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten von Gerhard Seidel. Vgl. u.a. Bertolt Brecht: Baal. Drei Fassungen. Kritisch ediert und kommentiert von Dieter Schmidt. Frankfurt/Main 1966 (edition suhrkamp. 170); Bertolt Brecht. Der Jasager und Neinsager. Vorlagen, Fassungen, Materialien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Szondi. Frankfurt/Main 1966 (edition suhrkamp. 171); Bertolt Brecht: Im Dickicht der Städte. Erstfassung und Materialien. Ediert und kommentiert von Gisela E. Bahr. Frankfurt/Main 1968 (edition suhrkamp. 246); Bertolt Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Bühnenfassung, Fragmente, Varianten. Kritisch ediert von Gisela E. Bahr. Frankfurt/Main 1971 (edition suhrkamp. 427); Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt/Main 1972 (edition suhrkamp. 415); Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Jan Esper Olsson. Frankfurt/Main 1981. Vgl. Ramthun 1969-1973. Hier nicht zu diskutieren ist die werk- oder jedenfalls textfixierte Anlage des Bestandsverzeichnisses. Dokumente wie Rechnungen galten zum Zeitpunkt der Erarbeitung als nicht verzeichnungswürdig. Sowohl im Bestandsverzeichnis als auch im Brieffindbuch fehlt eine Reihe von

Brecht-Editionen

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Abschluß der Arbeiten an der werkausgabe etliche Dokumente zum Bestand hinzugekommen. Die Berliner und Frankfurter Ausgabe markiert eine Zäsur in der BrechtEdition: Sie bündelte das verstreut edierte Werk in einer bis dato unerreichten Vollständigkeit. Dabei griff man grundsätzlich auf Manuskripte, Typoskripte resp. Erstdrucke zurück, korrigierte editorische Fehlentscheidungen früherer Ausgaben und gab den edierten Texten einen Apparat bei, der grundlegende Informationen zu Entstehung, Überlieferung (Varianten) und Rezeption der Texte enthält. Zahllose Texte sind Erstdrucke oder waren zuvor nie in einer Gesamtausgabe publiziert worden. Die Ausgabe entspricht - auch nach der Selbsteinschätzung im Editionsbericht dem Typ einer „Lese- und Studienausgabe". 26 Textgrundlage sind „die autorisierten und wirksam gewordenen Erstdrucke" resp. „bei postum erschienenen Werken [...] Texte aus dem Nachlaß". Man dokumentierte „gegebenenfalls durch Varianten und Drucke mehrerer Fassungen Hauptstufen der weiteren Umformung des Werkes". 27 Im Editionsbericht heißt es zur Wahl der Textgrundlage: „Die Texte wurden nach dem Prinzip der .Fassung früher Hand' ediert und textkritisch an allen vorliegenden Überlieferungen überprüft" (S. 805). Bei dieser Entscheidung bezog man sich auf die „Editionswissenschaft der letzten beiden Jahrzehnte", die dieses Prinzip „weitgehend durchgesetzt" habe. Außerdem entspreche es „der Arbeitsweise Brechts und dem Charakter seiner Werke" (S. 806). Da ein „rigoros gehandhabtes Prinzip" den Verzicht auf „nach dem Willen des Dichters letztgültige Fassungen" zur Folge habe, suchte man den Widerspruch durch den Druck resp. Nachweis von Varianten aufzulösen, um die verschiedenen Arbeitsstufen dokumentieren zu können (S. 807). Auf Arbeiten aus dem Nachlaß wurde das Prinzip Fassung früher Hand hingegen nicht angewendet; hier galt, „daß nur die letzte Bearbeitungsstufe eines Textes als bedingt gültig angesehen werden kann" (S. 808). Insgesamt wurde eine „Historisierung" angestrebt, in deren Folge sich der Text als „veränderlich und veränderbar" präsentierte (S. 807). Mit Erwägungen dieser Art kam die Ausgabe Brechts Arbeitsweise näher, als es je einer Edition gelungen war. Allerdings wiesen die Kriterien Unscharfen auf, die im Einzelfall zu uneinheitlichen und auch falschen Entscheidungen führten. So ist eine gewisse Zufälligkeit in der Dokumentation von Varianten erkennbar. Es schien den Bandbearbeitern anheim gestellt gewesen zu sein, wann sie eine Fassung als relevant genug ansehen, daß sie abgedruckt, dokumentiert oder auch nur erwähnt wird - oder eben nicht. Manche Dimension - wie die Veränderung von Texten durch die Theaterpraxis - wurde zu wenig berücksichtigt. So sind Exilstücke wie Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan, Herr Puntila und sein Knecht Matti oder Der Aufstieg des Arturo Ui in Fassungen später Hand gedruckt worden, weil zwischen Entstehung und Auffiih-

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27

Briefen Zweiter an Dritte. Schließlich sind die zeitgenössischen Drucke aus dem Nachlaß, die Teil von Brechts Arbeitsmappen waren, nicht systematisch aufbereitet worden. G B A Registerband, S. 805. - Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich ebenfalls auf den Editionsbericht. Vgl. den editorischen Hinweis in jedem Band Zu dieser Ausgabe.

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rung einerseits und erstem Druck andererseits häufig viele Jahre - und damit neue Bearbeitungsstufen - lagen. Diese Praxis führte dazu, daß die werkausgabe von 1967, weil sie andere, in der Regel spätere Fassungen druckt, weiterhin komplementäre Funktion innehat. In der theoretischen Diskussion scheint sich, nicht zuletzt ausgelöst durch die ersten Bände der Berliner und Frankfurter Ausgabe, die Ansicht durchzusetzen, daß bei der Wahl der Textgrundlage - jedenfalls für Brecht - kein allgemein gültiges Prinzip herrschen sollte, sondern je nach Werkform, Überlieferungslage, Anspruch und Typ der Ausgabe spezifische Lösungen zu suchen und zu begründen sind.28 Im Hinblick auf Autorisation und Texteingriffe liefert die Ausgabe ebenfalls ein widersprüchliches Bild: Zwar wird die Tatsache, daß die Texte der Ausgabe häufig Ergebnisse kollektiver Produktionsvorgänge sind, berücksichtigt, aber hinsichtlich der Nachweise von Anteilen bleibt die Edition zuweilen hinter den Angaben Brechts zurück.29 Im Umgang mit Druckfehlem legen die Bandbearbeiter manches Mal übertriebene Zurückhaltung an den Tag, der Erstdrucke als sakrosankt zu gelten scheinen. Über die Notwendigkeit begründeter Emendationen scheint man sich nicht einig zu sein.30 Auf der anderen Seite sind die Texte einer Normierung unterzogen worden, die Interpretation bedeutet: Nicht abgeschlossene Werke wie das Fa/zer-Fragment verlieren durch die Vereinheitlichung den Charakter des Vorläufigen.31 Die Kommentare vermitteln wesentliche Entwicklungen der Textgenese. Die Fortschritte auf diesem Feld sind unmittelbare Niederschläge editionswissenschaftlicher Debatten. Freilich geschieht das weitgehend referierend, womit den Nutzern einerseits Arbeit abgenommen, andererseits die Möglichkeit, den Prozeß selbst nachvollziehen zu können, genommen wird. Ferner liefert der Kommentar Informationen über biographische, intertextuelle und zeitgeschichtliche Bezüge. Die anschauliche Vermittlung der Publikationskontexte - vor allem im Hinblick auf die Versuche oder die Theaterarbeit - läßt jedoch Wünsche offen. Die alles entscheidende Frage für jede Brecht-Edition ist, inwiefern es gelingt, den Prozeßcharakter von Brechts Werk darzustellen, gehört doch die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Schaffens zu den charakteristischen Eigenheiten Brechts.32 Die Berliner und Frankfurter Ausgabe bleibt in dieser Frage hinter dem - auch in einer Leseund Studienausgabe - editionstheoretisch und -praktisch Möglichen zurück. Sie entfernt sich dadurch weiter als nötig von den Quellen des Archivs. Klaus Völker hat das Problem zutreffend benannt: „Das entscheidende editorische Merkmal der für längere 28 29

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Vgl. Seidel 1991 und Kuhn 1989/90, S. 147. Ein anschauliches Beispiel ist der Wechsel in der Angabe der Autoren der Dreigroschenoper: Der Erstdruck, 1928 in der Universal-Edition, führte korrekt John Gay als Autor der Vorlage, Elisabeth Hauptmann als Übersetzerin und Brecht als Bearbeiter auf. Noch im Heft 3 der Versuche, das zwar Brecht auf dem Titel fiihrt, finden sich unter dem Text gleichberechtigt die Verfassernamen „Brecht. Hauptmann. Weill." Daran hat sich jede Edition zu halten. Die Berliner und Frankfurter Ausgabe nennt hingegen Brecht (auf dem Buchdeckel) als Verfasser und Hauptmann und Weill (auf der Rückseite des Stucktitelblattes) als Mitarbeiter, aber nicht als Ko-Autoren (vgl. Wizisla 1999, S. 167f.). Vgl. Wizisla 1999, S. 165 f. Vgl. Wilke 1998, S. 13f. Vgl. u.a. Seidel 1977, S. 5 8 - 6 1 .

Brecht-Editionen

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Zeit wohl verbindlichen Gesamtausgabe ist der ,Eingriff in den offenen VersuchsCharakter des Brechtschen Werks, den die Einigung auf ein editorisches Konzept, das Texte festschreibt, und die Prinzipien der Kommentierung bedingen."33 Und dennoch ist die Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe eine Pionierleistung - wie die werkausgabe von 1967 ein großes verlagspolitisches Projekt: eine Ausgabe, deren umfassender Anspruch an Vollständigkeit, Textdarbietung und Kommentierung pragmatisch und in überschaubarer Zeit gelöst worden ist. Eine Wirkung auf die Editionswissenschaft wird von ihr nicht ausgehen.

3.

Perspektiven einer künftigen Brecht-Edition

Wie gezeigt, läßt die Kommunikation zwischen Brecht-Edition resp. -Forschung und Editionswissenschaft zu wünschen übrig. Doch die Beziehungen sind verbesserbar. In Brechts Nachlaß (und der Sammlung des Archivs wie den andernorts liegenden Dokumenten) schlummern enorme Potenzen. Sie zu beleben verspricht nicht nur Gewinn für diesen Autor, sondern für die Methodendiskussion des Faches. Für Brecht fehlt eine Ausgabe von einem Zugriff und Problembewußtsein, wie sie etwa die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, der Marburger Büchner-Edition, die historisch-kritischen Ausgaben von Heinrich von Kleist, Gottfried Keller oder Franz Kafka zeigen. Angesichts der Begrenztheit öffentlicher Mittel ist dergleichen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, auch wenn das Land Berlin und die Erben Brechts beim Ankauf des Nachlasses 1992 erklärt haben, sie wollten damit die Grundlage für eine historisch-kritische Ausgabe schaffen. Textkritische Editionen einzelner Texte, Textträger oder Werkkomplexe, die den Entstehungsprozeß aufbereiten und sichtbar machen, könnten dennoch realisiert werden. Dafür eigneten sich komplexe und dicht überlieferte Arbeiten wie das Fatzer-Fragment oder der Galilei oder Bestandsgruppen wie Brechts Notizbücher, Briefe an Brecht oder die Korrespondenz von Mitarbeiterinnen wie Elisabeth Hauptmann - Dokumente, die bislang editorisch vernachlässigt worden sind. Zugleich ist im Falle von Bertolt Brecht jetzt der Zeitpunkt gekommen, in Edition und Aufbereitung von Archiven Neuland zu beschreiten. Für die Perspektive einer künftigen Brecht-Edition spielen herkömmliche Editions- und vor allem Druckverfahren nur noch eine Rolle neben anderen möglichen Verfahren. Ein denkbares Ziel wäre eine multifunktionale Brecht-Datenbank, die Findhilfsmittel, Bibliographien, Aufführungsstatistiken, aber auch Bild-Dateien von Dokumenten - Handschriften, audiovisuelle Dokumente, Aufführungs- und Personenfotos, Kritiken etc. - selbst enthält.34 Im Hinblick auf die Handschriften wäre mit Hypertextfunktionen die Genese sinnfällig nachzustellen. Den Bilddateien von Typoskripten und Manuskripten sind Transkriptio-

33 34

Völker 1993/94, S. 4. Vgl. Wizisla 2000.

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nen und Edierte Texte - sowie zum Textvergleich frühere Drucke - beizufügen, so daß verschiedene Funktionen von Editionen erfüllt werden. Quellen könnten in erreichbarer Vollständigkeit aufbereitet werden. Flexible Navigationen können den Weg zu Tonund Film-Dokumenten weisen und dazu einladen, Brechts Arbeitsweise zu studieren: So gehören zum Galilei als unverzichtbares, aber bislang vernachlässigtes Dokument die Tonaufzeichnungen und Transkriptionen von Brechts letzten Proben, weil sie Einsichten in Textkonstitution, Interpretation des Autors und Theaterarbeit des Regisseurs vermitteln.35 Es leuchtet doch ein, daß ein komplettes elektronisches Verzeichnis der Briefe an Brecht, das die Dokumente selbst als Bilder enthält, informativer und zuverlässiger als etwa eine Regestausgabe wäre. Natürlich muß auch eine solche große Brecht-Datenbank zunächst auswählen; anzustreben wäre ein sukzessiver Aufbau, der das Wichtige dem weniger Wichtigen, das materiell Gefährdete dem noch gut Erhaltenen vorzieht. Der Weg dahin ist lang, an seinen Seiten harren immense Probleme der Lösung: archivwissenschaftliche, computertechnische, finanzielle, urheberrechtliche die Reihenfolge entspricht keiner Hierarchie. Der Aufbau einer solchen Datenbank böte die Möglichkeit, daß Brecht-Edition und moderne Editionsmethodik wieder in engere Fühlung treten könnten.

Literaturverzeichnis Editionen 1. Brecht: Versuche. H. 1-7. Berlin: Kiepenheuer 1930-1933. Brecht; Versuche. H. 1-15. Berlin, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1949-1959. Brecht: Versuche. H. 1-15, Sonderheft. Redaktion: Elisabeth Hauptmann. Berlin: Aufbau 1951-1963. 2. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. 2 Bde. London: Malik 1938. Mehr nicht erschienen. 3. Bertolt Brecht: Stücke. 14 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1953-1968. Bertolt Brecht: Gedichte. 10 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1960-1976. Bertolt Brecht: Prosa. 5 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. 7 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963 f. Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst. 3 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967. Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. 4. Bertolt Brecht: Stücke. 14 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1955-1968. Bertolt Brecht: Gedichte. 10 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1961-1978. Bertolt Brecht: Prosa. 4 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1973-1975. Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. 7 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1964. Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. 2 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1966. Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. 2 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1968. 5. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. 20 Bde. (und 4 gezählte Supplementbde.). Frankfürt/Main: Suhrkamp 1967 (Supplementbande I/II. 1969 und III/IV: 1982) (werkausgabe edition suhrkamp). [GW] Textidentisch mit: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. 8 Bde. (und 2 gezählte Supplementbde.). Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967 (Supplementbände 1: 1969 und 2: 1982).

35

Vgl. Plachta 1991.

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6. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. 30 Bde. (33 Teilbde.). Berlin, Weimar: Aufbau / Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988-2000. [GBA] Auf Angaben zu Redaktion und Bandbearbeitung wurde verzichtet.

Andere Literatur Beißner, Friedrich: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift filr deutsche Philologie 83,1964, Sonderheft, S. 72-96. Berg, Günter: Kommentare und Register in wissenschaftlichen Studienausgaben. Bertolt Brechts Werke in 30 Bänden. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio. 5), S. 216-222. Bunge, Hans-Joachim: Vorausbemerkungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts. In: Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 4, 1958, 1-3, S. 23-30. Bunge, Hans-Joachim: Über das Bertolt Brecht-Archiv. In: Sinn und Form 11,1959, 1, S. 140-145. Kuhn, Tom: The Politics of the Changeable Text. Furcht und Elend des III. Reiches and the New Brecht Edition. In: Oxford German Studies 18/19,1989/90, S. 132-149. Müller, Klaus-Detlef: Bertolt Brechts Die Tage der Kommune. Probleme einer quellenbezogenen Edition. In: editioll, 1997, S. 129-151. Nutt-Kofoth, Rüdiger / Plachta, Bodo: Schlechte Zeiten - gute Zeiten für Editionen? Zur Bedeutung der Marburger Büchner-Ausgabe für die gegenwärtige Editionsphilologie. In: editio 15, 2002, S. 149-167. Plachta, Bodo: Der ,Stückschreiber' als Regisseur. Editorische Konsequenzen aus Brechts Regiearbeit am Galilei. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.-22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Hrsg. von Martin Stern unter Mitarbeit von Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 1), S. 197208.

Plachta, Bodo: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte Stuttgart 1997. Protokoll der 3. Beratung für eine Historisch-Kritische Ausgabe der Schriften Bertolt Brechts am 10. und 11 April 1959 im Bertolt Brecht-Archiv. [Vervielfältigtes Typoskript ] Berlin [1959], Ramthun, Herta: Bertolt-Brecht-Archiv. Bestandsverzeichnis des literarischen Nachlasses. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin [Bd. 4: Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik], 4 Bde. Berlin, Weimar 1969-1973. Seidel, Gerhard: Bertolt Brecht - Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Berlin 1977. Seidel, Gerhard: Zwei Notizblöcke Elisabeth Hauptmanns im Nachlaß Bertolt Brechts. In: editio 2, 1988, 5. 111-125. Seidel, Gerhard: Der ,edierte Text' als Repräsentation und Reduktion des Werkes. Zur Wahl der Textgrundlage bei Brecht. In: Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler EditorenKolloquium 19.-22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Hrsg. von Martin Stern unter Mitarbeit von Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 1), S. 209-213. Speirs, R. C.: .Verwischte Spuren', or Brecht Edited. In: The Modern Language Review 84, 1989, S. 652657. Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. Unseld, Siegfried: Gelassen über die Leichen der Philologen hinweg. Der ganze Brecht: Zur Edition seiner Werke. In: Die Welt, Nr. 8,25. Juni 1964, S. 254f. Völker, Klaus: Wie ediert man einen Dschungel? Anmerkungen zur Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Brechts. In: konkret 1993/94, H. 18, S. 4-9. Wilke, Judith: Brechts „Fatzer"-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar. Bielefeld 1998. Wizisla, Erdmut: „Seid ihr immer noch nicht fertig mit dem Ramsch?" Das Bertolt-Brecht-Archiv im Jahre 1994. In: Der Deutschunterricht 46, 1994, VI, S. 75-80. Wizisla, Erdmut: Über die Einhaltung von Prinzipien. Zur Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts. In: editio 13, 1999, S. 157-172.

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Wizisla, Erdmut: Archive als Editionen? Zum Beispiel Bertolt Brecht. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Νutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 407-417. Zeller, Bernhard: Autor, Nachlaß, Erben. Probleme der Überlieferung von Literatur. Mainz 1981 (Abhandlungen der Klasse der Literatur / Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Jg. 1981/82. Nr. 2).

Klaus Kanzog

Büchner-Editionen

Als Büchner am 19. Februar 1837 im Alter von 23 Jahren in Zürich starb, war er als Schriftsteller über den engeren Freundeskreis hinaus nur wenigen Lesern bekannt; von den Dichtungen war zu seinen Lebzeiten nur Danton 's Tod erschienen; die Übersetzungen von Victor Hugos Lucretia Borgia und Maria Tudor lagen seit 1835 im sechsten Band der Sämmtlichen Werke vor. Karl Gutzkow (Ein Kind der neuen Zeit, in: Frankfurter Telegraph. N.F., No. 42, Juni 1837, S. 329) bezeichnete Büchner als einen „früh vollendeten jungen deutschen Dichter", doch das editorische Problem, das die Textkritiker nun schon über ein Jahrhundert beschäftigt, liegt u.a. gerade darin, daß Büchner begonnene Werke nicht mehr vollenden konnte.

1.

Erste Editionsversuche1

Wie bei anderen „Frühvollendeten" versuchten Freunde, den Nachlaß zu sichten und der literarischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine Schlüsselrolle spielte hier Büchners Verlobte Wilhelmine Jaeglö, die den größten Teil des Nachlasses an sich genommen hatte und sowohl mit Büchners Familie als auch mit Karl Gutzkow in Kontakt stand. Eine von Gutzkow geplante Gesamtausgabe scheiterte, doch war es Gutzkows Verdienst, das Lesepublikum mit Leonce und Lena und Lenz bekannt gemacht zu haben.2 Die Nachgelassenen Schriften Büchners (N) erschienen erst dreizehn Jahre nach Büchners Tod. Der Herausgeber Ludwig Büchner orientierte sich bei der Auswahl und Darbietung des Werkes seines Bruder am literarischen Geschmack der Zeit; „nicht bloß die Schwierigkeit der Entzifferung, sondern auch der Inhalt des Woyzeck hatten ihn veranlaßt, den überlieferten Text selbst im Auszug nicht zu publizieren.3 Die „erste kritische Gesammtausgabe" (F) verdanken wir dem Engagement des aus Galizien stammenden, damals in Wien tätigen Schriftstellers und Literaturkri-

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Vgl. zur frühen Editionsgeschichte Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein 1985, S. 33-157; außerdem Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt/Main 1990. Vgl. zu Gutzkows Publikationsplänen und zur Veröffentlichung des Lenz die Darlegungen in der Marburger Ausgabe (MBA), Bd. 5, S. 177f. Ludwig Büchners Eingeständnis gegenüber Franzos, von diesem zitiert bei Hauschild 1985 (Anm. 1), S. 86.

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tikers Karl Emil Franzos. 4 Ihm gelang es mit Unterstützung der Geschwister Büchners, aber gegen die Zensurwünsche Ludwig Büchners, den im Familienbesitz befindlichen Teil-Nachlaß auszuwerten und Woyzeck (F, S. 161-204) zu edieren, der in dieser Fassung die Grundlage für das Libretto zu Alban Bergs Oper Wozzeck (UA: 1925) bildete; Wilhelmine Jaegl£ verweigerte die Lieferung von weiteren Manuskripten. „Kritisch" ist die Ausgabe nur nach dem Selbstverständnis von Franzos zu nennen, der als „Textkritiker" Einzelgänger war; die Germanistik hatte sich damals gerade erst als Hochschuldisziplin etabliert und ihr textkritisches Interesse vordringlich auf Goethe gerichtet. F war mit ihren Vorzügen und Schwächen, tradiert in allen aus ihr abgeleiteten Ausgaben, über 40 Jahre Basis der Büchner-Rezeption. In diese Zeit fallen die Uraufführungen von Leonce und Lena (31.5.1895), Dantons Tod (5.1.1902) und Woyzeck (8.11.1913).

2.

Die erste wissenschaftliche Edition 5

Die zweite Phase der Editionsgeschichte der Werke und Briefe Büchners setzt 1918 mit dem Ankauf des Büchner-Nachlasses durch den Verleger Anton Kippenberg ein, der das aus dem Besitz der Familie Büchner stammende Material für Editionsprojekte des Insel-Verlags in Leipzig nutzte und 1924 dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar schenkte. Die Büchner-Edition wurde nunmehr eine Angelegenheit der Philologie: Georg Witkowski, von 1896 bis 1934 Professor an der Universität Leipzig, legte schon 1920 eine kritische Ausgabe des Woyzeck vor. Zwei Jahre später brachte Fritz Bergemann, seit 1913 Schriftleiter am Insel-Verlag, seine Edition der Sämtlichen Werke und Briefe (Be) heraus, die trotz mancher Fehlbeurteilung der Überlieferung und einiger Fehllesungen die Büchner-Forschung auf eine neue Grundlage stellte. Die Ausgabe wurde 1926 dem Stil der Klassiker-Ausgaben des Insel-Verlags angepaßt. Sie beherrschte noch über Werner R. Lehmanns Hamburger Ausgabe (HA) hinaus den Markt und behinderte die Auseinandersetzung mit den Überlieferungsproblemen. Denn Bergemann nahm zwar neue Forschungsergebnisse auf, wurde aber vom Verlag zu Kürzungen und zum Verzicht auf die Wiedergabe der Lesarten gezwungen; er stilisierte zudem die Sprache Büchners durch moderne Orthographie und Zeichensetzung und konstituierte für Woyzeck einen kontaminierten Lesetext, der die Beurteilung dieses Werks in die falsche Richtung lenkte.

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5

Siehe zu den Editionsprinzipien die Anmerkungen in F und zu den Schwierigkeiten der Edition Karl Emil Franzos: Über Georg Büchner. In: Deutsche Dichtung 29, 1901, S. 195-203, 2 8 9 - 3 0 0 . Vgl. zu den wissenschaftlichen Büchner-Editionen von 1922 bis 1974 Waltraud Hagen (Leitung/Gesamtredaktion): Handbuch der Editionen. München 1979, S. 9 9 - 1 0 2 ; sodann Thomas Michael Mayer: Zu einigen neueren Tendenzen der Büchner-Forschung. Ein kritischer Literaturbericht, Τ. II: Editionen. In: Text + Kritik. Sonderband Georg Büchner III, 1981, S. 2 6 5 - 3 1 1 .

Büchner-Editionen

3.

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Neue editorische Impulse

Werner R. Lehmann, Schüler des Hölderlin-Forschers Adolf Beck und Professor an der Pädagogischen Hochschule Flensburg, glaubte zunächst noch, Be als Basistext für seine, zwar nach dem Vorbild der Hamburger Goethe-Ausgabe eingerichtete, aber als historisch-kritische Edition konzipierte Büchner-Ausgabe (HA) verwenden zu können, gelangte jedoch nach Überprüfung an den Handschriften Büchners „zu der Einsicht, daß die Bergemannsche Ausgabe von 1922 hinsichtlich ihrer textkritischen und editorischen Entscheidungen einem ästhetischen und wissenschaftsgeschichtlichen Bewußtseinsstand angehört, der schon damals als unzureichend und überholt hätte angesehen werden müssen, wären die Entscheidungen des Herausgebers nachgeprüft worden".6 Seine Arbeitskraft setzte er vordringlich in die Rekonstruktion der Überlieferung und in die Textgestaltung des Woyzeck, der aus drei Perspektiven - in der Abfolge der Überlieferungsträger, als synoptische Darbietung und in einer sog. „Lese- und Bühnenfassung" - gelesen werden kann. Für den Text von Danton 's Tod bewies er die Autorität der Handschrift H, und für die Textdarbietung von Lenz und Leonce und Lena nutzte er typographische Mittel, um dem Leser Überlieferungsbrüche und Emendationen bewußt zu machen. Der Kommentarband und der textkritische Apparat sind nicht erschienen. Die Klassiker-Verlage reagierten auf diese wegweisende Edition unterschiedlich: Während der Insel-Verlag weiterhin Be auf den Markt brachte, übernahm der Hanser-Verlag Werner R. Lehmanns Hamburger Ausgabe, ließ die Textbände für eine „Studienausgabe" (1980 und 1984) bearbeiten und durch Kommentare von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler ergänzen; 1988 wurde diese „Studienausgabe" (mit erweitertem Textkorpus, revidierten Texten und teils neuverfaßten Kommentaren) zur „Münchner Ausgabe" (MA) „völlig neu gestaltet."

4.

Die historisch-kritische Ausgabe

Die weitere Entwicklung wurde durch entscheidende Aktivitäten im Umfeld des wachsenden politischen Interesses an Büchner und seinen Werken bestimmt: die Gründung der Georg Büchner Gesellschaft (Mai 1979), das Georg Büchner Symposium (Darmstadt, 25.-28. Juni 1981), das Erscheinen des Georg Büchner Jahrbuchs (seit 1981), das Editionskolloquium Georg Büchner (Marburg, 24.-26. März 1983) und die Ausstellung Georg Büchner 1813-1837 (Mathildenhöhe Darmstadt 2. August - 17. September 1987, Kunsthalle Weimar 20. März - 24. April 1988). Es kam eine intensivierte Quellenforschung in Gang, die noch unbekannte Zeugnisse ans Licht brachte. Zum

6

Werner R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. Hamburg 1967, S. 7. Vgl. auch zuvor Werner R. Lehmann: Prolegomena zu einer historisch-kritischen BüchnerAusgabe. In: Gratulatio. Festschrift für Christian Wegner zum 70. Geburtstag. Hamburg 1963, S. 1 9 0 220.

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Klaus Kanzog

Zentrum der Büchner-Forschung wurde die Universität Marburg, die die sachlichen und personellen Voraussetzungen für die editorischen Arbeiten schuf und damit die 1980 vom Institut für Neuere deutsche Literatur ohne besonderen Etat eingerichtete Forschungsstelle sicherte, in der die konzeptionellen Vorarbeiten für die von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer geplante Historisch-kritische Ausgabe geleistet wurden. Im November 1984 legten die „Forschungsstelle Georg Büchner" und die Georg Büchner Gesellschaft die Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners vor. Seit April 1987 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt, und am 7. November 1987 konstituierte sich der (bis 1999 bestehende) „Wissenschaftliche Beirat". Im Juni 1999 nahm die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, die Ausgabe in ihr Forschungsprogramm auf und richtetet die „Arbeitsstelle Büchner-Ausgabe" ein. Verträge mit dem Athenäum-Verlag, dem Akademie· Verlag und dem Verlag Max Niemeyer mußten aus unterschiedlichen Gründen gelöst werden, bis es gelang, die Wissenschaftliche Buchgesellschaft für die außerordentlich schwierige Drucklegung dieser historisch-kritischen Ausgabe (MBA) zu gewinnen, von der 2000 als erstes die Bände zu Danton 's Tod erschienen.

5.

Editorische Grenzen und Freiräume

Die kontroverse Diskussion um das angemessene Edieren der Texte Büchners führte zu einem neuen wissenschaftlichen Standard des Edierens. 1981 setzte Gerhard Schmid mit seiner Faksimile-Ausgabe der Handschriften des Woyzeck philologische Maßstäbe, 7 1987 ermöglichte Thomas Michael Mayers Faksimile-Edition der Erstdrucke und Erstausgaben die schnelle Vergegenwärtigung der editorischen Ausgangssituation, 1990 legte Eske Bockelmann die erstmals vollständige Neutranskription der Schülerskripten Büchners vor,8 die Einsichten in die Schreibweise Büchners vermittelte und eine Debatte zur Frage des „Dialekts" im Woyzeck auslöste. 9 Es wurde schnell deutlich, daß sich die historisch-kritische Edition der Werke Büchners nur als ,work in progress' ergeben konnte. 1980 legte Thomas Michael Mayer eine neuartige Synopse zu Büchners Danton's Tod vor,10 die auf der „Basis einer mühelos lesbaren Textdarbietung" mit Hilfe typographischer und zusätzlicher Marginalien elementare Voraussetzungen für „das historische und philologische Verständnis des Stückes" schuf. Die

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9

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Vgl. hierzu Klaus Kanzog: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch 4, 1984 [1986], S. 280-294. 3 Bde. nebst Wortindex. Archiviert in der Forschungsstelle Georg Büchner der Philipps-Universität Marburg. Thomas Michael Mayer: Zu einigen neuen Lesungen und zur Frage des „Dialekts" in den WoyzeckHandschriften. In: Georg Büchner Jahrbuch 7, 1988/89, S. 172-218, und Eske Bockelmann: Von Büchners Handschrift oder Aufschluß, wie der Woyzeck zu edieren sei. In: ebd., S. 219-258. Georg Büchner: Danton's Tod. Ein Drama. Hrsg. von Thomas Michael Mayer (siehe Literaturverzeichnis), S. 7-11: Entwurf einer Studienausgabe.

Büchner-Editionen

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Studienausgaben zu Lenz von Hubert Gersch (1984), Leonce und Lena von Thomas Michael Mayer (1987) und Woyzeck von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer zielten auf eine Veränderung etablierter Lesegewohnheiten. Die derzeit umfassendste Edition der Dichtungen, Schriften, Briefe, Dokumente (1992/99), die Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann als Editionsprojekt im Forschungsplan des Fachbereichs Germanistik an der Freien Universität Berlin für die Bibliothek deutscher Klassiker erarbeitete (PA), und Jan-Christoph Hauschilds „Kritische Studienausgabe" von Büchners Briefwechsel (1994) erweiterten das editorische Spektrum; unterschiedliche Lösungen, kontroverse Ansichten, auch Fehler tragen in vielem zur Klärung von Sachverhalten bei und machen zugleich die editorischen Grenzen und Freiräume bewußt. 5.1.

Einzelne Werke

5.1.1. Danton's Tod Für die Textkonstitution von Danton's Tod bietet Η eine relativ sichere Grundlage, 11 da Werner R. Lehmann 12 nachweisen konnte, daß die beiden Drucke, durch die das Werk zunächst überliefert wurde, - der Teilabdruck in der Zeitung Phönix, März/April 1835 (dl = j) und die erste Buchausgabe, Juli 1835 (d2 = e) - auf Η beruhen; trotz der generellen Druckerlaubnis Büchners sind beide Drucke jedoch nicht als autorisiert anzusehen, da Büchner keine Korrekturfahnen erhielt. Die Varianten erhellen Zensurrücksichten und die redaktionellen Grundsätze von Gutzkow, dem Redakteur des Verlegers J.D. Sauerländer, und Eduard Duller, dem Redakteur des Phönix. Geht man davon aus, daß Gutzkow zuvor von H, die er an Büchner zurückgab, eine komplette Abschrift (h*) für die Druckvorlage hergestellt bzw. in Auftrag gegeben hat, die dann in zwei Redaktionsschritten für j und e verwendet wurde, dann sind auch Abschreibefehler in Rechnung zu stellen; hinzu kommen (wie bei allen anderen Drucken) verlagseigene Setzerpraktiken. Der Druck des Werkes (d3) in N, fur den Ludwig Büchner auf Η (aus dem Nachlaß Büchners) und e zurückgriff, enthält weitere Varianten: neben redaktionellen Eingriffen Ludwig Büchners und Satzspezifica zwei Varianten, die vermuten lassen, daß ihm auch Bruchstücke früherer Entwürfe (H*) zur Verfügung standen, die später von Franzos bezeugt wurden. Obgleich also Η die Basis für den edierten Text bilden muß, bleiben Fragen offen: (1) Wie sind die Spuren einer späteren Überarbeitung Büchners in Η zu beurteilen? (2) Gehen einzelne Varianten in j und e vielleicht doch auf Büchner zurück? (3) Sind die punktuellen Korrekturen Büchners in zwei erhaltenen Widmungsexemplaren für die Textkonstitution relevant? - MBA bietet einen emendierten Text und dokumentiert die Varianten der Drucke d 1, d2 und d3 in 11

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Hinsichtlich der von mir verwendeten Zeichen gilt die Regel: Großbuchstaben stehen für eigenhändige Handschriften bzw. autorisierte Drucke, Kleinbuchstaben für Abschriften und nicht autorisierte Drucke (j = Journaldrucke, e = Erstdrucke), die zusätzlich in der Reihenfolge ihres Erscheinens ( d l , d2, d3) angeführt werden. Ein * bezeichnet einen erschlossenen bzw. vermuteten Überlieferungsträger. Lehmann 1967 (Anm. 6), S. 17-21.

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den Fußnoten, so daß der Leser sich in jedem einzelnen Fall sofort ein Urteil über die Textkonstitution bilden kann. Sie ermöglicht eine fünffache Lektüre des Werks: (1) im Paralleldruck der abgebildeten Handschrift mit einer „differenzierten Umschrift", (2) in einer „genetischen Darstellung", (3) in einem „emendierten Text", (4) im Syntagma dieses Textes mit den in den Fußnoten dokumentierten Textabweichungen und Varianten, (5) in einem „quellenbezogenen" Text. 13 Sie ist zugleich Archivausgabe und historisch-kritische Ausgabe. Das Prinzip der typographischen Kennzeichnung bestimmt auch die Wiedergabe der historischen Quellen.

5.1.2. Leonce und Lena Von diesem Werk liegen handschriftlich - zusammengefaßt als ΗI - 1 4 vor: die beiden Genfer Bruchstücke Η1 mit der variant überlieferten Szene 1,1, die vermutlich eine frühe Textstufe repräsentiert, und Η2, ein Entwurfsbruchstück (Ende des 1. und Anfang des 2. Akts) sowie Η3, das „Weimarer Bruchstück" (mit einer Stelle in der Szene 1,3), das Η II*, der Fassung fiir die Preisaufgabe des Cotta-Verlags, nahesteht. Maßgebliche Textzeugen 15 sind ein von Gutzkow veranstalteter Teildruck j (= d l ) in fünf Nummern der Zeitschrift Telegraph für Deutschland, 1838) und eine von Ludwig Büchner redigierte vollständige Fassung e (= d3) in N. Die Crux liegt in dem Umstand, daß d3 einen korrupten Textstand überliefert, der nicht ohne weiteres mit Hilfe von d 1 geheilt werden kann, da d 1 seinerseits einen korrupten Text bietet, obgleich Gutzkow nach eigener Bekundung von Wilhelmine Jaegle „saubere Abschriften" des poetischen Nachlasses erhalten hat. Gleichwohl gilt d 1 als der dem Original am nächsten stehende Textzeuge. Allerdings hat Gutzkow einige Passagen ausgelassen und (wie im Vorabdruck von Danton 's Tod) durch Inhaltszusammenfassungen ersetzt. Man geht heute davon aus, daß Gutzkows Druck auf einer Abschrift Wilhelmine Jaegles (hl*), Ludwig Büchners Druck dagegen auf einer Abschrift Luise Büchners (h2*) beruht. Strittig ist, ob beide Abschriften nach der gleichen handschriftlichen Vorlage oder jeweils nach einer anderen angefertigt wurden, d. h. ob die von Thomas Michael Mayer 1987 in seiner Studienausgabe zur Diskussion gestellten 36 Wortvarianten die Ansetzung einer weiteren Handschrift 16 erlauben; Thomas Michael Mayer setzt Hill*, ein zwischen Juli und Oktober 1836 abgefaßtes „Arbeitsmanuskript", an, von dem

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Hierzu grundsätzlich Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama „Danton's Tod". Versuch einer sachlichen Klärung und begrifflichen Vereinfachung. In: editio 7, 1993, S. 192-210, und Ders.: Die Darstellung von Quellenabhängigkeiten anhand von Beispielen. In: editio 11, 1997, S. 9 7 - 1 1 5 . Die römischen Ziffern markieren die von der Forschung angesetzte und diskutierte Chronologie der überlieferten und vermuteten Handschriften Büchners. Der Textzeuge d2 in Gutzkows Sammelband Mosaik. Novellen und Skizzen (Leipzig 1842), S. 9 7 - 1 2 6 , ist für die Textkonstitution nicht relevant, da er den Text nur nach d 1 bietet. Winfried Woesler: Die Textgestalt von Büchners Leonce und Lena, in: Georg Büchner Jahrbuch 6, 1986-87 [1990], S. 2 1 6 - 2 3 2 , sieht keine Variante als „Autorvariante" schlüssig begründet. Schon Lehmann 1967 (Anm. 6), S. 29, ging im Gegensatz zu Bergemann von der Arbeitshypothese aus, daß d 1 und d2 - „mit Ausnahme der ersten Szene - auf ein und derselben Fassung des Dramas basieren."

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Büchner vor seiner Abreise nach Zürich eine Abschrift anfertigte, die er bei Wilhelmine Jaegle zurückließ, und diese Abschrift HIV*, die Büchner mit nach Zürich nahm, um daran weiter zu arbeiten. MBA vertritt dagegen die Hypothese: „h 1 * als Vorlage für d l und h2* als Vorlage für d3 gehen auf ein und dieselbe zur Zürcher Fassung gehörige Handschrift HIV* zurück. Diese Handschrift bot jedoch im Bereich der Szene 1/1 und möglicherweise auch an anderen Stellen nicht eindeutige Befunde, die Wilhelmine Jaegle anders deutete als Luise Büchner" (Editionsbericht). Eine Lese- und Bühnenfassung läßt sich also nur als Mischfassung konstituieren. Schwierigkeiten bereitet Η1. Die MBA macht Textgenese und Textkonstitution in fünf Stufen nachvollziehbar: (1) im Paralleldruck der abgebildeten Handschriften mit einer „differenzierten Umschrift", (2) im Paralleldruck der drei Überlieferungsträger Η1 (emendierter Text), d l und d3 fur die Szene 1,1, (3) in einem synoptischen Text, zu dem in den Fußnoten die Lesarten dl/d3 und Erläuterungen zu den Emendationen gegeben werden, (4) in einem „emendierten Text", (5) in einem quellenbezogenen Text. 5.1.3. Woyzeck Die Herstellung einer „Lese- und Bühnenfassung" mit Beigabe der ,Reste' als „Paralipomena" (wie in Be) ist heute nicht mehr vertretbar. Für die Woyzeck-Edition standen im Anschluß an Werner R. Lehmann zunächst die Editionsvorschläge von Egon Krause (1969), Wilfried Buch (1970) und Lothar Bornscheuer (1972) zur Diskussion. Auf der Basis von Gerhard Schmids Faksimileausgabe (1981) waren andere Verfahrensweisen zwingend geboten. Die Textzeugen (H1-H4) lassen erkennen, daß das Werk nicht zum Abschluß gelangt ist. Wer über die Textdarbietung in der Reihenfolge der Textzeugen (HA I, S. 143-181) und ihrer synoptischen Demonstration (HA I, S. 337— 406) hinaus nach einer Orientierung sucht, muß Η 4, die sog. „Vorläufige Reinschrift" als Basistext wählen und die Streichungen bzw. unterbliebenen Streichungen in Hl und Η2 beachten; man nimmt die unterbliebenen Streichungen als Indiz dafür, daß Büchner diese Szenen „noch nicht endgültig als erledigt oder verworfen betrachtet hat" (G. Schmid 1981, Kommentar, S. 47); neben diesen Szenen stehen auch die beiden nicht gestrichenen Szenen (H3,l und H3,2) als Material für die Textkonstitution zur Verfugung. Während sich Enrico de Angelis bei seinem Versuch der Textermittlung (in der Abfolge: Faksimile, Transkription, Emendation und Lesetext) die Herstellung einer spielbaren Bühnenfassung versagt,17 konkurrieren die von Henri Poschmann zuerst 1984 vorgelegte „kombinierte Werkfassung" und Thomas Michael Mayers und Burghard Dedners Studienausgabe von 1999. Der Vorteil der Ausgabe Dedner/Mayer liegt in der größeren dokumentarischen Nähe. Denn Dedner/Mayer machen in der konstituierten Fassung die verschiedenen Textschichten typographisch kenntlich und gewähren im Anschluß an die „Lese- und Bühnenfassung" auch einen Einblick in die 17

Die Handschriftenanalyse und die Versuche, die Datierung und Entstehung des Werks (im Kontext des Spinoza-Manuskriptes) auf 1833/34 statt 1836/37 zu verlegen, sind problematisch. Hierzu kritisch Thomas Michael Mayer in: Georg Büchner Jahrbuch 9, 1995-99 [2000], S. 319f., Anm. 137 und S. 329.

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handschriftliche Überlieferung, die als „emendierter Text" („mit Verzeichnung der Textübernahmen aus früheren in spätere Entwurfsstufen") und als „differenzierter Text" dargeboten wird. Der Vergleich der beiden Ausgaben läßt den Spielraum erkennen, der Philologen heute bei der Herstellung einer kombinierten Fassung noch bleibt: 1. Sowohl Poschmann als auch Dedner/Mayer füllen die in Η nur mit einer Überschrift versehene Szene H4,3 mit Textmaterial aus Η 1,1 (HA I, S. 343, Z. 26-29), H2,3 (HA I, S. 348, Z. 10-13) und Η 1,1 (HA I, S. 343, Z. 32-35) auf und stellen Η 1,18 aus überzeugend dramaturgischen Gründen hinter H4,17. 2. Die von Büchner gestrichene Szene Η 1,3 wird von Poschmann nach Η 1,2 in den Text eingegliedert, von Dedner/Mayer dagegen nicht berücksichtigt. 3. Poschmann verwertet Η 1,8, indem er diese Szene vor H4,14 stellt. Dedner/Mayer dagegen betrachten diese Szene als eine von Büchner später verworfene Vorstufe (Woyzeck wird hier noch „Louis" genannt) und verwerten sie nicht. 4. Für die Szenen H4,7, deren überlieferte Position mit guten Gründen als nicht stimmig angesehen wird, steht eine Neupositionierung zur Debatte: Poschmann stellt H4,7 vor Η 4,10, Dedner/Mayer entscheiden sich für H4,7 vor H4,8. Poschmanns Versetzung von Η1,18 nach Η1,20 ist nicht gerechtfertigt. 18 5. Kontrovers ist vor allem die Beurteilung der Funktion von H3. Poschmann stellt Η3,1 vor Η4,4 und Η3,2 vor Η 1,21. Dedner/Mayer dagegen verzichten auf ihre Eingliederung in den Text, vermerken jedoch nach Η 1,21: „Folgt möglicherweise Η 3,2" mit Hinweis auf den „emendierten Text" in der Handschriftendokumentation. 5.1.4.

Lenz

Zu Lenz liegen keine handschriftlichen Textzeugen vor, und man kann darüber spekulieren, ob und welche Fehler möglicherweise die Abschrift (h*) enthalten haben mag, die Wilhemine Jaegle Gutzkow sandte. Wir können uns allein an den von Gutzkow veranstalteten Druck j (= d 1) in acht Nummern der Zeitschrift Telegraph für Deutschland (Januar 1839) halten, nachdem Gutzkows zweiter Druck d2 (in: Gutzkow: Mosaik. Novellen und Skizzen. Leipzig 1842) als ein von d l lediglich abgeleiteter und redigierter Textzeuge erkannt wurde. Auch d3 in Ν ist kein für die Textkonstitution brauchbarer Textzeuge. Seit dem von Hubert Gersch 1981 geführten Nachweis, 19 daß Ludwig Büchner d 1 redaktionell bearbeitet hat, ohne dabei auf eine Handschrift oder eine weitere Abschrift zurückzugreifen, muß sich die Edition auf Emendationen beschränken: Textabweichungen in d3 können nicht zur Verbesserung von d l herangezogen werden; auch von dem Versuch, „Lücken" (deutlich markiert in HA I, S. 83, Ζ. 11 und S. 92, Z. 25) mit Hilfe von Textstellen aus Oberlins Bericht zu füllen, hat 18

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Burghard Dedner: Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte - „geschlossene Form". In: Georg Büchner Jahrbuch 7, 1988/89, S. 144-170, hier S. 157, begründet, „warum die Kinderszene am Abend spielen und dort ihren Platz haben" muß, „wo Büchner sie notiert hat." Hubert Gersch: Georg Büchner. Lenz. Textkritik, Editionskritik, Kritische Edition. Diskussionsvorlage für das „Internationale Georg Büchner Symposium", Darmstadt, 25.-28. Juni 1981. Münster 1981 (als Manuskript vervielfältigt).

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man inzwischen Abstand genommen: HA I, S. 4 3 5 ^ 8 3 bietet zusätzlich zum Lesetext (HA I, 77-101) Oberlins Bericht in Gegenüberstellung mit Büchners Lenz. Zur Debatte steht lediglich die „Bereinigung um Druckfehler und mit hinlänglicher Sicherheit erkennbare Abschreibefehler" (MBA 5, S. 204). Wie auch immer man die von Gutzkow für j gewählte Einteilung in Abschnitte bewertet, d 1 enthält Phänomene, die man mit Lehmann (HA I, 83) als „Textverderbnis", als „Arbeitslücke" (MBA 5, S. 203) oder als „Überlieferungsdefekt" (PA I, S. 795) deuten kann. Sind sie Indizien für Spuren der Textgenese? Mit seiner hypothetischen Rekonstruktion der Textgenese löste Dedner 1995 eine fruchtbare Kontroverse20 aus und gab neue Impulse für die Beantwortung der Frage, ob der überlieferte Text als Fragment oder als ein (durch „Überlieferungsdefekte" lediglich beschädigtes) fertiges Werk anzusehen sei. Das Verdienst der MBA liegt in der dreifachen Perspektive: der hypothetischen Rekonstruktion der Textgenese,21 dem emendierten Text und dem quellenbezogenen Text. Über Oberlins Bericht hinaus werden (wiederum mit typographischer Markierung) gesicherte und nicht gesicherte Quellen geboten.22 5.1.5. Der Hessische Landbote Diese Flugschrift wurde von Ludwig Büchner in Ν nur in einer verstümmelten Fassung des Juli-Druckes ( d l ) wieder zugänglich gemacht. Schon der gekürzte Titel Der sehe Landbote verrät Rücksicht gegenüber dem Großherzogtum Hessen; in der Einleitung (N, S. 50) verhehlt Ludwig Büchner nicht, daß er Passagen gestrichen habe, die sich auf „ehemalige specielle Landesverhältnisse" beziehen, und er fügt hinzu: „Anderes würde noch heutzutage Staatsverbrechen involviren." Nach der ersten vollständigen Wiederveröffentlichung durch Karl Emil Franzos (F, S. 263-281) vergingen sechzehn Jahre bis zur ersten Einzelausgabe; Eduard David23 gab sie 1896 zu einem Zeitpunkt heraus, als die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" großen Aufschwung nahm und „Vorläufer der sozialistischen Bewegung" (S. 4) ins Blickfeld rückten. Seit Friedrich Noellners Actenmäßiger Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahren gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig (Darmstadt 1844, S. 102 und 107 f.) waren bereits Teile einer weiteren Fassung des Hessischen 20

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Burghard Dedner: Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese. In: Georg Büchner Jahrbuch 8, 1990— 94 [1995], S. 3-68. Hierzu die Kritik von Herbert Wender in Georg Büchner Jahrbuch 9, 1995-99 [2000], S. 350-370, Dedners Antwort ebd., S. 371-377, und Wenders Erwiderung ebd., S. 378-381. Dedner ordnet auf Grund „interner und externer Indizien" die „vermutlichen Manuskriptteile, die Gutzkow in der jeweiligen Abschrift durch Jaegl6 für den Druck nutzte" und damit eine Lesefassung herstellte (MBA 5, 204). Er setzt drei Enstehungsstufen an: Hl*: als ersten „etwa zu 70% quellenabhängigen" Entwurf; H2*: als zweite Entwurfsstufe, Integration der psychologischen Theorie; H3*: den Zuwachs an neuen Informationen über Oberlins und Lenz' südwest-alemannischen Freundeskreis sowie sprachliche Entlehnungen aus Goethes und Lenz' Werken. Unabhängig von MBA entstand die Arbeit von Michael Will: „Autopsie" und „reproduktive Phantasie". Quellenstudien zu Georg Büchners Erzählung Lenz. Textband und Editionsband. Würzburg 2000. Georg Büchner: Der hessische Landbote. Sowie des Verfassers Leben und politisches Wirken von Dr. Eduard David. München 1896 (Sammlung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze. 10).

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Landboten bekannt. Diese Fassung, der November-Druck (d2), kam erst 1939 aus Darmstädter Privatbesitz ans Licht. Bevor Thomas Michael Mayer und unabhängig von ihm auch Hans-Joachim Ruckhäberle bei der Durchsicht von Polizei- und Gerichtsakten aus der Vormärzzeit Anfang der 1970er Jahre auf weitere Exemplare des Juli- und November-Druckes stießen, war die Forschung auf die von Karl Vietor (Georg Büchner als Politiker. Bern, Leipzig 1939, S. 99-110) mitgeteilten Varianten und die Photokopie des im Krieg verbrannten Exemplars von d2 angewiesen. Zusammen mit dem damals im Büchner-Nachlaß nur als Unikat vorhandenen Juli-Druck bildete diese Kopie die Basis für den Paralleldruck Werner R. Lehmanns (HA II, S. 33-61). 1973 legte Eckhart G. Franz eine Faksimile-Ausgabe der beiden Drucke (Marburg: Elwert), 1976 Gerhard Schaub in Hansers Literatur-Kommentaren, seit 1980 auch in der Hanser-„Studienausgabe" sowie in MA und bei Reclam wiederum einen Paralleldruck vor.24 Offen ist das Problem der Verfasserschaftsanteile Büchners am Hessischen Landboten, an dem der Rektor der Butzbacher Lateinschule Friedrich Ludwig Weidig wesentlichen Anteil hatte. Schon Franzos (F, S. 285 f.) bemühte sich um eine Trennung der vermuteten Weidigschen und Büchnerschen Formulierungen, die Eduard David und später auch Fritz Bergemann mit Hilfe verschiedener Drucktypen zu markieren versuchten, doch Werner R. Lehmann, Gerhard Schaub und Henri Poschmann verzichten auf dieses Hilfsmittel, das nur dann hilfreich wäre, wenn es gelänge, einzelne Verfasserschaftsanteile aufgrund sicherer Kriterien exakt zu bestimmen. Durch die Verhöraussagen August Beckers ist belegt, daß es eine eigenhändige Niederschrift Büchners (H*) gab, die Becker „in's Reine geschrieben" hat, weil Büchners „Hand durchaus unleserlich war" (Noellner, S. 423). Weiter geht aus diesen Aussagen hervor, daß der Vorbericht, „die biblischen Stellen, sowie überhaupt der Schluß" von Weidig in den Text hineingebracht worden sein sollen. Der Archetypus H* wäre nur durch die Eliminierung der Redaktionsanteile zu gewinnen, die in d2, dem autorferneren Text, noch schwieriger auseinanderzuhalten sind, da für den November-Druck auch der Marburger Privatdozent und Arzt Leopold Eichelberg als Mitarbeiter nachgewiesen wurde. PA bietet d 1 als Lesetext (II, S. 53-66) und in den „Materialien zu den Schriften" d 1 und d2 im Paralleldruck (II, S. 472-503). 5.2.

Briefe

1850 druckte Ludwig Büchner (in Verbindung mit seinen Geschwistern Luise und Alexander) unter dem Titel Aus den Briefen an die Familie (N, S. 237-280 und zitatweise in der biographischen Einleitung) Auszüge aus Briefen, deren genauen Adressaten, Büchners Bruder Wilhelm, wir nur in zwei Fällen (HA, Nr. 37; HA, Nr. 63) ken-

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Vgl. zur rhetorischen Struktur des Textes Gerhard Schaub; Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. Bern, Frankfurt/Main 1975 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. 3).

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nen und in einem Fall (HA, Nr. 58) 25 erschließen können. Für die übrigen liegt aufgrund der beiden erhaltenen Antwortbriefe der Mutter Caroline und des Vaters Emst die Annahme nahe, daß die meisten Briefe entweder an die Eltern gemeinsam oder jeweils an den Vater bzw. die Mutter gerichtet sind. Daneben teilte er unter dem Titel Briefe an die Braut, aus Gießen, 1833 und 1834 (N, S. 281-287) fünf Briefauszüge mit und integrierte weitere Auszüge aus Büchners Zürcher Briefen in die biographische Einleitung; Wilhelmine Jaegle, die Gutzkow ein Heft mit Briefauszügen zur Verfügung gestellt hatte, das dieser danach Luise Büchner überließ, verweigerte nach dieser als Indiskretion empfundenen Veröffentlichung weitere Informationen. Gutzkow gab 1837 in seinem Nachruf auf Büchner einige an ihn gerichtete Briefe aus Zensurrücksichten nur in Auszügen preis; der konspirative Brief, den Büchner ihm ins Mannheimer Gefängnis geschickt hatte (HA, Nr. 52), wurde erst 1923 entdeckt. Als Gutzkow die Briefe ein Jahr später in seinem Buch Götter, Helden, Don-Quixote (Hamburg 1838, S. 19-50) wieder abdruckte und ergänzte, fügte er einen undatierten Briefauszug (HA, Nr. 39) hinzu, der jenen zum „Geflügelten Wort" gewordenen Satz enthält: „das Verhältniß zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt." Nach Charles Andlers Publikation der Briefe Gutzkows an Büchner 26 zeichnet sich wenigstens hier ein „Briefwechsel" ab. Die Crux der Briefüberlieferung liegt nicht allein in der Scheu der Adressaten im engsten Familienkreis, Privates an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und in der politischen Vorsicht der Freunde Büchners, sondern auch in der Qualität der Exzerpte und Abschriften: Das Herauslösen von Stellen aus dem Kontext, Abschreibe- und Datierungsfehler, Texteingriffe und die Vernachlässigung der Schreibgewohnheiten Büchners mindern vielfach den Informationswert. Be bot 1922 60 Briefeinheiten und konnte in den folgenden Auflagen bis 1965 fünf Briefe hinzufügen. HA vermehrte den Bestand um einen weiteren Brief. Danach wurden sechs wiederentdeckte Briefe in die „Kritische Studienausgabe" Hauschilds und in PA integriert, 27 umstritten sind Briefstellen, die man aus den „Briefen an die Familie" zu isolieren versuchte. 28 Eine Sonderstellung nimmt Hauschilds Edition ein. 29 Sie nähert sich dem Editionstyp der „Lebensspuren" an, den Helmut Sembdner nach einer Idee Eva Rothes für Heinrich von Kleist seit 1957 bis 1992 in ständig erweiterten 25 26

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Hauschild weist ihn (Nr. 164) der Gruppe „An die Familie in Darmstadt" zu. Charles Andler: Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. In: Euphorion 4, 1897, Erg.-H., S. 181-193. MA bietet dagegen nur vier Briefe (Nr. 4, 6, 14 und 64); auch in der dtv-Ausgabe, 8. Aufl. Januar 2001 fehlen noch die Briefe an Wilhelm Braubach vom 26. Januar 1836 und an Georg Geilfus vom 25. Juli 1836, beide erstmals 1993 publiziert. HA Nr. 38 sieht den in der Einleitung von Ν zitierten (als an Wilhelm Büchner gerichteten) Text, den Be, S. 548, letzte Zeile v.u. bis S. 549, Z. 5, dem Brief an Wilhelm Büchner, „Straßburg im Juli 1835" zuschlägt, als Fragment eines eigenständiges Briefes „an unbekannten Empfänger" an (so auch MA Nr. 41). Hauschild Nr. 177 und PA II, S. 458, Z. 5 ff. bieten ihn gleichfalls als Fragment eines eigenständigen Briefes an Wilhelm Büchner, datieren ihn jedoch unterschiedlich (Hauschild: „Zürich, 1836/37?"; Poschmann: November 1836). Hierzu kritisch Thomas Michael Mayer in Georg Büchner Jahrbuch 9, 1 9 9 5 - 9 9 [2000], S. 289f., Anm. 27 und S. 475, Anm. 315.

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Auflagen realisiert hat. Hauschild reichert das gesicherte Briefkorpus mit „briefahnlichen Dokumenten" (Albumblätter, Aktenschriftstücken, Bescheinigungen, Widmungen, Zeugnissen) an und verfolgt das schon von Franzos „eingeführte Prinzip, auch erschlossene Briefe wiederzugeben, sofern sie sich mit einem Originalzitat belegen lassen"; darüber hinaus versucht er eine Dokumentation der „sicher zu erschließenden Briefe von und an Büchner". Problematisch ist die versuchte Rückversetzung der Rechtschreibung aus der Zeit der Überlieferung der Briefe in die Zeit ihrer Niederschrift. Hinsichtlich der angemessenen Positionierung der an Büchner gerichteten Briefe wurden unterschiedliche Lösungen erprobt: Bergemann (23), Lehmann (24) und MA (25) bieten sie im Anhang, Poschmann (25) ordnet sie wie Hauschild (25) in die Chronologie der Briefe Büchners ein. 5.3.

Die .anderen' Texte

Neben den beiden Victor Hugo-Übersetzungen (Be, S. 369-520) gehören auch die „Naturwissenschaftlichen und Philosophischen Schriften" (Be, S. 179-367), die „Poetischen Ansätze" (Be, S. 573-577) sowie die „Schulaufsätze und Schulreden" (Be, S. 578-604) in eine Gesamtausgabe. Am vollständigsten wiedergegeben wird dieser Komplex von Lehmann, der im Anhang erstmals die Exzerpte zur Geschichte der Griechischen Philosophie (HA II, S. 303-409) bietet, auf die PA verzichtet; dort werden unter den „Materialien" (PA II, S. 618-624) erstmals die Exzerpte aus Herbart geboten. In allen Ausgaben enthalten ist die Probevorlesung Über Schädelnerven. Hinsichtlich der „Poetischen Ansätze" sowie der „Schulaufsätze und Schulreden" (HAI, S. 183-189: „Poetische Miszellaneen"; II, S. 5-32: „Schriften aus der Gymnasialzeit") hat sich ein von Be begründeter Kanon herausgebildet, dessen Ansätze schon in F erkennbar sind; Poschmann wählte die Titel „Frühe poetische Zueignungen" (II, S. 13-17) und „Schulreden und Aufsätze" (II, S. 18^3). Erste Gruppe: (1) Be, S. 573f.: [Dem Vater zugedacht]; HA I, S. 185: Fragment einer Erzählung. Dem Vater zugedacht; PA II, S. 13f.: (...von der Brandung)·, (2) Be, S. 374: [Der Mutter]; zuvor F, S. 393 f. u.d.T.: Der besten Mutter, HA I, S. 186: Gebadet in des Meeres blauer Flut, PA II, S. 14f.: Ohne Titel; (3) Be, S. 575f.; zuvor F, S. 397, HA I, S. 187f., PA II, S. 15: Die Nacht, (4) Be, S. 576, HA I, S. 188f., PA II, S. 16f.: „Leise hinter düstrem Nachtgewölke"; zuvor F, S. 394f. u.d.T.: Vergänglichkeit.,30 Zweite Gruppe: (1) Be, S. 579-589: Heldentod der vierhundert Pforzheimer; HA II, S. 7-16, PA II, S. 18-28; (2) Be, S. 589f.: Über den Traum eines Arkadiers, HA II, S. 17, PA II, S. 29; (3) Be, S. 590-596: [Kritik an einem Aufsatz über den Selbstmord]; HA II, S. 19-23: Über den Selbstmord. Eine Rezension; PA II, S. 38^t3: (Über den

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HA I, S. 189 bietet noch vier Variante Zeilen zu diesem Gedicht als eigenen Text, so auch MA, S. 13.

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Selbstmord); (4) Be, S. 596-604: [Kato von Utika];31 zuvor F, S. 3 9 8 ^ 0 8 u.d.T.: Cato Uticensis; HA II, S. 25-32: Rede zur Vertheidigung des Cato von Utika; PA II, S. SOSS: (Kato von Utika). PA II, S. 44-49 bietet noch „Glossen und Reminiszenzen". Aus dem Kanon ausgeschieden wurde Be, S. 578 f. (Über die Freundschaft), da Lehmann diesen Text als Diktataufsatz identifizierte. Von den beiden Naturwissenschaftlichen Schriften wirft nur die von Büchner am 5. November 1836 an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich gehaltene Probevorlesung Über Schädelnerven textkritische Probleme auf, da Η den Textanfang (einen Bogen) nicht überliefert, der jedoch durch den Teilabdruck Ν ergänzt werden kann; Ludwig Büchner scheint ihn für die Drucklegung verwendet zu haben, durch die er dann verlorenging. N, S. 291-294 bietet allerdings nur einen verkürzten Abdruck des verschollenen ersten und den Anfang des ersten überlieferten Bogens. F, S. 291295 enthält einen gegenüber Ν erweiterten Teildruck. Erst Be, S. 355-367 bringt den gesamten überlieferten Text; Hans Fischer, Arzt am Gerichtlich-Medizinischen Institut der Universität Zürich half, die durch Mäusefraß entstandenen Lücken in Η zu rekonstruieren. Der Titel ist nicht überliefert; man folgt der Titelgebung in F (üeber Schädelnerven). Die Wiedergabe der Promotionsschrift Büchners Memoire sur le systeme nerveux du barbeau kann sich auf Ε (Memoires de la Societe du Museum d'histoire naturelle de Strasbourg. T. 2, livr. 2. Strasbourg [1837]) stützen. Erst durch die Übersetzung von Otto Döhner,32 die PA II, S. 504-600 in seine Ausgabe übernahm, ist der Text fur eine intensivere Rezeption verfugbar geworden. Im Büchner-Nachlaß befinden sich auch zwei Textträger für Philosophische Schriften, die zwar schon das Interesse von Karl Emil Franzos fanden, aber von Bergemann noch nicht in Gänze publiziert wurden: (1) Cartesius: F, S. 311-317 (Auszug u.d.T.: Das System des Cartesius)·, Be, S. 251-320 (mit Kürzungen); (2) Spinoza'. F, S. 307310 (Auszug u.d.T.: Das System des Spinoza)-, Be, S. 321-352 (Leseproben). Erst Lehmanns vollständige Edition HA II, S. 137-226 und 227-290 hat den Weg für die angemessene Rezeption der Texte bereitet, deren Rahmen PA II, S. 173-279 (Cartesius. Principia Philosophiae. (Philosophie als Wissenschaft), II, S. 280-352: Spinoza) abgesteckt hat. Franzos fand auch Interesse an einer Handschrift (34 Doppelbogenblatt), aus der F, S. 303-306 u.d.T. Thaies und Die Ethik des Epikur mitteilte. Lehmann bot HA II, S. 3 0 2 ^ 0 9 den gesamten Text dieses Überlieferungsträgers unter dem Titel Geschichte der Griechischen Philosophie. Exzerpte aus dem Tennemann als „Anhang zu den Philosophischen Schriften". Nach der völligen Neutranskription der Philosophischen und der Schülerskripten Büchners durch Eske Bockelmann wird man nach neuen editorischen Lösungen (vgl. Marburger Denkschrift, S. 157-169) suchen.

31

32

Vgl. zur unterschiedlichen Beurteilung der Beschaffenheit des Textzeugen und zur Editionsproblematik Thomas Michael Mayer in der Studienausgabe zu Leonce und Lena., Frankftirt/Main 1987, S. 121, Anm. 119, und PA II, S. 776ff. Georg Büchner: Mimoire sur le systeme nerveux du barbeau. Übersetzung von Otto Döhner (Hannover) mit Anmerkungen von Otto Döhner und Udo Roth (Marburg). In: Georg Büchner Jahrbuch 8, 1990-94 [1995], S. 305-370.

26 6.

Klaus Kanzog

Dokumente und Erläuterungen als Begleittexte

1922 mußte Bergemann im „Schlußbericht" die Anreicherung von Be durch „biographisches und philologisches Beiwerk" rechtfertigen, danach unterwarf er sich wieder dem Prinzip der Klassiker-Ausgaben des Insel-Verlags, „allein den Autor zu Worte kommen zu lassen". Lehmann nahm dann als erster eine umfassende wissenschaftliche Kommentierung der Werke in Angriff, erkannte aber, daß sie die Arbeitskraft eines Einzelnen überfordert. Mit den „Dokumentationen zur Stoffgeschichte" - Oberlins Bericht über Lenz und die Gutachten des Hofrats Clarus zum Fall Woyzeck - machte er dem Leser die Notwendigkeit der Einbeziehung der Quellen in die Edition bewußt, die nicht nur im Stellenkommentar punktuell präsent sein dürfen. Es ist ein Verdienst der MBA, ein neuartiges Verfahren entwickelt zu haben, durch das der Quellenbezug Büchners unmittelbar erfahrbar wird. Bevor der Hanser-Verlag den Kommentar für HA nachzuholen versuchte, hatten der Reclam-Verlag mit den Erläuterungen und Dokumenten in der Universal-Bibliothek und der Winkler-Verlag mit einer Reihe handlicher ,Dichter-Kommentare' auch für die Kommentierung der Werke Büchners eine neue Publikationsbasis geschaffen. Walter Hinderers Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk (1977) bewährte sich in der Lehre einige Zeit als ,Vademecum'. Lothar Bornscheuers Woyzeck-Kommentar von 1972 wurde zwar 2000 von Dedners WoyzeckKommentar abgelöst, lieferte jedoch ein praktikables Modell. Poschmann mußte sich in PA den Rahmenbedingungen für die Bibliothek deutscher Klassiker anpassen, bezieht aber verstärkt Dokumente, Kontexte und Zeugnisse zur Rezeptionsgeschichte ein und legt die Stellenkommentare breit an. Diese ,Hilfen' für die Interpretation der Texte Büchners sind komplementär benutzbar, wenn man dabei bedenkt, was für wen hier und in anderen Kommentaren jeweils bereitgestellt wird. Die von der MBA im Kernbereich der Erläuterungen und quellenbezogenen Lektüre gebotenen Informationen wurden bereits für Reclams Erläuterungen und Dokumente genutzt. Die MBA hat auch den Weg fur die Überwindung der assoziierenden Aneignung der Werke durch eine disziplinierte Kommentarsprache bereitet.

Literaturverzeichnis Editionen Gesamtausgaben Georg Büchner: Nachgelassene Schriften. [Hrsg. von Ludwig Büchner.] Frankfurt/Main: Sauerländer 1850. IN] Georg Büchner: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste krit. Gesammt-Ausgabe. Eingeleitet und hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt/Main: J.D. Sauerländer 1879. [F] - 2., billige Ausgabe Berlin: Concordia 1902. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. A u f Grund des handschriftlichen Nachlasses Georg Büchners hrsg. von Fritz Bergemann. Leipzig: Insel 1922, 834 S. [Be] - [Ausgabe 1926:] 513 S. [Seitdem ohne Lesartenapparat].

Büchner-Editionen

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Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. 2 Bde. Hamburg: Wegner 1967-1971 [Auf drei Bände angelegt, Bd. 3 ist nicht erschienen], [HA] Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pömbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. Nachwort von Werner R. Lehmann. München, Wien: Hanser 1980. [Auch im Vertrieb der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft]. Als Lizenzausgabe, gekürzt um das Nachwort von Wemer R. Lehmann: München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1980, 6. Aufl. 1985 (dtv. 2065). Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. Dokumente zur Textgeschichte eines zensierten Werks - Originalzeugen für die Edition. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. Frankfurt/Main: Athenäum 1985. [I. Der Hessische Landbote, Juli-Druck 1834; II. Der hessische Landbote. November-Druck 1834; III. Danton's Tod. Phönix. - Vorabdruck; IV. Danton's Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft (Widmungsexemplar für Johann Wilhelm Baum); V. Victor Hugo: Lucretia Borgia und Maria Tudor. Übersetzungen; VI. Memoire sur le systime nerveaux du barbeau; VII. Leonce und Lena. Ein Lustspiel (Telegraph 1838); VIII. Lenz. Eine Reliqiue; IX. Wilhelm Schulz. Karl Gutzkow. Nachrufe auf Büchner, 1837; X. Wozzeck. Ein Trauerspiel-Fragment (Oktober 1878) hrsg. von Karl Emil Franzos]. Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pömbacher, Gerhard Schaub, HansJoachim Simm und Edda Ziegler. Redaktionelle Betreuung: Heide Hollmer. München: Hanser 1988. [MA] - [Auch im Vertrieb der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, jetzt nicht mehr im Programm], Als Lizenzausgabe: München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1988, 10. Aufl. 2004 (dtv. 12374). Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992/99 (Bibliothek deutscher Klassiker. 84, 168). [PA] Danach: Frankfurt/Main: Insel 2002 (insel taschenbuch). Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000ff. [MBA] - [Bisher:] Bd. 3, l ^ t (Danton s Tod), Bd. 5 {Lenz) und Bd. 6 (Leonce und Lena).

Studienausgaben Georg Büchner: Danton's Tod. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner. Dantons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen. Ein Theaterlesebuch. Frankfurt/Main: Syndikat 1980,2. Aufl. 1985, S. 7-74. Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner. Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer und E. Theodor Voss. Frankfurt/Main: Athenäum 1987, S. 7-153. Georg Büchner: Woyzeck. Kritisch hrsg. von Egon Krause. Frankfurt/Main: Insel 1969. Buch, Wilfried: Woyzeck. Fassungen und Wandlungen. Dortmund: Crüwell 1970. Georg Büchner: Woyzeck. Kritische Lese- und Arbeitsausgabe. Hrsg. von Lothar Bomscheuer. Stuttgart: Reclam 1972. Nachdruck 1989 (Universal-Bibliothek. 9347). Georg Büchner: Woyzeck. Faksimile-Ausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. Faksimile, Transkription. Mit Kommentar und Lesartenverzeichnis. Edition Leipzig, Lizenzausgabe Wiesbaden: Reichert 1981 (Manu scripta. 1). Georg Büchner: Woyzeck. Nach den Handschriften neu hergestellt und kommentiert von Henri Poschmann. Leipzig: Insel 1984 (Insel-Bücherei. 1056). Lizenzausgabe Frankfurt/Main: Insel 1985; 3. Aufl. 1989 (insel taschenbuch. 846). Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer hrsg. von Burghard Dedner. Stuttgart: Reclam 1999. Nachdruck 2004 (Universal-Bibliothek. 18007). Georg Büchner: Woyzeck. Faksimile, Transkription, Emendation und Lesetext. Buch- und CD-Rom-Ausgabe. Hrsg. von Enrico De Angelis. München: Saur 2000. Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Hrsg. von Hubert Gersch. Stuttgart: Reclam 1984. Mit Quellenanhang und Nachwort durchgesehene und erweiterte Aufl. 1998. Nachdruck 2004 (Universal-Bibliothek. 8210). Georg Büchner: Lenz. Neu hergestellt und kommentiert und mit zahlreichen Materialien versehen von Burghard Dedner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998; 2. Aufl. 2002 (Basis-Bibliothek. 4).

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Georg Büchner: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. Hrsg. von Gerhard Schaub. München: Hanser 1976 (Literatur-Kommentare. 1) (Reihe Hanser. 202). Georg Büchner / Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. von Gerhard Schaub. Stuttgart: Reclam 1996 (Universal-Bibliothek. 9486).

Kommentare Hinderer, Walter: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München: Winkler 1977. Bornscheuer, Lothar (Hrsg.): Georg Büchner. Woyzeck. Stuttgart: Reclam 1972 (Erläuterungen und Dokumente) (Universal-Bibliothek. 8117). Dedner, Burghard: Georg Büchner. Woyzeck. Unter Mitarbeit von Gerald Funk und Christian Schmidt. Stuttgart: Reclam 2000 (Erläuterungen und Dokumente) (Universal-Bibliothek. 16013). Funk, Gerald: Georg Büchner. Dantons Tod. Stuttgart: Reclam 2002 (Erläuterungen und Dokumente) (Universal-Bibliothek. 16034).

Gunter Martens

Celan-Editionen

1.

Die zuverlässigste und zugleich umfassendste Grundlage für jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Paul Celans bietet die von der Bonner Arbeitsstelle besorgte und seit 1990 erscheinende historisch-kritische Ausgabe (BCA), von der bislang freilich erst neun Doppelbände in der Abteilung I Lyrik und Prosa erschienen sind. Eine in Tübingen erarbeitete Studienausgabe (TCA) setzt sich zum Ziel, die vielfaltige und teilweise komplexe Textüberlieferung durch Auswahl der wiedergegebenen Vorstufen zu vereinfachen und durch eine Systematisierung der genetischen Darstellung einem weiteren Nutzerkreis zugänglich zu machen. Die Tübinger Edition, deren Abschluß mit dem neunten Band fur 2005 geplant ist, berücksichtigt allerdings allein die von Celan selbst in seiner Pariser Zeit zusammengestellten und autorisierten Lyriksammlungen sowie die Büchner-Preis-Rede Der Meridian. Als reine Leseausgabe wenden sich die bereits 1983 in fünf Bänden erschienenen Gesammelten Werke an ein breiteres Publikum: Sie umfassen alle vom Dichter selbst veröffentlichten oder für den Druck vorbereiteten Texte einschließlich der Prosa und der Übersetzungen mit einzelnen Ergänzungen aus dem Nachlaß. Weitere Teile des Nachlasses erschließen Sammlungen von Texten aus dem Frühwerk (1989) sowie der Gedichte aus dem Nachlaß (1997). Von Barbara Wiedemann, die bereits die beiden zuvor genannten Ausgaben mit herausgegeben hatte, ist 2003 ein erster, wenn auch nicht unproblematischer Versuch einer Kommentierten Gesamtausgabe der Gedichte vorgelegt worden.

2. Die Herausgabe des dichterischen Gesamtwerks Paul Celans kann auf eine geradezu ideal zu nennende Ausgangsposition zurückgreifen: Der Autor hat nicht nur mit großer Sorgsamkeit die Publikation seiner Texte vorbereitet und deren Drucklegung überwacht, er hat darüber hinaus insbesondere in seinem letzten Lebensjahrzehnt fast alle Textzeugen zur Genese der Gedichte (und auch der wenigen Prosaschriften) genau datiert und in beschrifteten Mappen abgelegt.

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30 2.1.

Eine Ausnahme bildet allein das Frühwerk, dessen Überlieferung viele Fragen aufwirft. Eine erste Auswahl aus diesem Schaffensabschnitt stellte Celan bereits in der 1948 in Wien erschienenen Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen zusammen. Allerdings hatte er wegen seines Umzugs nach Frankreich keine Gelegenheit, selbst die Druckfahnen durchzusehen. Als er nachträglich eine Fülle zum Teil sinnentstellender Druckfehler entdeckte, „zog er den Band zurück" und versagte auch späterhin seine Zustimmung zu einem Neudruck. 1 Einen Teil der Gedichte, so auch die Todesfuge, die seinen Ruhm als Dichter begründete, übernahm er in die 1952 erschienene Sammlung Mohn und Gedächtnis. Dieser erste in Paris zusammengestellte Gedichtband zeigt schon die spezifische Arbeitsweise, mit der Celan nunmehr an die Publikation der eigenen Texte ging. Auswahl und insbesondere Komposition der Gedichte wurden mit Bedacht und großer Sorgfalt vollzogen, die Druckvorlagen mehrfach durchgesehen oder auch neu geschrieben und die Drucklegung bis zur Auslieferung durch den Verlag kritisch verfolgt. Das Ergebnis sind Texte, die für die späteren Herausgeber so gut wie keine Probleme aufgeben und nur in seltenen Ausnahmefällen korrigiert werden mußten. Das gilt in gleicher Weise für alle in den Folgejahren von Celan selbst zum Druck gebrachten Lyriksammlungen: Von Schwelle zu Schwelle (1955), Sprachgitter (1959), Die Niemandsrose (1963), Atemwende (1967) und Fadensonnen (1968). 2.2.

Auch die Druckvorlage für den Band Lichtzwang, der im Sommer 1970 bei Suhrkamp erschien, hatte Celan Anfang März 1970 - etwa sechs Wochen vor seinem Tod - an den Verlag geschickt. Die Korrekturfahnen erreichten ihn allerdings nicht mehr. So muß dieser Druck entgegen früheren Beteuerungen der Herausgeber 2 im strengen Sinn bereits als eine Nachlaßpublikation bewertet werden. Denn Celans Gewohnheit, auch noch während der Drucklegung Veränderungen in der Abfolge der Gedichte, im Wortlaut, in der Interpunktion und in der Versaufteilung vorzunehmen, läßt eine endgültige Autorisation der postum erschienenen Textgestalt als äußerst fraglich erscheinen. Das gilt erst recht für den Sammelband Schneepart (1971); unter diesem Titel fanden sich zwar im Nachlaß sehr weit gediehene Zusammenstellungen von Gedichten aus den Jahren 1967/68 und vor allem eine Reinschrift, die der Dichter im September 1969 seiner Frau übergeben hatte, doch selbst in dieser sorgfältig angelegten Niederschrift verweisen eine im Ansatz steckengebliebene zyklische Gliederung und vor allem ein Inhaltsverzeichnis, das bei der Aufführung eines mit Bleistift gestrichenen Gedichtes 3

1 2 3

Vgl. dazu das editorische Nachwort in: Celan, GW, Bd. 3, S. 210. Vgl. z.B. das editorische Nachwort in: Celan, GW, Bd. 1, S. 298. Vgl. hierzu die editorische Vorbemerkung zu BCA, Bd. 10,2, S. 9-13, sowie die Beschreibung der Sammelzeugen AI 1 und AI 2, ebd., S. 21-30.

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abbricht, auf eine Vorläufigkeit, die bei einer fortgeführten Vorbereitung für eine Drucklegung zweifellos zu weitergehenden Veränderungen geführt hätte. 2.3.

Texte, die Celan nicht in seine Gedichtsammlungen aufnahm oder später aus den Zyklen wieder ausschied, sammelte er in Mappen, die er mit Aufschriften wie „Aus Niemandsrose: nicht zur Veröffentlichung aufgenommen" oder „Umkreis ,Lichtzwang'" versah. Ebenso beschriftete er Titellisten, Vorstufen, Durchschläge von Typoskripten und legte sie in Mappen ab, so daß sich eine fast lückenlose Dokumentation der Genese jener Gedichte ergab, die er für aufhebenswert erachtete. Selbst Mappen mit der Aufschrift „nicht veröffentlichen!" und „Niemals veröffentlichen!"4 sind mehrfach überliefert, eine Anweisung, die freilich mit der Tatsache, daß Celan die entsprechenden Textzeugen nicht selbst vernichtete, in Kollision gerät. „Beides, das Publikationsverbot wie auch der Akt des Bewahrens, muß als Teil des einen letzten Willens gesehen werden", bemerkt mit Recht Barbara Wiedemann5 und sieht hierin für jeden Nachlaßherausgeber den Ansatz, sich über die Willensäußerungen des Dichters hinwegzusetzen. Vernichtet hat Celan allerdings weitgehend Spuren aus der Textgenese, die auf Stationen vor einem gewissen Fertigkeitsgrad der Gedichte zurückgehen. In ihrem Vorläufigen Editorischen Bericht sprechen die Herausgeber der historisch-kritischen Celan-Ausgabe, einen vom Dichter selbst geprägten Begriff aufgreifend, von einem „qualitativen Wechsel",6 mit dem zunächst in Listen festgehaltene Wörter, Lesenotizen, einzelne Bilder und Verse in den Status von Gedichten übergehen. Diese „Materialien" aus der Zeit vor der eigentlichen Gedichtfixierung sind zumeist „von Celan selbst nicht zusammengestellt" worden und „nur sehr bruchstückhaft, zufallig und verstreut" überliefert.7 2.4.

Ein ähnliches Bild eines mit großem Verantwortungsbewußtsein vorgehenden Herausgebers und Archivars der eigenen schriftstellerischen Produktion zeigen auch die Prosaschriften sowie - mit einigen Abstrichen - die Übersetzungen aus sieben Fremdsprachen. Insbesondere die „Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises" Der Meridian (1961) ist in einer Fülle von Zeugnissen dokumentiert, die von ersten Aufzeichnungen bis hin zu den sorgfältig durchkorrigierten Druckfahnen reichen. Die Übersetzungsarbeit trägt freilich in manchen Fällen die Merkmale einer nicht mit der gleichen Akribie durchgeführten Gelegenheitsarbeit. So sah sich der Verlag Kiepen-

4 5 6

7

BCA, Bd. 10,2, S . 4 6 f . GNL, S. 332. In einem Brief an Hans Bender spricht Celan von einem „qualitativen Wechsel [...], den das Wort erfährt, um zum Wort des Gedichtes zu werden" (zit. nach Lohr 1996, S. 14). Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 200f. und 203.

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heuer und Witsch, der bei Celan die Übersetzung von zwei Kriminalromanen von George Simenon in Auftrag gegeben hatte, zumindest im Fall des Romans Maigret und die schrecklichen Kinder (1955) zu umfangreichen Nachbesserungen der offenbar unter erheblichem Zeitdruck entstandenen Arbeit gezwungen. 8 Den größten Teil seiner „Übertragungen" betrachtete Celan jedoch als gleichrangig neben seinen eigenen Dichtungen. 9 Für die adäquate Umsetzung ausgewählter Texte von Rimbaud, Verlaine und Michaux, von Jessenin, Majakowski und Mandelstam, von Shakespeare, Dickenson, Ungaretti und vielen anderen wandte er viel Zeit und Mühe auf, und die reichlich überlieferten Zeugnisse dieser oftmals sehr aufwendigen Arbeit geben Einblick in eine theoretisch vielfach reflektierte Praxis moderner Übersetzungskunst.

3. Der verantwortungsvolle Umgang mit den Zeugen der eigenen dichterischen Produktivität hat Celan bewogen, schon zu Lebzeiten sich um die editorische Pflege seines literarischen Nachlasses zu kümmern. Beda Allemann war der Philologe seines Vertrauens; mit ihm hatte er seit Ende der fünfziger Jahre intensiv Fragen seiner Poetologie diskutiert, hatte sich durch die Arbeiten des deutsch-schweizer Literaturwissenschaftlers anregen lassen und mit ihm bei den zahlreichen persönlichen Begegnungen Probleme der Dichtungstheorie besprochen. 10 So war es denn auch kein Zufall, wenn Celan im Dezember 1967 Allemann als denjenigen bestimmte, der im Falle seines Ablebens eine Edition seines dichterischen CEuvres betreuen sollte. Auf einem Bogen, der im Allemann-Nachlaß des Deutschen Literaturarchivs (Marbach/Neckar) verwahrt wird, bat er in Form einer handschriftlichen ,,letztwillige[n] Verfugung" - zur Enttäuschung manches anderen Vertrauten seiner Pariser Jahre - den in Bonn tätigen Germanisten, seine Hilfe und sein Wissen für eine künftige Edition zur Verfügung zu stellen: S ' i l m'arrivait q u e l q u e c h o s e : [·•·] Je s o u h a i t e q u ' u n e e d i t i o n d e m e s p o e m e s et d e m e s t r a d u c t i o n s d e p o e s i e a n g l a i s e , russe, fran^aise p a r u i s s e a u x E d i t i o n s S u h r k a m p et j e prie B e d a A l l e m a n n d ' y apporter s o n a i d e et s o n savoir. Paul Celan11

8 9

10

11

Vgl. Gellhaus u.a. 1997, S. 2 3 5 - 2 4 9 . Vorbereitungen für einen Sammelband hatte Celan noch in den Monaten vor seinem Tod in die Wege geleitet. Vgl. dazu Allemann/Bücher 1977, S. 85. Vgl. dazu im einzelnen den Briefwechsels zwischen Celan und Allemann, dessen Herausgabe durch Axel Gellhaus zur Zeit vorbereitet wird. DLA. - Ich danke Axel Gellhaus für seinen Hinweis auf die testamentarische Verfügung vom 15.12.1967 und für weitere Informationen über die Beziehung Paul Celans zu Beda Allemann. Der zitierte Text wurde - allerdings ohne die einleitende Bestimmung - bereits veröffentlicht in Allemann/Bücher 1977, S. 86.

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4. Noch zu Lebzeiten Celans hatte Allemann eine in der edition suhrkamp erschienene kleine Auswahl aus dem dichterischen Werk seines Pariser Freundes besorgt und mit einem heute noch lesenswerten Nachwort versehen.12 Nach dem frühen Tod Celans (1970) ging er sodann sehr bald an die ihm anvertraute editorische Arbeit. 1975 erschien in der Bibliothek Suhrkamp unter dem Titel Gedichte der „Kernbestand der Celanschen Lyrik":13 die acht von Celan selbst veröffentlichten bzw. für den Druck vorbereiteten Gedichtsammlungen einschließlich der postum erschienenen Bände Lichtzwang und Schneepart, allerdings ohne den vom Dichter zurückgezogenen Band Der Sand aus den Urnen. Die als „Lese-Ausgabe" sich ausgebende Sammlung bietet immerhin einen kritisch durchgesehenen Textbestand. Die von Celan ohnehin mit großer Sorgfalt kontrollierten Sammlungen konnten noch einmal auf Grund der Handexemplare des Dichters und unter Berücksichtigung der Druckvorlagen in Einzelfällen korrigiert werden, so daß die Textwiedergabe insgesamt als weitgehend zuverlässig angesehen werden kann. Das gilt auch für die zyklische Gliederung der Gedichte, auf die Celan stets einen besonderen Wert gelegt hatte, und für die vom Dichter festgelegte typographische Präsentation im Druck. Die beiden Gedichtbände konnten denn auch ohne weitere Veränderung in die 1983 erschienene Ausgabe der Gesammelten Werke übernommen werden. Neben Beda Allemann zeichnete nunmehr Stefan Reichert als verantwortlicher Mitherausgeber. Den Bänden 1 und 2 mit den 1975 bereits erschienenen „autorisierten" Sammlungen der Gedichte folgten in Band 3 der Wiederabdruck des Gedichtbandes Der Sand aus den Urnen, eine bereits 1976 unter dem Titel Zeitgehöft postum erschienene Zusammenstellung nachgelassener Gedichte sowie eine Abteilung Verstreuter Gedichte mit außerhalb der Sammlungen erschienenen Gedichten Celans. In Band 3 nahmen die Herausgeber außerdem die erzählende und poetologische Prosa Celans auf, so das Gespräch im Gebirg und die Reden anläßlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises und des Georg-Büchner-Preises {Der Meridian). Alle Texte des Bandes sind wiederum sorgfältig kritisch durchgesehen; insbesondere für die Sammlung Der Sand aus den Urnen konnten auf Grund der korrigierten Handexemplare des Dichters die zum Teil sinnentstellenden Druckfehler beseitigt werden. Besonders verdienstvoll war in den Bänden 4 und 5 eine erste Gesamtausgabe der bislang nur in verstreuten Einzeldrukken zugänglichen Übertragungen Paul Celans ins Deutsche. Unter Ausschluß einzelner „Gelegenheitsarbeiten" und jener Übersetzungen der letzten Lebensmonate, die Celan nicht mehr druckfertig machen konnte, bietet die Ausgabe einen umfassenden Einblick 12

13

Paul Celan: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. - Der Band enthalt neben einer Auswahl aus den Gedichtbänden Mohn und Gedächtnis, Von Schwelle zu Schwelle, Sprachgitter, Die Niemandsrose und Atemwende die Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen und die Rede zur Verleihung des Georg-Bilchner-Preises Der Meridian. Inwieweit Beda Allemann an der Auswahl der Texte mitgewirkt hat, ist unsicher; es ist jedoch zu vermuten, daß er zumindest beratend an der Zusammenstellung der Gedichte beteiligt war. Allemann im editorischen Nachwort zu: Celan, Gedichte 1975, Bd. II, S. 4 1 9 - 4 2 1 , hier S. 421.

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in einen Produktionsbereich, den der Dichter selbst stets als besonders wichtig einschätzte. 14 Den Übertragungen sind jeweils die Originaltexte aus sieben verschiedenen Sprachen gegenübergestellt, wobei die Herausgeber zumeist auf die von Celan herangezogenen Ausgaben zurückgreifen konnten.

5. Wenn es den Herausgebern gelang, mit den Gesammelten Werken eine insgesamt zuverlässige Textbasis fur eine Beschäftigung mit dem dichterischen Werk Celans bereitzustellen, so ist das nicht zuletzt den gleichzeitig begonnenen Vorbereitungen für die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Paul Celans zu verdanken. Sie wurde Anfang der siebziger Jahre durch Beda Allemann in Gang gesetzt, bedurfte allerdings, wie sich bald herausstellte, trotz der mustergültigen Überlieferungslage einer gründlichen und umfassenden archivalischen wie auch editionstheoretischen Fundierung. Die beiden Mitarbeiter Stefan Reichert und Rolf Bücher übernahmen die Aufgabe, eine genaue systematische Erschließung und Anreicherung des (inzwischen nach Marbach überführten) Nachlasses durchzufuhren, die zahlreichen Textzeugen, die in verschiedenen Ländern verstreut außerhalb des Nachlasses überliefert sind, zu erfassen und zu kopieren sowie Umschriften des umfangreichen Textbestandes herzustellen. Zeitraubender als zunächst angenommen waren zudem die wegweisenden editorischen Entscheidungen, die nicht nur eine genaue Kenntnis der aktuellen editionstheoretischen Diskussion und der relevanten Problemlösungen der Editionsphilologie, sondern insbesondere einen genauen Überblick über den gesamten Nachlaß Paul Celans einschließlich der außerhalb Marbachs verwahrten Notizbücher Celans, der Briefe und sonstigen Aufzeichnungen voraussetzten. Erst nach Abschluß dieser aufwendigen Vorarbeiten konnte 1990 als erster der Doppelband 7 mit der Gedichtsammlung Atemwende erscheinen. Der unerwartet frühe Tod Allemanns im August 1991, dem kurze Zeit vorher schon Krankheit und Tod seines engsten Mitarbeiters Stefan Reichert vorangegangen waren, bedeutete für die Realisierung der Edition einen herben Rückschlag und stellte das inzwischen mehrfach erweiterte Team vor die Aufgabe einer völligen Neuorganisation der Arbeit: Axel Gellhaus und Rolf Bücher zeichneten nunmehr als verantwortliche Herausgeber des Gesamtprojektes, neue Bandbearbeiter mußten gewonnen, der ursprüngliche Editionsplan einschneidend verändert werden. Inzwischen liegt immerhin der Kernbestand des lyrischen (Euvres, die von Celan selbst zum Druck gebrachten oder zumindest für eine Veröffentlichung vorbereiteten Gedichtsammlungen einschließlich der von ihm nicht veröffentlichten Frühdichtungen, in neun Doppelbänden 15 abgeschlossen vor.

14

15

Zum Komplex der Übersetzungen vgl. den hervorragenden Marbacher Ausstellungskatalog „Fremde Nähe", hrsg. von Axel Gellhaus, Rolf Bücher u.a., 1997. Bd. 2 und 3 wurden zu einem Band 2/3 zusammengefaßt; vgl. die Bandubersicht im Literaturverzeichnis.

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5.1. Die Ausgabe ist in drei Abteilungen organisiert: Die erste umfaßt die Lyrik und Prosa, zu ihr gehören neben den angeführten Gedichtsammlungen (Bd. 1-10) die weiteren verstreut publizierten Gedichte, die in nichtdeutschen Sprachen verfaßten Gedichte sowie Gedichte aus dem Nachlaß (Bd. 11-14), die zu Lebzeiten veröffentlichte Prosa (Bd. 15) und die Prosa aus dem Nachlaß (Bd. 16). Abteilung II soll - als Ergänzung der ersten Abteilung - in voraussichtlich 5 Bänden Dokumente und Materialien aufnehmen, Abteilung III Celans Übertragungen fremdsprachiger Texte in deutsche Sprache (ca. 7 Bde.). Eine Gesamtedition der Tage- und Notizbücher ist zur Zeit noch nicht geplant; sie kann frühestens nach Ablauf der Schutzfrist begonnen werden. 5.2. Die bislang vorgelegten Bände 1-10 sind jeweils als Doppelbände erschienen. Der erste Teil enthält den konstituierten Text der Celanschen Gedichtsammlungen;16 in Buchform erschienene autorisierte Vorabdrucke aus den Gedichtsammlungen werden in Anhängen separat wiedergegeben.17 Trotz aller Sorgfalt, mit der Celan bei der Drucklegung der von ihm autorisierten Veröffentlichungen vorging,18 und trotz der kritischen Überprüfung der Texte, die Allemann bereits anläßlich seiner Ausgabe der Gedichte (1975) vornahm, konnten noch einmal einige wenige verbliebene Korruptelen emendiert werden. Die Textkonstitution bei den Gedichtsammlungen aus dem Nachlaß (Bd. 1, 9 und 10) sucht konsequent das Prinzip der Zeugentreue zu befolgen: Eine (von früheren Herausgebern insbesondere in diesem Werkteil oftmals vorgenommene) Kontaminierung verschiedener Überlieferungsträger wird generell vermieden. In der Gedichtanordnung, Seitenaufteilung und typographischen Präsentation hält sich die Wiedergabe der Gedichttexte streng an die von Celan hergestellten oder von ihm gebilligten Vorlagen; der unfertige Charakter der überlieferten Manuskripte aus dem Nachlaß wurde bewahrt, fehlende Interpunktion nicht ergänzt und die oftmals begegnende Uneinheitlichkeit nicht normiert. Nur bei wenigen offensichtlichen und sinnentstellenden Schreibversehen griffen die Herausgeber ein, wobei die Emendationen selbstverständlich im Apparat nachgewiesen werden. So entsprechen die edierten Texte der BCA vollauf dem editorischen Grundsatz der Authentizität und können im strengsten Sinn als zuverlässig angesehen werden.

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Eine gewisse Sonderstellung gilt für Band 1. Im Vordergrund steht zwar auch hier eine von Celan komponierte Gedichtsammlung, die in einem Manuskript aus dem Jahr 1944 reinschriftlich vorliegt. Anders als in den nachfolgenden Bänden werden jedoch bereits in diesem Band weitere nachgelassene Einzelgedichte aus dem .Umkreis' der Frühdichtungen zum Abdruck gebracht. So in Band 7 der 1965 bereits erschienene Gedichtzyklus Atemkristall (der 1967 als erster Teil in den Band Atemwende übernommen wurde), allerdings bedauerlicherweise ohne die Illustrationen von Gisele Celan-Lestrange, die diesen Vorabdruck prägen. Das gilt allerdings nur mit Einschränkungen für den Band Mohn und Gedächtnis und - wie oben dargestellt - gar nicht für die Erstpublikation Der Sand aus den Urnen.

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36 5.3.

Der editorische Apparat wird in jeweils gesondert gebundenen Teilbänden den Texten beigegeben. Er enthält - nach den zumeist recht knapp gehaltenen editorischen Vorbemerkungen19 - zunächst eine Übersicht der Zeugen, die den Textbestand des jeweiligen Bandes überliefern, und daran anschließend Sammelbeschreibungfen] einzelner Zeugengruppen, hauptsächlich jener Handschriften und Typoskripte, die Celan selbst in Mappen zusammengelegt oder zumindest als zusammengehörig gekennzeichnet hatte, daneben aber auch der Drucküberlieferung. Die Funktion dieses Apparatteils geht weit über die archivalische Dokumentation der Überlieferung hinaus, wird doch an dieser Stelle die Entstehung der Gedichtsammlungen, die Suche nach einem Gesamttitel und nach den Überschriften der einzelnen Zyklen, vor allem jedoch die Auswahl und die sorgfältige Anordnung der einzelnen Gedichte anschaulich dokumentiert. Die immer wieder erneut angelegten Titellisten, die vielfachen Korrekturen und Umstellungen, Ergänzungen und Streichungen innerhalb dieser Zeugen zeigen in höchst aufschlußreicher Weise, mit welcher Sorgfalt Paul Celan an die Komposition seiner Gedichtsammlungen ging. Die Dokumentation dieser Arbeit schätzen die Herausgeber immerhin als so wichtig ein, daß sie zu einzelnen Bänden (Bd. 4 und 5) eine gesonderte Abteilung Titellisten und Gliederungen einrichteten. Den größten Raum dieser Teilbände nehmen jeweils die Apparate zu den Gedichten ein. In ihnen werden alle Zeugen, die zu den einzelnen Gedichten überliefert sind, vollständig wiedergegeben, wobei - wie in vielen anderen Editionen - die Frage, welche Teile der Textüberlieferung einem bestimmten Gedicht und seiner Genese zuzuschlagen sind, erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Die Herausgeber richteten sich bei der Bestimmung der Werkzugehörigkeit zunächst nach den Vorgaben des Autors, der vielfach die Vorstufen zu den Gedichten, wie in Abschnitt 2 im einzelnen dargestellt, in eigenen Mappen zusammengestellt hat. Celan hatte zudem mit dieser Dokumentation seiner eigenen Entwurfsarbeit eine Grenzziehung vorgegeben, die die Gedichtgenese im engeren Sinn von einer Wortmaterial sammelnden und ,Ideen' festhaltenden Vorarbeit trennt. Entsprechend dieses „qualitativen Wechsels" zwischen Ideensammlung und gedichtbezogener Entwurfsarbeit dokumentieren die Herausgeber nur jenen Teil der Textüberlieferung vollständig, der zweifelsfrei „die Entstehung des Gedichtes als solches betrifft". 20 Während die Überlieferung dieses Teils - der Entwürfe, Reinschriften, Druckfahnen, die ,diesseits' der Grenzziehung anzusiedeln sind - in der Regel als relativ „geschlossen" anzusehen ist,21 sind Vorentwürfe, die sich zumeist 19

Ein ausfuhrlicher editorischer Bericht der Bonner Celan-Ausgabe ist seit langem angekündigt, bislang jedoch nicht erschienen. Eine Kurzfassung haben Rolf Bücher, Axel Gellhaus und Andreas Lohr unter dem Titel Die historisch-kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht veröffentlicht in: Gellhaus/Lohr 1996, S. 197-226. Im selben Band (S. 11-47) findet sich eine von Andreas Lohr verfaßte Kleine Einführung in die Bonner Celan-Ausgabe, die am Beispiel der Gedichte Ich höre, die Axt hat geblüht und Du liegst die Funktion der textgenetischen Variantenverzeichnung erläutert.

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Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 200. Das gilt allerdings allein für Gedichtsammlungen und Gedichte, die seit dem Ende der fünfziger Jahre entstanden sind. Zu den früheren Gedichtbüchern (Der Sand aus den Urnen, Mohn und Gedächtnis, Von

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ohne Versbindung verstreut in Notizbüchern und auf losen Blättern finden, eher zufällig überliefert; sie werden der Genese eines einzelnen Gedichtes nur dann zugeschlagen, wenn Celan selbst einen entsprechenden Hinweis gibt oder wenn die Zuordnung als zweifelsfrei angesehen werden kann. Mit dieser Entscheidung kommen die Herausgeber nicht nur den Möglichkeiten der textgenetischen Darstellung entgegen, sondern wollen zugleich den poetischen ,Findungsprozeß' vor der „hypothetisch" angesetzten Grenzziehung möglichst „offen" halten. D i e s e r T e i l d e s „ a v a n t text" ist n ä m l i c h k e i n e s w e g s p o s i t i v e i n d e u t i g faßbar, er unterliegt in e i n e m g a n z a n d e r e n S i n n e als der p h i l o l o g i s c h d o k u m e n t i e r b a r e T e i l d e s t e x t g e n e t i s c h e n P r o z e s s e s der K e n n t n i s , der Erfahrung d e s j e w e i l i g e n H e r a u s g e b e r s , er unterliegt n i c h t z u letzt d e m P r i n z i p d e s Z u f a l l s , j e n e s Z u f a l l s , der darüber e n t s c h e i d e t , o b d i e M o t i v a t i o n z u ein e m G e d i c h t fixiert ist o d e r n i c h t und o b e i n e

fixierte

S t e l l e a l s s o l c h e erkannt wird o d e r

nicht.22

Die Darstellung der in diesem Sinn definierten Gedichtentstehung sucht konsequent textgenetisch 23 zu verfahren: Alle dem Gedicht zugeschlagenen Textzeugen werden in „Textstufen" chronologisch angeordnet, 24 wobei freilich die so entstehende Chronologie der Überlieferungsträger nicht unbedingt der tatsächlichen zeitlichen Folge der einzelnen Be- und Überarbeitungsschritte innerhalb der Gedichtgenese entsprechen muß: Einzelne spätere Eintragungen auf einem Textzeugen können zugleich mit oder sogar nach der Niederschrift von in der Darstellung nachfolgenden Textzeugen (in der BCA: „Textstufen") erfolgt sein. 25 Hier deutet sich die Problematik eines Textstufenbegriffes an, der weitgehend materialmäßig an den Überlieferungsträger gebunden wird und interpretatorische Entscheidungen in nur begrenztem Rahmen zuläßt. 26 Dem „prinzipiell offenen" Darstellungsansatz, der von vornherein eine Lückenhaftigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der Überlieferung, insbesondere der frühen Phasen der Gedichtentstehung einkalkuliert, soll eine rückwärts laufende Zählung der Textstufen entsprechen, welche die am Ende stehende Textfassung - in den bislang vorliegenden Bänden den Druck in der jeweiligen Gedichtsammlung (Bd. 2-8) oder zumindest jene Fassung, die als vom Autor für einen Druck bestimmt oder in anderer Weise von ihm als autorisiert angesehen werden kann (Bd. 1, 9 und 10) - in der Regel

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25 26

Schwelle zu Schwelle) hat Celan noch keine Mappen mit systematisierten Sammlungen der Vorstufen angelegt, zu Sprachgitter nur teilweise. Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 202. Textgenese wollen die Herausgeber weder teleologisch als von vornherein auf ein bestimmtes Entstehungsziel ausgerichtet noch organologisch im Sinne eines vorher bestimmten Wachstumsvorgangs verstanden wissen, sondern definieren sie als einen „Fixierungsprozeß", der freilich nur einzelne Stadien der tatsächlichen Gedichtentstehung festhält (vgl. Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 2 0 6 f ) . Textzeugen, deren chronologische Einordnung unsicher ist, werden mit einer durch einen Asteriskus erweiterten Textstufensigle gekennzeichnet; überlieferte Texte, die zwar eindeutig dem Gedicht zuzuschlagen sind, jedoch überhaupt nicht in die Folge der übrigen Textstufen eingeordnet werden können, stellen die Herausgeber als „außerhalb der genetischen Darstellung" an den Schluß des Gedichtapparates. Vgl. Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 208f. So wäre es denkbar und vielleicht auch .textgenetisch' konsequenter, unterschiedliche Bearbeitungsschichten auf einem Textzeugen unterschiedlichen „Textstufen" zuzuordnen.

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an die unterste Position der Zahlenskala 27 setzt, der frühesten dargestellten Textstufe demgegenüber die höchste Exponentenziffer zuweist. Diese „auf den edierten Text hin orientierte, den fortschreitenden Vorgang umkehrende Zählweise" erscheint den Herausgebern als das für Celan „angemessene Verfahren". 28 So plausibel auf den ersten Blick die Begründung dieser unkonventionellen Entscheidung auch erscheinen mag, so tritt deren Problematik an den Stellen zutage, an denen sich die Herausgeber gezwungen sahen, einen anderen als den vom Autor zuletzt bearbeiteten Textzeugen als „edierten Text" auszuwählen. So folgen beispielsweise in Band 1 den „edierten Texten" aus der für Ruth Kraft angelegten Gedichtsammlung (Ms 44) 29 in der Textgenese vielfach spätere Bearbeitungen Paul Celans, deren Varianten im Apparat mit einer Textstufensigle gekennzeichnet werden, die als Exponenten die pauschale (und im Band leider nicht näher erläuterte) Jahresangabe „45/47" trägt. Auf eine vergleichbare Verlegenheitslösung sind die Herausgeber auch in Band 2/3 verfallen: Typoskripte von Gedichten aus der Sammlung Der Sand aus den Urnen, die nach dem Wiener Druck (1948) angefertigt wurden und zahlreiche Varianten enthalten, werden im Apparat unter der Textstufensigle Η 1950 aufgeführt. Ganz allgemein wird man feststellen müssen, daß die Textstufenzählung, hinter der ein teilweise inkonsistenter Textstufenbegriff zu stehen scheint, zu den Schwachpunkten dieser sonst so verdienstvollen Ausgabe gehört. 30 Den Varianten Text derjenigen Textzeugen, die dem „edierten Text" vorhergehen, stellt der Apparat in einer integralen textgenetischen Verzeichnung dar: In einer Zeilensynopsis werden dem Grundtext eines Zeugen alle auf diesem Überlieferungsträger erscheinenden Varianten so zugeordnet, daß die Veränderungen innerhalb eines Verses in einer genetischen Folge untereinander erscheinen. Dabei werden diakritische Zeichen, die zum Verständnis dieses Veränderungsprozesses nun einmal nötig sind, nur sparsam verwendet; sie werden im Verzeichnis der „Zeichen und Abkürzungen" (das jedem Apparatband auf einem losen Blatt noch einmal beigelegt wird) erläutert. Wie 27

28 29 30

Nach der „editorischen Vorbemerkung" zu Band 7 ist dies der „zu edierende Text", dem die „Stufenziffer 0" zugewiesen wird, die ihrerseits jedoch nicht als Exponent der Textstufensigle erscheint; die „kleinste Stufenziffer [...] 1" erhalte „in der Regel [...] der dem edierten Text nächst vorstehende Zeuge" (BCA, Bd. 7,2, S. 10). In den nachfolgend erschienenen Bänden der BCA wichen die Herausgeber freilich mehrfach von dieser „Regel" ab: Im Apparat zu Band 10 (Schneepart) wird der „edierte Text" durchgehend mit der Sigle H' gezählt, während der Druck der postum erschienenen Gedichtsammlung, der als Druckvorlage für den „edierten Text" aus guten Gründen ausscheiden mußte, die nicht spezifizierte Sigle D erhielt. (Zu fragen wäre in diesem Fall, ob eine Nachlaßpublikation überhaupt als „Textstufe" in die Textgenese eines Gedichtes einzuordnen ist.) In Band 2 wird der „edierte Text" der Sammlung Der Sand aus den Urnen bei jenen Gedichten, die Celan in die Sammlung Mohn und Gedächtnis übernahm, mit einer höheren Zählung (z.B. D 3 , D3, D 6 ) versehen. Auch das Überspringen der Textstufe H1, das an verschiedenen Stellen begegnet (z.B. Bd. 4,2, S. 174, 184 u.a.) - selbst in den Fällen, wo die (dann als H2 gezählte) Druckvorlage überliefert ist gehört zu den Eigenarten der BCA, die nicht näher erläutert werden. Zur allgemeinen Problematik der Textstufenzählung vgl. die nachfolgenden Ausführungen. Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 210. Im Apparat wird dieser Grundlage des „edierten Textes" durchgehend die Sigle H1 zugewiesen. Weder in den „Editorischen Vorbemerkungen" der bislang erschienenen Bände noch in dem Vorläufigen editorischen Bericht (Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 197-226) wird der Textstufenbegriff hinreichend geklärt.

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im Apparat zu den Gedichten C.F. Meyers 31 (dem die Bonner Celan-Ausgabe in vielfacher Weise verpflichtet ist) werden für nachträgliche Bearbeitungen in den Handschriften und Typoskripten auch Positionsangaben geboten, die dem Benutzer helfen sollen, sich ein schematisiertes Bild von den Abläufen der Korrekturvorgänge zu machen, 32 und die in Zweifelsfallen Entscheidungshilfen geben. Zusätzlich werden Schreib- und Korrekturzusammenhänge, soweit sie graphisch von der Grundschicht abweichen, durch eine Schichtens igle, die zur Textstufenzählung hinzutritt (z.B. H 5 '), gesondert gekennzeichnet. Wie in vielen anderen modernen Editionen organisiert auch in der BCA die Verszählung als grundlegende Einheit der Text- und Variantenverzeichnung die Darstellung der textgenetischen Prozesse. 33 Gerade für den Celan-Editor ergeben sich allerdings in dieser Hinsicht erhebliche Probleme. Denn bis in die Druckfahnen hinein verändert Celan ständig die Versaufteilung, markiert neue Zeilenbrüche, schiebt nachträglich neue Verszeilen ein und streicht wiederum andere. Mit einer doppelten Vorgehensweise suchen die Herausgeber diesen Schwierigkeiten zu begegnen: Eingeblendet in die Textdarstellung kennzeichnen sie mit diakritischen Zeichen, die der Handschrift nachgebildet sind, von Celan nachträglich eingefügte bzw. aufgehobene Zeilenbrüche; 34 mit Buchstabenexponenten bzw. Buchstabenindex innerhalb der Verszählung weisen sie demgegenüber auf nachträglich eingeschobene bzw. getilgte Verszeilen hin. 35 Eine solche Einrichtung der Verszählung, die weniger den handschriftlichen Befund als den funktionalen Aspekt der textgenetischen Darstellung zu berücksichtigen sucht, 36 ist zwar darstellungslogisch überzeugend durchdacht, verzichtet jedoch weitgehend auf eine unmittelbare Anschaulichkeit. In dieser ausgeklügelten textgenetischen Weise werden allerdings nur Überlieferungsträger, die in ihrem Textbestand erheblich vom edierten Text abweichen, in ihrer Gänze dargestellt. Bei nur geringer Varianz beschränkt sich die Darstellung auf jene Verse, die Abweichungen vom edierten Text aufweisen. In noch weiter gehender Verkürzung werden Varianten in den frühen Gedichtsammlungen geboten: Da hier nur im Ausnahmefall Entwürfe überliefert sind und die Unterschiede der oftmals in großer Zahl überlieferten Zeugen gegenüber dem edierten Text zumeist nur punktueller Art sind, greifen die Herausgeber in den Bänden 1 und 2/3 auf die traditionelle Variantenverzeichnung in lemmatisierter Form zurück.

31 32

33 34 35

36

Vgl. Literaturverzeichnis. Sie ersetzen freilich in keiner Weise die Funktion von Faksimiles, auf deren Wiedergabe in der Abteilung I der BCA durchgehend verzichtet wird; vgl. dazu jedoch die nachfolgenden Ausführungen zur geplanten Abteilung II der BCA. Vgl. dazu Martens 1998. Die Herausgeber benutzen dafür die Zeichen X bzw. J. Eingeschobene Verszeilen werden durch einen hochgestellten Buchstabenexpo/je/iien (z.B. V), getilgte durch einen nachgestellten Buchstabem/Kfex (z.B. 7a) hervorgehoben. „[...] im Gegensatz [zu einer rein deskriptiven Zahlweise wird in der BCA] versucht, nicht Zeichenreihen durchzunumerieren, sondern Zeilenstände gemäß ihrer Funktion innerhalb der Handschrift zu lokalisieren" (Bücher 1998, S. 214).

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5.4.

Das Gebot der Vollständigkeit, dem die BCA kompromißlos folgt, und das gleichzeitige Bestreben der Herausgeber, die Befunde der vielfach aufgefächerten und oftmals schwer überschaubaren Textüberlieferung in genetischer Systematisierung zu bieten, ergeben eine Variantendarstellung, die zunächst recht verwirrend und abstrakt erscheint. Wenn auch dieser erste Augenschein trügt und der Apparat sich letztendlich als sehr folgerichtig angelegt erweist, so verlangt er vom Benutzer doch immerhin einige Geduld und ein gewisses Maß an Einarbeitung. Der Aufwand, diesen Apparat für sich zu erschließen, wird allerdings belohnt durch eine Fülle von Informationen, die einen höchst aufschlußreichen Einblick in die Arbeitsweise Celans bieten. Wenn auch so spektakuläre Entstehungsprozesse, wie sie beispielsweise zu Gedichten wie Todtnauberg oder Der Hafen überliefert sind, relativ selten begegnen, so vermitteln die Feinarbeit an einzelnen Formulierungen und gerade auch die vielfältigen Verschiebungen im Versgefüge, wie sie in fast allen Vorstufen zu beobachten sind, ein Gespür iur die Grundstrukturen Celanscher Poetik. Die Kenntnis dieser Veränderungsbewegungen setzt Akzente für das Verständnis dieser Texte, wie sie dem fertigen Gedicht kaum zu entnehmen sind.

5.5.

Eine notwendige Ergänzung der bislang vorgelegten Editionsarbeit wird die angekündigte Abteilung II mit den Dokumenten und Materialien bringen. Zum einen wird sie endlich auch in den Fällen Faksimiles nachschieben, wo die Variantendarstellung komplex und entsprechend wenig augenfällig ausfallen mußte: Editorische Entscheidungen sollen an diesen Beispielen verdeutlicht und der „Aufschreibvorgang" anschaulicher, als es im Apparat möglich sein konnte, vorgeführt werden. In dieser Abteilung werden dann auch alle Dokumente und Aufzeichnungen ihren Platz finden, die nicht zur „Textgenese" im oben erläuterten Sinn gezählt werden können: Vornotizen und Entwürfe, die nicht mit Sicherheit einem einzelnen Gedicht zugeordnet werden können, auch Anstreichungen und Randbemerkungen in Büchern, Lektüreaufzeichnungen, Äußerungen in Briefen usf. Außerdem sollen hier Zitate, Namen, Orte und Sachverhalte nachgewiesen werden, „die den Textentstehungsprozeß vorbereiten, begleiten oder protokollieren". 37 Allerdings haben sich die Herausgeber eine streng einzuhaltende Grenze gesetzt: Die geplanten Bände der Abteilung II „werden [...] sich [...] jede[s] Rekonstruktionsversuch[s] des biographischen Entstehungszusammenhangs ebenso enthalten wie eine[s] interpretierend kommentierenden Zugriffes]." 38

37 38

Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 215. Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 203.

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5.6.

Für die dritte Abteilung der BCA, die dem Komplex der Übersetzungen Paul Celans vorbehalten ist, liegt bislang noch kein endgültiges editorisches Konzept vor. Es ist jedoch davon auszugehen, daß auch der in diesem Bereich überlieferte reichhaltige Textbestand vollständig und mit einer nach textgenetischen Gesichtspunkten eingerichteten Apparattechnik ediert werden wird. Ob freilich die Herausgeber dem Vorschlag, den Peter Goßens in seiner Dissertation Paul Celans Ungaretti-Übersetzung39 vorgelegt hat, folgen werden, erscheint mehr als fraglich. Die Arbeit Goßens', die anders als es der Titel erwarten läßt - keine vollständige Edition der UngarettiÜbersetzungen Celans umfaßt, sondern allein fur 10 Gedichtbeispiele Modelleditionen zu entwickeln sucht, geht zwar von Zielvorstellungen aus, die für Übersetzungseditionen einen plausiblen und gut begründeten Ansatz formulieren, deren editionspraktische Umsetzung jedoch kaum zu überzeugen vermag. Die „integrale" Darstellung von „Transformationsprozessen", die Goßens mit Recht für die Edition der überlieferten Übersetzungstexte Celans fordert,40 bleibt in Ungereimtheiten der Darstellung stecken. Der vorgeschlagene Apparat sucht sich zwar an den Grundsätzen und Darstellungsweisen der BCA zu orientieren, bleibt jedoch in der Durchführung weit hinter dem selbst gesetzten Vorbild zurück: Der auch für eine Übersetzungsedition wegweisende Begriff der „Textstufe" wird aufgegeben; an deren Stelle tritt eine „genetische Transkription" von Textzeugen, die sich zwischen den diametral zueinander stehenden Prinzipien der Dokumentation und der genetischen Textdarstellung nicht zu entscheiden vermag.41 Die geforderte „integrale" Komponente der Edition, die den Autor- und Werkbezug traditioneller Ausgabentypen durchbrechen soll, kommt allein in der den „genetischen Einzeldarstellungen der Textzeugen" sich anschließenden „synoptisch-genetischen Darstellung"42 zur Geltung. In ihr werden die „Prätexte" des fremdsprachlichen Originals sowie jener Übersetzungen, die Celan bei seiner Arbeit mit heranzog, der Zusammenschau aller Einzeldarstellungen vorgeschaltet; die angestrebte „Integration" geht in der Unüberschaubarkeit der verschiedenen inkompatiblen Schichtungen des Apparates unter.43

39 40 41

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43

Goßens 2000. Goßens 2000, S. 184 f. Vgl. dazu die grundsätzliche Kritik von Stephan Kammer in seiner Rezension der Arbeit in: editio 16, 2002, S. 244-249. In der „Einfuhrung" seiner Modelledition spricht Goßens von einer „synoptisch-genetischen Analyse" (S. 186), von der jedoch in der wortwörtlichen Wiederholung der Einzeldarstellung nichts zu verspüren ist. Gerade die interessanten Übergänge vom „Prätext" zur Übersetzung, die Ansatzpunkte für die editorische Integration von Fremdtext zum Übersetzungstext bieten, die Anstreichungen und Annotationen in der von Celan benutzten Ausgabe des Prätextes, die Wortlisten und interlinearen Übersetzungsversuche von Einzelelementen, bleiben in der „integralen" Darstellung unberücksichtigt.

42

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6.

Im gleichen Verlag wie die historisch-kritische Edition ist eine zweite Celan-Ausgabe mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch erschienen: die Tübinger CelanAusgabe (TCA), als deren verantwortlicher Herausgeber der Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer zeichnet. In Heino Schmull, der in allen Gedichtbänden als der eigentliche Bandbearbeiter aufgeführt wird, 44 hat sie einen kompetenten Mitarbeiter gewonnen. Die 9 Bände der TCA beschränken sich auf die Edition der von Celan veröffentlichten bzw. zur Veröffentlichung vorbereiteten Gedichtsammlungen 4 5 und der Büchner-Preis-Rede Der Meridian. Als Studienausgabe 46 konzipiert unterliegt die TCA zwar nicht dem Vollständigkeitspostulat einer historisch-kritischen Ausgabe, verzichtet jedoch keineswegs auf einen eigenen kritischen Anspruch: Alle hier herangezogenen Textzeugen sind - wenn möglich - im Original gelesen und transkribiert worden, die Endfassungen noch einmal kritisch überprüft.

6.1. Was die BCA durch die Fülle des von ihr edierten Materials, durch die kompromißlos realisierte Authentizität der Textwiedergabe und durch die konsequent verfolgte Genauigkeit der Variantenverzeichnung nicht bieten konnte: eine schnelle Überschaubarkeit der edierten Texte und ihrer Genese, sucht die TCA in den acht Gedichtbänden durch Beschränkung der dargestellten Textstufen auf die „wesentlichen Stadien der Textgenese" und durch eine Anordnung der ausgewählten Zeugen, die eine schnelle Orientierung über die Veränderungsprozesse intendiert, zu erreichen. „Die Tübinger Celan-Ausgabe möchte Paul Celans Gedichte durch die Darstellung der Schichten ihrer Genese als poetische und geschichtliche Dokumente und Botschaften lesbar machen und Celans Arbeit am Text in verschiedenen Stadien veranschaulichen." 47 Um diesen Arbeitsprozeß sinnlich vor Augen zu fuhren, sollen die ausgewählten Vorstufen im Druck weitgehend diplomatisch wiedergegeben werden. Faksimiles im Anhang geben dem Leser Gelegenheit, an ausgewählten Beispielen die Beschriftung einzelner Handschriftenblätter selbst zu verfolgen. Die ins Auge fallende Differenz gegenüber der BCA liegt in der editorischen Aufbereitung und Präsentation des in den Handschriften und Typoskripten vorgefundenen Materials. Während die Bonner den Textbestand der einzelnen Überlieferungsträger in der ermittelten oder auch manchmal nur vermuteten chronologischen Abfolge der Textzeugen nacheinander abdrucken, ordnen die Tübinger die auf den Hand- oder Maschinenschriften überlieferten Texte nebeneinander an. „Einander entsprechende 44 45

46 47

Er fungiert - neben Bernhard Böschenstein - auch als Herausgeber des Meridian-Bandes (s.u.). Mit Ausnahme des Gedichtbandes Der Sand aus den Urnen, auf dessen Wiedergabe die Tübinger verzichtet haben, da zu dieser Sammlung kaum aufschlußreiche textgenetische Materialien vorliegen. In der neuesten Verlags Werbung wird sie als „kritisch edierte Leseausgabe" herausgestellt. TCA, Die Niemandsrose 1996, S. VII; gleichlautend im „Editorischen Vorwort" zu allen Bänden der TCA.

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Gedichtabschnitte (Strophen) sind bei allen Textzeugen jeweils auf gleicher Höhe angeordnet, so daß der Vergleich erleichtert wird." 48 Die Vorteile einer solchen Darstellungsweise liegen auf der Hand: Was bei den Bonnern nur durch relativ aufwendiges Umblättern und Vergleichen erreicht werden kann, liegt in der synoptischen Darstellung der Tübinger Ausgabe anschaulich vor Augen: Der Entstehungsgang des gesamten Gedichtes ist - so die Intention des Herausgebers - „auf einen Blick präsent"; auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten der aufgeschlagenen Edition soll der Leser im leicht überschaubaren Nebeneinander der einzelnen Versionen die Genese des Textes bis hin zur endgültigen Druckfassung verfolgen können. Dieses Ziel konnten Herausgeber und Bandbearbeiter freilich allein durch eine größere Zahl von Kompromissen erreichen, welche die selbstgesetzten Zielvorstellungen einer „kritischen" Ausgabe weitgehend in Frage stellen. 49 Denn mit der Grundkonzeption ihrer Ausgabe waren ihnen zwei Parameter vorgegeben, die sie, wenn irgend möglich, einhalten mußten. Zum einen der Raum, der durch die aufgeschlagene Doppelseite des Buches definiert ist und eine Synopsis von normalerweise vier „wesentlichen Stadien der Textgenese" 50 erlaubt, zum anderen die optische Beziehbarkeit durch eine Anordnung vergleichbarer Texte auf einer horizontalen Linie. Und zusätzlich hatten sich die Herausgeber vorgenommen, ein Höchstmaß an Genauigkeit in der diplomatischen Wiedergabe der Textzeugen zu erreichen. Die Krux der Tübinger Ausgabe besteht nun darin, daß das überlieferte Textmaterial sich diesen Parametern nur allzu oft widersetzt. Zeigte sich eine Darstellung von mehr als vier Textstufen als unumgänglich oder erlaubte die starke Varianz einzelner Vorstufen keine Parallelisierung mit den Versen und Strophen der anderen dargestellten Textversionen, mußten „Arbeitsblätter", „Entwürfe" oder auch „Ergänzungen" auf gesonderten Seiten eingeschaltet werden. Andererseits führte der Systemzwang entweder zu starken Abweichungen von der angestrebten Genauigkeit der Zeugendarstellung, zu Leerräumen oder Verzerrungen in der Wiedergabe der Handschriften oder aber zur Aufnahme von Textstufen, deren Abweichungen alles andere als „wesentlich" 51 sind.

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TCA, Die Niemandsrose 1996, S. X; gleichlautend im „Editorischen Vorwort" der meisten anderen Bände. Das gestehen die Tübinger freilich selbst ein, wenn sie im Vorwort ausführen: „Kompromisse sowohl in der Vollständigkeit der Zeugenauswahl [!] als auch in der Darstellungsweise der einzelnen Texte waren so von vornherein beabsichtigt" (TCA, Die Niemandsrose 1996, S. IX); gleichlautend im „Editorischen Vorwort" der meisten anderen Bände. In Ausnahmefällen wird die Darstellung auf bis zu sechs Spalten komprimiert, was allerdings die angestrebte Lesbarkeit erheblich beeinträchtigt. Das Kriterium „wesentlich", das die Auswahl der dargestellten Textstufen leiten soll, bleibt ohnehin völlig undurchsichtig. Einerseits fehlen Textstufen, die bedeutsame semantische oder auch strukturelle Abweichungen gegenüber den wiedergegebenen Vorstufen aufweisen, andererseits werden - offensichtlich aus dem vorgegebenen Systemzwang - Typoskripte in die Synopse aufgenommen, die mit der abgedruckten „Endstufe", dem autorisierten Druck, praktisch identisch sind.

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44 6.2.

Abweichenden Grundsätzen folgt der von Bernhard Böschenstein gemeinsam mit Heino Schmull herausgegebene Band mit der Büchner-Preis-Rede Der Meridian: Vorangestellt wird zunächst als edierter Text der von Celan autorisierte Druck; sodann folgt - auf den jeweils aufgeschlagenen Doppelseiten - eine vierspaltige Synopse, und zwar in den beiden mittleren Spalten eine Gegenüberstellung von zwei „Vorstufen", die der Endfassung relativ nahe stehen, flankiert in der linken Spalte von „Entwürfen", die sich nur punktuell auf den in der Mitte wiedergegebenen Text beziehen, in der rechten Spalte von der Annotation „weiterer Varianten". In einem gesonderten Abschnitt „Entwürfe" werden weitere Texte mitgeteilt, die einzelne Formulierungen der Preisrede „präfigurieren", aber nicht zur Genese der gedruckten Textgestalt im engeren Sinn gehören. Durch ein System von Nummern und Buchstaben werden sie den entsprechenden Abschnitten des edierten Textes zugeordnet. „Materialien", die nicht unmittelbar dem Entstehungsprozeß der Rede zugeordnet werden können, werden schließlich im umfangreichsten vierten Teil der Edition nach Begriffen gruppiert, die teils Themen aufnehmen, denen im Meridian eine zentrale Stellung zukommt (z.B. „Atem", „Begegnung", „Dunkelheit", „Zeitkritik"), teils aber auch den intertextuellen Bezug oder auch den Überlieferungsort bezeichnen (z.B. „Aufzeichnungen zu Büchner", „Aufzeichnungen zu Franzos", „Sammeltyposkripte"). Der Band macht zum ersten Mal Texte zugänglich, die einen unschätzbaren Aufschluß über das Selbstverständnis und die Eigenart Celanschen Dichtens erlauben. Nicht nur die Prinzipien der Poetizität der Preisrede selbst, der Hintergrund ihrer metaphorischen Sprache, die Tendenzen zur Verknappung, zum Verschweigen, zur Mehrdeutigkeit, treten in den hier zusammengetragenen Entwürfen und Materialien klar hervor, sondern die Motivation Celans zum Schreiben überhaupt, der Anlaß seines Dichtens, wird in deutlicheren Konturen greifbar, als sie in den bislang veröffentlichten Druckfassungen wahrgenommen werden konnten. Dennoch wiederholen sich auch in diesem Band - trotz abweichender editorischer Konzeption - die Ungereimtheiten der übrigen Bände der TCA. 5 2 Das hochkomplexe Material, das dieser Band zu erschließen sucht, und die ehrgeizigen Zielsetzungen der Edition sprengen die Grenzen, die einer Studienausgabe nun einmal vorgegeben sind. Die Herausgeber wollten eine authentische Materialdokumentation mit möglichst wenigen Abstrichen und zugleich eine gut überschaubare, leserfreundliche Präsentation der Texte, sie wollten eine Darstellung „der Schichten ihrer Genese" ebenso wie eine Erschließung nach inhaltlichthematischen Gesichtspunkten. Damit haben sie sich das Lösen der Quadratur des editorischen Zirkels vorgenommen, ein Ansinnen, das auch in diesem Band nur durch eine Reihe von Konzessionen und Widersprüchlichkeiten erkauft werden konnte. In-

52

Die zeigen sich im Meridian-Band etwa in der terminologisch problematischen Trennung von „Vorstufe", „Entwurf und „Materialien" oder in den oben aufgeführten Ordnungskategorien des Abschnitts „Materialien", die teilweise quer zueinander stehen. Zu weiteren Kritikpunkten vgl. die Ausführungen in Martens 1999.

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dem sie - mit vollem Recht - die Grenzen des Werks durchbrechen und mit ihrer Edition weit hinter die unmittelbare Entstehungsgeschichte der Preisrede zurückgreifen, 53 geben sie zugleich den notwendigen Bezugsrahmen einer textgenetischen Darstellung auf; denn die Textgenese ist vom Begriff des Werks nicht zu lösen. Und zudem vermengt sich die Mitteilung des in der Textüberlieferung Vorgefundenen mit der Interpretation des Materials. Mit einem solchen Vorgehen wurde - sehr zum Nachteil des ehrgeizigen Unternehmens - eine der wichtigsten Errungenschaften der jüngeren editionsphilologischen Reflexion wieder aufgegeben: Die methodisch saubere und für den Leser nachvollziehbare Trennung von Befund und Deutung. 54

7. Noch während der Arbeit an den beiden wissenschaftlichen Celan-Ausgaben wurden die Gesammelten Werke (vgl. Abschnitt 4) durch zwei Ergänzungsbände erweitert.

7.1. Schon 1989 legte Barbara Wiedemann als Herausgeberin den Band Das Frühwerk vor. Er stellt einen ersten Versuch dar, einen Gesamtüberblick über die Dichtungen Paul Celans aus den Jahren 1938-1948 zu geben. 184 Gedichte und Prosatexte hat die Herausgeberin aus dieser frühen Schaffensperiode zusammengetragen und nach den drei ersten Lebensstationen des Dichters, Bukowina, Bukarest und Wien, gruppiert. Innerhalb dieser Lebensabschnitte strebt die Herausgeberin eine chronologische Ordnung der Texte an, was allerdings, da zur Mehrzahl der Gedichte keine Datierungen existieren, zu anderen die Zeitangaben als ungesichert gelten müssen, mit erheblichen Problemen verbunden ist. Sie greift daher in vielen Fällen auf die Abfolge der Texte in den Überlieferungsträgern zurück, was freilich zu einer Anordnung fuhrt, die dem Leser wenig Orientierung gibt. 55 Da sich zudem die Datierungsansätze, die neben den Überlieferungsnachweisen im Anhang mitgeteilt werden, nachträglich vielfach als falsch erwiesen haben, ist die Ausgabe in dieser Hinsicht wenig aussagekräftig. Auch

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So stammen Texte der Abteilung „Materialien" vorwiegend, aber auch einzelne „Entwürfe" aus der Zeit vor der ersten Ankündigung der Preisverleihung; sie sind verschiedenen poetologischen und auch literaturgeschichtlichen Projekten zuzuordnen, die allerdings nur zu einem kleinen Teil zur Ausführung gekommen sind. So öffnet sich die Edition folgerichtig dem ununterbrochenen Strom dichtungstheoretischer Reflexion, die bis zuletzt das dichterische Schreiben Celans begleitet, ediert in diesem Zusammenhang auch den im März 1960 gesendeten Rundfunkessay Die Dichtung Ossip Mandelstams, klammert jedoch unverständlicherweise wichtige Stationen auf diesem Weg, so die Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen oder das Gespräch im Gebirg aus diesem Zusammenhang aus. Ich verweise in diesem Zusammenhang vor allem auf die wegweisenden Arbeiten Hans Zellers. Die Behauptung Barbara Wiedemanns, die zyklische Anordnung in den überlieferten Sammelhandschriften sei „weitgehend chronologisch komponiert" (GNL, S. 235), ist mangels einer gesicherten Datenbasis wohl kaum stichhaltig zu begründen. Die „lyrische Prosa", die in dieser Ausgabe mit 9 Texten vertreten ist, wurde von vornherein von dem Versuch einer chronologischen Ordnung ausgenommen.

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die Textwiedergabe in dieser „Leseausgabe" wird kaum den Ansprüchen einer kritischen Edition gerecht: „offensichtliche Irrtümer" wurden ohne weiteren Nachweis korrigiert, Orthographie und Interpunktion normalisiert, das Druckbild der Texte den vorhergehend im Verlag erschienenen Ausgaben angeglichen. Verdienstvoll ist jedoch die Aufnahme rumänischer Texte, zu denen im Anhang deutsche Übersetzungen der Herausgeberin geboten werden. 7.2. Gemeinsam mit Bertrand Badiou und Jean-Claude Rambach hat Barbara Wiedemann 1997 auch Die Gedichte aus dem Nachlaß herausgegeben. Der Titel ist in dieser Form allerdings unzutreffend; denn es handelt sich, wie nach seiner Formulierung zunächst zu erwarten, keineswegs um eine Sammlung aller nachgelassenen Gedichte Celans, sondern um eine Zusammenstellung von weit weniger als der Hälfte der bislang bekannt gewordenen lyrischen Texte aus dem Nachlaß. 56 Sowohl das Frühwerk wie auch die von früheren Nachlaßherausgebern zusammengestellten Sammlungen Schneepart und Zeitgehöft wurden in die Ausgabe nicht aufgenommen. 57 Ausgeklammert wurden weiterhin Texte, von denen keine „in Form und Status zu erkennende Endfassung" vorliegt (S. 336), wobei der Begriff „Endfassung" bei Gedichten, die Celan selbst für eine Veröffentlichung nicht freigegeben hat und teilweise sogar ausdrücklich mit Vermerken wie „Niemals veröffentlichen!", „Unveröffentlichbar" versehen hat, sich als außerordentlich problematisch erweist und auch durch die weiteren Ausführungen im „Editorischen Nachwort" keineswegs überzeugend geklärt werden konnte. Hier ragt ein stark subjektiv geprägter Entscheidungsspielraum in die Konzeption der Ausgabe hinein. Der verbleibende Teil ist freilich bedeutend genug, um ihn in einer „Studienausgabe" 58 erstmalig einem breiteren Leserkreis vorzustellen. Für die Anordnung der Gedichte bot sich eine Gruppierung an, die Paul Celan im Ansatz bereits in seiner eigenen Ablage vorgebildet hatte: In Mappen mit Aufschriften wie „Aus Niemandsrose, nicht zur Veröffentlichung aufgenommen", oder „Unveröff. Gedichte Umkreis Atemwende" sammelte er ausgeschiedene Gedichte, Unfertiges, im Status des Entwurfs Verbliebenes usf. Entsprechend entwickelten die Herausgeber eine Gliederung, die von „Zeiträumen" der veröffentlichten bzw. zur Veröffentlichung vorgesehenen Gedichtsammlungen ausgeht und innerhalb dieser Zeiträume wiederum zwischen „Nicht aufgenommenen Gedichten" und „Verstreuten Gedichten" unterscheidet. Innerhalb dieser Gruppen sind die Gedichte „strikt chronologisch" angeordnet. In der Textkonstitution greifen die Herausgeber sehr viel zurückhaltender als im Frühwerk in den überlieferten Textbestand ein; solche Eingriffe sind, abgesehen von der still-

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Die Herausgeber zählen selbst 476 Texte aus dem Nachlaß, von denen 218 in den Band aufgenommen wurden (GNL, S. 331). Als Grund geben die Herausgeber an, daß die nicht aufgenommenen Teile der Nachlaßgedichte bereits in Band 3 der GW bzw. im Band Das Friihwerk vorlägen. So charakterisieren die Herausgeber selbst ihre Ausgabe (vgl. GNL, S. 340).

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schweigenden Ersetzung von Schreibweisen, die auf die Benutzung einer französischen Schreibmaschine zurückgehen, in den Anmerkungen stets nachgewiesen. Der umfangreiche Anmerkungsteil weitet sich oftmals zu einem eigenständigen Kommentar aus, in dem nicht nur die Textüberlieferung, die Druckvorlage und die Datierung angegeben, sondern auch für das Verständnis der Gedichte wesentliche Varianten sowie Sacherläuterungen mitgeteilt werden. Zumindest bis zum Erscheinen der entsprechenden Bände der BCA stellt diese Edition - trotz der angedeuteten Problematik einer Nachlaßedition im Rahmen einer „Studienausgabe" - ein unverzichtbares Arbeitsinstrument der Celan-Forschung dar.

8. Die Herausgeberin der beiden im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Bände hat jüngstens einen ersten Versuch unternommen, eine kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans vorzulegen. Im ersten Teil ihrer Edition sucht sie zunächst eine solide Textgrundlage bereitzustellen. In der Abteilung „Von Paul Celan zu Lebzeiten publizierte Gedichte" knüpft sie weitgehend an die Textkonstitution der Gesammelten Werke an, wobei sie einerseits die verstreut von Celan veröffentlichten Gedichte sowie den Zyklus Eingedunkelt69 in die Chronologie der Gedichtsammlungen einordnet und andererseits die Sammlungen Schneepart und Zeitgehöft den Nachlaßgedichten zuschlägt. Der Band Der Sand aus den Urnen wird bedauerlicherweise nur verkürzt wiedergegeben; die Gedichte, die Celan in Mohn und Gedächtnis übernommen hat, werden an dieser Stelle ausgelassen.60 Der nachfolgenden Abteilung mit dem etwas mißverständlichen Titel „Aus dem Nachlaß publizierte Gedichte" stellt sie zunächst das Einzelgedicht Beidhändige Frühe und die beiden Sammlungen Schneepart und Zeitgehöft voran und läßt sodann Das Frühwerk und Die Gedichte aus dem Nachlaß folgen, die sie in Anordnung und Textkonstitution - hier allerdings mit Korrektur einzelner „Druckfehler" - aus den gleichnamigen von ihr selbst zusammengestellten Sammelbänden übernimmt. Erfreulich ist zunächst die konsequente Trennung zwischen vom Autor selbst veröffentlichten Gedichten und Gedichtveröffentlichungen aus dem Nachlaß Celans. Daß die Herausgeberin jedoch in der letzten Gruppe noch einmal unterscheidet zwischen von anderen Herausgebern besorgten Nachlaßdrucken61 und den von ihr selbst in frü59

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Dieser Zyklus von 11 Gedichten, der - nach Wiedemann - zunächst einen Teil der Sammlung Fadensonnen bilden sollte (wofür die in Bd. 8,2 der BCA [Fadensonnen] abgedruckten Entwürfe und Titellisten allerdings keinen Anhaltspunkt bieten), wurde von Celan für den von Siegfried Unseld besorgten Band Aus aufgegebenen Werken (Frankfurt/Main 1968) zusammengestellt. Auch im Apparat findet sich kein Verzeichnis der ausgelassenen Gedichte, so daß sich der Leser kein Bild von dieser ersten veröffentlichten Gedichtsammlung Celans machen kann. Und das auch wiederum nicht konsequent: Wahrend Beidhändige Frühe, das bereits im Sommer 1970 als Faksimiledruck in der (früher von Celan mitherausgegebenen) Zeitschrift L Ephemere erschien, als „Verstreute Publikation" eine aufwendige Sonderbehandlung erfährt, werden andere Gedichte, die ebenfalls früher publiziert wurden (z.B. Erstiegene Stille, Kleinstseite), in die Gruppe „Die Gedichte aus dem

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heren Publikationen zusammengestellten Nachlaßtexten, statt die Gedichte aus dem Nachlaß insgesamt in eine eigene chronologische Folge zu bringen, 62 gehört zu den zahlreichen Eigenwilligkeiten dieser Edition. 63 Das eigentlich Neue dieser Edition ist die durchgehende Kommentierung aller Gedichte. 64 Sie macht knapp die Hälfte des Bandes aus, teilt zu allen Texten die Daten der Entstehung und, soweit schon vorher publiziert, des Erstdrucks mit, weist die Grundlage des edierten Textes nach und führt „Varianten" abweichender Fassungen an. Die „Erläuterungen" sind konzipiert als „Sach- und Wortkommentar" und wollen weder eine durchgehende Deutung des Gedichtes bieten noch eine „Übersetzung des poetischen Worts in die Alltagssprache" (S. 563). Sie beschränken sich auf die Bereitstellung von Materialien, die Hilfestellung zur Interpretation geben, jedoch die eigene Auseinandersetzung mit dem dichterischen Text keineswegs ersetzen sollen. Im Vordergrund stehen Hinweise auf Lesespuren Celans, die die Herausgeberin in einer intensiven Sichtung der Bibliothek des Dichters herausgefunden hat. Querverweise auf andere Gedichte machen auf das Beziehungsgefuge der Gedichte aufmerksam. Verdienstvoll sind zweifellos die Sacherläuterungen, die aktuell-politische, aber auch historische, literarische und religiöse, vor allem jüdisch-kulturelle Zusammenhänge aufdecken. Im einzelnen ist die Dichte der erläuterten Lemmata allerdings unterschiedlich; Gedichte aus den von Celan selbst publizierten Sammlungen sind sehr viel intensiver kommentiert als Texte aus dem Nachlaß. Teilweise bleiben die mitgeteilten Erläuterungen hinter dem erreichten Stand der Forschung zurück, wobei überhaupt auffällt, daß Forschungsliteratur zum dichterischen Werk Paul Celans offenbar nur selten herangezogen wurde. 65 Der Gesamteindruck dieses Teils der Edition ist zwiespältig: Die Hilfestellung zu einzelnen Formulierungen, hinter denen sich eine zum Teil fremdartige Gedankenwelt verbirgt, wird jede Celan-Leserin, jeder Celan-Leser dankbar begrüßen. Inwieweit

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Nachlaß" eingeordnet. Und warum wird die von Ruth Kraft publizierte Sammelpublikation Gedichte 1938-1944 (s.u., Abschnitt 9.1), der immerhin eine eigene Sammelhandschrift Celans zugrunde liegt, aufgelöst, wahrend die weitgehend von Nachlaßherausgebern stammende Zusammenstellung Zeitgehöfi als eigenständige Nachlaßpublikation belassen wird? So ist es zumindest die erklärte Absicht der Herausgeberin. Insgesamt bleibt zu diskutieren, ob nicht die Überlieferungszusammenhänge der Gedichte, soweit sie nachweisbar von Celan stammen, als Anordnungsprinzip für eine Edition sinnvoller sind als eine chronologische Abfolge, die zudem noch Entstehungsdaten und Daten der Erstpublikation miteinander vermischt. Dazu gehört etwa auch die Entscheidung, alle Gedichte fortlaufend abzudrucken. Die Begründung, die aus der Not ökonomischer Zwänge eine Tugend zu machen sucht und sie gar als eine „neue" Errungenschaft preist, klingt - zumal in der völlig verunglückten Satzlogik - wenig überzeugend: „Zum ersten Mal werden Celans Gedichte zudem - auch dies ist neu - fortlaufend gedruckt. Mit der jedem ursprünglich zugeteilten eigenen Seite verlieren die Gedichte so an Autonomie, gewinnen aber auch im G e spräch' mit den nun enger rückenden .Nachbarn'" (Celan, Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe 2003, S. 561). Auf einen in der frühen Planungsphase noch vorgesehenen Kommentar haben die Herausgeber der BCA in der endgültigen Realisierung der Edition verzichtet. Die TCA beschränkt sich in den Fußnoten (in den Lyrikbänden) bzw. in den „Anmerkungen" (im Anhang zum Meridian) auf einzelne Sacherläuterungen und Querverweise. In der umfangreiche Bibliographie (Celan, Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe 2003, S. 567-579) sind Titel aus der Forschungsliteratur nur spärlich vertreten.

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jedoch dieser mit großem Aufwand zusammengetragene „Kommentar" die hermetische Dichtung Celans tatsächlich zu erschließen vermag, in mancher Hinsicht vom Kern dieser Gedichte eher weg- als hinzuführen scheint, steht als Schlußfrage im Raum.66 Diese Fragestellung richtet sich freilich nicht nur speziell an die hier vorgestellte Edition, sondern gilt für jedes Unterfangen, dem Werk Paul Celans durch eine kommentierte Ausgabe eine Verständnisgrundlage zu bereiten.67

9. Der Vollständigkeit halber seien an dieser Stelle noch zwei Faksimileausgaben nachgetragen, die insbesondere bis zum Erscheinen der Dokumente und Materialien im Rahmen der BCA eine empfindliche Lücke schließen. 9.1. Die Sammlung der 97 frühen Gedichte, die Celan 1944 in ein Notizbuch für seine Jugendfreundin Ruth Kraft eintrug, legte der Suhrkamp-Verlag 1985 in einer sorgfältigen Reproduktion dieser Reinschriften vor.68 Die in einem gesonderten Band beigelegten Transkriptionen weichen allerdings in vielen Fällen von den Faksimiles ab: Orthographie und Interpunktion wurden normiert, vermeintliche Irrtümer korrigiert, das Druckbild den anderen im Verlag erschienenen Gedichtsammlungen angepaßt. Die Datierungsansätze, die Ruth Kraft den Transkriptionen beifügt, müssen nach Erscheinen der entsprechenden Bände der BCA (Bd. 1 und 2/3) vielfach als überholt gelten. 9.2. Bereits neun Jahre früher erschien die Reproduktion der für seine Frau Giselle CelanLestrange angelegten Gedichtsammlung Schneepart,69 Auf die gesonderte Beigabe einer Transkription verzichtete der Verlag, da schon 1971 in einer (von Beda Allemann und seinen Mitarbeitern betreuten) Nachlaßausgabe der Text der Sammlung erschienen war. Ein abschließender Vermerk in diesem ersten Nachlaßdruck macht freilich darauf aufmerksam, daß dem Text des Gedichtbandes nicht allein die (später faksimilierte) Reinschrift, sondern auch ein in Einzelheiten abweichendes Typoskript zugrunde 66

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Diese Kritik bezieht sich vor allem auf die punktuellen Erläuterungen von Sachbezügen, etwa der Aufdeckung von Lesespuren: Die Verführung ist groß, sich mit diesem Wissen zu begnügen, statt nach den Zusammenhängen, nach den eigentlichen Sinndimensionen zu fragen. Sinnvoller mag es sein, eine Kommentierung der Dichtungen Celans gesonderten Ginzelpublikationen zu überlassen. So hat Jürgen Lehmann 1997 im Winter-Verlag einen Kommentar zu Paul Celans ,Die Niemandsrose' herausgegeben. Paul Celan: Gedichte 1938-1944. Faksimile der Handschrift / Transkription der Handschrift. Mit einem Vorwort von Ruth Kraft. 2 Bde. Frankfurt/Main 1985. Paul Celan. Schneepart. Faksimile der Handschrift aus dem Nachlaß. Frankfurt/Main 1976. - In der Reproduktion wurde (versehentlich?) die Wiedergabe des Blattes 16 mit dem Zyklustitel „II" übergangen.

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liegt. 70 Diese Kontamination zweier Überlieferungsträger ist erst im Rahmen der BCA zurückgenommen worden; Band 10 gibt nunmehr - mit einer begründeten Ausnahme 71 - den unveränderten Text der Reinschrift wieder.

10. Von der Planung her gehört die BCA zu den frühesten Versuchen, für die editorische Erschließung der überaus reichhaltigen Textüberlieferung des Gesamtwerks eine textgenetische Konzeption zu entwickeln. In enger Zusammenarbeit mit Hans Zeller, der 1964 den ersten Apparatband seiner C.F. Meyer-Ausgabe vorgelegt hatte und damit einen Paradigmenwechsel in der neueren Editionsphilologie einleitete, suchten Beda Allemann und seine Mitarbeiter nach Wegen, die nachgelassenen Texte Paul Celans, die Entwürfe und Vorstufen zu den vom Dichter selbst zusammengestellten Lyrikbänden ebenso wie die unveröffentlichten Gedichte und Prosaarbeiten und die Vorarbeiten zu den Übersetzungen, in ihrer Eigenständigkeit und zugleich in den ihnen inhärenten Arbeitsabläufen editorisch aufzubereiten. Das Darstellungssystem, das Hans Zeller für die Apparatbände zur Lyrik C.F. Meyers entwickelt hatte und das den Prozeß der Gedichtentstehung in den Vordergrund rückte, bot sich auch für die Dichtungen Paul Celans an. Nach einer fast zwei Jahrzehnte währenden Orientierungsphase, in der die Herausgeber der BCA zunächst eine Edition in Form einer Lose-Blatt-Sammlung favorisierten, 72 präsentierten die ersten erschienenen Apparatbände eine Darstellungstechnik, die sich - nicht zuletzt als Folge der Berücksichtigung der abweichenden Arbeitsweise Celans und der Eigenart der Textüberlieferung - in vieler Hinsicht von ihrem Vorbild gelöst hatte. 73 Die Konsequenz, mit der das theoretisch reflektierte Konzept ohne größere Kompromisse in den bislang erschienenen Bänden umgesetzt wurde, kann als mustergültig gelten; sie wird dazu beitragen, daß sich textgenetische Editionsansätze auch in der Zukunft in Ausgaben mit wissenschaftlichem Anspruch weiter 70

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„Der Text des vorliegenden Gedichtbandes beruht auf einem Typoskript und einer damit bis auf wenige Einzelheiten [!] identischen Handschrift Paul Celans, die beide die Überschrift SCHNEEPART tragen [...]" (Paul Celan: Schneepart. Frankfürt/Main 1971, S. 95). Vgl. BCA Bd. 10,2, S. 12 und 173 f. Dieser Plan, der einer textgenetischen Konzeption sehr entgegengekommen wäre und gerade auch das Problem der Plazierung jener .Materialien', die nicht unmittelbar einzelnen Gedichten zuzuordnen sind, auf elegante Weise hätte lösen können, fand leider nicht die Zustimmung des Verlages. Neben der stärkeren Orientierung der Textstufen an den Textzeugen und einem Darstellungssystem, das (u.a.) die starke Fluktuation der Versaufteilung in besonderer Weise berücksichtigt, ist es die programmatisch eingesetzte eigene Herstellung der Satzvorlagen, mit der sich die B C A von der Meyer-Ausgabe abhebt. Mit dem Verfahren, die selbst erstellten Typoskripte des Apparates fotomechanisch zu reproduzieren, sollten „kostspielige Druckverfahren, zeitraubende Korrekturarbeiten und daraus resultierende Fehlerquellen vermieden werden" (Allemann/Btlcher 1977, S. 87). Mit dem 1997 erschienenen Band 9,2 gingen die Herausgeber zum selbstgefertigten Computersatz über und konnten durch die größere Auswahl der Zeichen und Schriften eine deutlich verbesserte Lesbarkeit der Apparatbände erreichen. Allerdings zeigt der jüngst erschienene Apparat zu Band 4, wie störungsanfällig der elektronisch gesteuerte Lichtsatz sein kann: Durch einen Programmierungsfehler wurden die Unterpungierungen der unsicher entzifferten Buchstaben als Unterstreichungen ausgedruckt. Der bereits ausgelieferte Band mußte zurückgezogen und neu ausgedruckt werden.

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durchsetzen werden, wenngleich die BCA durch ihre Tendenz zu einer äußerst abstrakten Textdarstellung einen sehr bereitwilligen und fachkundigen Leser voraussetzt. Andere gleichzeitig erschienene (oder noch erscheinende) Ausgaben mit textgenetischer Orientierung 74 scheinen in dieser Hinsicht dem Benutzer einen leichteren Zugang zu bieten. Auch wenn bis heute noch keine Bände der Abteilung II der BCA vorliegen und über deren genauere Konzeption im einzelnen wenig zu erfahren ist, so ist schon jetzt abzusehen, daß mit dem gesonderten Erscheinen der „Materialien" ein äußerst sinnvoller und editorisch innovativer Weg eingeschlagen wird. Denn hier bietet sich über Begründungen der Herausgeberentscheidungen, über „die nötigen editorischen Ergänzungen" und einzelne Korrekturen der Apparatbände hinausgehend 75 die Chance, die strikte Werkgebundenheit bisheriger Editionen zu durchbrechen und den Notizen 7 6 und Texten, die sich nicht eindeutig einem Werk zuordnen lassen, einen angemessenen Platz einzuräumen. Bei vielen modernen Autoren stehen am Anfang einer Textgenese nicht schon mehr oder minder fest umrissene Vorstellungen des künftigen Werkes, sondern eher einzelne Einfälle, Assoziationen oder auch Lektüreerinnerungen, die sich später auffächern und in verschiedensten Texten ihre Spuren hinterlassen. Sie revidieren grundsätzlich die bis heute noch dominierende Vorstellung einer auf ihr Ziel streng ausgerichteten Textentstehung und bieten fiir ein angemessenes Verständnis moderner Poetik reichhaltige Ansätze. Gerade für einen Autor wie Paul Celan, dessen dichterische Arbeit von vornherein stets ,intertextuelP ausgerichtet war, für den Bilder und Gedanken anderer Autoren immer wieder zum Anlaß wurden, selbst produktiv zu werden, bieten die nicht werkgebundenen Notizen und Entwürfe einen unverzichtbaren Ansatzpunkt eines angemessenen Verständnisses. Man wird gespannt sein, wie die Bände der geplanten Abteilung II das Problem der vielfaltigen Verknüpfungen mit Texten der ersten (und wohl auch der dritten) Abteilung lösen werden. Für die streng wissenschaftlich ausgerichteten historisch-kritischen Ausgaben bietet die Tübinger Celan-Ausgabe wenig Anregung. Ihre Leserfreundlichkeit wird durch den ausdrücklichen Verzicht auf Vollständigkeit und Genauigkeit erkauft. Auch das Fehlen einer konsequent reflektierten theoretischen Grundlage, das in den vielen Ungereimtheiten und Unscharfen in den Bandeinleitungen seine Spuren hinterlassen hat, regt nicht gerade zur Nachahmung an. Doch für das Feld der Studien- und Leseausgaben werden in der TCA Problemlösungen vorgeführt, von denen man sich eine weitere Verbreitung wünschte. Denn bislang beschränkte sich die Darstellung von Textgenesen mit nur wenigen Ausnahmen auf historisch-kritische Ausgaben. Sie wurde von einem breiteren Publikum zumeist nicht näher wahrgenommen, geschweige denn tatsächlich 74

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Zu nennen sind hier die Ausgaben zu den Dichtungen Georg Heyms und Georg Trakls und - vor allem Sattlers Frankfurter Ausgabe der Werke Hölderlins; auch die neue Büchner-Ausgabe bietet eine gut nutzbare „genetische Darstellung" der in ihr edierten Texte an. (Zu den bibliographischen Angaben der angeführten Editionen vgl. das Literaturverzeichnis.) Vgl. dazu im einzelnen Bücher/Gellhaus/Lohr 1996, S. 215fF. Dazu gehören auch die mannigfaltigen „Lesespuren" - vor allem Anstreichungen und Randnotizen in Büchern anderer Autoren die in Celans Bibliothek nachgewiesen werden können.

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genutzt. Die TCA bietet die Chance, die Erschließungsmöglichkeiten, die in der Kenntnis der Genese dichterischer Texte beschlossen liegen, in eine nicht-fachkundige Öffentlichkeit zu tragen. Die Sinnfälligkeit, mit der die Schreib- und Veränderungsprozesse einer Handschrift vor Augen gefuhrt werden, und die schnelle Überschaubarkeit der nebeneinander angeordneten Textstufen regen zur Auseinandersetzung an. Es wäre ein wünschenswerter Schritt zu einer künftigen weitergefaßten Lesekultur, wenn ein solches Modell vereinfachter Darstellung in möglichst viele Studien- und Leseausgaben Eingang fände.

Literaturverzeichnis Editionen Paul Celan: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Nachwort von Beda Allemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. Paul Celan. Eingedunkelt. In: Aus aufgegebenen Werken. Mit einem Vorwort von Siegfried Unseld. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968. Paul Celan: Gedichte. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. 2 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975. Paul Celan: Schneepart. Faksimile der Handschrift aus dem Nachlaß. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Paul Celan: Gesammelte Werke in filnf Bänden. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. [GW] - Bd. 1-3: Gedichte, Prosa, Reden. Bd. 4/5: Übertragungen. Paul Celan: Gedichte 1938-1944. Faksimile der Handschrift / Transkription der Handschrift. Mit einem Vorwort von Ruth Kraft. 2 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. Paul Celan: Das Frühwerk. Hrsg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. [FW] Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung I: Lyrik und Prosa. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe Beda Allemann, Rolf Bücher, Axel Gellhaus, Stefan Reichert (ab 1994 [Bd. 10]: Begründet von Beda Allemann. Besorgt von der Bonner Arbeitsstelle für die CelanAusgabe Rolf Bücher, Axel Gellhaus). Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990ff. [BCA] - Bislang sind (jeweils in zwei Teilbänden) erschienen: Bd. 1: Frühe Gedichte. Hrsg. von Andreas Lohr (unter Mitarbeit von Holger Gehle, in Verbindung mit Rolf Bücher). 2003. - Bd. 2/3: Der Sand aus den Urnen. Mohn und Gedächtnis. Hrsg. von Andreas Lohr (unter Mitarbeit von Holger Gehle, in Verbindung mit Rolf Bücher). 2003. - Bd. 4: Von Schwelle zu Schwelle. Hrsg. von Holger Gehle (unter Mitarbeit von Andreas Lohr, in Verbindung mit Rolf Bücher). 2004. - Bd. 5: Sprachgitter. Hrsg. von Holger Gehle (unter Mitarbeit von Andreas Lohr, in Verbindung mit Rolf Bücher). 2002. - Bd. 6: Die Niemandsrose. Hrsg. von Axel Gellhaus (unter Mitarbeit von Holger Gehle und Andreas Lohr, in Verbindung mit Rolf Bücher). 2001. - Bd. 7: Atemwende. Hrsg. von Rolf Bücher. 1990. - Bd. 8: Fadensonnen. Hrsg. von Rolf Bücher 1991. - Bd. 9: Lichtzwang. Hrsg. von Rolf Bücher (unter Mitarbeit von Andreas Lohr und Axel Gellhaus). 1997. - Bd. 10. Schneepart. Hrsg. von Rolf Bücher (unter Mitarbeit von Axel Gellhaus und Andreas Lohr-Jasperneite). 1994. Paul Celan: Werke. Tübinger Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Wertheimer. 9 Bde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996-2005 [TCA]: Mohn und Gedächtnis. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull (erscheint voraussichtlich 2005). - Von Schwelle zu Schwelle. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull unter Mitarbeit von Christiane Braun und Markus Heilmann. 2002. Sprachgitter. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. 1996. - Die Niemandsrose. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. 1996. - Der Meridian. Endfassung - Entwürfe - Materialien. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. 1999. - Atemwende. Vorstufen - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull und Christiane Wittkop. 2000. - Fadensonnen. Vorstufe - Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull, Markus Heilmann und Christiane Wittkop. 2000. - Lichtzwang. Vorstufen Textgenese - Endfassung. Bearb. von Heino Schmull unter Mitarbeit von Markus Heilmann und Chri-

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stiane Wittkop. 2001 - Schneepart. Vorstufen - Textgenese - Reinschrift. Bearb. von Heino Schmull unter Mitarbeit von Markus Heilmann und Christiane Wittkop. 2002. Paul Celan: Die Gedichte aus dem Nachlaß. Hrsg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann. Mit Anmerkungen von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. [GNL] Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Meyer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000ff. Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1993. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. [Basel,] Frankfurt/Main: [Stroemfeld/]Roter Stern 1976 ff. Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Bd. 1-7: Gedichte. Hrsg. von Hans Zeller. Bern: Benteli 19631996. Georg Traki: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995ff.

Andere Literatur Allemann, Beda / Bücher, Rolf: Bemerkungen zur historisch-kritischen Celan-Ausgabe. In: Text + Kritik 53/54, 1977, S. 85-87. Bücher, Rolf / Gellhaus, Axel / Lohr, Andreas: Die historisch-kritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht. In: Axel Gellhaus, Andreas Lohr (Hrsg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 197-226. Bücher, Rolf: Befunde deutlich? Probleme der Zeilenzählung in der Celan-Ausgabe. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 211-222. Gellhaus, Axel, zusammen mit Winfried Eckel u.a. (Hrsg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994. Gellhaus, Axel / Lohr, Andreas (Hrsg.): Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Köln, Weimar, Wien 1996. Gellhaus, Axel / Bücher, Rolf u.a. (Hrsg.): „Fremde Nähe". Celan als Übersetzer. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs [...]. Marbach/Neckar 1997. Goßens, Peter: Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. Edition und Kommentar. Heidelberg 2000. Kammer, Stephan: [Rez.:] Peter Goßens. Paul Celans Ungaretti-Übersetzung [...]. In: editio 16, 2002, S. 244-249. Lehmann, Jürgen: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose". Heidelberg 1977. Lohr, Andreas: Kleine Einführung in die Bonner Celan-Ausgabe. „Ich höre, die Axt hat geblüht", „Du liegst". In: Axel Gellhaus, Andreas Lohr (Hrsg.). Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Köln, Weimar, Wien 1996, S. 11-47. Martens, Gunter: Einblicke in die gar nicht so hermetische Poetik moderner Lyrik: Die Textgenese des Gedichtes „Hafen" von Paul Celan. In: Nadeshda Darkova, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): Deutsche Literatur im Umbruch der Geschichte. Sofia 1997, S. 67-86. Martens, Gunter: Kompromisse über Kompromisse. Über Sinn und Unsinn einer textgenetischen Leseausgabe der Dichtungen Paul Celans. In: Text. Kritische Beiträge 3, 1997, S. 71-84. Martens, Gunter: Das Problem der Verszählung. Überlegungen zur Einrichtung des Zeilenzählers in genetischen Textdarstellungen. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 197-210. Martens, Gunter: Jenseits der Werkgrenzen. Bemerkungen anläßlich des Erscheinens des „Meridian" im Rahmen der Tübinger Celan-Ausgabe. In: Text. Kritische Beiträge 5, 1999, S. 173-189. Zeller, Hans: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45-89.

Bernd Kortländer

Droste-Editionen

1.

Die Ausgaben zu Lebzeiten

So etwas wie eine Editionsgeschichte beginnt im Fall Annette von Droste-Hülshoff mit der ersten Ausgabe ihrer Gedichte, die halbanonym im Jahre 1838 bei Aschendorff in Münster herauskam. Bereits an diesem Beispiel lassen sich auch Züge erkennen, die den editorischen Umgang mit dem Werk dieser Autorin eine lange Zeit prägen sollten. Droste stand damals noch gänzlich unter den Zwängen, die ihr der adelige Stand, die Familie und schließlich auch die Rolle als Frau auferlegten, und ergab sich mehr oder weniger klaglos in ihr Schicksal. Die Familie hatte ihr den Philosophiedozenten Christoph Bernhard Schlüter aus Münster als geistlichen Mentor an die Seite gestellt. Mit ihm zusammen entwickelte sie die Idee zu dieser ersten Ausgabe, und in seine und in die Hände seines Adlatus, des Dichters Wilhelm Junkmann, legte sie dann buchstäblich das Schicksal ihres literarischen Erstlings: Sie fertigte Reinschriften von den für einen Druck in Frage kommenden Texten an, händigte diese den beiden Herausgebern aus und fuhr dann zur Verwandtschaft ins Paderbörnische, ohne weiter direkten Einfluß auf die Textauswahl und die Drucklegung zu nehmen. Schlüter nutzte den ihm gegebenen Spielraum aus, so weit das möglich war. Zwar wird das Bändchen ganz von den drei Versepen beherrscht, die mehr als 90% des Textumfanges ausmachen. Doch ging für den verbleibenden Teil mit Einzelgedichten Schlüters Bestreben darauf aus, Droste vor allem als christ-katholische Autorin zu profilieren. So wählte er denn eine Reihe von Gedichten aus dem ersten Teil des Geistlichen Jahres für den Druck, während z.B. der Zyklus Klänge aus dem Orient, dessen Reinschrift Droste ihm noch während der Drucklegung zugeschickt hatte, keine Berücksichtigung fand mit der Begründung, er störe den ernsten Charakter der Sammlung. Deutlich zu erkennen ist hinter dem editorischen Verhalten Schlüters der Versuch, sein einseitig religiös geprägtes Autorbild auch gegen den Wunsch der Dichterin selbst zu verwirklichen. Der Band wurde ein völliger Reinfall und so gut wie nicht verkauft (Woesler 1997). Doch blieb das selbstherrliche Vorgehen der Herausgeber ein Muster, das in gewisser Weise bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend war für den Umgang mit dem Werk Drostes und erst mit der zweibändigen Studienausgabe im Winkler-Verlag (1973/78) und dann mit der historisch-kritischen Ausgabe (1978-2000) ein Ende fand.

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Durch die Freundschaft zu Levin Schücking änderte sich Anfang der 1840er Jahre das Selbstverständnis Drostes als Autorin. Sie emanzipierte sich von jenen Vorurteilen, die ihr eine auch nur ansatzweise Professionalisierung ihrer Arbeit verboten, und entwickelte Ehrgeiz hinsichtlich des Bemühens, die originale Gestalt ihrer Texte zu bewahren. Als 1842 das Morgenblatt die Judenbuche druckte, brauchte es einen längeren Spaziergang entlang dem Bodensee, um sie wegen eines nicht autorisierten Texteingriffs zu beruhigen: „Ich war wild wie eine Katze..." (an Schücking, 26. Mai 1842). Und für die Ausgabe der Gedichte von 1844 fertigte sie eigenhändig eine saubere Reinschrift als Druckvorlage an, was angesichts ihrer Sehschwäche und der ständigen Krankheit eine große Anstrengung bedeutete, die sie aber auf sich nahm, um Abschreibversehen und anderen Unwägbarkeiten vorzubeugen (Jordan 1985; Blakert u.a. 1997). Auch während der von Schücking überwachten Drucklegung des Bandes wehrte sie dessen .Verbesserungsvorschläge' u.a. mit dem Hinweis ab, sie lasse sich keine „Pfauenfedern in ihren Krähenpelz" flechten (an Schücking, 8. Januar 1844). So erreichte sie, daß diese Ausgabe, sieht man von wenigen Druckfehlern ab, völlig ihren Absichten entsprach, ein Befund, der in der folgenden Geschichte der Droste-Edition leider viel zu wenig Beachtung fand. In den letzten Lebensjahren nach Erscheinen der Gedichte von 1844, als ihre Beziehung zu Schücking sich lockerte und schließlich ganz abbrach, verlor sie auch wieder die Letztkontrolle über ihre Texte. Die Reinschriften, die sie Schücking zum Abdruck in Zeitschriften und Almanachen überließ, wiesen zahlreiche sogenannte , Alternativvarianten' auf: Droste konnte sich bei der Wahl zwischen zwei Wörtern oder Wortfolgen nicht entscheiden, schrieb beide ins Manuskript und überließ Schücking die Auswahl. Heutige Herausgeber sehen sich im Prinzip noch vor dem gleichen unlösbaren Problem wie seinerzeit Schücking, eine solche Auswahl zu begründen. Allenfalls können sie sich im Abstand von mehr als 150 Jahren schon hinter eine .Wirkungsgeschichte' und den Text des Erstdrucks zurückziehen (Zeller 1979; Kortländer 1985).

2.

Erste Pläne zu postumen Editionen

Nach dem Tod der Dichterin am 24. Mai 1848 in Meersburg am Bodensee nahm der mehr oder weniger willkürliche Umgang mit ihren Texten nochmals eine neue Dimension an. Bereits im Sommer 1848 begannen die Planungen der Familie, den schriftstellerischen Nachlaß auszuwerten und auf den Markt zu bringen (Nutt-Kofoth 1997). Vor allem die Schwester Jenny von Laßberg war Motor dieses Plans: Sie sichtete die bei ihr in Meersburg verbliebenen Papiere, stellte seit dem Sommer 1848 verschiedene Abschriften her, zunächst vom zweiten Teil des Geistlichen Jahres, später dann auch von den übrigen Nachlaß-Gedichten. Dabei wurden allerdings nicht nur ungedruckte Gedichte in die Abschrift einbezogen, sondern auch solche, die nach Erscheinen der Ausgabe von 1844 in Einzeldrucken erschienen waren. Das Erstaunliche dabei ist, daß

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Jenny von Laßberg für diese Abschriften nicht in allen Fällen auf die Erstdrucke zurückgriff, wohl auch nicht zurückgreifen konnte, und die Texte dann aus den Arbeitsmanuskripten herstellte. Gelegentlich scheinen Erstdrucke auch erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugezogen und zur Korrektur der ursprünglichen Abschriften benutzt worden zu sein. Im Mai 1849 nahm die Familie über Mittelsmänner erstmals gezielt mit dem Cotta-Verlag Kontakt auf, um die Möglichkeit für eine Nachlaßedition zu sondieren, in deren Mittelpunkt das Geistliche Jahr stehen sollte. Man entwarf den Plan einer dreibändigen Werkausgabe, die im ersten Band die Texte der Gedichte von 1844 enthalten sollte, im zweiten Band die Nachlaßgedichte mit dem Geistlichen Jahr als Mittelpunkt und im dritten Band die Prosa, das Lustspiel Perdu! und Briefe. Seitens der Familie ging die Verantwortung für das Projekt von Jenny von Laßberg auf ihren Bruder Werner von Droste-Hülshoff über, der den Familiensitz bei Münster bewohnte. Nachdem die Familie zunächst Schlüter und seinen Kreis für die Betreuung der Ausgabe favorisiert hatte, zog Werner von Droste jetzt Levin Schücking mit in das Projekt hinein. Später erhielt Schücking durch Jenny von Laßberg eine Vollmacht zur freien Benutzung des Meersburger Droste-Nachlasses, wodurch er zur Schlüsselfigur in der Geschichte der Droste-Nachlaßedition wurde. In der Frontstellung von Schlüter und Schücking zeigt sich eine Spannung, in der bereits die Dichterin selbst gestanden hatte und die auch noch für die Geschichte der Droste-Edition und -Rezeption insgesamt am Ende des 19. Jahrhunderts charakteristisch sein sollte: auf der einen Seite eine Betonung der geistlichen bzw. dezidiert katholischen Dichterin, wie Schlüter sie vertrat, auf der anderen Seite eine eher säkulare Einordnung durch Schücking mit der Betonung der Naturlyrik und der Geschichtsballaden. Das Projekt der dreibändigen Ausgabe wurde vom Verlag aus dem schlichten Grund abgelehnt, weil die Erstauflage der Gedichte von 1844 noch längst nicht verkauft war und ein erneuter Abdruck als Band 1 einer Gesamtausgabe deshalb nicht in Frage kam. So entstand zunächst nur eine Separatausgabe des bislang noch nicht gedruckten Geistlichen Jahres.

3.

Das Geistliche Jahr

Es ist charakteristisch, daß Schücking diese Aufgabe bereitwillig dem Gespann Schlüter/Junkmann überließ. Deren Bemühen ist dabei von der deutlichen Absicht geprägt, eine Art Gebets- und Andachtsbuch zusammenzustellen. Nun hatte Droste aber, gerade weil sie merkte, daß sie genau diese Gattung nicht bedienen konnte, ihre Arbeit an dem Zyklus zunächst unterbrochen und sie später trotz Schlüters ständiger Ermahnung, wie der extrem schwierige Zustand des Manuskripts der Gedichte des zweiten Teils klar erweist, nicht wirklich zu Ende gefuhrt. In seiner „Einleitung" behauptet Schlüter aber genau das Gegenteil („mit seinem Beirath war es, daß sie an den zweiten Theil die letzte Hand angelegt") und beruft sich auf ein mündliches Vermächtnis der Dichterin, die ihn bei ihrem letzten Zusammentreffen beauftragt habe, „das Geistliche

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Jahr ganz oder zum Theil zu veröffentlichen und dabei nur seiner Ueberzeugung zu folgen." Der weitgehend erblindete Schlüter stützte sich für seine Edition auf die Entzifferung durch Wilhelm Junkmann und Wilhelm Braun und zusätzlich auf die Erinnerung an eine Lesung Drostes auch des zweiten Teils, die 1846 stattgefunden haben soll. Er war in der klassischen Rolle des Editors als Testamentsvollstrecker', der sich in seinen Entscheidungen durch den Autorwillen autorisiert und deshalb außerhalb aller historischen Kontrolle wähnen konnte. Entsprechend fehlerhaft und willkürlich ist sein Text ausgefallen, der streckenweise einer freien Nachdichtung gleicht. Immerhin hat Schlüter dann für die 2. Auflage des Geistlichen Jahres erste Korrekturen durch Gustav Eschmann berücksichtigt. Eschmann, ein philologisch ausgebildeter Gymnasiallehrer und Droste-Liebhaber, wurde in den Folgejahren zum strengsten Kritiker der auf dem Markt erscheinenden Editionen und zu einem von verschiedenen Herausgebern ausgebeuteten kostenlosen Korrektor und Zuarbeiten Das gilt zum einen für das Geistliche Jahr, dessen Text er für den 3. Band der von Levin Schücking betreuten dreibändigen Ausgabe im Cotta-Verlag einer grundlegenden Kritik unterzog (s. dort); das gilt aber auch und ganz besonders für die erste Zusammenstellung von nachgelassener Lyrik, die 1860 unter dem Titel Letzte Gaben von Annette von DrosteHülshoff herauskam.

4.

Letzte Gaben

Nachdem das Geistliche Jahr untergebracht war - es erlebte 1857 bereits seine 2. Auflage - und andererseits der Plan zu einer Gesamtausgabe zunächst scheiterte, konzentrierte Schücking sich auf einen gesonderten Band mit Nachlaßtexten, den er jetzt aber nicht mehr im Cotta-Verlag, sondern 1860 im Rümpler-Verlag in Hannover verwirklichte, wo damals auch seine eigenen Werke erschienen (Nutt-Kofoth 1999 und 2000). Grundlage für den Text dieses Bandes waren immer noch die zehn Jahre zuvor von Jenny von Laßberg zusammengestellten Abschriften. Schücking, der im Band selbst nirgendwo genannt ist, hat sich nicht bemüht, Erstdrucke oder Reinschriften von Gedichten, die in seinem Besitz gewesen waren, fiir die Letzten Gaben nutzbar zu machen, sondern sich ganz auf die Vorarbeit der Frau von Laßberg gestützt. Seine Erfindung sind Zusammenstellung und Betitelung der Gedichtgruppen („Gemüth und Leben"; „Erzählende Gedichte"; „Denkblätter"), die teilweise an die Gruppentitel der Gedichte von 1844 erinnern. Außer den Gedichten enthalten die Letzten Gaben die beiden zu Lebzeiten gedruckten Prosastücke Die Judenbuche und Westphälische Schilderungen - hier von Schücking unter den erfundenen Titel Bilder aus Westphalen gestellt - , die etwa die Hälfte des Umfangs des Bandes einnehmen und deren Abdruck äußerst fehlerhaft ist. Die Bezeichnung Letzte Gaben, die Gruppentitel, die Anordnung der Gedichte, einzelne willkürlich veränderte Gedichttitel und auch der erfundene Werktitel Bilder aus Westphalen haben sich in der Droste-Philologie erstaunlich hartnäckig gehalten. Dabei hatte Gustav Eschmann als erster und bereits sehr früh auf die

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gravierenden textlichen Mängel der Sammlung sowie die vielfältigen Eingriffe der Bearbeiter hingewiesen; 1873 erschienen erstmals seine Korrekturen am Beispiel von neun Gedichten, die restlichen Anmerkungen wurden 1909 aus seinem Nachlaß herausgegeben. Wie naiv und dilettantisch die Familie solchen philologischen Fragen gegenüberstand, zeigt ein Brief der Droste-Nichte Hildegard von Laßberg an Christoph Bernhard Schlüter vom 29. Januar 1873, wo es über die Kritik Eschmanns heißt: „Ich muß gestehen ich habe die Nothwendigkeit u. den Nutzen von den Bemühungen dieses guten Herrn nie einzusehen vermocht, da die Schriften der lieben Tante immer genau durchgesehen erschienen sind u. gerade besonders frei von Druckfehlern" (Woesler 1980, Dok. 394).

5.

Weitere Neudrucke

Die ambivalente Stellung Schückings zu dem Projekt der Letzten Gaben, das schließlich doch eher eins der Familie blieb, zeigt sich auch in dem Umstand, daß er ungedruckte, in seinem Besitz befindliche Texte und Textfragmente nicht in den Band integrierte, sondern zur selben Zeit in einer separaten Publikation herausbrachte. Sein Aufsatz Annette von Droste-Hülshoff. Ein Lebensbild, der 1860 in Band 10 des Illustrirten Familienbuches zur Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise erschien, enthielt Auszüge aus dem Epos Walther, dem 3. Gesang von Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard, das Textfragment Bei uns zulande auf dem Lande sowie eine kurze Probe aus dem Lustspiel Perdu!. 1862 erschien das Lebensbild dann auch separat als Buch. Der Schlüter-Kreis steuerte im Jahr 1877 zwei weitere Nachlaßpublikationen bei, die beide im Verlag Adolph Russell in Münster erschienen: Lieder mit PianoforteBegleitung componirt von Annette von Droste-Hülshoff mit 27 Liedkompositionen zu eigenen und fremden Texten und Briefe der Freiin Annette von Droste-Hülshoff mit den Briefen an Junkmann und Schlüter und zwei Erstdrucken von Gedichten. Mit diesen beiden Bänden nahm die Droste-Edition eine neue, mehr hagiographische Qualität an, wobei die bereits angesprochene Auseinandersetzung um das .richtige' Droste-Bild - religiös-konfessionelle versus säkulare Autorin - durch den einsetzenden Kulturkampf an Schärfe deutlich gewann.

6.

Die erste Gesamtausgabe

Am 17. Januar 1877, der Ablauf des damals noch 30jährigen gesetzlichen CopyrightSchutzes stand bevor, wendet sich Levin Schücking aus Rom an den Cotta-Verlag mit der kurzen Bemerkung, es seien ihm „auf eine durch mich zu besorgende Gesammtausgabe der Gedichte und Schriften von Annette von Droste zielende Anträge gemacht worden", und bittet um Stellungnahme (Woesler 1980, Dok. 420). Der Verlag zeigt sein Interesse und drängt wegen der Nachdrucke nach dem 24. Mai 1878 zur Eile.

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Denn mitten im Kulturkampf war zu erwarten, daß insbesondere katholische Verlage wie Schöningh in Paderborn oder Herder in Freiburg Interesse an einer solchen Ausgabe zeigen würden. Schöningh hatte denn auch bereits bei Schücking wegen der Herausgeberschaft angefragt, doch gab dieser Cotta den Vorzug. Am 15. November 1877 wurde ein Herausgebervertrag unterzeichnet, nachdem Schücking einen genauen Plan über den Inhalt der drei Bände konzipiert und die einleitende biographische Skizze abgeliefert hatte. Es sollte zunächst alles das versammelt werden, was damals an gedruckten literarischen Texten vorlag; lediglich zwei unbekannte Texte waren vorgesehen. Band 1 sollte die Gedichte und die Letzten Gaben enthalten; Band 2 die Prosa sowie - als neue Texte - das Versepos Walther und den 3. Gesang von Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard; Band 3 schließlich das Geistliche Jahr. Der Entstehungsprozeß der Ausgabe war von verschiedenen Schwierigkeiten begleitet. Cotta hatte sich inzwischen wegen Honorarfragen mit den Laßberg-Schwestern - den Nichten Drostes - überworfen, die dem Unternehmen ihre Unterstützung entzogen und dem Herausgeber den Zugang zum Nachlaß versperrten. Deshalb konnte Schücking z.B. den fragmentarischen Abdruck vom 3. Gesang des Hospiz auf dem großen St. Bernhard aus dem Lebensbild nicht wie geplant vervollständigen. Gustav Eschmann meldete sich mit der Forderung zu Wort, nun endlich die Korrekturen am Geistlichen Jahr, die in der 2. Auflage nur teilweise berücksichtigt worden waren, auch wirklich auszufuhren und bittet - vergeblich - um angemessene Honorierung. Schließlich erscheint die dreibändige Ausgabe der Gesammelten Schriften von Annette Freiin von Droste-Hülshoff von Juni 1878 bis zum Frühjahr 1879 zunächst in der Reihe der Deutschen Volksbibliothek und zugleich noch einmal als Separatausgabe. Textlich bringt der erste Band in den Gedichten der Ausgabe von 1844 eher Rückschritte: Schücking greift in die Texte ein, glättet und verändert. Einige wenige Fortschritte gibt es hinsichtlich der Nachlaßgedichte, ohne daß freilich Eschmanns durchgreifende Kritik zum Zuge gekommen wäre. In die dem Band vorgeschaltete biographische Skizze streut Schücking einige unbekannte Jugendgedichte ein, die er offenbar aus dem Nachlaß auf Vorrat exzerpiert hatte. Band 2 bringt als größte Texterweiterung den kompletten Abdruck des Jugendepos Walther. Für das Geistliche Jahr ergeben die erneuten Bemühungen Eschmanns noch einmal eine gewisse Verbesserung gegenüber den vorhandenen Drucken. Hinsichtlich neuer Texte waren die Möglichkeiten Schükkings aber von vornherein dadurch begrenzt, daß er von der Benutzung des Nachlasses abgeschnitten war. Andererseits hat man aus seiner Korrespondenz mit dem Verlag auch nicht den Eindruck, als ob ihm daran so viel gelegen gewesen wäre. Immerhin liegt das Droste-Werk jetzt in einer repräsentativen Ausgabe in einer gut eingeführten Reihe vor und befindet sich so offensichtlich auf dem Weg in den Kanon.

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Die Kreiten-Ausgabe

Zumindest auf dem Feld der Erweiterung des Textbestandes wurde die Cottasche Ausgabe von der tatsächlich kurze Zeit später zu erscheinen beginnenden Konkurrenzausgabe des katholischen Schöningh-Verlages deutlich übertroffen. Das lag daran, daß Elisabeth von Droste-Hülshoff, eine Nichte der Dichterin und treibende Kraft dieser Ausgabe, über bis dahin nie benutztes Nachlaßmaterial aus dem Hülshoffer Zweig der Familie verfugte. Ihre erklärte Absicht war es, Droste vor allem als katholische Dichterin zu präsentieren, und sie wandte sich deshalb an den Provinzial der Jesuitenprovinz Köln mit der Bitte, ihr einen geeigneten Mitherausgeber zu benennen. Als solcher fungierte dann der Jesuitenpater Wilhelm Kreiten, dessen Aufgabe weniger auf editorischem Gebiet lag, sondern vor allem darin bestand, die Kommentare zu schreiben. Die Textbasis für die Edition wurde ihm zum großen Teil durch Elisabeth von DrosteHülshoff zugeliefert. Das galt sowohl für die erstmals abgedruckten Texte, von denen sie Abschriften herstellte, wie auch für die bereits gedruckten Texte, für die Elisabeth von Droste nicht immer auf die besten Überlieferungsträger zurückgriff. So wurde etwa Die Judenbuche nach dem Text der Letzten Gaben und nicht nach dem Erstdruck im Morgenblatt gedruckt. Ein großer Mangel dieser Ausgabe war es überdies, daß ihr der Meersburger Nachlaßteil nicht zur Verfugung stand. Immerhin werden zum ersten Mal in der Droste-Philologie einzelne Lesarten zu Texten mitgeteilt, zu denen die Editorin die Handschriften besaß. Es gelang Elisabeth von Droste-Hülshoff außerdem, eine Fälschung in die Droste-Rezeption einzuschleusen: Das Gedicht Morgengebet mit der gern zitierten Schlußzeile: „Denn von den Sternen grüß ich Euch!" ist bis heute vor allem im katholischen Milieu verbreitet, stammt aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Droste, sondern aus der Feder ihrer literarisch ambitionierten Nichte (s. HKA II, S. 933 f.). Zuerst erschien kurz vor Weihnachten 1883 der Band 1,2 der Ausgabe mit dem Geistlichen Jahr. Hier ist die katholisierende Tendenz ganz besonders stark und reicht bis hin zu willkürlichen Änderungen im Text und Verdrehungen des Sinns im Kommentar. Es folgte im November 1884 der Band 2 mit den Versepen und Balladen, der erstmals den 3. Gesang von Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard vollständig enthielt. Der Text des nicht zu Ende geführten Werkes wurde dabei auf recht dilettantische Weise aus unterschiedlichen Textstufen zusammengesetzt. Zu den Epen verfügte Elisabeth von Droste-Hülshoff über umfangreiches Handschriftenmaterial und konnte hier Varianten zu den gedruckten Texten mitteilen. Band 3 vom Oktober 1885 versammelt die Gedichte von 1844 und die Letzten Gaben, Band 4 vom Juni 1886 schließlich die Prosa und die Jugenddichtung. Dieser Band enthält besonders viele Erstdrucke, darunter als bedeutendste die Prosafragmente Ledwina und Joseph sowie das Dramenfragment Bertha und den kompletten Text von Perdu!. Auch bei den in diesem Band enthaltenen Kinder- und Jugendgedichten gibt es einen erheblichen Zuwachs zu verzeichnen. Zuletzt kam als Band 1,1 der Ausgabe im Dezember 1886 das

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Lebensbild heraus, zu dem Kreiten eine Fülle bis dahin unbekannten Briefmaterials benutzen konnte. Die Reaktionen auf die Kreitensche Ausgabe waren verständlicherweise verheerend; selbst die katholische Kritik konnte die erheblichen Mängel nicht beschönigen. Wieder war aus dem Zusammenspiel von Dilettantismus und Ideologie eine verhängnisvolle Mischung entstanden, die den Zugang zum Werk Drostes eher behinderte als beförderte. Anders als die Ausgabe bei Cotta fand die Kreitensche Ausgabe nur eine sehr geringe Verbreitung.

8.

Die Arens-Ausgabe

Die erste vollständige Ausgabe nach der Kreitenschen waren die Sämtlichen Werke, die der Aachener Lehrer und Droste-Verehrer Eduard Arens 1904/05 in der populären Reihe von Max Hesses neuen Leipziger Klassiker Ausgaben herausbrachte. Arens selbst schreibt im Vorwort zu Band 1 über seine Editionspraxis: In kritischer Hinsicht war unser Streben darauf gerichtet, einen zuverlässigen Text herzustellen, dessen Grundlage natürlich die durch P. Kreiten gelieferte wertvolle Rezension (Paderborn 1887 ff.) bilden mußte. Den von ihm dargebotenen reichhaltigen (leider nicht überall zuverlässigen) kritischen Apparat [...] haben wir, so gut es ohne neue Vergleichung der zerstreuten Handschriften anging, auszunutzen gesucht. [...] Wir haben versucht, die rechte Mitte zu halten, und hoffen namentlich die in der Kritik unerläßliche Vorsicht nicht allzu häufig außer acht gelassen zu haben. Zahllose Fehler und Versehen sind allerdings stillschweigend gebessert, so daß die Texte unserer Ausgabe (namentlich in Band II und den drei letzten Bänden) vielfach von der bisher üblichen Vulgata abweichen. (I, LXIIIf.)

Damit sind die Voraussetzungen der Arbeit von Arens bezeichnet: Er hat selbst keine Handschriften benutzt und stützt sich auf den Text Kreitens auch dort, wo er Erstdrukke hätte benutzen können {Judenbuche, Westphälische Schilderungen, Letzte Gaben). Er folgt Kreiten in allen Schwächen von dessen Arbeit, z.B. auch darin, daß er Texte in die Abfolge der Gedichte von 1844 hinein interpoliert {{Das Morgenroth schwimmt still entlang) beschließt unter dem erfundenen Titel Feier die Abteilung Feld, Wald und See; {Wie sind meine Finger so grün) ist aus Letzte Gaben in die Abteilung Gedichte vermischten Inhalts gerutscht; das ungedruckt gebliebene Schücking-Gedicht {Zum zweyten Mahle) rückt zu den gedruckten in die Abteilung Gedichte vermischten Inhalts). Den Apparat Kreitens hat er u.a. dazu benutzt, um dort als gestrichen angeführte Textpassagen aus dem Versepos Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard wieder in den Drucktext einzusetzen mit der Begründung, Droste habe „in ganz unverantwortlicher Weise gestrichen". Man sieht, wie sich der willkürliche Umgang mit dem Text bis in diese weit verbreitete populäre Ausgabe fortgesetzt hat, die unter editorischen Gesichtspunkten ohne wirklichen Wert ist.

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Die Schwering-Ausgabe

Im Jahre 1912 hat sich dann auch ein Pionier der universitären Neugermanistik und Begründer der westfälischen Literaturforschung Julius Schwering (Aust 2003) an eine Droste-Edition herangemacht. Für die weit verbreitete Reihe der Goldenen KlassikerBibliothek des Verlages Bong & Co. lieferte er Sämtliche Werke in sechs Teilen. Teil 1 enthält die Gedichte von 1844 und die Letzten Gaben; Teil 2 Das Geistliche Jahr und einige Jugend- und Nachlaßgedichte. Die etwas seltsame Aufteilung der Teile 3 und 4, Teil 3 umfaßt die Versepen Walther, Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard und Des Arztes Vermächtnis, Teil 4 gewissermaßen als Nachklapp Die Schlacht im Loener Bruch und den Spiritus Familiaris, ist offenbar den Umfangsvorgaben des Verlages geschuldet. In Teil 5 hat Schwering Prosa und Dramen versammelt, und Teil 6 schließlich bietet eine Auswahl von 26 Briefen und den Sachkommentar. In den Sachanmerkungen zur Lyrik der Teile 1 und 2 - für die späteren Teile fallen die Kommentare sehr knapp aus - und in den den einzelnen Teilen vorgeschalteten Einleitungen liegt der besondere Wert dieser Ausgabe, in die Schwering sein reiches Wissen vor allem im Feld der westfälischen Sprache, Kultur und Literatur hat einfließen lassen. Er gibt verdienstvolle Hinweise auf Quellen und Anregungen und kann sich dabei auch auf die Arbeitsergebnisse seiner zahlreichen Doktoranden stützen. Auch hinsichtlich der Texte bringt die Schweringsche Edition deutliche Fortschritte gegenüber Schücking oder Kreiten. Zwar hat auch er, obwohl er behauptet, genau dem Erstdruck zu folgen und zudem die Reinschrift verglichen zu haben, die Gedichte (Wie sind meine Finger so grün) und (Zum zweyten Mahle) unter den von Schücking geprägten Titeln in den ursprünglichen Bestand der Ausgabe von 1844 interpoliert und Eingriffe wie die Glättungen des Plurals „Wimper" (Reinschrift) zugunsten „Wimpern" (Erstdruck) nicht korrigiert. Trotzdem ist Schwerings Text für die Gedichte bis dahin der beste aller greifbaren Droste-Ausgaben. Auch für die Letzten Gaben hat er die Textkritik Eschmanns in den meisten Fällen aufgegriffen, gelegentlich allerdings auch nicht, wie etwa beim Gedicht Einer wie Viele, und Viele wie Einer, das sowohl den Schückingschen Titel Stille Größe trägt wie auch den fehlerhaften Text der Letzten Gaben hat. Auch für die Epen und die Prosa hat er offenbar auf die jeweils besten verfügbaren Textgrundlagen zurückgegriffen, so etwa bei der Judenbuche auf den Erstdruck und nicht auf den fehlerhaften Abdruck der Letzten Gaben. Bei den Briefen stützt Schwering sich auf die kritische Ausgabe, die Hermann Cardauns 1909 von 170 Briefen der Dichterin herausgebracht hatte. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß mit Schwerings Edition die Beschäftigung mit den Droste-Texten aus den Händen der Liebhaber und Dilettanten in die eines wirklichen Fachmanns und Philologen übergegangen ist. Auch wenn die Ausgabe, was den editorischen Standard angeht, nicht die Qualität der Bemühungen Gustav Eschmanns erreicht, so sind insbesondere Schwerings Hinweise auf Quellen und literarische Anregungen auch heute noch von Bedeutung. Darüber hinaus hat er eine ganze Fülle von angehenden Germanisten auf Droste und ihr Werk aufmerksam gemacht und einschlägige Staatsarbeiten und Dissertationen betreut.

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Die Ausgabe der Sämtlichen Werke

Bereits während Schwering noch an seiner Ausgabe arbeitete, konstituierte sich parallel eine Arbeitsgruppe, die für den Georg Müller-Verlag ein ähnliches Projekt unter dem Titel Sämtliche Werke realisieren wollte. Es bestand aus dem bereits als Herausgeber der Briefe erprobten Hermann Cardauns, aus Kurt Pinthus und der jungen Droste-Forscherin Bertha Badt-Strauß. Diese sollte die Lyrik und Epik edieren, während für das Geistliche Jahr Julius Schwering als Bearbeiter vorgesehen war. Pinthus begann mit der Edition der Briefe von und an Levin und Luise Schücking; einige Fahnenabzüge seiner Arbeit haben sich erhalten. Cardauns bearbeitete den restlichen Briefwechsel und schickte sein fertiges Manuskript bereits 1911 an den Verlag. 1914 erschien als einziges Ergebnis der Band 2,1 mit dem Text der Epen, bearbeitet von Bertha Badt(-Strauß). Der Kriegsausbruch machte die Weiterarbeit an dem Unternehmen dann unmöglich. Nach Kriegsende wurde das Projekt der Sämtlichen Werke im Jahr 1920 wieder aufgegriffen, wobei dem damals noch nicht promovierten Münsteraner Germanisten und Volkskundler Karl Schulte Kemminghausen (Wollheim/Wollheim 2003) zunächst nur eine Nebenrolle als Bearbeiter von Band 3 zugedacht war. Doch bald zeigte sich, daß, sollte der Plan überhaupt zum Abschluß kommen, Schulte Kemminghausen die Dinge in die Hand nehmen mußte. Er wurde zum Hauptherausgeber gemacht, dem dann über Band 3 hinaus auch die Fertigstellung von Band 2,2 {Geistliches Jahr) und Band 4 zufiel. Bertha Badt brachte ihre aus der Vorkriegszeit stammenden Arbeiten zu den Gedichten und den Epen ein, die jetzt noch um die Lesartenapparate erweitert wurden. Von der ursprünglichen Gruppe werden sie und Kurt Pinthus als Mitherausgeber weiterhin im Titel der Ausgabe genannt, wobei Pinthus allerdings gar keinen Beitrag leistete, da die Briefedition aus dem neuen Plan ausgeschlossen blieb. Die Sämtlichen Werke erscheinen zwischen 1925 und 1930 in 4 Bänden, die drei ersten Bände alle im Jahr 1925, Band 4 erst 1930, weil, wie Schulte Kemminghausen schreibt, infolge „der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse während der Inflationszeit" (IV, S. 369) sich zusätzliche Verzögerungen ergaben. Der erste Band (Bearb.: Bertha Badt) enthält die Gedichte der Ausgabe von 1844 und der Letzten Gaben\ Band 2,1 bringt die Epen (Bearb.: Bertha Badt), wobei der Verlag möglicherweise sogar den Druckstock von 1914 benutzte; Band 2,2 das Geistliche Jahr (Bearb.: Karl Schulte Kemminghausen); Band 3 die Prosa und das Lustspiel Perdu! (Bearb.: Karl Schulte Kemminghausen). Erst fünf Jahre später erschien der letzte und vierte Band, wieder bearbeitet von Schulte Kemminghausen, der die Jugendgedichte, die nachgelassenen Gedichte, Übersetzungen, Walther, Bertha sowie Fragmentarisches und Zweifelhaftes enthält, darunter eine Fülle bis dahin unbekannter Texte. Die Sämtlichen Werke unterscheiden sich von allen bisherigen Droste-Ausgaben durch die Benutzung der Handschriften und die darauf beruhenden umfangreichen Lesarten-Apparate. Zwar hatte die Ausgabe von Kreiten bereits Varianten der Manuskripte verzeichnet, doch wird jetzt erstmals - zumindest dem Anspruch nach - syste-

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matisch handschriftliches und gedrucktes Material herangezogen, verglichen und verzeichnet. Das Vorwort zu Band 2,1 liefert einen sehr knappen Aufriß der „Prinzipien einer neuen Ausgabe der Dichtungen Annettens von Droste", der so bereits 1914 gedruckt worden war und von Bertha Badt stammt. Sie sieht sich darin verpflichtet, „lieber mit Annette von Droste in die Irre zu gehen, als mit Schücking den rechten Weg zu finden" (S. XVIII), und betont den Wert der Erstdrucke. Schaut man genauer hin, so zeigt sich, daß entgegen der immer wieder betonten strikten Verpflichtung auf den Willen der Autorin auch diese Ausgabe die alten Fehler tradiert: Wieder steht das Nachlaßgedicht (Wie sind meine Finger so grün) unter dem erfundenen Titel Blumentod in der Abteilung Gedichte vermischten Inhalts und auch das Gedicht an Schücking (Zum zweyten Mahle) wird in den Bestand der Ausgabe von 1844 eingefügt; die Gedichte der Letzten Gaben sind mit den Zwischentiteln und in der Anordnung abgedruckt, die Schücking für seinen Abdruck von 1860 erfunden hatte, wodurch zu Lebzeiten gedruckte, autorisierte und aus dem Nachlaß edierte Gedichte vermischt werden. Hier hatte sich in der Droste-Edition offensichtlich eine Tradition gebildet, die auch die Sämtlichen Werke nicht zu durchbrechen wagen. Die Texte sind in Rechtschreibung und Interpunktion „den dafür geltenden Regeln der Gegenwart" angepaßt (IV, S. 370). Aber auch was die Textqualität angeht, bleibt die Ausgabe hinter den Möglichkeiten und dem eigenen Anspruch zurück. So wird, um ein prominentes Beispiel zu nennen, für das Gedicht Im Grase nicht der Erstdruck in der Kölnischen Zeitung zugrunde gelegt, was zu verschiedenen Textfehlern fuhrt (Z. 2: „Arome" statt „Arom"; Z. 19: „ziehenden" statt „zieh'nden"; Z. 23: „heiße" statt „flüchtge"; Z. 26: „mir" statt „nur"). Auch hinsichtlich des kritischen Apparates bleiben gerade in dem so wichtigen Band 1 mit den Gedichten der Ausgabe von 1844 viele Fragen offen. Das liegt weniger an der Verzeichnungstechnik, die ganz wie bei Editionen antiker und mittelalterlicher Texte mit Einzelvarianten operiert, ein Verfahren, das sich durchaus auf dem Niveau der neugermanistischen Editionen der Zeit bewegt, sondern an vielfältigen Entzifferungsproblemen und Nachlässigkeiten der Bearbeiterin. So werden selbst Eingriffe in den Text des Erstdrucks nicht gekennzeichnet (z.B. die Änderung in Der Weiher, v. 16: ,,hab'" D in „halt"), gelegentlich auch nur halbherzig ausgeführt (z.B. Die Vogelhütte, v. 78, wo D „Luke" hat, wo es aber „Lücke" heißen muß und die Sämtlichen Werke „Lücke" setzen). In der Kommentierung fallt dieser Band deutlich hinter Schwering zurück und liefert teilweise nicht einmal die notwendigste Information. Eine ähnliche Diagnose muß man auch fur die Epen stellen, wo die Bearbeiterin hartnäckig an dem Titel Das Vermächtnis des Arztes festhält, obwohl der Druck Des Arztes Vermächtnis hat. Der 3. Gesang des Hospiz wird ohne weiteres zu den anderen beiden Gesängen gestellt, obwohl er in D nicht enthalten ist und von der Dichterin nicht fertiggestellt wurde. So bieten die Sämtlichen Werke für diesen Gesang einen Text, in dem Verse durch Klammern markiert sind, die in der Handschrift gestrichen wurden, auf die wegen des Sinns aber nicht verzichtet werden kann. Wesentlich sorgfältiger ist Schulte Kemminghausen bei seiner Edition des Geistlichen Jahres vorgegangen. Er hatte den Vorteil, auf intensive Vorarbeiten seines aka-

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demischen Lehrers Franz Jostes zurückgreifen zu können, der 1920 möglicherweise unter Beteiligung seines Schülers eine Neuedition des Zyklus vorgelegt hatte. Schulte Kemminghausen folgt in den Sämtlichen Werken mit wenigen Ausnahmen der Ausgabe von Jostes buchstabengetreu. Seine intensive Beschäftigung mit dem Geistlichen Jahr kam noch der Neuausgabe von 1971 zu Gute, die er gemeinsam mit Winfried Woesler verantwortete, und damit indirekt dem entsprechenden Band der Historischkritischen Ausgabe (s.u.). Auch der vollständig von Schulte Kemminghausen edierte 3. Band ist deutlich sorgfältiger gearbeitet als die von Badt verantworteten Teile. Für die Judenbuche konnte er allerdings noch nicht auf die kurz zuvor von ihm wiederentdeckten Entwürfe im Hüffer-Nachlaß in Bonn zurückgreifen, weshalb der Lesartenapparat sich auf den Nachweis eigener Texteingriffe und die ziemlich unsinnige Verzeichnung aller Textfehler in den bisherigen Droste-Ausgaben von Schücking bis Schwering beschränkt. Immerhin wird so das Ausmaß der Textverstümmelungen deutlich. Er selbst folgt mit wenigen Ausnahmen (z.B. „Regenwasser" statt „Wegwasser"; „Gerichtsschreiber" statt „Gerichtschreiber") dem Erstdruck im Morgenblatt und bietet einen insgesamt recht zuverlässigen Text von Drostes Novelle, von der in den Jahren zuvor bereits über 50 Einzeldrucke, teilweise in mehreren Auflagen, herausgekommen waren. Zeitgleich gibt Schulte Kemminghausen dann im Dortmunder Ruhfus-Verlag in einer Separatausgabe die Judenbuche mit „sämtlichen jüngst wieder aufgefundenen Vorarbeiten der Dichterin und einer Handschriftenprobe" heraus. Auch für die Westphälischen Schilderungen greift er auf den Erstdruck zurück, behält aber - wie alle Vorgänger auch - den von Schücking in den Letzten Gaben eingeführten Titel Bilder aus Westfalen bei. Die Lesarten verzeichnen Druckfehler des Erstdrucks und Textfehler der späteren Drucke nebeneinander. Einen ganz erheblichen Fortschritt gegenüber allen Vorgängern bedeutet der Text von Bei uns zulande auf dem Lande, der hier nach der Abschrift der Luise Grisebach gedruckt wird. Darüber hinaus entzifferte Schulte Kemminghausen erstmals die beiden eigenhändigen Entwürfe dieses Textes. Größter Schwachpunkt des Bandes sind die sehr knappen und wenig hilfreichen Erläuterungen. Band 4 enthält die Nachlaßgedichte, soweit sie nicht zum Bestand der Letzten Gaben gehörten, der in Band 1 veröffentlicht wurde, sowie weitere Texte aus dem Nachlaß. Schulte Kemminghausen selbst weist in der Vorbemerkung zum Apparat auf die Inkonsequenz hin, die darin besteht, daß Prosafragmente wie Ledwina oder Joseph oder das Lustspiel Perdu! in früheren Bänden erscheinen, obwohl es sich bei ihnen auch um genuine Nachlaßtexte handelt. Entschuldigt wird das mit den Entstehungsumständen der gesamten Ausgabe. Der Bestand insbesondere an Kinder- und Jugendgedichten wird durch die gründliche Durchsicht des Nachlasses, der Schulte Kemminghausen von der Familie uneingeschränkt zur Verfugung gestellt wurde, noch einmal erheblich erweitert. Der Apparat verzeichnet teils nur die Lesarten des für den Druck benutzten Überlieferungsträgers (etwa für das Gedicht Verfehlter französischer Roman), teils (z.B. für das Epos Walther) auch weitere, über die Textgrundlage hinaus vorhandene Handschriften und Drucke. Die Kommentierung ist auch in diesem Band -

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wie in der gesamten Ausgabe - wieder so gut wie nicht vorhanden. Immerhin gibt die Einleitung - wobei es sich um die 1924 fertiggestellte Dissertation des Herausgebers handelt - eine gute Einfuhrung in die Umstände von Drostes kultureller Sozialisation. Insbesondere durch das Eingreifen Schulte-Kemminghausens konnten die Sämtlichen Werke zumindest in Teilen den Anschluß an den Stand der editionsphilologischen Entwicklung herstellen. Leider blieben gerade im wichtigen Teil der Lesarten zu den Gedichten große Mängel bestehen. Trotzdem bedeutete diese Ausgabe für die DrostePhilologie einen wesentlichen Fortschritt: Sie blieb für beinahe 50 Jahre die allgemein anerkannte Textgrundlage aller wissenschaftlichen Arbeit.

11.

Briefe 1944

Die Briefe Drostes, die ursprünglich Teil der Sämtlichen Werke sein sollten, waren nach der Wiederaufnahme des Projektes aus dem Plan herausgefallen. Es gab in diesem Feld bereits Vorarbeiten durch Hermann Cardauns (s. o.) und die Herausgabe des Schücking-Briefwechsels. Doch war in den Jahren danach ein erheblicher zusätzlicher Bestand an Droste-Briefen wie auch an Briefen an die Droste aufgetaucht, die Karl Schulte Kemminghausen, der vor allem nach 1933 zur zentralen Figur der DrosteForschung wurde, gesammelt und für eine Edition präpariert hatte. Pläne für eine kommentierte Ausgabe scheiterten an den Zeitumständen, und es ist erstaunlich genug, daß Schulte Kemminghausen im Jahr 1944 wenigstens die Texte der Briefe Drostes in zwei Bänden herausbringen konnte. Statt des Kommentars gab es ein etwas differenziertes Personenregister. Diese Ausgabe blieb für mehr als 50 Jahre die einzige greifbare Sammlung und wurde erst durch die Bände der historisch-kritischen Ausgabe ersetzt. Schulte Kemminghausen bot einen normalisierten Text, was den DrosteBriefen viel von ihrer Eigenart nimmt. Seine Edition war im einzelnen, was Lesungen, Datierungen und Zuordnungen angeht, fehlerhaft, im großen und ganzen aber doch ein recht zuverlässiges und wichtiges Instrument der Droste-Forschung.

12.

Die Hanser-Ausgabe

Mit den Sämtlichen Werken war eine zumindest in Teilen kritische Ausgabe auf dem Markt, an der sich alle weiteren Droste-Ausgaben orientieren konnten und auch orientierten. Die Übernahme des von Bertha Badt erfundenen Titels Das Vermächtnis des Arztes in mehrere spätere Editionen ist dafür das sicherste Zeichen. Lediglich für das Geistliche Jahr wurde in den folgenden Jahrzehnten mit der Ausgabe von Cornelius Schröder aus dem Jahr 1939 noch einmal ein gewisser Fortschritt erzielt. Es wundert deshalb nicht, daß der Münsteraner Droste-Forscher Clemens Heselhaus (Waldow 2003) für die von ihm 1952 im Hanser-Verlag veranstaltete Gesamtausgabe recht kritiklos auf den Text der Ausgabe von 1925 zurückgreift - und dabei ζ. B. alle Textfehler

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in dem Gedicht Im Grase (s.o.) übernimmt. Lediglich für das Geistliche Jahr zieht er auch Schröders Arbeit mit heran. Das Neue an der Ausgabe von Heselhaus war der Versuch, die Gedichte nach der Chronologie der Entstehung anzuordnen, ein in vieler Hinsicht problematisches Vorhaben. Zum einen ist eine genaue Datierung nicht immer möglich und die Neuordnung selbst dadurch ungesichert; zum anderen werden die von Droste mit reiflicher Überlegung und aus ästhetischen Erwägungen getroffenen Anordnungsentscheidungen nicht respektiert, der Leser zugunsten der fragwürdigen Idee eines .inneren Tagebuches' um eine zusätzliche Verständnisdimension gebracht, was besonders dort ärgerlich ist, wo, wie etwa bei den Zeitbildern und den Haidebildern, die Zyklenstruktur umgestoßen wird. Die Heselhaus-Edition hatte ihre Verdienste, weil sie das Gesamtwerk nach dem 2. Weltkrieg zum ersten Mal in einer populären Ausgabe wieder zugänglich machte. Sie brachte aber in textlicher und auch in Hinsicht des Sachkommentars keinerlei Fortschritt. Allenfalls das kluge Nachwort des Herausgebers ist auch heute noch lesenswert. Es ist kaum zu glauben, zeigt aber die ganze Unverfrorenheit im Umgang mit den Texten unserer klassischen Autoren, daß der HanserVerlag noch 1996 - das ,Droste-Jahr' 1997 fest im Blick - eine Auswahl aus der alten Ausgabe auf den Markt brachte, die, was den Text der Gedichte angeht, noch immer auf dem Stand der Arbeit von Bertha Badt aus dem Jahr 1914 ist. Zu allem Uberfluß wird der Umstand, daß nicht einmal die gröbsten Fehler beseitigt wurden, mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe begründet. Dabei ist der wahre Grund offenkundig: Der Verlag hat aus Kostengründen den Druck von 1952 unverändert reproduziert.

13.

Die Winkler-Ausgabe

Die erste Ausgabe, die einen Fortschritt in Richtung auf einen wirklich kritischen Text brachte, war die Ausgabe der Werke, die unter der Herausgeberschaft von Günther Weydt und Winfried Woesler im Winkler-Verlag erschien. Der erste Band, der das zu Lebzeiten gedruckte Werk und das Geistliche Jahr enthält, kam 1973 auf den Markt; der zweite Band mit den nachgelassenen Texten erschien 1978. Diese Ausgabe entstand in der seit 1968 in Münster durch die beiden Herausgeber aufgebauten Arbeitsstelle für die historisch-kritische Ausgabe (Woesler 1987; Kortländer 2002 und 2003). Dort standen nicht nur das gesamte handschriftliche Material in Kopie oder Original und alle relevanten Drucke zur Verfügung; die an die Universität angebundene Arbeitsstelle gab zugleich den institutionellen Rahmen ab, in dem studentische Mitarbeiter mit Magister- bzw. Staatsarbeiten und Dissertationen die notwendige Basis für die editorische Arbeit schufen. Woesler legte 1971 eine historisch-kritische Neuedition des Geistlichen Jahres vor, die für den Zyklus einen neuen, modernen editionsphilologischen Standards entsprechenden Text bot. Das in diesem Zusammenhang entwickelte (Woesler 1967) und zugleich praktisch erprobte Modell eines Apparates, der die Idee der genetischen Lesartenverzeichnung den Eigenheiten der Drosteschen Arbeitsweise

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anpaßte, wurde dann auch grundlegend für die historisch-kritische Droste-Ausgabe. In der Winkler-Ausgabe ging es den Herausgebern zunächst um eine moderne Leseausgabe mit einem kritischen Text, während die historische Dimension noch im Hintergrund blieb. So wurde der Text den Gepflogenheiten der Reihe (Winklers DünndruckAusgaben) entsprechend behutsam modernisiert. Anders als in den Sämtlichen Werken wurde dabei nicht in den Lautstand („kömmt" blieb ebenso stehen wie „Brode") 0 der die Interpunktion eingegriffen, ein völliges Novum in der Geschichte der DrosteEdition. Lesarten wurden nur im Zusammenhang mit der Textgestaltung bei Eingriffen in den Text der Erstdrucke oder im Zusammenhang mit der Kommentierung eingebracht. Erstmals sind wirklich alle verfugbaren Drucke zu Lebzeiten für die Edition berücksichtigt worden. In Band 1 folgt die Anordnung strikt der Ausgabe von 1844, für die Texte im Einzeldruck der Chronologie des Abdrucks. Für Band 2 haben die Herausgeber eine Anordnung gewählt, die das Wachsen der Kenntnis des Drosteschen Werks deutlich werden läßt: Die Gedichte werden jeweils im Zusammenhang der chronologisch angeordneten Erstdrucke wiedergegeben; die Texte wurden dabei aus den Handschriften neu erarbeitet. Dabei kommt es zu erheblichen Korrekturen der bisherigen Texte sowohl bei vielen Gedichten, beim 3. Gesang von Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard als auch bei den Prosawerken, die bereits von den Vorarbeiten Walter Huges für den Prosa-Band der historisch-kritischen Ausgabe profitieren konnten. Wie fehlerhaft auch noch der Text von Schulte Kemminghausen in den Sämtlichen Werken war, zeigt ein Beispiel aus der Ledwina. Dort hieß es früher: „Der Doktor Toppmann langte langsam seinen Hut vom Spiegeltisch neben dem Blumentischchen, und bedächtig: ,Ein wenig Bluthusten mit dem hergebrachten Fieber dazu,' sagte er; [...]" (SW III, S. 166). In der Winkler-Ausgabe steht jetzt korrekt: „Der Doktor Toppmann langte langsam seinen Hut vom Spiegeltische neben den Blumentöpfen und putzte bedächtlich ein wenig Blütenstaub mit dem Ärmel herab. Dazu sagte er: [...]" (Werke II, S. 302). Erstmals bieten die Werke ausführliche Informationen zur Überlieferung und Entstehung sowie einen einläßlichen und wirklich fundierten Sachkommentar zu allen Werken Drostes. Angesichts der desolaten Lage der Droste-Edition mit einer maßgeblichen Ausgabe (Heselhaus), deren Text einen völlig veralteten Stand repräsentierte und die weitgehend unkommentiert blieb, war die an sich ungewöhnliche Entscheidung der Herausgeber, die Leseausgabe vor Abschluß der historisch-kritischen Ausgabe herauszubringen, verständlich, wenngleich damit von vornherein feststand, daß die Winkler-Ausgabe bald der Überarbeitung und Ergänzung bedürfen würde.

14.

Die historisch-kritische Ausgabe (HKA)

Bereits die 1928 gegründete Annette-von-Droste-Gesellschaft hatte sich das Ziel einer historisch-kritischen Droste-Hülshoff-Ausgabe in ihre Satzung geschrieben. In den 1960er Jahren wurden in Münster erste Pläne geschmiedet. Vor allem Günther Weydt

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und Winfried Woesler war es dann zu verdanken, daß sich seit 1968 in Gestalt der Droste-Forschungsstelle die für ein solches Projekt notwendige Infrastruktur zu bilden begann (Kortländer 2003; Kühn 2003). Offiziell wurde die Arbeit an der Ausgabe 1976 begonnen und 2001 abgeschlossen. Gegliedert ist sie in die Abteilungen: Werke (Bde. 1-7), Briefwechsel (Bde. 8-12) und Addenda (Bde. 13 und 14). Bereits dieser grobe Aufbau mit seiner Trennung von literarischen und Gebrauchstexten sowie die weitere Anordnung der literarischen Texte nach Gattungen weisen die HKA als eine der klassischen Tradition verpflichtete Ausgabe aus. Sie folgt strikt den Prinzipien einer historisch-kritischen Edition, die Texte sind in ihrer historischen Gestalt und auf der Basis einer Prüfling aller verfugbaren Handschriften und Drucke erarbeitet. Handschriftlicher Befund wie Textgenese werden gleichermaßen mit Hilfe des vom Gesamtherausgeber Winfried Woesler bereits im Zusammenhang mit seiner Edition des Geistlichen Jahres entwickelten und nur leicht modifizierten Apparatmodells dargestellt (s.o.). Dieses Modell fußt auf dem von Friedrich Beißner in seiner HölderlinAusgabe entwickelten Stufenapparat, faßt die Aufgabe des Apparates aber bedeutend pragmatischer auf, als Beißner das tat: Der Benutzer soll durch eine möglichst enge Verzahnung von Apparat und Text mit allen wichtigen Informationen versorgt werden, die ihm die Konstitution des Textes und die darin enthaltenen Entscheidungen des Editors plausibel machen (Plachta 1998). Nicht das .ideale Wachstum' soll abgebildet und auch nicht die Dichterin beim Schaffensakt belauscht werden, sondern jeder Arbeitsschritt des Herausgebers soll transparent und ständig kontrollierbar gehalten werden. Dabei zieht die HKA zur Deutung des handschriftlichen Befundes und zur Begründung ihrer Entscheidungen auch Kenntnisse der individuellen Arbeitsweise Drostes heran (Woesler 1967; Gödden 1998). Der Editor besitzt hier gegenüber dem Benutzer einen deutlichen Erfahrungsvorsprung, den er sinnvollerweise - wenn nötig - in die Ausgabe einbringt. Die von Woesler edierten Texte der Gedichte aus dem 2. Teil des Geistlichen Jahres rechtfertigen sich letztlich aus solch pragmatischen Überlegungen: Als bester Fachmann macht der Editor dem Benutzer Lesevorschläge, die auf der genauen Kenntnis aller relevanten Faktoren beruhen, die aber gleichwohl Vorschläge bleiben, deren Grundlagen mittels des Apparates stets überprüfbar sind. Dieser Kontrollfunktion des Apparates ist in der Ausgabe insgesamt, wie die Betrachtung des Aufbaus der einzelnen Bände und insbesondere der von Band 3 zeigt, auch das allgemeine Schema der Apparatgestaltung untergeordnet. In ihren Kommentarteilen stellen alle Bände der HKA Pionierarbeiten dar, wurden hier doch erstmals vollständig Entzifferung und Bewertung aller Entwurfsmanuskripte, Reinschriften, Abschriften und Drucke geleistet und sämtliche Lesarten - soweit möglich und sinnvoll - in die Form eines genetischen Apparates gebracht. Zu jedem Text werden dem Benutzer unter den Rubriken: „Überlieferung", „Entstehung und Aufnahme", „Lesarten", „Textgestaltung" und „Erläuterungen" ausfuhrliche Informationen angeboten. Die Erläuterungen verstehen sich als Sachkommentare und sind auf die historischen Fakten konzentriert, Verständnisfragen werden nur in Ausnahmefallen diskutiert (Woesler 1993b).

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Für Band 1 mit den zu Lebzeiten erschienenen Gedichten (Bearb.: Winfried Theiß) war im Bereich des Apparates durch die Sämtlichen Werke nur sehr lückenhaft und unzuverlässig vorgearbeitet. Hier hat die HKA der Droste-Forschung völlig neue Felder erschlossen. Die Textgenese vollzog sich, wie Woesler bereits für seine Ausgabe des Geistlichen Jahres von 1971 dargestellt hatte, bei Droste meist von einer vollständig ausgeführten und zunächst nur wenig korrigierten ersten Niederschrift, die dann im Detail häufig stark weiter bearbeitet wird, bis zur Endfassung. Diesem Spezifikum Drostescher Arbeitsweise versucht der genetische Apparat der HKA Rechnung zu tragen, indem er die zusammenhängenden Frühfassungen dann auch als solche erkennbar macht. Gerade für den 1. Band der HKA bringt der Blick auf die Start- und Endpunkte der Textentwicklung oft erstaunliche Einblicke nicht nur in die Arbeitsweise der Autorin und ihre ästhetischen Leitvorstellungen, sondern auch in den Bedeutungsraum des in Frage stehenden Textes. Band 2 enthält die nachgelassenen Gedichte (Bearb.: Bernd Kortländer) und erzielt auch gegenüber den Werken nochmals Fortschritte bei der oft schwierigen Entzifferung, aber auch bei Datierung und Erläuterungen. Erstmals werden auch alle Abschriften von fremder Hand in die Überlieferung mit einbezogen. Band 3 (Bearb.: Lothar Jordan) bringt die umfangreiche Überlieferung der Epen in eine sinnvolle Ordnung. Da angesichts der Fülle des Materials eine Zusammenführung aller Textzeugen in einem Lesartenapparat zu unübersichtlich geworden wäre, werden die Handschriften samt Lesarten in chronologischer Folge einzeln ediert. Auf diese Weise erhält auch der 3. Gesang von Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard erstmals in der Geschichte der Droste-Edition eine historisch angemessene und nachvollziehbare Form. Band 4 mit dem Geistlichen Jahr (Bearb.: Winfried Woesler) stützt sich sehr weitgehend auf die von Woesler 1971 vorgelegte Edition, enthält aber insbesondere im Erläuterungsteil eine Fülle zusätzlicher Informationen. Gerade für den 2. Teil des Geistlichen Jahres ist die enge Verzahnung von Text und Apparat besonders zu betonen. Da am Textteil der Edition von 1971 noch Karl Schulte Kemminghausen beteiligt war, besteht auf diese Weise eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Herausgeber der Sämtlichen Werke von 1925/30 und der HKA. Für Band 5 mit der Prosa (Bearb.: Walter Huge) ist erneut Schulte Kemminghausen der Maßstab, der allerdings in allen Punkten deutlich übertroffen wird. Das gilt sowohl für die noch einmal erheblich verbesserten Entzifferungen sämtlicher Konzepte und Brouillons, die für die Judenbuche erstmals auch in eine sinnvolle zeitliche Abfolge gebracht werden konnten, wie auch für die Erläuterungen. Auf die Verbesserungen, die im Zuge der Arbeit an diesem Band für den Text von Ledwina erzielt werden konnten, wurde oben bereits hingewiesen. Die dramatischen Versuche Drostes, in Band 6 versammelt (Bearb.: Stephan Beming (Text) und Elisabeth Blakert (Kommentar)), werden hier überhaupt zum ersten Mal in der Droste-Forschung ernsthaft kommentiert. Der 7. Band (Bearb.: Ortrun Niethammer), letzter der Abteilung „Werke", rekonstruiert den Anteil Drostes an literarischen Werken anderer, insbesondere am Malerischen und romantischen Westphalen ihres Freundes Levin Schücking, und liefert in zwei Abteilungen: „Aufzeichnungen: Motivblätter / Notizen zu Literatur und Kunst / Ab-

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schritten / Listen" sowie „Biographisches: Reise in die Niederlande / Stiftungsentwurf / Testament" alle irgendwie relevanten Zeugnisse des handschriftlichen Nachlasses, die sich nicht eindeutig einem bestimmten Werk zuordnen lassen. Vor allem die Texte der beiden letzten Abteilungen, die bislang noch nie gedruckt wurden, bieten der Forschung einen enormen Fundus an neuem Material (Niethammer 1995; Blakert/Niethammer 1997; Nutt-Kofoth 2004). Noch während der Entstehung der HKA brachte der Gesamtherausgeber Winfried Woesler zusammen mit Bodo Plachta eine auf deren Texten und Kommentaren beruhende zweibändige Ausgabe im Rahmen der Bibliothek deutscher Klassiker auf den Markt. Die Ausgabe folgt den Regeln dieser Reihe in Hinsicht auf die moderate Anpassung der Texte an die heutige Orthographie, sie verzichtet auf die Lesartenapparate, bringt aber ansonsten eine Kurzfassung aller Arbeitsergebnisse der HKA hinsichtlich Textgestalt, Datierung, Kommentierung etc. Als beste Leseausgabe löst sie so die bislang gültige Edition im Winkler-Verlag ab. Die Abteilung Briefe der HKA gliedert sich in drei Bände mit Briefen Drostes (Bde. 8-10; Bearb.: Ilse-Marie Barth, Walter Gödden, Jochen Grywatsch und Winfried Woesler) und zwei Bände mit Briefen an Droste (Bde. 11 und 12; Bearb.: Bodo Plachta und Stefan Thürmer), die damit überhaupt erstmals der Öffentlichkeit zugänglich werden. Aus den Quellen erschlossene, heute aber verlorene Korrespondenz wird in die Folge der Briefe und An-Briefe eingeordnet; Hinweise auf den Inhalt werden, soweit sie sich denn geben lassen, referiert. Der Bestand an Droste-Briefen, von denen wir Kenntnis haben, der in der Ausgabe von Schulte Kemminghausen aus dem Jahr 1944 bei 244 Nummern lag, hat sich jetzt auf 423 Nummern erweitert. Die Texte der Briefe und An-Briefe sind in historischer Gestalt abgedruckt. Im Kommentarteil der Briefe werden zunächst „Textgrundlage und Erstdruck" - bei erschlossenen Briefen die „Quelle" dann das „Datum", und zwar das vom Absender eingesetzte wie das der Zustellung, und gegebenenfalls „Adresse, Poststempel, Beilagen" zum Brief erörtert, anschließend „Mitteilungen zum Text" gemacht, wo Besonderheiten der Textzeugen (Verschreibungen etc.) verzeichnet sind, und schließlich ausfuhrliche „Erläuterungen" gegeben (Woesler 1993a). Wie schon bei den Werken ist es auch bei den Briefen das Ziel der HKA, fur den Kommentar zu jeder edierten Einheit ohne umfangreiche Querverweise auszukommen. So werden etwa die Lebensdaten von Personen bei jeder Erwähnung wieder angeführt. Von den drei Bänden Briefe der Droste, die der Verlag nur geschlossen abgibt, erschien 1996 eine textgleiche Taschenbuchausgabe in einem Band im Deutschen Taschenbuch-Verlag. Zur Addenda-Abteilung gehören die Musikalien (Bd. 13, Bearb.: Armin Kansteiner) und die Bibliographie (Bd. 14, Bearb.: Aloys Haverbusch). Zu den Musikalien zählen neben den Liedern Drostes, die bereits bekannt waren, hier aber erstmals textkritisch ediert werden, auch die Sammlung des Lochamer-Liederbuches, das Droste für eine Singstimme mit Klavier bearbeitet hat, sowie einige Ansätze zu Opernkompositionen. Erneut hat die HKA damit Grundlagen für eine Beschäftigung gelegt und so überhaupt erst eine gerechte Beurteilung Drostes als Musikerin ermöglicht. Zugleich liefert der

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Kommentar einen wichtigen Baustein zu dem am schwächsten dokumentierten Abschnitt ihrer Biographie. Die in vieler Hinsicht vorbildliche Bibliographie gibt nicht nur eine teilweise kommentierte Übersicht über die Ausgaben und die Forschungsliteratur. In verschiedenen Listen und Übersichten wird zugleich das langsame Wachsen der Kenntnisse ihres Werkes wie auch des Briefwechsels dargestellt. Mit der HKA verfügt die Droste-Philologie jetzt über eine in jeder Hinsicht solide Basis für die Beschäftigung mit allen Facetten des Drosteschen Werkes wie auch für die Herausgabe von Lese- und Auswahlausgaben ihrer Texte. Die Ausgabe überzeugt sowohl was den Text wie den Kommentar mit Lesarten und Erläuterungen angeht durch eine erfreulich pragmatische Ausrichtung und bewegt sich gleichzeitig in ihrer editionsphilologischen Ausrichtung auf einem sehr hohen Reflexionsniveau. Die vorausschauende organisatorische Vorbereitung und Planung mit Einrichtung und Ausbau einer Forschungsstelle ebenso wie die praktische Durchführung mit jüngeren Forschern als Bandbearbeitern, die sich teilweise mit der Edition qualifizieren konnten, und eine vergleichsweise kurze Gesamtlaufzeit des Projekts von nur 25 Jahren läßt die Droste-HKA insgesamt als einen geglückten Modellfall für solche Art germanistischer Großeditionen erscheinen, die auf längere Sicht vom Aussterben bedroht sind.

Literaturverzeichnis Editionen Gedichte von Annette Elisabeth v. D. .. H ... Münster: Aschendorff 1838. Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof [!]. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1844. Das geistliche Jahr. Nebst einem Anhang religiöser Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1851. - Zweite, verb. Aufl. Stuttgart, Augsburg: Cotta 1857. Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter von Annette Freiin von Droste-Hülshoff. Hannover: RUmpler 1860. Lewin [!] Schücking: Annette von Droste. Ein Lebensbild. In: Illustrirtes Familienbuch zur Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise, 10, 1860, S. 192-201 und 223-237. Levin Schücking: Annette von Droste. Ein Lebensbild. Hannover: Rümpler 1862. Gustav Eschmann: Neun Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff. Ein kritischer Versuch. In: Programm des Evangelischen Fürstlich Bentheim'sehen Gymnasii Arnoldini [...] Elberfeld: [Druck von] Sam. Lucas 1873. Briefe der Freiin Annette von Droste-Hülshoff. Münster: Russell 1877. Lieder mit Pianoforte-Begleitung componirt von Annette von Droste-Hülshoff. Münster: Russell 1877. Gesammelte Schriften von Annette Freiin von Droste-Hülshoff. Hrsg. von Levin Schücking. 3 Bde. Stuttgart: Cotta 1878/79 (Deutsche Volksbibliothek. Reihe 4). Der Freiin Annette Elisabeth von Droste-Hülshoff Gesammelte Werke. Hrsg. von Elisabeth Freiin von Droste-Hülshoff. Nach dem handschriftlichen Nachlaß verglichen und ergänzt, mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen versehen von Wilhelm Kreiten. 4 Bde. in 5. Münster, Paderborn: Schöningh 1884-1887. Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking. Hrsg. von Theophanie Schücking. Leipzig: Grunow 1893. - 3., stark vermehrte Aufl. Hrsg. von Reinhold Conrad Muschler. 1928. Annette Freiin von Droste-Hülshoffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Eduard Arens. Leipzig: Hesse [1904], Die Briefe der Dichterin Annette v. Droste-Hülshoff. Hrsg. und erläutert von Hermann Cardauns. Münster: Aschendorff 1909 (Forschungen und Funde. Bd. 2, H. 1-4). Gustav Eschmann: Annette von Droste-Hülshoff. Ergänzungen und Berichtigungen zu den Ausgaben ihrer Werke. Münster: Aschendorff 1909 (Forschungen und Funde. Bd. 1, H. 4).

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Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in sechs Teilen [in 2 Bdn.]. Hrsg., mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Julius Schwering. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Bong & Co. [1912], Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke. In Verbindung mit Bertha Badt und Kurt Pinthus hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen. 4 Bde. 6. München: Müller 1925-1930. Die Briefe der Annette von Droste-Hülshoff. Gesamtausgabe. Hrsg. von Karl Schulte Kemminghausen. 2 Bde. Jena: Diederichs 1944. Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke. Hrsg., in zeitlicher Folge geordnet und mit Nachwort und Erläuterungen versehen von Clemens Heselhaus. München: Hanser 1952. Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der Originaldrucke und der Handschriften. Hrsg. von Günther Weydt und Winfried Woesler. München: Winkler 1973, 1978. Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker. 103, 104). Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Winfried Woesler. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1996 (dtv klassik). Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Werke, Briefwechsel. Hrsg. von Winfried Woesler. 14 Bde. in 28. Tübingen: Niemeyer 1978-2000.

Andere Literatur (Auswahl meist neuerer Titel) Aust, Michael: „Über dem westfälischen Schrifttum lag ein dichter Nebel". Julius Schwering (1863-1941), Mitgründer der Droste-Gesellschaft und Pionier der westfälischen Literaturforschung. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 91-102. Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848). „aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden". [Katalog zur Ausstellung zum 200. Geburtstag Annette von Droste-Hülshoffs, Universitäts- und Landesbibliothek Münster, 12. Januar bis 16. Februar 1997; Staatbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 20. März bis 24. April 1997; Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf, 31. August bis 5. Oktober 1997]. Hrsg. von Bodo Plachta. Wiesbaden 1997 (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. 16; Staatbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge. N.F. 23). Blakert, Elisabeth / Niethammer, Ortrun: „In die Bilanzbücher der Droste geschaut [...]?" Annette von Droste-Hülshoffs Notizen zu Gedichten, Briefen, Briefsendungen und Sammlerobjekten auf der Liste ΜΑ II 4. Text und Dokumentation. In: Droste-Jahrbuch 3, 1997, S. 229-251. Blakert, Elisabeth / Grywatsch, Jochen / Thürmer, Stefan: Aschendorff, Velhagen oder Cotta? Von den ersten Überlegungen der Droste zur Wahl eines geeigneten Verlegers bis zum Erscheinen ihrer Gedichtausgabe von 1844. In: Droste-Jahrbuch 3, 1997, S. 135-154. Eine literarische Gesellschaft im 20. Jahrhundert. 75 Jahre Annette von Droste-Gesellschaft (1928-2003). Hrsg. von Jochen Grywatsch und Ortrun Niethammer. Bielefeld 2003. Gödden, Walter: Vor 150 Jahren: „Von den schönen Kindern Ihres Geistes...". Die erste Gedichtausgabe der Droste. In: Westfalenspiegel 37, 1988, H. 4, S. 43-46. Gödden, Walter: Vom Schreiben. Annette von Droste-Hülshoffs Umgang mit Feder, Tinte und Papier. In: Ernst Meister-Gesellschaft. Jahrbuch 1998: Drittes Ernst Meister Kolloquium: Von Grimmelshausen bis Ernst Meister. Probleme kritischer Ausgaben, 5.-6. Februar 1998 in Aachen. Die Tagungsbeiträge. Festschrift für Dieter Breuer zum 60. Geburtstag (1998), S. 39-53. Grywatsch, Jochen: Von allen Seiten seziert und durchleuchtet. Droste-Gesamtausgabe fertig gestellt. In: Westfalenspiegel 50, 2001, Η. 1, S. 24. Hahn, Barbara: „Anders wie ich mir gedacht" - oder wie baut man ein Denkmal für Annette von DrosteHülshoff? In: Transformationen 2002, S. 185-197. Jordan, Lothar: Literatur, Buchmarkt. In: 1844. Ein Jahr in seiner Zeit. Westfälisches Museum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 1. Dezember 1985-2. Februar 1986. [Ausstellung und Katalog: Siegfried Kessemeier und Wilfried Beer], Münster 1985, S. 119-129. Jordan, Lothar: Titel literarischer Werke, historisch-kritisch betrachtet. Das Beispiel der Epen Annette von Droste-Hülshoffs. In: Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio. 2), S. 142-149. Köhn, Lothar: Edierter und interpretierter Text. Im Blick auf eine Briefstelle der Droste. In: Transformationen 2002, S. 219-224. Köhn, Lothar: Die Droste-Gesellschaft 1979-2003. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 241-260. Kortländer, Bemd: „...nehmen Sie, was Ihnen ansteht." Zum Problem .Edition und Interpretation' am Beispiel von Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspek-

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tiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. 2. Teil. Berlin, New York 1985, S. 355-368. Kortländer, Bernd: Vom Exotismus der Provinz. In: Transformationen 2002, S. 227-240. Kortländer, Bernd: Boom-Jahre. Die Droste-Gesellschaft zwischen 1968 und 1978. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 225-239. Lauer, Gerhard: Die allmähliche Verfertigung einer modernen Klassikerin. Benno von Wiese, die Droste und die Droste-Gesellschaft. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 195-206. Niethammer, Ortrun: Das Testament im Spannungsfeld von juristischen Vorgaben und individueller Gestaltung. Probleme der Edition. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.-5. März 1994, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio. 7), S. 233-240. Niethammer, Ortrun: Kanonisierung als patriarchalischer Selektionszwang? Das Beispiel Annette von Droste-HülshofT. In: Literarische Kanonisierung. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Sonderband 2002: Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 181-193. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Werkpräsentation und Autorbild. Die postumen Ausgaben der Werke Annette von Droste-Hülshoffs. In: Annette von Droste-HülshofT (1797-1848) 1997, S. 41-52. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Letzte Gaben von Annette von Droste-Hülshoff (1860). Zum editionsphilologischen Umgang mit einer frühen Nachlaßedition. Eine exemplarische Untersuchung. Mit dem Faksimiledruck der Letzten Gaben als Beigabe. 2 Bde. Bern u.a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 5,1, 5,2). Nutt-Kofoth, Rüdiger: Von Fettflecken und anderen Zufälligkeiten des Manuskriptzustandes. Zu einer Ursache der Exzeptionalität von Annette von Droste-Hülshoffs Haidebild: Die Steppe. In: Produktion und Kontext. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition im Constantijn Huygens Instituut, Den Haag, 4. bis 7. März 1998. Hrsg. von H T M. van Vliet. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio. 13), S. 179-189. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Kein poetologisches Werk der Droste: Zu Gestalt und Rezeption der Ausgabe „Letzte Gaben" von 1860. In: Droste-Jahrbuch 4, 2000, S. 189-207. Nutt-Kofoth, Rüdiger: „ich fand des Dichtens und Corrigirens gar kein Ende". Über Annette von DrosteHülshoffs dichterisches Schreiben - mit einem besonderen Blick auf das Geistliche Jahr. In: Transformationen 2002, S. 199-217. Nutt-Kofoth, Rüdiger: Author's Reading - Author's Literary Production: Some Reflections on the Editing of Reading Notes in German Critical Editions. In: Variants 2/3, 2004: Reading Notes. Hrsg. von Dirk Van Hülle und Wim Van Mierlo, S. 293-302 [mit der Erörterung von Bd. 7 der Droste-HKA], Plachta, Bodo: Das fragmentarische Westfalenwerk der Annette von Droste-Hülshoff. In: Editions et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Akten des mit Unterstützung des Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1983. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern u.a. 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 19), S. 252-257. Plachta, Bodo: Editorischer Pragmatismus. Zum Verfahren der genetischen Variantendarstellung in der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 233-249. Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Festakt und Tagung in Münster am 6. Juli und am 13./14. Juli 2001. Hrsg. von Ortrun Niethammer. Bielefeld 2002 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. 6). Waldow, Stephanie: Clemens Heselhaus. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 207-212. Woesler, Winfried: Probleme der Editionstechnik. Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des .Geistlichen Jahres' der Annette von Droste-Hülshoff. Münster 1967. Woesler, Winfried: Modellfall der Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dokumentation, Analysen, Bibliographie. Erstellt in Zusammenarbeit mit Aloys Haverbusch und Lothar Jordan. 2 Bde. in 3. Frankfurt/Main u.a. 1980. Woesler, Winfried: Bericht über den Stand der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. In: Droste-Jahrbuch 1, 1986, S. 213-215. Woesler, Winfried: Zehn Jahre „Historisch-kritische Droste-Ausgabe". Die Droste-Forschungsstelle Münster. In: Westfälische Forschungen 37, 1987, S. 141-151. Woesler, Winfried: Aufgaben der Droste-Philologie. Erläutert am Beispiel der Edition des „Geistlichen Jahres". In: Poetica. An International Journal of Linguistic-Literary Studies 29/30, 1989, S. 172-186. Woesler, Winfried: Entstehung und Emendation von Textfehlem. In: editio 5, 1991, S. 55-75. Woesler, Winfried: Der Widerspruch zwischen historischer „Wirklichkeit" und subjektiver Darstellung als Problem des Briefkommentars. In: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition. Hrsg. von Lothar Bluhm und Andreas Meier. Würzburg 1993, S. 39-56. [Woesler 1993a]

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Bernd Kortländer

Woesler, Winfried: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: editio 7, 1993, S. 18-35. [Woesler 1993b] Woesler, Winfried: Die Edition einer verlorenen Briefbeilage mit Varianten, Vorschlägen und Korrekturen zu Gedichttexten. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik 2.-5. März 1994, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio. 7), S. 331-354. Woesler, Winfried: Zu Geschichte, Wirkung und Wirkungslosigkeit einer Erstpublikation. In: Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff. Zum 200. Geburtstag der Dichterin. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1838: Gedichte der Annette Elisabeth von D.... H.... Münster 1838. Mit einem Nachwort von Winfried Woesler: Zu Geschichte, Wirkung und Wirkungslosigkeit einer Erstpublikation. Münster 1997, S. 1-73. Woesler, Winfried: Droste-Forschung in Münster. In: Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) 1997, S. 53-56. Wollheim, Jutta / Wollheim, Ulrich: „Hat jeder doch sein eignes Blut". Karl Schulte Kemminghausen zwischen philologischer Anstrengung und ideologischer Anpassung. In: Eine literarische Gesellschaft 2003, S. 103-116. Zeller, Hans: Die Bedeutung der Varianten fllr die Interpretation. Am Beispiel der „Judenbuche" der Droste. In: Edition und Interpretation. Edition et Interprdtation des Manuscrits Litteraires. Akten des mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Centre National de la Recherche Scientifique veranstalteten deutsch-französischen Editorenkolloquiums Berlin 1979. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern u.a. 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 11), S. 119-132.

Harry Fröhlich

Eichendorff-Editionen

1.

Überblick

Jede Edition der Werke Eichendorffs hat sich gründlich mit der Überlieferungsgeschichte der Texte zu befassen, in der autorspezifische wie epochentypische Probleme begegnen. Diese Geschichte wird im folgenden unter 2 skizziert. Nach den zwei wichtigen zeitgenössischen Werksammlungen sind später zahlreiche Lese- und Studienausgaben erschienen, von denen allerdings nur drei Anspruch auf annähernde Vollständigkeit erheben: die mehrbändigen Ausgaben von Cotta, Winkler und des Deutschen Klassiker Verlags. Vor allem die beiden letzten erfüllen, in unterschiedlicher Weise, die Kriterien von modernen Studienausgaben, ohne freilich mit ihrer Textkonstitution der Überlieferungsgeschichte der Werke Eichendorffs vollgültig gerecht werden zu können (s. 3.1). Dies einzulösen, hat sich die historisch-kritische Eichendorff-Ausgabe (HKA) zur Aufgabe gemacht. Ihre nun fast hundert Jahre währende Editionsgeschichte, in der Unterbrechungen sowie personelle und materielle Verluste von der heillosen Zeitgeschichte der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu verantworten sind, wird unter 3.2 abgehandelt.

2.

Überlieferung

2.1.

Die zeitgenössischen Werkausgaben

Einen großen Teil seiner Werke ließ Eichendorff - wie fast alle seiner zeitgenössischen Dichterkollegen - zuerst in Journalen und Almanachen drucken. Abgesehen von Details der Texteinrichtung (Orthographie, Apostrophe, Groß- und Klein-, Zusammenund Getrenntschreibungen etc.), die zuweilen von Verlagsusancen und Setzergewohnheiten bestimmt sind, stehen diese Erstdrucke generell den Originaltexten sehr nahe, da sie sich auf - allerdings zumeist beim Setzvorgang verbrauchte - autographische Reinschriften 1 stützen. Die Geschichte der Werksammlungen beginnt erst 1826 mit der Ausgabe Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Zwei Novellen nebst

Zuweilen ließ Eichendorff seine Frau Luise Abschriften erstellen; Textfehler in den Drucken können also auch reproduzierte Fehler der Abschriften sein. Das läßt sich aber aufgrund der nicht überlieferten Druckvorlagen nicht klären.

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einem Anhange von Liedern und Romanzen von Joseph Freiherrn von Eichendorff (B1). Diese einbändige, nur 278 Oktavseiten umfassende Ausgabe ist die einzige Werkzusammenstellung, an der Eichendorff maßgeblich beteiligt war; sie bietet fraglos einen autorisierten, wenngleich nicht völlig problemfreien Text.2 Die 54 Gedichte dieses Bandes bildeten den Grundstock fur eine 1837 erschienene, nun umfängliche Gedichtsammlung (A1), deren Textredaktion Eichendorff allerdings in die Hände des Freundes Adolf Schöll3 legte. Eichendorff war anscheinend, bei abschließender Durchsicht, mit Text und Anordnung dieser Schöllschen Redaktion nicht durchweg einverstanden, denn er nahm noch Umstellungen vor und reklamierte im Druckfehlerverzeichnis an einigen Stellen früheren Textstand. Die zweite und zu Lebzeiten letzte gattungsübergreifende Sammlung (Joseph Freiherrn von Eichendorff's Werke, B2) erschien 1841/42 vierbändig und stellt fur die wichtigsten Texte Eichendorffs - abgesehen von einigen Dramen und Erzählungen sowie den Übersetzungen - die Ausgabe .letzter Hand' dar. Danach schrieb Eichendorff nur noch wenige poetische Werke den Kräfteverbrauch im preußischen Staatsdienst hatte seine Poesie offenbar nicht überstanden.4 Die Sammlung B2 ist als passiv autorisiert einzuschätzen;5 nur für die bis dahin noch nicht gedruckten Texte - darunter etwa 50 seit 1837 (A1) hinzugekommene Gedichte und die Erzählung Die Glücksritter - hatte Eichendorff laut § 5 des Verlagsvertrags vom April 18406 die Korrekturen selbst auszufuhren, die übrigen Texte dagegen wurden von Verlagskorrektoren eingerichtet. Diese Regelung entstand wohl in erster Linie aus finanziellem Kalkül des Verlags, der dem Dichter die bereits erschienenen Werke nicht zu honorieren gedachte. Daß Eichendorff jedoch zumindest den ersten Band mit der Lyrik genauer durchsah, beweist ein Brief an den Verleger Simion, in dem es heißt: „ich habe mir erlaubt, wo ich nicht einverstanden war, darin zu streichen, kleine Abänderungen und Bemerkungen beizuschreiben" (HKA XII, S. 170). Die Bearbeitungstendenzen des Verlags faßt Sibylle von Steinsdorff zusammen: A n der für die gesamte A u s g a b e zu konstatierenden durchgreifenden Modernisierung von Orthographie, Lautstand, häufig auch grammatischer Fügung und Interpunktion, s o w i e an

2

3

4

5

6

Eichendorff nahm Korrekturdurchsichten zeitlebens nur sehr lustlos vor und übersah dabei auch deutliche, sinnentstellende Fehler. Auch in B1 begegnen solche übernommenen Textfehler (vgl. HKA V/2, S. 255). Aus diesem Grunde bietet im Fall des Marmorbilds B1 gegenüber dem journalen Erstdruck kaum Verbesserungen (und auch einige Verschlechterungen), so daß letzterer mit gleichem oder mehr Recht als Druckvorlage gewählt werden kann. Adolf Schöll, klassischer Philologe und Literarhistoriker, stand in freundschaftlicher Beziehung zu Eichendorff, der ihn 1832 in der Berliner „Mittwochsgesellschaft" kennengelernt hatte (vgl. HKA 1/2, S. 11, Anm. 4, und HKA XVIII/3, S. 1515f.). - Eichendorff selbst hatte auf einigen Manuskriptseiten jedoch schon Zuordnungen und Gruppierungen der Gedichte für B 1 notiert (vgl. zur Druckgeschichte der Lyrik HKA 1/2, S. 11-14). So klagt er 1842 über seiner Calderön-Übersetzung: „Mein Calderon [...] schreitet unter der Last der Acten nur langsam vor" (HKA XII, S. 184). Die Bezeichnung .passive Autorisierung' (vgl. von Steinsdorff 1988, S. 371) ist gegenüber Polheims Entscheidung vorzuziehen, diese Texte als nicht autorisiert aufzufassen (vgl. die Überlieferungsgeschichten in HKA V/2). Abdruck des Vertrags in HKA1 XIII, S. 300ff.

Eichendorff-Editionen

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den allerdings nicht allzu erheblichen Eingriffen in die inhaltliche Textsubstanz ist er [Eichendorff] offensichtlich nicht beteiligt g e w e s e n und hat sie auch vor Abschluß des Druckes nicht zur Kenntnis g e n o m m e n . 7

Obwohl Ausgabe letzter Hand, geben die Werke den Originaltext also nur in einer geglätteten und durch Fremdeingriffe überformten Fassung wieder. Kritische Editionen sollten deshalb auf die Erstdrucke zurückgreifen, die den Originaltexten näherstehen. Noch erheblich größere Vorsicht ist gegenüber der ersten posthumen Ausgabe geboten, die Eichendorffs Sohn Hermann 1864 als 2. Auflage der Werke herausgab8 {Joseph Freiherrn von Eichendorff's sämmtliche Werke, B3). Zwar beinhaltet sie Texte aus dem Nachlaß, bei denen die Handschrift heute als verloren gelten muß (einige Gedichte, die Calderon-Übersetzung Der Ehezwist, die Novelle Eine Meerfahrt u.a.), doch hat dort, wo Texte schon zuvor gedruckt vorlagen oder sich Handschriften erhalten haben, der Vergleich mit B3 ergeben, daß Hermann die Schriften seines Vaters z.T. sehr stark bearbeitet hat;9 insbesondere die politische Lyrik und Prosa aus dem Vormärz erfuhren Retuschen und Purgierungen, die den Autor konservativer erscheinen ließen, als er tatsächlich war. Dilettierende und tendenziöse Herausgeber sind (um so mehr, wenn sie wie im Falle Eichendorffs Familienangehörige sind) insbesondere fur Autoren des 19. Jahrhunderts fatal rezeptionssteuemd. Der korrumpierte Text, in ungeprüften Nachdrucken perpetuiert, ist durch wissenschaftliche Editionen zwar meist zu heilen, aber der Schaden in der Rezeptionswirkung ist oft langlebig. Für B3 wie für alle folgenden, oftmals nicht mehr als gutgemeinten Nachlaßveröffentlichungen gilt deshalb, daß sie nur bei sonst fehlenden authentischen Textzeugen berücksichtigt werden dürfen - wie etwa im Fall der Meerfahrt - und daß der editorische Vorbehalt deutlich markiert sein muß. Glücklicherweise haben sich viele Handschriften, die als verschollen oder verloren galten, erhalten und sind unerwartet in den letzten Jahren wieder zugänglich geworden. Sie haben für zahlreiche Werke diese problematischen Publikationen überflüssig gemacht. In der Tat: Ist die ältere Geschichte der EichendorffAutographen von Verlusten geprägt, gehört deren neuere Geschichte zu den erfreulichsten in der deutschen Literatur überhaupt.

2.2.

Die Autographen

2.2.1. Das Schicksal des handschriftlichen Nachlasses

Eichendorff stand, wie viele Dichter, seinen abgelegten Papieren gleichgültig gegenüber. An einer sorgsamen Bewahrung lag ihm offenbar wenig, so daß er Verluste 7 8

9

von Steinsdorff 1988, S. 372. Die Ausgabe umfaßt sechs Bändchen. 1866/67 erschienen bei Schöningh als Ergänzung noch die Vermischten Schriften in fünf Bänden, die wohl ebenfalls noch teilweise von Hermann betreut wurden. Vgl. von Steinsdorff 1988, S. 376f. - Beispielsweise gibt ein zufällig erhaltener Teil der Reinschrift zu Der Ehezwist Aufschluß über die glättende Textredaktion Hermanns, dem dabei Uberraschenderweise auch Lesefehler unterlaufen (vgl. HKA XV/2, S. 519-524 und 543-546).

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z.B. bei seinen zahlreichen Umzügen - in Kauf nahm und in späten Jahren sogar an eine vollständige „Entsorgung" seiner Materialien dachte. 10 Wilhelm Kosch stellte 1906 resigniert fest: „Der größte Teil des dichterischen Nachlasses wurde bei Lebzeiten des Dichters vernichtet." 11 Doch ist das Erhaltene mehr als eine ,quantite negligeable' und fur die Eichendorff-Forschung von größtem Wert. Sibylle von Steinsdorff hat überzeugend argumentiert, daß Eichendorfifs handschriftlicher Nachlaß offenbar unter seinen drei Kindern aufgeteilt wurde, nachdem ihn der Sohn Hermann für seine Ausgabe B 3 ausgewertet hatte. Hermanns Anteil ging nach dessen Tod an seinen Sohn Carl, der die Manuskripte als .Wiesbadener Nachlaß' (benannt nach Carls zeitweiligem Wohnort) testamentarisch für das im Sterbehaus des Dichters 1936 eingerichtete Museum in Neisse bestimmte. Hinzu kam ein kleineres Konvolut, der sogenannte ,Sedlnitzer Fund'. Hierbei handelt es sich um den Anteil des Sohnes Rudolf, der, als er das Familiengut Sedlnitz bei Freiberg in Mähren aufgeben mußte, anscheinend eine Truhe mit Papieren, darunter Handschriften Eichendorffs, in einer Dachkammer vergaß, wo sie erst 1920 von der Lehrerin Anna Bönisch aufgefunden wurde. 12 Das wechselhafte Schicksal der Konvolute in der Folgezeit zeichnet Sibylle von Steinsdorff nach, der an der Auffindung und Rückgewinnung dieses Materials das Hauptverdienst zukommt: Die Handschriften-Sammlung des Neisser Eichendorff-Museums wurde [...] 1944 angesichts der näherrückenden Front zunächst in das etwa 25 km südwestlich von N e i s s e gelegene Schloß Johannesberg, [...] später an einen nicht genau bekannten Ort im Altvatergebirge angeblich das ehemalige Thomasdorf, heute Domaäov - gebracht und galt seit 1945 als verschollen oder sogar vernichtet. Ein erster Hinweis auf die - wenigstens teilweise - Erhaltung dieser Bestände ergab sich aus der Schenkung eines Teils der Tagebuchaufzeichnungen Eichendorffs durch die Regierung der CSSR an das Goethe- und Schiller-Archiv Weimar anläßlich der Gründung der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar 1954. 1971 bestätigten sich dann erste, vage Nachrichten über die Sicherstellung eines weiteren Konvoluts im Archiv von Javornik - dem früheren Jauernig am Fuße des Schlosses Johannesberg - , einer Außenstelle des Bezirksarchivs in Sumperk, ehemals Mährisch-Schönberg; dabei handelte es sich um den Inhalt jenes Kartons, der nach jahrelangen Verhandlungen schließlich 1990 an die Bundesrepublik Deutschland übergeben und von dieser der Eichendorff-Gesellschaft als Dauerleihgabe überlassen wurde. 1 3

Eine zur Orientierung dienende, jedoch vom Kustos des Eichendorff-Museums nicht mit letzter bibliographisch-archivalischer Professionalität erstellte „Neisser Liste" 14 verzeichnet den ursprünglichen Autographenbestand des Neisser Museums, getrennt in Wiesbadener Nachlaß (Η, 11 Mappen) und Sedlnitzer Fund (S, 3 Mappen). Der Anteil Thereses am handschriftlichen Nachlaß ihres Vaters erfuhr ein nicht minder sonderbares, wenngleich in der Konsequenz glücklicheres Schicksal. „Eine 10 11 12 13 14

Vgl. Meisner 1888, S. IX. Kosch 1906, S. 12. Vgl. Bönisch 1983. von Steinsdorff 1994, S. 43. Vgl. Moser 1980.

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unbekannte Dame" (Meisner) - offenbar die in Finanznot handelnde Therese - hatte diesen Anteil von 250 Blättern einem Dresdner Antiquar verkauft, aus dessen Händen er in den Besitz des Berliner Antiquars Stargardt ging, von dem ihn schließlich 1880 die Königliche Bibliothek in Berlin erwarb. 15 Ausgelagert nach Gauernitz (Sachsen), überstand er den Zweiten Weltkrieg unbeschadet und ist als Teil des Preußischen Kulturbesitzes in der Staatsbibliothek zu Berlin einsehbar. Zusätzlich zu diesen Konvoluten tauchten weitere Einzelblätter aus dem Nachlaß auf, die Eichendorffs Nachkommen an Autographensammler verschenkt hatten - und dabei auch vor Zerschneidungen von Blättern nicht zurückgeschreckt waren. 16 Die Bedeutung des Nachlasses war ihnen offensichtlich nicht bewußt, da alles, was nach ihrem Verständnis Werkcharakter hatte, bereits von Hermann ediert worden war. 2.2.2. Eichendorffs Arbeitsweise Legt man für Eichendorffs Arbeitsweise die eingebürgerte Unterscheidung von Autoren als Kopfarbeiter und Papierarbeiter zugrunde, 17 so läßt sich nach Durchsicht der Manuskripte Eichendorff als Papierarbeiter einschätzen, auch wenn häufig schon erste Notate als poetische Formeln erscheinen. Der Verwandlungsakt von Vorstellung in Poesie begegnet nur sehr selten in Form des niedergeschriebenen Kalküls, bezeichnenderweise dann in den schwächsten Arbeiten. 18 Vielmehr setzt das niedergeschriebene Wort einen neuen kreativen Moment in Gang, der bei Eichendorff jedoch nicht nur syntagmatische, sondern auch paradigmatische Folgen hat: den Austausch eines Ausdrucks durch einen anderen, besseren. Eichendorff hielt offenbar die Kongruenz von Vorstellungsgehalt und sprachlicher Fixierung für möglich und im Abschluß des Arbeitsprozesses fur erreicht. Aber die Vorstellung ist bei diesem Autor nichts Vorgängiges, sondern verändert sich mit dem Fluß der Schriftlichkeit wie dieser mit jener. Die erhaltenen Entwürfe und Fragmente zeigen, daß Eichendorff seinen ersten Niederschriften Korrekturen und Ergänzungen folgen ließ, die er häufig durch zweispaltige Blattaufteilung schon im anfänglichen Arbeitsprozeß vorausschauend einplante. Ein nur auf den ersten Blick verwirrend erscheinendes, bei näherer Untersuchung jedoch sich als geradezu penibel stimmig erweisendes System von Sonderzeichen und Einweisungsschleifen, von Verweisungsvermerken und Arbeitsnotizen durchzieht die Autographen, die so zu einer Landkarte der Poesie Eichendorffs werden. Nur in den seltensten Fällen scheinen kleine Textteile auf Anhieb zu gelingen, ansonsten ist überall die prüfende, verwerfende oder korrigierende Hand Eichendorffs zu erkennen. Nicht einmal ansatzweise bedient Eichendorff das romantische Klischee des inspirierten, seine Eingebungen gleichsam als Diktat empfangenden Dichters. Dichtung ist für 15 16 17 18

Vgl. Meisner 1888, S. VIII; von SteinsdorfF 1994, S. 40. So im Fall des Gedichts An den Hasengarten, vgl. das Faksimile in: Katalog 1988, S. 101. Vgl. Plachta 1997, S.46ff. So notiert Eichendorff z.B. für das geplante Drama Johann v. Werth (1844/45): „Idee des Gantzen = das Festhalten deutscher Art u. Sinnes gegen das falsche Fremde, in welcher Gestalt dieß auch erscheine u. verlocke" (HKA VI/1, S. 556,10-12).

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Eichendorff vielmehr - daran lassen die Autographen keinen Zweifel - zu einem guten Teil sprachliches Handwerk. Nirgends ist dies vielleicht deutlicher zu erkennen als an dem berühmten Gedicht Mondnacht, das einerseits als Quintessenz romantischen Dichtens gilt und andererseits in der Handschrift eine bis an die Grenzen der Lesbarkeit gehende Korrekturarbeit aufweist. 19 Als Papierarbeiter ist Eichendorff zugleich werkorientiert.20 Telos des Schreibens ist nicht die psychogenetische Konturierung von Subjektivität, sondern die Kommunizierbarkeit des Werks.21 Dies ist bei Editionen mitzubedenken. Will eine Edition dem genannten Autortypus und dessen Textzeugnissen gerecht werden, sei also verlangt, daß sie den kommunikativen Charakter der Texte, der Ziel ihres Autors war, zu ihrem eigenen Ziel macht. Das betrifft auch unveröffentlichte Werke, deren Nichtpublikation zu Lebzeiten des Autors als Folge von Vereitelungen aufzufassen ist; es betrifft die Fragmente, die der Autor aus werkinternen poetologischen oder werkexternen publikationsgeschichtlichen Gründen nicht fertigstellte, und schließlich die Entwürfe, die er als Vorarbeiten verstand und die von Anfang an Züge des Werkdiskurses tragen. 22

Der Editor hat dieser Arbeitsweise aber auch dadurch Rechnung zu tragen, daß er den schrittweisen Entstehungsprozeß eines solchen Textes für den Benutzer nachvollziehbar dokumentiert. Klärung des Stemmas und Ordnung der zusammengehörenden, aber z.T. über verschiedene Nachlaßkonvolute verstreuten Entwürfe und Niederschriften sind dabei nur erste Aufgaben; ebenso wichtig ist die Entzerrung des handschriftlichen Befunds in Grundschicht und Korrekturschicht(en), denn anders als der Autor selbst ist der Benutzer auch an den frühen Entwürfen und verworfenen Passagen eines Werkes interessiert, sei es, um den kreativen Prozeß nachzuvollziehen, oder sei es, um Aufschlüsse für die Werkdeutung zu gewinnen.

3.

Kritische Ausgaben

3.1.

Die Studienausgaben

Nach Ablauf der Schutzfrist 1888 erschienen zahlreiche Werkauswahlen, z.B. in den renommierten Klassiker-Reihen von Meyer, Cotta, Insel und Reclam 23 Nur ausnahmsweise jedoch war man um eine eigenständige Textwiedergabe bemüht, ansonsten richtete man sich nach dem Kanon von B2. Die bemerkenswerte Ausnahme ist Ludwig Krähes Ausgabe in der Goldenen Klassiker-Bibliothek bei Bong (1908). Krähe

19 20 21

22 23

Vgl. HKA 1/2, S. 5 6 2 - 5 6 6 . Ein ausgezeichnetes Faksimile des Gedichts im Vierfarbdruck bei Teitge. Vgl. dazu ausführlich Hurlebusch 1998, v.a. S. 37ff. Vgl. unpersönliche Formulierungen wie „zu vollenden" (HKA 1/2, S. 459) oder „S. hier oben das Rothangestrichene!" (HKA VI/1 580). - Wo die Kommunikation zwischen Autor und Leserschaft gestört ist, wird dies ausdrücklich als Defizit der Gesamtintention des Kunstwerks verstanden; so „schmachtet" die satirische Erzählung Liberias und ihr Freier „noch immer im Pult" (HKA XII, S. 251). Fröhlich 1998, S. 297f. Hierzu im einzelnen von Steinsdorff 1988, S. 378f.

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erweiterte nicht nur den Kanon um die satirischen Texte, sondern nahm auch Anstoß an Hermanns Textdarbietung des Nachlasses und druckte statt dessen in einigen Fällen eigene Fassungen nach den Handschriften. Die Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden (GA), herausgegeben von Gerhart Baumann in Zusammenarbeit mit Siegfried Grosse, erschien in den Jahren 1957/58 und legte mit Ausnahme der Briefe erstmals das Werk Eichendorffs „in seinem ganzen Umfang" (GA IV, S. 1530) vor. Die breite Textdarbietung sollte „einseitige Sichtweisen [auf das Eichendorffsche Werk] zum Nazarenerhaften, Biedermeierlichen oder nur Volkstümlichen und Heimatlichen hin" (ebd., S. 1530f.) korrigieren und damit eine Aufgabe einlösen, die eigentlich von der HKA zu leisten war, die sich aber „seit 1908 nur zögernd entwickelt hat" (ebd.). Die Bedeutung der GA wird besonders dann deutlich, wenn man sie mit der einige Zeit später erschienenen Auswahlausgabe des Aufbau-Verlags (Gesammelte Werke, hrsg. von Manfred Häckel, GW) vergleicht, die die Rezeption nicht dynamisch auffaßt und korrigieren will, sondern als ein Ergebnis bestätigt: „Grundprinzip der Auswahl war das Bestreben, die lebendig gebliebenen Werke des Dichters von denen zu sondern, die lediglich von literarhistorischem Interesse sind" (GW III, S. 787).24 Leider jedoch wurde die Baumann-Ausgabe philologischen Ansprüchen - auch den zeitgenössischen - nicht gerecht, denn eine sorgfältige Textredaktion scheint nicht stattgefunden zu haben. Nicht nur erfährt der Benutzer an keiner Stelle, welche Druckvorlagen verwendet wurden, sondern beinahe jede Seite ist von Fehlem und Irrtümern entstellt, die Präsentation einiger handschriftlicher Texte leidet erheblich unter Verlesungen und bleibt auch sonst im höchsten Maße vorläufig. Als mehrfach wiederaufgelegte Leseausgabe hat sie jedoch durch ihre nicht-kanonische Anlage das Eichendorff-Bild in der Tat erweitert. Die Notwendigkeit, Eichendorff in philologisch einwandfreier Form zu präsentieren, lag auf der Hand, nachdem auch in den 1960er und 70er Jahren die HKA stagnierte und eher werkperiphere Bände erschienen. Die zunächst dreibändige, 1970/76 im Winkler-Verlag erschienene Eichendorff-Ausgabe (W) ist als Studienausgabe angelegt. Eine ausführliche Einleitung, Zeittafel, Register, Werkeinführungen mit Angabe der Druckgeschichte und knappe, aber recht sorgfaltige Erläuterungen sollen das Textverständnis dieses dem Leser als entrückt gedachten Autors erleichtern. Die Texte selbst werden in den ersten drei Bänden „nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke" präsentiert - keine glückliche Entscheidung, wie unter 2 dargelegt wurde. Allerdings sind die Textemendationen nach den Erstdrucken am Ende eines jeden Bandes aufgelistet. Problematisch erscheint die Vorgehens weise jedoch dann, wenn zur Emendation die posthume, äußerst fragwürdige Ausgabe B3 hinzugezogen wird. 1980 folgte ein Band mit der Nachlese der Gedichte, den Tagebüchern und Fragmenten, und 1988 erschien ein weiterer Band mit den politischen und historischen Schriften. Die Anstrengung, einen philologisch sauberen Text herzustellen, war unverkennbar und wurde auch bei Texten mit einfacher Überlieferungslage weitge24

Ahnlich Rasch im Nachbericht zu seiner Auswahl-Ausgabe von 1955, vgl. dort S. 1641.

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hend erreicht. Allerdings läßt sich an dieser Edition der Nachteil von Studienausgaben deutlich erkennen: Ihre Textherstellung unterliegt den Regeln eines ökonomischen Arbeitsaufwands, und das heißt: Sie leben größtenteils aus zweiter Hand. Handschriften werden nur dann eingesehen, wenn dies ohne Mühe und mit überschaubarem Zeitaufwand zu bewerkstelligen ist, 25 ansonsten werden die posthumen, häufig dilettantischen und zumindest längst veralteten NachlaßveröfFentlichungen nachgedruckt, an denen dann noch recht hilflos herumgedoktert wird. Es sei allerdings angemerkt, daß zum Zeitpunkt des Erscheinens von W viele der Handschriften, die spätere Editionen verwenden konnten, verschollen waren. Dennoch: Ein Vergleich des IncognitoAbdrucks nach Weichberger mit der Handschrift des Berliner Nachlasses ergibt eine nicht zu benennende Zahl von Irrtümern, Auslassungen, Simplifizierungen, Mißverständnissen. Es darf bezweifelt werden, daß in diesen Fällen überhaupt von einer eigenständigen editorischen Leistung gesprochen werden kann, zumal dies auch selbst von den Herausgebern in einem eigentümlichen Statement eingestanden wird: „Der hier vorgelegte Band bemüht sich um authentische Textfassungen, soweit dies beim gegenwärtigen Stand von Textedition und Textkritik möglich ist" (W IV, S. 708). Alle Texte - bis auf die Tagebücher - wurden orthographisch modernisiert, auch die (wenigen) Abdrucke nach den Handschriften. Die originale Interpunktion hingegen blieb erhalten, so daß - fur Studienausgaben typische - Mischgebilde aus moderner Orthographie mit historischer Interpunktion, historischem Lautstand und der Beibehaltung von Besonderheiten entstanden, die so weder historisch authentisch noch konsequent modern sind und mit Sicherheit keiner authentischen Fassung der Textgeschichte entsprechen. 26 Das Fazit: W ist eine innerhalb ihrer Kriterien zuverlässige, informative Studienausgabe, die jedoch wissenschaftlichen Ansprüchen an den Text nicht standhalten kann. Es wird gern auf die pragmatischen, kostengünstigen Studienausgaben verwiesen, um die kostspieligen historisch-kritischen Ausgaben in Frage zu stellen. Der Durchgang durch die Winkler-Ausgabe jedoch zeigt, daß zumindest die nachgelassenen Texte Eichendorffs - bedingt auch durch die Ungunst der Überlieferung zu dieser Zeit - hier nicht angemessen präsentiert werden. Noch einmal sollte, beginnend etwa gleichzeitig mit dem Abschluß der WinklerAusgabe, EichendorfFs Werk Gegenstand einer Studienausgabe werden, diesmal im Rahmen des ambitionierten Unternehmens Bibliothek deutscher Klassiker des Deutschen Klassiker Verlags in Frankfurt/Main. Als Werke in sechs Bänden (BDK) mit insgesamt 7000 Seiten in den Jahren 1985-1993 erschienen, durfte sie für sich beanspruchen, die bislang vollständigste kommentierte Eichendorff-Ausgabe zu sein, an Umfang nur übertroffen von der unkommentierten GA. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens - hervorgerufen durch das voluminöse BDK-Projekt insgesamt - wurde angesichts der angekündigten Qualität der Bände in den Feuilletons wiederholt der Sinn der

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So wurden die Tagebücher nach Kopien der Handschrift ediert, die die Eichendorff-Arbeitsstelle zur Verfügung stellte. Die historische Einrichtung der Interpunktion wurde dann auch in Bd. V aufgegeben (vgl. W V, S. 546).

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teuren, mit öffentlichen Mitteln subventionierten und dazu unpopulären historischkritischen Ausgaben in Frage gestellt. Mittlerweile sind diese Stimmen wieder verstummt oder doch leiser geworden, denn das Unternehmen des Frankfurter Verlags erwies sich, vor allem iur die Autoren der klassisch-romantischen Epoche, insgesamt als glücklos; eins der wichtigsten Projekte, die längst überfällige Gesamtausgabe der Werke Ludwig Tiecks, blieb Fragment. Aber auch die erschienenen Bände selbst gaben nicht selten Grund zur Kritik, und dies im besonderen Maße bei der EichendorffEdition. K.K. Polheim hat in zwei grundsätzlichen, sehr scharfen Rezensionen 27 auf die Mängel dieser Edition hingewiesen, die hier nicht im Detail erneut aufgerufen werden müssen. In erster Linie waren es die zweifelhaften, unentschiedenen Richtlinien des Deutschen Klassiker Verlags, die vor allem keine akzeptable Handhabung der Orthographie anboten. 20 Es kam zu unsäglichen Wirmissen in der Textgestaltung, so daß beispielsweise ein Teil einer Handschrift im Haupttext modernisiert erschien, ein anderer Teil derselben Handschrift, desselben Blattes aber im Kommentar in authentischer Schreibweise geboten wurde - ein Kuriosum, wenn man bedenkt, daß ein in den Sekundärbereich abgeschobener Text die bessere philologische Behandlung erfuhr als der Haupttext. Die Herausgeber unternahmen die Anstrengung, im Gegensatz zu W möglichst viel handschriftliches Material mitzuteilen. Allein, das Ergebnis dieser auf den ersten Blick imposanten Leistung war bei näherem Betrachten sehr ernüchternd. Abgesehen von den erwähnten Modernisierungen bei handschriftlichen Texten waren offenbar auch sonst keine stimmigen Editionsprinzipien erarbeitet worden. Abgedruckt wurde jeweils „die ,abgehobene Endstufe' des Blattes", doch „auch einige längere gestrichene Passagen" (BDK III, S. 857) wurden mitgeteilt. Nach welchen Kriterien diese aber ausgewählt wurden und ob diese Auswahl die Texte nicht in eine Schieflage brachte oder gar ihre Stimmigkeit zerstörte, stand nicht zur Debatte. Die Editoren maßten sich an, den Textbefund nach ihrem Relevanzverständnis zu beurteilen. Selbst gegen grundsätzlichste Standards wurde verstoßen, indem z.B. nachträgliche Einfügungen Eichendorffs nicht markiert wurden, so daß sie vom Benutzer nicht präzis in Beziehung zum gestrichenen Text gesetzt bzw. bei strichlosen Passagen überhaupt nicht erkannt werden können. Dazu kamen unvertretbar viele Lesefehler: Allein bei den auf den Seiten 1014 f. von BDK V abgedruckten kurzen Texten erbrachte der Vergleich mit der Handschrift nicht weniger als zwölf, z.T. schwere Verlesungen. 29 Fehlentzifferungen, Flüchtigkeiten und Ungenauigkeiten (auch im Kommentar) zeugten nur zu deutlich davon, daß sich ein solches Unternehmen nicht in dieser kurzen Zeit

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Vgl. Polheim 1991 und 1995. Albrecht Schöne hat mit seiner BDK-Edition des Goethischen Faust („Zum ersten Mal ein von Entstellungen befreiter und authentischer Text") für viel positives Aufsehen gesorgt, wenngleich nicht allen Rezensenten verborgen blieb, wie widersinnig es ist, die Originalität des Textes bis in die Zeichensetzung hinein mit aller philologischen Sorgfalt wiederherzustellen und gleichzeitig durch Modernisierung der Orthographie die Authentizität wieder abzubauen. Mein fragt sich, wieviel philologische Selbstverleugnung hinter Schönes Euphemismen („Texterfrischung", „Spinnwebenentfernung", S. 99) stehen mag. Z.B. „zuvor" statt „zwar", „Ohren auf die Nasen legen" statt „Ohren auf den Rasen legen", „Gram" statt „Zorn" etc.

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verantwortungsvoll durchführen ließ. Daran konnten auch die einläßlichen, informativen, zum Teil brillanten Essays nichts mehr ändern, deren Ort ohnehin in einer solchen Ausgabe fragwürdig erscheint. Eine spezifische Forschermeinung bleibt prominent piaziert und aufs engste verbunden mit den Texten, auch wenn sich diese Sichtweise in der wissenschaftlichen Diskussion als überholt oder einseitig herausstellen sollte. Hartwig Schultz, maßgeblicher Herausgeber der Ausgabe, hat in einem Aufsatz, der deutlich ,pro domo' geschrieben ist, die Leserunfreundlichkeit von historischkritischen Ausgaben stark kritisiert und dabei bezüglich der Darstellung von Eichendorff-Handschriften ein Scheingefecht gefuhrt. 30 Gerade aber durch diesen Angriff auf die Editionswissenschaft - der durchaus auch Bedenkenswertes enthielt31 - mußte sich die BDK am wissenschaftlichen Anspruch messen lassen. Auch wenn man Polheims Urteil („letzten Endes unbrauchbar")32 nicht teilen will: Die Eichendorff-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags machte eine historisch-kritische Ausgabe nicht überflüssig, sondern unterstrich einmal mehr deren Notwendigkeit. Karl Konrad Polheim selbst hatte - in Fortfuhrung der Arbeit seines Vaters Karl Polheim - 1989 eine zweibändige Ausgabe des Taugenichts veröffentlicht, die an Gründlichkeit alles übertraf, was die Eichendorff-Edition bislang geleistet hatte. Die Textgeschichte allein füllte einen Band, und der Textteil bot nicht nur sämtliche autorisierten Zeugen in Faksimiles, sondern in die Transkription der Handschrift wurden die Lesarten der Drucke eingeblendet. Dieser integrale, in Mehrfarbdruck realisierte Apparat war die eigentliche Sensation der Ausgabe, obwohl er kaum als Vorbild für andere Editionen gelten konnte, denn nicht nur war das Druckverfahren zu kostenaufwendig, sondern vor allem war der bunte Text nicht mehr ohne weiteres zu zitieren. Die insgesamt positive Kritik zeigte sich irritiert, daß Polheim keinen kritischen Text hergestellt und bei der Erläuterung von Textfehlern auch interpretatorische Erwägungen einbezogen hatte.33 Der Weg zu einer modernen historisch-kritischen Edition der poetischen Werke Eichendorffs war jedoch mit dieser Ausgabe erstmals beschritten.

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Vgl. Schultz 1995, S. 123ff. - Schultz warnt vor „Patentlösungen" bei der Darstellung komplizierter handschriftlicher Befunde wie denen der autobiographischen Fragmente Eichendorffs und unterstellt, daß Editoren historisch-kritischer Ausgaben dazu neigen, leichtsinnige Zuordnungen von Textteilen zu unternehmen. Kein Editor wird jedoch Blattzusammenhänge auflösen, sondern die Verweise in einem Sekundärapparat für den Benutzer erläutern. Gerade bei Eichendorffs exakter Arbeitsweise sind Schultz' warnende Worte überflüssig und recht eigentlich ja auch nur eine (verdeckte) Selbstrechtfertigung für das eigene Verfahren.

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S o teilt der Verf. (vgl. Fröhlich 1998, S. 2 9 4 f . ) durchaus Schultz' Plädoyer für eine Benutzerfreundlichkeit auch von historisch-kritischen Ausgaben. Polheim 1995, S. 228. Polheim gab seiner Oberzeugung Ausdruck, „daß die Darbietung der Texte von deren Deutung nicht zu trennen ist. Edition und Interpretation bedingen einander" (1,1). Besonders spektakulär demonstrierte Polheim dieses Verfahren bei der Umstellung der Strophen 2 und 3 des Wanderlieds. - Hatte Polheim in seiner Taugenichts-Edition Eingriffe dieser Art noch als Vorschlag angeboten, so setzte er sie zehn Jahre später - trotz Kritik (vgl. Schultz 1991, S. 221; Martens 1992, S. 201 f . ) - b e i der Erstellungeines Edierten Textes für HKA V/1 konsequent um.

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3.2.

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Die Historisch-kritische Ausgabe (HKA) 34

Angesichts der textlichen Verwahrlosung des Eichendorffschen Werks spätestens seit Hermann von Eichendorffs Ausgabe wurde eine historisch-kritische Edition allgemein als Desiderat empfunden. Ins Leben gerufen wurde das Projekt schließlich 1906 von dem Regensburger Verleger Joseph Habbel, der den Literarhistoriker Wilhelm Kosch als Hauptherausgeber gewinnen konnte. Bereits 1908 legte Kosch als ersten Band die Tagebücher vor, sieben weitere Bände folgten bis 1950. 35 Zwei Weltkriege erschwerten jedoch die kontinuierliche Weiterarbeit, zumal ihnen leider auch Mitarbeiter der Ausgabe, wie Hilda Schulhof, zum Opfer fielen. Außerdem erwies sich nun eine Grundsatzentscheidung des Herausgebers als verhängnisvoll: Um möglichst schnell die Ausgabe zu etablieren, hatte man zuerst nur kommentierte Textbände erstellt, die Lesarten und Varianten der Drucke und Handschriften wollte man - noch weit entfernt von der heute in der Editionswissenschaft üblichen Fokussierung auf solches Material - später in einem abschließenden Band nachreichen. Der handschriftliche Nachlaß wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg verstreut und stand der Eichendorff-Forschung nach 1945 - mit Ausnahme der Berliner Manuskripte - für lange Zeit nicht mehr zur Verfugung (s. 2.1). Dennoch hielt Habbel an dem Unternehmen fest und gewann um die Mitte der 1950er Jahre in dem Münchner Germanisten Hermann Kunisch einen neuen Herausgeber, der aus seinen akademischen Schülern die Bandbearbeiter rekrutierte. Man beschloß, auch die unter Kosch bereits erschienenen Bände neu zu bearbeiten, da sie mittlerweile nicht mehr den modernen editionswissenschaftlichen Standards entsprachen. 36 Allein, die Ausgabe blieb über Jahrzehnte hinweg ein Sorgenkind der Editionen, da sie in Planungen steckenblieb und zudem durch den häufigen Wechsel der Bandbearbeiter behindert wurde. Hauptursache dieser Verzögerungen war aber sicherlich die fehlende wissenschaftliche Verankerung der Ausgabe, und das heißt nicht zuletzt: ihre Organisationsform und Finanzierung. Immerhin erschienen in den sechziger Jahren vier Bände, die allerdings nicht das Hauptwerk Eichendorffs repräsentierten. Erst 1969 wurde eine von der DFG geförderte Arbeitstelle in München eingerichtet, in der nun systematisch die notwendigen Materialien archiviert wurden. Das Erscheinen der Rezeptionsbände (HKA XVIII) des Ehepaars Niggl und die abschriftliche Sicherstellung sämtlicher amtlicher Schriften Eichendorffs durch Hans Pörnbacher waren die herausragenden Leistungen in diesen Jahren, dennoch drang die Ausgabe noch immer nicht zum poetischen Werk vor - paradoxerweise ein Glücksfall, wie sich zeigen sollte, denn die Gunst der Stunde wollte es später, daß die verschollenen Autographen stets rechtzeitig zum Druck des betreffenden Bandes wiederauf-

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Hier folgt nur ein knapper Abriß der wechselvollen Geschichte der HKA; sie ist im einzelnen nachzulesen bei Kunisch 1959, 1962 und 1970/71. Siehe das Literaturverzeichnis. Dies ist an allen Bänden der alten HKA ablesbar, insbesondere aber an HKA' X, w o die Tagebücher vom Herausgeber stark bearbeitet und dem Originaltext entfremdet wurden. Problematisch waren natürlich auch die mittlerweile veralteten Kommentare.

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tauchten.37 Als Helmut Koopmann Ende der 1970er Jahre als Herausgeber zu Hermann Kunisch hinzutrat, nahm er die Arbeitsstelle nach Augsburg, wo sie systematisch ausgebaut wurde. Als Drittmittelprojekt war die Ausgabe nun auch direkt der DFG zugeordnet und damit konkreten Zeitplänen unterworfen. In den 1990er Jahren gelang es den beteiligten Kräften, die Bände der HKA mit zunehmender Regelmäßigkeit zu veröffentlichen. Nicht nur befand sich die Materialaufbereitung für die einzelnen Bände nun in einem fortgeschrittenen Zustand, sondern vor allem hatte eine Forschungskommission der DFG nach einer Sitzung in Augsburg beschlossen, die Ausgabe stärker zu unterstützen. Für den Arbeitsstellenleiter wurde eine BAT-Stelle eingerichtet, und die Görres-Gesellschaft erhielt dennoch ihr bisheriges Stipendium aufrecht, so daß die Arbeitsstelle doppelt besetzt werden konnte. Auch der Wechsel der Ausgabe von Kohlhammer zum engagierten Niemeyer-Verlag sollte sich als vorteilhaft erweisen. Zweierlei veränderte in diesem Jahrzehnt die editorische Anlage, wie sie die ursprünglichen Richtlinien der Ausgabe vorgesehen hatte. Zum einen standen nach der sog. Wende plötzlich wieder als verschollen geltende Handschriften in überraschender Anzahl zur Verfugung, zum anderen war in der Editionswissenschaft, angeregt durch die ,critique genetique' in Frankreich,38 eine lebhafte Diskussion darum entstanden, wie eine Handschrift zu edieren sei. Bislang galt für die HKA, daß der Edierte Text entscheidend sei und auf ihn sich alle anderen Stufen, Varianten und Lesarten zu beziehen hätten.39 Ort dieser Auswertung sollte der Lesartenoder Variantenapparat sein. In der editionswissenschaftlichen Diskussion hatte sich jedoch immer stärker die Ansicht durchgesetzt, daß vor allem Handschriften in ihrer Genese darzustellen seien. Das böse Wort vom „Lesarten-Friedhof 140 ging umher, und die HKA konnte sich dieser Diskussion nicht entziehen. Es galt allerdings sorgfältig abzuwägen, bei welchen Texten genetische Darstellungen zur Anwendung kommen sollten und mit welchen Mitteln dies geschehen sollte. Die HKA hat dabei niemals eine Extremposition bezogen, sondern stets ein Ziel im Auge behalten, das bei einigen anderen Editionen kaum mehr eine Rolle zu spielen schien: die Benutzerfreundlichkeit. Eine historisch-kritische Ausgabe, so die Haltung der HKA, ist eine philologische Dienstleistung, die alles zu unternehmen hat, den Text nicht hinter einem Stacheldraht aus diakritischen Zeichen, Siglen und drucktechnischen Besonderheiten vor dem Leser wegzusperren. Genauigkeit der Textgenese und Lesbarkeit (auch: Zitierbarkeit) mußten aufeinander justiert werden. Anhand einiger exemplarischer Bände soll dies als ,work in progress' kurz nachgezeichnet werden. Der erste Teil der HKA, die vier Teilbände der Lyrik, zeigt sich zwangsläufig noch recht unausgewogen. Band I bringt die Lyrik nach der autorisierten Sammlung in B2, 37

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Dies spitzte sich im Fall von HKA IV zu, als das lange verschollene 84seitige Manuskript zu Dichter und ihre Gesellen wiederauftauchte und die Druckmaschinen beim Niemeyer-Verlag buchstäblich in letzter Minute angehalten werden mußten. Vgl. dazu Gresillon 1998. Vgl. die Anlage von Band XVI, der einen Edierten Text nach der letzten Korrekturschicht im Hauptteil bringt und die Varianten im Apparatteil listet. Vgl. dazu Koopmann 1993, S. 228.

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die gegenüber A 1 umfangreicher ist. Im Kommentarband wird in den Lesarten die Varianz sämtlicher überlieferter Handschriften und Drucke wiedergegeben. Hier folgte der Bearbeiter seiner Überzeugung, daß bei Reinschriften und späteren Abschriften eine vollständige Wiedergabe des gegenüber dem Edierten Text nur gering Varianten Textes nicht nur aus Platzgründen wenig sinnvoll ist, sondern daß hier ein positiver Lesartenapparat angemessener sei, der den Benutzer sogleich mit der Textdifferenz konfrontiert. Anders verhält es sich bei handschriftlichen Entwürfen, die zumindest in komplizierteren Fällen textgenetisch in einem Stufenmodell dargeboten werden, das sich vor allem an Beißners Hölderlin-Ausgabe orientiert, jedoch weiterentwickelt wurde. Das Mischgebilde aus lemmatisiertem Lesarten- bzw. Variantenapparat 41 und textgenetischer Darstellung vermag wohl nicht in jeder Hinsicht, in theoretischer sicher nicht, zu überzeugen, hat jedoch den Vorteil der übersichtlichen Informationsvermittlung. Auch der editorisch ungeschulte Benutzer vermag die Textvarianz mit Hilfe des Apparates leicht zu erkennen und kompliziertere Fälle zu rekonstruieren. Jedoch: Die Orientierung an einem Edierten Text bleibt an jeder Stelle erhalten, Handschriften werden zu Sekundärschriften. Auch Band 1/3 mit den nachgelassenen und verstreuten Texten verfährt im Falle handschriftlicher Zeugen zunächst so, daß aus der letzten Korrekturschicht - den ungestrichenen Stellen - der Edierte Text nach dem Autorwillen rekonstruiert wird und die Genese auch hier im Apparat auf diesen Text ausgerichtet bleibt. Das Beibehalten eines Edierten Textes zeitigt Vor- und Nachteile: Die Zitierfahigkeit ist an jeder Stelle gegeben, der Einblick in die Schreibwerkstatt bleibt indessen eher reduziert. Andere Bände der HKA stellten die Herausgeber endgültig vor die Entscheidung, der Textgenese einen größeren Raum zukommen zu lassen oder die Trennung zwischen Ediertem Text und Varianz fortzuschreiben. Im Falle von Bd. VI (Historische Dramen) wählte der Herausgeber eine gemäßigte textgenetische Darstellung für die unveröffentlichten Dramenhandschriften. Die Trennung zwischen Ediertem Text und Variantenapparat war nicht aufrechtzuerhalten, wollte man nicht auf die Mitteilung der überaus komplexen Textgenese, wie sie der handschriftliche Befund dokumentiert, verzichten. Der Edierte Text hatte - natürlich gerade bei Fragmenten - seine Vorrangstellung verloren, in das Zentrum des Interesses trat nun das Schreiben als kreativer Prozeß. Die Kombination von Einrückungen unterschiedlicher Grade für Textschichten mit einem Sekundärapparat trug dem Rechnung und erwies sich in der Praxis als tauglich, die Dynamik des Schreibens und den Korrekturwillen des Autors graphisch mitzuteilen und gleichzeitig den Text gut lesbar zu erhalten. Bei der jetzt gewählten Darstellungsweise blieb gestrichener Wortlaut - in Kastenklammern gesetzt - erhalten, während der ersetzende, eingefügte Text in eingerückten Absätzen mitgeteilt wurde. Im Ergebnis kann der Benutzer nun die früheste Schicht bequem lesen, indem er die Passagen in den Kastenklammern mitliest und alle Einrückungen überspringt; die

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Wie üblich werden hier Lesarten als Differenz zwischen Textzeugen, Varianten innerhalb von Textzeugen verstanden.

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späteren Schichten erschließen sich durch Auslassung der gestrichenen Passagen und Integration der eingerückten Passagen, die stufenweise die Bearbeitung demonstrieren. Die Einrückung ist zwar strukturell und nicht materiell bestimmt, fällt aber mit dem materiellen Befund der Handschrift zu einem großen Teil zusammen, da Eichendorff seine Texte häufig mit einer breiten Korrekturspalte versehen hat, in die die Nachträge geschrieben wurden. Dennoch war das Verfahren bei stark verknäulten und besonders im Wortbereich komplizierten Überarbeitungen nicht durchzuhalten, ohne die gewonnene gute Lesbarkeit und Zitierfahigkeit wieder zu opfern. In diesen Fällen trat in den Fußnoten ein sekundärer Apparat hinzu, der die Korrekturschichten horizontal auseinanderlegte. War also gegenüber einer Trennung zwischen Ediertem Text und Variantenverzeichnis ein Fortschritt im Hinblick auf die Darstellung einer Textgenese zweifelsfrei gewonnen, so blieb das Ergebnis dennoch zwiespältig, da die Integration aller genetischen Vorgänge ohne Sekundärapparat nicht vollständig gelang. Die gute Lesbarkeit, die Zitierfähigkeit und die graphische Nähe zum handschriftlichen Befund waren im Verein mit einer leicht erkennbaren Darbietung von Korrekturschichten jedoch der Gewinn dieses innovativen Verfahrens. Der folgende Band (V/4) griff diesen Kompromiß teilweise auf, indem er einen Edierten Text mit Kennzeichnung nachträglichen Wortlauts durch Einrückungen erstellte, jedoch reduktionistisch die gestrichenen Passagen in einen Lesartenapparat verwies und ansonsten auch den Edierten Text von allen diakritischen Zeichen freihielt. Die Zitierbarkeit war wieder voll gewährleistet, die Textgenese aber nicht primär intendiert. Im Gegensatz dazu war für die Bände V/1 und V/2 eine Entscheidung weniger zu treffen: Der Edierte Text ergab sich aus dem besten autorisierten Druck, die überaus zahlreichen handschriftlichen Zeugen konnten nun mit besonderem Augenmerk auf die Genese ausgerichtet werden, ohne daß auf die Primärlektüre oder Zitierfähigkeit Rücksicht genommen werden mußte. Polheim entschied sich deshalb für einen vollgültigen integralen Apparat, den ein deskriptiver sekundärer Apparat unterstützte. Erstmals erschienen innerhalb der HKA umfangreiche Prosatexte in integraler Darstellung. Die wohl größte editorische Herausforderung fur eine EichendorffAusgabe ist die Herausgabe des satirischen Puppenspiels Das Incognito, das in einem umfangreichen Manuskript Bestandteil des Berliner Nachlasses ist. Drei Fassungen und zahlreiche Entwurfsblätter, zumeist mehrfach überarbeitet, stellen den Editor vor große Probleme. Wie kaum bei einem anderen Text Eichendorffs - das Marmorbild vielleicht ausgenommen - ist eine textgenetische Darstellung hier lohnenswert, da von den ersten Entwürfen und Handlungsabrissen bis zur abschließenden dritten Fassung alle Zwischenstufen rekonstruierbar sind. Ein integraler Apparat mit Fettdruck als Lesehilfe und ein zusätzlicher Lesetext sollen alle Bedürfnisse des Benutzers befriedigen. Diese Arbeit ist inzwischen abgeschlossen und wird - nach Abschluß der Kommentierung - voraussichtlich im Jahr 2006 als HKA VII vorliegen. Einer der wichtigsten Bände der HKA - ebenfalls bereits druckfertig - ist die Edition der Tagebücher. Kosch hatte hier zwar vorgearbeitet - und alle späteren Herausgeber waren ihm ungeprüft gefolgt - , doch macht sich an diesem Korpus die damalige Entscheidung, einen

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glatten, ansprechenden Text zu edieren, besonders fatal bemerkbar. Nicht nur weist der Band zahlreiche Lesefehler auf, sondern er modernisiert und vereinheitlicht die Orthographie des jungen Eichendorffs in einer Weise, daß deren Eigenart völlig verlorengeht. Anhand der in Weimar und nun auch in Ratingen archivierten Handschriften kann erstmalig ein für den gesamten Text authentischer Abdruck herausgegeben werden. Wichtigste Arbeit an dieser Edition ist jedoch die Kommentierung. Anhand von Kirchenbüchern, Theaterzetteln und sonstigen Quellen konnten die Daten verifiziert bzw. falsifiziert werden; ebenso gelang es zum ersten Mal vollständig, die im Tagebuch erwähnten historischen Personen zu identifizieren. Diese Arbeiten waren nur mit einem erheblichen Finanzaufwand zu leisten, der einmal mehr die Notwendigkeit der Bereitstellung von Forschungsmitteln für eine sorgfältige Edition erweist. Die Einrichtung der HKA mag letztlich uneinheitlich wirken, aber dies hat andererseits große Vorteile: Erstens hat sich die Grundausstattung des editorischen Zeichensystems innerhalb der Bände in nur geringem Maße (für V/2) geändert, so daß der Leser, der einen Band zu handhaben gelernt hat, auch alle anderen Bände leicht benutzen kann. Zweitens bleibt das editorische Verfahren geschmeidig den Textverhältnissen angepaßt. Kein Systemzwang hat die Bearbeitung eines Bandes beeinträchtigt, sondern die spezifischen Erfordernisse haben zu unterschiedlichen, immer aber aufeinander beziehbaren Lösungen geführt, die insgesamt zunehmend den Forderungen nach einer textgenetischen Darstellung der handschriftlichen Überlieferungszeugen nachkamen. Unter dem dringenden Erfordernis, nach Jahren der Stagnation der Öffentlichkeit Bände vorlegen zu müssen, haben die Mitarbeiter der HKA den Primat auf die Publikation der Werke gelegt, ohne jedoch die Diskussion außer acht zu lassen. Modische und bereits wieder im Abklingen begriffene Theorien, die den Werk- und Autorbegriff zugunsten unklarer autonomer Schreibprozesse aufgegeben haben, konnten jedoch mit Gewinn ausgespart werden. Leitfaden für alle Beteiligten war immer und ist es nach wie vor, daß die Bereitstellung aller überlieferten authentischen Textzeugen eine Dienstleistung für die Literaturwissenschaft ist. Bei aller Evidenz der Wichtigkeit textgenetischer Darstellungen sollte den Editoren auch bewußt bleiben, daß dieses Interesse am Text nur eines unter vielen ist.

Literaturverzeichnis Editionen Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Zwei Novellen nebst einem Anhange von Liedern und Romanzen von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin: Vereinsbuchhandlung 1826. [B 1 ] Gedichte von Joseph Freiherrn von Eichendorff. Berlin: Duncker und Humblot 1837. [A 1 ] Joseph Freiherrn von EichendorfFs Werke. Berlin: Simion. [B 2 ] Erster Theil: Gedichte. 1842 [1841], Zweiter Theil: Ahnung und Gegenwart. 1842 [1841], Dritter Theil: Dichter und ihre Gesellen. Krieg den Philistern. 1842 [1841], Vierter Theil: Kleinere Novellen. 1842.

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Joseph Freiherrn von Eichendorff's sämmtliche Werke. Zweite Aufl. Mit des Verfassers Portrait und Facsimile. [Hrsg. von Hermann von Eichendorff]. Bd. 1-6. Leipzig: Voigt & Günther 1864. [B 3 ] Joseph Freiherr von EichendorfF: Vermischte Schriften. Bd. 1-5. [Ergänzung zu den Sämmtlichen Werken], Paderborn: Schöningh 1866/67. Eichendorffs Werke. Auswahl in vier Teilen. Hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Ludwig Krähe. Berlin, Leipzig: Bong [1908]. Joseph von Eichendorff: Werke. Hrsg. von Wolfdietrich Rasch. München: Hanser 1955. Joseph Freiherr von Eichendorff: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden. Hrsg. von Gerhard Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. Stuttgart: Cotta Nachf. 1957/58. [GA] Joseph von Eichendorff: Gesammelte Werke. Hrsg. von Manfred Häckel. [Textrevision und Erläuterungen: Regine Otto], 3 Bde. Berlin: Aufbau 1962. [GW] Joseph von Eichendorff: Werke. München: Winkler. [W] Bd. I: Gedichte, Versepen, Dramen, Autobiographisches. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke. Verantwortlich für die Textredaktion: Jost Perfahl. Einführung, Zeittafel und Anmerkungen von Ansgar Hillach. 1970. Bd. II: Romane, Erzählungen. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke. Verantwortlich fur die Textredaktion: Jost Perfahl. Einführung, Zeittafel und Anmerkungen von Ansgar Hillach. 1970. Bd. III: Schriften zur Literatur. Nach den Ausgaben letzter Hand bzw. den Erstdrucken. Verantwortlich für die Textredaktion: Marlies Korfsmeyer. Mit Anmerkungen von Klaus-Dieter Krabiel. 1976. Bd. IV: Nachlese der Gedichte, Erzählerische und dramatische Fragmente, Tagebücher 1798-1815. Nach den Erstdrucken und Handschriften. Verantwortlich für die Textredaktion: Klaus-Dieter Krabiel und Marlies Korfsmeyer. Mit Anmerkungen und Register von Klaus-Dieter Krabiel. 1980. Bd. V: Politische und historische Streitschriften. Textredaktion, Anmerkungen, Register, Zeittafel und Auswahlbibliographie: Klaus-Dieter Krabiel. Mit einem Nachwort zur gesamten Ausgabe von Peter Horst Neumann. 1988. Polheim, Karl t / Polheim, Karl Konrad: Text und Textgeschichte des .Taugenichts'. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. Bd. 1: Text. Bd. 2: Textgeschichte. Tübingen: Niemeyer 1989. Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985-1993. (Bibliothek deutscher Klassiker). Bd. 1: Gedichte und Versepen. Hrsg. von Hartwig Schultz. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker. 21). Bd. 2: Ahnung und Gegenwart, Erzählungen I. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker. 8). Bd. 3: Dichter und ihre Gesellen, Erzählungen II. Hrsg. von Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker. 100). Bd. 4: Dramen. Hrsg. von Hartwig Schultz. 1988 ( Bibliothek deutscher Klassiker. 31). Bd. 5: Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, Historische und politische Schriften. Hrsg. von Hartwig Schultz. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker. 96). Bd. 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Hrsg. von Hartwig Schultz. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker. 52). Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Wilhelm Kosch [und August Sauer], Regensburg: J[oseph] Habbel. [HKA'] 1/1: Gedichte. Hrsg. von Hilda Schulhof und August Sauer. 1923. 1/2: Gedichte. Hrsg. von Hilda Schulhof und August Sauer. 1923. III: Ahnung und Gegenwart. Hrsg. von Wilhelm Kosch und Marie Speyer. 1913. IV: Dichter und ihre Gesellen. Hrsg. von Ewald Reinhard. 1939. VI: Dramen. Hrsg. von Ewald Reinhard. 1950. X: Historische, politische und biographische Schriften. Hrsg. von Wilhelm Kosch. 1911. XI: Tagebücher. Hrsg. von Wilhelm Kosch. 1908. XII: Briefe. Hrsg. von Wilhelm Kosch. 1910. XIII: Briefe an Freiherrn Joseph von Eichendorff. Hrsg. von Wilhelm Kosch. 1910. XXII: Ein Jahrhundert Eichendorff-Literatur. Zusammengestellt von Karl Freiherrn von Eichendorff. 1927. Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer. Fortgeführt und hrsg. von Hermann Kunisch ( t ) und Helmut Koopmann. [HKA] 1/1: Gedichte. Erster Teil. Text. Hrsg. von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1993.

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1/2: Gedichte. Erster Teil. Kommentar. Aufgrund von Vorarbeiten von Wolfgang Krön ( t ) hrsg. von Harry Fröhlich. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1994. 1/3: Gedichte. Zweiter Teil. Text. Hrsg. von Ursula Regener. Tübingen: Niemeyer 1997. 1/4: Gedichte. Zweiter Teil. Kommentar. Hrsg. von Ursula Regener. Tübingen: Niemeyer 1997. III: Ahnung und Gegenwart. Hrsg. von Christiane Briegleb und Clemens Rauschenberg. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1984. IV: Dichter und ihre Gesellen. Text und Kommentar. Hrsg. von Volkmar Stein. Tübingen: Niemeyer 2001. V/1: Erzählungen. Erster Teil. Text. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen: Niemeyer 1998. V/2: Erzählungen. Erster Teil. Kommentar. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Tübingen. Niemeyer 2000. V/4: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hrsg. von Dietmar Kunisch. Tübingen: Niemeyer 1998. VI/1: Historische Dramen und Dramenfragmente. Text und Varianten. Hrsg. von Harry Fröhlich. Tübingen: Niemeyer 1996. VI/2: Historische Dramen und Dramenfragmente. Kommentar. Hrsg. von Klaus Köhnke. Tübingen: Niemeyer 1997. VIII/1: Literarhistorische Schriften I. Aufsätze zur Literatur. Auf Grund der Vorarbeiten von Franz Ranegger hrsg. von Wolfram Mauser. Regensburg: Habbel 1962. VIII/2: Literarhistorische Schriften II. Abhandlungen zur Literatur. Auf Grund von Vorarbeiten von Franz Ranegger hrsg. von Wolfram Mauser. Regensburg. Habbel 1965. IX: Literarhistorische Schriften III. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Hrsg. von Wolfram Mauser. Regensburg: Habbel 1970. XII: Briefe 1794-1857. Text. Hrsg. von Sibylle von Steinsdorff. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1992. XV/1: Übersetzungen I. Der Graf Lucanor von Don Juan Manuel. Geistliche Schauspiele von Don Pedro Calderön de la Barca. Erster Teil. Hrsg. von Harry Fröhlich. Mit Kommentaren von Johannes Kabatek und Gerhard Poppenberg sowie einer Einleitung von Ansgar Hillach. Tübingen: Niemeyer 2003. XV/2: Übersetzungen 1: Geistliche Schauspiele von Don Pedro Calderön de la Barca. Zweiter Teil. Hrsg. von Harry Fröhlich. Mit Kommentaren von Gerd Hofmann, Christoph Rodiek, Manfred Tietz und Pere Juan i Tous. Tübingen: Niemeyer 2002. XVI: Übersetzungen II: Unvollendete Übersetzungen aus dem Spanischen. Hrsg. von Klaus Dahme. Regensburg: Habbel 1966. XVIII/1: Joseph von Eichendorff im Urteil seiner Zeit I: Dokumente 1788-1843. Hrsg. von Günter und Irmgard Niggl. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1975. XVIII/2: Joseph von Eichendorff im Urteil seiner Zeit II: Dokumente 1843-1860. Hrsg. von Günter und Irmgard Niggl. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1976. XVIII/3: Joseph von Eichendorff im Urteil seiner Zeit. Kommentar und Register. Hrsg. von Günter und Irmgard Niggl. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1986.

Andere Literatur Bönisch, Anna: Die Auffindung der Handschriften des Dichters Joseph von Eichendorff im Sedlnitzer Schlosse. Würzburg 1983 (Nachrichten-Blatt der Eichendorff-Gesellschaft Nr. 9, Dezember 1983). Döhn, Helga: Der Nachlaß Joseph von Eichendorff. Berlin 1971 (Handschrifteninventare der Deutschen Staatsbibliothek. 2). Fröhlich, Harry: Zwischen Skylla und Charybdis - Textgenetische Editionen zwischen Schreiber- und Benutzerorientierung. Probleme und Lösungsversuche der Eichendorif-Edition. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 294-311. Gresillon, Almuth: Bemerkungen zur französischen „edition genetique". In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 52-64. Hurlebusch, Klaus: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 7-51. [Katalog 1988:] Joseph von Eichendorff 1788-1857. Ich bin mit der Revolution geboren ... Ausstellung [...] 1988. Katalog: Sibylle von Steinsdorff und Eckhard Grunewald (Hrsg.), Ulrike Ehmann (Red.). Ratingen 1988. Koopmann, Helmut: [Rez.:] Karl Polheim und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des Taugenichts. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2 Bde. Tübingen 1989. In: Aurora 53, 1993, S. 227-230.

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Harry Fröhlich

Kosch, Wilhelm: Aus dem Nachlaß des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Briefe und Dichtungen. Im Auftrage seines Enkels Karl Freiherrn von Eichendorff hrsg., eingeleitet und erläutert. Köln 1906 (GörresGesellschaft. Dritte Vereinsschrift für 1906). Krabiel, Klaus-Dieter: Joseph von Eichendorff. Kommentierte Studienbibliographie. Frankfurt/Main 1971. Kunisch, Hermann: Die historisch-kritische Eichendorff-Ausgabe. In: Aurora 14, 1959, S. 9 1 - 9 3 . Kunisch, Hermann: Die historisch-kritische Eichendorff-Ausgabe. Zweiter Bericht. In: Aurora 22, 1962, S. 112-115. Kunisch, Hermann: Die historisch-kritische Eichendorff-Ausgabe. Dritter Bericht. In: Aurora 30/31, 1970/71, S. 119-123. Martens, Gunter: [Rez.:] Karl Polheim ( t ) und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des .Taugenichts'. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2. Bde. Tübingen 1989. In: editio 6, 1992, S. 198-202. Meisner, Heinrich: Gedichte aus dem Nachlasse des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Mit einem Jugendbildnisse des Dichters. Leipzig 1888. Moser, Karl Willi: Die Eichendorff-Handschriftensammlungen. In: Neisser Heimatblatt Nr. 152, 1980, S. 13f. Plachta, Bodo: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997. Polheim, Karl Konrad: [Rez.:] Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Bde. I, 2, 4, 6. - Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1 9 8 5 - 1 9 9 0 ( = Bibliothek deutscher Klassiker 21, 8, 31, 52). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 23, 1991, H. 2, S. 8 9 - 9 2 . Polheim, Karl Konrad: [Rez.:] Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Bde. 3, 5. - Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993 ( = Bibliothek deutscher Klassiker 100, 96). In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 27, 1995, H. 2, S. 2 2 5 - 2 2 8 . Schultz, Hartwig: [Rez.:] Karl Polheim ( f ) und Karl Konrad Polheim: Text und Textgeschichte des Taugenichts'. Eichendorffs Novelle von der Entstehung bis zum Ende der Schutzfrist. 2 Bde. Tübingen 1989. In: Arbitrium 9, 1991, S. 2 1 9 - 2 2 3 . Schultz, Hartwig: „In dem nächtlichen Feldlager der Spitzbubenbande erzählt". Die Verfdzung von autobiographischen und epischen Werken Eichendorffs und ihre editorische Bewältigung (mit Randbemerkungen zur Zukunft historisch-kritischer Ausgaben). In: editio 9, 1995, S. 117-129. Steinsdorff, Sibylle von: Gesamtausgaben der Werke Eichendorffs. In: Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958 bis 1988. Für die Eichendorff-Gesellschaft hrsg. von Alfred Riemen. Sigmaringen 1988, S. 3 6 6 - 3 8 2 . Steinsdorff, Sibylle von: Zur Veröffentlichung nicht geeignet... Die Überlieferungsgeschichte des handschriftlichen Nachlasses Joseph von Eichendorffs. In: Aurora 54, 1994, S. 3 6 - 5 2 . Teitge, Hans-Erich (Hrsg.): Mondnacht. Das Gedicht von Joseph von Eichendorff und seine Vertonung durch Robert Schumann in vier Faksimiles. Berlin 1989. Universitätsbibliothek und Stadtbibliothek Trier (Hrsg.): Joseph von Eichendorff. Handschriften und Dokumente im Besitz der Eichendorff-Gesellschaft, Ratingen-Hösel. Katalog bearb. von Detlef Haberland. Trier 1992 (Ausstellungskataloge Trierer Bibliotheken. 23).

Rüdiger

Nutt-Kofoth

Goethe-Editionen

1.

Goethe-Ausgaben als editorische Paradigmen

Wie bei kaum einem anderen Autor verbindet sich bei Goethe die Geschichte seiner Ausgaben mit der Geschichte der neugermanistischen Editionsphilologie. Das hat ursächlich mit zwei Dingen zu tun: der ihm bzw. seinem Werk sowohl in der Wissenschaft als auch in der Allgemeinheit zugemessenen repräsentativen Bedeutung und der Breite seiner schriftlichen Produktion. Nur aufgrund der in Anschlag gebrachten Repräsentativität konnte jene Ausgabenmenge entstehen, die von historisch-kritischen bis zu , Lese'-Ausgaben reicht und nur noch mit Mühe zu überblicken ist. Und ebenso aufgrund dessen konnten die beiden bis heute wissenschaftlich wichtigsten Ausgaben, die Weimarer Ausgabe (1887-1919) und die Akademie-Ausgabe (1952-1966, nicht beendet), methodische Weichenstellungen vornehmen, die eminente Wirkungen in der neugermanistischen Editionsphilologie entfalteten. Dies gilt für die vorgenannten Ausgaben auf der Ebene der Textkonstitution und Apparatgestaltung, in Hinblick auf die Kommentierung ist ohne Zweifel die Hamburger Ausgabe (1948 ff., laufend Neubearbeitungen) zu nennen. Auf der anderen Seite führte die Breite in der Überlieferung der anderen, nichtliterarischen Texte dazu, daß sich die germanistische Editionsphilologie nicht nur mit Briefen und An-Briefen sowie Tagebüchern oder Gesprächsaufzeichnungen Zweiter oder Dritter, sondern auch mit Texten auseinanderzusetzen hatte, die zunächst gänzlich außerhalb des streng germanistischen Zuständigkeitsbereichs liegen, insbesondere also mit den naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes und dann den Zeugnissen seiner politisch-administrativen Tätigkeit, den amtlichen Schriften. Der folgende knappe Überblick über diese Entwicklungen versucht die strukturellen Zusammenhänge zwischen den Goethe-Editionen und der Geschichte der neugermanistischen Editionsphilologie aufzuzeigen. Insofern kann aus der reichhaltigen Editionstätigkeit zu Goethe hier nur das Markante und Exemplarische insbesondere in Hinblick auf seine Fernwirkung hervorgehoben werden. Diese Konzentration schien allerdings auch deshalb schon geboten, da instruktive Überblicke über die Editionstätigkeit zu Goethe vorliegen, die allerdings innerhalb des Goethe-Horizontes verharren und methodische und allgemein editionsphilologische Perspektiven kaum berücksichtigen: der ältere, sehr detaillierte, Ausgaben zu Lebzeiten Goethes wie postume Editionen vorstellende Artikel von Ernst Grumach und Waltraud Hagen im ersten (und einzigen)

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Band des zweiten Goethe-Handbuchs von 1961 sowie der bis in die aktuelle Gegenwart reichende knappere Überblick über die postumen Editionen von Horst Nahler im dritten Goethe-Handbuch von 1998 und die ebendort zu findende Beschreibung der von Goethe selbst veranstalteten Werkausgaben von Waltraud Hagen.1 Insofern versucht der folgende Aufriß verstärkt die in diesen Beiträgen nicht erörterten Bezüge der Goethe-Editionen zur allgemeinen Editionsphilologie in den Blick zu nehmen und die vielfach paradigmatischen Bedeutungen editorischer Grundsatzentscheidungen bei diesen Editionen aufzuzeigen. Spezifische Probleme einzelner Texte und deren Editionsgeschichte können jedoch nicht ausfuhrlich berücksichtigt werden.

2.

Die Editionen und ihre Wirkungen

2.1.

Die Entscheidungen des Autors: Goethes selbstveranstaltete .Ausgabe letzter Hand'

Die Ordnung seines Werkes und dessen öffentliche Präsentation war Goethe zeit seines Lebens ein wichtiges Anliegen. Neben verschiedenen Einzelausgaben veranstaltete er allein fünf Gesamtausgaben seiner Werke, die zudem noch in mehreren recht- und unrechtmäßigen Nachdrucken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Dieses Verfahren fand in der über Jahre vorbereiteten und mit Hilfe eines Mitarbeiterstabs hergestellten letzten Gesamtausgabe (1827-1830; editorische Sigle: C) kurz vor seinem Tod einen Höhepunkt und Abschluß. Mit dem von ihm programmatisch gesetzten - vorab schon ähnlich von Wieland verwendeten 2 - Untertitel Vollständige Ausgabe letzter Hand hatte er dieser Ausgabe eine autoreigene Willensbekundung eingeschrieben, die weitreichende Wirkungen auf den folgenden editorischen Umgang mit seinem Werk ausüben sollte. 3 Dies galt insbesondere für die Anordnung des Gesamtwerkes sowie die Textkonstitution der einzelnen Werke. Hinsichtlich der Anordnung wurde eine Hierarchisierung der Gattungen in der Abfolge von Lyrik, Dramatik und Epik impliziert, die in der Folgezeit als ein generelles Ordnungsmodell für Gesamtausgaben

1

2

3

Siehe auch die Bibliographie von Hagen 1 9 7 1 , 2 1 9 8 3 , die Verzeichnungen im Handbuch der Editionen, S. 181-199, und als neueren Überblick die Bibliographie in Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 14: Naturwissenschaftliche Schriften II, Materialien, Register. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn. Mit Beiträgen von Richard Benz, Irmgard Böttcher, Heinz Nicolai, Dorothea Schäfer und Erich Trunz. 9., durchgesehene Aufl. München 1994 (Sonderausgabe 1998), S. 5 5 3 573. - Des weiteren sei hingewiesen auf folgende Artikel in: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4,1 / 4,2: Personen Sachen Begriffe. A - K / L-Z. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998: Siegfried Scheibe, Dorothea Kuhn: Arbeitsweise, Bd. 4,1, S. 7 3 - 7 8 ; Waltraud Hagen: Nachdruck/Raubdruck, Bd. 4,2, S. 7 4 0 - 7 4 3 ; Roswitha Wollkopf: Nachlaß, Bd. 4,2, S. 7 4 3 - 7 4 5 ; Siegfried Unseld: Verlage/Verleger, Bd. 4,2, S. 1083-1090. C.M. Wielands Sämmtliche Werke. 3 9 Bde. und 6 Supplementbde. Leipzig 1794-1811; im Vorbericht zur Gesamtausgabe erläutert Wieland seine Ausgabe als eine „vollständige^ Ausgabe von der letzten Hand" (Bd. 1: Geschichte des Agathon. Theil 1. Leipzig 1794, Vorbericht, S. III-VI, bes. S. III und V). Die Ausgabe selber führt diese Benennung im Titel nicht, wurde allerdings in den Ankündigungen so bezeichnet. Goethes eigene Perspektive auf die Ausgabenkontur erörtert Plachta 2004, S. 2 3 0 - 2 3 2 .

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verschiedenster Autoren verstanden wurde, obwohl es allein auf der spezifischen Lage bei einem einzelnen, wenn auch wirkungsmächtigen Autor beruht. Editionsmethodisch entscheidender war jedoch die gleichfalls implizite Festschreibung einer bestimmten Fassung eines Werkes, nämlich derjenigen in der letzten zu Lebzeiten erfolgten Durchsicht des Autors, für jede folgende Rezeption - sofern sich diese dem letztwilligen Blick des Autors auf sein Werk zu unterwerfen bereit war. 2.2.

Textkritische Annäherungen und die Weimarer Ausgabe

Die Goethe-Philologie hatte lange darunter zu leiden, daß der zunächst in privater Hand verbliebene Nachlaß des Autors fast über das gesamte 19. Jahrhundert so gut wie unzugänglich war. Doch wurde ein Teil der Problematik von Goethes .Ausgabe letzter Hand' schon relativ früh von einer Untersuchung offengelegt, die als eines der Gründungsdokumente der neugermanistischen Editionsphilologie gelten darf: Michael Bemays' Darlegung der Korruptelen in den Goethe-Drucken von 1866. Ohne Einsicht in die Handschriften konnte Bernays einen vielfach schon auf ganz frühe Drucke zurückgehenden Prozeß der Textverfremdung nachweisen, an dem Goethe selber nicht ganz unschuldig war, wie insbesondere die Druckgeschichte des Werther zeigt, bei dessen Neuausgabe 1787 Goethe für seine Durchsicht nicht den Originaldruck, sondern den Raubdruck bei Himburg zugrunde legte, so daß eine ganze Reihe von Himburgschen Druckfehlern Eingang in die neue Ausgabe fand und in der Folge bis in die .Ausgabe letzter Hand' gelangte. Die grundsätzliche Hinterfragbarkeit der .Ausgabe letzter Hand', die damit implizit formuliert war, konnte Bernays selbst aber noch nicht postulieren. Zu sehr galt ihm die Autorperspektive dann doch als das Leitmaß, indem „die ächte Kritik" als „eine sorgsam thätige Dienerin, nur Hab' und Gut ihres Herrn, des Autors, treulich zusammen[zu]halten [habe], daß es unverringert und unverkümmert bleibe". 4 In solcher „Ruhm" und „Lohn" bewirkenden „Unterordnung" 5 ließ sich allerdings die editorische Gretchenfrage nach der Relevanz der autoreigenen Vorgabe für die Gestaltung zukünftiger Editionen noch nicht stellen. Als zwei Jahrzehnte nach Bernays' Untersuchungen die Weimarer Ausgabe zu erscheinen begann, blieb dann das methodische Potential, das in Bernays' Arbeit aufscheint, ungenutzt. Voraussetzung für eine umfassende Ausgabe von Goethes Texten war allerdings, daß der Nachlaß zugänglich wurde. Dies geschah 1885 durch die testamentarische Verfugung des letzten Goethe-Enkels Walther von Goethe, die Großherzogin Sophie von Sachsen zur Erbin des Familienarchivs zu machen. Deren Dezenzvorstellungen führten zwar dazu, daß einige handschriftliche Texte sekretiert blieben und auch erst lange nach ihrem Tod in Nachtragsbänden der Weimarer Ausgabe erschienen, doch konnte der Goethe-Nachlaß im nun öffentlichen Goethe- (ab 1889 Goethe- und Schil-

4 5

Bernays 1866, S. 5 f. Bernays 1866, S. 6.

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ler-)Archiv endlich eingesehen werden und stand der Forschung zur Verfügung. In aus heutiger Sicht unglaublicher Geschwindigkeit wurden nicht nur die Pläne für eine Gesamtausgabe der Goethe-Texte ausgearbeitet, sondern unter den Generalredaktoren Gustav von Loeper, Erich Schmidt und Wilhelm Scherer (nach dessen Tod 1886 Herman Grimm) sowie dann ergänzend Bernhard Seuffert und Bernhard Suphan schon 1887 die ersten Bände der sog. Weimarer oder auch Sophien-Ausgabe vorgelegt, die mit ihren bis zum Abschluß 1919 erschienenen 133 (in 143) Bänden die umfangreichste editorische Leistung der Neugermanistik werden sollte.6 Die beiden leitenden Prinzipien der Ausgabe hat Bernhard Suphan im Vorbericht zur Ausgabe dargelegt: „£.s soll sich in dieser Ausgabe das Ganze von Goethes litterarischem Wirken nebst Allem, was uns als Kundgebung seines persönlichen Wesens hinterlassen ist, in der Reinheit und Vollständigkeit darstellen", und „bei Allem, was Gestalt und Erscheinung der Ausgabe im Großen wie im Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes selbstwillige Verfügung bekannt ist."7 Damit war ein Doppeltes erreicht: Zum einen konnten in einem Konnex von Werk und Biographie neben den literarischen Werken und den naturwissenschaftlichen Schriften - unter Verzicht auf die amtlichen Schriften Goethes - die Tagebücher und Briefe aufgenommen werden, zwei Textsorten, die schließlich knapp die Hälfte der gesamten Ausgabe ausmachen sollten. Zum anderen hatte das schon durch die Textsortenwahl dokumentierte Interesse an der biographischen Person Goethe entscheidende Auswirkungen auf das textkritische Verfahren, indem entsprechend dem zweiten Grundsatz als „Norm" des Autors seine .Ausgabe letzter Hand' verstanden wurde: „Sie ist sein Vermächtniß, er selbst hat sie so betrachtet, als den Abschluß seiner Lebensarbeit."8 Mit den Begriffen ,Verfugung' und , Vermächtnis' ist ein Verhältnis von Autor und Editor beschrieben, das schon bei Bernays mitschwang: Der Editor wird zum Ausfuhrungsorgan der von ihm in bestimmter Hinsicht verstandenen Willensäußerungen des Autors. Georg Witkowski, durchaus ein Kritiker der Weimarer Ausgabe, hat einen solchen Editor zustimmend - als „Testamentsvollstrecker" bezeichnet.9 Entscheidend bleibt dabei, daß die Leitinstanz , Autor' in diesem Konzept nicht der Autor in der Gesamtheit seiner Entwicklung ist,10 sondern nur der Autor an einem bestimmten biographischen Punkt, nämlich dem letztmöglichen Einflußpunkt auf die 6

7 8 9 10

Wie weit die neue Edition die Erschließung des Nachlasses dominierte, zeigt die - bis in die Gegenwart bestehende - Anordnung der Goethe-Autographen nach den Bänden der Weimarer Ausgabe. Suphan 1887, S. XVIII f. Suphan 1887, S. XIX. Witkowski 1921, S. 225. Verschiedene Formulierungen in Herman Grimms Vorwort zum ersten Band 1887 ließen sich zwar noch so lesen, doch machen Grimms Ausführungen durch ihre Mythisierungen Goethes eher die Bandbreite der Unterwerfung unter die Leitinstanz , Autor' deutlich, als daß sie ein gegenläufiges Autorbild entwerfen. Festzustellen bleibt aber auch, daß Grimms raunende Evokation Goetheschen Geistes („Der Sage nach umreiten die in Erz auf erzenen Rossen thronenden Fürsten in tiefer Nacht ihre Stadt und halten Umschau: so glauben wir auch die großen Dichter und Denker in fortwirkenden Gedanken über uns waltend. Goethe schien noch da zu sein. Es wurde die ersten Jahre nach seinem Hinweggange leise gesprochen in Dingen, die ihn betrafen"; ebd., S. XII) dem Geist der positivistischen Ausgabe sowenig entspricht, wie sie ihr zu schaden vermochte.

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Gestalt seines Gesamtwerkes. In diesem Sinne wurde die Edition zu einem Spiegel von Goethes eigenem Denken, indem in den Entscheidungen der Weimarer Ausgabe Goethes organologisches Grundmodell aufscheint, insbesondere jener Kontinuitätsund Entwicklungsaspekt, der nun die letzte Werkgestalt als das Optimum verstehen konnte und die , Ausgabe letzter Hand' folgerichtig zur Textgrundlage machen mußte. Das hieß auf der anderen Seite aber auch, daß für das Gesamtwerk der Blick des alten Goethe verbindlich wurde, also z.B. auch der auf seine Sturm- und Drang-Texte, die er in späteren Publikationen gegenüber den Erstdrucken verschiedentlich bearbeitete. Solchermaßen erscheinen diese Texte dann durchaus , enthistorisiert' in der ,Ausgabe letzter Hand' und dann auch in der Weimarer Ausgabe. In vielerlei Hinsicht bestimmten Goethes Autorvorgaben die Weimarer Ausgabe weiter. Sie folgte für die Werkabteilung der Anordnung in der .Ausgabe letzter Hand' und schob nur die nachgelassenen Texte ein. Damit blieb auch die Goethesche Gattungsfolge erhalten und konnte durch das germanistische Großprojekt Weimarer Ausgabe nun als generelles Exemplum verstanden werden. Durch die Wahl der ,Ausgabe letzter Hand' als allgemeine Textgrundlage der Werkabteilung erübrigte sich - im Sinne des editorischen Vorverständnisses vom Autor - die Frage von Textkritik und Textkonstitution bzw. konnte auf die Druckfehler dieser Ausgabe reduziert werden. Erschwerend kommt hinzu, daß die Weimarer Ausgabe, obwohl generell der , Ausgabe letzter Hand' folgend, doch an verschiedenen Stellen Modernisierungen und Normalisierungen von Orthographie und Interpunktion vornimmt, z.B. durch die Ersetzung von y durch i, und dies explizit gegen eine von Goethe gewünschte differenzierte Verwendung des y.11 Doch lehrt auch das Beispiel der hinzugefugten „Kommatisirung vor relativem der, die, das und vor daß", wie regelhaft dies Verfahren durchgeführt wird, nämlich „auch hier jedoch ohne Zwang bei kürzeren Sätzen." 12 Die Uneinheitlichkeit und Unübersichtlichkeit, die in manchem die Weimarer Ausgabe kennzeichnet, kündigt sich in solchen Sätzen des Vorberichts schon an. Generalabsolution wird vorab gegeben: „Pedantische Einförmigkeit wird überhaupt nicht erstrebt." 13 Doch wäre es wohl andererseits vermessen gewesen, nach zwei Jahren Vorbereitungszeit fur eine schließlich 143 Bände umfassende Ausgabe ein lückenloses Konzept vorlegen zu wollen. Insofern muß die Ausgabe zu Beginn als notwendige Offenheit verteidigen, was ihr dann insbesondere Heinrich Düntzer als schärfster Kritiker in den Besprechungen der frühen Bände der Weimarer Ausgabe vorwarf: die überschnelle Publikation von Texten ohne vollständige Durchdringung der Überlieferungsverhältnisse. 14 Doch bleibt es trotz aller Kritik eine eindrucksvolle Leistung, welche Menge 11 12 13

14

Siehe Suphan 1887, S. XXI-XXIII. Suphan 1887, S. XXIV. Suphan 1887, S. XXV. - Daß die Herausgeber durchaus bereit waren, aufgrund fortgeschrittener Erkenntnisse ihre Grundsätze zu revidieren, zeigt die kontinuierliche Berichterstattung über den Stand der Ausgabe im Goethe-Jahrbuch (9, 1888-33, 1912), s. insbesondere: Bericht der Redactoren und Herausgeber. In: Goethe Jahrbuch 16, 1895, S. 261-273, hierS. 261-263. Vgl. verschiedene Besprechungen Heinrich Dtlntzers in der Zeitschriftfiir deutsche Philologie 23, 189133, 1901, bes. Düntzer 1891, S. 295.

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an Texten durch die Weimarer Ausgabe in relativ kurzer Zeit erschlossen wurde, wobei der Großteil der Arbeit j a in den im Variantenapparat verzeichneten früheren Fassungen und Paralipomena steckt. Dabei markiert der Variantenapparat der Weimarer Ausgabe insofern einen editorischen Entwicklungsschritt, als er den Varianten einen eigenen Ort im zweiten Teil eines jeden Bandes oder in einem zweiten Teilband bot. Damit war die Abkehr vom Fußnotenapparat der Altphilologie endgültig vollzogen, der sich noch in den vorherigen großen neugermanistischen Editionen des 19. Jahrhunderts findet: so in Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe von 1838-1840 oder in Karl Goedekes Schiller-Ausgabe von 1867-1876, der ersten, die sich im Titel als ,historisch-kritisch' bezeichnete. Mit einher ging damit die Erkenntnis, daß die Varianten zu Texten der neueren Literatur eben keine primär textkritische Bedeutung besitzen, sondern andere Fassungen des Werkes konstituieren. Die Hürde, diese Texte zu erschließen, stellt nun allerdings der Variantenapparat selbst dar. In seiner Form als lemmatisierter Einzelstellenapparat zerlegt er die früheren Fassungen in mit dem edierten Text übereinstimmende und nicht übereinstimmende Stellen, wobei nur die abweichenden Stellen verzeichnet werden. Dadurch bleiben die früheren Fassungen in der Regel als Text unlesbar und erscheinen nur hinsichtlich ihrer Varianz gegenüber dem Bezugstext. Die Zersplitterung auch zusammengehöriger Varianten wird später ein Anlaß für Friedrich Beißner sein, sein epochemachendes Verfahren der Variantenverzeichnung in Textstufen ab 1937 (zunächst für Wieland, dann für Hölderlin) zu entwickeln. 15 Der sonstige editorische Apparat der Weimarer Ausgabe ist äußerst knapp gehalten. Er besteht im Regelfall aus den Angaben zur Überlieferung und wenigen entstehungsgeschichtlichen Hinweisen. Erläuterungen sind ausgeschlossen bzw. finden erst in den späteren Briefbänden gelegentlich und unsystematisch Eingang. Wissenschaftsgeschichtlich gilt die Weimarer Ausgabe als ein Werk des Positivismus. Daß sie - beendet nach dem Ersten Weltkrieg - beim Erscheinen ihrer letzten Bände, auf deren Titelblatt noch immer die zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahrzehnte verstorbene „Großherzogin Sophie von Sachsen" als Auftraggeberin firmierte, nun im Zeichen einer schon seit längerem herrschenden ,Geistesgeschichte' als anachronistisch gelten konnte, zeigt nur einen Aspekt dieses Großunternehmens. Gerade der positivistische Ansatz, der ein „objectives Bild der gesammten Überlieferung zu geben" beabsichtigte, 16 macht die Ausgabe heute - über ein Jahrhundert später - überhaupt noch benutzbar; dankenswerterweise, denn sie ist bis heute die umfassendste Goethe-Ausgabe geblieben, die für alle Texte, die inzwischen keine (historisch-)kritische Neuedition gefunden haben, verbindlich bleibt. Inwieweit die Ausgabe, an der mehr als eine Generation der Kaiserreichsgermanistik beteiligt war, auch als ein Reflex der politisch-gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Entstehung nach den Gründerjahren des Bismarckschen Deutschen Reiches und dann im Wilhelminismus zu lesen

15

16

Siehe z.B. die Ausführungen zur Variantenverzeichnung der Weimarer Ausgabe bei Beißner 1958, S. 12— 15. Suphan 1887, S. XXIV.

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ist, wäre im einzelnen noch genauso zu untersuchen, wie überhaupt eine ausfuhrliche Geschichte der Weimarer Ausgabe - mit zu erwartendem großen Gewinn für die Wissenschaftsgeschichte - noch zu schreiben ist.17 2.3.

Erkenntnisse und Alternativen

Die im Anschluß an Bernays schon während des weiteren Erscheinens der Weimarer Ausgabe wachsende Einsicht in das Ausmaß der Korruptelen in den von Goethe selbst veranstalteten Ausgaben führte zu erneuter Beschäftigung mit dem Problem der Autorisation der .Ausgabe letzter Hand', die von der Weimarer Ausgabe jener letzten Goethe-Gesamtausgabe im ganzen attestiert worden war. Insbesondere die Problematik, daß Goethe vielfach Textverfremdungen in neuen Drucken trotz eigener Durchsicht nicht bemerkt hatte, veranlaßte Eduard von der Hellen, für die Textkritik in der Jubiläumsausgabe eine Differenzierung von aktiver und passiver Autorisation vorzunehmen,18 eine Trennung, die im Rahmen der Autorisations-Diskussion in der Editionsphilologie später intensiv bedacht worden ist. Kaum abschließend zu beurteilen ist, wie die weiteren Erkenntnisse über die Problematik der Goetheschen Drucke Eingang in ein Unternehmen gefunden haben oder hätten, das „endlich unanfechtbar den Wortlaut des Goetheschen Werkes für alle Zeiten festzulegen" beabsichtigte: die Welt-Goethe-Ausgabe oder sog. Mainzer Ausgabe.19 Auf 50 bibliophil gestaltete Bände angelegt, erschienen von 1932-1940 nur acht, bevor das Unternehmen eingestellt wurde. Da die erschienenen Bände im wesentlichen der ,Ausgabe letzter Hand' folgen, läßt sich kaum ein methodischer Fortschritt gegenüber der Weimarer Ausgabe ausmachen. Dazu kommen äußerst knappe editorische Bemerkungen sowie ein die Varianten nur in Auswahl erfassender Apparat. Wie die Ausgabe den Zeitereignissen unterworfen war, zeigt die Tatsache, daß die ersten Bände zunächst in Antiqua erschienen, dann aber in Fraktur umgedruckt wurden.20 War von der Welt-Goethe-Ausgabe also gegenüber der Weimarer Ausgabe kein wesentlicher Fortschritt zu erwarten, so hatte eine schon Jahrzehnte früher erschienene Ausgabe die Möglichkeit eines grundsätzlich anderen Verfahrens im Umgang mit Goethe-Texten aufgezeigt. Dies war die mit dem sprechenden Titel zuerst 1875 von Salomon Hirzel und Michael Bernays publizierte Sammlung Der junge Goethe. Sie umfaßte Goethe-Texte der Vorweimarer Zeit in der Fassung der Erstdrucke. Damit war ein gegenüber der späteren Weimarer Ausgabe zweifach differentes Modell vorgelegt. 17

18

19

20

Knappe Hinweise bzw. Beurteilungen bei Borchmeyer 1989, Raabe 2001, Kraft 2001 und - zur Briefabteilung - E. Richter 2001, S. 124-131. Hinweise zur Problematik des Autorbildes der Weimarer Ausgabe in Hinblick auf die folgenden Editionen bei Th. Richter 2000. Jubiläumsausgabe, Bd. 10: Götz von Berlichingen. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin [1906], S. 255f. Im Anhang zu Bd. 12: Urfaust, Faust. Ein Fragment, Faust. Der Tragödie erster Teil. Hrsg. von Max Hecker. [Antiquadruck] Mainz 1932, S. 390; vgl auch das im Aufruf zur Protektion der Welt-GoetheAusgabe genannte Editionsziel, „die endgültige wissenschaftliche Festlegung des reinen, ungetrübten Goetheschen Textes" zu leisten (abgedruckt ebd., S. 389). Zu Entstehungsgeschichte und Erscheinungsverlauf siehe Sarkowski 1999.

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Es beinhaltete zum einen eine mögliche chronologische Ordnung der Goethe-Texte, ein Verfahren, das Karl Goedeke in seiner .historisch-kritischen' Schiller-Ausgabe gerade, insbesondere für die Gedichte (Bd. 11, 1871), vorgeführt hatte.21 Zum anderen aber brachte Der junge Goethe seine Texte in der ursprünglichen Fassung, machte also tatsächlich den frühen Goethe lesbar und folgte damit nicht der für die Weimarer Ausgabe verbindlichen Perspektive des alten Goethe auf sein frühes Werk. Die Ausgabe von 1875 konnte allerdings nur die Erstdrucke heranziehen. Erst in der zweiten Ausgabe von Max Morris 1909-1912 wurden auch die handschriftlichen Texte des jungen Goethe sichtbar; eine neubearbeitete, für Textkritik, Variantenverzeichnung und Kommentar auf aktuellem Stand beruhende dritte, kritische Ausgabe legte Hanna Fischer-Lamberg 1963-1974 vor. Auf deren Grundlage ist Der junge Goethe 1998 als Hybridedition, herausgegeben von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems, mit reichem zusätzlichen und den digitalen Möglichkeiten entsprechend verknüpften Material erschienen, ein Beispiel für die Möglichkeiten und die Leistungsfähigkeit zukünftiger elektronischer Editionen.22 Die (nach dem Verlag) so genannte ,Propyläen'-Ausgabe (1909-1932), eine ohne Kommentar und textkritische Bemerkungen, wohl auf der Weimarer Ausgabe beruhende Gesamtausgabe, exerzierte dann eine chronologische Anordnung durch, bevor in der Gegenwart mit der .Münchner Ausgabe' (1985-1998, s.u.) eine Studienausgabe einen neuen Versuch machte, das gesamte Werk Goethes zeitlich zu reihen. 2.4.

Die Folgen des .Erdbebens' und die Innovationen der Editionsphilologie: die Akademie-Ausgabe

Unter der Leitung von Ernst Grumach machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Arbeitsgruppe an der (Ost-)Berliner Akademie der Wissenschaften daran, die unter vielerlei Gesichtspunkten als problematisch empfundene Werkabteilung der Weimarer Ausgabe zu ersetzen. Die Arbeiten standen in einem größeren Rahmen, nach dem sukzessive alle Abteilungen der Weimarer Ausgabe erneuert werden sollten. Den Anfang machte die Neuedition der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in der sog. ,Leopoldina-Ausgabe' ab 1947, der sich später die Tagebuch- und Brief-Abteilung anschließen sollten (s. dazu unten). Das editionsgeschichtlich folgenreichste dieser Unternehmen war ohne Zweifel die begonnene Neuausgabe der Werke Goethes in der sog. Akademie-Ausgabe (1952— 1966, nicht beendet) in nicht durchgezählten, in der Regel in Text und Apparat geteilten Doppelbänden. Deren Voraussetzung war zunächst eine akribische Untersuchung der Überlieferungsverhältnisse, zuvorderst des textkritischen Status der ,Ausgabe 21

22

Goedeke hatte allerdings schon ein Vorbild in der Editionsgeschichte zu Schiller, nämlich Körners für die frühe postume Rezeption wichtige Ausgabe von 1812-1815. - Siehe dann K[arl] Goedeke: Vorwort. In: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. Bd. 11: Gedichte. Hrsg. von Karl Goedeke. Stuttgart 1871, S. V-XIV, hier S. V-VII. Siehe Eibl/Jannidis/Willems 1999.

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letzter Hand'. Die von Grumach dann 1950/51 vorgelegten Ergebnisse dieser Untersuchung wurden als umstürzend, ja als „Erdbeben"23 in der Goethe-Philologie begriffen. Sie wiesen insbesondere nach, daß der Einfluß Goethes auf die Textgestalt der Ausgabe letzter Hand' relativ gering war und diese im einzelnen weit stärker als bisher angenommen auf den Redaktionen von Goethes Mitarbeitern, vor allem Göttlings, beruht. Aufgrund bibliographischer Analyse war inzwischen erkannt worden, daß die ,Ausgabe letzter Hand' satztechnisch aus mehreren Ausgaben besteht, von denen der Taschenausgabe (C1) und der Quartausgabe (C3) editorische Relevanz zukommt.24 Während C1 zumindest zu einem Teil noch von Goethe mit kontrolliert worden ist, hat sich Goethe bei der aufgrund von C1 neu gesetzten Ausgabe C 3 fast jeglicher Mitarbeit enthalten. So ließ sich nicht nur feststellen, daß die frühe Entscheidung der Weimarer Ausgabe, ihren Text nach C3 herzustellen, keinesfalls die Präsentation der dem Autor am nächsten stehenden Druckfassung seines Werkes ermöglicht, sondern Goethe zudem überhaupt sehr zurückhaltend bei der persönlichen Mitarbeit an der endgültigen Textform seiner Werke war. Diese Erkenntnis machte aber nun die ganze Argumentation der Weimarer Ausgabe hinfällig, die in der .Ausgabe letzter Hand' den expliziten Willensausdruck ihres Autors erkannt haben wollte. Die Akademie-Ausgabe konnte für ihre Textkonstitution daher die .Ausgabe letzter Hand' verlassen und sich anderen Modellen, wie sie etwa durch den Jungen Goethe angedacht waren, zuwenden, indem sie auf die automächste Textfassung im Zusammenhang mit dem Erstdruck zurückgriff, also je nach Sachlage, d.h. der Tatsache, inwieweit Goethe kontrollierte, und soweit überliefert auf den Erstdruck, die Korrekturbogen oder die Druckvorlage. Das neue editorische Paradigma, das die Akademie-Ausgabe nun aufstellte, war also nicht nur aufgrund theoretischer Überlegungen, sondern auch durch die praktischen Einsichten in den faktischen Verlauf, den die Geschichte der Goetheschen Drukke genommen hatte, zu begründen. Die Ausgabe hatte daher doppelten Grund, die vorherrschende Bindung des Editors an die letztwillige, also immer die Altersperspektive des Autors auf sein Werk zu verabschieden. Erschwert wurde die vollständige Umsetzung dieser Erkenntnis jedoch durch ein anderes Verfahren, das der ausgebildete Altphilologe Grumach programmatisch formulierte: Denn die Aufgabe des kritischen Editors kann es nur sein, den besten Text herzustellen. Das klingt tautologisch und ist es vielleicht auch, bleibt aber die einzig mögliche Umschreibung der verwickelten und verantwortungsreichen Aufgabe des Editors, unter Berücksichtigung aller vorhandenen Zeugen eines Textes und aller seine Geschichte bestimmenden Faktoren die Textfassung herzustellen, die der Intention des Autors den adäquatesten Ausdruck verleiht. Wird diese Arbeit von vornherein dadurch unterbunden, daß ein einziger handschriftlicher Zeuge oder ein Druck fur sakrosankt erklärt wird und alle anderen Zeugen nur historisch

23 24

Müller 1952, S. 378. Diese Erkenntnis wuchs schon während der Erarbeitung der Weimarer Ausgabe; siehe den Bericht der Redactoren und Herausgeber im Goethe-Jahrbuch 1895 (s. Anm. 13).

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oder akzessorisch berücksichtigt werden, so kann v o n Textkritik und damit auch von einer kritischen Edition nicht mehr die R e d e sein. 2 5

Dieses eigentlich gegen die Weimarer Ausgabe und ihre Festlegung auf die .Ausgabe letzter Hand' als Textgrundlage formulierte Diktum ermöglichte nun im Sinne altphilologischer Rekonstruktion oder des anglo-amerikanischen Copy-text-Verfahrens die vermeintliche ,Einbesserung' von Varianten in die gewählte Textgrundlage, um so einer scheinbar sicher erkannten „Intention" des Autors Ausdruck zu verleihen. Das größte Problem der Akademie-Ausgabe ist nun allerdings, daß die in diesem Sinne vorgenommenen Eingriffe in den seit 1952 in rascher Folge vorgelegten Textbänden nicht kontrollierbar sind, da die zugehörigen Apparatbände bis auf wenige Ausnahmen nicht erschienen sind. Dies macht eine Benutzung der Ausgabe insgesamt problematisch. Allerdings hat sich nach dem Ausscheiden Grumachs 1959 in der AkademieAusgabe eine Wende vollzogen, die sich zuallererst in der Aufstellung editorischer Verfahrensweisen und Begriffsdefinitionen niederschlug, die 1961 als Grundlagen der Goethe-Ausgabe in Typoskriptform vorlagen. Die mit der Übernahme der Leitung durch Siegfried Scheibe zu verbindende Neuorientierung führte zur Herausarbeitung der nicht zu hintergehenden editorischen Einheit der Fassung und der Zurückweisung jeglicher Möglichkeit, Varianten solcher Fassungen für den edierten Text kontaminieren zu dürfen. Damit war der andersartigen Überlieferungslage von Texten der neueren Literatur gegenüber antiken oder mittelalterlichen Texten, nämlich der Tatsache, daß sie - in der Regel - in autoreigenen Handschriften oder vom Autor beaufsichtigten oder in Auftrag gegebenen Drucken vorliegen, Rechnung getragen. Die Revision des editorischen Verfahrens läßt sich an den Korrekturen zum edierten Text ablesen, die z.B. der Apparatband zu den Epen gegenüber dem noch zu Grumachs Zeiten erschienenen Textband vermerkt. 26 Der Epen-Band darf auch als das Muster für die Apparatbände gelten, wäre die Ausgabe in der nun geplanten Form fortgeführt worden. Großer Wert ist auf die Darlegung der Überlieferung gelegt, Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Textträger sind genauestens angeführt. In einer Mischung von Einzelstellenverzeichnung und Darstellung zusammenhängender, versübergreifender Veränderungen werden die Varianten präsentiert. Soweit möglich wird dabei ein integrales, die Veränderungen in einzelnen Schichten einer Handschrift ineinander blendendes Verfahren benutzt, ein Muster, das dann für Prosatextverzeichnung den Weg in andere Ausgaben (z.B. Klopstocks Arbeitstagebuch, hrsg. von Klaus Hurlebusch, 1977; Barlach, Dramen, hrsg. von Ulrich Bubrowski, 1998 ff.) fand. Der Verzicht auf die durchgängige Kennzeichnung von gestrichenem oder editorisch wiederholtem, in der Hand-

25 26

Grumach 1950/51, S. 64. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von Emst Grumach. Bd.: Goethe: Epen. 1. Text. Bearbeiter des Bandes: Siegfried Scheibe. Berlin 1958; Werke Goethes. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd.: Goethe: Epen. 2. Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Bearbeiter des Bandes: Siegfried Scheibe. Berlin 1963.

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schrift aber nur einmal niedergeschriebenem Text an Stellen mit umfangreichen Änderungen macht den Apparat allerdings nicht ganz leicht lesbar. Einem Benutzerinteresse am Befund ist damit nur z.T. gedient, ein Vorwurf, der schon gegen Friedrich Beißners Variantendarstellung in der Hölderlin-Ausgabe erhoben worden ist.27 Eine Gesamtbeurteilung der Akademie-Ausgabe bleibt - insbesondere wegen der vielfach nicht erschienenen Apparatbände - schwierig. Doch ist festzuhalten, daß die Akademie-Ausgabe durch ihr methodisches Potential einen Markstein in der Geschichte der modernen Editionsphilologie bildet. Insbesondere sind hierfür die Grundlagen der Goethe-Ausgabe anzuführen. Allein als Typoskript verfugbar, konnte dieses erste methodisch konzise Regelwerk einer neugermanistischen Edition in den 1960er Jahren nur unter der Hand an Editoren außerhalb der DDR weitergegeben werden, übte dabei aber reichhaltige Wirkungen aus. Die aus der speziellen Situation bei Goethe entwickelten Definitionen und Verfahrensweisen wurden dann verallgemeinert und von Siegfried Scheibe 1971, in überarbeiteter und erweiterter Form ein zweites Mal 1991 publiziert. Die ursprünglichen Grundlagen selbst wurden in der letzten überarbeiteten und in der Ausgabe benutzten Form erst 1997 veröffentlicht, in der ursprünglichen Form des Typoskripts, das in Editorenkreisen zirkulierte, 2005. Scheibes Definitionen und Erörterungen sind die bis heute umfassendste terminologische Aufarbeitung editorischer Begriffe. Sie haben weitreichende Diskussionen ausgelöst, vor allem in Hinblick auf einige zentrale Termini wie .Fassung' und .Textfehler', deren Definition zugleich eine Verfahrensanweisung an den Editor impliziert. Eine Erörterung des Gesamtkomplexes von Scheibes terminologischen Vorschlägen steht aber genauso noch aus, wie überhaupt zu berücksichtigen ist, daß sie aus der Arbeit an den Texten eines Autors und deren spezifischer Überlieferungslage hervorgegangen sind. Aufzuarbeiten ist im Zusammenhang mit der Akademie-Ausgabe auch noch jene Entwicklung, die sich im zeitgenössischen Umgang mit den Grundlagen schon ausdrückt. Das ohne Zweifel ambitionierteste editorische Projekt der DDR ist aus wissenschaftspolitischen Gründen nämlich 1967 eingestellt worden. Der unter dem programmatischen Titel Wissenschaft auf Abwegen? 1966 erschienene Aufsatz von KarlHeinz Hahn und Helmut Holtzhauer, als Direktoren des Goethe- und Schiller-Archivs bzw. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Kultur in Weimar von nicht geringem kulturpolitischen Einfluß, darf als Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung jener Verfahren, die die neugermanistische Editionsphilologie entwickelt hatte, gelesen werden. Im Zusammenhang mit der Aufgabe des ,Klassikzentrismus' und der veränderten Kulturpolitik der DDR blieb damit für eine Ausgabe, die sich durch ihren Verzicht auf Kommentare und durch die Verwicklung in die editorische Diskussion auch der westdeutschen Neugermanistik kaum im Sinne der offiziellen DDR-Kulturpolitik profilieren konnte, kein Raum. 28

27 28

Vgl. Zeller 1958; - zur Kritik an Scheibes Verfahren im Epen-Band s. Beißner 1964, S. 83-85. Vgl. Plachta 1998, S. 331-333.

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Zu erwähnen bleiben noch die Publikationen, die aus der Arbeitsgruppe der Akademie-Ausgabe hervorgingen und Grundlagen jedes weiteren editorischen Umgangs mit Goethe bilden: Die Bibliographie der Goethe-Drucke sowie die mustergültige Zusammenstellung der Quellen und Zeugnisse von deren Druckgeschichte; im Kontext der Akademie-Ausgabe sind auch die Bemühungen um eine komplette Übersicht über die Entstehungsgeschichte von Goethes Texten zu sehen, die jedoch mit den publizierten zwei Bänden über die Anfänge nicht hinausgelangte.29 Für die Weiterungen in die allgemeine Editionsphilologie, die aus solchen Arbeiten resultierten, sei als eines von mehreren nur das Handbuch der Editionen von 1979 genannt. 2.5.

Der editorische Umgang mit den nichtliterarischen Textsorten

Wer tatsächlich den ,ganzen' Goethe edieren will, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Lösungen für unterschiedlichste Textsorten zu suchen. Dies galt zuallererst für die naturwissenschaftlichen Schriften, die in der ,Leopoldina-Ausgabe' seit 1947 herausgegeben werden. Sie ersetzt die als besonders problematisch empfundene zweite Abteilung der Weimarer Ausgabe. Die ,Leopoldina'-Ausgabe ist in die beiden Abteilungen Texte und Kommentare getrennt. Die Kommentarbände enthalten allerdings nicht nur Überblicks- und Einzelstellenerläuterungen zu den Texten sowie deren Varianten, sondern präsentieren Goethes reich überlieferte handschriftliche Vorstudien mit erschließendem Kommentar in einem ersten Teil des Kommentarbandes. Zu bedauern ist, daß die Textbände orthographisch modernisiert sind. Erschwert wird die Benutzung der Ausgabe dadurch, daß durch zwischenzeitliche konzeptionelle Änderungen Zuordnungen von Text und Kommentarteil nicht immer offensichtlich sind. Abteilung drei und vier der Weimarer Ausgabe mit den Tagebüchern und Briefen sollten schon im Zuge der Arbeit an der Akademie-Ausgabe erneuert werden, doch wurden die über ein Jahrzehnt währenden Vorarbeiten 1974 schließlich abgebrochen. Die Tagebuchabteilung der Weimarer Ausgabe wird nun seit 1998 sukzessive durch eine neue Ausgabe ersetzt, die nicht nur durch ihren Einzelstellenkommentar eine empfindliche Lücke in der Goethe-Philologie schließt. Indem sie zudem den Dokumentcharakter des Tagebuchs ernst nimmt, geht sie konsequent auf den originalen Wortlaut und Zeichenbestand von Goethes diaristischen Aufzeichnungen zurück und präsentiert diese nicht als einen geglätteten Text, sondern in allen Brüchen des biographischen Dokuments. In Hinblick auf die Briefe Goethes sind inzwischen reichhaltige Vorarbeiten für eine neue Ausgabe betrieben, so daß die ersten Bände in Aussicht stehen.30 Als ein erster Schritt ist seit August 2000 das Repertorium der Goethe-Briefe im Internet zugänglich. Wer nicht nur den Briefschreiber Goethe, sondern auch dessen gesamte Korrespondenz, also einschließlich der an ihn gerichteten Briefe, ins Auge nehmen wollte, war

29 30

Hagen 1 9 7 1 , 2 1 9 8 3 ; Quellen und Zeugnisse 1966-1986; Mommsen 1958. Siehe zur Konzeption der Ausgabe E. Richter 2001 und Kurscheidt 2001.

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lange Zeit auf verschiedene Briefwechselausgaben angewiesen, die vor allem bei bedeutenden Korrespondenzpartnern vorgelegt wurden. Eine vollständige Darbietung sämtlicher An-Briefe wurde erstmals in den 1960er Jahren geplant, wobei die Überlieferungslage - nämlich Goethes eigene Registratur - diesem Anliegen entgegenkam. Aufgrund der großen Zahl, über 20000 Briefe, entschied man sich, die An-Briefe in Regestform zu veröffentlichen, also den wesentlichen Inhalt des Briefes in Kurzform beschreibend darzustellen, jedoch keine Brieftexte zu edieren. Das in der Germanistik nicht unwidersprochen gebliebene Verfahren kann allerdings ζ. B. auf die Regestausgabe der Thomas-Mann-Briefe (1977-1987) verweisen. Die seit 1980 erscheinende Ausgabe verbindet seit Mitte der 1990er Jahre ihre Arbeit verstärkt mit der Erstellung einer abfragbaren elektronischen Datensammlung. Auch dieser Aspekt macht den primär archivalischen Gesichtspunkt deutlich, der die Konzeption der Regestausgabe leitet. Insofern bildet die Ausgabe ein Modell, wie große Textmengen editorisch aufbereitet werden können und die Ergebnisse dieser Aufbereitung vielfältigen Recherchen zur Verfugung stehen. 31 Die Brieftexte selbst liegen allerdings, soweit nicht schon in Einzelkorrespondenzen oder an anderem Ort publiziert, weiterhin im Archiv. Im Zuge der Revision der Weimarer Ausgabe, wie sie seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre angestrebt wurde, wurde offenkundig, daß ein ganzer Komplex von Goethes schriftlicher Hinterlassenschaft bisher fast vollständig ausgeblendet worden war: die amtlichen Schriften. Da die Weimarer Ausgabe diese Texte ausgeschlossen hatte (wenn auch der ein oder andere amtliche Text dann doch den Weg in die Ausgabe fand), mußte hier ein Feld systematisch neu erschlossen werden. Die von Willy Flach (Bd. 1) und Helma Dahl (Bd. 2 und 3) zwischen 1950 und 1972 mit abschließendem Registerband (Bd. 4, 1987) vorgelegte Ausgabe der Amtlichen Schriften ist allerdings nur äußerlich beendet. Ihr fehlt nicht nur der Erläuterungsband zu den in Band 1 publizierten Texten, sondern sie leidet auch an dem Konzeptionswechsel, der mit Band 2 eintrat, indem von dort an der Begriff .Amtliche Schrift' wesentlich weiter gefaßt wurde. Überhaupt fehlen Schriften aus Goethes Tätigkeit in verschiedenen Kommissionen und anderen Bereichen. Verschiedenes ist nun in den Bänden 26 und 27 der Frankfurter Ausgabe greifbar. Inzwischen gibt es aber auch Überlegungen, die Flach/Dahlsche Ausgabe der Amtlichen Schriften wiederaufzunehmen und systematisch zu beenden. 32 Schon eine Tradition innerhalb der Goethe-Philologie haben die ,Gespräche' aufzuweisen. Diese von ihrem Textstatus her problematische Textsorte ist für die GoetheRezeption insbesondere durch Eckermanns Aufzeichnungen von großer Wirksamkeit. Die Biedermannschen Ausgaben (1889-1896 und 1909-1911) und weiteres Material sind von Wolfgang Herwig 1965-1987 in einer vollständigen Ausgabe aufgearbeitet 31 32

Vgl. Koltes 2001; siehe auch die Publikation der modellhaften Arbeitsgrundsätze 1996. Siehe Wahl 2001, zur Geschichte der Flach/Dahlschen Ausgabe bes. S. 185-189; zu den von Reinhard Kluge bzw. Irmtraut und Gerhard Schmid herausgegebenen Bänden mit den Amtlichen Schriften in der Frankfurter Ausgabe (1998/99) s. I. Schmid 2001; zur Frage von Verfasserschaft und Autorschaft bei Amtlichen Schriften s. - mit Goethe-Perspektive - G. Schmid 2002.

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worden. Parallel dazu erscheint die noch nicht beendete Ausgabe von (Ernst und) Renate Grumach, die, wie schon ihr Titel Begegnungen und Gespräche deutlich macht, die Textsortengrenzen weiter zieht. Die auf Vollständigkeit ausgerichtete und als kritische Ausgabe konzipierte Sammlung bietet durch die Präsentation eines weiten Textumfeldes und durch Erläuterungen die bisher eingehendste Präsentation Goethescher Gespräche. Hingewiesen sei noch auf Gerhard Femmels Edition der Goetheschen Zeichnungen (1958-1973), die nicht nur die Abbildungen mit genauen Beschreibungen der Überlieferung präsentiert, sondern auch die Verbindungen mit den Goethe-Texten dokumentiert. 2.6.

Kommentierte Werkausgaben als Studienausgaben

Die Weimarer und die Akademie-Ausgabe verzichten beide bewußt auf einen übergreifenden Kommentar oder Einzelstellenerläuterungen ihrer Texte. Beide Ausgaben folgen in dieser Hinsicht einem Verfahren, bei dem zum einen die Überlegung, daß die kommentierenden Teile einer Edition am schnellsten veralten und von neuen Erkenntnissen überholt werden, eine entscheidende Rolle spielt, das zum anderen aber auch als Ausdruck einer grundsätzlichen Abstinenz gegenüber stärker interpretatorischen Teilbereichen der Edition verstanden werden muß. Was sich für die Weimarer Ausgabe als Geist des Positivismus in der Konzeption niederschlägt, läßt sich bei der Akademie-Ausgabe vor einem spezifischer editorischen Gesichtspunkt betrachten. Nicht von ungefähr sind aus der Akademie-Ausgabe heraus nicht nur terminologische Überlegungen entstanden, sondern die Editorengruppe um Siegfried Scheibe entwickelte ein Verständnis von editorischer Theorie und Praxis als eines eigenständigen Faches ,Textologie', das im Vorfeld der Literaturwissenschaft, aber von dieser separiert, der literaturwissenschaftlichen Interpretation die Grundlagen bereitstellt, nämlich die (historisch-)kritisch edierten Texte, sich aber nicht selber an einer solchen Interpretation beteiligt. 33 Diese Position ist bis heute umstritten geblieben, in ihr spiegelt sich aber auch jener Aspekt der gegenwärtigen neugermanistischen Editionsphilologie, der sich zugleich als Teil einer interdisziplinär ausgerichteten Editionswissenschaft versteht. Zeitgeschichtlich darf die Kommentarabstinenz der Akademie-Ausgabe aber auch als ein Versuch gewertet werden, von etwaigen doktrinären Vorgaben aufgrund der kulturpolitischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung frei zu bleiben. Die Goethe-Philologie hat aber auch eine ganze Reihe an kommentierten Ausgaben, den sogenannten Studienausgaben, vorzuweisen, die ihre Aufgabe nicht oder nur in sehr beschränktem Umfang in eigener textkritischer Arbeit oder der Präsentation von Varianten oder anderen Fassungen eines Werkes sehen, dafür aber neben den zumeist hinsichtlich Orthographie und Interpunktion modernisierten und normalisierten Texten eine reichhaltige Kommentierung bieten. Ihre andere Einrichtung folgt damit ihrer 33

Vgl. Scheibe 1987.

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Funktionsbedingtheit, nämlich der Ausrichtung auf eine nicht rein wissenschaftliche Leserschaft bzw. überhaupt oder primär auf ein breiteres, allgemeineres Publikum. Eingegangen sei an dieser Stelle nur auf das methodische Verfahren einiger dieser Ausgaben, soweit es als exemplarisches Modell verstanden werden kann.34 Daher sind hier vor allem die wichtigen, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Ausgaben zu nennen. Das Muster für alle modernen Studienausgaben hat dabei die Hamburger Goethe-Ausgabe (14 Bde., zuerst 1948-1960) bereitgestellt. Als Auswahlausgabe angelegt, legt sie ihre Schwerpunkte auf die Kommentierung und bietet neben Einzelstellenkommentaren umfangreiche, überblicksartige Kapitel, die die Texte entstehungsgeschichtlich und interpretatorisch einzuordnen suchen. Dabei kann der Kommentar für bestimmte Texte neue Wertungen einleiten und innovative Forschungsansätze begründen (wie z.B. durch Erich Trunz zu Wilhelm Meisters Wanderjahren in Bd. 8).35 Gegenüber der Hamburger Ausgabe ist die Berliner Ausgabe (1960-1978) mit ihren 22 Bänden (und einem Supplementband) nicht nur umfangreicher, sondern bietet Kommentare zu Entstehung und Rezeption sowie knappe Sacherläuterungen, versucht jedoch Zuweisungen oder Diskussionen bestimmter Deutungen aus der Ausgabe fem zu halten. Damit stellen die beiden Ausgaben zwei Verfahren für Studienausgaben vor, die immer wieder diskutiert werden und sich vor allem in der Frage nach dem interpretatorischen Anteil der Kommentare unterscheiden, letztlich also: inwieweit darf der Kommentar einer Studienausgabe bestimmte Deutungen der Texte festschreiben, oder sollten solche Interpretationsperspektiven eher in der Forschungsliteratur, nicht aber in den Ausgaben erörtert werden? Seit 1985 sind parallel zwei neue Studienausgaben, die Frankfurter bzw. die Münchner Ausgabe, erschienen. Beide Ausgaben legen sämtliche Werke vor, die Frankfurter Ausgabe in einer zweiten Abteilung zudem noch biographische Dokumente (Auswahl aus Briefen, Tagebüchern, Gesprächen). Sie setzen beide das Verfahren der Hamburger Ausgabe fort und integrieren in ihren vielfach umfangreichen Kommentar mehr oder weniger stark Grundzüge einer Deutung. Bemerkenswert ist nun vor allem die Anordnung der Münchner Ausgabe. Nach den Versuchen beim Jungen Goethe und in der Propyläen-Ausgabe werden Goethes Werke erneut chronologisch dargeboten. Damit wird ein anderer Blick auf den Kontext, die Entstehungszusammenhänge und die biographischen Hintergründe der Texte ermöglicht als in jenen Ausgaben, die - wie auch die neue Frankfurter in ihrer Werkabteilung - zunächst nach Textsorten ordnen. Jedoch bekommt die Münchner Ausgabe nicht nur bei der Einordnung von größeren oder über einen längeren Zeitraum entstandenen Texten gewisse Probleme, sondern es liegt durch die chronologische Ordnung auch nahe, Goethes Werke zu stark

34 35

Siehe für einen vollständigeren Überblick die Darlegungen bei Nahler 1998, S. 2 3 0 - 2 3 3 . Ein persönlicher und essayistisch gehaltener Rückblick auf die Geschichte der Hamburger Ausgabe liegt mit dem 1993 geschriebenen Bericht von Trunz 2000/2001, erschienen 2004, vor.

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aus dem Hintergrund der Goetheschen Lebensumstände, also das Werk zuvorderst über die Biographie seines Autors zu begreifen. 36 Festzuhalten bleibt, daß beide neueren Studienausgaben die bisher besten Kommentare bieten, wenn auch die Akzente teilweise unterschiedlich gesetzt sind. Vereinzelt sind eigene textkritische Untersuchungen angestellt worden, so daß die Texte dieser Ausgaben gelegentlich den derzeit besten editionsphilologischen Stand bieten können. Einzelne Bände bieten markante Neuperspektivierungen, so durch Karl Eibls , Ensemble-Bildung' für die Gedichte in Abt. I, Bd. 1 und 2 der Frankfurter Ausgabe oder durch Harald Frickes überlieferungsorientierte Neuordnung der .Sprüche in Prosa' (vormals ,Maximen und Reflexionen') in deren Band 13. Doch können beide Ausgaben schon von ihrer Anlage her das größte Manko der Goethe-Philologie nicht beheben: das Fehlen einer dem heutigen editionsphilologischen Stand entsprechenden historisch-kritischen Ausgabe der Werke Goethes.

3.

Rückblick und Ausblick: Abschied von den Paradigmen textsortenbezogene und überlieferungsabhängige Lösungen

Die Geschichte der Goethe-Edition weist markante Punkte auf, an denen sie paradigmatische Positionen der je zeitgenössischen Editionsphilologie formulierte. Hinsichtlich des Verhältnisses von Editor und Autor, der Frage von Autorisation und Authentizität oder der textkritischen Verfahren der Neugermanistik haben die wissenschaftlich avancierten Ausgaben ihrer Zeit, die Weimarer Ausgabe und die Akademie-Ausgabe, Maßstäbe gesetzt. Die kritische Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Verfahrensweisen hat dabei die Entwicklung der modernen Editionsphilologie entscheidend gefördert, wie überhaupt die Übertragung der Ausgabenprinzipien auf allgemeine Verfahren durch die Mitarbeiter der Akademie-Ausgabe und die intensive Diskussion dieser Überlegungen schon einen direkten konstituierenden Bestandteil der neugermanistischen Editionsphilologie bilden. Weniger innovatives Potential hat dabei die Darstellung der Varianten oder der Textgenese entfaltet. Obwohl die Weimarer Ausgabe den Varianten einen eigenen Raum bot, war der für ihre Darstellung benutzte lemmatisierte Einzelstellenapparat kaum in der Lage, zusammengehörige Varianten auch im Zusammenhang darzustellen; eine Forderung, die schon Bernhard Seuffert 1905 für die Wieland-Ausgabe formulierte. 37 Für die Verzeichnung größerer zusammenhängender Textänderungen ist dann Friedrich Beißners Stufenapparat in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1943-1985) 36

37

Ein Vergleich von Frankfurter und Münchner Ausgabe im Zusammenhang mit anderen editorischen Projekten zu Goethe bei Golz 1997. Seuffert 1905, S. 57: „Die Lesarten selbst, chronologisch vom frühesten zum spätesten Text geordnet, werden im allgemeinen nach der bei der Weimarischen Goethe-Ausgabe üblichen Weise vorgetragen, also Wort für Wort im Texte vorschreitend. Nur ist zu beachten, daß nicht eine Änderung, die zwei getrennte Wörter zugleich ergreift, also z.B. das Hilfszeitwort und das Particip. perf., getrennt behandelt und aus einer Variante zwei gemacht werden."

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oder Hans Zellers synoptischer Apparat in der C.F. Meyer-Ausgabe (1958-1996) musterbildend geworden, wobei sich aus letzterem dann die Möglichkeit einer selbständigen, nicht auf einen edierten Text bezogenen Darstellung von Textgenese entwickelte, wie inzwischen die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975/76 ff.), die Heym-Ausgabe (1993) oder die Innsbrucker Trakl-Ausgabe (1995 ff.) vorführen. Der in der AkademieAusgabe verwendete Einblendungsapparat hat sich nicht in großem Maße durchsetzen können. Insgesamt bildete für die Goethe-Philologie bisher - bedingt durch die Überlieferungslage - aber auch eher die editorische Untersuchung der Drucke als die der Handschriften einen Schwerpunkt. Inzwischen sind aber für Nachlaßteile, nämlich die Paralipomena zum Faust (1994) und zum West-östlichen Divan (1999), editorisch komplexe Darstellungen vorgelegt worden, die eine diplomatische Transkription der Handschriften in differenzierter Typographie mit einem ausführlichen entstehungsgeschichtlichen, quellen-, motivund sachbezogenen Kommentar verbinden und damit diese Texte erstmals vollständig erschließen. Mit dem hier verwendeten diplomatischen Transkriptionsverfahren stehen diese beiden Arbeiten in Bezug zu Editionen wie der Brandenburger Kleist-Ausgabe (1988 ff.) oder der Kafka-Faksimile-Ausgabe (1995 ff.), die beide die vorherrschend transkriptive Wiedergabe der im Faksimile hinzugefugten Handschriften zur Grundlage ihrer Edition machen. Das in jüngerer Zeit zunehmende Interesse an den Handschriften dokumentiert sich auch in der systematischen Erschließung der GoetheHandschriften im Goethe- und Schiller-Archiv. Die Verzeichnung dieser Handschriften wird innerhalb der Publikation der Inventare ab 2000 zugänglich gemacht und darf als eine mustergültige Vorarbeit für deren noch in Aussicht stehende editorische Aufbereitung bezeichnet werden. Die Goethe-Philologie der jüngeren Zeit entwickelt keine neuen Paradigmen editorischen Arbeitens, sondern versucht Lösungen für die jeweiligen Textsorten im Zusammenhang mit der Überlieferungssituation der einzelnen Texte zu finden. Im Hinblick auf die begonnenen oder vor dem Beginn stehenden Editionen der Tagebücher und Briefe sowie die wieder in den Blick geratene Fortführung der Amtlichen Schriften, aber auch die noch nicht zu Ende gebrachte Regestausgabe der An-Briefe bzw. die Edition der Begegnungen und Gespräche dürfte dieser Ansatz der erfolgversprechendste sein. Nicht von generellen Paradigmen, sondern von den Einzellösungen ist auch für die neugermanistische Editionsphilologie insgesamt ein erheblicher Gewinn zu erwarten. Die Intensität, mit der seit den 1990er Jahren die editorischen Arbeiten zu Goethe insbesondere in Weimar wieder in Gang gesetzt worden sind, dokumentiert das Weimarer Editionskolloquium 1999, deren Ergebnisse in dem von Jochen Golz 2001 vorgelegten Sammelband niedergelegt sind.38 Und so mag man die Hoffnung nicht 30

Die editorischen Neuansätze stehen im breiteren Kontext der jüngeren Grundlagenforschung, wie sie sich auch in dem Unternehmen des Goethe-Wörterbuchs (1978ff.) manifestiert, einem in dieser Form einmaligen Projekt eines Autorenbedeutungswörterbuchs an der Schnittstelle zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft, dem zugleich das Bestreben nach ordnenden Überblicksdarstellungen an die Seite tritt, für die das Goethe-Handbuch (1996-1999) Ausdruck ist.

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ganz aufgeben, daß aus solchen neuen Grundlegungen eines Tages doch noch - und sei es in Einzelschritten - eine historisch-kritische Neuedition der Werkabteilung der Weimarer Ausgabe entstehen könnte.

Literaturverzeichnis Editionen Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1827-1830. Der junge Goethe. Seine Briefe und Dichtungen von 1764-1776. [Hrsg. von Salomon Hirzel], Mit einer Einleitung von Michael Bernays. 3 Bde. Leipzig: Hirzel 1875, 2 1887; - Der junge Goethe. Neue Ausgabe in 6 Bänden. Besorgt von Max Morris. Leipzig: Insel 1909-1912; - Der junge Goethe. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Neu bearb. Ausgabe in 5 Bdn. [und einem Registerbd. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg und Renate Grumach], Berlin: de Gruyter 1963-1974; - als Hybridedition mit zusätzlichem Textmaterial: Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. In zwei Bänden und einer CDROM. Hrsg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 1998. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar: Böhlau[s Nachf.] 1887-1919; - Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Nachträge und Register zur IV. Abteilung: Briefe. Hrsg. von Paul Raabe. Bd. 1-3: Goethes Briefe. Bd. 51-53. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990; - Digitalisierung der gesamten Ausgabe auf CD-ROM bei Chadwyck-Healey 1995: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe [und die Biedermannsche Ausgabe der Gespräche von 1889-1896 (s. folgende Angabe)]. Goethes Gespräche. Hrsg. von Woldemar Frhr. von Biedermann. 10 Bde. Leipzig: F.W. v. Biedermann 1889-1896 (Anhang an Goethes Werke. Abth. für Gespräche) [digitalisiert auf CD-ROM bei ChadwyckHealey 1995; s. vorige Angabe]; 2., durchgesehene und stark vermehrte Aufl. Gesamtausgabe. Neu hrsg. von Flodoard Frhr. von Biedermann unter Mitwirkung von Max Morris, Hans Gerhard Gräf und Leonhard L. Mackall. 5 Bde. Leipzig: F.W. v. Biedermann 1909-1911. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden [und einem Registerbd.]. In Verbindung mit Konrad Burdach u.a. hrsg. von Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin: CottaNachf. 1902-1912. Goethes Sämtliche Werke. Propyläen-Ausgabe. [Hrsg. von Conrad Höfer und Curt Noch], 45 Bde. und 4 Supplement- bzw. Ergänzungsbde. München, später Berlin: Georg Müller; Propyläen 1909-1932. Die Welt-Goethe-Ausgabe der Gutenbergstadt Mainz und des Goethe- und Schiller-Archivs zu Weimar. Dargebracht zu Goethes hundertstem Todestage am 22. März 1932. Goethes Werke. Im Auftrage des Goethe- und Schillerarchivs hrsg. von Anton Kippenberg, Julius Petersen und Hans Wahl. Leipzig: Insel 1932-1940; nicht beendet. Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe hrsg. im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle. Weimar: Böhlaus Nachf. 1947 ff. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg: Wegner 1948-1960; seitdem laufend (München: Beck) Neubearbeitungen; - dazu ergänzend: Briefe. 4 Bde. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow bzw. Bodo Morawe. Hamburg: Wegner 1962-1967; Briefe an Goethe. 2 Bde. Gesammelt, textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow. Hamburg: Wegner 1965-1969; beide in Münchener Nachauflagen. Goethes Amtliche Schriften. Veröffentlichung des Staatsarchivs Weimar. [Hrsg. von Willy Flach.] 4 Bde. in 5. Weimar: Böhlaus Nachf. 1950-1987, nicht vollendet. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Akademie-Verlag 1952-1966, abgebrochen, danach einige weitere Bände als Einzelausgaben. Corpus der Goethe-Zeichnungen. Bearb. von Gerhard Femmel. 7 Bde. in 10. Leipzig: Seemann 1958-1973 (Goethes Sammlungen zur Kunst, Literatur und Naturwissenschaft. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar). Goethe. Berliner Ausgabe. [Redaktionell geleitet bzw.] hrsg. von Siegfried Seidel. 22 Bde. und 1 Supplementbd. Berlin, Weimar: Aufbau 1960-1978. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig. 5 Bde. in 6. Zürich, Stuttgart [später: Zürich, München]: Artemis 1965-1987.

Goethe-Editionen

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Goethe. Begegnungen und Gespräche. Hrsg. von Ernst Grumach und Renate Grumach [ab Bd. 3 von Renate Grumach). Berlin, [New York]: de Gruyter 1965ff. Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn [später: Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und Schiller-Archiv], Weimar: Böhlaus Nachf. 1980ff. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985ff. (Bibliothek deutscher Klassiker). Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder [und Edith Zehm], 21 Bde. in 33. München: Hanser 1985-1998. das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend". Die Paralipomena zu Goethes ,Faust'. Von Anne Bohnenkamp. Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 1994. Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik hrsg. von Jochen Golz unter Mitarbeit von Wolfgang Albrecht, Andreas Döhler und Edith Zehm. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998 ff. Meine Schatzkammer füllt sich täglich ... Die Nachlaßstücke zu Goethes , West-östlichem Divan'. Dokumentation- Kommentar. Von Anke Bosse. 2 Bde. Göttingen: Wallstein 1999. Goethe-Wörterbuch. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1978ff. (erste Lieferung 1966). Ernst Barlach: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Gesamthrsg.: Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung. Unter Mitwirkung der Ernst Barlach Stiftung Güstrow und der Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg. [Abt.:] Das literarische Werk. Dramen, Prosa, Briefe. Hrsg. von Ulrich Bubrowski. Leipzig: Seemann 1998 ff. Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens, Karl Ludwig Schneider. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1993. Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. von Friedrich Beißner [und Adolf Beck], 8 Bde. in 15. Stuttgart: Cotta Nachf.; Kohlhammer 1943-1985. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. .Frankfurter Ausgabe'. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. Frankfurt/Main [seit 1985: Basel, Frankfurt/Main]: [Stroemfeld/]Roter Stern 1976ff; Bd.: Einleitung 1975. Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995ff. H. v. Kleist: Sämtliche Werke. [Berliner, seit 1992:] Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stem 1988ff. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth HöpkerHerberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Abt. Addenda. Bd. 2: Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin, New York: de Gruyter 1977. Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bde. in 16. Bern: Benteli 1958-1996. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. [Hrsg. von Christian Gottfried Körner.] 12 Bde. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1812-1815. Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. Bd. II: Gedichte. Hrsg. von Karl Goedeke. Stuttgart: Cotta 1871. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls. Hrsg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1995ff. C M. Wielands Sämmtliche Werke. 39 Bde. und 6 Supplementbde. Leipzig: Göschen 1794— L811.

Verzeichnisse Goethe-Bibliographie. Begründet von Hans Pyritz. [Bd. 1: Bis 1954], Unter redaktioneller Mitarbeit von Paul Raabe. Fortgefilhrt von Heinz Nicolai und Gerhard Burkhardt. Unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Schröter. Heidelberg 1965; Bd. 2: 1955-1964. Fortgeführt von Heinz Nicolai und Gerhard Burkhardt. Unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Schröter und Helmut Riege. Heidelberg 1968.

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Rüdiger Nutt-Kofoth

Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen, Inge Jensen, Edith Ν ahler und Horst Nahler. 4 Bde. Berlin 1966-1986 (Hrsg. vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR). Die Drucke von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen. Berlin 1971 (Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin); 2., durchgesehene Aufl. Weinheim 1983 (Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR). Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearb. von Waltraud Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin/DDR [auch: München] 1979. Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe. 1764-1832. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Goethe- und Schiller-Archiv. Begründet von Paul Raabe. Bearb. von Elke Richter unter Mitarbeit von Andrea Ehlert, Susanne Fenske, Eike Küstner und Katharina Mittendorf. . Eingestellt: August 2000 [gesehen 7.7.2004 ] Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs. Hrsg. von der Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und SchillerArchiv. Bd. 2: Goethe-Bestand. Teil 1: Gedichte. Redaktor: Gerhard Schmid. Weimar 2000. Goethe-Bibliographie 1950-1990. Von Siegfried Seifert unter Mitarbeit von Rosel Gutseil und Hans-Jürgen Malles. 3 Bde. München 2000. Weimarer Goethe-Bibliographie online. [Veröffentlichungen ab 1991; in sukzessiver Vervollständigung], [gesehen 19.7.2004],

Andere Literatur Arbeitsgrundsätze filr die Gesamtausgabe der Briefe an Goethe in Regestform. In: Bestandserschließung im Literaturarchiv. Arbeitsgrundsätze des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar. Hrsg. von Gerhard Schmid. München, New Providence, London, Paris 1996 (Literatur und Archiv. 7), S. 185-255. Beißner, Friedrich: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83, 1964, Sonderheft zur Tagung der deutschen Hochschulgermanisten vom 27. bis 31. Oktober 1963 in Bonn, S. 72-95. Beißner, Friedrich: Einige Bemerkungen über den Lesartenapparat zu Werken neuerer Dichter. In: orbis litterarum. Suppl. 2: Theories et Problemes. Contributions ä la mithodologie litteraire, 1958, S. 5-20. Bemays, Michael: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. Borchmeyer, Dieter: Sophiens Reise von Weimar nach München. Zum Nachdruck der Weimarer Ausgabe. In: Goethe Jahrbuch 106, 1989, S. 230-239. Düntzer, H[einrich]: [Rez. zur Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 1, 2, 6, 7, 14, 15,1, 15,2; Abt. III, Bd. 1 und 2; Abt. IV, Bd. 1-3], In: Zeitschrift für deutsche Philologie 23, 1891, S. 294-349. Eibl, Karl / Jannidis, Fotis / Willems, Marianne: Der Junge Goethe in neuer Ausgabe. Einige Präliminarien und Marginalien. In: Computergestützte Text-Edition. Hrsg. von Roland Kamzelak. Tübingen 1999 (Beihefte zu editio. 12), S. 69-78. Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto und Peter Schmidt (t). Stuttgart, Weimar 1996-1999. Goethe-Philologie im Jubiläumsjahr - Bilanz und Perspektiven. Kolloquium der Stiftung Weimarer Klassik und der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 26. bis 27. August 1999. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 2001 (Beihefte zu editio. 16). Golz, Jochen: Vom Nutzen und Nachteil der Studienausgaben; ein kritischer Vergleich neuerer GoetheEditionen. In: Literaire Monumentenzorg. Theorie en praktijk van een klassiekenreeks / Literarische Denkmalpflege. Theorie und Praxis einer Klassikerreihe. Den Haag 1997 (Publicaties van het Constantijn Huygens Instituut. 2), S. 55-71. Grimm, Herman: Vorwort. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I], Bd. 1. Weimar 1887, S. XI-XVII. Grumach, Emst: Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe. In: Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der GoetheGesellschaft 12, 1950 [1951], S. 60-88. Grumach, Ernst / Hagen, Waltraud: Editionen. In: Goethe Handbuch. Goethe, seine Welt und Zeit in Werk und Wirkung. 2., vollkommen neugestaltete Aufl. unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Alfred Zastrau. Bd. 1: Aachen - Farbenlehre. Stuttgart 1961, Sp. 1993-2061. Grundlagen der Goethe-Ausgabe. In: Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 1), S. 245-272 [letzte in der Akademie-Ausgabe benutzte Fassung]; Grundlagen der Goethe-Ausgabe. In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 1), S. 223-234 [frühe, als Typoskript kursierende Fassung],

Goethe-Editionen

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Hagen, Waltraud: Werkausgaben. In: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4,2: Personen Sachen Begriffe. L-Z. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 1137-1147. Hahn, Karl-Heinz / Holtzhauer, Helmut: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: forschen und bilden. Mitteilungen aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1, März 1966, S. 2-22. Koltes, Manfred: Die Regestausgabe der Briefe an Goethe. Geschichte - Aufgaben - Stand. In: GoethePhilologie 2001, S. 99-111. Kraft, Herbert: Editionsphilologie. 2., neubearb. und erweiterte Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2001, S. 15-23 (Kap. III: Paradigma: Die Weimarer Goethe-Ausgabe). Kurscheidt, Georg: Überlegungen zur Kommentierung von Briefen mit Beispielen aus Goethes Briefen. In: Goethe-Philologie 2001, S. 147-165. Mommsen, Momme, unter Mitwirkung von Katharina Mommsen: Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Berlin 1958 (Hrsg. vom Institut filr deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin); Bd. 1: Abaldemus bis Byron; Bd. 2: Cäcilia bis Dichtung und Wahrheit. Müller, Günther: Goethe-Literatur seit 1945. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 26, 1952, S. 377-410. Nahler, Horst: Editionen. In: Goethe Handbuch in vier Bänden. Hrsg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4,1: Personen Sachen Begriffe. Α - K . Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 223-233. Plachta, Bodo; Die Politisch-Herrschenden und ihre Furcht vor Editionen. In: Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1998 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft. 3), S. 303-342. Plachta, Bodo: Goethe über das „lästige Geschäft" des Editors. In: Autor - Autorisation - Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft filr Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004 (Beihefte zu editio. 21), S. 229-238. Raabe, Paul: Die Weimarer Goethe-Ausgabe nach hundert Jahren. In: Goethe-Philologie 2001, S. 3-19. Richter, Elke: Zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Goethes Briefen. In: Goethe-Philologie 2001, S. 123-145. Richter, Thomas: „so schien es geboten, [...] das ganze Stück wegzulassen" - Zum Spannungsfeld der Begriffe „Text" und „Autor" am Beispiel der Goetheedition. In: Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik" (München). Hrsg. von Christiane Henkes und Harald Salier mit Thomas Richter. Tübingen 2000 (Beihefte zu editio. 15), S. 153-165. Sarkowski, Heinz: Die ,Welt-Goethe-Ausgabe' - ein zweimal gescheitertes Unternehmen. In: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1999, S. A388-A394. Scheibe, Siegfried: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1-44. Scheibe, Siegfried: Zum Verhältnis der Edition/Textologie zu den Gesellschaftswissenschaften. Mit einem Anhang: 25 Thesen zur Textologie. In: Weimarer Beiträge 33, 1987, S. 158-166. Scheibe, Siegfried: Editorische Grundmodelle. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991, S. 23-18. Schmid, Gerhard: Autor - Autorisation - Authentizität bei amtlichen Schriftstücken. In: editio 16, 2002, S. 57-69. Schmid, Irmtraut: Goethes Amtliche Schriften in der Bibliothek deutscher Klassiker. In: Goethe-Philologie 2001, S. 167-174. Seuffert, Bernhard: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. III. IV. Im Auftrage der Deutschen Kommission entworfen von ihrem außerordentlichen Mitglied. Berlin 1905 (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1905. Phil.-hist. Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter. II), S. 51-61: IV. Gestaltung des Textes und Einrichtung des Apparates. Suphan, Bernhard [im Namen der Redactoren]: Vorbericht. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. [Abt. I], Bd. 1. Weimar 1887, S. XVIII-XXV. Trunz, Erich t : Die Geschichte der Hamburger Goethe-Ausgabe. In: Jahrbuch der Österreichischen GoetheGesellschaft 104/105, 2000/2001 [2004], S. 237-253.

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Rüdiger Nutt-Kofoth

Wahl, Volker: Goethes amtliche Schriften als Editionsaufgabe des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar. In: Goethe-Philologie 2001, S. 175-194. Witkowski, Georg: Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke. In: Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle zum 15. Februar 1921. Leipzig 1921, S. 216-226. Zeller, Hans: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 1958, S. 356-377.

Ferdinand van Ingen

Grimmelshausen-Editionen ( S i m p l i c i s s i m u s )

1.

Ein unvergessenes Werk

Von den berühmten Namen der deutschen Barockliteratur ist nur einer bis heute lebendig geblieben: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ist mit seinem Simplicissimus

Simplicius

dem heutigen Leserbewußtsein durchaus präsent als der große Erzähler

aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. 1 Es gab einen sehr guten Film zum Roman, es gab zahllose Übersetzungen, sogar ins Japanische. 2 Die wissenschaftlichen Zwekken dienenden Ausgaben des 19. Jahrhunderts widmeten sich demgemäß in erster Linie dem Simplicissimus-Roman

(Holland 1851, Kögel 1880, Khull 1892), an-

spruchsvollere brachten auch die Simplicianischen

Schriften

(Keller 1854/62, Kurz

1863/64, Tittmann 1874, Bobertag 1882-1884). Diese größeren Editionen und Kögels Simplicissimus-Ausgabe

werden weiter unten besprochen.

Das Faszinierende war schon früh als die »realistische Wiedergabe einer abenteuerlichen Lebenswelt' erkannt worden: In sechs Büchern gibt dieser Roman ein lebensvolles Gemälde des 30jährigen Krieges und ein erschütterndes Bild von der in jener Zeit herrschenden Entsittlichung und Roheit, Zügellosigkeit und Verwilderung. Diese trostlosen Zustände, die der Roman in einer bunten Reihe von Bildern an uns vorüberführt, werden mit Witz und Laune, mit Humor und heiterer Gemütlichkeit erzählt. [...] Das wilde, unstäte Treiben des 30jährigen Krieges rauscht an dem Leser vorüber, und das unsägliche Elend des Volkes wird in lebensvollen Gemälden dargestellt. [...] Dem Buch fehlt jeder Schimmer von Romantik [...], aber es ist nichtsdestoweniger ein echt deutsches Buch, es birgt in rauher Schale einen goldenen Kern. 3

Obgleich die Mär von der ungelehrten Schreibweise des , Bauernpoeten' inzwischen als unzutreffend entlarvt wurde, 4 war sie - wie im Zitat ersichtlich - ein wichtiges, j a durchschlagendes Argument der Wirkung und eine Empfehlung der ,echt deutschen' Art. Es gehört zweifellos zu den Verdiensten des Romans und seines Autors, daß j e d e

2

3 4

Es gelang Hermann Kurz als erstem, das Pseudonym des Verfassers aufzulösen und Grimmelshausen als den Autor des Simplicissimus zu identifizieren, und zwar in der Rezension von Eduard von Bülows Ausgabe. In: Der Spiegel. Zeitschrift für literarische Unterhaltung und Kritik 1837, Nr. 5 - 6 (18. und 21. Januar). Sein Fund blieb jedoch unbemerkt. Vgl. Kurz 1988. - Zum Autor: Jungmayr 1993. Siehe Weydt 1971, S. 41. Zu ergänzen: Simplicius Simplicissimus. Edicion / Traducciön de Manuel Josi Gonzalez. Madrid: Ediciones Cätedra, S.A. 1986 (Letras Universales). Kluge 1904, S. 105 f. Koschlig 1965. Auch in Koschlig 1977, S. 117-192.

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Ferdinand van Ingen

neue Zeit mit ihren eigenen Wünschen, Erwartungen und Erfordernissen Anschlußmöglichkeiten fand, die ein Lesepublikum zu interessieren vermochten. Das war schon unmittelbar nach Grimmelshausens Tod der Fall gewesen, als 1683 und 1684 bei Felßecker in Nürnberg die erste (dreibändige) barocke Gesamtausgabe erschien, deren Nachauflagen sich bis 1713 auf dem Markt behaupten konnten. Unter einem werbenden Titel, der noch den Namen des Teutschen Simplicissimus führt, 5 wurden namentlich moralistische Texterweiterungen und poetische Zusätze eingestreut, die „auf einen Verfasser mit pädagogischen Erfahrungen und einem protestantischen theologischen Hintergrund deuten." 6

2.

Textkritik und Edition7

Wer das Fehlen einer konsistenten Editionsphilologie im Fall des SimplicissimusAutors beklagt, befindet sich in guter Gesellschaft. Günther Weydt sprach 1971 von der „fast beispiellos verworrenen Geschichte der Grimmelshausen-Philologie, die sich [...] auf die Frage nach Authentizität und Stellenwert der Simplicissimus-Ausgaben zu Lebzeiten konzentrierte", Rolf Tarot, der Herausgeber des Simplicissimus in der Werkausgabe des Niemeyer-Verlags, äußert sich bündig: „Die Geschichte der Grimmelshausen-Forschung ist gekennzeichnet durch Irrwege und Umwege, Hypothesen und Fehlschlüsse, insbesondere im Bereich der Überlieferungsgeschichte." 8 Zu den wenigen Sicherheiten gehört, daß es vom Simplicissimus sechs zu Lebzeiten des Autors erschienene Ausgaben gibt, von denen die ,editio princeps' ( E l ) mit Vordatierung auf 1669 im Jahr 1668 bei Felßecker in Nürnberg verlegt worden ist. Ihr folgte die weniger sorgfältig gestaltete Neuausgabe 1668 im gleichen Verlag (E2); die Textgestalt weicht kaum von der Erstauflage ab, sie brachte als VI. Buch die Continuatio. Probleme entstehen erst bei der dritten Ausgabe (E3a), der 1669 herausgebrachten Konkurrenzausgabe, mit der sich der Frankfurter Verleger Georg Müller am Romanerfolg beteiligen wollte. Der mundartlich gefärbte Grimmelshausen-Text wurde nach den Richtlinien der Fruchtbringenden Gesellschaft (Gueintz' Sprachlehre) gereinigt und modernisiert. Sie wird nach Jan Hendrik Schölte als „Schulmeister-Simplicissimus" bezeichnet. Frühere Forschung ging davon aus, daß der ,Bauernpoet' Grimmelshausen die Müllersche, gereinigte Ausgabe veranlaßt habe. W.L. Holland (1851) und Rudolf

5

6 7

8

Der Aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene SIMPLICISSIMUS; Dessen Abentheurlicher / und mit allerhand seltsamen / fast unerhörten Begebenheiten angefüllter Lebens- Wandel / Auf eine gantz ungemeine / weit besser als vorhin neueingerichtete / zierlichere und anmuthigere Schreib-Art / vermittelst schönklingenden Poetischen Versen / auch recht lebhafften Kupffer-Bildnüssen; Lustliebenden / und curiösen Gemüthern auf das annehmlichste / zu verhoffentlich sattsamer Befriedigung / auf- und vorgestellet wird / Durch German Schleifheim von Sulsfort. Nürnberg. 1684. Meid 1984, S. 203 (Titel: „Grimmelshausen als Moralist: die barocken Gesamtausgaben"). Dieser Abschnitt wurde in gekürtzter Form als Referat verlesen auf der 10. Internationalen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition vom 2 5 . 2 . - 2 8 . 2 . 2 0 0 4 in Innsbruck: Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft. Weydt 1971, S. 19. - Tarot, Simplicissimus 1967/84, Anfang der Einleitung, S. VII.

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Kögel (1880) legten sie ihren Neuausgaben zugrunde. 9 Holland bot den Text „nach den vier ältesten Drucken" (Untertitel), in Wahrheit die Ausgabe E3a. Kögel postulierte eine verlorengegangene Urausgabe und gab die von ihm veröffentlichte Fassung (E3a) als die älteste, wenn auch nicht authentische Ausgabe aus. Schölte spricht in der Einleitung zu seiner Simplicissimus-Ausgabe, die 1938 die Kögels ersetzen sollte, von einem „Fehlgriff in dem „Dickicht philologischer Verwirrung." 10 Die Kögeische Ausgabe hat viel Verwirrung gestiftet, man sprach lange von einem Raubdruck, aber dennoch wurde Grimmelshausens Mitarbeit in irgendeiner Form nicht ganz ausgeschlossen. Das war die editorische Sachlage, als nach dem Interesse der Romantik kritische Textausgaben des Simplicissimus fällig waren. Die erste Simplicissimus-EdiX\on auf der Grundlage der Erstausgabe war die von Adelbert von Keller, 1854 und 1862. Sie erschien mit großem kritischen Apparat und beschreibender Bibliographie in zwei Teilen und vier Bänden in der Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. Sie hat alle damals erreichbaren Drucke berücksichtigt und bietet erstmalig (nahezu vollständig) die Texterweiterungen der barocken Gesamtausgaben, ist also heute noch unentbehrlich weil ohne Konkurrenz. Kögels Herausgeberentscheidung (1880) mit der Favorisierung des „gereinigten" Druckes E3a entspricht übrigens ein aus der Denkund Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts heraus zu verstehendes Dichterbild. Der urwüchsige talentierte Dichter habe unbedenklich seinen volkstümlichen Text verfaßt und habe wie Luther dem Volk aufs Maul geschaut; aber 1885 wurde der Allgemeine Deutsche Sprachverein gegründet. Die Bemühungen um den „richtigen" Text sind in ihrem zeithistorischen Kontext aufschlußreich. Tarot kommentiert: „Die Geschichte der philologischen Irrtümer um diese Ausgabe hat wohl keine Parallele in der literarhistorischen Forschung. Noch lange glaubte man, daß Grimmelshausen mit dieser Redaktion von fremder Hand - wenn vielleicht auch widerwillig - des Umsatzes wegen einverstanden war." 11 Auch Schölte war zur Zeit seiner Simpicissimus-Edition der Ansicht, die Ausgabe sei „sicher nicht ohne Mitwissen des Verfassers" zustande gekommen. 12 Heute spricht man allgemein von einem verstümmelten Text, obwohl Schölte ihn dennoch als „eine fachmännische Überarbeitung" 13 charakterisierte, die für die Textgeschichte nicht belanglos sei: „Die sorgfältige Überarbeitung des sprachgewandten Korrektors eines manchmal schwierigen und zuweilen rätselhaften Textes" ist „in ihren zahllosen fein nuancierten Abweichungen eine noch keineswegs vollständig ausgeschöpfte Quelle für sprachliche Beobachtung." 14 Diese Ausgabe dürfe aber nicht zum „Stammbaum Grimmelshausenscher Texte" gezählt werden, denn der Dichter beklagt, daß man „mit [sjeiner Lebens=Beschreibung wie mit einem Vatterlosen Wäisen / oder wie die Katz mit der Mauß umgangen / gleichsam als ob ich nimmermehr 9 10 11 12

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Der abenteurliche Simplicissimus. Hrsg. von W.L. Holland. Dass., hrsg. von R. Kögel. Schölte, Simplicissimus-Ausgabe 1938, S. XI bzw. VII. Tarot, Simplicissimus 1967/84, S. XVII. Halle 1938. Die Einzelausgabe der Continuatio: ebd., 1939. Der Neudruck von 1938 wurde von Tarot übernommen. Schölte, Simplicissimus-Ausgabe, S. VII. Schölte, Simpliciana, S. 215.

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wiederum zu Land kommen würde." 1 5 Deshalb ist nach Schölte die Ausgabe E3a „vom Standpunkt der Textgeschichte als Fremdkörper zu betrachten, vor dessen Einfluß man den Grimmelshausenschen Wortlaut nach Möglichkeit in Schutz zu nehmen habe." 1 6 Neuerdings wurde die Bezeichnung Raubdruck abgelehnt. Die Ausgabe brachte tatsächlich Verbesserungen, die üblicherweise nicht „in einen herkömmlichen Raubdruck einfließen." 1 7 Mit dem Nachweis der Unrechtmäßigkeit dieses Druckes war die Geschichte jedoch nicht zu Ende und das Problem nicht aus der Welt: Die späteren Ausgaben E5 und E6, die wieder bei Felßecker herauskamen, basierten textlich nämlich wiederum auf Müllers Ausgabe. Felßecker hatte diese schon mit einer revidierten Ausgabe 1669 ersetzen wollen und kündigte deswegen im „reklamehaften" Titel einen „ewig währenden und wunderbaren Calender" sowie einige „Neben-Historien" an. Die Textfassung ist die von E2, neu waren nur das Kupfer mit den Medaillons der simplicianischen Familie, die Autorvorrede und geringfügige Texterweiterungen, die wahrscheinlich vom Autor selber stammen; 1 8 weder vom „Calender" noch von den „Neben-Historien" findet man jedoch eine Spur. Der „Calender" wurde dann zur Ostermesse 1670 selbständig angekündigt, der Simplicissimus erscheint hier im Titel als „gantz neu umbgegossen". Tarot nennt diese Ausgabe (E4) Felßeckers „erste Antwortausgabe", 1 9 Schölte hat ihn als „Calender-Simplicissimus" bezeichnet. Er spricht von einem Konkurrenzkampf „bis aufs Blut", die Mittel wären „damit in Übereinstimmung." 2 0 Erst mit der Ausgabe E5 vom Jahr 1671, dem sog. Barock-Simplicissimus (Schölte), erreichte Felßecker wieder den ersehnten Buchhandelserfolg. Die Vorrede spricht verächtlich über den „recht verwegnen Nachdrucker", der sich unterstanden habe, dem rechtmäßigen Verleger das Buch „aus den Händen zu reissen / und gantz unrechtmässig ihme selbst zuzueignen". 21 Die Ausgabe brachte 20 Kupfer und (über das VI. Buch, die Continuatio hinaus) weitere drei „Continuationen"; sie lag im Herbst 1671 vor. Anders als E4 orientierte sich die Ausgabe E5 textlich an der Fassung des Schulmeister-Simplicissimus, E3a. Das ist, wenn man die Distanzierung in der Vorrede bedenkt, mehr als erstaunlich. Schölte hat den verwirrenden Tatbestand folgendermaßen kommentiert: „Diese erstaunliche Tatsache ist nicht bloß das große Rätsel der Druckgeschichte, sie ist die nicht mehr auszurottende Erkrankung der Textgeschichte. Es entstand ein Mischmasch aus Grimmelshausenscher Wortkunst in schulmeisterlicher Korrektur mit neuem Schmuck aus der Feder des Dichters." Es sei ein „Kurio15

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In der Simplicissimus-Vorrede, „Datum Rheinnec/ den 7. Septembris. Anno 1669." Zit. nach Schölte, Simpliciana, S. 220. Schölte, Simpliciana, S. 215. Trappen 1989, S. 411, hat dazu auch damalige Verlegergewohnheiten herangezogen. Tarot, Simplicissimus 1967/84, S. XXI. Tarot, Simplicissimus 1967/84, S. XXI. Schölte 1952, S. 52, verweist auf den Umstand, daß Felßecker 1666 Müller den erfolgreichen FrauenZimmer Spiegel weggenommen habe (Frankfurt 1660), weswegen Müller ihm mit gleicher Münze habe zurückzahlen wollen. Abgedruckt in Breuers Edition des Simplicissimus Teutsch 1989, S. 742 („Wolgemeinte Vorerinnerung").

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sum, das mehr den Zeitgeist als den Dichter kennzeichnet. [...] Das dichterische Genie Grimmelshausens und die sprachliche Virtuosität des Korrektors kreuzen sich darin, ohne daß sich die Komponenten reinlich trennen lassen."22 Tarot folgte ihm darin: „Die Tatsache, daß diese Prachtausgabe' Felßeckers sprachlich dem Text des unrechtmäßigen Nachdrucks (E3a) folgt, hat die Grimmelshausen-Philologie vor ein schwieriges, bis heute diskutiertes Problem gestellt."23 Warum hat Grimmelshausen diesmal einem Text zugestimmt, den er kurz zuvor abgelehnt hatte, und warum hat er selber Textveränderungen und -erweiterungen für diese Neuausgabe vorgenommen, sie sogar mit drei Continuationen und der „Artzt-Zugab" aus den WundergeschichtenKalendern versehen, für deren Verfasser man Grimmelshausen hielt?24 Schließlich verknüpft das Phönix-Kupfer diese mit den drei voraufgegangenen (rechtmäßigen) Ausgaben. Vom Textproblem abgesehen, könnte man in der Tat zur Annahme eines autorisierten oder zumindest vom Autor gutgeheißenen Drucks neigen. Grimmelshausen habe - so Schölte - jedenfalls die Überarbeitung „insoweit anerkannt, als ihr Sprachstand für die stattlichere, reich illustrierte Ausgabe [...] beibehalten wurde." 25 Textqualität und glanzvolle Aufmachung sowie der erweiterte Umfang mit drei Continuationen haben wohl mit das positive Urteil bedingt. Sogar Schölte hat sich zur Begeisterung hinreißen lassen, als er 1938 festellte: „Hatte Georg Müller zum urwüchsigen' Simplicissimus aus Gründen des Absatzes den ,Schulmeister'-Simplicissimus geschaffen bzw. schaffen lassen, der Renchener Schultheiß schenkte dem Nürnberger Verleger und durch ihn der Leserwelt den ,Barock'-Simplicissimus." 26 Es dürfte kein Zufall sein, daß Heinrich Kurz 1863/64 in seiner Ausgabe der Simplicianischen Schriften für den Simplicissimus der Ausgabe E5 folgte und Felix Bobertag diesen Text für seine Werkausgabe 1882-1884 übernahm. Auch Heinrich Borcherdt hat 1921 für seine bekannte Ausgabe mit nützlichem Kommentar auf den Text von E5 zurückgegriffen. Überhaupt ist in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Simplicissimus, namentlich in der Ausgabe 1671, zu hohem Ansehen gelangt: die „Prachtausgabe" als „Ausgabe letzter Hand". Hier wirkte ohne Zweifel sowohl die Wertschätzung der Goetheschen „Ausgabe letzter Hand" wie das optimistische Konzept des Bildungs- und Entwicklungsromans nach, das im Zentrum des literaturhistorischen Interesses stand.27 Mit Bezug auf den Simplicissimus wird darauf immer wieder rekurriert.20 Auch Schölte hat die „organische Form" des fünfbuchigen Romans zum Angelpunkt seiner editorischen und darstellerischen Arbeit gemacht und die Continuatio I getrennt folgen lassen. In solcher Struktur möchte er (mit Verweis 22 23 24 25 26 27

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Schölte, Simpliciana, S. 270. Tarot, Simplicissimus 1967/84, S. XXVI. Über die Texterweiterungen insgesamt verliert Koschlig 1966 kein Wort. Schölte, Simplicissimus-Ausgabe, S. VII. Schölte 1938, S. 69ff. Zit. bei Koschlig 1977, S. 211. Grundlegend: Mayer 1992, Jacobs/Krause 1989, Selbmann 1984. - Lange Zeit die Diskussion beherrscht hat Gerhard 1926, vgl. Köhn 1969. Dagegen Rohrbach 1959, S. 7ff. Wie stark die Idee des Bildungsromans nachgewirkt hat, zeigt Kontje 1993, insbes. S. 23 ff. („Ideology and the German Bildungsroman 1848-1945"). Vgl. Trappen 1989, S. 414 und Anm. 78.

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auf Jung) den Bau des klassischen Dramas erkennen. Die Folgerungen sind zwar kühn, aber sie bringen wieder den Bildungsroman ins Spiel: „Grimmelshausen muß [...] bewußt in seinem ,Simplicissimus Teutsch' die Gesetze der klassischen Dramaturgie befolgt haben. 2 9 Obgleich zum größten Teil Autodidakt und in seiner Schriftstellerei auf Volkskunst eingestellt, war er offenbar so renaissancistisch geschult, daß er souverän für seinen selbsterlebten Bildungsroman eine klassische Struktur wählte." 3 0 Dann war auch die angebliche Erlebnisnähe des Romans von Bedeutung. Sie hat in der Entwicklung damaliger Denkmuster insofern eine Parallele, als allerorten über die historische Distanz hinweg die tiefschneidenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zum Dreißigjährigen Krieg in Beziehung gesetzt wurden (Verwandtschaftsgefuhle des Expressionismus mit dem Barock!). Man lobte Grimmelshausens Gestaltungswillen als „Zeugnis jener unverwüstlichen deutschen Volkskraft, die wie eine unaufhaltsame Naturgewalt über alle Stürze und Brüche unserer Geschichte hinwegtrug zu einem neuen Gestaltungswillen, dessen politische Macht wir nun erst ganz zu verstehen und zu verspüren vermögen." 3 1 Man hatte in der Literatur- und Kulturwissenschaft Sinn für kühne zusammenfassende Entwürfe und großartige geistige Konstruktionen, deren Tiefe vorzugsweise in der einheitlichen Verklammerung von Gegensätzlichkeiten gesehen wurde. 3 2 Die Widersprüche zwischen verschiedenen Weltkonzeptionen wie Weltbejahung und Weltverneinung, die sich aus verschiedenartigen Perspektiven der Weltdeutung ergeben, können auch im Fall des Simplicissimus

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den: Sie sind grundsätzlicher Art und widersetzen sich einer einlinigen Deutung. 3 3 Im Zuge des nationalistischen Interpretationsmusters versuchte man Grimmelshausens ,echt-deutschen Volksroman' in die postulierte Traditionslinie ,Parzival - Simplicissimus - Faust' einzuordnen. Volker Meid hat dafür auf Arthur Moeller van den Bruck verwiesen, 3 4 es hätte auch Friedrich Gundolf sein können. Nach wie vor ist Goethe, der in „Völlendung oder Verschmelzung" deutsches und italienisch-klassisches Erbe verschmilzt, Norm und Vergleichsfigur: „Im 17. Jahrhundert war Grimmelshausen ein solcher Verschmelzer." 3 5 Dahinter steckt die bekannte vergleichende kulturgeschichtliche Reihung, die vom Mittelalter hinauf zu Goethes „Wandern und Werden" läuft: Gemeinsam ist allen dreien [...] die dumpfe Wanderschaft im dunklen Drang zum Heil [...]. Eine Grundeigenschaft, ein Urschicksal der deutschen Seele prägt der .Wilhelm Meister' wie der ,Simplicissmus' in den jeweiligen Zeitstoff: das Ringen des e w i g werdenden deutschen Jünglings mit der Erscheinung

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der Welt. (Der , Faust' gibt das Ringen um den Sinn der Welt).

Gemeint ist „in den drei Hauptbüchern": Exposition („erste Berührung mit der Welt"), Höhepunkt („Jäger von Soest"), Katastrophe (Rückzug aus der Welt) eine „dramatische" Abfolge. Schölte 1950 (erstmals 1941), S. 13. Alt 1936, S. 11. Man denke an die Beschreibung der .barocken Weltanschauung' bei Ermatinger 1928, S. 28: „Eben dies [...], das Sich-Emporringen der Weltlust und Diesseitstüchtigkeit gegen den schweren Druck des Weltleidens und der Jenseitsbereitschaft, und umgekehrt, die gewaltsame Hemmung der Weltbejahung durch die Diesseitsverneinung in einer letzten höchsten Steigerung, ist Sinn und Inhalt des Begriffes Barock." Vgl. Meid 1984, S. 121 f. Meid 1984, S. 230ff. Gundolf 1966 (zuerst 1923), S. 19.

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[...] Die christliche Färbung darf uns nicht täuschen über das eigentliche Wesen der deutschen Seele, die sich hier bezeugt in Gleichnissen des dreißigjährigen Kriegs: es ist das germanische Fahren und Schweifen, das Grauen, die trunkene Weltangst, das bild- und blickflüchtige, untergangssüchtige, untergangsscheue, untergangsselige Alleinsein mitten im Wirbel der Welt, das Erlöschen nicht in der Ruhe, sondern in der Bewegung, in der sausenden Zeit selbst. [...] Wie alle Bücher vom deutschen Wandern und Werden, wie ,Parzival\ ,Faust', .Wilhelm Meister', schließt auch der ,Simplicissimus' ohne Vollendung, mit Verzicht [...] auch dies Buch scheint über seinen Abschluß hinaus weiter zu fordern und beliebiger Fortsetzungen fähig, seinem Keim nach mit Unendlichkeit, mit dem Nichtendenkönnen behaftet. Was sich im ,Parzival' als Gralsuche, im ,Wilhelm Meister' als Bildungsstreben, im ,Simplicissimus' als Gottverworrenheit verkörpert, ist immer wieder das alte odinshafte Weltwallen, zugleich Wallen der Welt und Wallen durch die Welt. 3 6

Für Gundolf ist der Simplicissimus, anders als Faust und Wilhelm Meister, „nach Wesen und Weg ein reindeutsches", nicht ein „europäisch-deutsches Werk, darum auch nicht von europäischer Strahlung."37 Schölte vertrat die Auffassung eines mit der Zeit sich ändernden Schreibstils Grimmelshausens, der als „Barockisierung" zu kennzeichnen sei. So sei die Ausgabe E5 nichts weiter als eine dem Zeitgeschmack entsprechende Ausgabe gewesen: Die Überarbeitungstendenz ist ohne weiteres klar. Grimmelshausen arbeitete in Renchen nach einem kontrollierbaren Prinzip. Er kam dem Geschmack seiner Leser entgegen durch Zugeständnisse an den Stil der Zeit. Es sind die Schnörkel des Barock, durch die der Volksschriftsteller seinen Volksroman zu verschönern suchte. So entstand der „BarockSimplicissimus." 3 8

Auch Manfred Koschlig hatte anfänglich, trotz der problematischen Textgestaltung, die Echtheit der Ausgabe E5 verteidigt,39 war aber dann zu einem ganz anderen Urteil gekommen. Koschligs Ansichten gestalteten sich immer kühner. Die in seiner Dissertation Grimmelshausen und seine Verleger (1939) aufgestellte Hypothese eines Bruchs zwischen Grimmelshausen und dem Verleger Felßecker wurde in Aufsätzen zwischen 1966 und 1977 erweitert, bis hin zur Annahme eines Korrektors im Auftrag Felßekkers. Diesen glaubte Koschlig ausfindig gemacht zu haben und als Johann Christoph Beer identifizieren zu können. Die „Bruch-Hypothese" sollte durch Beers „simplicianische Arbeit" (Koschlig) untermauert werden. Koschlig war von der Richtigkeit seines Konstrukts fest überzeugt. So referiert ihn Stefan Trappen: „Er [Beer] sei es, der für alle an dem Roman vorgenommenen Veränderungen die Verantwortung trage. Echt sei nur die Erstausgabe des Romans (El) sowie deren minimal abweichender Nachdruck (E2)." 40 Trappen hat Koschligs ebenso abenteuerliche wie windige Thesen grundlegend kritisiert, z.T. an Tarot anknüpfend.41 Ferner sollte die angebliche Korrek36 37 38 39 40 41

Gundolf 1966 (zuerst 1923), S . 21 f. und 27 f. Gundolf 1966 (zuerst 1923), S. 28. Schölte 1938, zit. nach Schölte 1950, S. 216. Koschlig 1939, S. 202fT. Trappen 1989, S. 408, mit Verweis auf Koschlig 1977, S. 265 ff., 454fr., 482ff. und passim. Trappen 1989, insbes. S. 407-409. Tarot 1970, S. 83f. und 100.

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torarbeit natürlich als eine „Poetadizee" betrachtet werden: „sie entlastet den Dichter von der Verantwortung für den verderblichen Verlauf der Textgeschichte seines Romans." 42 Schölte hat seine Meinung im Lauf der Jahre ebenfalls revidiert. Er nahm 1942 in einem Aufsatz die Bezeichnung „Ausgabe letzter Hand" aufgrund überzeugender Argumente zurück,43 bis er in seiner letzten Grimmelshausen-Arbeit endgültig von der Ausgabe E5 als „Geschenk des Dichters" Abstand nahm: Der größte Irrtum der Grimmelshausenforschung war, im Barock-Simplicissimus eine „Ausgabe letzter Hand" im Goetheschen Sinne zu erblicken: sie ist im Gegenteil ein Ungeheuer, das nur ein blutiger Konkurrenzkampf, ein unliterarisches Zusammenarbeiten zwischen einem Verleger und einem Kalendermacher hervorbringen konnte. U m den begabten Erzähler Grimmelshausen zu retten und die jetzige Leserwelt die ungetrübte Schönheit seiner Schöpfungen genießen zu lassen, ist es nötig, alles rückgängig zu machen, worin der Geschäftsmann den Künstler unterdrückte. 44

Freilich ging Schölte noch davon aus, daß mit dem Geschäftsmann und Kalendermacher der Autor zu identifizieren wäre, der mit dem Nürnberger Verleger die „gemeinsame Verstümmelung seines Lebenswerks" um des schnöden Mammons willen unternommen hätte.45 Statt von einer Ausgabe letzter Hand (inklusive des damit verbundenen Nimbus) hätten wir es also mit einem „Ungeheuer" und „Kuriosum" zu tun. Das ist ein großer Schritt, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Heinrich Kurz und Felix Bobertag - 1863 der eine, 1882-1884 der andere - die Ausgabe E5 zur Grundlage ihrer wissenschaftlichen Ausgaben gemacht hatten (wobei Bobertag die Textgestalt von Kurz übernahm), wohlüberlegt und nach Maßgabe ihrer Zeit wohlinformiert. Damit nicht genug: 1970 verkündete Tarot, der Barock-Simplicissimus sei eine autorisierte Ausgabe. Er schreibt: „Die Ausgabe E5 ist [...] weiterhin unter die echten Ausgaben zu rechnen [...]. Es ist zugleich deutlich geworden, daß nicht nur die Ausgabe E5, sondern auch die ersten sechs Jahrgänge des Wundergeschichten-Kalenders in einer vollständigen Ausgabe vorzulegen wären, weil wir sie weiterhin [...] unter die echten Werke Grimmelshausens zu rechnen haben. Eine solche Ausgabe habe ich geplant und hoffe, sie in absehbarer Zeit vorlegen zu können."46 Dieser Vorsatz wurde, soweit ich sehe, bisher nicht verwirklicht. Bezeichnend ist vielleicht, daß er zustimmend Koschligs Satz zitiert: „Und woher wissen wir mit Sicherheit, daß W. E. Felßekker die fünfte Simplicissimus-Ausgabe bezüglich Textgestalt und Umfang tatsächlich

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Trappen 1989, S. 409. Schölte 1942. Schölte 1952, S. 57. Schölte 1950, S. 173. Tarot 1970, S. 99. Der Aufsatz ist gegen Koschligs Argumente gerichtet. Auch zit. bei Koschlig 1977, S. 213f. In seiner Simplicissimus-Ausga.be ist die feste Überzeugung einer nüchternen Einschätzung gewichen, und es wird nur der Vorsatz mitgeteilt: „Zu gegebener Zeit soll ein Abdruck der Ausgabe E5 mit den Lesarten der Ausgaben E3a und E6 folgen" (S. XL).

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mit voller Zustimmung Grimmelshausens hinausgehen ließ?" 47 Interessanterweise haben die postumen Gesamtausgaben der Jahre 1683/84, 1685-1699 und 1713 die drei „Continuationen" ebenfalls nicht aufgenommen, nach der Vermutung Scholtes und Koschligs aus Gründen der Unechtheit. Dazu noch einmal Koschlig: So bleibt die Frage, ob etwa auch die drei Continuationen, die aus den ersten Wundergeschichten-Kalendern in den Barock-Simplicissimus aufgenommen wurden, samt der Zugab, dem Flugblatt Abbildung der wunderbarlichen Werckstatt des Weltstreichenden Artzts Simplicissimi, nicht von Grimmelshausen stammende, sondern von Felßecker anderwärts in Auftrag gegebene Abwehrprodukte gegenüber dem Nachdrucker und damit Elemente eines skrupellosen Geschäftseifers waren, die mit unserem Dichter nichts zu tun haben. [...] Und dann; wie platt liest sich das alles, die drei Continuationen, die Kalendergespräche, die SchertzReden. Wer Grimmelshausen im Ohr hat, legt diese Sachen bald enttäuscht weg. 4 8

Koschlig hat die Subjektivität seines Urteils zwar erkannt, aber die „Continuationen" dennoch nicht Grimmelshausen zuschreiben wollen. Schölte hat davon aber nichts wissen wollen, er hat in der Edition der Simpliciana seinen Standpunkt dargelegt: „Es geht nicht [...] an, die Continuationen, so abträglich sie der religiösen Wirkung des auf Gott gestellten Abschlusses der Lebensbeichte des insularischen Einsiedlers sind, endgültig vom Simplicissimus zu trennen [...]; der Dichter selbst f...] hat sie nun einmal im Barock-Simplicissimus als Fortsetzungen seines Romans anerkannt." 49 Wohl mit Recht meinte Koschlig, das sei nun aber umgekehrt argumentiert, damit sei jedenfalls der Echtheitsbeweis nicht zu führen. Günther Weydt ging behutsamer vor und postulierte, daß Grimmelshausen an den „Continuationen" „sicher nicht mit derselben Hingabe gearbeitet" habe wie „am Hauptroman". Man dürfe aber nicht so weit gehen, „Grimmelshausen jeglichen Anteil an diesen vielfach interessanten Stücken abzusprechen." 50 Alles in allem kann man folgern, daß die Authentizität nur für die beiden Erstdrucke feststeht, über alles andere und über alle weiteren Drucke zu Lebzeiten kann man nur spekulieren und Vermutungen äußern, aber sie bringen keine letztgültige Sicherheit und somit keine Lösung der editorischen Probleme. Hier setzt Trappen mit einem bedenkenswerten Vorschlag an. Er wirft der Forschung vor, die Editionsarbeit bleibe trotz aller Kritik an Schölte und vor allem an Koschlig bis heute auf die Erstauflage des Simplicissimus beschränkt, diese gelte nach wie vor als selbstverständlicher Ausgangspunkt aller Editionen. 51 Neben dem sicheren Echtheitsargument hat man die

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Koschlig 1977, S. 177. Meid 1984, S. 101, hat in seiner Besprechung der Editionsprobleme diesen Satz ebenfalls zitiert (im Abschnitt „Textgeschichte", S. 9 9 - 1 0 1 ) . Koschlig 1977, S. 176f. Auch Breuer 1999, S. 47, ist der Ansicht, die Continuationen seien nicht von Grimmelshausen: „[...] vermutlich das Werk eines Lektors, der Grimmelshausens Erzählstil mehr schlecht als recht nachgeahmt hat." Und über die Texterweiterungen von 1671: „Auch die übrigen textlichen Ergänzungen erwecken nicht den Eindruck, daß sie von Grimmelshausen stammen, eher von einem Lektor des Verlagshauses Felßecker." Schölte, Simpliciana 1943, S. 226. Weydt 1971, S . 4 7 f . Trappen 1989, S. 409.

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Textänderungen der Fassung von 1671 ins Feld gefuhrt, die seit Schölte als ästhetisch zweitrangig und zwar als „barocke" Überformungen gelten. Das sei, wie Trappen an Beispielen erläutert, nach den Ergebnissen der neueren Rhetorikforschung unhaltbar und ohnehin eine irrige Ansicht, weil die Textänderungen allesamt im Zeichen der Intensivierung und Steigerung stehen und somit nur Stiltendenzen der ,editio princeps' fortsetzen: „Denn wo immer in der zweiten Fassung geändert oder erweitert wurde, läßt sich zeigen, daß bereits in der Erstfassung kräftig entwickelte Anlagen und Gestaltungsprinzipien aufgegriffen und intensiviert wurden."52 Dieter Breuer ist in seiner Grimmelshausen-Edition (1989) bei der Textgestaltung des Simplicissimus andere Wege gegangen. Nach seiner Ansicht hätten die Vermutungen über Echtheit und Unechtheit „den Nachteil, daß sie sich auf keinerlei historische Quellen stützen können." 53 Welche Folgerungen wären daraus für die Editionsphilologie im Fall des Simplicissimus zu ziehen, und wie wurde das Problem in dieser jüngsten Edition angegangen? Da Breuer sich für die Textgestaltung an Schölte und Tarot anschließt und auch die Ausgabe von 1671 berücksichtigt, wäre an eine Weiterentwicklung in pragmatischem Sinn zu denken gewesen. Die Dinge lagen aber grundsätzlich anders. Für Schölte lagen die Fragen alle auf der Ebene des Dichtergenies, das es zu „retten" galt. Seine Ausgabenkonzeption hat er als eine „Restaurierung" verstanden, sie sei der Versuch, „alles Grimmelshausensche in möglichst authentischer Form zu bringen und alles Pseudogrimmelshausensche auszuschließen."54 Das müßte in der Edition dazu fuhren, „durch Trennung des S.T. [= Simplicissimus Teutsch] von der Cont. und wiederum von den ,Continuationen' den unvergänglichen Dichterruhm von den zeitbedingten Flecken seiner Tagesschriftstellerei zu reinigen" und „den genialen Erzähler vor den ebenso zeitbedingten Konzessionen zu beschützen, die er in der Unsicherheit des Autodidakten bedauerlicherweise einer schulmeisterlichen Vollkommenheit machte. [...] Wer zum Dichter will, der hat in der Arbeit des Korrektors einen fremden und schädlichen Eingriff zu sehen, dessen Einfluß beseitigt werden muß." 55 Schölte hat sich als Hüter des Dichters gesehen,56 der sich mit Textänderungen am eigenen Werk „versündigt" habe; davon wäre das Werk zu befreien. Insofern ist seine Leitlinie keineswegs textindividuell bestimmt, sie ist als „Dienst am Autor" zu verstehen, wie Johannes Janota die editorischen Prinzipien Karl Lachmanns umrissen hat.57 Man weiß, wie die ,Restaurierung' in der Edition der Simpliciana aussieht. Es ist ein kompliziertes Verfahren, das die Texterweiterungen mit ihrem zugehörigen Kontext verzeichnet, in Scholtes Worten: „eine Trennung in

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Trappen 1989, S. 412ff„ Zitat S. 415. Grimmelshausen: Werke 1,1: Simplicissimus Teutsch. 1989, S. 731. Vgl. Schölte 1969 (zuerst 1944). Das Zitat entstammt dem Nachwort zum Aufsatz Grimmelshausens Reise nach Nürnberg (\940). In: Weydt 1969, S. 184. Schölte, Simpliciana 1943, S. 271. Vgl. Schölte 1969 (zuerst 1944). „Dienst am Autor, dessen Werk und Persönlichkeit von der Patina und den Schlacken der Überlieferung gereinigt, in möglichst makellosem Glanz erstrahlen sollen" (Janota 1980, S. 35). Vgl. zu den methodischen Grundsätzen im 19 /20. Jahrhundert Plachta 1997, S. 27ff.

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selbständigere, umfangreichere und untergeordnete, kleine. Diesem mehr oder weniger subjektiven Teilungsprinzip durfte aber nicht die Zusammengehörigkeit des Ganzen geopfert werden". 58 Das bedeutet: „über dem Strich diejenigen Erweiterungen, die literarische Beachtung verdienen, unter dem Strich die weiteren Zusätze, die philologisch nun einmal unentbehrlich sind." 59 Grundsätzliche Kritik ist dort angebracht, wo von einem längst überholten Dichterbild ausgegangen wird; darüber hinaus wird die Subjektivität des Urteils sowohl von Schölte wie Koschlig erkannt, fuhrt dennoch aber nicht zu editorischen Konsequenzen in der Textherstellung. Im Grunde ist man nicht über Adelbert von Keller hinausgelangt, der zu den Texterweiterungen bemerkt hat: Sie seien dem Dichter „nur äußerlich aufgedrängt" und können „nur selten als verbeßerungen gelten", es seien „meist unnöthige, störende, oft geschmacklose Überhäufungen" beziehungsweise „ganz überflüßige erweiterungen, die der buchhändler einschieben konnte, nur um sagen zu können, er habe etwas neues." 60 Man beachte, wie dieses abqualifizierende Urteil sich von dem Scholtes unterscheidet! Aber anders als Scholtes selektives Verfahren auf der Grundlage der Interpretation war Kellers Umgang mit der gesamten Überlieferung, soweit sie ihm erreichbar war, formal-methodisch abgestützt. Rolf Tarot hat die methodische Grundlage aller jener Probleme in der bisherigen textphilologischen Tradition gesehen, die den Autorwillen zum Ausgangspunkt wählt. 61 Für die Frühe Neuzeit sollte man beim Fehlen von Handschriften und dergleichen, die solchen Autorwillen ausdrücklich wiedergeben, den flexiblen Begriff ,Autorisation' anwenden: „Fehlende Authentizität der Sprache und Aufnahme autorfremder Textteile schließen im 17. Jahrhundert die Autorisation nicht aus." 62 Tatsächlich wäre aus anderen Quellen eine Autorisation zu rekonstruieren. Aber dennoch möchte man im Falle Grimmelshausens aus dem editorischen Rechenschaftsbericht erfahren, wie sich die verschiedenen Ausgaben verhalten, und auch die Abweichungen zuverlässig verbucht sehen. Breuer hat seiner Edition die Varianten zur Erstausgabe beigegeben und außerdem neben den Vorreden der Ausgaben E4 (1669) und E5 (1671) - gesondert Texterweiterungen von E5 sowie in Auswahl Textpartien aus der ersten barocken Gesamtausgabe von 1683/84. Damit ersparte er sich gleichsam eine Stellungnahme zur umstrittenen Ausgabe E5, aber diese erhält dennoch bei ihm unverkennbar eine Sonderstellung. Konsequenter wäre eine andere Entscheidung gewesen, die ebenfalls Breuers bedenkenswerter Erwägung hinsichtlich der bisher kaum reflektierten Unterschiede zwischen den Autor-Verleger-Beziehungen des 17. Jahrhunderts und der Neuzeit Rechnung trägt. 63 Wichtiger ist ein weiterer Punkt, der im Weiterfuhren von Scholtes Dar-

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Schölte, Simpliciana 1943, S. 232. Schölte, Simpliciana 1943, S. 232. Keller, Simplicissimus 1854/62. Tarot 1983. Tarot 1983, S. 44. Breuer 1999, S. 732.

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bietungsprinzip der Texterweiterungen zu sehen ist. Breuer verspricht zwar die Erweiterungen zum Barock-Simplicissimus, fuhrt aber lediglich umfangreichere Stellen auf, die Schölte als von „literarischer Bedeutung" erachtet hatte, während weitere, das heißt zahllose kleinere, aber sogar bei Scholtes eingestandener Subjektivität des Urteils alles andere als unwichtige Satzpartien überhaupt nicht verzeichnet werden und in der Regel auch im Variantenapparat fehlen. Man mag über die ästhetische Qualität der Erweiterungen der Ausgabe E5 schließlich denken, was man will, man sollte das Urteil dem Leser/Benutzer freistellen und ihm nicht die Informationsmöglichkeit nehmen oder ihn (wie hier) irreführen, indem man stillschweigend ausgiebig - und subjektiv selektiert. Breuers schöne und reichlich kommentierte Edition bedeutet hinsichtlich der Textkritik einen Schritt hinter Schölte zurück. 64 Es sei noch einmal die Frage aufgeworfen, ob das Autor- und Werkverständnis der Frühen Neuzeit, das im Verhältnis zu späteren Jahrhunderten um einiges unproblematischer war, dagegen aber von einer stärkeren Verlegerabhängigkeit gekennzeichnet wurde, nicht einen anderen Umgang mit Barocktexten und deren Edition erfordert: Die Textgeschichte müßte in den Mittelpunkt rücken. Mit Beziehung auf den Simplicissimus würde das bedeuten, daß nach Feststellung der Textgrundlage und Bestimmung der Druckverhältnisse grundsätzlich alle Textvarianten, Streichungen und Erweiterungen sämtlicher Ausgaben zu Lebzeiten des Autors verzeichnet werden, ohne im Apparat eine unterschiedliche Behandlung zu erfahren. Man hätte alles Wissenswerte auf einen Blick beisammen, von El zu E5 und E6. Offenbar geistert noch die „reine" Erstausgabe herum. Schließlich müßte das gewandelte Textverständnis im Konzept der Edition einbezogen werden. In dem Maße, wie man sich in der Editionsphilologie vom autorzentrierten Textbegriff entfernt hat, ist die Rezeption selbstverständlicher Teil der Dokumentation, wenn auch meist bis zum Tod des Autors. Im Fall des Simplicissimus wären dann in vollem Umfang die Texterweiterungen der postumen Gesamtausgaben zu berücksichtigen, die bis ins 19. Jahrhundert das Grimmelshausenbild bestimmt haben. 65 Es dürfte nicht allzu schwer sein, dafür eine geeignete Darstellungsform zu entwerfen. 66 Die Grimmelshausenphilologie wäre damit von einer Last befreit und hätte ihre editorischen Zielsetzungen endlich um die Kategorie der Wirkungsgeschichte erweitert.

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Auch offensichtliche Fehler wurden nicht berichtigt, wie etwa in der Continuatio, Kap. 26 (Breuer 1999, S. 693,4f.): Der ratlose Leser muß auf S. 1002 nachschlagen. Ein anderes Beispiel findet sich im V. Buch (Breuer 1999, S. 547,3), wo die Variante „übelriechend" für („der Athem schmeckend') fehlt und der Stellenkommentar auch keinen Aufschluß gibt. Es sei auch auf die kurzgefaßte Darstellung der barocken Gesamtausgaben bei Meid 1984, S. 203-208, verwiesen, insbesondere auf die Beispiele bei Heßelmann 1992, S. 64 ff. Hier auch eine ausführliche Beschreibung und Darstellung aller Gesamtausgaben (S. 72ff.), deren eminente Bedeutung für die Lesersteuerung in Richtung auf eine protestantische Erbauung und Moralisation sichtbar gemacht wird. Wie wichtig auch hier ein Variantenvergleich ist, lehrt die Stelle bei Breuer, Simplicissimus 1989, S. 790: „daß der Wolff nit kom und Scha da dan", wo Keller 1854/62, S. 34,16 bringt: „Schada dau", was leicht als mundartlich für .Schaden tue' zu verstehen ist.

G r i m m e l s h a u s e n - E d i t i o n e n (Simplicissimus)

3.

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Die barocken Gesamtausgaben

Die Gesamtausgaben erfreuten sich großer Beliebtheit, ein Zeichen dafür, daß sie den richtigen Ton getroffen hatten, der für eine neue Generation von GrimmelshausenLesern genügend attraktiv war, um die Abenteuerfolgen zu lesen. So formuliert Volker Meid: Die fortlaufende Kommentierung [...] dient nicht der sachlichen Erklärung der Texte oder antiquarischen Interessen; ihrem Verfasser liegt vielmehr daran, Grimmelshausens Werk auf die Gegenwart zu beziehen und fur sie nutzbar zu machen. Dieser Drang ist so stark, daß der Kommentator häufig genug den Text aus den Augen verliert und ihn nur zum Anlaß pädagogischer, theologischer oder historischer Exkurse benutzt. Gegenwartsbezug und pädagogische Zielsetzung fuhren so gelegentlich zu deutlichen Widersprüchen zwischen Text und Kommentar. 67 Meid weist detailliert nach, daß der Kommentar die Lebens- und Weltanschauung des Simplicissimus korrigiert und sie vom Standpunkt des Protestantismus einer Kritik zu unterziehen sucht. So läßt er etwa Weltabsage und Einsiedlertum nicht durchgehen, ohne eine kritische Anmerkung in Richtung auf das .vernünftige' Maß und ein .politisches' Verhalten: Wer in der Welt leben und seyn will, muß sich auch in die Welt schicken, und mit derselben simuliren und modisiren lernen. Die Absonderlinge, und Menschen-Scheue werden nur für albere Fantasten, Fastnachtbutzen und Narren gehalten, wenn sie auch gleich noch so klug und gescheid wären. Wie es dem Simplicissimo allhier auch ergangen. Ein gottseliges und erbares Leben zu fuhren, wird kein einödiger, verwilderter Ort, und so närrische Tracht oder Abmarterung deß Leibes erfordert, weilen man in allen Ständen und an allen Orten, Gott dienen, ihne loben und preisen kan. 68 In allem rät der Kommentator zum geschickten Aufführen in der Gesellschaft, um nicht für fromm ohne Schliff zu gelten und das allgemeine ,Behagen' zu verscherzen; man müsse beides haben. Wer ,fromm und christlich' ist, muß es an Zucht und Höflichkeit nicht fehlen lassen: Beydes aber, kan gar wohl und ungehindert beysammen stehen. Dann wann einer noch so wohl und fein in seinem Christenthumb gegründet, und gelehrt wäre, und darbey doch ein Scheid im Rücken zum bücken, und keine Höflichkeit oder Sitten-Weise dabey hätte, daß er sich in allen Sachen politisch zu schicken wüste, so würde man doch sagen: Ο sancta Simplicitas, und ihn für einen plumpen und Stumpen, ungesaltznen und ungeschmaltznen Stockfisch halten [,..] 6 9 Indessen hätten die Gesamtausgaben mit dem biederen Kommentar nie eine solche Resonanz gefunden, wenn sie nicht Grimmelshausens Stil hätten imitieren können. 70 67 68 69 70

Meid, Grimmelshausen, S. 203 f. Zit. bei Meid 1984, S. 205. Zit. bei Meid 1984, S. 206. Manfred Koschlig: Beers Sprachtypus und Stiltendenzen in Beispielen. In. Koschlig 1977, S. 4 1 6 - 4 5 3 .

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Als der Erzähler mit seiner ,adligen' Herkunft prahlt und den ,Palast' seines Knans beschreibt, hält die Texterweiterung in der Ausgabe C1 von 1683/84 denselben ironisierenden Ton durch: An statt der Pagen Laqueyen und Stallknechte, hatte er Schaf / Böcke und Säu / jedes fein ordentlich in seine natürliche Liberey gekleidet / welche mir auch offt auff der Weid auffgewartet / biß ich ihres Dienstes ermüdet / sie von mir gejaget und heimgetrieben; Die Rüst= oder Harnisch-Kammer war mit Pflügen / Karsten / Aexten / Hauen / Schauflen / Mist- und Heugabeln genugsam und auff das beste und zierlichste versehen / mit welchen Waffen er sich täglich übete; Dann Hacken und Reuthen war seine disciplina militaris, wie bey den alten Römern zu Friedens-Zeiten / Ochsen anspannen / war sein Hauptmannschafftliches Commando / Mist außfuhren / sein Fortification-Wesen / und Ackern sein Feldzug / Holtzhacken war sein tägliches Exercitium Corporis, wie auch das Stall=außmisten / seine Adliche Kurtzweile / und Turnierspiel. [...] Dieses alles setze ich hindan / und überhebe mich dessen gantz nicht / damit niemand Ursache habe / mich mit andern meines gleichen neuen Nobilisten / auszulachen / dann ich schätzte mich nicht bässer / als mein Knän war / [...]. Gleichwie nun aber meines Knäns Haußwesen in allen Stücken sehr Adelich vermerckt wird / also kan ein jeder Verständiger auch leichtlich schliessen / daß meine Aufferziehung derselben gemäß und ähnlich gewesen [...] dann in meinem zehen-jährigen Alter hatte ich schon die Principia in obgemeldten meines Knäns Adelichen Exercitien begriffen / aber der Studien halber konte ich neben dem berühmten Amplistidi hin passiren / von welchem Suidas meldet: Daß er nicht über fünff zehlen könte; Dan mein Knän hatte vielleicht einen viel zu hohen Geist / und folglich dahero dem gewöhnlichen Gebrauch jetziger Zeit / in welcher viel vornehme Leuthe mit leben / und auch nicht viel studieren / oder wie sie es nennen / mit Schulpossen sich nicht viel zu bekümmern pflegen / weil sie ihre Leute haben / der Plackscheisserey abzuwarten. 71

Solcherart durch die Abenteuergeschichten gefuhrt, wird der Leser nirgends im Stich gelassen oder mit offenen Fragen konfrontiert, für deren Beantwortung ihm einige Mühe abverlangt würde. Am Schluß des obenstehenden Passus heißt es daher: „Er nennet sich einen Edelmann / da er doch kaum eines Säu-Hirten Sohn ist. Simplicissimus hält darfiir daß es redlicher und feiner sey / mit der Warheit heraußgehen / und lieber Edel von Gemüth / als Geblüt zu seyn." 72 Die kommentierten und erweiterten Ausgaben sind grosso modo eine eigenständige Leistung zu nennen, die im einzelnen vor allem von dem leicht nachzuahmenden Witzmodell Grimmelshausens Gebrauch machte. Großräumiges Zitieren möge verdeutlicht haben, wie sehr die ,Grimmelshausen-Mode' auf diese Weise noch über die Epochengrenze hinweg ein Lesepublikum zu fesseln wußte. Es ist seit Jan Hendrik Schölte und seiner Kontroverse mit Manfred Koschlig üblich geworden, den BarockSimplicissimus (1683/84) als ein „Kuriosum" anzusehen, „das mehr den Zeitgeist als den Dichter kennzeichnet", und diesem Kuriosum die „Echtheit" abzusprechen: „Das dichterische Genie Grs. und die sprachliche Virtuosität des Korrektors kreuzen sich darin, ohne daß sich die beiden Komponenten reinlich trennen lassen [...]: tatsächlich haben die beiden letzten bei Lebzeiten des Dichters erschienenen Simplicissimusaus71 72

Breuer, Simplicissimus 1989, S. 786f. Der Simplicissimus-Roman Breuer, Simplicissimus 1989, S. 788.

wird nach dieser Ausgabe zitiert.

Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)

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gaben den gefälschten Text." 73 Schölte meinte sogar, der Herausgeber sei ein Mann gewesen, „dem der Grimmelshausensche Geist wesentlich fremd war." 74 Koschlig hat anders geurteilt. Er versuchte nachzuweisen, daß ein Bekannter Felßeckers, der ebenfalls literarisch tätig war, namens Johann Christoph Beer, als der Bearbeiter zu gelten habe. 75 Abgesehen davon, daß damit eine rätselhafte Frage der Grimmelshausenforschung keine befriedigende Antwort gefunden hat, wurde das negative Urteil über den „Textverderber" nicht vergessen. Schölte sprach von „selbstgefälliger Weitläufigkeit", „banaler Tendenz", „geschmackloser Umrahmung" usw. 76 Sicherlich würde damit manches deutlicher. Denn die Bearbeitung streicht die moralische Nutzanwendung heraus und verstärkt den reformatorischen Charakter von Grimmelshausens Schrift. Das war ein legitimes Leseverhalten und eine nicht unübliche Lektüresteuerung. Es war schließlich die Alternative zu Heideggers rigorosem Verdikt, wonach Romanlektüre als verderbliche Zeitvergeudung zu meiden wäre. 77 Damit ich aber die Schrancken meines Vorhaben nicht überschreite / so thu du selbst großgünstiger Leser / durch aufmercksames Nachforschen in vor Augen ligender Schriffl einen Versuch / sey versichert / du wirst mehr als du suchest finden / und mit grossem Bewundern / was vor denck- und merckwürdige Sachen darin verborgen stecken / freymütig bekennen. Hier hast du gleichsam auf einen Blick / was dir bey vielen andern / durch obschon mühsames und Zeit-kostendes Nachsuchen nicht bald begegnen wird. Hier wird von einer sonderbaren Wissenschafft / die sich durch alle Stände und Alter / und noch sehr weit hinaus nicht allein erstrecket / sondern auch darbey gar zart ist / meisterlich gehandelt / und wie allen Gemüths-Bewegungen / welches das allerschwerste und arbeitsamste unter der Sonnen / ein gewisses Ziel gesteckt werden müsse / gantz vollkommen und durchgehends erläutert: daß also niemand überall sich wolle zu Sinne steigen lassen / dieser vortrefflichen auf eigentlich treumeinende Erbauung abzielenden Schrifft / die ohngegründete Klage eines Fehlers oder Mangels an den Hals zu werffen. 78

4.

Simplicissimus im 18. Jahrhundert

Obgleich im 18. Jahrhundert Daniel Defoes Robinson Crusoe und die „Robinsonaden" genannten Nachfolger dem Roman Grimmelshausens den Rang abliefen, wurde gegen Ende des Jahrhunderts gelegentlich auf den alten Stoff zurückgegriffen. Christian Jakob Wagenseil legte 1785 eine (recht umfangreiche) gekürzte Fassung der Bücher I VI vor (sie umfaßt immerhin 180 Seiten), die eine entschiedene Anpassung an den neuen Zeitgeschmack und eine sprachliche und stilistische Modernisierung bedeutete: Der Abentheuerliche Simplicissimus. Auch Melchior Sternfels von Fuchsheim genannt.

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Koschlig 1977, S. 195. Koschlig 1977, S. 194f. Manfred Koschlig: Die „simplicianische Arbeit" des Johann Christoph Beer. In: Koschlig 1977, S. 2 9 7 534. Vgl. Koschlig 1977, S. 308f. Heidegger, Mythoscopia Romantica (1698) 1969. Vor-Erinnerung der Ausgabe CI (1683/84). Zit. bei Breuer, Simplicissimus 1989, S. 782.

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Neu bearbeitet (Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung 1785). Der strenge Kunstrichter Johann Joachim Eschenburg bescheinigte dem Buch guten Unterhaltungswert und der Bearbeitung eine gelungene Erneuerung.79 Der Leser werde feststellen, schreibt Wagenseil, „daß ich in der Erzählung vieles weggelassen, manches zugesetzt, manches - hoff ich - gewiß beträchtlich verbessert, und überhaupt das Ganze genießbarer gemacht habe."80 Schon das Frontispiz in Wagenseils Ausgabe entspricht den zeitgenössischen Erwartungen: „Es zeigt Simplicius in Frisur, Frack, Halsbinde, Weste, Kniehose und Schaftstiefeln - also als einen jungen Mann aus gutem Hause, gekleidet nach der Mode des späten 18. Jahrhunderts."81 Noch eigenwilliger ist die sprachlich-stilistische Modernisierung, die den Roman neu eingekleidet, „im Schnitte des Jahres 1790" präsentieren möchte: Der im vorigen Jahrhundert so weltberufene Simplizius v. Einfaltspinsel, in einem neuen Kleide nach dem Schnitt des Jahres 1790.62 Hier bahnten sich keine neuen Wege an, die Parolen hießen Modernisierung und Trivialisierung. Erst im nächsten Jahrhundert wendete sich das Blatt.

5.

Simplicissimus

in der Romantik

Die deutsche Romantik entwickelte ein eigenes Verständnis des Simplicissimus, das ihm eine neue politische Aktualität verschaffte. An erster Stelle ist Ludwig Tieck zu nennen. In der Ära der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege wurde die berühmte Jupiter-Episode mit anderen Augen gelesen, die Ansichten und Meinungen über einen „deutschen Helden" im Zusammenhang mit Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795) zumindest mit Interesse aufgenommen. Ludwig Tieck bewies auch hier, daß er für das altdeutsche Timbre ein glückliches Gespür hatte. In seiner Erzählung Ein Tagebuch von 1798 überrascht folgende Stelle: Ich hörte gestern an der Table d'hote einen herrlichen Mann über die Einrichtung von Europa sprechen. Es gefiel mir ungemein, daß er mit nichts in dieser Welt zufrieden war, daß er überzeugt war, er würde alles besser treffen. [...] Er war ein sehr großer Freund der Republiken, alle andre Verfassungen schienen ihm unwürdig. Aber doch behielt er sich vor, die Republiken auf ihre wahre Art einzurichten, damit sie nicht in sich selber zusammenfielen. Ich habe noch nie einen Mann mit so vieler Weisheit sprechen hören, und es müßte eine wahre Lust seyn, wenn sich das närrische Thier von Europa nur bequemen wollte, sich so einrichten zu lassen. Aber daran ist jetzt noch nicht zu denken, und gute Köpfe müssen billig Thränen vergießen, wie es auch geschieht. - Zum Glück treffe ich hier ein Buch, das ich schon sonst mit sehr großem Vergnügen gelesen habe. Es ist der abentheuerliche Simplicissimus, 1669 gedruckt. In diesem Buche ist auf eine recht anschauliche Art das ganze Leben dargestellt [...].

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In: Allgemeine deutsche Bibliographie 7 6 , 2 . Stück, 1787, S. 441f.; zit. bei Meid 1984, S. 210. Wagenseil, Simplicissimus, S. 12; zit. bei Meid 1984, S. 210. Koeman 1993, S. 62, Abb. S. 63. Titel des anonym erschienenen Buches nach Meid 1984, S. 211.

Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)

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Im dritten Buche ist besonders eine Stelle, in der ich den Reformator ganz wiederfinde, den ich heut gesprochen habe. Der Held der Geschichte dient als Jäger im Kriege und erzählt folgendermaßen, [folgt ein Ausschnitt aus dem Simplicissimus] Jene Stelle ist auch für uns noch nicht unpassend geworden und der wirkliche ewige Friede dürfte wohl nur durch einen ähnlichen Helden hervorgebracht werden können. Ich denke immer an diesen Jupiter, wenn ich die mannichfaltigen Vorschläge höre und lese, die das Glück der Menschheit begründen sollen. 83

Der Verfasser der Erzählung Ein Tagebuch nimmt Bezug auf den aktuellen politischen Kontext, wie die Erwähnung von Kants Schrift beweist. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß Tieck die Stellen mit dem Jupiter satirisch verstand. 84 Immerhin machten die überspannten Ideen in ihrer übersteigerten Ausdrucksweise - ein deutscher Held, Einigung zwischen den durch religiöse Streitigkeiten getrennten Ländern und Städten, eine ,vernünftige' demokratische Regierung - aufhorchen. Ging doch hier die Rettung ganz von Deutschland aus. Nach dem Scheitern des ersten Koalitionskrieges (1792-1797) spielte Frankreich in Europa die fuhrende Rolle. Der Sonderfriede von Basel brachte den Verlust des Rheinlandes, die südlichen Niederlande wurden besetzt (1795), dann Norditalien (Friede von Campo Formio 1797), schließlich unternahm Napoleon eine Expedition nach Ägypten, die zum zweiten Koalitionskrieg führte. Es gärte an allen Ecken des europäischen Kontinents, die Friedenssehnsucht bestärkte das Interesse an neuen theoretischen Ansätzen zur Ruhe und Beförderung des ,Ewigen Friedens'. Als Reaktion auf Kants Schrift verfaßte Johann Gottlieb Fichte die Rezension Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant, Friedrich Schlegel den Versuch über den Begriff des Republikanismus. Veranlaßt durch die Kantische Schrift Zum ewigen Frieden,85 Die Ankündigung des „ewigen Friedens" und eines „Teutschen Helden" („einen ähnlichen Helden"), der ihn bringen würde, war vor dem Hintergrund dieser Diskussion ein Signal der literarisch-politischen Relevanz von Sehnsuchtsvorstellung und Wünschen aus dem Dreißigjährigen Krieg, als Deutschland unter ähnlicher Überfremdung litt. Tieck hat sein Vorhaben, den Simplicissimus neu herauszubringen, nicht verwirklicht. Das Nachtigall-Lied, das in der Romantik auch bei anderen Dichtern eine so große Rolle spielen sollte, 86 hat er nur in der ursprünglichen Einzelausgabe des Prinz Zerbino (1799) veröffentlicht, nicht jedoch in der zweiten Ausgabe. Dazu Tieck im „Vorbericht zur zweiten Lieferung" der Schriften: Das schöne Lied: „Komm, Trost der Nacht, ο Nachtigall", das früher der Waldbruder sang, ist in dieser Ausgabe nicht zu finden. Ich war damals Willens, den „Simplicissimus", einen

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Zit. nach Meid 1984, S. 211 f. „In dieser ganzen Stelle herrscht mehr Satire, als die meisten Leute bemerken werden". Fichte, Philosophisches Journal 4, 1796, S. 8 1 - 9 2 ; Schlegel, Deutschland 3, 1796, Stück 7, Nr. 2, S. 1 0 41. Zit. bei Koeman 1993, S. 117f. Ihm ist, im Zusammenhang mit der Gestalt des Waldbruders, ein Großteil von Koemans Darstellung gewidmet (Koeman 1993, S. 245-298).

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altdeutschen Roman, neu herauszugeben, und wollte das Gedicht gleichsam als Probe voranschicken. Als Plagiat war es nicht gemeint, denn ich machte selbst jeden Leser auf dessen Schönheit und das merkwürdige Buch, in welchem es stand, aufmerksam. 87

6.

J. L. C. Hakens Der Held des neunzehnten Jahrhunderts

Aber Tiecks Begeisterung für den Simplicissimus hat dennoch zu einer weiteren Publikation geführt, die eindeutig politische Akzente setzte: Der Held des neunzehnten Jahrhunderts (1809).88 Das Buch ist anonym erschienen, es ist aber fast als gesichert anzunehmen, daß Johann Ludwig Christian Haken dessen Verfasser war. Haken hat 1810 unter dem Pseudonym „Verfasser der grauen Mappe" eine Simplic/js/wMj-Bearbeitung - „in zweckmäßigen Auszügen" - erscheinen lassen, die als 1. Band der Bibliothek der Abentheurer in Magdeburg erschien. Für seine Textwiedergabe benutzte er eine der barocken Gesamtausgaben. Zu Hakens Verfasserschaft haben sich mehrere Forscher geäußert, als letzter Jakob Koeman. Aufgrund inhaltlicher und stilistischer Gemeinsamkeiten hat er Haken mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Autor der Veröffentlichung von 1809 identifiziert.89 Der Held des neunzehnten Jahrhunderts bringt eine gekürzte und umgearbeitete Wiedergabe der Jupiterepisode aus dem Simplicissimus mit 74 numerierten Erläuterungen, um die es dem Verfasser recht eigentlich ging. Sie beziehen die „Weissagung", von der im Titel die Rede ist, auf Napoleon.90 Als Haken seine Schrift verfaßte, stand Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht (Erfurter Kongreß vom 27. September bis 14. Oktober 1808). Er hat wohl nach April 1808 die Arbeit angefangen und sie vor Oktober 1808 abgeschlossen.91 Es konnte nachgewiesen werden, daß die Bezugnahmen auf die Napoleondiskussion in Deutschland das wechselnde Bild des Eroberers in der preußischen Öffentlichkeit spiegeln. Die Kaiserwürde hat den antifranzösischen Hans von Held zu seinem Sendschreiben an Bonaparte (Juni 1804) veranlaßt, worauf Dietrich Heinrich von Bülow im August 1804 mit der Flugschrift Über Napoleon, Kaiser der Franzosen reagierte. Das Jahr 1808 mit der Konferenz in Erfurt führte zu einem wahren Napoleonkult: Das ist der politische Kontext von Hakens Der Held des neunzehnten Jahrhunderts. Haken habe Napoleon als „geschichtlich notwendiges Übel" gesehen: „Vor diesem Hintergrund muß die Entstehung von Hakens eigensinniger Deutung der Jupiter-Weissagung gesehen werden. Die Konferenz in Erfurt bot

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Zit. bei Koeman 1993, S. 236. Ferner zum Lied bei Grimmelshausen ebd., S. 2 2 1 - 2 3 4 , bei Brentano und Eichendorff etc. ebd., S. 2 4 5 - 2 9 8 . Vollständiger Titel: Der Held des neunzehnten Jahrhunderts, eine Apokalypse des siebenzehnten: oder die erfüllteste Weissagung neuerer Zeiten. Kommentiert und erläutert. Magdeburg 1809. Koeman 1993, S. 137-163. Vgl. den ausführlichen und detaillierten Kommentar, in den die Napoleon-Literatur eingearbeitet ist, bei Koeman 1993, insbes. S. 164-207. Koeman 1993, S. 208ff. („Entstehung und Bedeutung von Hakens Schrift").

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einen geeigneten Anlaß zu einer vorsichtigen Auseinandersetzung mit der manchmal an Kollaboration grenzenden Glorifizierung Napoleons in der deutschen Presse." 92

7.

Eduard von Bülows Simplicissimus-Bearbeilung

und die Kritik

Tiecks Freund und Mitarbeiter Eduard von Bülow hat die Aufgabe einer Simplicissi/Mz«-Bearbeitung übernommen. 93 Sie erschien 1836 und repräsentierte einen längst überholten Wissensstand. Einer der Rezensenten, Theodor Echtermeyer, bricht über die Ausgabe den Stab. Sie habe den „Charakter eines nur dilettantischen Hineinfahrens in die Sache", und er fährt fort: Man könnte ihm sein Verfahren noch hingehen lassen, wenn er jene Bücher nicht ausdrücklich an die Gelehrsamkeit angeknüpft hätte, was er hier im Simplicissimus durch eine literarische Einleitung thut. Aber diese ist durchaus nichts weiter als eine fleißige Zusammenstellung des äußerlichen Materials, keine Vertiefung in die Zeit, kein gründliches Studium des Schriftstellers, keine Lösung, ja keine Ahnung der Probleme, die hier noch liegen: sonst würde er nicht die offenbarsten Irrthümer, die sich Jahrhunderte lang fortgeschleppt, auf das Unbefangenste wiederholt haben. So heißt nach ihm noch immer der Verfasser des Simplicissimus Greiffenson von Hirschfeld. 94

Mit den Rezensionen dieser Ausgabe fängt gewissermaßen die moderne wissenschaftliche Grimmelshausen-Forschung an, die den Erkenntnissen und Einsichten der neu etablierten kritischen Germanistik und deutschen Textphilologie entspricht. Es ist natürlich in erster Linie an Karl Lachmann, den Begründer der kritischen Editionsphilologie, zu denken, dessen germanistische Editionen mittelhochdeutscher Dichter seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts verfugbar waren. Dennoch war der Blick des 19. Jahrhunderts, vor allem in der Breitenwirkung patriotischer Literaturbetrachtung („Deutsche National-Literatur"), auf das Eigene im Kampf gegen die Zersplitterung Deutschlands, das Echt-Deutsche also, gerichtet. Daran mußte sich auch das Grimmelshausenbild messen. Die vielgelesene Literaturgeschichte von A.F.C. Vilmar konstruiert zum Behuf der national-patriotischen Perspektive einen „Bewußtseinskampf' um „unser eigenstes deutsches Bewußtsein, unser Nationalleben, unsere Eigentümlichkeit und Selbständigkeit als Deutsche [...]. Erst nach langem Ringen und heißem Kampfe gelang es, uns unserer selbst wieder bewußt, der feindseligen Elemente Herr und der reichen Beute aus dem langen gefahrbringenden und verwüstenden Kriege der Geister froh zu werden." 95 In dieses Raster wird der

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Koeman 1993, S. 216. Die Abenteuer des Simplicissimus. Ein Roman aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges. Hrsg. von Eduard von Bülow. Kritiken dazu sind bei Koeman 1993, S. 566f., verzeichnet. Theodor Echtermeyer: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. Nr. 52 vom 1. März 1838 und Nr. 54 vom 3. März 1838. Zit. nach dem Neudruck in: Weydt 1977, S. 1 - 1 6 , hier S. 2. Vilmar 1883, S. 5.

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Autor Grimmelshausen hineingezwängt, sein Hauptwerk entfalte die Züge jener Zeit des Echt-Deutschen: Alles dies hat ein so frisches, echtes, in den meisten Punkten gesundpoetisches Leben, daß das ganze 17. Jahrhundert [...] nichts neben dieses Buch in die Wagschale zu legen hat. [...] Zu verwundern ist es, daß derselbe Mann, der den Simplicissimus geschrieben hat, auch ganz abgeschmackte Liebesromane, wie Proximus und Lympida hat zusammensetzen können, und nirgends spricht sich wohl der grelle Unterschied zwischen dem wirklichen Leben und der hergebrachten künstlichen Buchkultur greller aus, als in den Werken dieses Mannes. 9 6

8.

Der Anfang der wissenschaftlichen Grimmelshausen-Edition

Die Germanistik hatte sich im 19. Jahrhundert etabliert,97 nicht an letzter Stelle als Editionsphilologie. Davon hat auch der Simplicissimus profitiert. Die Brücke bildeten jedoch die Bearbeitungen von 1713 bis 1756, namentlich dieses Romans. In dieser Form blieb Grimmelshausen auch im 19. Jahrhundert ein erfolgversprechender Schriftsteller und der Simplicissimus ein verlegerischer Bestseller. Die verschiedenartige Rezeption bei verschiedenen Zielgruppen wurde durch die Vor- und Nachworte der Ausgaben, aber mehr noch durch die Auswahl der meist gekürzten Textstellen ermöglicht. Den Untersuchungen von Thomas Bürger zufolge wurde solche Rezeption konkret gelenkt: Derartige Eingriffe in den Text oder Beigaben zum Text seitens des Herausgebers akzentuieren bestimmte Aspekte oder Passagen des Originals. Dies wird durch die kunstvolle Komposition heterogener Einzelelemente in dem literarischen Werk erleichtert. Solch eine Hervorkehrung von Einzelaspekten innerhalb des Romans beeinträchtigt allerdings eine umfassende Interpretation, die auf einen kritisch edierten und vollständigen Textabdruck angewiesen ist und nur an diesem die Vielfältigkeit und Reichhaltigkeit des Werkes sowie seine Intention ermitteln kann. 98

Es war bereits die Rede von den kritischen Simplicissimus-Ausgaben Wilhelm Ludwig Hollands und Rudolf Kögels (1851 bzw. 1880), die beide von der normalisierten Ausgabe E3a ausgehen. Zu nennen ist auch noch die Edition Julius Tittmanns in zwei Bänden (1874). Die Gipfelleistung ist nach wie vor die auf der authentischen Erstausgabe von 1669 basierende Edition von Adelbert von Keller. In dieser Ausgabe (1854, 1862) verfügt man über eine hohen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Textedition, mit einem ausführlichen Apparat in Form von Fußnoten und - jeweils als Beigaben - den Texterweiterungen der barocken Gesamtausgaben, in einer kleineren Schrift, durch ein Sternchen vom Haupttext abgesetzt: auf denkbar einfache und dem Leser entgegenkommende Weise. Sie verfolgt akademische Zielsetzungen und orien-

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Vilmar 1883, S. 322.

97

Janota 1980.

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Thomas Bürger in: Simplicius Simplicissimus 1976, S. 235.

Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)

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tiert sich, ähnlich wie sehr viel später Schölte, an einem Fachpublikum, das keiner Lektüresteuerung bedarf. Die Unersetzlichkeit dieser Edition liegt aber in der Verfugbarstellung der posthumen Gesamtausgaben. Noch davon abgesehen, daß diese die Textgrundlage für überarbeitete Neuausgaben des 18. Jahrhunderts waren, ermöglichen sie Einblicke in die Rezeptionsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, j a sind ihr „erstrangiges Zeugnis". 99 Es ist angesichts der aktuellen Fragen literaturgeschichtlicher Forschung ein Armutszeugnis, daß die ausgedehnte und detaillierte Grimmelshausenforschung sich bis heute praktisch nur auf die Rekonstruktion der „reinen" Texte kapriziert hat, während hier fur Rezeption und Fragen der Lesersteuerung bzw. -manipulation doch eminent wichtige Fragen der Beantwortung harren. In den Gesamtausgaben liegen Modellfalle vor, die Autorintention und deren Umbildung mit Rücksicht auf ein neues Lesepublikum in nahezu idealer Form dokumentieren. Es ist fast ironisch, daß solche Fragestellung, die die heutige Forschung mit Recht einfordert, nur aufgrund einer Edition von vor 150 Jahren möglich ist. „Die Mechanismen zwischen öffentlicher Wirkung und Produktion sind vielfältig und nur im Einzelfall angemessen darstellbar. Zum editorischen Selbstverständnis, einen Text innerhalb seiner historischen Koordinaten zu dokumentieren, gehört daher, die Wirkungsgeschichte zumindest in ihren relevanten Faktoren darzustellen". 100 Hier liegen Möglichkeiten und Chancen, die moderne editorische Arbeit zwar in Augenschein, 101 aber bisher nicht einmal in dürftigen Ansätzen in Angriff genommen hat. 102

Literaturverzeichnis Editionen Haken, J.C.L.: Der Held des neunzehnten Jahrhunderts, eine Apokalypse des siebenzehnten: oder Die erfüllteste Weissagung neuerer Zeiten. Kommentiert und erläutert. Magdeburg: Heinrichshofen 1809. Bülow, Eduard von (Hrsg.): Die Abenteuer des Simplicissimus. Ein Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Leipzig: Brockhaus 1S36. Der abenteuerliche Simplicissimus. Versuch einer Ausgabe nach den vier ältesten Drucken. Hrsg. von Wilhelm Ludwig Holland. Tübingen: Laupp 1851. Der abenteuerliche Simplicissimus und andere Schriften. Hrsg. von Adelbert von Keller. 2 Theile. Stuttgart: Litterarischer Verein 1854, 1862 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 33, 34, 65, 66). Simplicianische Schriften. Hrsg. und mit Erläuterungen versehen von Heinrich Kurz. 4 Theile. Leipzig: Weber 1863/64 (Deutsche Bibliothek. 3 - 6 ) . Der abenteuerliche Simplicissimus. Hrsg. Julius Tittmann. 2 Bde. Leipzig: Brockhaus 1874 (Deutsche Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. 6 und 7).

99

Heßelmann 1992, S. 76. P l a c h t a 1997, S. 120. 101 Schon im Jahrbuch für Internationale Germanistik 4, 1972, H. 2, S. 76f., hat Tarot zu seiner Grimmelshausen-Ausgabe bemerkt, daß sie „dringend durch den sog. Barock-Simplicissimus (E5/E6) ergänzt werden muß: Text von E5 mit den Varianten E6 und E3a (Schulmeister-Simplicissimus)." 102 Die Kupferstiche wurden von Wimmer (o.J.) publiziert. Im Untertitel dort hätte es richtiger „Gesamtausgaben" heißen sollen. 100

138

Ferdinand van Ingen

Der abenteuerliche Simplicissimus. Hrsg. von Rudolf Kögel. Abdruck der ältesten Originalausgabe. 1669. Halle/Saale: Niemeyer 1880 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 1925). Grimmelshausens Werke. Hrsg. von Felix Bobertag. 3 Theile. Berlin: Spemann: 1882-1884 (Deutsche National-Litteratur. 33, 34, 35). Der abenteuerliche Simplicissimus. Mit Einleitung von Felix Khull. 2 Bde. Stuttgart, Berlin: Cotta 1892 (Cottasche Bibliothek der Weltliteratur. 24). Grimmelshausens Werke in 4 Teilen. Hrsg., mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Hans Heinrich Borcherdt. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Bong 1921/22 (Goldene Klassiker-Bibliothek). Simplicissimus Teutsch. Abdruck der editio princeps (1669) mit der stark mundartlich gefärbten, nicht von einem berufsmäßigen Korrektor überarbeiteten Originalsprache des Verfassers. Hrsg. von J.H. Schölte. Halle/Saale: Niemeyer 1938 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 302-309). Continuatio des abentheurlichen Simplicissimis oder der Schluß desselben. Hrsg. von J.H. Schölte. Halle/Saale: Niemeyer 1939 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 3 1 0 314). Grimmelshausens Simpliciana in Auswahl. Weitere Continuationen des abentheuerlichen Simplicissimi. Rathsttlbel Plutonis. Bart-krieg. Teutscher Michel. Hrsg. von J.H. Schölte. Halle/Saale: Niemeyer 1943 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. 315-321). Grimmelshausens Simplicissimus. Hrsg. von Rolf Tarot. Tübingen: Niemeyer 1967. 2. Aufl. 1984. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Werke 1,1. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1989 (Bibliothek deutscher Klassiker. 44). Heidegger, Gotthard: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698. Hrsg. von Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg u.a.: Gehlen 1969.

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Grimmelshausen-Editionen (Simplicissimus)

139

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Bodo Plachta

Heine-Editionen

1.

Das .Streitobjekt Heine'

Karl August Varnhagen von Ense betonte schon 1831 in einer Rezension zu Heines Reisebildern, „die gesamte Lesewelt ist in seinem Betreff scharf nach zwei Seiten gespalten". 1 Was sicherlich heute immer noch für die populäre und wissenschaftliche Heine-Rezeption im allgemeinen gilt, galt im besonderen über einen langen Zeitraum hinweg für die Geschichte der Heine-Editionen. Als Willy Brandt am 23. Februar 1972 in seinem Bericht zur Lage der Nation vor dem Deutschen Bundestag die Editionstätigkeit als Beispiel dafür nannte, daß die DDR nicht auf allen „Gebieten" so weit „von uns entfernt" sei, „wie wir es manchmal glauben", war diese Feststellung ein deutschdeutsches Politikum, weil der Bundeskanzler weiter ausgeführt hatte: An einer Sammlung der Werke, Briefe und Lebenszeugnisse Heinrich Heines wird gearbeitet. Das Institut, dem dieses auf 50 Bände berechnete Riesenunternehmen zu danken sein wird, trägt den Namen „Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur". Eine neue Heine-Ausgabe wird auch bei uns in Düsseldorf vorbereitet. Es wäre wohl sinnvoller und den beiden Seiten nicht abträglich, wenn sich beide gelehrte Arbeitskreise zusammengetan hätten. 2

Brandts Äußerung berühte eine schmerzhafte Wunde, nämlich die beiden seit Anfang der 1970er Jahre miteinander konkurrierenden Heine-Ausgaben in Düsseldorf und Weimar. Die Entstehungsgeschichte beider Ausgaben zeigt exemplarisch die „politisch unterschiedlich motivierte und auch unterschiedlich produktive" 3 Aneignung des Autors und seines Werks, die - auch hierin liegt die Außerordentlichkeit des .Falles' Heine - zu einem hohen philologischen Standard gefuhrt hat, der sich nicht nur in der Etablierung der großen, mit erheblichen öffentlichen Mitteln angekauften Sammlungen von Heine-Handschriften und -Dokumenten in der Pariser Bibliotheque Nationale de France und im Düsseldorfer Heine-Institut zeigt, sondern auch seinen Niederschlag in der Heine-Chronik (1975), dem Heine-Handbuch (1987), den Heine-Bibliographien

2

3

Karl August Varnhagen von Ense: [Rez.:] „Nachträge zu den Reisebildem" von H. Heine. In: Ders.: Schriften und Briefe. Hrsg. von Werner Fuld. Stuttgart 1991, S. 194-197, hier S. 194. - Für die Überlassung umfangreichen Materials zum vorliegenden Aufsatz danke ich Anne Bohnenkamp. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte Band 79 von der 171. Sitzung am 23. Februar 1972 bis zur 185. Sitzung am 4. Mai 1972. Bonn 1972, S. 9742. Liedtke 2000, S. 9.

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(1960, 1968, 1986, 1998), der Sammlung von Rezeptionszeugnissen und nicht zuletzt in den beiden großen Heine-Editionen sowie der weit verbreiteten Studienausgabe von Klaus Briegleb gefunden hat. In gewisser Weise hatte Varnhagen von Ense mit Weitsicht die besondere Eignung von Heines Werk und Arbeitsweise fur die philologische Forschung erkannt, wenn er in seiner bereits zitierten Reisebilder-Rezension ausfuhrt, daß die Elemente seiner Darstellungsweise nicht nebeneinander zum Sortieren, Auswählen und Absondern daliegen, sondern untereinander verflochten und verwachsen, ineinander gemischt und gebunden sind, und ihre Scheidung nicht ohne Zerstörung des Vorhandenen geschehen kann.4

Varnhagen von Ense umreißt damit einen „Problemhorizont" 5 - Fragen der Anordnung, Beurteilung von Textfragmenten und -bruchstücken, Berücksichtigung und Präsentation textgenetischer Entwicklungen der nicht nur editorische Arbeit im allgemeinen kennzeichnet, sondern der für eine gleichermaßen wissenschaftliche und leserfreundliche Heine-Ausgabe wichtig ist und natürlich das ,Streitobjekt Heine' 6 nicht aus den Augen verliert.

2.

Die .historischen' Heine-Ausgaben (Strodtmann, Elster, Walzel, Strich)

Obwohl sich Heine bereits zu Lebzeiten darum bemüht hatte, eine Gesamtausgabe seiner Werke zu veranstalten, blieben entsprechende Pläne mit durchaus differenzierten Vorstellungen (1846, 1848, 1852) unrealisiert. Sowohl die komplizierten politischen Zeitumstände als auch das Zögern des Verlegers Julius Campe waren hierfür im wesentlichen verantwortlich. Heines Arbeitsweise, seine Strategien im Umgang mit der Zensur und die daraus resultierende Fassungsvielfalt seiner Texte, 7 die wechselnden Publikationsmedien und eine damit verbundene „Texttransplantation und Anpassung an verschiedenartige Leser auf verschiedenen Textstufen" 6 sowie die besondere Situation als Exilautor, der sowohl auf deutsch als auch auf französisch publizierte, machten die Textsicherung zu einer vordringlichen Aufgabe, die eigentlich nur der Autor selbst bewältigen konnte. In seinem Testament hatte Heine daher am 13. November 1851 (§ 4) nicht ohne Absicht verfugt: Si je meurs avant que Tidition compete des mes oeuvres ait paru, et que je n'aie pas pu presider ä la direction de cette edition, ou meme que ma mort soit arrivde avant qu'elle ne fut terminee, je prie mon parent Mr le Docteur Rudolph Christian! de me remplacer dans la di4

5 6

7 8

Karl August Varnhagen von Ense: [Rez.:] „Reisebilder" von H. Heine. Erster Teil. In: Ders.: Schriften und Briefe (Anm. 1), S. 185-188, hier S. 185. Hansen 1978, S. 27. Jost Hermand hatte seinerzeit seinem Forschungsbericht den Titel Streitobjekt Heine (Frankfurt/Main 1975) gegeben, der seitdem topisch für die Heine-Forschung geworden ist. Vgl. hierzu u.a. die grundlegende Arbeit von Zinke 1974. Hansen 1978, S. 25. Zum Phänomen der „Texttransplantation" vgl. auch Weidl 1974, S. 68-79.

Heine-Editionen

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rection de cette publication, en se conformant strictement au prospectus que j'aurai laisse ä ce sujet. [...] La chose principale, c'est qu'il ne soit intercalö dans mes ecrits aucune ligne que je n'aie pas destinee expressement ä la publicite, ou qui ait et£ imprimee sans la signature de mon nom en toutes lettres; un chiffre de convention ne suffit pas pour m'attribuer un ecrit publiö par quelque journal [...]. Je fais defense expresse que, sous aucun pretexte, quelqu'ecrit d'un autre, si petit qu'il soit, soit annexe ä mes ouvrages [...]. (DHA, Bd. 15, S. 209f.)

Heines Sorgen um die Textqualität nicht-autorisierter Ausgaben seiner Werke waren nicht unbegründet, obwohl er noch zu Lebzeiten eine französische Gesamtausgabe seiner Werke zusammenstellen konnte (1855-1885). Zu seinen Lebzeiten erschienen zwei unautorisierte deutsche Werkausgaben, eine zwischen 1854 und 1861 in Amsterdam und Rotterdam, die andere 1855-1861 in Philadelphia.9 Die erste „Rechtmäßige Original-Ausgabe" von Heines sämtlichen Werken kam zwischen 1861 und 1866 in 21 Bänden in Heines Hamburger Verlag Hoffmann und Campe zustande. In einer „Ankündigung" im ersten Band der Ausgabe motiviert der Herausgeber Adolf Strodtmann sein editorisches Vorgehen mit dem Umstand, Heines Werk sei bislang nicht abschließend gewürdigt worden, weil „ein großer Theil seiner Schriften nur in verkürzter, willkürlich von der Censurschere entstellter Gestalt vorlag" (Bd. 1, S. VII). Diesen Umstand zu beseitigen, sei vornehmstes Ziel der Ausgabe. Auch wollte sich der Verleger von Anfang an auf Heines eigene Dispositionen stützen, wie sie in Anlagen zum Testament offenbar niedergelegt waren. Doch Heines Witwe erwies sich - so Strodtmann - als wenig kooperativ, hielt vielmehr die testamentarischen Verfügungen in bezug auf eine Gesamtausgabe zurück und war offenbar nur am Honorar interessiert, was nicht nur eine zeitliche Verzögerung mit sich brachte, sondern auch dazu führte, daß „sich der Verleger genöthigt gesehn [hat], jetzt ohne die ihm leider nicht erreichbare, von Heine selbst entworfene Disposition die Veröffentlichung der Gesammtausgabe zu unternehmen" (Bd. 1, S. XI). Anders als Heine, der in früheren Überlegungen sowohl eine chronologische als auch eine thematische Ordnung seiner Werke favorisierte (allerdings Lyrik und Versepik an den Schluß der Ausgabe piazierte und diese mit der Prosa eröffnen wollte),10 orientierte sich Strodtmann an der französischen Gesamtausgabe, die im weitesten Sinne eine thematische Gliederung realisiert hatte (wobei wiederum die Prosa vor der Lyrik und den Versepen rangierte). Strodtmann ging es darum, „die innere Einheit, den ideellen Zusammenhang der verschiedenen Werke des Dichters möglichst klar hervorleuchten zu lassen" (Bd. 1, S. XIII). Die Lyrik piazierte Strodtmann auch deshalb an den Schluß der Ausgabe, weil er noch hoffte, Einsicht in den handschriftlichen Nachlaß Heines zu bekommen. Die Kollation von Drucken und Handschriften diente der Beseitigung „störender Druckfehler" (Bd. 1, S. XV) und dem Auffullen von Zensurlücken. Heines divergierende Orthographie wird anhand von Sanders Wörterbuch der deutschen Sprache normalisiert, wobei der Herausgeber be-

9 10

Vgl. zu diesen Nachdrucken Hansen 1990. Vgl. hierzu auch Kortländer 1998, S. 22f.

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teuert, er habe sich „grammatische Änderungen" nie „erlaubt" (Bd. 1, S. XIX f.). Ebenso wird die Interpunktion vereinheitlicht. Alle Bände enthalten ausführliche „Vorworte", in denen Strodtmann nicht nur seine Textgrundlagen beschreibt, sondern auch fallweise Varianten aus anderen Drucken mitteilt (bei französischen Ausgaben werden diese Texte .wortgetreu' übersetzt). Das Verfahren der Variantenverzeichnung bleibt aber insgesamt „additiv" 11 und damit ohne eigentliche Aussage für die Textgenese. Strodtmann veröffentlichte auch erstmals Briefe Heines (Bde. 19-21) mit der Absicht, „höchst interessante Aufschlüsse über die literarischen und politischen Bestrebungen des Dichters und seiner Zeit" (Bd. 1, S. XVf.) zu gewinnen. Auch bei den Briefen sei der Rückgriff auf die ihm bislang erreichbaren Brieforiginale und dadurch die Gewinnung authentischer, wenn auch hin und wieder aus Rücksichten auf die Familie gekürzter Texte (vgl. Bd. 19, S. X) vornehmstes editorisches Ziel. Insgesamt - so schließt Strodtmann - mögen Heines Werke „für ihn reden, die hier zum ersten Mal als ein Ganzes seinem Volke geboten werden, und in denen er sich ein Denkmal gegründet, das den Kampf unserer Tage weit überdauern wird" (Bd. 1, S. XX). Strodtmanns editorisches Vorgehen war dennoch in vieler Hinsicht willkürlich, wie es von einer Ausgabe zu dieser Zeit kaum anders zu erwarten war. 12 Seine Texteingriffe waren oftmals nicht abgesichert, und er scheute auch nicht davor zurück, zahlreichen Gedichten neue Titel zu geben. 1869 und 1884 ließ Strodtmann der Ausgabe noch zwei Supplementbände mit „Letzten Gedichten und Gedanken" sowie „Memoiren" folgen, wobei er sich bemühte, in den bunt durch einander gewirrten Haufen von Manuskripten durch planmäßige Ordnung, so weit möglich, jenen geistigen Zusammenhang zu bringen, welcher den oft fragmentarischen Charakter des Einzelnen zwar nicht verdecken, aber doch den Genuß des Gebotenen dem Leser erhöhen und das Verständnis mancher zeitgeschichtlichen Anspielung erleichtem wird. (Supplement-Bd., S. XI f.)

Beeindruckend an dieser Ausgabe ist neben der Entzifferungsleistung Strodtmanns das Bemühen, die materielle Überlieferung, Entstehung, Entwicklung von Heines Schrift und seine Arbeitsweise in Zusammenhang mit der ,,schöpferische[n] Gestaltungskraft" (Supplement-Bd., S. XV) des Autors zu bringen. Strodtmann konstatiert: „Schon in den mir vorliegenden Originalbrouillons ist, namentlich bei den Gedichten, kaum eine Zeile ohne Varianten und mehrmalige Änderungen geblieben, deren große Anzahl die Manuskripte oft noch unleserlicher macht" (Supplement-Bd., S. XVII). Obwohl es Strodtmann noch nicht gelungen war, die aufgeworfenen Probleme in einer aussagekräftigen Edition praktisch zu lösen, waren die Aufgaben für künftige Heine-Editoren aber umrissen. Es dauerte dreißig Jahre, bis Ernst Elster eine ,kritische' Ausgabe (1887-1890) folgen ließ, die allerdings nur die Werke Heines umfaßte. Elsters Heine-Ausgabe 11 12

Hansen 1978, S. 27. Strodtmanns Edition der nachgelassenen Notizblätter unter dem Titel Gedanken und Einfalle wurde später durch die Ausgabe von Heines Prosanachlaß durch Erich Loewenthal (1925) korrigiert.

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zeichnete sich insbesondere durch die Qualität der edierten Texte aus, nannte präzis ihre Grundlagen und vermied willkürliche Arrangements oder Normalisierungen. Die „Säuberung des sehr verderbten Textes, umfangreiche Lesartenverzeichnisse, erläuternde Anmerkungen und Einleitungen" nennt der Herausgeber als Ziele seiner Arbeit (Bd. 1, S. 1). Bis zum Erscheinen der beiden historisch-kritischen Ausgaben wurde diese Ausgabe als wissenschaftlich zuverlässige Edition auch deshalb regelmäßig benutzt, weil Elster die ursprünglichen Publikationszusammenhänge strikt beachtete bzw. entgegen Heines eigenen Plänen wiederhergestellt hatte. Aber Elster machte auch Kompromisse, indem er die Gedichte aus der Harzreise und dem Salon herauslöste und den entsprechenden Gedichtbänden mit der Begründung zuwies, Heines Werke seien „kleine, loslösbare Stücke und Bruchstücke, vergleichbar den Gemälden einer Ausstellung, nicht aber lange, zusammenhängende und kunstvoll aufgebaute Erzählungen" (Bd. 4, S. 3). Dagegen präsentierte er die Varianten (auch die der französischen Übersetzungen) wesentlich konsequenter, so daß der Benutzer unterschiedliche Fassungen ohne große Mühe rekonstruieren konnte. Während die Textqualität von einem durchdachten und konsequenten Verfahren profitierte, blieben die Texterläuterungen punktuell und zufällig. Diesen Mangel versuchte insbesondere die dritte der .historischen' Heine-Werkausgaben, zwischen 1910 und 1920 gemeinsam von Oskar Walzel und einem Stab ausgewiesener Editoren (darunter Jonas Fränkel) herausgegeben, zu beheben. Walzels Kommentar und insbesondere die differenzierten Register waren zu seiner Zeit normbildend und beeinflußten noch zahlreiche späteren Kommentare zu Heine-Texten. Aber auch der textkritische Fortschritt dieser Edition ist nicht von der Hand zu weisen, denn Walzel wollte „ein deutlicheres Bild seines [Heines] Werdens und Schaffens" geben (Bd. 1, S. 431). Obwohl auch Walzel nach Textsorten, also zwischen gebundener und ungebundener Rede unterschied, ordnete er doch innerhalb dieser Textsorten chronologisch.13 Insbesondere der Lyrik-Komplex hat davon profitiert, daß Walzel die Gedichtsammlungen von 1853 und 1854 als eigenständige Gruppen edierte und nicht - wie bis dahin üblich - die Gedichte als Einzeltexte aus ihrem Publikationskontext löste. Bemerkenswert an dieser Ausgabe ist, daß es bei der Apparatgestaltung erkennbare Ansätze für einen synoptischen Apparat gibt (vgl. Bd. 2, hrsg. von Jonas Frankel, S. 379ff.), Ansätze die viele Jahre so gut wie nicht beachtet wurden und erst mit Hans Zellers C.F. Meyer-Ausgabe wieder aufgegriffen wurden. Fritz Strich hat in seiner Heine-Ausgabe (1925-1930) erstmals auf den Gattungsaspekt bei der Textanordnung verzichtet und konsequent chronologisch angeordnet, so daß z.B. die Reisebilder IV und das Buch der Lieder gemeinsam in einem Band ediert wurden. Auch wurden zahlreiche Gedichte doppelt abgedruckt, je nachdem, ob sie in Einzeldrucken oder Sammlungen von Heine veröffentlicht worden waren.14 Diese vier .historischen' Heine-Ausgaben wurden zu den Bezugsausgaben 13

14

„Das Nacheinander, der Entwicklungsgang von Heines Kunst, der in gebundener wie in ungebundener Rede sich gleichmäßig kundgibt, ist unser Hauptgesichtspunkt" (Bd. I, S. LXII). Zur Begründung hatte Strich angeführt, daß bei einem Autor wie Heine, der „dem fliehenden Augenblick Form und Gestalt zu geben wußte [...] die Gedichte an ihrer ursprünglichen Stelle wirklich auch ganz

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fur ca. 80 Editionen (Gesamt- oder Auswahlausgaben), die ihnen folgen sollten, wobei die Heine-Ausgabe von Oskar Walzel als zentrale Bezugsausgabe, sowohl im Hinblick auf die Textgrundlage als auch auf die Textkommentierung, fungiert hat.

3.

Studienausgaben nach 1945 (Kaufmann, Briegleb)

Die nationalsozialistische Diktatur hat durch die Verfehmung des Autors Heinrich Heine und seines Werks auch die Kontinuität der Heine-Editionen unterbrochen. Diese Zäsur hatte nicht nur Konsequenzen für Rezeption und Forschung, sondern auch für die Sicherung der handschriftlichen Hinterlassenschaft Heines, die zudem kriegsbedingt Verluste und Zersplitterungen erfuhr. Nach 1945 bestand daher zunächst eine wichtige Aufgabe in der Sicherung und Dokumentation von Handschriften und Lebenszeugnissen. 1956 erwarb die Stadt Düsseldorf mit der sog. Sammlung Strauß den wohl bedeutendsten und umfangreichsten Teil von Heines handschriftlicher Hinterlassenschaft, der seitdem die Grundlage der Arbeit im Heine-Archiv und später im HeineInstitut legte. 15 Zehn Jahre später - im August 1966 - erwarb die Bibliotheque Nationale de France die Sammlung Schocken, einen ebenfalls bedeutsamen Nachlaßteil. 16 1968 wurde zur Erforschung dieser Sammlung in Paris eine „Equipe de Recherches Henri Heine" als Institut der nationalen französischen Forschungsorganisation C.N.R.S. gegründet (1974 in das Centre d'Histoire et d'Analyse des Manuscrits Modernes, C.A.M., und 1982 in das Institut des Textes et Manuscrits Modernes, I.T.E.M., eingegliedert), die in der Folgezeit mit bedeutenden Untersuchungen zu den Handschriften und der durch sie dokumentierten Textgenese hervortrat 17 und wesentlich dazu beitrug, die ,critique gendtique' als eigenständige Forschungsrichtung zu etablieren. 18 Die Arbeitsstellen in Düsseldorf und Paris haben ein institutionelles Modell geschaffen, das von anderen Editionsprojekten übernommen wurde, weil offensichtlich geworden war, daß nur die institutionelle Bündelung von Recherche, Materialbeschaffung und redaktioneller Begleitung der eigentlichen Editionsarbeit positive Ergebnisse zeitigen würde. 19 Gleichzeitig wurde deutlich, daß große Editionsvorhaben einen zeitlichen Vorlauf benötigen, um die entsprechenden Arbeitsgrundlagen zu schaffen und einen spezialisierten Mitarbeiterstab zu rekrutieren.

15 16 17 18 19

anders klingen und wirken, als in lyrischen Lesen und Nachlesen, so etwa wie Bilder ganz anders in Kirchen und in Zimmern wirken, als in Museen" (Bd. 1, S. XIII f.). Vgl. hierau Hermstrüver 1988. Vgl. Hay 1971. Zur Nachlaßsituation allgemein vgl. Noethlich 1966. U.a. Bockelkamp 1982 und die Beiträge in den Heften des Cahier Heine (1975ff.) sowie Werner 1983. Vgl. Grösillon 1999. A m Modell der Düsseldorfer Arbeitsstelle orientieren sich z.B. die Überlegungen von Woesler 1975. Zu den begleitenden Aktivitäten der Düsseldorfer Arbeitsstelle gehören die Heine-Studien und das HeineJahrbuch (mit regelmäßiger bibliographischer Berichterstattung und Übersicht über die Düsseldorfer Handschriftenbestände samt ihren Neuerwerbungen), zwei Publikationsorgane, in denen monographische Arbeiten (zum überwiegenden Teil Dissertationen) und Aufsätze die Heine-Edition vorangetrieben und die Heine-Forschung insgesamt befruchtet haben.

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In den Kontext dieser Textsicherung gehört auch die erste Gesamtausgabe von Heines Briefen, die Friedrich Hirth (1950/57) auf der Grundlage der Handschriften edierte, kommentierte und ausdrücklich der „deutsch-französischen Verständigung" widmete (Bd. 1, S. XIII). Außerdem ist die Edition der Gespräche mit Heine zu nennen, deren erste Ausgabe Heinrich Hubert Houben 1926 realisiert hatte und die Michael Werner 1973 unter dem Titel Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen in überarbeiteter, vervollständigter und neu konzipierter Form20 herausbrachte. Obwohl inzwischen Anstrengungen für eine historisch-kritische Ausgabe unternommen wurden, waren es Studienausgaben, die - als Interimsausgaben fungierend - die Forschung vorantrieben. Zwar verzichteten alle Heine-Studienausgaben durchweg auf eine systematisch betriebene Textkritik und stützten sich auf Vorgängereditionen, ihre forschungsgeschichtlichen Verdienste liegen aber bei der Textkommentierung.21 Zwei dieser Studienausgaben sollen exemplarisch vorgestellt werden. Den Reigen der Studienausgaben eröffnete die von Hans Kaufmann verantwortete Ausgabe der Werke und Briefe im Aufbau-Verlag (1961-1964). 22 Es handelte sich bei dieser Edition um „die erste relevante deutsche Ausgabe nach dem Krieg und die bis dahin vollständigste Heine-Ausgabe".23 Die Texte stützen sich auf die der WalzelAusgabe, ergänzt um seitdem aufgefundene Texte sowie um eine repräsentative Auswahl aus Heines Korrespondenz. Das Problem der Textanordnung konnte auch diese Ausgabe noch nicht abschließend lösen. Einerseits versuchte der Herausgeber Heines Anordnungspläne (Trennung in versifizierte Texte und Prosatexte) zu berücksichtigen, woraus die Auflösung der Prosazyklen Salon und Vermischte Schriften resultierte, andererseits blieben die lyrischen Sammlungen erhalten (vgl. Bd. 10, S. 444f.). Neu war eine Abteilung mit dem lyrischen Nachlaß. Varianten wurden in Auswahl mitgeteilt, wobei die französischsprachigen Fassungen deshalb eine stärkere Berücksichtigung fanden, weil sie unbehelligt von der Zensur erschienen waren. Herzstück der Ausgabe war - den Zielen der Klassiker-Ausgaben des Aufbau-Verlages folgend - der Kommentar, wobei das Augenmerk auf „die zahlreichen geschichtlichen, literarischen und persönlichen Anspielungen Heines"24 gerichtet wurde. Klaus Brieglebs Heine-Ausgabe im Hanser-Verlag (1968-1976) ist die - insbesondere in der Taschenbuchausgabe - am weitesten verbreitete und damit populärste Edition von Heines Werken, die nicht zuletzt durch eine Anordnung der Texte „nach der Chronologie ihrer Entstehung" (Bd. 1, S. 619) das traditionelle an Gattungen orientierte Anordnungsschema bewußt aufgebrochen und damit „in den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung eingegriffen [hat] - ein erstaunliches Phänomen fur eine Gesamt-

20 21 22 23 24

Vgl. Werner 1995. Hansen 1978, S. 30. Vgl. hierzu Erler 1972. Höhn 1987, S. 35. Erler 1972, S. 927.

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ausgabe", wie Volkmar Hansen bemerkt. 25 Briegleb nennt als leitende Kriterien fur die Textanordnung das „Prinzip der Gesamtchronologie" und in Anlehnung an die von Heine mitbetreute französische Ausgabe die „natürliche Zusammengehörigkeit der Texte": Wie diese in unserer Ausgabe gesehen wird, mag im ganzen aus der getroffenen Anordnung selbst sprechen. Sie bedeutet Kritik der konventionellen, ästhetisch rubrizierenden Ausgabenpraxis, die dazu gefuhrt hat, daß wir in großen Ausgaben Heine nach dem Bilde einer Schiller-Jubiläumsausgabe lesen müssen. Die literarische Verschiedenartigkeit, die publizistische Situation der Schriften und ihre zeitgeschichtlichen Zwecke bleiben dann unnötig verdunkelt. (Bd. 1, S. 619)

Diese konsequente chronologische Anordnung, die übrigens ein Markenzeichen der Studienausgaben im Hanser-Verlag war, führte natürlich zur Auflösung der originalen Sammelbände und zu einer Mischung der Textsorten. Obwohl Brieglebs Ausgabe in textkritischer Hinsicht - sie stützte sich bei der Wahl der Textgrundlagen vor allem auf die Ausgabe von Oskar Walzel - kaum Fortschritte machte, gilt sie doch als Musterbeispiel für eine kommentierte Studienausgabe, die nicht nur Entstehung und Rezeption dokumentiert sowie wichtige Varianten anfuhrt, sondern auch „reichhaltige Materialien sowie Kommentare [bietet], die den Mut zur politischen Neubewertung zeigen und über das rein Informative hinausgehen". 26 Die Edition markierte damit nicht nur einen wichtigen Abschnitt in der westdeutschen Heine-Rezeption vor dem Hintergrund der oppositionellen Studentenbewegung, sondern stimulierte auch die gerade am Beispiel Heine immer wieder geführte Diskussion um die Kommentierungs- bzw. Erläuterungsbedürftigkeit literarischer Texte und die schwierige Grenzziehung zwischen Realienkommentar und Interpretation.

4.

Historisch-kritische Heine-Ausgaben

Erste Pläne für eine historisch-kritische Heine-Ausgabe datieren aus dem Jahr 1955. Vor dem 100. Todestag Heines stellten Heines alter Hamburger Verlag Hoffmann und Campe und die Weimarer Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur unabhängig voneinander entsprechende Überlegungen an. 27 Obwohl es damals unterschiedliche Realisierungsvorstellungen gab, bestand doch Konsens darin, daß eine historisch-kritische Edition nicht nur notwendig sei, sondern daß es sich dabei auch um eine „definitive Heine-Ausgabe" 28 handeln müsse. 1956 - anläßlich einer Konferenz zu Heines 100. Todestag - wurde in Weimar erstmals öffent-

25

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Hansen 1978, S. 242. Vgl. hierzu auch Klaus Brieglebs seinerzeit als Provokation gemeinten Aufsatz: Der Editor als Autor. Fünf Thesen zur Auswahlphilologie. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 9 1 - 1 1 6 . Höhn 1987, S. 35. Vgl. Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 3. Eisner 1957, S. 283.

Heine-Editionen

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lieh über das Projekt einer deutsch-deutschen historisch-kritischen Heine-Ausgabe diskutiert. 29 Eine ,Säkularausgabe' wurde beschlossen, und die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und das Düsseldorfer Heine-Archiv sollten diese Edition als „gesamtdeutsches Unternehmen" 30 erarbeiten. Die Ausgabe setzte sich zum Ziel, „die Werke und den Briefwechsel, vielleicht auch die Lebenszeugnisse in einer Gesamtausgabe herauszugeben, die in der Darbietung der Texte und deren Entwicklung nach neuesten Editionsgrundsätzen verfährt", 31 gleichzeitig aber auch den verbindlichen Heine-Text erarbeiten sollte.32 Eine methodische Orientierung sollten die Schiller-Nationalausgabe, die GoetheAkademieausgabe und die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe geben. Der .kalte Krieg' und die zunehmende Entfremdung der beiden deutschen Staaten auch auf kulturellem Gebiet lagen aber von Anfang an wie ein dunkler Schatten auf dem Projekt, das sich zunehmend als unrealisierbar herausstellte und schließlich in zwei unterschiedliche Editionsprojekte mündete: die Heine-Säkularausgabe (HSA) und die Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA). Aber nicht nur die Zeit- und Weltläufte trennten die HeineEditoren, sondern auch die ideologische Vereinnahmung Heines - hüben wie drüben beschleunigte den Prozeß der Abgrenzung. Manfred Windfuhr schreibt dazu: Schließlich aber bestand die Gefahr, daß in der Bundesrepublik, auf deren Boden Heine geboren und aufgewachsen war, nichts für den lange diffamierten Dichter getan wurde, während man in Weimar, für Heine selbst mehr Gegenpol als Anziehungspunkt und Ort eines nur flüchtigen Besuchs, alles für eine Wiedereinbürgerung des Dichters unternahm. Man war nahe daran, die weitverbreitete Ansicht zu bestätigen, die D D R sei der Mittelpunkt der fortschrittlichen Forschung, dagegen die Bundesrepublik das Zentrum einer erneuten Restauration. Es ging darum, ob man bei uns auf die philologische Heine-Forschung mehr oder weniger verzichten, das Heine-Archiv in Düsseldorf in eine Randposition drängen und den Klassikerstätten in Weimar auch noch den antiklassischen Heine allein überlassen wollte. 3 3

Der Alleinvertretungsanspruch als damaliges außenpolitisches Dogma der Bundesrepublik Deutschland hatte sich offenbar auch auf editorischem Gebiet durchgesetzt; Eberhard Galley wollte in der Entscheidung für die Düsseldorfer Heine-Ausgabe sogar einen „Gradmesser für eine internationale Beurteilung der deutschen Germanistik" erkennen. 34 1962 beschloß der Rat der Stadt Düsseldorf, eine historisch-kritische Edition zu unterstützen, 1963 folgte die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit einem entsprechenden Förderbeschluß, später konnten noch das Land Nordrhein-Westfalen und die Stadt Hamburg als Finanziers gewonnen werden. Erst Anfang 1967, nachdem die Pariser Bibliotheque Nationale de France die Sammlung Schocken erworben hatte, begannen Verhandlungen zwischen Düsseldorf, 29 30 31 32

33 34

Grappin 1973, S. 35. Holtzhauer 1957, S. 269. Holtzhauer 1957, S. 269. ,X>ieser Text [der Edition] ist der Standard für alle verantwortlichen Herausgeber und Verleger" (Holtzhauer 1957, S. 270). Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 4. Galley 1972, S. 208.

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Weimar und Paris über eine Zusammenarbeit.35 Wie die Ergebnisse dieser Verhandlungen auch zu bewerten sein mögen, den deutsch-deutschen Querelen wurde ein französisches Korrektiv zur Seite gestellt, das zwar eine Fusion der beiden HeineEditionen nicht mehr ermöglichte, aber .gutnachbarliche Beziehungen' herstellte, die schließlich als ein belastbares Modell dienten und auch auf anderen Ebenen einen deutsch-deutschen Dialog mit französischer Moderation in Gang setzten und sogar vertieften. 1970 wurde zwischen den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, dem C.N.R.S. und dem Akademie-Verlag ein Vertrag über die Heine-Säkularausgabe unterzeichnet:36 „Bürger Frankreichs und Bürger eines progressiven deutschen Staates"37 arbeiteten nun zusammen. Daß beide Editionen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten weitergeführt wurden - die DHA konnte 1997 zum 200. Geburtstag Heines den letzten Band vorlegen, der Abschluß der HSA steht noch aus - , gehört dann doch zu den Pikanterien des deutschen ,Sonderwegs'. Pierre Grappin gewann schon 1973 den Vorwürfen, beide Projekte würden durch Doppelarbeit Ressourcen vergeuden, auch positive Aspekte ab, denn beide Ausgaben unterschieden sich hinsichtlich ihrer methodischen und praktischen Konzeption, was möglicherweise der editionswissenschaftlichen Diskussion zugute käme.38 Die Zusammenarbeit mit französischen Partnern wirkte sich für beide Ausgaben positiv aus, was sich zunächst daran ablesen läßt, daß beide Editionen den französischsprachigen Werken Heines den Stellenwert zugestanden haben, der ihnen zukam.39 Die HSA sah 35 36

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38 39

W i n d f u h r / R a d l i k / W e i d m a n n 1970, S. 29 f . Mussler 1970, S. 538, begründet die Z u s a m m e n a r b e i t zwischen Wissenschaftsorganisationen Frankreichs und der D D R folgendermaßen: „Die Tatsache, daß es sich bei der Heine-Säkularausgabe u m eine Gemeinschaftsarbeit von französischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlern aus der D D R handelt, gewinnt erhöhte Bedeutung, da Heine einen wesentlichen Teil seiner Arbeiten dem gegenseitigen Verstehen des französischen und des deutschen Volkes widmete. Frankreich war für ihn das klassische Land der Revolution, das sich bürgerliche Rechte und Freiheiten erkämpft hatte. ,Wie ich die Freiheit liebe, liebe ich F r a n k r e i c h ' ^ ] schrieb Heine einmal. Er nannte sich selbst einen Vertreter der ,französischen Partei' in Deutschland, denn er wollte durch seine Schriften und Streitschriften den Deutschen den Weg zur Ü b e r w i n d u n g der Überreste des Mittelalters weisen. Diesem Ziel dienten auch vor allem seine Studien über Frankreich. Jegliche Art nationaler Borniertheit war ihm fremd. Mit seiner Kritik an den deutschen Zuständen wollte er keineswegs die Zustände in Frankreich glorifizieren. Auch hier sparte er nicht mit bissiger Ironie. Nein, es ging ihm einfach darum, den gesamten gesellschaftlichen Fortschritt der Gastgeber-Nation seiner eigenen klarzumachen. Letzten Endes entsprang seine Kritik an den militaristisch-preußischen Verhältnissen einer tiefen Liebe zu Deutschland." Hahn 1973, S. 279. - Der Fortschrittsaspekt bildete auch im wesentlichen die ideologische Folie, auf der sich die B e g r ü n d u n g dieses M a m m u t u n t e r n e h m e n s rechtfertigen ließ: „Heines Werk gehört der gesamten fortschrittlichen Menschheit. Forscher aus aller Welt bemühen sich u m seine Erhellung und Erschließung. Unerläßliche Voraussetzung dafür aber ist es, daß dieses Werk leicht zugänglich ist, das heißt in zuverlässigen Ausgaben überall Verbreitung findet. Wessen, w e n n nicht unsere A u f g a b e wäre es, durch eine zuverlässige Standardausgabe die Möglichkeit d a f ü r zu schaffen, daß diese Voraussetzung überall erfüllt werden kann? Die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Heine-Ausgabe bildet - so gesehen - eine Verpflichtung der literaturwissenschaftlichen Forschung unserer Republik gegenüber der internationalen Öffentlichkeit" (Hahn 1973, S. 2 7 8 f ). Grappin 1973, S. 35. Vgl. auch zusammenfassend mit Beispielen Kortländer 1998. Für die D H A formulierte W i n d f u h r : „1. Bei Heine liegt der besondere Fall vor, daß ein Autor schon zu Lebzeiten und auf Grund eigener Mithilfe in zwei Sprachen erscheint. Beide Publikationsformen haben ihre eigene Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte. 2. Eine historisch-kritische Ausgabe kann nicht an d e m in den französischen Texten enthaltenen Anteil Heines vorbeigehen. Wenn diese Analyse auch bei Texten, zu denen die Handschriften fehlen, auf große Schwierigkeiten stößt, darf sie nicht nur partiell

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sogar eine eigene Abteilung mit 7 Bänden fur die französischen Heine-Werke in der autorisierten Gliederung der CEuvres completes (1855-1857) vor (allerdings wurden die Apparate auf das Nötigste beschränkt),40 die DHA fugte die französischsprachigen Werke den jeweiligen deutschsprachigen Versionen in einem Anhang bei. In Düsseldorf entschied man sich deshalb gegen eine Abteilung mit den französischsprachigen Texten, um nicht etwa zu suggerieren, daß es sich um „selbständige Werke neben den deutschen" handle, vielmehr wollte man „von anderssprachigen Fassungen der deutschen Werke sprechen".41 Auch in der Anordnung der deutschsprachigen Werke - die HSA ordnet chronologisch bei Beibehaltung der Sammlungen (HSA, Bd. 1 K,l, S. 14 f.), die DHA schafft Blöcke mit thematischen Schwerpunkten,42 ebenfalls unter Berücksichtigung der zyklischen Struktur und Chronologie (DHA, Bd. 1,2, S. 12581260) - unterscheiden sich beide Editionen, was jedoch kein Gegenstand von Kritik oder grundsätzlicher Auseinandersetzung wurde, weil die frühere textisolierende, gattungsbezogene Ordnungsweise nicht mehr Diskussionsgegenstand war. Die DHA verfahrt bei der Anordnung flexibler und nicht sklavisch an Heines Dispositionsvorgaben orientiert, denn die originalen Sammlungen seien „zu sehr von zeitgeschichtlichen und merkantilen Interessen mitbestimmt, als daß sie für immer zum kanonischen Einteilungsprinzip erhoben werden könnten." 43 Beide Ausgaben scheuten auch im Ausnahmefall nicht vor Mehrfachabdrucken einzelner Texte zurück, obwohl dieses Verfahren inzwischen aus der Mode gekommen war und nur noch als editorische Notlösung galt. In Düsseldorf verzichtete man auf eine Edition der Korrespondenz, zum einen um Doppelarbeit zu vermeiden, zum anderen, weil sich „unterschiedliche Konzeptionen" auf die Edition von Briefen „nur wenig auswirken" und weil - davon ging man aus die Brief-Abteilung der HSA „alle Ansprüche an eine gut edierte und kommentierte moderne Edition erfüllt". 44 Gravierender aber sind die Unterschiede in der Apparatgestaltung, der ,,,crux' jeder Ausgabe", wie Gerhard Höhn befindet. 45 Die methodische Konzeption beider HeineAusgaben wurde in einer Zeit der editorischen Neuorientierung erarbeitet. Friedrich Beißners Modell der textgenetischen Variantenverzeichnung und die ihm zugrunde liegenden poetologischen Vorstellungen standen auf dem Prüfstand und führten zu den

betrieben werden. 3. Die bloße Wiedergabe von französischsprachigen Lesarten, wie sie Elster in seiner ersten Heine-Ausgabe vornimmt, erlaubt keine Rückschlüsse auf den gesamten französischen Text, da dabei nur die Abweichungen von der deutschen Fassung, nicht aber der Grundtext wiedergegeben werden" (Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 32). Vgl. auch DHA, Bd. 1,2, S. 1261. 40

41 42 43 44 45

Zur Begründung heißt es in der HSA (Bd. 1 K , l , S. 13): „Alle französischsprachigen Texte Heines unterscheiden sich durch Komposition und Formgebung von ihren deutschsprachigen Versionen, sind eigenständige Fassungen Heinescher Werke, die in einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Heines nicht fehlen dürfen." Vgl. auch HSA, Bd. 13 K, S. 9 - 2 4 . Galley 1972, S. 210. Hierzu Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 2 4 - 2 7 . Windfuhr 1962, S. 81. Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 28. Höhn 1987, S. 37.

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bekannten Kontroversen darüber, was Edition und Apparat überhaupt leisten könnten. Plakative Formeln wie z.B. „Edition ist Interpretation"46 oder „Befund und Deutung"47 standen einander gegenüber und vertieften die Gräben, so daß eine Vereinheitlichung von Begriffen und Verfahren nicht gelang. Die Goethe-Akademie-Ausgabe beschritt neue Wege bei der Auswahl der Textgrundlage (,frühe Hand' vs. ,späte Hand'), in deren Folge sich auch die Debatte über editorische Eingriffe in den Text zuspitzte. 48 Textdynamische Editionskonzepte griffen aktuelle literaturtheoretische Positionen auf. Beide Heine-Ausgaben bezogen in diesen Debatten jeweils eigene Positionen. Die Heine-Säkularausgabe koppelte sich dabei deutlicher von den aktuellen Debatten ab und entwickelte ein Editionskonzept, das nicht nur den Spagat zwischen einer wissenschaftlichen und dennoch lesbaren Edition versuchte, 49 sondern sich auch um pragmatische, autorspezifische Lösungen bemühte. Diese Position wurde allerdings mit heftigen Attacken gegen die ,westliche' Editionswissenschaft vorgetragen. Der Aufsatz Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur von Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer hatte dazu schon 1966 die entsprechende Basis gelegt, indem die Autoren u. a. fragten, ob die Dichterhandschrift den Editoren „praktisch nur noch Anlaß für Übungen zur Transformierbarkeit" liefere. 50 Eine differenzierte Darstellung der Textgenese wird als „Musterbeispiel eines neuzeitlichen Alexandrinismus" abqualifiziert, Ziel einer wissenschaftlichen Edition sei dagegen die Errichtung eines ,,Denkmal[s] der Literatur", „das alle von einem Autor herrührenden Werke sowie alle anderen von diesem Autor unmittelbar [...] überlieferten Äußerungen seiner geistigen Tätigkeit umfaßt, um der Nation und der Menschheit unverfälscht und vollständig einen Zeugen ihrer geistigen Existenz zu erhalten."51 46 47 48 49

50 51

Windfuhr 1957, S. 440. Zeller 1971. Windfuhr spricht im Rückblick (1998, S. 894) von einer „Textkritik-Verhinderungsphase". Holtzhauer hatte schon 1957 bei der ersten Vorstellung des Projekts HSA geschrieben: „Nur eine Ausgabe, die wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird, sollte auch stets die Grundlage für andere, lehrhaften oder schöngeistigen Zwecken dienende Veröffentlichungen sein" (S. 269). Hahn/Holtzhauer 1966, S. 14. Hahn/Holtzhauer 1966, S. 7, 16f. - Karl-Heinz Hahn wiederholte diese Position in einem Interview (Geeint am Werk: Germanisten aus Weimar und Paris. Exklusiv-Interview mit Prof. Dr. Karl-Heinz Hahn, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, über die Heine-Säkularausgabe) am 13. März 1971 in der Zeitung Neue Zeit (Nr. 61, S. 12): „Wahrend die bürgerliche Editionswissenschaft ihr Hauptanliegen darin sieht, aus unvollkommenen Entwürfen des Dichters den scheinbaren Entwicklungsgang eines Textes, der dem realen, d.h. dem historischen Entwicklungsgang dieses Textes niemals gerecht wird, zu konstruieren, betrachtet es die Weimarer Heine-Ausgabe als ihre Pflicht, aus diesen zufällig überlieferten handschriftlichen Zeugnissen Heines - zufällig deshalb, weil nicht alles, was Heine dachte, auf das Papier gelangt ist, und auch nicht alles, was er jemals geschrieben hat, überliefert ist - das zur Erläuterung des Textes Wesentliche in einem Variantenapparat mitzuteilen. Als für das Verständnis des HeineTextes wesentlich werden alle die Partien aus der handschriftlichen Überlieferung verstanden, die im endgültigen Text inhaltlich bzw., wenn es sich um ein poetisches Werk in gebundener Sprache handelt, auch formal keine Entsprechung gefunden haben, und solche Bemerkungen, die zur Erläuterung des endgültigen Textes beizutragen vermögen." - Dieses Interview löste bei den französischen Partnern erhebliche Irritationen aus, zumal schon seit einiger Zeit nicht nur Kritik an der Arbeitsorganisation in Weimar geäußert wurde, sondern auch prinzipielle Bedenken an der Konzeption der HSA und dem darin formulierten Ziel der Variantendarstellung bestanden. Das Interview wurde als ,fait accompli' im Hin-

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D i e kritische, bis zur totalen A b l e h n u n g reichende Distanz g e g e n ü b e r einer explizit textgenetischen Edition hat sich auch in den Editionsgrundsätzen der H S A niedergeschlagen, w i e sie Karl-Heinz Hahn erstmals 1973 ausführlich dargelegt hat. 5 2 ( D i e s e Grundsätze wurden v o n der

französischen

Seite seinerzeit nur mit großen B e d e n k e n

mitgetragen. D i e - s t i l l s c h w e i g e n d e ? - Z u s t i m m u n g verwundert j e d o c h angesichts der insbesondere im I.T.E.M. s c h o n zur damaligen Zeit diskutierten textgenetischen K o n zepte.) D i e H S A sieht ihre eigentliche A u f g a b e in der Textdokumentation, 5 3 d.h., sie wählt als Grundlage des edierten Textes v o n H e i n e autorisierte Fassungen und entscheidet sich in Fällen, „ w o mehrere Drucke v o m Dichter veranstaltet wurden, immer [für] den v o n ihm z u m besten oder letztwilligen erklärten". 5 4 Im Falle von zensierten Texten wird diejenige Fassung gewählt, in der H e i n e die Eingriffe u. U. w i e d e r rückg ä n g i g m a c h e n konnte, in Fällen, in denen dies nicht m ö g l i c h war, wählte man einen „ A u s w e g " : „Ein A u s w e g findet sich, w e n n man den zensierten Text bietet, den durch die Zensur beeinträchtigten Textstellen j e d o c h den Manuskripttext als Fußnote zufugt, s o daß der Benutzer der A u s g a b e beide Textfassungen unmittelbar, ohne Vermittlung

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blick auf die Editionsgrundsätze aufgefaßt. Belegt sind diese Probleme im Protokoll (samt Anlagen, die den Schriftwechsel zwischen Weimar und Paris dokumentieren) einer Krisensitzung, die am 11. Juni 1971 im Ministerrat der DDR stattfand (Teilnehmer u.a.: Vertreter des Goethe- und Schiller-Archivs und der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Abusch und Kulturminister Klaus Gysi) und auf der überlegt wurde, wie ein drohender Bruch zwischen dem Weimarer Editionsteam und den französischen Heine-Editoren mit entsprechenden politischen Folgen für die kulturelle Zusammenarbeit zwischen der DDR und Frankreich vermieden werden könnte (Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, GSA 150/IA 3678). Der Kulturminister der DDR, Klaus Gysi, wird in diesem Protokoll folgendermaßen zitiert: „Kulturminister Gysi [...] leitete damit zu dem Interview über, das schließlich die ganze Krisensituation ausgelöst habe. Das Interview bezeichnete er als instinktlos; insbesondere kritisierte er den Satz: ,Man darf nicht übersehen, daß die Kollegen in Frankreich selbstverständlich auch Erörterungen der bürgerlichen Forschung zu Editionsfragen zur Kenntnis nehmen. Das sei ja wohl natürlich und nicht in der Form erwähnenswert; im übrigen wolle er nur hoffen, daß auch in Weimar davon Kenntnis genommen werde. Ähnlich sei der Ton des ganzen Interviews, und die Argumente zur Stützung der eigenen These, daß ,der Vorwurf der Subjektivität' für das von Weimar entwickelte Verfahren nicht mehr gelte als fur das kritisierte bürgerliche Verfahren, seien sehr schwach." Zur genetischen Variantendarstellung bemerkt Hahn 1973, S. 289: „vor allem erweist es sich als unmöglich, etwa die Entstehungsgeschichte eines Werkes in Gestalt eines verschlüsselten, sogenannten genetischen Schichtenapparates oder in Form eines lemmatisierten Apparates auch nur annähernd sachgemäß darzustellen. Was als solches angeboten wird, sind in jedem Fall subjektiv-willkürliche Deutungen von Handschriftenbefunden, die weder in ihrer alle übrigen Fakten des Entstehungsprozesses eines Werkes außer acht lassenden Form als erkenntnisvermittelnd gewertet werden, noch den Anspruch einer sachgerechten Darbietung erheben können." - Vgl. dagegen die wesentlich differenzierteren Überlegungen von Dietrich Germann (1960, 1962), der zwar auch eine vollständige genetische Variantenverzeichnung nicht als Hauptaufgabe einer historisch-kritischen Ausgabe ansieht, sich aber ausführlich und mit guten Argumenten mit den aktuellen Modellen auseinandersetzt und diese am Beispiel Heine diskutiert. Er fordert insbesondere - auch in kritischer Auseinandersetzung mit Zellers Modell der Editor habe einen lesbaren Apparat vorzulegen, eine Forderung, die auch Friedrich Beißner (1964) zur Verteidigung seines Apparatmodells vorgebracht hatte. Die Editionsrichtlinien der HSA stellen dazu fest: „Hauptaufgabe der Säkularausgabe ist es, alle überlieferten Heine-Texte in der Gestalt dazubieten, in der sie mit Billigung des Dichters dem Lesepublikum seiner Zeit bekannt geworden sind oder - sofern es sich um ungedruckt und unter Umständen unvollendet gebliebene Texte handelt - in der vom Editor als letzte Ausarbeitungsstufe ermittelten Fassung" (HSA, Bd. 1 K,l, S. 17; vgl. auch ebd. S. 27). Böhm 1981, S. 91. Vgl. auch Hahn 1973, S. 293: „Als Druckvorlage wird vielmehr prinzipiell die Ausgabe gewählt, an deren Herstellung Heine zum letzten Mal aktiven Anteil genommen hat, das heißt die Ausgabe, die in der Tat die letzte Entscheidung des Dichters bedeutet."

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des Apparates, einsehen kann" (HSA, Bd. 1 K,l, S. 18). Die Varianz, wie sie sich etwa in Arbeitsmanuskripten oder verschiedenen Drucken niedergeschlagen hat, wird nur in einem Auswahlapparat mitgeteilt, wobei die Editoren ebenfalls dokumentierend verfahren und den Apparat mit der Rubrik „Mitteilungen zum Text" (ursprünglich hieß die Rubrik „Varianten zum Text") 55 weitgehend als Begründung des edierten Textes gebrauchen. 56 An den „Mitteilungen zum Text" entzündete sich die Kritik, so daß sich die Mitarbeiter der HSA um Klarstellung bemühten. Hans Böhm versucht dies folgendermaßen: Da dazu [zu den „Mitteilungen zum Text"] in den vergangenen Jahren mehrfach die Ansicht geäußert wurde, die HSA wolle eine sehr strenge - im Unterton war gemeint: willkürliche Auswahl treffen, soll dieses Prinzip hier näher erläutert werden: Es gelten als wesentlich solche Textvarianten, die Einblick in die inhaltlichen und formalen Intentionen Heines gewähren. Das betrifft Änderungen von Strophen, Verszeilen sowie Abweichungen in der Wortfolge und der Wortwahl wie auch in der Interpunktion. Als nicht relevant angesehen werden Schwankungen in der Orthographie, offenkundige Druck- und Schreibversehen, Sofortkorrekturen solcher Versehen sowie nur aus Wortfragmenten bestehende Textansätze in der handschriftlichen Überlieferung, die keine Aussage zulassen. Graphische Befunde in den Handschriften werden nur dann mitgeteilt, wenn sie Informationen über die Entstehung des Textes vermitteln. 57

Auch die Verzeichnung der ausgewählten Varianten in einem negativ lemmatisierten Apparat (vgl. HSA, Bd. 1 K,l, S. 27f.) galt der HSA „als echtes Hilfsmittel der Texterschließung"; die Varianz sei dadurch „streng auf den Text bezogen", wodurch „der Tendenz zur Verselbständigung des Apparates entgegengewirkt" werde. 58 Während Textkonstitution und Variantenverzeichnung vor dem Hintergrund der damaligen editionswissenschaftlichen Diskussion kaum innovativ waren, hat die HSA mit der Edition der Korrespondenz Heines Standards gesetzt. Die seinerzeit entwickelten Richtlinien (HSA, Bd. 20 K, S. 9-12, und Bd. 24 K, S. 9-12) sind seitdem von anderen Briefeditionen übernommen worden, weil sie sowohl für die Konstitution der Brieftexte, die inhaltliche Erschließung verlorener Briefe, die Chronologie und die Apparatgestaltung (Datum, Adresse, Überlieferung, Mitteilungen zum Text, Erläute-

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„Der Abschnitt .Varianten zum Text' hat zwei Hauptaufgaben zu erfüllen. Er dient einmal der Rechtfertigung aller Veränderungen. Zum anderen werden hier in strenger Auswahl jene Entstehungs- und Druckvarianten dargeboten, die eine echte Abweichung vom Drucktext darstellen und unter Umständen eine andere Bestimmung der endgültigen Textkonstitution zulassen" (Mende 1967, S. 155). Die HSA führt dazu aus: „Der Kommentarteil .Mitteilungen zum Text' vermittelt Informationen, die sich auf die formale Gestalt des Textes beziehen. Dabei handelt es sich um Worte, Textpassagen und grammatische Besonderheiten, die beim Kollationieren der gesamten Überlieferung zu einem bestimmten Text ermittelt wurden, die mit dem in der Heine-Säkularausgabe dargebotenen Text nicht übereinstimmen (Varianten), sowie um Worte, Textpassagen und grammatische Strukturen, die bei der Ausarbeitung eines Textes zunächst niedergeschrieben, im Fortgang der Arbeit aber verändert oder auch völlig ausgelassen wurden (Textversuche oder sog. Entstehungsvarianten). Eindeutig unerhebliche, die Qualität des Textes nicht beeinträchtigende oder modifizierende Varianten und Textansätze werden dabei nicht berücksichtigt" (HSA, Bd. 1 K , l , S. 21). Böhm 1981, S. 93. Böhm 1981, S. 9 4 f.

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rungen) ein gleichermaßen informatives wie praktikables Modell geschaffen haben. Neu und innovativ war außerdem, daß die HSA den dokumentarischen Charakter des Briefs betonte 59 und die Briefe Heines und die Briefe an Heine in jeweils separaten Bänden präsentiert wurden. Aber auch die Düsseldorf Heine-Ausgabe versuchte in der editionswissenschaftlichen Landschaft der 1960er und 1970er Jahre ein eigenes Profil zu erlangen. Manfred Windfuhr polemisierte 1970 folgendermaßen: Die F a c h d i s k u s s i o n der letzten f ü n f z e h n Jahre hat d e n Eindruck hinterlassen, als g e h e es bei einer Edition in erster Linie u m die a n g e m e s s e n e L ö s u n g des Lesartenapparates. So wichtig diese F r a g e ist, sie erfaßt nur ein Teilgebiet der editorischen A u f g a b e n . E b e n s o wichtig sind die Textkritik, die G l i e d e r u n g der G e s a m t a u s g a b e , der B a n d g r u n d r i ß u n d die übrigen Teile des A p p a r a t e s . 6 0

An drei, zentrale editorische Fragen berührende Verfahrensweisen der DHA hat sich die Kritik entzündet: am Verfahren der Restitution, an der Gestaltung des Variantenapparates in der Nachfolge Beißners und an den Kommentarprinzipien. 61 Nachdem die DHA eine sinnvolle, auf ausführlichen Untersuchungen der Überlieferung beruhende differenzierte Auswahl der Grundlagen für den edierten Text vorgenommen hat, hat man sich zusätzlich aufgrund der charakteristischen, besonders durch die Zensur verursachten „Textschäden und -änderungen" 62 für das Verfahren der Restitution entschlossen, um einen möglichst autornahen Text präsentieren zu können, der jedoch eigentlich synthetisch blieb. 63 Ziel der Restitution ist die „möglichste Wiederherstellung des durch Zensoren, Redakteure und andere fremde Hände entstellten originalen Textes" sowie die „möglichste Wiederherstellung der durch Drucker, Korrektoren und Schreiber entstellten originalen Schreibweise" (DHA, Bd. 1,2, S. 1263), also eine strikte Unterscheidung in Autor- und Fremdtext, 64 und dies jeweils auf der Grundlage der letzten autorisierten Textfassung, wobei aber auch der Rückgriff auf autoreigene

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„Die Heine-Säkularausgabe bietet [...] alle von Heine verfaßten Briefe oder Briefentwürfe, seien sie als private Mitteilung an Einzelpersonen gerichtet oder von ihm als öffentliche Stellungnahmen in Tageszeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden. Nicht überlieferte, aber aus den an Heine gerichteten Briefen oder anderen Zeugnissen erschlossene Brieftexte werden, soweit nicht Teile des verlorengegangenen Briefes im Originaltext wiedergegeben werden können, in Form einer Inhaltsangabe mitgeteilt" (HSA, Bd. 20 K, S. 9). Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 24. In seinem die Ausgabe abschließenden Nachwort (DHA, Bd. 16, S. 839) halt Windfuhr nachdrücklich am Prinzip der Restitution und am „Realkommentar" fest. Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 29. Vgl. etwa die von Oellers 1982, S. 42, und auch in seinen Rezensionen der DHA in der Germanistik vorgetragene Kritik am Verfahren der Restitution: „Erschiene einem Heine-Editor ein Engel im Traum und offenbarte ihm, wie der Dichter, wirklich' geschrieben hat: der Editor sollte mit Rücksicht auf diejenigen, zu denen der Engel nicht kommen kann, von der Offenbarung bei der Herstellung eines Textes keinen Gebrauch machen, sich vielmehr bescheiden anzubieten, was die Leser als einmal .wirklich* vorhanden und wirkend erkennen, was sie interpretieren und restituieren können, jeder nach seinem Belieben." Hierzu auch Zinke 1974.

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Druckvorlagen möglich war.65 Alle Restitutionen werden im Apparat in einer gesonderten Rubrik verzeichnet. 66 In der Konsequenz bedeutet das beispielsweise für den von der Zensur beeinträchtigten Text des Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen folgendes: Obwohl die letzte Textfassung als Textgrundlage prinzipiell favorisiert wird, dient in diesem Fall der Erstdruck des Wintermärchens in den Neuen Gedichten als Basis für den edierten Text, um einen von der Zensur unbehelligten Text zu präsentieren, denn die Neuen Gedichte unterlagen nicht der Vorzensur, weil sie mehr als 20 Bogen umfaßten. Die handschriftliche Druckvorlage dient als textkritisches Korrektiv und wird in wenigen Fällen für Eingriffe herangezogen (DHA, Bd. 4, S. 1013). Für den späteren Separatdruck des Wintermärchens war indessen aus Umfangsgründen eine Vorzensur notwendig. Die aus diesem Verfahren resultierenden Textänderungen bzw. Varianten (einschließlich des neu hinzugekommenen Vorworts des Separatdrucks) werden im Apparat bei den Varianten bzw. in einem Textanhang wiedergegeben. Auch die Weiterentwicklung des Beißnerschen Apparatmodells stieß auf Vorbehalte, zumal sich Windfuhr explizit gegen Darstellungsmodelle ausgesprochen hatte, wie sie etwa von Hans Zeller für die Lyrik C. F. Meyers entwickelt worden waren. 67 1968 hatte Windfuhr in seiner Bonner Antrittsvorlesung ein Apparatmodell vorgestellt, das so seine eigene Darstellung - folgende Modifikationen des „Beissnerschen Ansatz[es]" in editionstechnischer Hinsicht enthielt: Normale Streichungen werden nur dann angezeigt, wenn sie absichtlich oder irrtümlich fehlen, sonst gelten sie beim Übergang zur nächsten Schichtensigle per definitionem als vollzogen (mit Ausnahme der als Wiederholungen gekennzeichneten Stellen). Auf en blocStreichungen wird durch Herausgeber-Bemerkung aufmerksam gemacht, weil es sich um größere Vorgänge innerhalb der Handschrift handelt. Um auch sehr verästelte Arbeitsverläufe, besonders in der Prosa, durch fortlaufende Schichtensiglen erfassen zu können, vermehren wir die Zahl der Bezeichnungsmöglichkeiten über Beissner hinaus. Statt der kleinen grie65

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Die Entscheidung fur das Prinzip der späten Hand wird mit „Heines Prinzip der Optimierung" seiner Texte begründet (Hansen 1978, S. 29); vgl. auch DHA, Bd. 1,2, S. 1265: „Diese Tendenz zur Optimalisierung legt es nahe, jeweils die letzte vom Autor durchgesehene Auflage für die historisch-kritische Ausgabe zugrunde zu legen. Heine gehörte nicht zu den Autoren, die ihre Werke aus der Distanz umstülpenden Bearbeitungen unterworfen haben. Dafür war er ständig zu sehr mit der Konzeption neuer Arbeiten beschäftigt, und eine reine rezeptive Altersphase hat er nicht mehr erlebt." Durch aufwendige, später wieder aufgegebene Untersuchungen der Orthographie und Interpunktion Heines sowie durch die Erarbeitung von Wort-Indices hat die D H A versucht, eine materielle und argumentative Basis für die restituierenden Eingriffe in Orthographie und Interpunktion zu schaffen. Vgl. zusammenfassend DHA, Bd. 1,2, S. 1263-1265, und Windfuhr 1998, S. 897f. Windfuhrs Distanz gegenüber Zellers Modell und seine Favorisierung pragmatischer und praktischer Lösungen werden u.a. in folgender Äußerung deutlich: „Methodisch wird der Lesartenapparat der Düsseldorfer Ausgabe an Beissners Schichtenapparat anschließen und die daran geübte Kritik soweit wie möglich innerhalb des Systems berücksichtigen. Die zurückliegende Auseinandersetzung um die beste Form der Lesartenwiedergabe hat den prinzipiellen Vorzug des Beissnerschen Ansatzes nicht erschüttern können, nämlich den genetischen Vorgang der Entstehung durch das Mittel der Schichtung in den wesentlichen Zügen wiederzugeben. Andere Systeme wie das von Hans Zeller sind zwar detaillierter, aber dafür weniger übersichtlich oder auf andere weniger wichtige Ziele wie die Wiedergabe des graphischen Befunds ausgerichtet" (Windführ/Radlik/Weidmann 1970, S. 35). Diese Position wiederholte Windfiihr nachdrücklich in seinem Rückblick auf die DHA (1998, S. 899).

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chischen Buchstaben, die in der Hölderlin-Ausgabe als letzte Stufe verwendet werden, wird eine Reihe mit Fortsetzungscharakter a \ b1, a2, b2, a3, b3 usw. eingeführt. Weitere Änderungen gegenüber Beissner: fVortwiederholungen bezeichnen wir nach der Anregung von Walther Killy mit musikalischen Wiederholungszeichen. Auf unsichere Chronologien verweisen wir mit einem hochgestellten ° hinter dem Wort oder der Schichtensigle (bei ganzen Ästen), wo es sich um allgemeine Unsicherheiten handelt, mit einer Fußnote, wo Alternativen genannt werden können. 68

Windfuhr hatte schon 1962 festgestellt, als er erstmals für sieben Verse aus dem ersten Caput des Atta Troll eine Apparatprobe vorgelegt hatte, daß sich eine modifizierte Form von Beißners Apparat für die Darstellung von Heines Arbeitsweise eigne: „Während Hölderlin Gedankenmassen bewegt, bewegt und mischt Heine das Wortmaterial mit der Energie des Satirikers. [...] Bei Heine geht es mehr um den schicklichen, den treffendsten Ausdruck, das punktuelle Arbeiten, das Verhältnis von Verhüllung und Enthüllung."69 Diesem Verfahren wird der Apparat der DHA in seiner übersichtlichen Gliederung der Textstufen gerecht, wenn auch der kategorische Verzicht, über Art und Ort der Varianten zu berichten, häufig ein Mehr an textgenetischer Information verhindert hat. Auch im Bereich der Texterläuterungen bzw. -kommentierung beschritt die DHA eigene Wege. In den ersten Überlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe war immer wieder auf entsprechende Defizite hingewiesen worden, zumal es außer Frage stand, daß Heines Texte aufgrund ihres intertextuellen Potentials und ihres vielschichtigen Rückgriffs auf zeitgenössische Fakten und Personen für einen heutigen Leser extrem erläuterungsbedürftig sind. Nicht nur die Variantenverzeichnung sondern auch die Textkommentierung der HSA war schon früh als ,asketisch' kritisiert worden, so daß die DHA mit einem „literaturwissenschaftlichen ,Vollkommentar'"70 ein Gegenprogramm entwickelte, das zum Modell für viele in den 1970er Jahren begonnene historisch-kritische Ausgaben wurde, allerdings nicht ohne Widerspruch blieb.71 Die DHA hat ein aufwendiges Kommentarmodell entwickelt und perfektioniert, das Einzelstellenerläuterungen sachlicher Art mit übergreifenden Kommentaren (z.B. thematischer, begriffsgeschichtlicher Art) kombiniert, auf diese Weise „über das enzyklopädische Detailwissen hinaus in semantische und poetische Tiefendimensionen" einfuhrt 72 und auch - sofern sinnvoll - ausfuhrlich aus zeitgenössischen Materialien zitiert oder den Forschungsstand rekapituliert. Ziel dieser Kommentararbeit war die

68 69 70 71

72

Windfuhr/Radlik/Weidmann 1970, S. 36. Windführ 1962, S. 80. Windführ 1991, S. 173, vgl. auch DHA, Bd. 1,2, S. 1271-1274. Mit Blick auf die DHA meinte etwa Koopmann 1987, S. 48: „Kommentare dieses Typs neigen prinzipiell zur End- und Grenzenlosigkeit; was schwerer wiegt, ist die Neigung, die Literatur vor allem als Ausdrucksform historisch-gesellschaftlicher Vorgänge zu verstehen. Auch hierbei sind die Grenzen natürlich nicht scharf zu ziehen, aber es bleibt zu bedenken, ob nicht jeder Schritt in die Geschichte der Zeit hinein ein Schritt aus der Literatur heraus ist. Je voluminöser ein derartiger Kommentar ist, desto weniger wird er praktisch ausgeschöpft; und er entzieht sich damit in gewisser Weise wiederum, de facto jedenfalls, der Nachprüfbarkeit". Windführ 1991, S. 173.

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„Rekonstruktion von Heines intellektuellem, biographischem und zeitgeschichtlichem Horizont, und zwar nicht so sehr im ganzen, sondern vorwiegend im Detail" (DHA, Bd. 1,2, S. 1274): „Es handelt sich also um einen Realkommentar, der gesichertes, wenn auch oft neu erschlossenes Wissen zum besseren Verständnis der edierten Texte mitteilt" (DHA, Bd. 1,2, S. 1271). Dieser „Vollkommentar" ist ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel für jede Form der Annäherung an Heines Texte, zu dem darüber hinaus die materialreichen und detaillierten Überlieferungs- und Entstehungsgeschichten sowie die Aufarbeitung der zeitgenössischen Rezeption hinzukommen.

5.

Resümee

Joseph A. Kruse hat unter der Überschrift „Langsamer Wettlauf' schon 1986 zu Recht prognostiziert, daß beide historisch-kritischen Heine-Ausgaben zukünftig „gleichberechtigt nebeneinander benutzt werden": „Der Schwerpunkt der Weimarer Ausgabe wird beim Briefcorpus liegen, die Düsseldorfer Ausgabe wird wegen der vollständigen Lesarten und des üppigen Kommentars gefragt sein." 73 Daher war es nur folgerichtig, daß Wolfgang Frühwald auf eine Zeitungsumfrage, welche die wichtigste wissenschaftliche deutsche Leistung des Jahres 1997 sei, knapp antwortete: „Der Abschluß der Heine-Ausgabe." 74 Aber dieses hörbare Aufatmen galt auch dem Ende eine Epoche von Editionsquerelen, die gezeigt hatte, auf welche Weise sich Editionen eines Autors politisch und ideologisch bemächtigen konnten. Der ,Fall' Heine ist auch aus editorischer Perspektive ein exemplarischer Fall für die Wissenschaftsgeschichte, der keinesfalls als aufgearbeitet betrachtet werden kann. Im Kontext dieser Wissenschaftsgeschichte nehmen HSA und DHA eine besondere Stellung ein. Die HSA ist neben der Schiller-Nationalausgabe und der Marx-Engels-Gesamtausgabe als wichtiges editorisches Großprojekt von Rang nach der Einstellung der Goethe-Akademieausgabe zu betrachten, das die Kontinuität der Editionsarbeit in der DDR sicherte. In methodischer Hinsicht hat sich aber nur die Konzeption der HSA-Briefbände durchgesetzt. Die DHA ist eine der zentralen Ausgaben, die die methodischen und praktischen Editionsleistungen (insbesondere die Friedrich Beißners) in der Nachkriegszeit rekapitulierte und ,modernisierte'. Allerdings wurde in der editionswissenschaftlichen Diskussion das auf Beißner fußende textgenetische Modell der DHA weitgehend (vermutlich nicht ohne Absicht) ignoriert und nur von wenigen anderen Editionen weitergeführt. Daß die DHA dennoch zur „Blütezeit der Editionswissenschaft" 75 beitrug, hängt sicherlich mit der unübertroffenen Kommentierung der Heine-Texte zusammen. Das große Potential beider historisch-kritischer He ine-Ausgaben wird bis 2007 auch im Internet verfügbar sein. Gegenwärtig wird an einem Heine-Portal gearbeitet, das nicht nur die beiden

73 74 75

Kruse 1968, S. 186. Zitiert nach Kortländer 1998, S. 21. Oellers 1996, S. 106.

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Editionen digitalisiert, sondern sie mit Handschriften, Bild- und Buchbeständen vernetzt. 76

Literaturverzeichnis Editionen CEuvres competes. Paris: Michel Lövy et Frdres 1855-1885. Heinrich Heine's sämmtliche Werke. Rechtmäßige Original-Ausgabe. [Hrsg. von Adolf Strodtmann.] 21 Bde. Hamburg: Hoffmann und Campe 1861-1866; 2. Aufl. 1867-1869; 2 Supplementbde. Hamburg: Hoffmann und Campe 1869, 1884. Heinrich Heines Samtliche Werke. Hrsg. von Ernst Elster. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. 7 Bde. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1887-1890; Neudruck 1893; 2. Aufl. 4. Bde. 1925 [unvollständig]. Heines Werke in zehn Bänden. Unter Mitwirkung von Jonas Fränkel, Ludwig Krähe, Albert Leitzmann und Julius Petersen hrsg. von Oskar Walzel. 10 Bde. und ein Registerbd. Leipzig: Insel 1910-1920. Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Hrsg. von Fritz Strich. 11 Bde. München: Georg Müller 1925-1930. Der Prosa-Nachlaß von H. Heine. Neu geordnet, gesichtet und eingeleitet. Hrsg. von Erich Loewenthal. Hamburg, Berlin: Hoffmann und Campe 1925 (Werke in Einzelausgaben. Mit Bildern aus seiner Zeit. Neu durchgesehene Original-Ausgabe. Hrsg. von G[ustav] A[ugust] Bogeng. 12). Gespräche mit Heine. Zum erstenmal gesammelt und hrsg. von Heinrich Hubert Houben. Frankfurt/Main: Rütten & Loening 1926; 2. Aufl. Potsdam: Rütten und Loening 1948. Heinrich Heine: Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften. Hrsg., eingeleitet und erläutert von Friedrich Hirth. 6 Bde. Mainz: Kupferberg 1950-1957. Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hrsg. von Hans Kaufmann. 10 Bde. Berlin: Aufbau 1961-1964; 2. Aufl. 1972. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. 6 Bde. München: Hanser 1968-1976. Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar [seit 1993: Stiftung Weimarer Klassik] und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin: Akademie-Verlag, Paris: Editions de CNRS 1970ff. [HSA] Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. 16 Bde. in 23. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973-1997. [DHA] Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. von Michael Werner in Fortführung von H.H. Houbens „Gespräche mit Heine". 2 Bde. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973.

Andere Literatur Beißner, Friedrich: Lesbare Varianten. Die Entstehung einiger Verse in Heines ,Atta Troll'. In: Festschrift Josef Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht. Hrsg. von Hugo Moser, Rudolf Schützeichel und Karl Stackmann. Bonn 1964, S. 15-23. Bockelkamp, Marianne: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothdque Nationale Paris. Hamburg 1982. Böhm, Hans: „Bey einem Buche wie dieses, sollte dem Drucker jedes Comma heilig seyn." Zur Edition der Lyrik in der Heine-Säkularausgabe. Ein Arbeitsbericht. In: Zeitschrift für Germanistik 2, 1981, Η. 1, S. 88-95. Eisner, Fritz H.: Notwendigkeit und Probleme einer definitiven Heine-Ausgabe. In: Weimarer Beiträge 3, 1957, S. 283-290. Erler, Gotthard: Heine-Editionen im Aufbau-Verlag. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (Leipzig) 139, 1972, H. 48, S. 926-928. Füllner, Bernd / Liedtke, Christian: Volltext, Web und Hyperlinks. Das Heinrich-Heine-Portal und die digitale Heine-Edition. In: Heine-Jahrbuch 42, 2003, S. 178-187.

76

Vgl. Füllner/Liedtke 2003, Liedtke 2005, s. auch .

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Wolfgang Proß die natali sexagesimo dedicatur

1. Eine Einschätzung der editionsgeschichtlichen Situation dieses Autors muß den äußerst komplizierten Relationen zwischen handschriftlicher Überlieferung, vorhandenen Ausgaben, spezifischen Forschungsinteressen und der allgemeinen Rezeption durch das Lesepublikum Rechnung tragen und, gleichsam über diesen divergenten Positionen stehend, den historischen Gegebenheiten gerecht zu werden suchen. In den zweihundert Jahren seit Herders Tod sind viele Ausgaben mit unterschiedlichen Ansprüchen erschienen, von denen sich nur wenige partiell am Nachlaß orientierten. Sie blieben weit hinter den Wünschen der Spezialisten zurück, boten jedoch für die immer weniger interessierte Leserwelt und auch fur schulische und universitäre Bildungszwecke sowie für hermeneutische Bestrebungen aller Art Stoff zur Genüge. In jüngster Zeit haben Verlage einen Mittelweg gefunden in Studienausgaben, die zur weiteren individuellen Forschung anregen können, aber auf unabsehbare Zeit eine neue kritische Gesamtausgabe verhindern werden, so daß gründliche philologische Arbeiten in zunehmendem Maße am handschriftlichen Nachlaß selbst ausgeführt werden müssen. Wichtige ältere Ausgaben der Werke, die zu ihrer Zeit das Bild des Autors geprägt haben bzw. noch heute gewisse Funktionen erfüllen, sind die erste Gesamtausgabe (Vulgata), die historisch-kritische Gesamtausgabe von Suphan (SWS), zeitlich flankiert von den Auswahl- und Studienausgaben von Düntzer, Matthias, Naumann, an die fünfzig Jahre später die Auswahl von Dobbek (bzw. Otto) anknüpfte. Gegenwärtig stehen ein Reprint von SWS und die neuen Studienausgaben von Proß und von einem Herausgeberteam des Deutschen Klassiker Verlages zur Verfugung. Wichtige Briefausgaben haben Emil Gottfried von Herder, Düntzer, Hoffmann, Schauer und Dobbek zusammengestellt. Die erste wissenschaftliche Gesamtausgabe der Briefe nähert sich allmählich ihrem Abschluß.

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2. 2.1.

Die Ankündigung eines beabsichtigten Raubdrucks seiner Werke durch den Augsburger Buchhändler Christoph Friedrich Bürglen veranlaßte Herder, in verschiedene Zeitungen und Zeitschriften eine vom 24. Juni 1803 datierte Anzeige einrücken zu lassen, in der er gegen diese „unverschämte Dieberei" protestierte und seinerseits eine „Palingenesie seiner Schriften [...] eine durchaus correcte, gewählte, und [...] verjüngte Ausgabe seiner sämmtlichen Schriften" ankündigte. Die Notwendigkeit einer ,Palingenesie' begründete er mit dem zeitmäßigen Interesse und dem gemischten Inhalt vieler Schriften, die er von „allen Jugendfehlern" reinigen und für die Gegenwart lesbar machen müsse.1 Im Auftrag ihres Mannes knüpfte Karoline von Herder bereits im September 1803 Verlagsverhandlungen mit Johann Friedrich Hartknoch jun. an. Nach Herders Tod kamen Georg Joachim Göschen, dann der Berliner Buchhändler Heinrich Frölich in Vorschlag, aber realisiert wurde die Herausgabe von Johann Gottfried von Herder's sämmtlichen Werken schließlich 1805-1820 in Tübingen von Johann Friedrich Cotta. Herausgeber dieser Gedenkausgabe waren Karoline von Herder, ihr ältester Sohn Gottfried, der klassische Philologe Christian Gottlob Heyne und die Brüder Johannes von Müller und Johann Georg Müller. Karoline wirkte trotz ihrer Krankheit (sie starb 1809) unermüdlich mit großer Umsicht und bewundernswerter Sachkenntnis für die Werkausgabe und für die Erhaltung des handschriftlichen Nachlasses, erbat Herders Briefe von den Adressaten zurück und verfaßte aufgrund reichhaltigen Quellenmaterials und aus ihrem Gedächtnis ihre Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder. Nach dem frühen Tod des Arztes Gottfried von Herder (1806) und des Historikers Johannes von Müller (1809) trug Johann Georg Müller, Gymnasialprofessor in Schaffhausen, die Last des Herausgebers allein. Der Hamann-Editor Josef Nadler nannte die „erste der monumentalen Klassikerausgaben" Müllers „eigenstes Werk".2 Die Quellenlage war die denkbar beste: Außer den Erstausgaben, deren über seine und Karolines Korrektormühen obsiegende Druckfehler Herder oft zur Verzweiflung gebracht hatten,3 stand Müller der gesamte handschriftliche Nachlaß (Werkmanuskripte, Entwürfe, Exzerpte, Studienbücher, Korrespondenzen) zur Verfügung, den ihm die Witwe nach und nach übersandt hatte, damit er über die gedruckten Werke hinaus einen Einblick in Herders Gesamtschaffen erhielt und die Vorreden zu den einzelnen Bänden sowie die Biographie dementsprechend ausgestalten konnte. So fugte er z.B. zur Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts oder zu den Briefen, das Studium der

1 2

3

SWS, Bd. 24, S. 581 f. Nadler 1930, S. 87. Als erste große deutsche Klassikerausgaben müssen jedoch vor der Herder-Ausgabe betrachtet werden: Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften. 30 Bde. Berlin 1771-1794, und C.M. Wielands sämmtliche Werke. 42 Bde. Leipzig 1794-1802. Z.B. in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (vgl. DA, Bd. 3, S. 71, Bd. 4, S. 42; SWS, Bd. 5, Vorbericht, S. XXVIJ, 594) und in der Plastik (vgl. DA, Bd. 4, S. 65f.; SWS, Bd. 8, Vorbericht, S. XI).

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Theologie betreffend als separate Anhänge Teile älterer Niederschriften hinzu. Leider ließ er sich trotz seiner Einsicht, daß eine Palingenesie der Schriften nur Herder selbst möglich gewesen wäre, dazu hinreißen, die polemische Schrift An Prediger. Fünfzehn Provinzialblätter völlig umzuarbeiten durch mildernde Kürzungen, Einfügung eigener Textpassagen sowie durch Kontamination mit Stücken einer älteren handschriftlichen Fassung.4 Ähnlich verfuhren Heyne und vor allem Gottfried von Herder mit dem 2. und 3. Kritischen Wäldchen, indem sie die Polemik gegen Christian Adolph Klotz größtenteils tilgten (mehr als ein Drittel des Textes) in dem Bewußtsein, damit Herders Vermächtnis zu erfüllen. 5 Er hatte bekanntlich beide hier genannte Werke immer umarbeiten wollen, aber diese Pläne zugunsten wichtigerer Projekte aufgegeben. Größere Eingriffe in die ebenfalls polemische Älteste Urkunde traute Müller sich glücklicherweise nicht zu, und von der Bearbeitung der Metakritik und der Kalligone hielt ihn ein sachkundiges Gutachten des schwedischen Philosophen Thomas Thorild zurück.6 Seine Bearbeitung von Karolines Erinnerungen lief allerdings auf eine stark kürzende und aus Rücksicht auf noch lebende Zeitgenossen (Goethe!) mildernde Redaktion besonders hinsichtlich der mit Bitterkeit und Abneigung geschilderten Weimarer Verhältnisse - hinaus, so daß der Druck von 1820 das Manuskript nicht ersetzen kann. Dennoch hat der große Biograph Rudolf Haym auch dieser Druckfassung unschätzbaren Quellenwert zuerkannt.7 Immerhin hatte Müller, der Bruder des berühmten Geschichtsschreibers, genügend Sinn für geschichtliche Entwicklung, um in seinen Vorreden zu einzelnen Bänden der Ausgabe entstehungs- und wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge zu beschreiben und unter den Quellenzusätzen der Erinnerungen die wichtigsten nichtausgeführten Entwürfe mitzuteilen, „um zu zeigen, in welchen Ideen dieser große Geist lebte".8 Wie 1803 von Herder selbst angekündigt, wurden seine Schriften in der Gedenkausgabe „gehörig abgetheilt und in Classen geordnet"; das unternahm Johannes von Müller, der sich im Januar 1804 in Weimar aufhielt und zuerst die ungedruckten Manuskripte sichtete.9 Die thematische Dreiteilung in die Abteilungen Zur Religion und Theologie, Zur schönen Literatur und Kunst und Zur Philosophie und Geschichte, gleichsam ein sichtbares „Denkmal" der Vielseitigkeit des Autors, sollte „das Werk als Ensemble von Schriften" in seiner „untergründigen Struktur" aufzeigen, und von diesem Gedanken ließ sich noch der Herausgeber der neuesten Studienausgabe bei der Auswahl der Werke leiten.10 Im 1. Band zur Theologie begründete Müller die Abweichung von einer chronologischen Anordnung damit, daß die Schriften, „so viel ihre im Ganzen fragmentarische Gestalt zuläßt, zu einem etwelchen Ganzen vereinigt werden [sollen], um deutlicher zu zeigen, was der Verfasser in jedem

4 5 6 7 B 9 10

Vgl. SWS, Bd. 7, Einleitung, S. XVII. Vgl. SWS, Bd. 3, Einleitung, S. XVI-XIX. Vgl. Zunker 1961, S. 4 9 1 ^ 9 4 . Vgl. Haym, Bd. 1, Vorwort, S. 3. Karoline 1820, Bd. 2, S. 255; ebd., S. 2 5 5 - 2 7 3 . SWS, Bd. 24, S. 582; vgl. Hoffmann 1952, S. 281. Proß, Bd. 1, S. 933.

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Fach geleistet hat."11 Er beginnt mit dem Hauptwerk in diesem Bereich, Vom Geist der Ebräischen Poesie, und läßt die bibelexegetischen Werke zum Alten und Neuen Testament folgen. In der belletristischen Abteilung stehen am Anfang die Fragmente zur deutschen Literatur, mit denen Herder berühmt wurde, danach wechseln Bände mit Dichtungen und mit Prosaabhandlungen einander ab. In der von Johannes von Müller konzipierten philosophisch-geschichtlichen Abteilung ist der „Strom der Geschichte" in der Themenfolge Die Vorwelt, Präludien [bzw. Propyläen], Ideen zur Geschichte der Menschheit, Postscenien [= Räume hinter der Bühne, Unsterblichkeit und Transzendenz betreffend], Seele und Gott verdeutlicht. Dieser Systematik der Gesamtausgabe fielen die Sammelwerke Von Deutscher Art und Kunst, Zerstreute Blätter, Briefe zu Beförderung der Humanität und Adrastea zum Opfer, deren Briefe, Abhandlungen und Dichtungen nach ihrer jeweils dominierenden Thematik auf verschiedene Bände verschiedener Abteilungen aufgeteilt wurden oder ganz verschwanden, wenn sich kein passendes „Fach" für sie fand. Das ist der Textbefund der Cottaschen Gesamtausgabe, die in mehreren geringfügig veränderten Auflagen und in Nachdrucken weit verbreitet und von 1805 bis etwa 1880, als sie von der Edition Suphans abgelöst wurde, die rezeptionsgeschichtlich wichtigste Herder-Ausgabe war, die - neben den Erstdrucken noch Haym benutzen mußte, da bis zum Abschluß seiner Biographie nur 18 Bände der neuen Gesamtausgabe erschienen waren. 2.2.

Der Berliner Altphilologe und Gymnasialoberlehrer Bernhard Suphan hatte sich die Aufgabe gestellt, die unzulängliche alte Gesamtausgabe durch eine historisch-kritische auf der Grundlage des handschriftlichen Nachlasses zu ersetzen, den durch seine Vermittlung die Erben Herders 1874 für 1000 Taler an die preußische Regierung verkauften zur Aufbewahrung in der Königlichen Bibliothek Berlin (heute Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz) und der ihm zur Benutzung anvertraut wurde. Kleinere Teile des Nachlasses, vor allem Briefe und amtliche Schriftstücke, gelangten 1889 und 1911 als Schenkung der Herderschen Nachkommen in das Goethe- und Schiller-Archiv, dessen Direktor Suphan von 1887 bis 1910 war. Als leitender Herausgeber und einer der Hauptredaktoren der in diesen Jahren entstehenden GoetheAusgabe (Weimarer Ausgabe) hatte er neben Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben und Reisen zur Erwerbung von Autographen ein riesiges Pensum an wissenschaftlicher Arbeit zu erfüllen, das ihm nur wenige Mußestunden für die Herder-Edition ließ. Deswegen beteiligte er an ihr seine im höheren Schuldienst tätigen Freunde in Berlin und Hamburg, Karl Redlich, Reinhold Steig, Otto Hoffmann, Ernst Naumann, August Jacobsen und Rudolf Dahms. Die 1877 bis 1913 in 33 Bänden erschienene Ausgabe Herders Sämmtliche Werke (SWS) wurde die Grundlage für die quellenbezogene Herder-Renaissance am Ende des 19. Jahrhunderts. Wissenschaftshistorisch gehört diese 11

Johann Gottfried von Herder's sämmtliche Werke. Zur Religion und Theologie, l. Teil, S. XIV.

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Edition - das sei vorab gesagt - ebenso wie die von Suphan redaktionell betreute Goethe-Ausgabe zu den noch gegenwärtig unersetzlichen Gipfelleistungen der an den Naturwissenschaften orientierten positivistischen Philologie in der Gründerzeit des Deutschen Kaiserreiches. Es war die dritte historisch-kritische Gesamtausgabe eines deutschen Klassikers nach Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe (1838-1840) und Karl Goedekes Schiller-Ausgabe (1867-1876), und Suphan gedachte gerade im genetischen Herangehen der Spezifik seines Autors gerecht zu werden: Er wies in der Vorrede des ersten Bandes auf „die für das historische Verständniß außerordentlich wichtigen älteren Bearbeitungen" und „eine Fülle von Vorarbeiten und Studien in Excerpten- und Arbeitsheften" hin, denen die früheren Herausgeber nicht die gebührende Beachtung geschenkt hatten. Die Handschriften seien wichtig 1. aufgrund ihrer Eignung, „den inneren Zusammenhang scheinbar getrennter Arbeiten erkennen zu lassen", und 2. „zur Berichtigung des Textes [...] da die Originalausgaben vieler Schriften äußerst fehlerhaft gedruckt sind". Suphan wollte alle druckfertigen Ausarbeitungen aufnehmen, nur ausnahmsweise aber ältere Redaktionen gedruckter Schriften, gar nicht Studien und Stoffsammlungen, Skizzen und Entwürfe aber in einem Supplementband (Bd. 32). Suphan gliederte die Werke in drei Abteilungen - Prosaschriften, poetische Werke, amtliche Schriften; innerhalb der Abteilungen galt die chronologische Anordnung, denn nach Herders eigener „genetischer Betrachtungsweise" sollte die Reihenfolge der Werke „die Entwicklung des Schriftstellers" veranschaulichen.12 Es ist beeindruckend zu sehen, mit welcher Präzision Suphan seine Ausgabe konzipiert hatte, denn genauso wurde sie mit Hilfe seiner Freunde realisiert. Die chronologische Anordnung zeichnete sie vor vielen anderen Editionen aus. Einige Werke wurden in mehreren vollständigen Fassungen geboten (Fragmente, 1. Sammlung; Älteste Urkunde·, An Prediger, Plastik, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele', Wie die Alten den Tod gebildet?·, Volkslieder) bzw. mit den Druckvarianten bei verschiedenen Auflagen {Briefe, das Studium der Theologie betreffend', Zerstreute Blätter) oder mit einer Auswahl aus älteren Niederschriften angereichert (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit', Briefe zu Beförderung der Humanität), alle Bände außerdem mit umfangreichen, äußerst sachkundigen entstehungsgeschichtlichen und textologischen Vor- bzw. Schlußberichten und einem mehr oder weniger ausfuhrlichen Anmerkungsapparat versehen. Mehr als in den meisten anderen damaligen Ausgaben konnte man in dieser wirklich die Genese von einzelnen Werken nachvollziehen, so daß sie lange Zeit als Muster einer historisch-kritischen Edition galt. Erst durch Hans Dietrich Irmschers gründliche Beschäftigung mit dem handschriftlichen Nachlaß zum Zweck seiner Neuordnung und der Erarbeitung des Kataloges (HN) wurde seit 1960 durch Forschungsberichte und exemplarische Textveröffentlichungen Irmschers bekannt, daß Suphan sein „genetisches Prinzip" sehr inkonsequent befolgt, viele wichtige Entwürfe und ältere Niederschriften ignoriert und z.T. fehlerhafte Texte abgedruckt hat und wider sein besseres Wissen um die ganz individuelle Struktur des Herderschen 12

SWS, Bd. 1,S. VI-VIII.

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(Euvres sich vom Begriff des gedruckten Werkes leiten ließ, das allein literarhistorisch auf Mit- und Nachwelt wirken und geistiger Besitz der Nation werden konnte. 13 Trotz aller berechtigten Kritik ist seine Edition noch heute unverzichtbar als die umfassendste wissenschaftliche Herder-Ausgabe, die auch die meisten Texte aus dem Nachlaß enthält. 2.3. Kurze Zeit nach den ersten Bänden der Suphan-Ausgabe - und diese noch auswertend und korrigierend - wurde Heinrich Düntzers Herder 's Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe (Berlin 1867-1879; Hempelsche Ausgabe) abgeschlossen, eine Ausgabe aller gedruckten nichttheologischen Werke. Dem bedeutenden Altphilologen und überaus produktiven Literarhistoriker Düntzer waren aus dem Nachlaß nur Korrespondenzen zugänglich, während er die Werkmanuskripte nicht nutzen konnte. In der Anordnung der Werke richtete er sich z.T. nach der Vulgata, indem er nach literarischen Gattungen gliederte. Andererseits kritisierte er die alte Gesamtausgabe scharf wegen ihrer Textverstümmelungen und der Zerstückelung der Sammelwerke und legte selbst die Erstdrucke zugrunde, von Druckfehlern gereinigt und nach den Grundsätzen der Hempelschen Nationalbibliothek der deutschen Klassiker sprachlich modernisiert. Durch ihre sparsamen, aber meist sachlich wertvollen Anmerkungen, die Angabe von Druckvarianten verschiedener Auflagen und der Vulgata sowie durch die von Haym dankbar benutzten instruktiven Einleitungen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte tendiert diese durchaus verdienstvolle Edition zur Studienausgabe, obwohl sie nach Düntzers patriotischer Absicht breiten Kreisen Quellen darbieten sollte, „an denen der deutsche Geist sich kräftigen" könne, 14 wie es ähnlich auch Suphan im Zeichen der Reichseinigung in seinem programmatischen Vorwort zum Ausdruck gebracht hatte. Auf Düntzers Ausgabe gründeten sich zwei Auswahleditionen des Suphan-Mitarbeiters Ernst Naumann 1908 und - auf den doppelten Umfang erweitert und mit theologischen Werken angereichert - 1912 in Bongs Goldener Klassiker-Bibliothek. In der Reihenfolge der Schriften dominiert bei Naumann aber die Chronologie, während Düntzer alle Gedichte und sonstige Dichtungen und Nachdichtungen (letztere nationalliterarisch gruppiert) an den Anfang stellte, die Hauptwerke, Sammlungen, Abhandlungen und Rezensionen der Weimarer Zeit folgen ließ und am Schluß die Hauptwerke, Abhandlungen und Rezensionen bis 1776 brachte. Die Anmerkungen Naumanns waren reichhaltiger als bei Düntzer und Suphan. - Die beste Auswahl- und Studienausgabe zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber war die von Theodor Matthias in Meyers Klassiker-Ausgaben im Bibliographischen Institut, Herders Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe (1903), deren Texte - in Zweifelsfällen mit dem Erstdruck und der Handschrift verglichen - im wesentlichen der Suphan-Ausgabe folgten.

13 14

Vgl. SWS, Bd. 31, S. VII. Düntzer, 24. Teil, S. XVI.

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Die sachlichen Erläuterungen, meist als Fußnoten, gehen weit über die aller früheren Herder-Ausgaben hinaus; die Lesartenauswahl nach Drucken und Handschriften am Schluß der Bände korrigiert Fehler der Suphan-Ausgabe. In der Auswahl und Anordnung der Texte verbinden sich chronologische und thematische Prinzipien. Aus Umfangsgründen weggelassene Teile von Schriften werden in den auf ein ganzheitliches Weltbild zielenden Einleitungen des Herausgebers ausfuhrlich beschrieben. Der gelungenste Band enthält Herders Volkslieder von 1778/79 mit einem Kommentar, dem die neuesten Ausgaben manche historische Erläuterung verdanken. Statt der psychologisch-thematisch geordneten internationalen Mischung der Lieder kannten die Leser des 19. Jahrhunderts vorwiegend die ziemlich willkürlich nach Himmelsrichtungen und Völkern konstruierte Ausgabe Johannes von Müllers in der Vulgata, Stimmen der Völker in Liedern (1807), die als angeblicher Vollzug von Herders letzter Willenserklärung in der Adrastea in Düntzers Ausgabe tradiert und aus wirklichem Unverstand noch 1972 im Leipziger Ree lam-Verlag separat herausgegeben wurde. - Mit allen diesen Ausgaben war der Bedarf der Leserwelt für lange Zeit gedeckt, und die sich in den 1920er Jahren etablierende geistesgeschichtlich-hermeneutische Literaturwissenschaft war kaum auf Texte angewiesen. Eine umfangreichere thematische Auswahl von Werkauszügen durch Franz Schultz, Gesammelte Werke genannt, erschien während des Zweiten Weltkrieges und wurde nicht mehr beendet.15

2.4.

Nach 1945 empfanden die kontinuierlich seit den 1930er Jahren an den westdeutschen Universitäten lehrenden Ordinarien gewisse Berührungsängste bezüglich Herders, den sie kurz zuvor zum „Propheten Großdeutschlands" und „Ahnherrn der völkischen Nationalerziehung" verfälscht hatten.16 Irmscher, der die quellenbezogene HerderForschung in der BRD neu begründet hat, spricht noch 1963 von „der im westlichen Deutschland (nicht im Ausland und - aus anderen Gründen - auch nicht in Mitteldeutschland [= DDR]) zu beobachtenden verdrossenen oder verlegenen Stimmung Herder gegenüber".17 Für die zahlreichen Herder-Veröffentlichungen in der DDR und ihre berechtigten ideologischen Gründe - der humanistische Denker wurde als Vorkämpfer für nationale Einheit, demokratische Erneuerung und Völkerverständigung geehrt - muß auf die Forschungsberichte verwiesen werden;18 hier genügt es, die wichtigsten Editionen anzuführen. Wilhelm Dobbeks Auswahl Herders Werke in fünf Bänden erschien in der von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar herausgegebenen Bibliothek deutscher Klassiker 1957 bis 1969 in vier Auflagen, eine fünfte, neubearbeitet von Regine Otto, zum 175. Todestag Herders 1978. Alle Auflagen waren jeweils in Kürze vergriffen, entsprachen 15 16 17 18

Vgl. Otto 1994, S. 31 f. Vgl. Schneider 1994, passim. Irmscher 1963, S. 266. Vgl. Arnold 1982a; Otto 1990a.

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- damals! - also einem Lesebedürfnis breiterer Kreise, genügten den unterschiedlichsten Bildungszwecken und wurden auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen der BRD und des Auslandes gern zitiert. Es war die einzige größere Auswahl aus dem Gesamtwerk überhaupt bis zum Erscheinen der Herder-Ausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker des Deutschen Klassiker Verlages. Die Texte folgen, großenteils gekürzt, der Suphan-Ausgabe und sind orthographisch modernisiert. Der Erläuterung dienen eine Leben und Werk im Zusammenhang darstellende Einleitung und die Anmerkungen, die den Ausgaben von Düntzer und Matthias besonders verpflichtet sind. Die Reihenfolge der Texte ist chronologisch, die Auswahl enthält die meisten wichtigen Abhandlungen und Teile der größeren Werke mit Ausnahme der Kritischen Wälder, der antikantianischen und der theologischen Schriften. Von Einzelwerken sind die vorzüglich und extensiv kommentierten Studienausgaben der Ideen zur Philosophie der Geschichte von Heinz Stolpe (1965) und der Briefe zu Beförderung der Humanität von Stolpe und Hans-Joachim Kruse (1971) erschienen, von denen noch die Herausgeber der neuesten Studienausgaben viel profitieren konnten, sowie die ebenfalls sehr gründlich kommentierten, vor allem aber erstmals viele ältere Textfassungen und Entwürfe („Dispositionen und Paralipomena") in genetischer Folge enthaltenden Editionen Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (1985) und Kritische Wälder (1990) von Regine Otto, 19 alle diese Textausgaben mit vorsichtiger Modernisierung der Orthographie, wie sie vergleichsweise auch fur die Editionen des Deutschen Klassiker Verlages trotz des Einspruchs führender Textologen 20 zur Norm gemacht worden sind. 2.5.

Im Rahmen der Bibliothek deutscher Klassiker erschien 1985 bis 2000 die umfassende Auswahledition Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden, durch Teilung des 9. Bandes eigentlich elf Bände, herausgegeben von sechs germanistischen Literaturwissenschaftlern, drei Theologen und einem Pädagogen. Diese Ausgabe, die die meisten im Druck erschienenen Hauptwerke und viele Abhandlungen enthält und gelegentlich sogar mit handschriftlichen Materialien angereichert ist, wird vermutlich als Studienausgabe in der wissenschaftlichen Benutzung die Suphan-Ausgabe allmählich verdrängen, obwohl letztere die einzige vollständige(re) bleibt. Der Hauptgrund für eine solche Entwicklung - schon jetzt wird die Frankfurter Herder-Ausgabe (FHA) oft statt der Suphan-Ausgabe (SWS) zitiert - ist die vorzügliche wissenschaftliche Aufbereitung der Bände mit extensivem Kommentar und Register, was die Benutzung sehr erleichtert. Ähnlich wie die Suphan-Ausgabe ist die Frankfurter im Prinzip chronologisch angeordnet, wobei - wie bei Suphan auch - Dichtungen, theologische und pädagogische Schriften eigene Bände ausmachen. Die Ausgabe enthält weniger Herder-

19 20

Vgl. Otto 1990b, passim. Vgl. Zeller 1990, passim.

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Texte, aber unvergleichlich mehr Editortext als die Suphan-Ausgabe: Auf fast 10000 Seiten edierten Text kommen mehr als 5000 Seiten Kommentar. Der edierte Text gründet sich auf die Erstdrucke bzw. auf Manuskripte aus dem handschriftlichen Nachlaß; bei der Textkonstitution konnten viele Fehler der Suphan-Ausgabe korrigiert werden. Vor allem aber kann man erwarten, daß von der in die neue Ausgabe investierten immensen Kommentierungsarbeit, die dem gegenwärtigen Forschungsstand entspricht, Impulse für ein adäquateres Verstehen der Herderschen Geistesentwicklung, der Ganzheitlichkeit und Kohärenz aller Seiten seines Schaffens ausgehen werden. Die Überblicks- und Stellenkommentare erhellen den geistigen und allgemeinen historischen Hintergrund und die wechselseitigen intertextuellen Beziehungen der Werke untereinander sowie innerhalb der europäischen Aufklärung. Neue Texte gegenüber der Suphan-Ausgabe sind der Versuch über das Sein, die Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose und Zum Sinn des Gefühls (alle schon in älteren Zeitschriften veröffentlicht), Entwürfe zur Oden-Abhandlung und zur Ästhetik Baumgartens, das Ältere kritische Wäldchen (HN), das Schaffhauser Manuskript Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen sowie verschiedene pädagogische Dispositionen, Entwürfe und Instruktionen (HN). Die pädagogischen Schriften sind fast ausnahmslos nach den Handschriften wiedergegeben, weil der entsprechende Band der Suphan-Ausgabe sich als besonders fehlerhaft und unvollständig erwiesen hat. Gelegentlich werden handschriftliche Entstehungsvarianten verschiedener Werke sowie Inhaltsangaben und Beschreibungen älterer Niederschriften im Stellenkommentar zur Erläuterung benutzt, im allgemeinen aber sind textgenetische Aspekte21 schon aus Umfangsgründen in dieser Edition die Ausnahme: Sie kann und will eine historisch-kritische Ausgabe nicht ersetzen. 2.6. Etwa gleichzeitig mit der Frankfurter Herder-Ausgabe wurde eine kleinere systematische Auswahl begonnen, deren letzter Band im Herbst 2002 erschienen ist. Der Herausgeber Wolfgang Proß hat in den drei Bänden Herder und der Sturm und Drang (1984), Herder und die Anthropologie der Aufklärung (1987) und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (2002) Texte ausgewählt, an denen sich die Entwicklung des Herderschen Geistes von den ontologischen Zweifeln des Kant-Schülers bis zur Erfüllung der früh artikulierten Hauptaufgabe, der Darstellung einer „Universalgeschichte der Bildung der Welt", rekonstruieren läßt. Als Bausteine einer „Geschichte der Wissenschaften" waren die vornehmlich auf dem Gebiet von Literatur und Kunst angestellten Untersuchungen nach den Ursprüngen des menschlichen Geistes, der Sprache und der Erkenntnis, Grundlegungen einer sensualistischen Ästhetik und Psychologie sowie einer pantheistischen Naturphilosophie unabdingbare Voraussetzungen für die Ausgestaltung der Geschichtsphilosophie. Ganzheitlichkeit, Kontinuität 21

Vgl. FHA, Bd. 1, S. 837; Bd. 10, S. 987; Arnold 2000, passim.

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und logische Stringenz des Gesamtschaffens sind der anthropologischen Konzeption geschuldet, die sich von den Rigaer Entwürfen bis zum Spätwerk als tragfähige Basis erwies. Der extensive philosophie- und wissenschaftsgeschichtliche Kommentar erläutert die Schriften des Polyhistors Herder aus den Büchern, die er gelesen hat und die in der bisherigen Forschung größtenteils nicht einmal erwähnt worden sind. Interessant ist nicht so sehr die einzelne Stelle, wie in traditionellen Kommentaren, sondern - ein editorisches Novum! - die Erklärung der kontrastiven Paraphrase der ermittelten grundierenden Texte, die die Struktur des Werkes bestimmen. Dabei überlagern sich oft verschiedene grundierende Schichten, was die intertextuellen Beziehungen noch mehr kompliziert. So werden die Ideen in einem Kommentar (Nachwort, Dokumentenanhang und Stellenkommentar) von insgesamt 1350 Seiten verstanden als ein „Kompendium von Anspielungen" auf das gesamte Wissen der Aufklärung, was der Benutzer anhand von Textauszügen aus Quellenschriften von mehr als hundert Autoren von der Antike bis ins späte 18. Jahrhundert nachvollziehen kann. Es handelt sich hierbei um eine Studienausgabe für Gelehrte, deren Kommentar höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und für zahllose weitergehende Spezialforschungen wertvolle Anregungen bietet. Auch diese Ausgabe bringt einige bisher ungedruckte Texte aus dem handschriftlichen Nachlaß: Nexus Psychologiae cum ceteris scientiis Philosophicis; William Cheselden, An account of some observations made by a young gentleman, who was born blind; De I 'instinct moral aus Jean Baptiste Rene Robinet, De la nature; Grundsätze Spinoza-, Kurzer Begriff einer allgemeinen Weltgeschichte·, älteste Niederschrift des Kapitels über die Regierungen aus dem 9. Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2.7. In mehr als zehnjähriger Arbeit ist der 1979 erschienene Katalog von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders entstanden, ein unschätzbares Hilfsmittel fur die Herder-Forschung und -Edition, detaillierter Schlüssel zu 5317 Einzelhandschriften in 45 Kapseln.22 Die beiden neuesten Studienausgaben, aber auch einzelne Forschungen hätten ohne ihn so nicht ausgeführt werden können. Wie Irmscher erklärt, ist er „ausdrücklich als Vorbereitung zu einer jeden künftigen Edition konzipiert und angelegt worden." 23 Die Anordnung der Werkmanuskripte folgt im wesentlichen der Suphan-Ausgabe: Abhandlungen, Nachdichtungen und Übersetzungen, eigene Dichtungen, Schulreden, Predigten; danach Studienbücher, das Manuskript zu Karoline von Herders Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder, Briefe von und an Herder. Fünf Register erfassen alle Werktitel, Namen, wichtige Begriffe und aufschlußreiche Zusammenhänge, die im Nachlaß enthaltenen Briefe und die Anfänge von Herders Gedichten und helfen, die

22 23

Vgl. Arnold 1982b, passim. Irmscher/Adler 1979, Vorwort, S. XIV.

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thematische Streuung in dem Verzeichnis zu überwinden.24 In der enzyklopädischen Vielfalt der Exzerpte dieses Nachlasses spiegelt sich eine partiell noch polyhistorische Wissenschaftsauffassung. 2.8.

Seit 1960 wurde von Hans Dietrich Irmscher, der 1964 Herders Vorlesungsnachschriften von Kants Vorlesungen 1762-1764 in Auswahl ediert hatte,25 wiederholt eine Ausgabe von Herders Studien und Entwürfen aus dem Nachlaß und auf der Grundlage des entstehenden Katalogs angekündigt als „eine Korrektur und Ergänzung der Suphanschen Ausgabe".26 Es sollten drei bis vier Bände werden zu den Sachgebieten Philosophie, Poetik und Literaturgeschichte, Theologie und vergleichende Religionsgeschichte, Pädagogik und Autobiographisches. Nach der Stufe der Ausarbeitung sollten folgende Textgruppen aufgenommen werden: Exzerpte, die in eigene Entwürfe übergehen, Dispositionen und erste Niederschriften. Da es voraussichtlich eine Studienausgabe für relativ wenige wissenschaftlich Interessierte sein würde, käme es für den Editor hauptsächlich auf die sachkundige Auflösung von Herders spezieller Kurzschrift an, während der Kommentar knapp sein könnte, da vieles vorauszusetzen wäre.27 Bisher ist von diesem wichtigen Projekt noch nichts erschienen. Herders Entwürfe, besonders die aus der Jugendzeit, sind von größter Bedeutung für die Geschichte seines Geistes; man kann auf sie anwenden, was Herder von der Erstlingsschrift des jungen Winckelmarui gesagt hat: „Er spricht noch, wie die Wilden, Alles so viel möglich, auf Einmal aus, seine Seelenkräfte sind noch unzertheilet."28 Die Entwürfe sind, wie an der Edition der Exposes zur Adrastea29 zu erkennen ist, oft inhaltsreicher als die spätere Ausführung. Besonders in der Bückeburger Zeit ist von einem Simultanschaffen des Autors zu sprechen und vom Ensemblecharakter seiner Werke, der sich aus der Abzweigung von Teilen des ursprünglichen Projekts und ihrer Ausführung in gleichzeitigen separaten Schriften ergibt. Die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts als Hauptschrift dieser Periode bildet mit den gleichzeitigen Publikationen Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, An Prediger. Fünfzehn Provinzialblätter, Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neueröffneten Morgenländischen Quelle und mit dem Manuskript Johannes Offenbarung einen Zyklus. Wer z.B. die Geschichtsphilosophie losgelöst von der nach Zeit und Stoff vorausgehenden Urkunde interpretiert, gelangt hinsichtlich ihrer Konzeption zu Fehleinschätzungen.30

24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Adler 1976, passim. Innscher 1964. Irmscher 1960, S. 15. Vgl. Irmscher 1980, passim. Denkmahl Johann Winkelmanns, ältere Niederschrift; SWS, Bd. 8, S. 451. Vgl. Arnold 2000, passim. Vgl. Jorgensen 1984, passim.

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2.9.

Die ersten Veröffentlichungen von Briefen bzw. Briefauszügen Herders finden sich in Karoline von Herders Erinnerungen in der ersten Gesamtausgabe der Werke. 1846 folgte Johann Gottfried von Herder 's Lebensbild von seinem Sohn Emil, eine dichte Folge von Briefen von und an Herder bis 1771, von Gedichten, Rezensionen und ungedruckten Jugendwerken, darunter das Vierte kritische Wäldchen. Heinrich Düntzer gab nach der Jahrhundertmitte außer Herders nichttheologischen Werken drei wichtige Briefsammlungen heraus, die z.T. heute noch nicht durch neuere Editionen ersetzt sind: Aus Herders Nachlaß, Von und an Herder, Herders Reise nach Italien. Von letzterer kamen zwei neuere Ausgaben heraus: 1980 von Walter Dietze/Ernst Loeb, 1988 von Albert Meier/Heide Hollmer, jeweils ergänzt durch das vom Unterzeichneten aus der Kurzschrift transkribierte fragmentarische Reisetagebuch. Die beiden anderen Sammlungen sind wertvoll durch eine Vielzahl von Briefen verschiedener bedeutender Absender an Herder, die seitdem nicht wieder gedruckt worden sind. Trotz der Verdienste Düntzers um die Überlieferung der Quellen (insgesamt ca. 1500 Briefe, davon die meisten an Herder) muß gesagt werden, daß diese Texte philologisch nicht einwandfrei sind und nicht nur viele Lesefehler, sondern aus Rücksicht auf die Nachkommen auch viele willkürliche Kürzungen und Veränderungen enthalten. Es waren Ausgaben ohne Kommentar. - 1879 kündigte Bernhard Suphan an, Herders Sämmtlichen Werken die „Correspondenz [...] in vollständiger Sammlung" folgen zu lassen.31 Sein Freund und Mitarbeiter an der Werkausgabe Otto Hoffmann veröffentlichte 1887 den Briefwechsel mit Nicolai und 1889 die Briefe an Hamann nach den Handschriften. 1912 konstituierte sich in Weimar eine Herder-Stiftung, in deren Auftrag der Mühlhausener Oberstudiendirektor Hans Schauer 1919 mit den Vorarbeiten fur eine Briefsammlung begann. Dabei half ihm später der Leiter der Weimarer Landesbibliothek Hermann Blumenthal. 1926 und 1928 gab Schauer in den Schriften der Goethe-Gesellschaft den Brautbriefwechsel kommentiert heraus, 1930 in der Herderschen Familiengeschichte viele Briefe der Angehörigen. Der Plan einer fünfbändigen Briefausgabe scheiterte unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit. Erst in den späten fünfziger Jahren nahm der durch zahlreiche Publikationen über Herder bekannte Oberstudiendirektor Wilhelm Dobbek im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs die Arbeiten für eine Gesamtausgabe der Briefe Herders wieder auf.32 1959 legte er vorläufig eine Auswahl mit mehr als zweihundert, z.T. gekürzten Briefen vor. Bei seinem Tod 1971 hinterließ er ein Typoskript von ca. 1800 Briefen, das vom Unterzeichneten überarbeitet, fortgeführt, vervollständigt und erweitert wurde. Die 1977 bis 1988 erschienenen Textbände enthalten 2772 Briefe. Damit die für viele Wissenschaftsdisziplinen interessanten Texte in möglichst kurzer Zeit von der Aufklärungsforschung genutzt werden konnten, wurden sie nach dem Vorbild der Weimarer Goethe-Ausgabe (WA) zunächst nur mit einem textologischen Apparat versehen, die 31 32

Suphan 1879, S. 85. Vgl. DA, Bd. 1, Vorwort, S . l l .

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eigentlichen Erläuterungen aber für separate Kommentarbände aufgeschoben, die auf der Grundlage aller Texte und mit Hilfe des seit 1996 vorliegenden, ungewöhnlich detaillierten kommentierenden Registerbandes mit Enzyklopädiecharakter 33 im Zusammenhang erarbeitet werden - gewissermaßen als geistige Rekonstruktion eines reichen Lebens. Aufgrund aller vorliegenden Brieftexte konnten die Entstehungsgeschichten und Kommentare in der Werkausgabe des Deutschen Klassiker Verlages erarbeitet werden. Da der Vorschlag einer (Misch-)Edition der mindestens 2500 überlieferten Briefe an Herder in Form von Volltexten und Regesten 34 auf keine Resonanz seitens der Verlage gestoßen ist, werden die für das Verständnis der Herder-Briefe wesentlichen Stellen aus den Gegenbriefen zitiert oder zusammenfassend wiedergegeben. Die philologischen, historischen, philosophischen und theologischen Erläuterungen in den Stellenkommentaren ergänzen und differenzieren die Registerangaben (Herders Werke; Personen und ihre Werke [dieser Teil auch im Internet]; Periodica und nichtermittelte Anonyma; biblische Personen; Mythologie und Sagenwelt; geographische Namen) noch weiter, die mit in die Kommentierung einbezogen sind. Am Schluß der Ausgabe wird ein vollständiges Bibelstellenregister, das aus Umfangsgründen aus dem Druckmanuskript des Registerbandes zurückgestellt worden ist, den Gebrauch des biblischen Wortes in der Alltagssprache Herders dokumentieren.

3. Für die Geschichte der Editionswissenschaft ist bisher nur die Suphan-Ausgabe (2.2) von Bedeutung gewesen - als Muster einer historisch-kritischen Ausgabe mit Ansätzen zur Textgenese. Durch die genaue Untersuchung des handschriftlichen Nachlasses ist der Ruf dieser Edition als eines Meisterwerkes der positivistischen Philologie etwa seit 1960 weitgehend beeinträchtigt worden. Aus Gründen des Umfangs und des ungenügenden gesellschaftlichen Interesses an dem Autor Herder ist aber mit der Entstehung einer neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe unter Einbeziehung des Nachlasses, geschweige denn der Erarbeitung einer großen textgenetischen Edition, nicht zu rechnen. In der wissenschaftlichen Benutzung werden - bei eingeschränktem Textbestand - voraussichtlich die neuesten Studienausgaben (2.5, 2.6) an die Stelle der SuphanAusgabe treten. Trotz spürbarer Ressentiments der ,reinen' Textologen gegen eine Verbindung von Edition und Hermeneutik und gegen eine philosophische Theoriebildung innerhalb der Editionswissenschaft ist Unterzeichneter davon überzeugt (und hat sich als Rezensent dafür engagiert), daß die Kommentierungsmethode der neuesten Studienausgabe von Proß (2.6) zumindest fur philosophisch-wissenschaftliche Werke editorische Maßstäbe setzt: Die Hauptaufgabe des Kommentators sei die Erschließung der grundierenden Texte aus der Lektüre des jeweiligen Autors und dessen Eingliede-

33 34

Vgl. Arnold 1993a, passim; Woesler 1998, passim. Vgl. Arnold 1993b, passim.

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rung in die „Kette der Tradition" (Herder). 35 - „Wir sind nur Originale, weil wir nichts wissen" (Goethe). 36

Literaturverzeichnis Editionen Johann Gottfried von Herder's sämmtliche Werke. Zur Religion und Theologie. Zur schönen Literatur und Kunst. Zur Philosophie und Geschichte. Hrsg. von Maria Carolina von Herder, Wilhelm Gottfried von Herder, Christian Gottlob Heyne, Johann Georg Müller, Johannes von Müller. 45 Teile. Tübingen: Cotta 1805-1820. Oktav (Kleinoktav-Ausgabe in 60 Teilen. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1827-1830; dieselbe Ausgabe in 40 Bänden. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1852-1854). Erinnerungen aus dem Leben Joh. Gottfrieds von Herder. Gesammelt und beschrieben von Maria Carolina von Herder, geb. Flachsland. Hrsg. durch Johann Georg Müller. 2 Teile. Tübingen: Cotta 1820. [Karoline 1820] Johann Gottfried von Herder's Lebensbild. Sein chronologisch-geordneter Briefwechsel. Hrsg. von seinem Sohne Dr. Emil Gottfried von Herder. 3 Bände (in 6 Teilen). Erlangen: Bläsing 1846. Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius, Lavater, Jacobi und andern bedeutenden Zeitgenossen. Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. 3 Bde. Frankfurt/Main: Meidinger 1856/57. Herders Reise nach Italien. Herders Briefwechsel mit seiner Gattin, vom August 1788 bis Juli 1789. Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. Gießen: Ricker 1859. Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. 3 Bde. Leipzig: Dyck 1861/62. Herder's Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet von Heinrich Düntzer. 24 Teile. Berlin: Hempel 1867-1879. [Düntzer] Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin: Weidmann 1877-1913. Reprint: Hildesheim: Olms 1967/68 und 1994. [SWS] Herder's Briefwechsel mit Nicolai. Im Originaltext hrsg. von Otto Hoffmann. Berlin: Nicolai 1887. Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hrsg. von Otto Hoffmann. Berlin: Gaertner 1889. Herders Werke. Hrsg. von Prof. Dr. Theodor Matthias. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. 5 Bde. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1903 (Meyers Klassiker-Ausgaben). Herders Werke. Hrsg., mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Ernst Naumann. 15 Teile. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Bong 1912 (Bongs Goldene Klassiker-Bibliothek). Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. von Hans Schauer. 2 Bde. Weimar: Goethe-Gesellschaft 1926, 1928 (Schriften der Goethe-Gesellschaft. 39 und 41). Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen, von Peter von Gebhardt und Hans Schauer. 2 Teile. Leipzig: Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 1930 (Beiträge zur deutschen Familiengeschichte. 11). Herder: Gesammelte Werke. Hrsg. von Franz Schultz. 5 Bde. [von geplanten 7]. Potsdam: Rütten & Loening 1939-1943. Herders Werke in fünf Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Dobbek. Weimar: Aufbau 1957 (Bibliothek deutscher Klassiker). 2.-4. Aufl. 1963, 1964, 1969. - 5. Aufl., Neubearbeitung von Regine Otto, 1978. Herders Briefe. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Wilhelm Dobbek. Weimar: Volksverlag 1959. Neubearbeitung von Regine Otto 1970 (Bibliothek deutscher Klassiker); 2. Auflage 1983. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. von Heinz Stolpe. 2 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1965. Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität. Hrsg. von Heinz Stolpe in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kruse und Dietrich Simon. 2 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1971. Johann Gottfried Herder: „Bloß für Dich geschrieben." Briefe und Aufzeichnungen über eine Reise nach Italien 1788/89. Hrsg. von Walter Dietze und Ernst Loeb. Berlin: Rütten & Loening 1980.

35 36

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, SWS, Bd. 13, S. 352. Zur Morphologie. Erster Theil. Verfolg. Schicksal der Druckschrift·, WA II 6, S. 147.

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Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Im Auftrage der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur hrsg. von Regine Otto. Berlin, Weimar: Aufbau 1985. Johann Gottfried Herder: Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788-1789. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Albert Meier und Heide Hollmer. München: Beck 1988. - 2 . Aufl. 2003 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Im Auftrage der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar hrsg. von Regine Otto. 2 Teilbde. Berlin, Weimar: Aufbau 1990. Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold, Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Christoph Bultmann, Ulrich Gaier, Gunter E. Grimm, Hans Dietrich Irmscher, Rudolf Smend, Rainer Wisbert, Thomas Zippert. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985-2000. [FHA] Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Wolfgang Proß. 3 Bde. (in 4). München: Hanser 1984, 1987, 2002. [Proß] Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Unter Leitung von Karl-Heinz Hahn hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Stiftung Weimarer Klassik. Bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. 11 Bde. Weimar: Bühlau Nachf. 1977-2001. [DA] Immanuel Kant: Aus den Vorlesungen der Jahre 1762 bis 1764. Auf Grund der Nachschriften Johann Gottfried Herders hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Köln: Kölner Universitäts-Verlag 1964 (Kantstudien. Ergänzungsheft 88). [Irmscher 1964] Johannes von Müller: Briefwechsel mit Johann Gottfried Herder und Caroline v. Herder geb. Flachsland 1782-1808. Hrsg. von K[arl] E[mil] Hoffmann. Schaffhausen: Meier 1952. [Hoffmann 1952]

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178

Günter Arnold

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Gabriele

Radecke

Heym-Editionen

1.

Probleme der Nachlaßedition: Zur handschriftlichen Überlieferung und dichterischen Arbeitsweise

Die Editionsgeschichte von Georg Heyms Werk ist die Geschichte einer Nachlaßedition. Als Heym am 16. Januar 1912 gestorben war, hatte er neben wenigen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Almanachen1 nur eine Ausgabe von 41 ausgewählten Gedichten in der Sammlung Der ewige Tag selbst herausgebracht.2 Der Nachlaß des 24jährigen ist umfangreich und disparat. Er enthält nicht nur .vollendete', sondern auch zahlreiche .unvollendete' Texte: Poetisches (Lyrik, Prosa und Dramen), Autobiographisches (Tagebücher, Briefe von und an Georg Heym sowie Briefe Dritter), Juristische Arbeiten, eigenhändige Zeichnungen, Porträts und eine Sammlung von Zeitungen und Theaterprogrammen. Die lyrischen Texte, die auf einzelnen losen Blättern, in Notizheften oder in Gedichtbüchern aufgeschrieben wurden, sind als Stichwortentwürfe, Versentwürfe, ausgearbeitete Strophenniederschriften, Reinschriften und Druckvorlagen sowie als Abschriften anderer überliefert.3 Die Herausgeber haben sich auf unterschiedliche Weise mit den Schwierigkeiten dieser umfangreichen NachlaßÜberlieferung auseinandergesetzt: Sichtung und Ordnen des Materials, Entziffern der mehrfach geschichteten Handschriften und schließlich die Rekonstruktion der entstehungsgeschichtlichen Chronologie und der Textgenesen. Hinzu kamen vielfältige Probleme, die auf Heyms Schreib- und Arbeitsweise zurückzufuhren sind. Denn die große Anzahl der Handschriften zeugt - ähnlich wie bei anderen expressionistischen

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Ab Oktober 1910 wurden z.B. vereinzelte Gedichte in den Zeitschriften Herold und Der Demokrat vorgelegt, im Mai 1911 folgten weitere Veröffentlichungen in der Wochenschrift Die Aktion. Heyms Gedichtauswahl Der ewige Tag erschien Ende April 1911 bei Ernst Rowohlt in Leipzig und enthält eine Auswahl der 1904 bis 1910 entstandenen Gedichte. Heym hat nicht nur die Drucklegung gründlich überwacht, sondern zuvor schon eine sorgfältige Zusammenstellung seiner Gedichte vorgenommen und den endgültigen Titel festgelegt. Bis zuletzt hat Heym neben den Korrekturarbeiten auch noch inhaltliche Veränderungen ausgeführt wie die Textanordnung, Textumschreibungen oder die Neuaufnahme des Gedichtes Sonnwendtag. Der ewige Tag umfaßt 41 .abgeschlossene' Gedichte in der von Heym autorisierten Druckgestalt mit ihren Modernisierungen und Normierungen durch die verlagseigene Orthographie und Interpunktion; das geplante Vorwort und der Epilog des Autors wurden nicht realisiert. Mit der Herausgabe von Heyms Der ewige Tag stellte der Rowohlt-Verlag nicht nur einen neuen Autor der Öffentlichkeit vor, sondern er leistete darüber hinaus auch „eine bedeutende Pioniertat für die beginnende Bewegung des Expressionismus". Der Band bildete fortan die Textgrundlage für alle weiteren Editionen. Zur Entstehung der Autoredition vgl. Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 13-28. Einen genauen Überblick über Heyms Nachlaß findet man in Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 3-12.

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Schriftstellern4 - von einer enormen Produktivität. Darüber hinaus dokumentieren die Handschriften den individuellen Schreib- und Arbeitsstil mit seinen hastigen Schreibbewegungen, den Abkürzungen, Abbruchen, Unterbrechungen und Neuansätzen, die nicht immer in eine logisch-geordnete Textstruktur münden. Die Handschriften enthalten nur wenige punktuelle Varianten und bezeugen ein „progressives Arbeiten",5 das sich gerade nicht in nachträglich variierenden Revisionen, 6 sondern vielmehr in dem ständigen Abbrechen und sukzessiven Neuschreiben von Textstufen 7 äußert. Ein weiteres Problem schließlich ist Heyms kreativer Umgang mit der Sprache, der besonders bei der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten sichtbar wird. So finden sich viele Veränderungen bis in die letzten Textstufen hinein, die sich wegen einer fehlenden grammatischen und inhaltlichen Kongruenz nicht mehr in den Kontext der Grundschicht einordnen lassen und die nur noch als Assoziationen im Textentstehungsprozeß gedeutet werden können. Der sonst übliche „funktionale Zusammenhang" zwischen Lexikon und Syntax ist damit aufgehoben. 8 Die Unabgeschlossenheit der lyrischen Texte zeigt sich also nicht nur an inhaltlichen und sprachlichen Merkmalen, sondern auch in der Materialität der Handschriften und in der individuellen Arbeitsweise. Die nachgelassenen Gedichte sind damit auf verschiedenen Ebenen „höchst instabile Gebilde, im steten Umbildungsprozeß begriffen", sie gewinnen in dieser Tendenz „zur fortwährenden Veränderbarkeit ihren eigentlich poetischen Charakter" und präsentie-

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Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Martens: Die Funktion des Variantenapparates in Nachlassausgaben expressionistischer Lyrik, in dem er auf weitere Gemeinsamkeiten der Autoren der expressionistischen Generation hinweist. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sie „nur einen kleinen Teil ihrer Werke selbst veröffentlichen konnten, daß ihre Dichtungen oftmals keine für den Druck gültige Gestalt erlangt haben und in mehr oder minder bearbeiteten Nachlassausgaben eine erste Öffentlichkeit fanden" (Martens 1977, S. 81). Dammann 1971, S. 67. Der in der neugermanistischen Editionsphilologie und auch bei Dammann und Martens immer noch verwendete Begriff , Korrektur' als Sammelbezeichnung für verschiedenartige Überarbeitungsformen und Schreibbewegungen ist zu ungenau, um die einzelnen Vorgänge im Werkentstehungsprozeß exakt zu beschreiben. Aus diesem Grund wird hier der in der Anglistik eingeführte Terminus ,Revision' übernommen und der Korrekturbegriff nur noch im traditionellen Sinne für die tatsächlichen Korrekturen der Abschriften und Druckfahnen gebraucht. Im Gegensatz zum Korrekturbegriff meint .Revision' den eigentlichen Überarbeitungsvorgang, dem nicht die Annahme von sprachlichen Textfehlern vorausgeht, sondern eine kritische Lektüre des Autors im Schreib- und Textentstehungsprozeß. Vgl. zur Terminologie Gabler 1995, S. 179. Der Begriff .Textstufe' ist von Dammann und Martens im Zusammenhang mit der Arbeit an der HeymHKA eingeführt worden. Er bezeichnet eine „grundlegende Einheit des Textbildungsprozesses". Textstufen präsentieren somit „die einzelnen Bearbeitungsstadien, die ein Gedicht in seiner Genese durchläuft". Die Textstufen werden „durch den Textträger selbst oder durch die Position auf dem Textträger, durch inhaltliche, poetologisch-formale und graphische Aspekte und schließlich auch durch den Zeitpunkt der Entstehung" voneinander abgetrennt. Der Begriff ist „im Werdeprozeß eines Textes als größere Einheit der Fassung übergeordnet", da sie im Revisionsprozeß mehrere Textfassungen enthalten kann. Die Textstufe fungiert als eine editorische „Darstellungseinheit", die einer „interpretatorischen Operation" bedarf (vgl. Martens 1971, S. 179f„ und Zwerschina 1998). So findet man Beispiele des „Zusammenstellenfs] von Wörtern, das nicht von den Regeln der satzbildenden Operation bestimmt ist." Zur Arbeitsweise Heyms im ästhetischen Zusammenhang und in Verbindung mit der Struktur des .fertigen' Textes vgl. Dammann 1971 und Martens 1987.

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ren den „Typus des dynamisch offenen Dichtertextes" ohne eine feste Teleologie der Textbildung.9

2.

Überblick über die populären Ausgaben und wissenschaftlichen Editionen

Eine besondere editorische Herausforderung bildete die Herausgabe von Heyms nachgelassenen Gedichten, auf die sich der folgende Überblick konzentriert. Die Herausgeber haben ihre Prinzipien der Textkonstitution von verschiedenen Faktoren abhängig gemacht: von den Vorstellungen eines bestimmten Autor- und Textbildes und der Rolle des Editors, von den Überlieferungsbedingungen, den handschriftlichen Befunden und ihrer Deutungen sowie von der dichterischen Arbeitsweise. Die Geschichte der Nachlaß-Editorik hat schon kurz nach Heyms Tod eingesetzt. Die ersten Heym-Editionen sind geprägt durch die Absicht der Herausgeber, die wichtigsten unbekannten Gedichte ihres Freundes möglichst schnell zu verbreiten. So wurden populäre Ausgaben in leserfreundlich edierten Texten ohne komplexe Apparate und ausfuhrliche editorische Berichte vorgelegt. Hinzu kommt, daß die Herausgeber in ihren editorischen Entscheidungen beeinflußt waren von den Wünschen der Familie und den verlagsrechtlichen Verpflichtungen. Die wissenschaftliche Editorik begann gut vierzig Jahre nach Heyms Tod, als mit der Übergabe des Nachlasses an die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky im Jahre 1955 der Zugang zu den Handschriften uneingeschränkt ermöglicht wurde. Wegen ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung werden im folgenden zunächst die beiden nachgelassenen Gedichtsammlungen Umbra vitae (1912) und Der Himmel Trauerspiel in den Dichtungen (1922) vorgestellt. Anschließend werden dann die wissenschaftlichen Editionen, die kritische Ausgabe der Dichtungen und Schriften (1962-1968) und die Historisch-kritische Ausgabe Gedichte 1910-1912 (1993) mit ihren unterschiedlichen textkritischen Verfahrensweisen diskutiert. 2.1.

Editoren als .Testamentsvollstrecker': Die beiden ersten Sammlungen der nachgelassenen Gedichte Umbra vitae (1912) und Der Himmel Trauerspiel in den Dichtungen (1922)

Die erste Zusammenstellung der nachgelassenen Gedichte, Umbra vitae, erschien im Juni 1912, ein halbes Jahr nach Heyms Tod; die zweite Sammlung, Der Himmel Trauerspiel, folgte 1922 im Rahmen einer ersten geplanten Gesamtausgabe der Dichtungen.

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Martens 1998b, S. 68; vgl. auch Martens 1998a, S. 112, und zuletzt Martens 2000, S. 207.

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2.1.1. Umbra vitae (1912) Die erste Sammlung der postum herausgebrachten Gedichte, Umbra vitae, ist unter einem großen Zeitdruck entstanden, denn von der Idee bis zur Herausgabe der Gedichte sind gerade einmal sechs Monate vergangen. Die Ausgabe wurde besorgt von Heyms engsten Freunden aus dem Neuen Club, dem ersten Organisationszentrum der expressionistischen Bewegung, in dem Heym seine Gedichte vorgetragen hatte. Die fünf Herausgeber, David Baumgardt, Golo Gangi (d. i. Erwin Loewenson), Wilhelm Simon Guttmann, Jakob van Hoddis und Robert Jentzsch, der Verleger Ernst Rowohlt und nicht zuletzt der Vater Hermann Heym beabsichtigten, der Öffentlichkeit möglichst schnell eine Auswahl von Heyms bedeutendsten Gedichten vorzustellen und einen Band zu liefern, der an den Erfolg der ersten Sammlung Der ewige Tag anknüpfen und Heyms Namen als Lyriker im kulturellen Gedächtnis bewahren sollte. Nicht nur das Drängen des Verlegers, sondern auch verschiedene Rücksichtnahmen gegenüber dem Vater ließen dem Herausgeberteam unter anderem keine Möglichkeit für unabhängiges philologisches und textkritisches Arbeiten; hinzu kamen verschiedene Spannungen unter den Freunden, die das editorische Unternehmen belastet haben. Der ursprüngliche Plan, die Gedichte allmählich in einer Reihe von Heym-Jahrbüchern zu veröffentlichen, scheiterte am Einspruch Rowohlts, an den sich Heym für zukünftige Publikationen vertragsrechtlich gebunden hatte. Erst nachdem Hermann Heym und Ernst Rowohlt überzeugt wurden, daß Heym offenbar seinen Freund Guttmann zum Nachlaßverwalter bestimmt hatte,10 kam es am M.Februar 1912 zu einem Vertrag zwischen dem Vater und dem Verlag, auf dessen Grundlage dann die Vorbereitungen für die Ausgabe durch den Freundeskreis fortgeführt werden konnten. Ende März 1912 legten die Freunde das Druckmanuskript mit den 43 Neuen Gedichten vor, und im Juni 1912 erschien bereits der Band unter dem Titel Umbra vitae.11 Der Nachlaßband Umbra vitae ist hinsichtlich der textkritischen Beurteilung die „fragwürdigste Ausgabe in der Textüberlieferung der Lyrik Heyms". 12 Es gibt zwar einige Entscheidungen, für die die Herausgeber nicht verantwortlich gemacht werden können, weil sie aufgrund der Verpflichtungen gegenüber dem Vater und dem Verleger zustande gekommen waren.13 Insgesamt aber zeigen die makrostrukturellen Verfahrensweisen der Textkonstitution, daß die Herausgeber in ihren editorischen Prinzipien weniger durch die materiale und inhaltliche Beschaffenheit der Handschriften als vielmehr durch ihre eigenen Vorstellungen von einem bestimmten Autor- und Textbild geleitet worden sind. Wie viele ihrer zeitgenössischen Kollegen haben sich die Her-

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11 12 13

Vgl. Guttmanns Brief an Rowohlt, 29. Januar 1912, der auf Heyms Brief vom 31. Dezember 1910 Bezug nimmt, abgedruckt in Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 30. Vgl. Martens 1965, S. 120f. Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 35. So wurde z.B. nicht nur die Widmung des Gedichts Deine Wimpern, die langen an Hildegard Kfrohn] auf nachdrücklichem Wunsch von Hermann Heym getilgt, sondern es durften aus diesem Grund auch manche Strophen anderer Gedichte nicht veröffentlicht werden.

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ausgeber als Testamentsvollstrecker' verstanden, 14 die sich durch ihre persönlichen Beziehungen zu Heym in der Lage sahen, den Autorwillen hinsichtlich einer vom Autor beabsichtigten endgültigen Textgestalt stets richtig zu deuten. Sie haben sich dabei auf Heym berufen, der gegenüber den kritischen Änderungswünschen seiner Freunde in der Regel aufgeschlossen war. 15 Die Auswahl für die Sammlung Umbra vitae beschränkt sich nicht nur auf diejenigen Gedichte, die in gut lesbaren Reinschriften überliefert und annähernd zu Ende geschrieben worden sind; sie umfaßt auch Texte, die als Strophenentwürfe mit noch anfertigen' Textstufen vorlagen. Für die Zusammenstellung hat man sich insgesamt weniger auf die unterschiedlichen Befunde der handschriftlichen Überlieferung mit ihren vielfältigen Merkmalen der Unvollendetheit gestützt und daraus editorische Methoden für eine überlieferungsadäquate Textgestaltung entwickelt, man hat sich vielmehr von subjektiven stilistischästhetischen Empfindungen leiten lassen. Es wurden viele glättende Texteingriffe vorgenommen, zum Beispiel bei Heyms individueller und daher unregelmäßig ausgeführter Interpunktion. Hier wurden großzügige Normierungen durchgeführt, ohne daß dabei die Merkmale von Heyms ,,impulsive[r] Arbeitsweise" berücksichtigt oder die Struktur der Gedichte mit ihren rhythmischen, fließenden oder stockenden Elementen respektiert wurden. 16 Die Sammlung Umbra vitae bietet bei zahlreichen Gedichten also nicht die überlieferten Textzustände mit ihren widersprüchlichen Textbrüchen, sondern edierte Texte in linearer Darstellung aus einer Kontamination von früheren und späteren Textstufen. Darüber hinaus sind auch Titelveränderungen ohne eine gesicherte Grundlage vorgenommen worden. 17 Hinzu kommt, daß die Herausgeber weitere Eingriffe gemacht haben, um manchen in den Handschriften noch .sinnlosen' Textstellen eine Bedeutung zu geben. Ein weiteres Problem stellt die Auflösung von einzelnen, von Heym noch als Einheiten angelegten Zyklen durch die Herausgeber dar. Schließlich fallen noch Lesefehler auf, die auf die schwierig zu entziffernden Handschriften, die Unkenntnis von Heyms Schreib- und Arbeitsweise sowie auf die mangelnde Sorgfalt der Herausgeber zurückzufuhren sind, die zu textentstellenden Fehllesungen, zur Eliminierung oder Umstellung von Strophen geführt haben. Mit der Herausgabe der Gedichtsammlung Umbra vitae ist ein anderer Eindruck von den nachgelassenen Texten Heyms entstanden, als ihn die komplexe Handschriftenüberlieferung nahelegt. Denn sie präsentiert dem Leser zahlreiche .fertige' Gedichte, die infolgedessen auch als vollendete poetische Kunstwerke in den allgemeinen 14

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16 17

Ein prominentes Beispiel bildet die Erstedition von Theodor Fontanes nachgelassenem und unvollendet gebliebenen Roman Mathilde Mehring, der von Josef Ettlinger 1906 zum ersten Mal vorgelegt worden ist. Vgl. Radecke 2003, S. 227f. Aus einem Brief Guttmanns an Rowohlt vom 29. Januar 1912 geht hervor, daß die Freunde das Problem der Handschriftenentzifferung durchaus erkannt haben und daß nur sie sich als enge Vertraute Heyms berufen fühlten, auch die in Kürzeln geschriebenen Wörter richtig zu lesen (vgl. Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 30). Martens 1965, S. 128. Das in den Handschriften als titellos überlieferte Titelgedicht der Sammlung Umbra vitae erhielt z.B. den Titel eines anderen Gedichtes - vermutlich wegen des schonen Klanges und der beeindruckenden Wirkung.

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Gabriele Radecke

Lesekanon eingegangen sind. Trotz dieser editionsphilologischen Mängel verdient die Leistung der Herausgeber auch heute noch Respekt. Die Textauswahl und die Schnelligkeit der Veröffentlichung trugen dazu bei, daß auch Heyms nachgelassene Lyrik schon bald einen Platz in der Weltliteratur gefunden hat. Innerhalb weniger Jahre wurden drei Auflagen vorgelegt, und einige Nachlaßgedichte wurden auch schon in zeitgenössische Anthologien aufgenommen, als die expressionistische Bewegung gerade erst ihren Höhepunkt erreicht hatte. 18 Darüber hinaus haben die Freunde in selbstlosem Einsatz den umfangreichen Nachlaß vor der Vernichtung und Zerstreuung bewahrt und für zukünftige Forschungen gesichert. Schließlich fungierte die erste Nachlaßsammlung Umbra vitae für nachfolgende Editionen immer dann als maßgebliche Textgrundlage, wenn keine entsprechenden Handschriften mehr überliefert waren, wie zum Beispiel bei denjenigen Gedichten, deren eigenhändige Druckvorlagen im Zuge der Drucklegung verlorengegangen sind. 19 2.1.2. Dichtungen

(1922)

Zum zehnten Todesjahr Heyms 1922 legten Erwin Loewenson und Kurt Pinthus im Auftrag des Rowohlt-Nachfolgers Kurt Wolff in dessen Verlag die Dichtungen vor, den ersten Band einer geplanten Lese-Gesamtausgabe von Georg Heyms Werk. Beabsichtigt war zunächst nur ein Wiederabdruck der beiden bei Rowohlt erschienenen Gedichtsammlungen Der ewige Tag und Umbra vitae sowie des Novellenbandes Der Dieb.20 In ihrer Konzeption gingen die beiden Herausgeber dann aber über den ursprünglichen Plan hinaus. Neben den bereits veröffentlichten Textsammlungen sollte auch eine Auswahl aus dem Nachlaß vorgestellt werden: die noch unbekannte Frühlyrik Heyms, die Dramen, Dramenfragmente und Prosabruchstücke sowie die Tagebücher und Briefe. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde aber nur der erste von insgesamt zwei geplanten Bänden realisiert; er enthält die Lyrik- und Prosasammlungen sowie 48 der „vollkommensten unveröffentlichten Gedichte", 21 die unter dem Titel Der Himmel Trauerspiel zusammengestellt wurden. Die hier wiederholt edierten Texte der beiden Sammlungen Der ewige Tag und Umbra vitae haben zu keiner wesentlichen „Verbesserung der Textsituation" 22 geführt, weil die Herausgeber weder eine konsequent textkritische Redaktion aufgrund der Handschriften vorgenommen noch eine Neukonzeption und Neuanordnung der Gedichte durchgeführt haben. Die Grundlage für den Wiederabdruck der Gedichte aus der Sammlung Der ewige Tag bildete außerdem die nach Heyms Tod entstandene unzuverlässige zweite Auflage, obwohl diese mehr Normie-

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21 22

Vgl. z.B. die von Kurt Pinthus besorgte prominente Anthologie Menschheitsdämmerung, Berlin 1919. Vgl. die ausfuhrliche Darstellung der Entstehung von Umbra vitae und der Editionsprinzipien in HeymHK.A 1993, Hrsg.-Bericht, S. 2 8 - 3 6 . Heym hatte die Veröffentlichung der Prosasammlung Der Dieb. Ein Novellenbuch, die 1913 erschienen ist, seit April 1911 vorbereitet, das Druckmanuskript konnte er nahezu abschließen. Der Band enthält Der fünfte Oktober, Der Irre, Die Sektion, Jonathan, Das Schiff, Ein Nachmittag und Der Dieb. Pinthus und Loewenson: Nachbemerkung. In: Heym, Dichtungen 1922, S. 303. Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 38.

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rungen, Texteingriffe und Modernisierungen enthält als die erste Auflage der Autoredition von 1911.23 Die Gedichtsammlung Umbra vitae ist schließlich nach der textkritisch nicht zufriedenstellenden Erstausgabe von 1912 wiedergegeben worden. Die in den Dichtungen erstmals vorgelegte Sammlung Der Himmel Trauerspiel ist hinsichtlich der Textkonstitution insgesamt zwar sorgfältiger erarbeitet worden als die Neuedition der beiden früheren Gedichtsammlungen, der Zeitdruck erlaubte es aber wiederum nicht, die für eine Gesamtausgabe notwendige systematische Erschließung des umfangreichen Nachlasses sowie eine sorgfaltige Analyse der schriftstellerischen Arbeitsweise zu leisten und daraus angemessene editorische Methoden der Textkonstitution zu entwickeln. Für die Vorbereitung der edierten Texte wurden nicht nur die Nachlaßhandschriften, sondern auch die Abschriften von Jentzsch benutzt, die als Ersatz für die nach 1912 verlorengegangenen Handschriften fungierten.24 Sie sind einerseits zuverlässig, andererseits aber enthalten die zeitlich zuletzt angefertigten Abschriften viele Textlücken und unsichere oder falsche Lesungen. Bei der Herausgabe von Der Himmel Trauerspiel entstanden neue Fehler, weil Loewenson und Pinthus auf eine gründliche Prüfung der zugrundegelegten Abschriften durch die Kollationierung mit den Autographen verzichtet haben. Neben diesen Lesefehlern gibt es aber auch zahlreiche andere Schwächen, die auf mangelnde Kenntnis der Handschrift und der dichterischen Arbeitsweise zurückzuführen sind. So wurden Titel weggelassen oder hinzugefügt, unabhängig voneinander entstandene Gedichte als eine Einheit zusammengefaßt, Strophen in der falschen Reihenfolge wiedergegeben oder die strophische Gliederung sogar ganz aufgehoben. Hinzu kommt, daß die Herausgeber nicht immer die letzte Fassung abgedruckt haben, weil ihnen eine entsprechend spätere auf den handschriftlichen Textträgern im Nachlaß entgangen war. Schließlich enthält die Ausgabe auch zahlreiche eigenmächtige Eingriffe in die überlieferte Textstruktur, an denen die methodischen Mängel der Edition insgesamt sichtbar werden. Die Editionsprinzipien bei den Sammlungen Umbra vitae und Der Himmel Trauerspiel zeigen, daß die Herausgeber noch kein Bewußtsein entwickelt haben für den Zusammenhang zwischen der überlieferten Grundlage fur den edierten Text (also ob es sich um Handschriften oder um Drucke handelt) und den daraus zu schließenden unterschiedlichen methodischen Verfahren für die Textkonstitution. Die Handschriften dokumentieren im Unterschied zu den Drucken verschiedene Grade der .Vollendung' oder ,Unvollendung' der Gedichte, die durch entsprechende editorische Prinzipien auch in den edierten Texten zumindest annähernd hätten bewahrt werden können. Die Herausgeber aber haben bei der Textkonstitution die individuellen Kennzeichen der Handschriften für den noch nicht abgeschlossenen Schreibprozeß als ,Textfehler' gedeutet und diese durch glät-

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24

Die zweite Auflage von Georg Heyms Der ewige Tag erschien schon wenige Wochen nach seinem Tod im März 1912. Sie wurde vom Rowohlt-Verlag mit mehr Druckfehlern, Texteingriffen und Normierungen in Heyms Interpunktion und Orthographie vorgelegt, als die vom Autor noch selbst besorgte Erstedition von 1911. Darüber hinaus enthält die zweite Auflage aufgrund eines Vertrages zwischen Hermann Heym und Ernst Rowohlt die beiden Gedichte Styx II und Sonnwendtag nicht mehr. So fehlt das Gedichtbuch 4 ganz, und vom 5. Gedichtbuch werden zwei Heftlagen vermißt.

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tende Normierungen der Interpunktion und Orthographie oder Wortausschreibungen korrigiert. So erscheinen die gedruckten Gedichte in den Dichtungen wie in der Jahre zuvor herausgebrachten Gedichtsammlung Umbra vitae im Gegensatz zu den Handschriften nicht als nachgelassene ,unfertige' Texte, sondern immer noch als vollendete' edierte Texte. Mit den Dichtungen haben Loewenson und Pinthus eine weitere Leseausgabe vorgelegt, die den Ansprüchen an eine kritische Edition bei weitem noch nicht genügt. Denn neben den fehlenden überlieferungsadäquaten Darstellungsprinzipien wurde auch auf wichtige Herausgeberzusätze wie die Hinweise zur Entstehung, einen Überblick über den Nachlaß und die Drucke, Informationen über Heyms individuelle Arbeitsweise und vor allem eine Rechtfertigung der editorischen Prinzipien verzichtet. Bis in die sechziger Jahre hinein bildeten die Dichtungen die maßgebliche Grundlage für spätere Ausgaben von Heyms nachgelassener Lyrik25 und für die wissenschaftliche Textinterpretation. Erst mit der Arbeit an der kritischen Ausgabe der Dichtungen und Schriften und der Dokumentation und Auswertung des Nachlasses und der Arbeitsweise Georg Heyms für die Gedichte 1910-1912 sind die methodischen Mängel der Sammlungen Umbra vitae und Der Himmel Trauerspiel erkannt worden. Wegen des Verlustes von Handschriften fungieren die beiden frühen Ausgaben aber bis heute zumindest in Einzelfällen immer noch als eine Grundlage für die Textkonstitution.26 2.2.

Die wissenschaftlichen Editionen

Erst mit dem 1955 erfolgten Ankauf des Georg-Heym-Nachlasses durch die Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg wurden ideale Bedingungen für die systematische Erschließung der Handschriften und die unabhängige wissenschaftliche Editionsarbeit geschaffen, die mit der kritischen Ausgabe der Dichtungen und Schriften (1960-1968) begonnen und 1993 mit der Historisch-kritischen Ausgabe der Gedichte 1910-1912 ihren Höhepunkt erreicht hat. Die akribische Aufbereitung des Heym-Nachlasses und die editorische Beschäftigung mit den Werken anderer Autoren und ihrer Nachlässe führte seit den siebziger Jahren allmählich zu einer allgemeinen, auch geistesgeschichtliche und linguistische Erkenntnisse einbeziehenden editionswissenschaftlichen 25

A u f der Textgrundlage der Dichtungen erschienen z.B. 1947 die von Carl Seelig besorgten und von Loewenson und Pinthus unterstützten Gesammelten Gedichte mit einem ausführlichen biographischen Nachwort und einer Bibliographie. Diese Leseausgabe unterscheidet sich in einigen Details von den zwanzig Jahre zuvor erarbeiteten Dichtungen. So wurden die bisher nur in der Zeitschrift Aktion bzw. im Almanach Das bunte Buch erschienenen Gedichte Seufzer und Die Seiltänzer neu aufgenommen. Auch der bisher nur postum von Balduin Möllhausen in einem Flugblatt veröffentlichte Sonettenzyklus Marathon wurde in die Gesammelten Gedichte eingegliedert. Darüber hinaus hat Seelig auf Loewensons Antrag einzelne Textkorrekturen aufgrund der Handschriften vorgenommen. Schließlich hat der Herausgeber die unter den Gedichtsammlungen Der ewige Tag, Marathon, Umbra vitae und Der Himmel Trauerspiel zusammengestellten Gedichte „thematisch frisch geordnet", wobei er sich auch hier wie alle anderen Herausgeber zuvor auf Heym berufen hat, der den Freunden eine Generalvollmacht gegeben hatte, „zu ändern, zu verbessern und zu streichen, was sie für gut befanden". Vgl. Seelig: Anmerkung des Herausgebers. In: Heym, Gesammelte Gedichte 1947, S. 239f.

26

Ein ausführlicher Überblick über die Dichtungen

in Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 3 7 - 4 1 .

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Theoriebildung, die unter anderem auch die Editionsprinzipien und Darstellungsmodelle der Gedichte 1910-1912 entscheidend beeinflußt hat. 2.2.1. Dichtungen und Schäften (1960-1968) Zwischen 1960 und 1968 erschienen die von Karl Ludwig Schneider und seinen Mitarbeitern herausgegebenen Dichtungen und Schriften, die erste kritische Gesamtausgabe der Werke Georg Heyms. Sie umfaßt die Bände Lyrik (Bd. 1), Prosa und Dramen (Bd. 2), Tagebücher, Träume, Briefe (Bd. 3) und den Ergänzungsband Dokumente zu seinem Leben und Werk (Bd. 6). Die Edition wurde ebenso wie die erste intendierte Gesamtausgabe der Dichtungen von 1922 nicht vollendet. Der geplante vierte Band, Erläuterungen, Lesarten, Bibliographie, sollte das Unternehmen mit einem Stellenkommentar und einem kritischen Apparat zu den Textbänden 1 bis 3 zunächst abschließen. Da es sich aber abzeichnete, daß die Fülle des handschriftlichen Materials nicht in einem einzigen Band dokumentiert werden konnte, wurden 1968 dann als sechster Band zuerst die Dokumente mit knappen Sacherläuterungen, einem Personenregister und einer biographischen Zeittafel vorgelegt; die fehlenden Bände vier und fünf waren den Erläuterungen und Lesarten vorbehalten. Für den Höhepunkt von Heyms poetischem Schaffen, die zwischen 1910 und 1912 entstandenen Gedichte, sollte ein umfangreicher kritischer Apparat auf der Grundlage aller überlieferten Materialien erarbeitet werden. Dieser war als das „Kernstück der Edition" angelegt, in dem die „Dokumentation der Textgeschichte" sichtbar werden sollte.27 Die anderen Texte, die in den Bänden zwei und drei veröffentlicht worden waren, sowie die Gedichte der Frühzeit sollten hingegen nur mit einem Auswahlapparat ergänzt werden. Die zügige Realisierung dieses Planes fur den vierten und fünften Band scheiterte jedoch aufgrund der Materialfulle der Gedichte 1910 bis 1912 und einer mangelnden Finanzierung. Auch der beabsichtigte umfangreiche Kommentar und der Rechenschaftsbericht des Herausgebers wurden nicht ausgeführt. Mit dem ersten Band der Dichtungen und Schriften ist die bisher umfassendste Edition der Gedichte Heyms vorgelegt worden. Im Gegensatz zu allen zuvor erschienenen Ausgaben des lyrischen Nachlasses werden hier kritisch geprüfte Texte dargeboten. Die Zuverlässigkeit der Textgrundlagen ist aufgrund aller Entwürfe, Abschriften und Drucke sichergestellt, und es sind Titel- und Textkorrekturen der bisher erschienenen Nachlaßgedichte, zum Beispiel aus der Sammlung Umbra vitae, vorgenommen worden. Der Band umfaßt „neben den vom Autor noch selbst verantworteten Texten erstmalig auch alle aus seinem Nachlaß stammenden Dichtungen", 28 darunter etwa 240 noch nicht veröffentlichte Gedichte. Er enthält auch weitere Gedichte, die nur noch in Abschriften oder in frühen Drucken überliefert sind. Die Gedichte aus den Jahren 1910 bis 1912 bilden den Hauptteil des Bandes. Neben den abgeschlossenen Texten 27 28

Martens 1971, S. 171. Schneider: Anmerkungen zur Textgestaltung. In: Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. 1, 1964, S. 7 4 3 746, hierS. 743.

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werden auch diejenigen Gedichtentwürfe mitgeteilt, die Uber einen ersten Stichwortentwurf hinausgehen und schon die Gestaltung von Versformen erkennen lassen. Darüber hinaus sind auch „besonders aufschlußreiche Vorfassungen zu einigen Gedichten" 29 aufgenommen worden, wenn sie dem Leser einen Überblick über wesentliche poetische Motive und Bilder Heyms vermitteln. Für den Anhang, in dem die Gedichte der Frühzeit 1899 bis 1904 abgedruckt sind, wurden nur die abgeschlossenen Texte berücksichtigt; Entwürfe und erste Niederschriften sind hier grundsätzlich nicht beachtet worden. Die kritische Edition der Dichtungen und Schriften markiert einen Umbruch innerhalb der Heym-Editorik, der mit einem veränderten Bewußtsein der Herausgeber in bezug auf ihre Rolle als Editoren nachgelassener Texte korrespondiert. War bei allen Herausgebern zuvor noch die „Person des Textautors"30 Heym die maßgebliche Instanz fur die editorische Entscheidung, dem Leser einen möglichst .vollendeten' edierten Text vorzustellen, so ist das wichtigste Ziel der kritischen Ausgabe nun nicht mehr die Darstellung eines eher willkürlich festgelegten vermeintlich autorintendierten Textes, sondern eine Textgestalt, die den „fragmentarischen Charakter" der Handschriften und den jeweiligen Textzustand in einer Edition bewahren möchte.31 Die Editoren der kritischen Ausgabe verstehen sich demnach nicht mehr als allwissende und einfühlende Testamentsvollstrecker', sie sehen ihre Funktion vielmehr als Vermittler zwischen den hinterlassenen Nachlaßtexten und einer angemessenen textkritischen Verbreitung. Damit ist zum erstenmal der Versuch unternommen worden, editorische Darstellungsmethoden zu finden, die sich nicht auf ein bestimmtes Autorbild oder eine damit verbundene ästhetische Textvorstellung der Herausgeber beziehen, sondern die aufgrund der handschriftlichen Befunde und ihrer Deutungen erarbeitet worden sind. Die Herausgeber haben die verschiedenen Grundlagen für den edierten Text streng differenziert in diejenigen Gedichte, die Heym als abgeschlossene Texte selbst noch zum Druck befördert hat, und diejenigen Gedichte, die sich als Entwurfsoder Reinschrifttexte im Nachlaß befinden. In der Anordnung der Gedichte zeigt sich am deutlichsten, daß das Ziel einer überlieferungsadäquaten editorischen Aufbereitung der Nachlaßtexte erreicht wurde; denn die Gedichte folgen nicht mehr den von den Herausgebern festgelegten inhaltlichen oder ästhetischen Kriterien, sondern sie werden innerhalb des Hauptteils und des Anhangs jeweils nach „dem Prinzip der chronologischen Reihenfolge" 32 ediert. Da Heym viele seiner Texte exakt datiert hat und die Menge der überlieferten Handschriften zuverlässige Anhaltspunkte für eine überzeugende Rekonstruktion der Entstehungschronologie enthält, war es ratsam, die Gedichte in der auf den Handschriften vorgegebenen oder zu rekonstruierenden Chronologie abzudrucken. Dabei mußten die Herausgeber jedoch Kompromisse eingehen und die von Heym selbst gewählte Reihenfolge der Gedichte in seiner veröffentlichten Samm29 30 31 32

Schneider 1964 (Anm. 28), S. 743. Martens 1971, S. 165. Martens 1965, S. 131. Schneider 1964 (Anm. 28), S. 747.

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lung Der ewige Tag zugunsten einer durchgehenden Chronologie auflösen. Ein Verzeichnis der Gedichte des Ewigen Tags informiert aber über die ursprüngliche Anordnung in der Autoredition von 1911 und macht die editorische Entscheidung transparent. Das chronologische Prinzip ist auch dann durchbrochen worden, wenn Gedichtzyklen vorliegen, deren autorbeabsichtigte kompositorische Einheit durch die Neuedition nicht zerstört werden sollte. Die verschiedenen Gedichtfassungen sind auch nicht als Werkeinheit nach einem genetischen Prinzip dem entsprechenden Gedichtwerk zugeordnet, sondern einzeln aufgelöst und in die entstehungsgeschichtliche Chronologie eingeordnet worden. Informationen über die genetischen Zusammenhänge findet der Benutzer in den Registern. Die Herausgeber der Dichtungen und Schriften haben auch für ihre editorischen Entscheidungen die individuelle Arbeitsweise Heyms mehr berücksichtigt, als es bisher geschehen war. So werden zum Beispiel auch diejenigen Textteile in den edierten Text aufgenommen, die in den Handschriften von Heym durchgestrichen worden sind, und als solche von den Herausgebern durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die Analyse von Heyms Arbeitsgewohnheiten hat nämlich ergeben, daß die Streichungen in der Regel keine sonst üblichen Texttilgungen sind, sondern vielmehr als Markierungen des Autors fiir eine noch bevorstehende Überarbeitung gedeutet werden können. Damit dokumentieren Heyms Streichungen keine endgültige Autorentscheidung, sondern „lediglich den Entwurfszustand, in dem die Bearbeitung des Gedichtes" steckengeblieben ist.33 Beurteilt man die Dichtungen und Schriften hinsichtlich ihres Anspruches, „den fragmentarischen Charakter" der Gedichte in der Edition ebenfalls zum Ausdruck gebracht zu haben, dann werden die Grenzen dieser kritischen Ausgabe deutlich, gerade weil die beiden geplanten Apparatbände 4 und 5 als eigentlich notwendige Bestandteile nicht mehr realisiert worden sind. Einerseits haben die Herausgeber die charakteristischen Merkmale von nicht abgeschlossenen Texten erkannt und daraus zu ziehende notwendige editorische Konsequenzen formuliert. Andererseits aber zeigen die konstituierten Texte als edierte Texte34 in abgeschlossener Form, daß mit der kritischen Ausgabe noch kein editionswissenschaftlicher Paradigmenwechsel vollzogen ist, weil die Erkenntnisse aus dem unabgeschlossenen dichterischen Schreib- und Arbeitsprozeß methodisch nicht konsequent für die Prinzipien der Textkonstitution umgesetzt

33

34

Vgl. Martens 1965, S. 129. In der Ausgabe der Dichtungen sind ebenfalls schon Streichungen aufgenommen worden, allerdings noch ohne eine Kennzeichnung der gestrichenen Textteile; es fehlen auch die notwendigen editorischen Erklärungen. Die Unterscheidung zwischen .konstituiertem Text' und .ediertem Text' orientiert sich an Martens, der unter „Textkonstitution jegliche Erarbeitung (Herstellung) von Texten in einer Edition" versteht und dabei nicht nur den „edierten Text im engeren Sinn" meint, sondern auch alle anderen „zu einem Werk bzw. Werkkomplex gehörigen Textteile" (Martens 1991b, S. 12). Der Begriff .konstituierter Text' wird also im weitesten Sinne als Oberbegriff verwendet und bezeichnet einen hergestellten Text auf der Grundlage aller Textzustände, z.B. von Entwurfshandschriften, Reinschriften und Drucken. Konstituierte Texte können dabei in statisch-linearer oder in dynamisch-alinearer Gestalt abgedruckt werden und somit auch integrale genetische .Varianten'-Apparate enthalten, die die .Unvollendetheit' von Texten dokumentieren. Ein .edierter Text' ist eine Teilmenge eines konstituierten Textes, der ohne Apparate nur als linearer Text veröffentlicht wird.

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worden sind. Die als Hilfestellung fiir die Leser jeweils unter den Gedichttitel eingefügten Formulierungen der Herausgeber - zum Beispiel „Flüchtiger E n t w u r f - zur Kennzeichnung der hier aufgenommenen und am Beginn des Textentstehungsprozesses stehenden Entwurfstexte ist auch nur ein weiterer Beleg dafür, daß die geforderten Konsequenzen für eine überlieferungsadäquate Edition nur diskursiv festgestellt, nicht aber darstellungstechnisch verarbeitet worden sind. Auch die einzelnen Faksimiles der Handschriften, die wenigstens einen kleinen Eindruck von der Materialität der Handschrift, den Spuren der Unvollendetheit der Nachlaßgedichte und ihrer Genesen geben, können dieses Dilemma nicht beseitigen, denn sie sind ohne Folgen für die textkritischen Verfahrensweisen zwischen den edierten Texten nur als schmückende Beigabe eingebunden worden. Mit den Dichtungen und Schriften liegt also immer noch eine traditionelle Edition vor, in der der linear edierte Text im Mittelpunkt steht und nicht, wie es eigentlich einmal beabsichtigt war, der genetische Apparat als Dokumentation der Überlieferung. Wenngleich die Herausgeber im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben grundsätzlich auf Textglättungen verzichtet haben, so haben sie Heym im künstlerischen Schaffensprozeß gewissermaßen noch Textfehler unterstellt und diese „besonders sinnstörende[n] Flüchtigkeitsfehler und Versehen" 35 in Einzelfällen nach logischen Kriterien für den edierten Text beseitigt, wobei die Eingriffe durch die Überlieferung mit ihren hastigen und kaum lesbaren Niederschriften begründet werden. Darüber hinaus sind vereinzelte Glättungen vorgenommen worden, indem die Herausgeber Verschreibungen korrigiert, ausgelassene Wörter oder Silben in Kursivschrift in die edierten Texte eingefügt oder aber Heyms individuelle Abkürzungen aufgelöst haben. Schließlich wurde auch die Interpunktion in Einzelfallen .behutsam' ergänzt. Dennoch ist die Leistung der Herausgeber insgesamt bemerkenswert, denn erst mit den Dichtungen und Schriften ist der Umfang von Georg Heyms CEuvre für die Öffentlichkeit sichtbar geworden. Darüber hinaus ist die kritische Edition die erste und bis heute noch gültige zitierbare Ausgabe der nachgelassenen Lyrik, die auch als Grundlage für die Textkonstitution von edierten Texten in preiswerten Taschenbuchausgaben fungiert und damit eine populäre Verbreitung sichert. 36 Schließlich können die fehlenden Informationen über die Entstehungsgeschichte, die Textgenesen und die Eingriffe der Herausgeber in der Historisch-kritischen Ausgabe der Gedichte 1910-1912 ergänzend hinzugezogen werden.

2.2.2. Gedichte 1910-1912

{1993)

1993 legten Günter Dammann und Gunter Martens alle überlieferten Entwurfstexte der Gedichte 1910-1912 in einer zweibändigen Historisch-kritischen Ausgabe vor. Sie

35 36

Schneider 1964 (Anm. 28), S. 745. Z.B. Georg Heym: Das lyrische Werk. Sämtliche Gedichte 1910-1912. Mit einer Auswahl der frühen Gedichte 1899-1909. A u f Grund der Gesamtausgabe hrsg. von Karl Ludwig Schneider. München: dtv 1977, und Georg Heym: Dichtungen. Hrsg. von Walter Schmähling. Stuttgart: Reclam 1964 (auf der Grundlage des noch unveröffentlichten Manuskriptes des Herausgebers Schneider).

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waren ursprünglich noch für die beiden Apparatbände 4 und 5 der Dichtungen und Schriften vorgesehen, ließen sich aber nach einem Verlagswechsel und nach der editorischen Aufbereitung des gesamten Nachlasses nicht mehr als unselbständige Apparatbände in Ergänzung zu den edierten Textbänden realisieren. Das Ergebnis ist nicht nur eine anspruchsvolle eigenständige Edition; vielmehr ist mit den Gedichten 1910-1912 und ihrer genetischen Darstellung nun der paradigmatische Umbruch innerhalb der Heym-Editorik endgültig vollzogen worden. Denn im Gegensatz zu den Dichtungen und Schriften konstituieren die Herausgeber die nachgelassenen Entwurfstexte, verzichten aber auf die endgültig edierten Texte. Die Gedichte 1910-1912 bilden auch einen wichtigen Beitrag fur die seit den siebziger Jahren in der Editionsgeschichte allgemein beginnende veränderte Deutung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses: Die Vorstellung von einem zielgerichteten Wachstum wird verabschiedet zugunsten des Konzepts eines ziellosen und daher offenen Schreibprozesses und den daraus resultierenden editorischen Konsequenzen.37 Dammann und Martens haben die Abkehr von einem traditionellen' teleologischen Editionsmodell vollzogen, indem sie auf eine geschlossene synoptische Wiedergabe mehrerer Textstufen verzichtet und ein unabgeschlossenes Modell der Textstufe als grundlegende editorische Darstellungseinheit entwickelt haben.38 Aufgrund einer systematischen Analyse der Handschriften haben die Herausgeber ein editionstechnisches Verfahren gefunden, das den Anspruch erhebt, alle Informationen der handschriftlichen Textträger in das Druckbild zu überführen. Der wichtige Zusatz im Untertitel „in genetischer Darstellung" macht bereits auf die neue Zielsetzung der Ausgabe aufmerksam: die Vorführung des genetischen, aber nicht zielgerichteten Textbildungsprozesses. Für die Darstellungstechnik haben die Herausgeber besonders auf die Ergebnisse der Historisch-kritischen C.F. Meyer-Ausgabe von Hans Zeller und Alfred Zäch zurückgegriffen, sind mit dem Verzicht auf edierte Texte und dem vermehrten Verzicht auf eine synoptische Darstellung aber eigene Wege gegangen, „um die Eigenwertigkeit der einzelnen Ansätze, Arbeitsphasen, Textstufen" im schriftstellerischen Produktionsprozeß zu betonen.39 Die Gedichte 1910-1912 sind darüber hinaus auch die editionspraktische Umsetzung einer Theorie der Textdynamisierung, die von Martens 1971 in seinem Aufsatz Textdynamik und Edition erstmals dargelegt und dann in mehreren Arbeiten weitergeführt worden ist.40 Ausgehend von Siegfried Scheibes editionspraktischen Überlegungen eines erweiterten Textbegriffes, der als „die Summe aller Textzustände, die ein Werk während seiner Bearbeitung durch den Autor erreicht", definiert wird,41 hat Martens seine Überlegungen über die Auflösung des statischen Textes durch die Übertragungen linguistischer Theorien auf die Editionswissenschaft vorgestellt. Schließlich ist das genetische Darstellungsprinzip 37 38 39 40 41

Z.B. in der C.F. Meyer-Ausgabe sowie in der von Sattler besorgten Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. Vgl. Martens 1998b, S. 68. Ζwerschina 2000, S. 212. Vgl. Martens 1989, Martens 1991a und zuletzt Martens 2000. Vgl. Scheibe 1982, S. 28, und Martens 1989, S. 5. Zwerschina 1998, S. 2 1 5 - 2 2 8 , stellt aber Martens' linguistische Begründung „für die den Texten immanente Entwicklungsdynamik" in Frage und formuliert erste Überlegungen zu einem differenzierten Modell in der „Theorie des Schaffensprozesses".

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auch Ausdruck eines Bewußtseinswandels gegenüber der Eigenständigkeit literarischer Handschriften und der textgenetischen Prozesse, die besonders von den zahlreichen, parallel in Frankreich entstandenen Arbeiten der ,critique genetique' als zentraler und selbständiger Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt gestellt worden sind.42 Mit ihren strikt vom handschriftlichen Befund abgeleiteten dokumentarisch-textkritischen Verfahrensweisen, der größtmöglichen Zurückhaltung von Herausgeberdeutungen und -eingriffen sowie ihrer Forderung, „die Rolle des Herausgebers so deutlich wie möglich auszuweisen" 43 und damit die einzelnen subjektiven editorischen Entscheidungen fur den Benutzer transparent und kontrollierbar zu machen, zeigen die Editoren außerdem, daß sich ein kritisches Reflektieren über die eigene editorische Arbeit im Umgang mit den nachgelassenen Gedichten Heyms herausgebildet hat. Aufgrund der Analyse der handschriftlichen Befunde haben die Herausgeber mit den Gedichten 1910-1912 besonders zwei editorische Anliegen verfolgt: die Dokumentation des prozessualen Charakters der Textgenese und der dichterischen Arbeitsweise als entscheidende Begründung für den Prozeß der Textfindung und die Darstellung der Lyrik Heyms in Wortlaut und Interpunktion in einer so „authentisch wie möglich[en]" Textgestalt. Die Herausgeber sind bei der Einhaltung ihrer editorischen Prinzipien auf allen Ebenen streng nach der von Zeller eingeführten Methode der Trennung von Befund und Deutung vorgegangen, um den interpretatorischen Anteil der Edition sichtbar werden zu lassen.44 Die Ausgabe erschließt alle nachgelassenen Notizen, Entwurfshandschriften, ausformulierten Niederschriften und Reinschriften derjenigen Gedichte und Gedichtbruchstücke, die Heym in den letzten beiden Lebensjahren geschrieben hat. Sie berücksichtigt damit auch diejenigen Texte, die bereits in die Dichtungen und Schriften Eingang gefunden hatten. Das früheste Gedicht ist am 12. Januar 1910 niedergeschrieben, das letzte wird datiert auf den „10-15 Januar 1912", also vier Tage vor Georg Heyms Tod. Die Ausgabe beginnt mit einem ausfuhrlichen Herausgeberbericht und umfaßt die drei Abschnitte Gedichte 1910-1912 (Nr. 1 299), 54 Gedichtbruchstücke (Nr. 300 a-bbb) sowie 28 Titellisten (Nr. 301 a-bb). Die Gedichte folgen dem entstehungsgeschichtlichen Prinzip. Der genetische Zusammenhang der einzelnen Entwurfstexte und Reinschriften wird aber im Gegensatz zu den Dichtungen und Schriften nicht aufgelöst und der allgemeinen Chronologie untergeordnet; sie werden vielmehr in ihrer Genese dem zugehörigen Werk zugeordnet. Alle drei Abschnitte gliedern sich in vier Teile, die in bezug auf die Beschreibung und die Darstellung der Trennung von Befund und Deutung verpflichtet sind: 1. Die detaillierte Zeugenbeschreibung weist alle textkritisch relevanten Zeugen nach, also alle vom Autor selbst geschriebenen und autorisierten, dem entsprechenden Gedicht zuzuordnenden Zeugen, alle Abschriften von fremder Hand sowie diejenigen nichtautorisierten Drucke, die an die Stelle verlorengegangener Handschriften getreten sind. Die Aufli-

42 43 44

Vgl. z.B. Grtsillon 1999. Martens 1991b, S. 27. Vgl. Zeller 1971, S. 154-167.

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stung enthält auch nichtautorisierte Zeugen, wenn sie wirkungsgeschichtlich relevant sind. Die Zeugen werden nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet, sondern nach den äußeren archivalischen Bedingungen vorgestellt, also nach dem Aufbewahrungsort und der Archivalien-Nummer. Schließlich wird über die materiale Beschaffenheit der eigenhändigen handschriftlichen Textträger informiert, zum Beispiel über das verwendete Papier, die Schreibgeräte, den Duktus und die Schriftart. 2. Die Entstehungsbeschreibung ist hingegen das Ergebnis der Deutung der Handschriften und ihrer Befunde durch die Herausgeber; sie trägt der textgenetischen Vorgabe der Ausgabe Rechnung und ist „als Leitfaden für das eingehendere Studium der Textdarstellung gedacht". Sie gibt „dem Leser einen ersten Überblick über die Textentwicklung", „charakterisiert die einzelnen Textstufen, die das Gedicht in seiner Genese durchläuft und setzt die Textstufen zueinander in Beziehung". 3. Die Datierung der Gedichte Heyms bietet dem Benutzer schließlich die Hilfestellung zur chronologischen Einordnung des Entstehungsprozesses in das Gesamtwerk; auch werden Verknüpfungen zwischen der textinternen Datierung und textexternen Ereignissen vorgestellt. Den wichtigsten Abschnitt bildet schließlich 4. die Textdarstellung. Da eine Ergänzung der konstituierten Texte durch alle entsprechenden Faksimiles aus Kostengründen nicht möglich gewesen ist, mußten besondere Anforderungen an die technische Darstellung gestellt werden, die das, was die Herausgeber an den Schreibspuren der Handschriften erkennen, in möglichst ,authentischer' Form wiedergibt. So werden alle sprachlichen Zeichen, auch wenn sie auf den ersten Blick ,sinnlos' oder nur flüchtig erscheinen mögen, nicht mehr durch Herausgebereingriffe, Glättungen, Ergänzungen und Normierungen angetastet; im konstituierten Text werden sie dann in der vorgefundenen Zeichenfolge wiedergegeben. Es gibt also keine Textfehler im Sinne von fehlerhaften Stellen mehr, sondern nur Unebenheiten und ,Störungen', die aber ihre eigene Bedeutung im unabgeschlossenen Schreibprozeß haben.45 Am auffallendsten ist, daß in den Gedichten 1910-1912 auf das „Herausstellen von edierten Texten" generell verzichtet worden ist. Infolgedessen ist die sonst übliche Trennung zwischen , ediertem Text' und .Apparat' aufgegeben worden.46 Die Herausgeber begründen diese Vorgehensweise durch die Arbeitsweise Heyms und die Überlieferung seiner Gedichte, die als Nachlaßtexte „höchst instabile Gebilde" sind, die sich „im steten Umbildungsprozeß" befinden.47 Da der ,Text' theoretisch als „die gesamte Überlieferung zum jeweiligen Werk" definiert worden ist, gehören auch alle „Überarbeitungen, Korrekturen, Streichungen usf." zum Text. Die editorische Konsequenz ist somit eine Eingliederung des genetischen Apparates in den konstituierten Text und eine integrale Darstellung aller Varianten'. 48 Die ,Varianten' - gemeint sind die verschiedenen sprachlichen Formulierungen für eine entsprechende Textstelle im schriftstellerischen Produktionsprozeß gehören somit gleichberechtigt zum konstituierten Text und werden in der Ausgabe im 45 46 47 48

Vgl. Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 5 5 - 6 1 . Vgl. Martens 1994, S. 79f., und Martens 2000, S. 206. Martens 1998b, S. 68. Martens 1994, S. 80.

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genetischen Zusammenhang präsentiert. Mit der Eingliederung des Apparates in den konstituierten Text hat letztendlich die von Martens schon 1971 erhobene Forderung, daß der Apparat den „Kern der Edition" bildet, auf einer anderen Ebene ihre Erfüllung gefunden. Er bildet jetzt als integraler Textstufenapparat im konstituierten Text den Mittelpunkt der Ausgabe. Die Gedichte 1910-1912 gelten in der editionswissenschaftlichen Fachdiskussion besonders wegen der konsequenten technischen Darstellung mit der überlieferungsadäquaten Transformation der genetischen handschriftlichen Befunde in ein Druckbild als eine maßstabsetzende Historisch-kritische Ausgabe. Aber nicht nur hinsichtlich einer anspruchsvollen Editionstechnik, sondern auch in bezug auf die editionswissenschaftliche Theoriebildung hat die Arbeit an der Ausgabe zu einer differenzierten Begrifflichkeit beigetragen, die auch für andere editorische Arbeiten fruchtbar gemacht werden kann. Zu denken ist etwa an die Erweiterung des Textbegriffes, die Einfuhrung des Begriffes ,Textstufe' und die Diskussion über das Ende des Textfehlers in den Autographen. Die traditionelle, teleologisch ausgerichtete Verwendung der Begriffe ,Korrektur' und .Variante' zeigt allerdings, daß hier noch weitere Präzisierungen nötig sind, um die Abläufe im offenen und daher nicht zielgerichteten Schreibprozeß zu erklären. Neben den Verdiensten fallen besonders bei der Benutzung der Gedichte 19101912 dennoch einige Schwierigkeiten auf. Wenngleich der Grundsatz der Herausgeber zu begrüßen ist, „den Text so weit wie möglich von apparatmässigen Zusätzen zu entlasten",49 so ist die angebotene Lösung, eine farbliche Differenzierung der Drucktypen für die Darstellung der unterschiedlichen Textstufen als eine zusätzliche Orientierungshilfe zwar übersichtlich und einprägsam.50 Aber neben der Wiedergabe der alinearen Textstufen stellt besonders die schwarze und grüne Unterscheidung zwischen den einzelnen Textstufen nicht nur ein Problem für das Zitieren in wissenschaftlichen Beiträgen dar, sondern auch für die Wiedergabe in abgeleiteten Ausgaben. Darüber hinaus sind innerhalb der Forschung Stimmen laut geworden, die für die Vermittlung des handschriftlichen Befundes eine den konstituierten Text ergänzende Faksimilierung der Handschriften mit diplomatischer Transkription vermissen.51 Der Glaube, daß der Benutzer die Handschrift aufgrund einer auch noch so exakten technischen Darstellung rekonstruieren kann, ist ,naiv', denn die materiale Körperlichkeit der Handschrift mit ihren individuellen Bewegungen des Schriftbildes und der unterschiedlichen Positionierung und Größe des Zeichens läßt sich ohne wesentliche Informationsverluste auch nicht annähernd in das Druckbild konstituierter Texte überfuhren. Die Herausgeber haben das ausgeschöpft, was im Rahmen des editorischen Modells möglich gewesen ist: die Wiedergabe der Befunde in ihrer genetischen Deutung bezogen 49 50

51

Martens 1977, S. 92. So markiert die grüne Farbe diejenigen Teile einer Textstufe, die in der letzten Revisionsstufe keine Gültigkeit mehr haben, und die schwarze Drucktype den letzten nicht getilgten Textbestand innerhalb einer Textstufe. Vgl. z.B. Zwerschina 2000, S. 226f.

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auf sprachliche, inhaltliche und poetologische Gesichtspunkte. Was aber die materiale Gestalt der Handschriften betrifft, so sind sie nicht immer zufriedenstellende Kompromisse eingegangen, weil sie nur ausgewählte Informationen weitergegeben haben, die entweder durch pauschale Zeugenbeschreibungen und durch die Siglenleiste mit ihrer individuellen Positionierung und Zuordnung der Zeichen innerhalb einer Blattseite oder durch eine sich ebenfalls nur auf eine Blattseite beziehende Textstufenpräsentation vermittelt werden.52 Alle weiteren materialen Kennzeichen der Handschrift, zum Beispiel der Schriftverlauf, die Schriftgröße der einzelnen Zeichen und Wörter sowie die räumliche Verteilung der Zeichen auf einer Blattseite, werden erst vorstellbar und somit für einen umfassenden Deutungsansatz verwendbar, wenn die Handschriften als Faksimile abgebildet sind. Die Topographie der Handschrift bleibt einmalig und läßt sich nicht in eine exakte dokumentarische Druckgestalt überfuhren, gerade weil der interpretatorische Anteil der Herausgeber vom Original über die Faksimilierung bis hin zu einer diplomatischen Transkription und schließlich bis zum konstituierten Text zunimmt. Erst mit der Faksimilierung der Handschrift, nicht als schmückende Zugabe, sondern als integraler Bestandteil der Historisch-kritischen Ausgabe, ist die Rekonstruktion der dynamischen Textentstehungsprozesse in inhaltlicher und materialer Hinsicht durch den Vergleich der konstituierten Texte mit der Abbildung der Handschrift möglich. Erst dann wäre auch die von den Herausgebern selbst gestellte Forderung nach Transparenz und Überprüfbarkeit ihrer editorischen Entscheidungen durch die faksimilierte Handschrift ganz eingelöst worden. Trotz dieser kritischen Bemerkungen soll die herausragende Leistung der Ausgabe der Gedichte 1910-1912 aber insgesamt nicht in Frage gestellt werden. Denn erst mit der hier vorgeführten umfassenden Dokumentation der Textgenese hat die Literaturwissenschaft die Grundlage für die Analysen zu Georg Heyms nachgelassener Lyrik erhalten. Diejenigen Arbeiten, die sich allein auf die bisherigen Editionen gestützt und daraus Schlußfolgerungen auf die Form- und Wortstrukturen von Heyms immanenter Poetik gezogen haben, werden durch die Ergebnisse, die mit den Gedichten 19101912 vorgelegt werden, zu Recht widerlegt.53

3.

Zusammenfassung

Die Editionsgeschichte von Georg Heyms Gedichten ist also die Geschichte einer Nachlaßedition, in der unterschiedliche Darstellungsmethoden für die Textkonstitution entwickelt worden sind. Sie zeigt die allmähliche Herausbildung eines editorischen 52

Vgl. den Abschnitt über die Zeugenbeschreibung in Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht, S. 55f., und Martens 1998b, S. 70. Hier äußert er sich selbst über den materialen Mehrwert der Handschriften gegenüber den konstituierten Texten, die die wichtigste Grundlage bieten für eine Analyse des Schreibprozesses.

53

Vgl. Martens 1965, S. 128f. Er hat diese Beobachtung schon im Zusammenhang mit der systematischen Erschließung des Nachlasses gemacht und nennt dort prominente Beispiele für eine fehlgeleitete Interpretation aufgrund einer nicht zureichenden Textedition.

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Bewußtseinswandels hinsichtlich textkritischer Verfahrensweisen, der von den jeweiligen zeitgenössischen Kontexten abhängig ist. Die ersten postumen Gedichtsammlungen Umbra vitae (1912) und Der Himmel Trauerspiel in den Dichtungen (1922) bilden das Ergebnis einer emotionalen Bindung der Herausgeber an den Autor. Sie belegen ihr Selbstverständnis als editorische Testamentsvollstrecker' und die damit einhergehende Absicht, dem Lesepublikum nach ihrem persönlichen Autorbild Gedichte in einer möglichst vollkommenen poetischen Gestalt zu präsentieren. Das Ergebnis sind edierte Texte, die zum Teil aufgrund willkürlich festgelegter Entscheidungen konstituiert wurden. Die frühen Ausgaben fungierten mehrere Jahrzehnte als die maßgeblichen Grundlagen für die weiteren editorischen Unternehmungen, bis ihre Mängel durch die systematische Aufbereitung des Nachlasses erkannt worden sind; fur die allgemeine Geschichte der germanistischen Edition haben sie keine Rolle gespielt. Die wissenschaftlichen Editionen hingegen spiegeln auf unterschiedliche Weise den veränderten kritischen Blick der Herausgeber auf ihre eigene Rolle als Editoren wider. Sie sind aufgrund editionswissenschaftlicher Theoriebildung entstanden und haben zum Teil Modelle und Zielsetzungen anderer Historisch-kritischer Editionen aufgenommen und weitergeführt. Mit der kritischen Ausgabe der Dichtungen und Schriften hat der Umbruch innerhalb der Herausgabe von Heyms nachgelassenen Gedichten begonnen. Die Herausgeber erheben zum ersten Mal editionswissenschaftliche Forderungen an eine überlieferungsadäquate Darstellung, die aus der Analyse der nachgelassenen Texte und ihrer dynamischen Ausprägung abgeleitet worden sind. In ihrer Entscheidung aber, kritisch geprüfte konstituierte Texte als edierte Texte zu präsentieren, sind sie im Hinblick auf die editorischen Darstellungsmöglichkeiten nachgelassener unvollendeter Texte immer noch einer traditionellen Editorik verpflichtet. Erst mit der Historischkritischen Ausgabe in genetischer Darstellung der Gedichte 1910-1912 ist eine konsequente Methode erarbeitet worden, die die handschriftlichen Befunde und ihre Deutungen durch die Herausgeber in eine angemessene technische Druckgestalt überfuhrt. Das Prinzip der Textdynamik erfährt dabei seine konsequente Umsetzung, indem die Herausgeber auf einen endgültigen edierten Text verzichten und nur noch konstituierte Texte in ihrer jeweiligen unfertigen Gestalt veröffentlichen. In der editionsmethodischen Diskussion sind die Gedichte 1910-1912 im Gespräch, sie finden Respekt und Anerkennung gerade wegen der gelungenen editorischen Dokumentation. 54 Die Gedichte 1910-1912 werden nicht nur im Hinblick auf ihre technischen Darstellungsmöglichkeiten innerhalb der Heym-Editorik, sondern auch im Vergleich mit anderen Historisch-kritischen Editionen als ein Höhepunkt editorischer Forschungsarbeit beurteilt. Ob das genetische Textstufen-Modell aber letztendlich auch für andere Autoren anzuwenden ist, wird sich erst nach einer genauen Prüfung der individuellen dichterischen Arbeitsweise und der Menge der handschriftlichen Überlieferung von Fall zu Fall beantworten lassen. Fest steht allerdings schon jetzt, daß die Ausgabe dann an ihre

54

Vgl. Zeller 1997 sowie die Beiträge in den Sammelbanden Textgenetische Edition 1998 und Text und Edition 2000.

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Heym-Editionen

Grenzen stößt, wenn es sich um die editorische Darstellung von poetischen Texten handelt, die nur in Reinschriften oder Drucken überliefert sind. Dann werden andere Modelle zu erproben sein, die der neuen Überlieferungssituation gerecht werden. 55 Für die literaturwissenschaftliche Arbeit aber bieten die nachgelassenen Gedichte in beiden wissenschaftlichen Editionen, als edierte lineare Texte in den Dichtungen ten und als konstituierte alineare Texte in ihrer unfertigen Gestalt in den 1910-1912,

und SchrifGedichten

gerade wegen ihrer unterschiedlichen editorischen Zielsetzungen eine

unentbehrliche Interpretationsgrundlage, die komplementär genutzt werden sollte.

Literaturverzeichnis Editionen Georg Heym: Der ewige Tag. Leipzig: Emst Rowohlt 1 9 1 1 . - 2 . Aufl. Leipzig: Ernst Rowohlt 1912. Georg Heym: Umbra vitae. Nachgelassene Gedichte. Mit einem Nachwort der Herausgeber. Hrsg. von David Baumgardt, Golo Gangi [d.i. Erwin Loewenson], Wilhelm Simon Guttmann, Jakob van Hoddis und Robert Jentzsch. Leipzig: Ernst Rowohlt 1912. Georg Heym: Der Dieb. Ein Novellenbuch. Leipzig: Ernst Rowohlt 1913. Georg Heym: Dichtungen. München: Kurt Wolff 1922. Georg Heym: Gesammelte Gedichte. Mit einer Darstellung seines Lebens und Sterbens. Hrsg. von Carl Seelig. Zürich: Arche 1947. Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Hrsg. von Karl Ludwig Schneider. Hamburg, München: Ellermann 1960-1968. Bd. 1: Lyrik. Bearb. von Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens unter Mithilfe von Klaus Hurlebusch und Dieter Knoth. Hamburg, München 1964. - Bd. 2: Prosa und Dramen. Bearb. von Karl Ludwig Schneider und Curt Schmigelski. Hamburg, München 1962. - Bd. 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Bearb. von Karl Ludwig Schneider unter Mithilfe von Paul Raabe und Erwin Loewenson. Hamburg, München 1960. - Bd. 6: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. von Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burckhardt unter Mitarbeit von Uwe Wandrey und Dieter Marquardt. München 1968. Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. 2 Bde. Tübingen: Niemeyer 1993. - Darin: Herausgeberbericht, Bd. 1, S. 1-132. [Heym-HKA 1993, Hrsg.-Bericht] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. [Basel], Frankfurt/Main: [Stroemfeld]/Roter Stern 1975ff. Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bde. Bern: Benteli 1958-1996.

Andere Literatur Dammann, Günter: Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an seinen Handschriften. Über die Entstehung der Gedichte „Mortuae", „Totenwache", „Letzte Wache". In: Orbis litterarum 26, 1971, S. 42-67. Dammann, Günter / Martens, Gunter: Einführung in die textgenetische Darstellung der Gedichte Georg Heyms. In: editio 5, 1991, S. 178-198. Gabler, Hans Walter: Optionen und Lösungen: Zur kritischen und synoptischen Edition von James Joyces Ulysses. In: editio 9, 1995, S. 179-213. Göttsche, Dirk: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Text und Edition 2000, S. 37-63. Grisillon, Almuth: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique ginetique" Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell überarbeitet von Almuth Gresillon. Bern u.a. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft. 4). - Französische Erstausgabe Paris 1994. 55

Vgl auch Göttsche 2000, S. 50 f.

198

Gabriele Radecke

Martens, Gunter: Umbra Vitae und Der Himmel Trauerspiel. Die ersten Sammlungen der nachgelassenen Gedichte Georg Heyms. In: Euphorion 59, 1965, S. 118-131. Martens, Gunter: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 165-201. Martens, Gunter: Die Funktion des Variantenapparates in Nachlassausgaben expressionistischer Lyrik. In: Die Nachlassedition. La publication de manuscrits inidits. Akten des vom Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1977. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt/Main, Las Vegas 1979 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte. 4), S. 81-95. Martens, Gunter: Entwürfe zur Lyrik Georg Heyms. Möglichkeiten des Einblicks in die immanente Poetik seiner Dichtungen. In: editio 1, 1987, S. 250-265. Martens, Gunter: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Poetica 21, 1989, S. 1-25. Martens, Gunter: Was ist - aus editorischer Sicht - ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991 (Akademie der Wissenschaften Berlin, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, Gruppe Textologie), S. 135-156. [Martens 1991a] Martens, Gunter: „Historisch", „kritisch" und die Rolle des Herausgebers bei der Textkonstitution. In: editio 5, 1991, S. 12-27. [Martens 1991b] Martens, Gunter: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Beiträge zur VI. Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen (11.-13. Juni 1992 in Berlin). Hrsg. von Hans Gerhard Senger. Tübingen 1994 (Beihefte zu editio. 6), S. 71-82. Martens, Gunter: Dichterisches Schreiben als editorische Herausforderung. Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Textdarstellung in historisch-kritischen Ausgaben. In: Textgenetische Edition 1998, S. 103116. [Martens 1998a] Martens, Gunter: Was die Handschriften sagen. Überlegungen zur Bedeutung und Praxis textgenetischer Editionen. In: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht. Hrsg. von Walther Dürr, Helga Lühning, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke. Berlin 1998 (Beihefte zur Zeitschrift ftlr deutsche Philologie. 8), S. 58-72. [Martens 1998b] Martens, Gunter: Methoden der Textkritik und Textedition. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann und Sven F. Sager. 1. Halbband. Berlin, New York 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 16,1), S. 201-208. Radecke, Gabriele: „Leider nicht druckfertig". Spuren der Unvollendetheit in Theodor Fontanes Mathilde Mehring. In: Schrift - Text - Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke und Elke Senne. Tübingen 2003 (Beihefte zu editio. 19), S. 221-230. Scheibe, Siegfried: Zum editorischen Problem des Textes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 12-29. Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000. Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10). Zeller, Hans: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In. Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 45-89. Zeller, Hans: [Rez.:] Georg Heym: Gedichte 1910-1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1993. 2 Bde., XVIII, 798 S.; VI; S. 799-1662. In: editio 11, 1997, S. 246-252. Zeller, Hans: Befund und Deutung - ihre Dosierung abhängig von der Sprachverwendung des Autors? In: Textgenetische Edition 1998, S. 154-167. Zwerschina, Hermann: Die editorische Einheit,Textstufe'. In: Textgenetische Edition 1998, S. 177-193. Zwerschina, Hermann: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Text und Edition 2000, S. 203-229.

Dierk Ο. Hoffmann, Harald Zils

Hölderlin-Editionen

1.

Überblick

1.1.

Einführung

Friedrich Hölderlins Werk ist editorisch nicht nur sehr gut erschlossen, sondern die Editionen sind auch - wie schon öfter festgestellt wurde (z.B. Wackwitz 1985, S. 1) Marksteine in der deutschen Editionsgeschichte. Deren Entwicklung spiegeln sie in den Hauptzügen wider, einschließlich der wissenschaftlichen Fehden. Die entscheidenden Unterschiede zwischen ihnen beruhen primär auf der schwierigen Überlieferungslage und einer ungewöhnlichen Biographie - oder, um es eleganter mit Hans Pyritz (1953, S. 92) zu sagen: „Das eigentliche und unaufhebbare Dilemma einer Hölderlin-Edition [...] sitzt in der Beschaffenheit der Quellen, ja in der Beschaffenheit des Dichters selbst." Beide fordern Spekulation, verschiedene Deutungen heraus; ihre Aufarbeitung ist aufs engste mit den technischen Bedingungen wie mit dem Wissensstand der jeweiligen Epoche verbunden, tangiert gesellschaftliche Weltbilder betreffs der Beziehung zwischen geistiger „Normalität" und Kunst, wirft damit grundlegende Fragen der Hermeneutik auf und hinterfragt stets aufs neue die Aufgaben von Editoren, ihre Rolle als „Kunstrichter" (vgl. Nottscheid 1997), ihre Verantwortung bei der Textkonstitution, den Unterschied zwischen „glattem" oder „aufgerauhtem" Text. Wohl selten hinterließ ein Dichter von zeitlosem Rang, nachdem er den größten Teil seines Lebens in einem Zustand der Absonderung verbrachte, ein Werk, von dem bei seinem Tode nur weniges im Druck - und dann zum Großteil entstellt - vorlag. Der größte Teil der Produktion bestand aus unveröffentlichten, an verschiedenen Orten gelagerten, schwer lesbaren Manuskripten, die Pyritz (1943, S. 89) mit einem „Labyrinth" verglich, da „ein Großteil des Werkes eben nur in Konzepten vorhanden ist: manchmal sämtliche Werdestufen vom Urkeim bis zur Schlußfassung auf einem Blatt oder auf mehreren Blättern, die dann vielleicht noch der kranke Dichter in Unordnung brachte oder die Spekulationssucht späterer Besitzer auseinanderriß." Diese Überlieferungslage bedeutet die größte editorische Herausforderung und hatte eine bis heute nicht beendete Metamorphose des Werks zur Folge. Die jahrzehntealte Feststellung von Pyritz (1953, S. 93) trifft noch immer zu: Hölderlins Werk präsentiert sich „in ständig wechselnden Formen", ja, es „stellt sich in seinen verschiedenen Rezensionen nach Inhalt und Umfang im ganzen und einzelnen, nach Wortlaut und Struktur der

200

Dierk 0 . Hoffmann, Harald Zils

Texte so ungeheuer variabel dar, wie das für keinen Autor des grauesten Altertums im Laufe vielhundertjähriger Forschungsgeschichte auch nur annähernd zutrifft." 1.2.

Abriß der Editionsgeschichte

Neben dem zweibändigen Hyperion-Roman (1797 und 1799) und den im letzten Arbeitsgang in großer Hast abgeschlossenen und deshalb mit vielen Druckfehlern behafteten Sophokles-Übersetzungen (1804) wurden mit Hölderlins Willen nur etwa siebzig Gedichte, meist ohne direkte Betreuung durch den Autor, an den verschiedensten Orten gedruckt: manche in Musen-Almanachen, die junge Talente förderten, andere in ephemeren poetischen Taschenbüchlein, die der Zerstreuung dienten, einige in literarisch anspruchsvollen Sammlungen, z.B. in Schillers Neuer Thalia und den Hören (vgl. vor allem Volke 1993, Kohler 1961 und darin Raabe). Die Herausgabe einer eigenen literarischen Zeitschrift, eine von Freunden vorangetriebene, für 1802 geplante Gedichtsammlung bei Cotta sowie Hölderlins Absicht „die großen Hymnen der Spätzeit [...] in einzelnen lyrischen Flugblättern' oder als repräsentative Sammlung" bei dem Frankfurter Verlag Friedrich Wilmans drucken zu lassen, gehörten zu den nicht realisierten Plänen (Raabe 1961, S. 21 f.). Ab 1806, nachdem Hölderlin die gewaltsame Einlieferung in eine Heilanstalt hatte erleben müssen, war die Bewahrung seines Werks ganz den Freunden überlassen. Besonders Isaac von Sinclair nahm sich dessen an. So lernten die Zeitgenossen einige der großen Gesänge der Spätzeit schon 1806 und 1807 kennen, doch Sinclairs Plan einer Sammlung von Gedichten, den er zusammen mit dem WinckelmannHerausgeber Johannes Schulze gefaßt hatte, scheiterte an seinem frühen Tod (1815). Schulze, der im Besitze eines Teils des Sinclairschen Nachlasses war, griff jedoch die Idee nach einer durch Kriegswirren bedingten Unterbrechung 1820 wieder auf, unterstützt von einem Verwandten, dem preußischen Leutnant Johann Heinrich Diest, einem Hölderlin-Verehrer, dessen Initiative auch die zweite Auflage des Hyperion (1822) zu danken ist. Hölderlins Landsmann Justinus Kerner, den Schulze anschrieb, erkannte, was für „eine Schande" es ist, „daß nun Ausländer sich unsres unglücklichen Mitbürgers annehmen", wie er Ludwig Uhland gegenüber anmerkte (zit. in Bothe 1992, S. 23). So gewann er ihn und Gustav Schwab als Herausgeber. Doch dauerte es noch einige Jahre, bis diese erste Sammlung schließlich 1826 vorlag, wobei sowohl die nach Ansicht der Herausgeber epigonenhaften Jugendgedichte als auch die unter Wahnsinnsverdacht stehenden Gedichte der Spätzeit ausgeschieden wurden. Ihr Anliegen war - wie Ludwig Uhland in einem Brief an Hölderlins Stiefbruder Carl Gok erläuterte (und wie spätere Herausgeber oft wiederholten) Hölderlins Poesie „in ihrer vollen und gesunden Kraft" vorzustellen (zit. in StA, 7,2, S. 567). Doch der Erfolg der nicht allein restriktiven, sondern auch fehlerhaften Ausgabe (weder Uhland noch Schwab hatten Korrekturbögen erhalten; Volke 1993, S. 13) war bescheiden, nicht zuletzt wegen mangelnder Werbung und einer niedrigen Auflage. Erst in Hölderlins Todesjahr 1843 wurde eine zweite Auflage veröffentlicht, die einen von Gustav Schwab in Zu-

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201

sammenarbeit mit seinem ältesten Sohn Christoph Theodor verfaßten Lebensabriß Hölderlins enthielt. Trotz des geringen Widerhalls auf die Gedichtsammlung wurde aber gleich nach Hölderlins Tod auch eine Gesamtausgabe geplant. Schon 1844 von Cotta angekündigt, erschien sie 1846 in zwei Bänden, besorgt von Christoph Theodor Schwab. Bereits 1845 war in der Sammlung historisch-berühmter Autographen erstmals ein Faksimile einer Hölderlinschen Handschrift, das wenige Tage vor seinem Tod notierte Gedicht Freundschaft, veröffentlicht worden (Metzger 2002, S. 3). Die editorischen Grundsätze der neuen Ausgabe entsprachen der früheren Sammlung, und von Vollständigkeit konnte auch diesmal - trotz des Titels Hölderlins sämmtliche Werke - keine Rede sein: Übersetzungen und theoretische Fragmente fehlten ganz, die Gedichte schlossen vieles aus, einen philologischen oder kommentierenden Apparat gab es nicht (Metzger 2002, S. 2). Immerhin enthielt Band 2 neben einer ausführlichen Biographie eine erste, wenn auch ebenfalls unvollständige Sammlung der Briefe, bei denen viel ausgelassen und retuschiert worden war (Raabe 1963, S. 22). Pyritz (1943, S. 90) urteilte über den Herausgeber Christoph Theodor Schwab: V o m besten Willen beseelt, aber mit Hölderlins Schreibgewohnheiten unvertraut, ein eiliger Arbeiter, und außerdem noch immer in der zeitüblichen Auffassung befangen, die literarische Pflegschaft mit kritischem Zensoramt gleichsetzte, tat er den Papieren, die ihm reichlicher als jedem Nachfolger zur Hand lagen, zwiefache Gewalt an: er ließ beiseite, was er nicht entziffern konnte oder unwichtig fand; und er trug in den Wortlaut seine Lesefehler, seine Notbehelfe, seine Glättungsversuche hinein.

Während diese Gesamtausgabe keine weiteren Auflagen erlebte, erschien die GedichtAusgabe von 1826 im Jahre 1847 in einer dritten Auflage, vermehrt um einige Gedichte der Gesamtausgabe, und 1878 in einer vierten mit weiteren Jugendgedichten. Größere Verbreitung als durch diese halb-wissenschaftlichen Ausgaben und dem neuen, 1874 von Schwab jun. herausgegebenen Auswahlband fand Hölderlin allerdings worauf Werner Volke hinwies (1993, S. 2 8 - 3 8 ) - in populär-pädagogischen Anthologien wie der Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen von Karl Eduard Philipp Wackernagel (ab 1832 sieben Auflagen), in Gustav Schwabs Auswahl von HölderlinGedichten in den Fünf Büchern deutscher Lieder und Gedichte von 1835 oder in Wilhelm Wackemagels im selben Jahr publizierten Deutschem Lesebuch. Wichtige Multiplikatoren waren aber vor allem Meyer 's Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker, in der 1854 als 236. Bändchen Friedrich Hölderlin und Karl Mayer erschien, und die Reihe National-Bibliothek der Deutschen Classiker, die 1855/56 im 95. Bändchen neben Werken von Wilhelm Heinse auch Gedichte Friedrich Hölderlins aufnahm. In Meyers Bibliothek der Deutschen Klassiker teilte sich Hölderlin schließlich den 12. Band mit Georg Christoph Lichtenberg und dem Grafen Christian Erbst von Bentzel-Sternau. Nach Ablauf der dreißigjährigen Schutzfrist brachte Reclams UniversalBibliothek einen Gedichtband und den Hyperion heraus, die Vorlage waren für Meyers Volksbücher Nr. 190/191 (Hölderlins Gedichte) und Nr. 471/472 {Hyperion). Bis zur

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Jahrhundertwende wurden auf diese Weise einige zehntausend Bändchen Hölderlin verkauft (Metzger 2002, S. 3). Ein erster Ansatz zu einer kritischen Ausgabe, der unrealisiert blieb, geht zurück auf den Literaturwissenschaftler und Bibliothekar Hermann Fischer. Ein zweiter Versuch, den Robert Wirth wagte, führte ebenfalls nicht zu einer vollständigen Edition, sondern nur zu der Publikation Vorarbeiten und Beiträge zu einer kritischen Ausgabe Hölderlins (1885) (Bothe 1992, S. 59). Karl Köstlins 1884 herausgegebene Ausgabe Dichtungen beschränkte sich auf Bekanntes, versuchte aber immerhin erstmals eine „historisch-genetische Ordnung" für den Druck der Gedichte. Der Grundsatz einer Auswahl wurde beibehalten, um - wie schon bei Uhland - die „eigentlichen, vollgiltigen Denkmale seines Genius" um so stärker strahlen zu lassen (Volke 1993, S. 47). Carl C.T. Litzmann setzte dessen Werk der „Wissenschaftlichkeit" fort. Er legte 1890 die erste umfassende Biographie des Dichters vor und „die seinerzeit vollständige Sammlung der Briefe von und an Hölderlin in einer wissenschaftlich zuverlässigen Textgestalt" (Raabe 1963, S. 23). Seit Schwabs Edition hatte neben einigen verstreuten Einzelmitteilungen nur Ernst Kelchner in seinem Bändchen Friedrich Hölderlin in seinen Beziehungen zu Homburg vor der Höhe eine größere Anzahl von Hölderlin-Briefen veröffentlicht (Raabe 1963, S. 23). Die Pläne einer kritischen Gesamtausgabe, für die Carl Litzmann viel Material gesammelt hatte, verwirklichte in einem beschränkten Grad 1896 sein Sohn Berthold. Wohl bot auch diese Ausgabe mit biographischem Abriß nur eine Auswahl - wiederum fehlten vor allem die Übersetzungen und Gedichte der Spätzeit - , doch war der Text immerhin anhand der Handschriften und Drucke kritisch geprüft. Diese Editionslage half mit, in Hölderlin lediglich eine Nebenfigur der Romantik zu sehen, wie bei Rudolf Haym in seiner bedeutenden Monographie Die romantische Schule (1870) (Kaulen 1994, S. 556), obwohl durch Nietzsches Sicht der Krankheit als „Stimulans des Lebens" und der Parallelisierung von Nietzsches und Hölderlins Schicksal, die um die Jahrhundertwende zu einem Topos werden sollte, langsam, vor allem durch Wilhelm Dilthey, eine neue Hölderlin-Rezeption vorbereitet wurde (Kaulen 1994, S. 559f.). In dieselbe Zeit, also die letzten Jahre des Jahrhunderts, fallen auch die ersten Hinweise auf die Bedeutung Hölderlins von Karl Wolfskehl, die Stefan George 1902 aufgriff, als er zusammen mit Wolfskehl Hölderlin den Zeitgenossen als beispielgebenden Künstler in dem Band Deutsche Dichtung: Das Jahrzehnt Goethes mit einer Auswahl seiner Gedichte vorstellte (Bothe 1992, S. 118, 116). Editionsgeschichtlich wichtiger aber war die Böhmsche Ausgabe von 1905. Wilhelm Böhm, der 1902 mit Studien zu Hölderlins Empedokles promoviert hatte (Kelletat 1958-60, S. 212), brachte hier zum ersten Mal seit 1804 die Sophokles-Übersetzungen heraus. Auch ergänzte er die bisher bekannte Briefsammlung durch einige neue Briefe aus dem von ihm entdeckten Nachlaß Gustav Schlesiers. Gustav Schwab hatte Schlesier einst erlaubt, die ihm von Hölderlins Stiefbruder Carl Gock zur Verfügung gestellten Dokumente zu kopieren, da Schlesier damals eine Hölderlin-Biographie plante. Diese erschien nie, doch die Abschriften gewannen großen Wert, da die Originale abhanden

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gekommen waren (Steimer 2002, S. 5). Fast parallel zu den drei Bänden von Böhm und Paul Ernst, der die Ausgabe angeregt hatte und den Gedichtband der Erstauflage betreute (Kelletat 1958-60, S. 212), erschien in der Reihe Bongs Klassiker eine vierbändige Ausgabe von Marie Joachimi-Dege (1908). Während diese aber keine Neuauflage erlebte, waren die Böhmschen Bände durchaus populär: die 2. Auflage, bei der er sich besonders den kunstphilosophischen Aufsätzen Hölderlins widmete (ebd., S. 212), kam mit einem eigenen Briefband nach Angabe auf dem Titelblatt 1910 heraus (genauer: 1911; Kelletat 1967/68, S. 278); die 3. Auflage von 1921 war ein unveränderter Abdruck der 2. Auflage; eine 4., auf fünf Bände erweiterte Auflage erschien 1924. Doch die wirkliche wissenschaftliche Rezeption begann erst mit den konkurrierenden Ausgaben von Franz Zinkernagel und Norbert von Hellingrath, deren Arbeit in Abschnitt 2 vorgestellt wird, wobei hier schon darauf hinzuweisen ist, daß Hellingrath auch bereits vor der Arbeit an seiner kritischen Hölderlin-Ausgabe vermittelnd wirkte. So wies er Wolfskehl und George auf die Pindar-Übersetzungen hin und erwähnte sie auch in seinem Briefwechsel mit Wilhelm Böhm, der dann Proben in seine 2. Auflage einfügte. Auch „George hat sich offensichtlich, von dem Sprachwunder dieser Entdekkung angerührt, sofort entschlossen, die Gedichte in die ,Blätter für die Kunst' aufzunehmen; in der neunten Folge erschienen im Februar 1910 schon 7 Pindarische Oden, alle Pindarübertragungen Hölderlins in einer selbständigen Publikation im Verlag der Blätter fiir die Kunst gegen Ende des Jahres. Ebenfalls im Jahr 1910 nahmen George und Wolfskehl die von Hellingrath gefundene und gelesene ,Hymne an die Dichter' Wie wenn am Feiertage in den 3. Band ihrer Anthologie .Deutsche Dichtung', ,Das Jahrhundert Goethes', a u f (Kelletat 1967/68, S. 278). Mit Hellingraths Ausgabe wird erstmals das sogenannte „Spätwerk" (d. h. das Werk zwischen 1800 und 1806) in seiner ganzen Breite nach textkritischen Gesichtspunkten dokumentiert und auf diese Weise ein ganz neuer Hölderlin vorgestellt, dessen Wirkung weitgefächert ist und sowohl die Expressionisten als auch durch die Vermittlung von Ludwig von Pigenot, der neben Friedrich Seebaß das Werk nach dem frühen Tod Hellingraths (1916) fortführte, die Jugendbewegung einschloß. Generell ist zu konstatieren, daß die Forschung aufgrund der neuen Editionslage sowohl an Breite als auch an Intensität und Substanz gewinnt. Quellengeschichtliche Funde wie die Erstausgabe der Diotima-Briefe (1920) durch Karl Vietor stehen neben systematischen Untersuchungen, monographische Arbeiten zu Leben und Werk [...] neben eingehenden Einzelanalysen zur Lyrik oder zu anderen Teilaspekten des Werks. (Kaulen 1994, S. 570)

Und neben den beiden parallel erscheinenden ersten historisch-kritischen Editionen kamen vor allem in den zwanziger Jahren noch mehrere allgemeine ein-, zwei-, dreiund vierbändige Werkausgaben sowie einbändige Gedichtsammlungen heraus. Einige, wie die neuen Reclam-Bändchen (UB 6266-6269; Metzger 2002, S. 4), folgten der Hellingrathschen Ausgabe; der Insel-Verlag brachte 1922 ohne Jahresangabe eine einbändige, auf den ersten vier von Zinkernagel edierten Bänden beruhende Dünndruck-Ausgabe heraus, deren Text von Friedrich Michael der modernen Orthographie

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Dierk Ο. Hoffmann, Harald Zils

angenähert worden war (Sarkowski u.a. 1999, S. 193). Auch begannen Teile des Werks in Übersetzungen in mehrere Sprachen zu erscheinen. Hölderlin gehörte jetzt zum bürgerlichen Bildungskanon. Doch neue Fehlsichten, neue Klischees entwickelten sich, zu denen Wilhelm Michel mit Hölderlins abendländische Wendung (1922) und Max Kommereil mit Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928) beitrugen und die direkt zur Okkupation Hölderlins durch die nationalsozialistische Kulturpolitik führten (Kaulen 1994, S. 573). Wie immer man Hölderlin sah, mit dem Nahen des 100. Todestages war es allen Interessierten klar geworden - und Friedrich Beißner spielte seit seiner Dissertation 1933 dabei die führende Rolle - , daß trotz der verschiedenen Bemühungen der früheren Herausgeber und Arthur Hübschers Studie Hölderlins späte Hymnen (1942), die auf eine frühere Arbeit (1924) zurückging und deren Textkonstitution sowohl die Handschriften Hölderlins als auch die Ausgaben von Hellingrath, Zinkernagel und Beißners Dissertation Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (1933) berücksichtigte (Hübscher 1942, S. 125), eine definitive Ausgabe noch immer fehlte. Das Ergebnis dieser Erkenntnis war die Stuttgarter Ausgabe (StA), ein rund vier Dekaden währendes Forschungsprojekt, das nicht zuletzt wegen Hölderlins Ruf als „Seher und Sänger einer vaterländischen Zukunft und einer geweihten volkhaften Gemeinschaft der Deutschen" (W. Hoffmann 1942, S. 10) während des Zweiten Weltkriegs mit großzügiger staatlicher Unterstützung beginnen konnte (vgl. Abschnitt 2). Da durch die Kriegswirren bedingt ,,[m]ehr als die Hälfte der ersten Auflage von 3000 Exemplaren der Großen Stuttgarter Ausgabe [...] bei einem Bombenangriff zerstört" wurde und auch „der zweite und der dritte Druck" das „gleiche Schicksal" erlitten haben, „wobei zuletzt auch noch der ganze, außerordentlich heikle Satz des wissenschaftlichen Apparates mit allen Lesarten und Erläuterungen verlorenging" und auch „der erste Band der ,Kleinen Stuttgarter Ausgabe', die den neuen Text ohne Anhang bringen sollte, [...] in einer Auflage von zwanzigtausend Exemplaren fertig ausgedruckt beim Buchbinder in einer Nacht verbrannte" - nur drei Exemplare blieben erhalten - , bereitete der Schweizer Atlantis Verlag eine zweibändige Leseausgabe vor, wobei der Verlag „für den Text alle früher erschienenen kritischen Ausgaben verwenden" konnte: Hellingrath, Zinkernagel, Hübscher und den ersten Band Beißners. Während der Verleger selbst als Herausgeber fungierte, stammten „die Richtlinien [...] ebenso wie die Einleitung" von Emil Staiger. Das Resultat war eine eklektische Ausgabe, „ein unentschlossener Wechsel in der Verwendung der vier kritischen Ausgaben" (Stoll 1946/47, S. 144-146), wobei die Ausgabe primär durch die „schöne und tiefe" Einleitung Emil Staigers Bedeutung gewann (Schefold 1944). Die Nachkriegsjahre erlebten einen Hölderlin-Boom. Nicht nur erschien die StA in einer für die Forschung bestimmten „großen" und der für die allgemeine Öffentlichkeit gedachten „kleinen" Ausgabe, sondern daneben gab es viele davon unabhängige, wie später auch darauf gründende Gesamtausgaben mit unterschiedlich wertvoller Kommentierung und noch mehr Auswahl- und Einzelausgaben der Gedichte bzw. des Hyperion und des Empedokles, wobei auch „eine intensivere Erforschung der Gedichte

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aus der Zeit nach 1806" in den 1960er Jahren einsetzte (der „spätesten" Dichtung), denen bis zu diesem Zeitpunkt - selbst nach der Rehabilitierung des „Spätwerks" - das Stigma des Wahnsinns anhaftete (Nottscheid 1997, S. 110). Es gab fast kein Jahr, in dem nicht eine neue Hölderlin-Ausgabe erschien, und die meisten Verlage, nicht nur die traditionellen Hölderlin-Verlage, versuchten sich gegenseitig zu überbieten (Überblick in Metzger 2002, S. 10 f.). Auch im Ausland setzte sich die in den zwanziger Jahren begonnene Rezeption fort, und es erschienen ebenfalls fast in jedem Jahr Hölderlin-Bände in vielen Sprachen, nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. Trotz des ungewöhnlichen Erfolgs der StA und der großen Verehrung, die Beißner nach dem Krieg gezollt wurde, waren aber auch schon früh kritische Stimmen laut geworden, die sich mit der Entdeckung der Reinschrift der Friedensfeier (1954) nach der Veröffentlichung des entsprechenden kritischen Bandes verstärkten und schließlich in Verbindung mit der Studentenrevolte der 1960er Jahre und mit einer neuen, durch Pierre Bertaux popularisierten Sichtweise, die Hölderlins geistige Beziehungen zur Französischen Revolution betonte, zu dem Beginn einer neuen, die StA ergänzenden oder - je nach Sichtweise - rivalisierenden Ausgabe führten, der Frankfurter Ausgabe (FHA; s. Abschnitt 2.4), und zu einer editorischen Diskussion, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Auswahl an Ausgaben für die breitere Öffentlichkeit hat sich durch die Kontroverse StA-FHA, die manchmal zu sehr heftigen, polemischen, im Grunde auch recht amüsanten Auseinandersetzungen führte, sehr erweitert. Besonders zu erwähnen sind die parallel erscheinenden, von Gerhard Schulz mit „Sehr deutsch und sehr groß Konkurrenz: zwei Hölderlin-Ausgaben fur ein glückliches Land" (1993) begrüßten, dreibändigen Ausgaben des Beißner-Schülers Jochen Schmidt und des ehemaligen Mitarbeiters an der FHA Michael Knaupp, da sie sozusagen die den maßgebenden historisch-kritischen Editionen entsprechenden Leseausgaben darstellen: die Ausgabe Schmidts im Deutschen Klassiker-Verlag weitgehend auf die StA gestützt, jedoch mit noch umfangreicherem Kommentar, Knaupp in vielem an die FHA angelehnt, in bezug auf den Text eine „historisch-kritische Ausgabe im Kleinen und in Auswahl" bietend (s. dazu die Besprechungen in Arbitrium 1995). Nicht minder wichtig ist die bilinguale Ausgabe der Lyrik Hölderlins von Luigi Reitani, die nicht nur eine Übersetzung ins Italienische bietet, sondern auch textkritisch neue Wege geht (Reitani 2002). Dieter Burdorf (2004, S. 188) rühmt den Band als bis jetzt überzeugendste „Präsentation von Hölderlins lyrischem Spätwerk im Rahmen einer Studienausgabe." Die aus darbietungstechnischen Gründen begonnene Gegenedition zu der FHA, von der bisher der Herausgeber Dietrich Uffhausen allerdings nur den Band „ Bevestigter Gesang". Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806 vorlegen konnte, zeigt aber, daß auch die FHA noch keinen Endpunkt der Entwicklung bedeutet. Wenn man zusätzlich vertraut ist mit den bisher in keiner Hölderlin-Edition berücksichtigten neuen elektronischen Technologien (s. auch D. Hoffmann 2002), die in manchen Aspekten dem einst von den FHA-Editoren Wolfram Groddeck und D.E. Sattler propagierten Slogan „Komm ins Offene, Freund!" (Groddeck/Sattler 1977, S. 19) ein

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noch besseres Vehikel als Buch-Ausgaben bieten, ist man überzeugt, daß es nur noch des Editionsinteressierten und sich in der Wissenschaftsindustrie Auskennenden bedarf, um eine fünfte historisch-kritische Hölderlin-Edition zu beginnen, wie sie sich schon auf den Webseiten der Arbeitsstelle Bremen (www.hoelderlin.de) abzeichnet.

2.

Historisch-kritische Ausgaben

2.1.

Die Ausgabe von Franz Zinkernagel

2.1.1. Grundlage und Geschichte Wie bereits angedeutet, verband sich am Anfang des 20. Jahrhunderts für die breitere an Literatur interessierte Öffentlichkeit mit dem Namen „Hölderlin" das Bild des vielversprechenden romantischen Dichters, dessen Talent zu früh zerbrach. So war sein Werk für einen gründlich arbeitenden Philologen wie Franz Zinkernagel ein gutes Thema im Rahmen einer systematischen Aufarbeitung deutschen Kulturguts. Entsprechend habilitierte er sich 1907 mit einer Schrift über Die Entwicklungsgeschichte von Hölderlins Hyperion und begann 1911 - nach Verhandlungen, die schon 1908 begonnen hatten (siehe u.a. Brief vom 28. August 1912 im Zinkernagel-Nachlaß) - im Auftrag des Insel Verlags eine historisch-kritische Gesamtausgabe vorzubereiten, wobei allerdings von Anfang an wohl ein Mißverständnis zwischen Verlag und Herausgeber herrschte, wie schon die Auseinandersetzung um die Orthographie zeigte (ein Streit, der immer wieder Verlage und Philologen in gegnerische Lager treibt): Der Verlag wünschte eine Ausgabe in modernisierter Schreibweise - die er auch schon 1922 erscheinen ließ Zinkernagel wollte die Originalorthographie beibehalten. Dem Verlag ging es also um ein breites Publikum, Zinkernagel um wissenschaftlich fundierte Arbeit (s. Bothe 1992, S. 63 und 239, Anm. 321 und 324). Ganz im positivistisch-historistischen Wissenschaftsverständnis seiner Zeit stehend, begann Zinkernagel seine Aufgabe, wie er schon seine Hyperion-Arbeit angegangen hatte, als Untersuchung der Abhängigkeit des Dichters von seiner Umwelt. Es galt, „die Ausformung und Entwicklung eines Dichtwerks dadurch nachzuzeichnen, daß sie die geschichtliche Lage des Dichters, die literarischen Bedingtheiten seiner Zeit und die auf ihn wirkenden Einflüsse untersuchte" (Pellegrini 1965, S. 48). So wollte er „zunächst einmal das von außen her Gegebene genauestens [feststellen], um alsdann auf dem Untergrunde des Typischen das mehr oder weniger Individuelle umso schärfer zu erfassen" (Zinkernagel, Bd. I, S. IX). Allerdings besteht dabei die Gefahr - wie Alessandro Pellegrini bemerkt - der ,„Tyche', den Umständen, unter denen sich die Individualität entwickelt, derartiges Gewicht [zu verleihen], daß man dadurch die grundlegende Ursprünglichkeit geradezu verleugnet" (Pellegrini 1965, S. 48). So sah Zinkernagel Hölderlin primär als Beeinflußten und betrachtete sein Werk - ganz im Sinne von Uhland, Schwab und allen anderen Vorläufern - als „nach zwei Seiten hin begrenzt: einerseits durch die Einflüsse, denen der Dichter in einer so überaus reichen

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Zeit, wie es die Klassik war, ausgesetzt war - andererseits durch den langsamen Verlauf seiner Krankheit, die im Wahnsinn endete" (ebd., S. 48). Das Frühwerk stand also im Zeichen des Epigonenhaften, das Spätwerk war Produkt der Geisteskrankheit, wie die von Zinkernagel angeregte psychoanalytische Studie Wilhelm Langes Hölderlin. Eine Pathologie (1909) darlegte (Pieger 1993, S. 80). Deshalb war Zinkernagel selbstverständlich verärgert, als ihm unerwartet in Norbert von Hellingrath, einem „blutjungen Anfänger" (Zinkernagel 1914, S. 357), Konkurrenz erwuchs, die aus seiner Sicht unwissenschaftlich war und genau die „katatonischen Spielereien Hölderlins" (Zinkernagel 1924, S. 280), die er „nicht zu den Forschungsgegenständen eines auf wissenschaftliche Seriosität bedachten Interpreten zählen [konnte]" (Bothe 1992, S. 71), als das Wesentliche hervorhob. In seinen Augen war die Auseinandersetzung mit den Übersetzungen aus dem Griechischen und „die trübe Phantastik" der Hymnen (Zinkernagel 1924, S. 277) ein wissenschaftlicher Skandal (Bothe 1992, S. 71). Sein Wissenschaftsethos, sein Ziel, das er sich gesteckt hatte, die sorgfältige Aufarbeitung alles Zugänglichen, erforderte Präzision, Detailarbeit und somit viel Zeit. Die Gegenseite jedoch suchte seiner Meinung nach den billigen Effekt und übereilte sich, um schneller als er etwas auf den Markt zu bringen. Sie gefährdete dabei nicht nur sein wissenschaftliches Projekt und beeinträchtigte sein akademisches Ansehen, sondern schadeten auch dem „Interesse der Wissenschaft", wie er in zwei scharfen, zehn Jahre auseinanderliegenden Rezensionen der Hellingrathschen Ausgabe formulierte. „Keine kleinere Gefahr besteht, als daß hier durch Reklamesucht und Kritiklosigkeit die gesamte Hölderlin-Forschung der Lächerlichkeit preisgegeben wird" (Zinkernagel 1914, S. 357). Vor allem den George-Kreis griff er an, wenn er seinem Widersacher seine falsche Haltung insbesondere zu Hölderlins Spätwerk vorhielt. Er kritisierte dabei nicht Hellingraths jugendlichen Enthusiasmus, sondern nur dessen Urteilsfähigkeit, die durch den „zweiten Meister" geprägt wurde: Stefan George, „der die Entgeistigung der Dichtkunst gleichsam zum Prinzip erhob" (ebd., S. 358 f.). Zinkernagel fühlte sich eindeutig zur Seite gedrängt; die Befürchtung, die ihn wohl von Anfang an gequält hatte, die weitere Entfremdung von seinem Verlag, wurde wahr. Der allein arbeitende Zinkernagel konnte auch zeitlich nicht mit den Konkurrenten Schritt halten, die ihm mit der Veröffentlichung gleich zweier Bände zuvorkamen; seine eigenen erschienen langsamer (1914-1926), er konnte kaum Erstveröffentlichungen vorzeigen, und die Auseinandersetzung mit dem Insel-Verlag, dessen Interesse wegen des durch die Konkurrenz mit verursachten schlechten Absatzes rapide sank, kostete Kraft und Zeit (Bothe 1992, S. 239, Anm. 234). Der 5. Band, der ursprünglich „die Zutaten des Herausgebers" enthalten sollte (Insel-Verlag: Vorankündigung) und 1924 von Zinkernagel „als in Druck befindlich" bezeichnet wurde (Zinkernagel 1924, Antwort, S. 711), erschien 1926 nur mit Primär-Texten. Der textkritische Apparat und Kommentar, also die Krönung seiner Arbeit, wurde nicht gedruckt - auch nicht in Zusatzbänden (siehe u.a. den Brief Anton Kippenbergs an Zinkernagel vom 4. Mai 1926, Hinweis bei George 1999, S. 338, Anm. 53). Zinkernagel hatte an einen 6. und 1930 sogar an einen 7. Band gedacht (Brief vom 25. Mai 1930, Nachlaß Basel). Sein

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Werk blieb jedoch unvollendet, selbst das Manuskript im Nachlaß ist „hardly in submittable form" (George 1999, S. 338, Anm. 54; auch Pieger 1993, S. 82). 2.1.2. Methodik und Systematik

Bedingt durch die in Abschnitt 1 geschilderte Überlieferungslage - und in der Tradition Karl Lachmanns - , sah Zinkernagel es als seine philologische Pflicht, Benutzem zum einen „einen kritisch gereinigten" Text vorzulegen (Zinkernagel 1924, Antwort, S. 712), der dann in den Bänden 1-5 erschien, zum andern ihnen einen Überblick über Drucke und Handschriften zu geben und in seinem Apparat sowohl Überlieferungs- als auch Entstehungsvarianten aufzunehmen, Vollständigkeit anstrebend für alles, was er editorisch als relevant empfand. Dabei stand im Zentrum von Zinkernagels Schaffen der Vorsatz, „sich bestmöglicher Neutralität zu befleissigen" (Zinkernagel 1928, Vorbemerkung, S. 2). Daraus folgt, daß der Schwerpunkt nicht auf neuen Funden, sondern bei der Sicherung und Prüfung des Bekannten und Anerkannten lag sowie in deren Systematisierung. Entsprechend legte er zuerst das schon Gedruckte (und ihm durch seine Habilitationsschrift Vertraute) vor: 1914 Band 2 mit Hyperion, dann 1915 Band 3 mit den Übersetzungen, darin der 1804 veröffentlichte Sophokles. Erst anschließend folgten die primär nur auf Handschriften beruhenden Werke, wobei ihm das Formale Leitschnur der Gliederung der Ausgabe war. Die Anordnung des Gesamtwerks folgte einer „künstlerischen und sachlichen Einteilung" und der Chronologie (Insel-Verlag 1914, Vorankündigung), da „Hölderlins Dichtungen fast durchweg ganz allmählich entstanden sind" (Zinkernagel 1914, S. 363) und die Ausgabe nicht als „problematische Entwicklungsgeschichte seines Künstlertums in Selbstzeugnissen" gedacht war. So war vorgesehen, „selbst das [vorzulegen], was eigentlich nur für den Psychiater Interesse hat", allerdings nur im Schlußband in dem Abschnitt „Texte der Krankheit" (Insel-Verlag 1914, Vorankündigung). Da die Textdarbietung .letzter Hand' bei Hölderlin nicht in Frage kam, ,ja auch eine Unmöglichkeit" war, mußte ein Text konstituiert werden, „den der Herausgeber [...] einigermassen verantworten konnte." Dem kritischen Apparat kam dabei eine zentrale Funktion zu. Zinkernagel beabsichtigte, ihn in einer „Ausgestaltung" vorzulegen, „wie sie die deutsche Literaturwissenschaft für eine Gesamtausgabe bisher noch nie durchzuführen vermochte" (Zinkernagel 1928, Vorbemerkung, S. 2 und 1). Zum einen wurde hier Rechenschaft gegeben über die editorischen Entscheidungen, basierend auf einer gründlichen ,recensio' und ,emendatio', wobei er auch die posthumen Drucke - „als posthum konnte alles gelten, was nach 1804 im Druck erschienen war" - und Abschriften von fremder Hand einschloß, wo möglicherweise „eine uns unbekannte Handschrift des Dichters zugrundegelegt war" (ebd., S. 3). „Wuchs aber diese Wahrscheinlichkeit sogar zu fester Gewissheit, und stellte sich die spätere Fassung obendrein als die reifere dar, [...] so schreckte man nicht einmal davor zurück, die Lesarten dieser posthumen Drucke im Texte darzubieten und statt ihrer die der authentischen Drucke in den Apparat zu verweisen." Ansonsten „wurde nur jeweils

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ausgemerzt, was den Gepflogenheiten des Dichters hinsichtlich Orthographie und Interpunktion in dem gegebenen Zeitpunkt widersprach" (ebd., S. 4). Zum andern wurde dem Apparat „die Aufgabe Uberbunden [...], nicht nur jeweils die Vorstufen zu verzeichnen, sondern auch das, was unter der Feder, bzw. dem Bleistift, ja unter dem Fingernagel des Dichters aus dem dargebotenen Text nachträglich noch geworden ist." Die Grundlage der „Grenzsetzung" war hierbei die ,,ganze[] Fassung" bzw. die „von ihr erreichte[] Schicht" (ebd., S. 2), wobei ,,[g]erade in Anbetracht der Schwierigkeit, überall zu einem völlig gesicherten Text vorzudringen", Zinkernagel zum obersten Prinzip der Darbietung des Handschriftenmaterials erhob, „dem Benutzer die Nachprüfung der Textgestaltung in den denkbar weitesten Grenzen zu ermöglichen" und ihm die Gelegenheit zu bieten, „den Widerstreit der handschriftlichen Varianten selber zu überschauen." Eine Faksimile-Ausgabe - die „zweifellos einmal kommen wird" - , das „rein äusserliche[] Zugänglichmachen des Textes" ist dabei, wie er wußte, nur der erste Schritt, denn die „Schwierigkeit liegt vielmehr sowohl in der Entzifferung als auch in der Darbietung des Entzifferten" (ebd., S. 5). So erkannte er: Folgerichtigkeit und Einheitlichkeit musste hier unbedingt die Losung sein, sollte bei der überwältigenden Fülle von Varianten in vielen Fällen die Orientierung nicht völlig verloren gehen. Beides aber war nur möglich bei strengster Durchführung des genetischen Prinzips. Denn wenn irgendwo, so musste hier mit der überlieferten, der klassischen Philologie entlehnten Methode des unbekümmerten Vorwärts und Rückwärts gebrochen werden. Galt es gerade hier doch am allerwenigsten, von einer als besten anerkannten Lesart den Blick über andere, weniger wahrscheinliche und weniger wichtige schweifen zu lassen, sondern einzig und allein, die allmähliche Entwicklung des Textes schrittweise durch alle Formen hindurchzuverfolgen. (ebd., S. 6)

Zinkernagel wählte dabei den deskriptiven Weg der Darstellung, dem primär die räumliche Ordnung zugrunde liegt, der die zeitliche Verzeichnung untergeordnet ist, da zum einen „diese zeitliche Aufeinanderfolge der Varianten" oft sehr zweifelhaft und damit eine zum Großteil subjektive editorische Entscheidung ist, und zum andern - und dies war ihm noch wichtiger - , da er jedem „ernsthaften Benutzer des Lesartenapparats die Möglichkeit [geben wollte], sich zu jeder beliebigen Stelle die handschriftliche Vorlage auf einem Blatt Papier selber zu rekonstruieren" (ebd., S. 7). Die Folge war ein streng logisch aufgebautes System, „das aus Mangel an Vorgängern sich in jahrelanger Arbeit erst allmählich konsolidieren konnte" (ebd., S. 7 f.). 1) Jedes Partizipium Perfekti, wie „gestrichen" (graphisch dargestellt durch Kursivdruck), „korrigiert" (graphisch dargestellt durch Nasenklammern {}), ,,drübergeschr(ieben)", „druntergeschr(ieben)", „nachgetr(agen)" u.s.w. bezieht sich auf das vorangegangene, jede andere Angabe auf das nachfolgende Wortgebilde. 2) Steht die Angabe in Winkelklammern < >, so bezieht sie sich stets nur auf das eine vorangegangene Wort (was bei Ueber- oder Unterschreibungen besagen will, dass deren Ende mit diesem Wort zusammenfällt), andernfalls auf das gesamte Lemma, bzw. auf dessen unmittelbar vorher zitierten Ersatz.

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3) Wird um der besseren Uebersicht willen mit dem Worte „Text" auf das Lemma zurückverwiesen, ohne dass genaueste Uebereinstimmung vorliegt, so wird durch Ansetzung eines neuen Lemmas die Abweichung alsbald genauestens richtig gestellt. 4) Gleiche, bzw. entsprechende Termini setzen gleiche Abhängigkeitsgrade voraus. Folgt also beispielsweise einem „darüber" ein „über diesem" und diesem wiederum ein „darunter", so ist damit ausgedrückt, dass diese letzte Variante weder unter der zweiten noch unter der ersten zu finden ist, sondern unter dem zuvor zitierten Grundtext. 5) Sind die Termini „davor", „dahinter", „darüber" u.s.w. durchweg räumlich zu verstehen, so tritt bei den Termini „vorher" und „darnach" zu der räumlichen Bestimmung auch noch die zeitliche. Ebenso bedeutet „abs(etzend)", dass der Dichter den soeben niedergeschriebenen Text fahren lässt mit all seinen Korrekturen, um auf einer neuen Zeile, gegebenenfalls innerhalb derselben, zu einem neuen Texte anzusetzen.

(ebd., S. 8; Beispiele fur das System bieten Zeller 1996, S. 34, und George 1999, S. 79f.)

2.1.3. Wirkung und Kritik „Auf die arbeit des herausgebers werden wir erst bei vorläge seines apparates genauer eingehen können", schrieb ein Rezensent 1915 in der Zeitschrift für deutsche Philologie nach Erscheinen des Hyperion-Bandes (d. i. Bd. 2), mit dem die Zinkernagelsche Ausgabe begann (Enders 1915, S. 489). Doch da dieser Band nie erschien, gelangten Zinkernagels editionswissenschaftliche Überlegungen im Grunde nur gerüchteweise primär durch die Vermittlung Friedrich Beißners - in das wissenschaftliche Bewußtsein. Er wurde gesehen als ein Vertreter der ,,genealogische[n] Darstellungsmethode", der um Vollständigkeit bemüht ist (Seiffert 1963, S. 143), statt als Vorläufer der deskriptiv-genetischen Vorgehensweise, die vor allem in Reinhold Backmann ihren Ziehvater sieht (Seiffert 1963, S. 135). Wirkungsgeschichtlich ist dem auch nicht zu widersprechen, ideengeschichtlich jedoch sollte er neben Bernhard Seuffert und Georg Witkowski erwähnt werden. Schon 1914 heißt es in einer Vorankündigung des InselVerlags: „Die Handschriften werden nicht nur für die Herstellung des definitiven Textes herangezogen, sondern aus ihnen wird auch alles mitgeteilt, was wesentlich ist, um ein Bild von der Entstehung und den Wandlungen der Werke zu geben." Es handelte sich bei Zinkernagels „varia lectio" also nicht um den „Typus eines mechanisch beschreibenden Verzeichnisses" (Pyritz 1943, S. 107), sondern es ging ihm dabei um das Netzwerk der Beeinflussung von Gedanken und Worten, das Oszillieren der Genese. „So haben wir einen entwurf, der [...] am individuellen kunstwerk gemachte beobachtungen festlegt. Während der niederschrift locken sie den dichter zu allgemeineren betrachtungen. Dadurch modifizieren sie sich. Das blatt bleibt dann liegen, und ein neues benutzt die erweiterten ausfuhrungen zu einer allgemeinen erörterung" (Enders 1915, S. 489). Im Kontext des einzelnen Manuskripts bedeutete dies dann die Entwicklung des in Abschnitt 2.1.2 beschriebenen Systems, ,,eine[s] alles Eigenhändige erschöpfenden, genau deskriptiven Apparat[s], der stets die Entwicklung als obersten Gesichtspunkt festhält", wie Backmann ein solches Vorgehen (bezogen auf die Arbeit an der Grillparzer-Ausgabe) beschrieb (Backmann 1924, S. 638). Wenn Zinkernagel auch davon

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Abstand nahm, eine hypothetische Entwicklung zu erstellen, so bot er doch all das, was er als Kenner der Handschrift ohne ausufernde Spekulation zu vermitteln verantworten konnte, einschließlich der Verzeichnung von Abbruchen und Überschreibungen. Er ging dabei nicht in simplizistischer Weise von einer durchgängigen Grundschicht der Niederschrift aus, an die sich dann einzelne eindeutige Korrekturschichten anschließen (Zwerschina 2000, S. 212), sondern man kann bei ihm von einer nicht sehr eleganten, da nur mit den einfachsten diakritischen Zeichen arbeitenden, Umschrift sprechen, die gezwungenermaßen auf äußerste Ökonomie bedacht sein mußte deswegen die Lemmatisierung. Sie setzt aktive Teilnahme der Benutzer voraus, die die oft (natürlich zu Recht) beanstandete Atomisierung der Variantenverzeichnung nicht aufhebt, ihr aber einen anderen Stellenwert gibt, den Benutzem neue Einsichten ermöglicht, falls sie Zinkernagels Aufforderung Folge leisten, die Handschrift zu rekonstruieren. Sein Ansatz weist voraus auf den „diplomatischen" Abdruck, wie er z.B. bei der Edition der Friedensfeier von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat (1959) zu finden ist, die natürlich eine wesentlich elegantere Vorstufe für eine genetische Deutung darstellt. Zinkernagels Vorschläge können deshalb wohl „als in den Ansätzen steckengeblieben" und von heutiger Sicht aus „in editionsphilologischer Hinsicht als enttäuschend" (Waleczek 1994, S. 146, Anm. 272) gesehen werden, doch verkennt eine solche Beurteilung seiner Bemühung sowohl den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Stand der Editionswissenschaft als auch seine Intention und seine Arbeitsbedingungen. (Zu einer positiven Beurteilung siehe auch Burdorf 2004, S. 180.) Dieselbe Parallelität, die im Allgemein-Theoretischen vorliegt, trifft auch auf die spezifische Editionsgeschichte von Hölderlins Werk zu. Norbert von Hellingrath (s. Abschnitt 2.2) ist wirkungsgeschichtlich gesehen eindeutig der Begründer der wissenschaftlichen Hölderlin-Forschung, von einem textologischen Standpunkt aus ist es aber Zinkernagel, der wie Hellingrath ein guter Entzifferer der Hölderlinschen Handschriften war und ein gründlicher Bibliograph. Emery Ε. George wies u. a. auf Zinkernagels richtige Lesung eines Abschnitts aus Der Einzige hin („the most intractable of the late hymns"; George 1999, S. 17), die in Vergessenheit geriet; Irene KoschligWiem (1942, S. 49) erwähnte die Bedeutung der detaillierten Angaben in Zinkernagels Apparat, die „ein unschätzbares Hilfsmittel" bei der Ermittlung einzelner Handschriften beim Aufbau des Hölderlin-Archivs waren. Zu Recht bemerkte deshalb E.E. George, daß „the editions of Hellingrath and Zinkernagel complement each other" und: „Anyone who [...] had a good look at Zinkernagels critical apparatus in manuscript, must concede that the Hölderlin philologist from Basel tries to do his utmost to represent Hölderlin's manuscript evidence" (George 1999, S. 80 und 78). Nach dem Abdruck eines Zinkernagelschen Apparatteils kann George nicht umhin anzumerken: „After such a visual display as this, it would be tempting to suggest that the textual criticism of Hölderlin's work begins with Zinkernagel, and not with Hellingrath" (ebd., S. 80). Doch wäre dies, wie George natürlich sofort feststellt, ebenso ungerecht wie das Vergessen der wissenschaftlich sorgfältigen Arbeit Zinkernagels (Raabe 1963, S. 24; George 1999, S. 17, 81), seines „solid, near-exhaustive, job of textual criticism"

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(George 1999, S. 78), das nur wenigen bewußt ist, da ,,[f|ür den Großteil der an Hölderlin interessierten Öffentlichkeit [...] Zinkernagel und der literaturwissenschaftliche Positivismus unablöslich [...] mit der hochmütigen Verkennung des Spätwerks und der Geringschätzung der übrigen Texte" assoziiert waren (Bothe 1992, S. 73). 2.2.

Die Ausgabe von Norbert von Hellingrath

2.2.1. Grundlage und Geschichte Der Philologe Norbert von Hellingrath hatte sich im Gegensatz zu dem zehn Jahre älteren, philologisch-pflichtbewußten Zinkernagel durch die Begeisterung am Werk Hölderlins seinem Forschungsgegenstand immer weiter genähert. Hellingrath, den Pyritz zu Recht als ,,Philologe[n] im altgriechischen Kernsinn, Künstler und Kulturphilosoph zugleich" sah (Pyritz 1943, S. 91), war fasziniert von dem Hölderlinschen Gebrauch der Sprache, war fern aller „Neutralität" in seinem Enthusiasmus und deswegen im wahrsten Sinne Antipode Zinkernagels. So hatte er als Dissertationsthema die Pindarübertragungen Hölderlins (1910) gewählt, schon im Untertitel programmatisch als Prolegomena einer Erstausgabe gekennzeichnet. Sein Ansatz führte ihn von Anfang an zu den Handschriften Hölderlins, wo er im Nachlaß nicht nur die Pindar-Manuskripte entdeckte, sondern viele andere bis dahin unbekannte Hymnen. Und wiederum im Gegensatz zu Zinkernagel, der sich in seinem ästhetischen Urteil am Anfang auf Langes Studie berief (s. Abschnitt 2.1.1 und 2.1.2) und erst später - wohl durch Hellingraths Arbeit zum Nachdenken gebracht - zur „allgemeinere^] Erkenntnis" kam, „dass beides [Krankheit und Künstlertum] sich keineswegs ausschliesst, und dass Hölderlin möglicherweise als Künstler sogar noch wuchs, als die Geisteskrankheit ihn im Grunde schon gebrochen hatte" (Zinkernagel 1928, Vorbemerkung, S. 2), heißt es bei Hellingrath apodiktisch in seiner Dissertation, in Kenntnis von Nietzsches aphoristischer Denkstruktur in den späten Gedichten Hölderlins ein strukturelles, poetisches Prinzip ausmachend (Kaulen 1990/91, S. 188): „Ein Kunstwerk fordert absolute Betrachtung. In der Geschichte der Kunst wird es danach gewertet, welche Erweiterung, Befestigung, Verfeinerung der Kunstmittel es brachte. Ob der Autor das aus einsichtiger Überlegung erreichte oder aus Wahnsinn oder wider Willen aus Ungeschick, das kommt erst für die Geschichte des Künstlers in Betracht" (Hellingrath [1911] 1944, S. 47). Das Spätwerk wird also als eine bewußte Fortsetzung und letzte Steigerung eines poetischen Grundprinzips begriffen. „Was als Hervorbringung eines Kranken von der Literaturgeschichte nicht beachtet worden ist, erscheint poetologisch als Ergebnis einer Vergeistigung und Rationalisierung, die den konventionellen Begriff der poetischen .Mitteilung' hinter sich läßt und zu einer bis dahin unbekannten absoluten Sprache der Dichtung vorstößt" (Kaulen 1990/91, S. 203). Während es dem der historischen Schule verpflichteten Zinkernagel um die Einflüsse ging, die Hölderlin geprägt hatten, wollte Hellingrath zeigen, was Hölderlin für

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seine eigene und die nachfolgende Zeit bedeutete. Er sah „von den Modernen bis zu Hölderlin zurück, in dessen Werk er eine Vorwegnahme der neuen Dichtung und das Vorbild einer großen deutschen Hymnendichtung fand" (Pellegrini 1965, S. 51). Im Rückblick auf Hölderlin wurde so zum Beispiel kenntlich, daß die Sprachkunst Georges „schon in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in deutscher Sprache geübt wurde. Andererseits schuf gerade die Auseinandersetzung mit der literarischen Moderne, die in ihrem Streben nach einem absoluten Ausdruck auf die diskursive Logik und begriffliche Mitteilung verzichtete, den geeigneten Horizont, um in der zerrissenen hermetisch-dunklen Bildersprache der späten Gedichte mehr zu sehen als das Scheitern eines dem Wahnsinn verfallenen Genies" (Kaulen 1990/91, S. 190). Was die Arbeitsbedingungen anging, stand Hellingrath - wie Zinkernagel - vor einer schier unlösbaren Aufgabe, die er sehr anschaulich im Vorwort zum ersten Band seiner Ausgabe beschrieb: Konnten wir [das heißt er selbst und Friedrich Seebaß] also die Ausbeutung dieser Handschriftenmasse unserer,Ausgabe zum Hauptziel setzen, und uns daran machen jene vergilbten Entwürfe zu entziffern, ein Geschäft, bei dem man nicht selten froh sein darf, wenn nach stundenlanger Arbeit einige Zeilen gesichert sind, so ist's uns nicht mehr so bequem gemacht wie etwa dem Dr. Kerner der in seinem Weinsberger Häuschen behaglich diese Blätter durchgehn durfte und mit roter Tinte seine Striche, Ziffern und Bemerkungen dareinschrieb, wir sind auf Räume, Licht, Stunden und die - aufrichtigsten Dankes werte - Liebenswürdigkeit öffentlicher Bibliotheken angewiesen, müssen den allgemeinen Besitz mit der Allgemeinheit teilen, vermochten nie das uns Zugängliche vollzählig an einem Orte zu vereinigen; und standen uns auch grosse Teile Monate lang zur Verfugung, immer wieder vermisst man im schmerzlichsten Augenblick diese Handschrift oder jenen Druck, und muss sich hie und da mit einer Abschrift oder Vergleichung von fremder Hand oder mit der eigenen von vor ein paar Jahren begnügen. So mag, nachdem wir viele hundert Lesefehler und Versehen eines jeden unsrer Vorgänger verbessert haben, auch für unsre Nachfolger an uns noch manches zu bessern übrig geblieben sein. (Bd. 1, S. XII) Aber immerhin hatte Hellingrath gegenüber Zinkernagel einen Vorteil, nämlich einen Helfer: Friedrich Seebaß. Neben seinem Enthusiasmus, mit dem er an die Arbeit ging, und neben dem Zeitgeist, dem er entsprach, konnte er nicht zuletzt dieser Tatsache wegen den Konkurrenten von Anfang an ausstechen und noch vor Zinkernagel 1913 zwei Bände im Georg Müller Verlag in München vorlegen. Darüber hinaus verstand Hellingrath strategisch vorzugehen. Während Zinkernagels Hauptleistung, der Apparat-Band, als Abschluß der Ausgabe kommen sollte und nie kam, begann Hellingrath von Anfang an Signale zu setzen, die Aufmerksamkeit einer interessierten Leserschaft zu wecken. So widmete er sich gleich am Anfang dem Band der Gedichte 1800-1806, entriß über 1000 Verse dem Vergessen und legte damit erstmals das gesamte lyrische Spätwerk vor. Während der fertige Band durch die Kriegswirren bedingt erst 1916 erschien, gab es schon 1914 fur die engsten Freunde einen limitierten Separatdruck (Böschenstein 1990, S. 204) - ohne Einleitung und Anhang (Kaulen 1990/91, S. 195). Daher konnte auch nach seinem frühen Tod 1916 die Arbeit

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erfolgreich fortgesetzt werden, trotz der kritischen Stimmen, die sich zu den Bänden seiner Nachfolger Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot meldeten. Bereits 1923 lag die Ausgabe vollständig in sechs Bänden vor. Wie am Anfang der Hellingrath-Ausgabe die Konkurrenz mit Zinkernagel stand, so am Ende die mit dem neuesten Hölderlin-Großprojekt: der Beißner-Ausgabe (s. auch Abschnitt 1.2 und 2.3). Und ehe sich diese neue Ausgabe etablieren konnte, wollte man die eigene Position mit einer Neuausgabe stärken, was in der Kriegszeit zwischen den rivalisierenden Parteien zu einem Krieg um Druckpapier führte: Beide bekamen aber dann doch ihren Anteil, nachdem „der Führer persönlich" eingegriffen hatte (Kahlefendt 1993, S. 137-141). 2.2.2. Methodik und Systematik Von Anfang an ist mit Hellingraths Namen der Begriff der „legendären Handschriftenfunde" verbunden, die philologisch-detektivische Arbeit. Zu Recht, vielleicht mit einem gewissen ironischen Seitenhieb, wies Hellingrath dabei allerdings darauf hin, daß die Bezeichnung „Handschriftenfunde" für das, was er tue, wohl falsch sei, „da ich nur den Stuttgarter nachlass benuzte der doch schlieszlich nicht mehr ,entdeckt' werden kann" (zit. in Kelletat 1967/68, S. 280). Er wußte nur zu gut, daß „der Zustand des handschriftlichen Nachlasses", wie es in der Vorankündigung der Zinkernagelschen Ausgabe heißt, „die Forscher abschreckt und sie furchten [läßt], eine Durcharbeitung dieser Bestände sei ziellos, eine Ordnung unmöglich." Darüber „schien die Tatsache [der] geistigen Erkrankung [Hölderlins] von der Verpflichtung zu befreien," wie Ludwig von Pigenot in seinem Rückblick auf Hellingraths Leistung anmerkte, „sich um sein Spätwerk philologisch überhaupt tiefer zu bemühen" (1944, S. 11). Das Wesentliche aber war, daß er diese Handschriften nur „finden" konnte, weil er sich wie wenige in die Dichtung Hölderlins einzufühlen und sie deswegen „in einer seltenen Vereinigung philologischer Divinationsgabe und kongenialer Liebe zu seinem Gegenstand" zu entziffern vermochte (Schürenberg 1944). Edgar Salin aus dem George-Kreis schilderte: „Wir sassen völlig ratlos vor mancher Seite und konnten nur Hellingrath bewundern, der mit traumwandlerischem Spürsinn den Weg durch das Dickicht fand und dann das zunächst mehr Erahnte als Gelesene mit einer grossen Lupe durch genaue Überprüfung jedes Wortes, j a jedes Buchstabens zu sichern wußte" (zit. nach Kaulen 1990/91, S. 192). Diese Gabe war eine der Grundlagen für die Erweiterung des bekannten Werk-Corpus von Hölderlin, die Neubewertung seiner Werke und damit für die Etablierung von Hellingraths Ruf als dem eigentlichen Entdecker Hölderlins. Ebenso wichtig war aber auch seine Würdigung der späten Gedichte als Kunstwerke, die eine breite Rezeption der Texte auslöste: Hellingrath erklärte die Neuentdeckungen zum Höhepunkt, zu „Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinschen Werkes", zum „eigentlichein] Vermächtnis" (Bd. 4, S. XI), das „wie ein Springquell" ist, „in unvergleichbare Höhe emporgetragen, in die selbst Götterkraft niemals die breite Woge des Sees heben könnte" (zit. nach Schefold 1944).

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So vollzog sich ein Perspektivenwechsel. Nun erst wird das Gesamtwerk für die ästhetische Würdigung herangezogen, wobei Werk und Leben in der Hellingrathschen Ausgabe nicht getrennt werden, ohne daß Hellingrath aber einer biographisch orientierten Interpretation das Wort redet; es ging ihm um einen holistischen Zugriff, um die Anerkennung des Verkannten, um die Richtigstellung des Bekannten, um die Dokumentation „schöpferischen Werdens und schöpferischer Wandlung" (Pigenot 1944, S. 14). „Darum das ungewöhnliche Verfahren, sogar die Briefe nicht im geschlossenen Bande zu bringen, sondern - in zeitlicher Schichtung - auf die verschiedenen Bände zu verteilen. Nur so konnte Hellingrath hoffen, daß die großen ,Perioden des Lebens' rund in Erscheinung träten und die ,Querschichten gleicher Reife' von selbst fühlbar würden" (ebd., S. 15). Darum der Nachdruck auf die von Hölderlin seinen SophoklesÜbertragungen beigefügten Anmerkungen, die Hellingrath als „Hölderlins bedeutendstes theoretisches Werk" sah und als „wol das Wichtigste was über die Tragödie gesagt worden ist" (Bd. 5, S. XII). Darum die Darstellung der Genese unter Berücksichtigung des ,,Bezeichnendste[n]" (Bd. 4, S. 270), das er in einen laufenden Kommentar einbaute, in dem er bibliographische Information mit Editionsgeschichtlichem und Erläuterungen vermischte. In der Einleitung zum Anhang des 1. Bandes seiner Ausgabe bemerkte er hierzu, den Verzicht auf Vollständigkeit und Deskription begründend: Wo aber Handschriften Abweichungen vom Texte bieten, schien uns die Aufgabe möglichst dokumentarisch unübersichtlich und ungeniessbar zu sein in unserm Falle für den Photographen so viel leichter als für den Philologen und Setzer, dass wir auf jene Vollständigkeit verzichtet haben, welche aus unsern Angaben die Handschrift gleichsam wiederherzustellen erlaubte, und nur die innere Vollständigkeit anstreben, die nicht den bescheidensten Beitrag übergehen zum Verständnis des Inhalts oder zur Kenntnis von Werden und Wesen der Form, ohne dem Frager nach Hölderlins Besserungen seiner Schreibfehler, nach unvollendeten Varianten noch ohne Sinn und Gesicht oder gar nach der räumlichen Anordnung der über jede Beschreibung krausen Entwürfe die Handschriften entbehrlich zu machen. (Bd. 1, S. 335f.)

Es galt - und dies war die Grundlage der Edition - eine grundsätzliche Revision durchzuführen, da, wie er in der Ankündigung seiner Edition feststellte, von keinem anderen Dichter „durch die Ausgaben ein entstellteres, ein gefälschteres Bild überliefert" werde als von Hölderlin: Seit Jahrzehnten werden Druckfehler und falsche Lesungen von Edition zu Edition geschleppt, verfuhren phantastische Vorstellungen von Hölderlins Wahnsinn zu seltsamen Verstümmelungen, Auslassungen und Leichtfertigkeiten. Demgegenüber will unsere Ausgabe endlich in würdiger Form ein reines Bild seines Werkes und Lebens darbieten. (Hellingrath, Hölderlin Sämtliche Werke, Buchanzeige, S. 96)

2.2.3. Wirkung und Kritik Obwohl schon früh an der Hellingrath-Ausgabe Kritik geübt wurde und man die Bände von Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot als ungleich in der Qualität einstufte, blieb der Herausgeber Norbert von Hellingrath als Person und Wissenschaftler

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davon unberührt. „Die von Hellingrath selbst besorgten Bände seiner historischkritischen Ausgabe sind, gemessen am damaligen Standard der Editionstechnik" - was auch Friedrich Beißner bestätigte (1937, S. 268) - „außergewöhnlich zuverlässige Texteditionen; erst mit ihnen setzen sich in der Hölderlinforschung textkritische Maßstäbe durch" (Kaulen 1990/91, S. 199). Hans Werner Seiffert widmete ihm deswegen auch in seinen grundlegenden Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte (1963) mehrere Seiten und bemerkte: „In bedeutsamer Weise hat Norbert von Hellingrath mit seiner Hölderlin-Ausgabe Antwort auf Fragen zu geben versucht, die wir heute als modern empfinden." Besonders handelte es sich dabei „um die Darstellung von Autorvarianten und Schichtungen bei Hölderlin, die endgültige A u t o m a tion nicht erfahren haben und daher besonders diffizil sind" (Seiffert 1963, S. 21). Hellingrath führte hierzu in seiner Einfuhrung zu den von ihm mitgeteilten Entstehungsvarianten der Gedichte 1800-1806 aus: Was die Anordnung, besonders die Wahl der jeweils in den Text aufzunehmenden Lesart betrifft, galt mir als Grundsatz: der Text müsse möglichst rund und übersichtlich das zu Ende reifende Werk des Dichters darstellen. Demgemäss wurde auch über die Einreihung unvollendeter Stücke unter die Gedichte oder die Bruchstücke entschieden: jede der fünf Abteilungen des Bandes [das sind im engeren Sinne lyrische Gedichte, Elegien, Hymnen in antiken Strophen, Hymnen in freien Strophen, Bruchstücke und Entwürfe] soll eine klare Entwicklungsreihe bilden. Demgemäss auch wurden, wo es geboten schien, aus dem fliessenden Übergang des Gedichtes von seinem ersten Keim zur lezten Gestalt (oder Entstellung) einzelne möglichst verschiedene Zustände als mehrfache Fassungen herausgehoben. (Bd. 4, S. 269f.)

So sieht Seiffert Hellingrath als Vorläufer Beißners, nicht in bezug auf die Darstellungsmethode, aber in bezug auf sein Verständnis des dichterischen Prozesses und seinen Wunsch, dieses mitzuteilen. Selbst Beißners Hinweis auf Hölderlins „Keimworte" findet sich schon als Terminus in den Hellingrathschen Bemerkungen, und von der Sache her benutzte er sie, hier allerdings „Schlagwörter" genannt, in seinen Ausführungen zur Gedicht-Genese, wenn er beschreibt, wie Hölderlin „zuerst den gesamten Gedankenverlauf und die Abfolge der wechselnden Töne [...] durch Schlagwörter, [...] durch Versteile, [...] durch ganze Zeilen und Zusammenhänge, die er in der Hast erster Empfängnis schon niederzuschreiben vermag," festhält und „wie er diese abgerissenen Worte und Wörter von Anfang her so über die Blätter verteilt als stünde bereits das vollendete Gedicht unsichtbar darauf und wären allein jene Stellen sichtbar geworden" (Bd. 4, S. 273 f.). Die von Seiffert angesprochene Modernität der Hellingrathschen Arbeit besteht auch in dem Aspekt der Offenheit, den seine Ausgabe vermittelt. Wenn Hellingrath schreibt, daß er und sein Mitherausgeber nicht „eine solche fertige Gestalt des Werkes herstellen wollen, wie es Hölderlin hätte tun dürfen, sondern den ganzen Nachlass buchstabentreu vor dem Leser ausbreiten und ihn in den Stand setzen, seine Auswahl daraus zu treffen, von ihm erhoffen, dass er überhaupt einige Arbeit nicht scheue" (Bd. 1, S. XIII), „so ist damit im Grunde schon ein erster Schritt auf dem Weg zu ei-

Hölderlin-Editionen

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nem genetisch-prozessualen Textverständnis zurückgelegt, der mit ungleich größerer Konsequenz von der Stuttgarter und der Frankfurter Ausgabe fortgesetzt wird" (Kaulen 1990/91, S. 201). Obwohl Hellingrath nicht wirklich seine Ankündigung erfüllte, sondern nur Beispiele aus dem reichen Nachlaß bot, entsprach doch die Wirkung seiner Bände ganz dem Anspruch, wie Schürenbergs Aussage (1944) belegt, der zur 3. Auflage anmerkte: Hier soll man keinen fertigen und endgültig fixierten Klassiker zu bequemem Genießen aus dem Bücherschrank nehmen. Man muß ihn auch ,vertikal' lesen, durch alle Schichten und sich aus ihnen die Wortgestalt erarbeiten. Nur so kann man von Ferne den Hölderlinschen Schaffensprozess nachvollziehen, für den das Wort Schicksal und ewige Aufgabe war.

Hellingrath verstand wie wenige andere, seine Leser zu einem neuen Hölderlin hinzufuhren. So sind seine Einleitung und die Anmerkungen zum vierten Band „grundlegend für das Verständnis des Dichters [...], ebenso wie die beiden Reden über Hölderlin und die Deutschen und Hölderlins Wahnsinn, die Hellingrath noch kurz vor seinem Tod zu halten vergönnt war." Auch seine von Georges Morphologie beeinflußte These, Hölderlins Schriften bildeten ein gestalthaftes Gesamtwerk, sie seien ein fortlaufendes Gedicht, wirkte über Beißner und die Parallelstellenanalyse bis hin zu D.E. Sattlers Bänden der gesänge. So überrascht es nicht, daß im Gegensatz zu Zinkernagel Hellingrath immer noch Erinnerungsartikel gewidmet werden, und das nicht allein wegen der Jahrestage seines Todes im Ersten Weltkrieg. 2.3.

Die Ausgabe von Friedrich Beißner

2.3.1. Grundlage und Geschichte

Die Kritik an Fehlern der Hellingrathschen Edition führte in den vierziger Jahren zur Arbeit an einer neuen Hölderlinausgabe. Auch Hellingrath „gesteht an mehr als einer Stelle seiner Ausgabe, daß er nicht glaube, schon etwas Endgültiges bieten zu können, sondern daß für spätere Bearbeiter noch viel zu tun bleiben werde" (Bothe 1992, S. 112). Mitbedingt auch durch den frühen Tod Hellingraths ist die Ausgabe „ungleich in der Bearbeitung, unklar im Aufbau, unsicher im Text und in den Lesarten und kann daher trotz aller ihrer großen Vorzüge nicht auf die Dauer befriedigen. Sie wird immer das Denkmal einer für Hölderlin begeisterten jungen Generation bleiben, aber es muß in dem Geiste weitergearbeitet werden, damit gerade das Ziel, das Hölderlin sich gesteckt hat, erreicht werden kann", wie Wilhelm Hoffmann (1941) bemerkte, eine der treibenden Kräfte beim Aufbau der neuen Hölderlin-Ausgabe und des HölderlinArchivs. Das wirklich Neue an den Plänen, die in Stuttgart reiften, war die Erkenntnis, daß die Grundlage für diese dritte kritische Ausgabe geändert werden mußte, „daß Organisatorisches und Editorisches zugleich von Einzelnen überhaupt kaum bewältigt werden kann" (Lohrer 1962, S. 290). Zuerst sollten also optimale Verhältnisse für die Arbeit

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geschaffen werden. Private Anregungen und staatliche Unterstützung ergänzten sich der Leiter der Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek Wilhelm Hoffmann, der Doktorand Walter Killy und dessen Vater, der Kabinettsrat in der Reichskanzlei Leo Killy, spielten dabei eine wichtige Rolle - und führten am 6. Juni 1941 zur Gründung der Zweckvereinigung „Stuttgarter Hölderlin-Gesamtausgabe" und dem Beschluß, „bei der Württembergischen Landesbibliothek ein HölderlinArchiv als ancilla editionis [...] ins Leben zu rufen" (Lohrer 1962, S. 295). „Liebe zum Dichter eines kleinen Freundeskreises von Hölderlin-Verehrern im Zeichen Stefan Georges" (ebd., S. 291) hatten schon einige Jahre vorher zum Beginn der photographischen Erfassung aller Handschriften gefuhrt, die nun durch den Staat gefordert systematisch fortgesetzt und weitgehend abgeschlossen werden konnte. Als Herausgeber wurde Friedrich Beißner, damals Dezernent der Universität Jena, berufen, der in seiner Promotionsschrift zu Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (1933) und anschließenden zahlreichen Veröffentlichungen die Unzulänglichkeiten der älteren Ausgaben aufgezeigt hatte. Auch und gerade im Kriege soll sie gefördert werden. Es ist geplant, daß im Jahre 1943 zwei Bände der achtbändigen (großen) Ausgabe und ein Band der funibändigen (kleinen) Ausgabe erscheinen sollen. Die große Ausgabe soll alle Lesarten und einen Kommentar, die kleine nur die fiir das Verständnis notwendigen Erklärungen bieten. (W. Hoffmann 1941, S. 3)

Die hochgesteckten Pläne erfüllten sich nicht ganz (s. auch Abschnitt 1.2), und die allererste Publikation war eine Feldauswahl, besorgt durch Friedrich Beißner im Auftrage der Hölderlin-Gesellschaft und des Hauptkulturamtes der NSDAP, in einer Auflage von 100000 Exemplaren. Trotz dieser so politisch und national wirkenden Tat entsprach der Ansatz Beißners aber ganz der „gattungsgeschichtlich-formalistischen Richtung um Karl Vietor" (Wackwitz/Waleczek 1997, S. 176) und der unpolitisch-werkimmanenten Literaturbetrachtung der 1930er und 40er Jahre, die bis in die 50er Jahre hineinwirkte, einer wissenschaftlichen inneren Emigration. Das Ziel war, einerseits einen „gereinigten, endgültigen und vollständigen Hölderlin-Text, den es bisher nicht gibt" (W. Hoffmann 1942, S. 16), zu bieten; zum andern die sich in den Handschriften dokumentierende Genese des Textes aufzuzeigen, „das Verwickelte zu entwickeln und das Werden des einzelnen Gedichts bei letztmöglicher Vollständigkeit doch leicht überschaubar darzustellen" (Beißner 1942, S. 24). 2.3.2. Methodik und Systematik „Übersichtlichkeit" und „Vollständigkeit" (Beißner 1942, S. 24) sind die Hauptziele für Beißner, nicht nur für die Darstellung der Genese, sondern für die Ausgabe an sich, deren acht Bände meist in Teilbände gegliedert sind: Der Textband bringt den Lesetext, der zweite Teilband im Apparat die Entstehungsgeschichte, eine Beschreibung der Überlieferungsträger und Erläuterungen, die neben Sachinformationen vor allem Par-

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allelstellen beisteuern, aber eine Interpretation vermeiden. Bei intensiv überarbeiteten Texten, bei denen „Fassungen" erstellt wurden, werden diese teils in den Apparat, teils - „besonders bei den meist nicht abgeschlossenen Texten des Spätwerks" (Metzger 2002, S. 5) - in den Textband eingeordnet. Lesetexte und Entstehungsgeschichte sind so auf ganz neue Art eng miteinander verbunden. Das Markante der Beißnerschen Ausgabe, das sie zum ,,klassische[n] Zeugnis reifster Editionskunst, als Markstein der literarischen Entdeckungsgeschichte, als Denkmal gelehrter Werktreue" (Pyritz 1953, S. 95) erhob, war Beißners Möglichkeit, mit Hilfe des von ihm entwickelten Systems - wohl angeregt von Backmann, SeufFert und auch Hellingrath aus dem Chaos der Handschriften das „klare Bild der Entwicklung [der Gedichte] vom ersten Keim bis zur vollendeten Gestalt" (Beißner 1942, S. 42) aufzuzeigen. Sein System, das er in der Vorbemerkung der 2. Hälfte des 1. Bandes erläuterte, ist intuitiv und einfach: Eingeklammerte Ziffern bezeichnen die größeren Stufen der Entwicklung, innerhalb deren weitere, kleinere Abstufungen und Gabelungen durch eingeklammerte lateinische und fernerhin griechische Buchstaben gekennzeichnet sind. Eine (2) kündigt also an, daß alles, was vorher hinter der (1) steht, jetzt aufgehoben und getilgt ist; ebenso hebt die (3) die vorangehende (2) auf, das (b) das (a) und das (c) das (b), das (ß) das (α) und das (γ) das (ß). Die zusammengehörigen Zeichen stehen, wo es sich nicht um ganz leicht zu überblickende Stufenfolgen handelt, genau untereinander, so daß eine Verwirrung ausgeschlossen ist. Dem Benutzer, der sich nicht sogleich an dieses Verfahren zu gewöhnen vermag, sei fur den Anfang empfohlen, bei jedem eine neue Stufe ankündigenden Zeichen den Vers wieder ganz von vorn zu lesen und dabei die inzwischen ungültig gewordenen Stufen zu überschlagen. Die sich treppenweise gestaltende Anordnung erleichtert wesentlich die Übersicht. (StA Bd. 1,2, 1947, S. 319)

Die Variantendarstellungen werden so „unentbehrliche Begleitstücke der Lektüre, sind die Partituren zu der im Textteil erklingenden Melodie" (Pyritz 1953, S. 86). Die Leser können „mit Entzücken genießen, wie Beißner ausgehend von der mikrologisch genauen Handschriftenanalyse, doch unbeirrbar auf die Werksynthese gerichtet, in einem großartig geschlossenen Betrachtungszuge vom ersten Element bis zur letzten Ganzheit, die Geschichte eines jeden Gedichtes entwickelt, es gleichsam neu erschafft (a second maker under Jove) und vor unsern Augen aufbaut" (ebd., S. 85 f.). Die Entstehungsvarianten werden also vollständig geboten und in einer „zeitlichen Schichtung" geordnet, „daß also organische Zusammenhänge nicht bis zur Unverständlichkeit auseinandergerissen werden" (Beißner [1943] 1969, S. 261), wobei die die Handschrift beschreibenden Angaben, um die Übersichtlichkeit zu wahren, ausgelassen werden. Die Ortsangabe einer Varianz ist ja irrelevant für die Genese (s. auch Beißner 1964, Lesbare Varianten, S. 16, und Hellingraths Bemerkungen, zit. im Abschnitt 2.2.2), die vollständige genetische Darstellung - auch wenn sie nicht die „reale", sondern nur eine „ideale" aufzeigt - dagegen ist wesentlich, da sie das Sein als Gewordenes tiefer verstehn [lehrt]; [die Varianten] entwickeln im mitgehenden und mitdichtenden Deuter des zur Vollendung sich wandelnden Textes ganz allgemein den

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Sinn fur dichterische Ausdruckswerte, sie schärfen und verfeinern den Kunstverstand - wie es Lessing (im 19. Literaturbrief, bei der Erörterung der neuen Fassung der ersten fünf Messias-Gesänge) meint: „Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter... in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studirt zu werden. Man studirt in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten fiir gut befinden, das sind Regeln." (Beißner 1964, S. 74)

2.3.3. Wirkung und Kritik

Die Voraussage von Hans Pyritz sollte zutreffen: die StA müsse man „zu den Mustern literaturwissenschaftlicher Editionskunst rechnen" (Pyritz 1944, S. 230; s. auch Plachta 1997, S. 33). Dementsprechend sind viele Editionen der StA verpflichtet; z.B. die Ausgaben zu Friedrich Schiller (Nationalausgabe), Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich Heine (Düsseldorfer Ausgabe), Eduard Mörike und die erste historischkritische Ausgabe des Werks von Georg Trakl. Selbst Kritiker wie Beda Allemann und Hans Zeller hoben - trotz ihrer Einwände - die wissenschaftliche Bedeutung der StA hervor und sahen sie „als das bedeutendste editions-technische Unternehmen der Gegenwart aus dem Bereich der neueren deutschen Literatur" (Allemann 1956, S. 75), als eine Ausgabe, die „die Editionsphilologie auf ein neues Feld höheren Niveaus führte" (Oellers 1996, S. 110; s. auch Zeller 1989, S. 6). Zu Recht ist die Feststellung, die in den verschiedensten Variationen in editionshistorischen Abhandlungen zu finden ist, verbreitet: „Die moderne Editionsphilologie ehrt in dem Gelehrten einen ihrer Gründerväter" (Oellers 1996, S. 111). Denn niemand konnte umhin, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Auch die Kritik wurde fruchtbar und führte zu neuen Erkenntnissen - wie besonders das Editionsmodell von Hans Zeller belegt (s. Zeller 1958), das das zweite ,Standbein' der modernen deutschen Editionsphilologie wurde. Doch neben aller Verehrung setzte die Kritik früh und heftig ein. Die persönlichen Angriffe betrafen Beißners Haltung, die von manchen als zu autoritär und nicht immer als sachlich empfunden wurde (siehe u.a. Waleczek 1994, S. 142f.) - empfahl er doch zum Beispiel Beda Allemann nach seiner frühen Kritik, sich „künftig nicht mehr mit Studien an Hölderlinschen Handschriften zu befassen" (Allemann 1956, S. 80; siehe u. a. auch Lachmann 1952). Die textologische Kritik betraf vor allem einen praktischen Aspekt, von dem sich dann die meisten spezifischen Bedenken herleiten lassen (s. eine ausfuhrliche Zusammenstellung bei Waleczek 1994, S. 186 ff., und eine Liste bei Metzger 2002, S. 6): die fehlende Transparenz. Gerade da Beißners Umsetzung der verwirrenden Hölderlinschen Handschriften so übersichtlich ist, suggeriert er eine Sicherheit, die die Leser vergessen läßt, daß J e d e s noch so mechanische Lesen und Entziffern einer Handschrift immer auch schon ein Interpretationsvorgang" ist (Allemann 1956, S. 78; s. auch Windfiihrs immer wieder zitierte Bemerkung „Edition ist Interpretation", 1957, S. 440, und Zellers Unterscheidung „Befund und Deutung", 1971, S. 45-89). Diesen Bewußtheitsverlust belegen Besprechungen, die sogar die Behauptung aufstellen „that one can work with [the edition] as if the manuscripts themselves were before him" (Beare 1952, S. 218). Doch

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dem ist nicht so. Die Nichtunterscheidung von Sofort- und Spätkorrektur sowie die Mehrfachnennung von Wörtern, die nur einmal in der Handschrift stehen, sowie die Unmöglichkeit, zwischen Ersetzung und Alternativvarianz zu unterscheiden, sind symptomatisch für Beißners Vorgehen. Der Extremfall ist „die Konstitution von endgültigen Fassungen, wo lediglich Entwürfe vorliegen" (Metzger 2002, S. 6). Dabei ist das ,Mitdichten' Beißners nicht das Hauptproblem. Ohne Zweifel besaß er - wie Pyritz betonte (1943, S. 97) - eine der Hellingrathschen Divination nicht nachstehende Fähigkeit der Einfühlung. Und es ging folglich nicht darum, ob Beißner zum Beispiel in bezug auf die Darstellung der Genese der Friedensfeier Recht hatte - was nach Auffindung der Reinschrift viele Forscher bezweifelten (siehe u.a. Allemann 1956, S. 79; Waleczek 1997, S. 196ff.) - , sondern um das wissenschaftliche Prinzip, das unabhängig von einer Editoren-Persönlichkeit bestehen muß. Dieses verlangt Nachprüfbarkeit, die „Kontrolle über die Entscheide des Herausgebers" (Allemann 1956, S. 82), Beißner dagegen setzte das volle Vertrauen des Lesers in seine Entscheidungen voraus. Die Folge: „es bleibt kein anderer Ausweg, als daß der ernsthafte Forscher wieder auf die Handschriftenphotographien zurückgreift" (ebd., S. 79). Der zweite textologische Hauptkritikpunkt, auch verbunden mit dem ersten, war eher theoretischer Natur. Stefan Metzger (2002, S. 6) faßt ihn, gedanklich auf Zeller basierend (1981, S. 122), prägnant im Hölderlin-Handbuch zusammen, wenn er schreibt: Die Bewahrung der Dynamik des Textes, die der Rekurs auf genetische Prozesse erreicht, wird durch die Unterstellung einer stringenten Teleologie zu einem endgültigen Lesetext wieder verspielt. Zudem unterstellt die StA von vorne herein, daß sich ein prätendiert eindeutiger semantischer Gehalt durch alle Varianten durchhält und nicht verschiebt.

2.4.

Die Ausgabe von D. E. Sattler

2.4.1. Grundlage und Geschichte In den 1960er Jahren schwang das Pendel der Literaturbetrachtung von der Immanenz zur Gesellschaftskritik. Das germanistische Seminar der Johann-Wolfgang-vonGoethe-Universität in Frankfurt am Main wurde umbenannt in Walter-BenjaminInstitut. Die Vorlesungen von Adorno, Horkheimer, Habermas waren überlaufen. Bei Straßendemonstrationen versuchte man die Kluft zwischen Studenten und Arbeitern zu überwinden. Die bisher bei der Betrachtung Hölderlins zu wenig beachtete Sympathie des Autors für die Französische Revolution rückte stärker in den Blick. In der Nachfolge Walter Benjamins popularisierte Pierre Bertaux den Dichter als Antihelden des Widerstands, Hölderlins Wahnsinn als „Wahr-Sinn" (ausführlicher Überblick bei Waleczek 1997, S. 247 ff.). Die Kritik an Beißners Unterbetonung der Transparenz wurde verschärft, provokativ und polemisch wurde eine Verschwörungstheorie der traditionellen Hölderlin-Philologie entwickelt, die der Öffentlichkeit den wahren Hölderlin vorenthalte, in den Variantenbergen verstecke (Wackwitz 1990, S. 136). Das „Resultat

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sei ein glatter, klassikerhafter Lesetext, der der politischen Vereinnahmung v.a. im 3. Reich in die Hand gearbeitet habe" (Metzger 2002, S. 7). Deswegen wurde noch vor Abschluß der epochalen StA eine neue Ausgabe begonnen, die, wie D.E. Sattler (geb. 1939) erklärte, die StA ablösen sollte (Sattler 19751977, S. 130). Der Verlag mit dem sprechenden Namen Roter Stern, dessen Leiter der frühere SDS-Vorsitzende KD Wolff war, nahm sich des neuen Großprojekts an. Rolf Michaelis titelte entsprechend in der Zeit: „Roter Stern über Hölderlin". Auf 20 Bände ist die Ausgabe angelegt, mit zusätzlichen Supplement-Bänden einzelner, in sich eine Einheit bildender Konvolute. Daneben gab es Diskussionen um eine der kleinen StA vergleichbare Leseausgabe (ohne Faksimile), die bei Luchterhand begann, doch dann wieder eingestellt wurde. Ganz in der Tradition revolutionärer Bewegungen gab es nicht nur Auseinandersetzungen mit den Andersgesinnten außer Haus, sondern auch intern. Mitherausgeber gingen gezwungenermaßen, der Verlag drohte mit Klagen. Und trotzdem entstand eine vierte beeindruckende historischkritische Ausgabe, begleitet von polemischen und sachlichen Artikeln, die teilweise in einem eigenen Sprachrohr veröffentlicht wurden: Lepaicvre Holterimg. 2.4.2. Methodik und Systematik

Axiome der Edition sind, wie Wolfram Groddeck und D.E. Sattler in ihrem ersten vorläufigen Editionsbericht (1977, S. 6-8) erläuterten: das Werk „so vollständig und so authentisch wie möglich zugänglich zu machen", wobei „der Editionsvorgang selbst vom Leser wiederholt werden kann", die „Lesbarkeit [...] Vorrang vor allen anderen Bedürfnissen der Textdarstellung" hat und „Textsicherheit oder Textunsicherheit [...] zu kennzeichnen" sind. Da die Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen des Hölderlinschen Werks in den frühen Jahren wie in der späten Krise geprägt sind von dem „Druck einer äußeren und inneren Zensur, welcher die ursprünglich intendierte Gestalt von Dichtungen oft genug dergestalt deformierte, daß diese, nachdem sich ja die zeitgeschichtlichen Verständnisbedingungen weitgehend verflüchtigt haben, in ihren Endfassungen allzuleicht mißverstanden oder mißbraucht werden können" (Sattler 1975-1977, S. 123), wurde das von Gunter Martens und Hans Zeller vertretene Modell einer dynamischen Edition zugrunde gelegt. Die prozessuale Edition des Gesamtwerks, dessen einzelne Glieder - von den ruhmdürstenden Anfängen bis zu den stillen Versen der zweiten Lebenshälfte - miteinander verbunden sind wie kommunizierende Röhren, gilt also nicht allein der literarischen Kategorie, sondern zugleich auch dem exemplarischen Protokoll einer individuellen Selbstbehauptung, wie sie unter dem „Übergewicht der Verhältnisse über die Menschen" [Adorno] zumeist nur an triumphalen Untergängen zu lernen ist. (ebd., S. 124)

Als editorische Konsequenz folgt daraus die Aufgabe der traditionellen Zweiteilung von Text- und Apparatteil. Varianten und Lesarten werden nicht auf einen Schlußtext,

Hölderlin-Editionen

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einen Lesetext bezogen, sondern sind gleichberechtigte Elemente der prozessualen Darbietung, da es „weniger auf die artifiziellen Endprodukte und mehr auf die Bedingungen und Schritte anfkommt], unter denen und mit denen ein solches Denken seiner selbst gewiß wird" (ebd., S. 125). Dabei setzt die Authentizität, die Sattler zu bieten verspricht, „Leser voraus, die bereit sind, selbständig und beharrlich zu lesen" (ebd.), denn die editorische Aufbereitung teilt nicht Wahrheiten mit, sondern der Vorgang der Textkonstitution kann als ein Entscheidungsvorgang erkannt werden. Er gibt nur begründete Möglichkeiten, die überprüfbar sind, da auch die Dokumente vorliegen: das Charakteristische der FHA ist die konsequente Veröffentlichung der photographierten Handschriften, mit einer Lesehilfe, der „differenzierten Umschrift". Im Bereich der Hölderlin-Philologie gingen dabei - in Verbindung mit der Auseinandersetzung um die Friedensfeier - Wolfgang Binder und Alfred Kelletat fast zwei Jahrzehnte voran. Auch sie boten, wie die FHA, zusätzlich einen diplomatischen Abdruck, da natürlich der zweite Teil der viel früher geäußerten Ansicht Friedrich Beißners, die Zinkernagels Feststellung über eine Faksimile-Ausgabe aufgriff (s. Abschnitt 2.1.2), grundsätzlich richtig ist: „abgesehen davon, daß man unmöglich alle von Hölderlin hinterlassenen Handschriften faksimilieren könnte, wäre es auch ein Unding, solche Brouillons dem mit des Dichters Schreibgewohnheiten nicht vertrauten Laien in die Hand zu geben. Man kann sich nämlich nicht von heute auf morgen in Hölderlins Schrift einlesen. Es gehört schon ein Studium dazu" (Beißner [1943] 1969, S. 257 f.). Da die FHA zusätzlich auf jegliche Textselektion verzichtet, ist dem Publikum auch nicht „das Irritierende" erspart, „das den Eindruck des Gelingens stören könnte." Sattler betonte (1975-1977, S. 113 f.): Zum Werk Hölderlins gehört aber untilgbar die Spur des Mißlingens, das Unbewältigte, der Sturz. Das macht seine Wahrhaftigkeit aus; das ist noch zu lernen. Die Rückhaltlosigkeit, mit der dieser Mann zuletzt sein Herz der Hand, der ungeschnittenen Feder, dem schon beschriebenen Papier übergab, zwingt, das Ganze zur Kenntnis zu nehmen. [...] Erst wer seinen Weg selber sucht, bemerkt, daß sich das Gesamtwerk, mit all seinen Entwürfen und Varianten, zu einer einzigartigen Sprachlandschaft zusammenschließt, in welcher ein Hügel den andern erklärt.

In der Mehrzahl der Bände folgt in der FHA auf die „differenzierte Umschrift" (die, um so objektiv wie möglich den Befund zu geben, bei abweichenden Lesungen der anderen kritischen Ausgaben, besonders der StA, diese in einer Fußnote vermerkt) die „Phasenanalyse" oder „Lineare Textdarstellung", also die chronologische Textfolge, d. h. der hypothetisch formulierte genetische Ablauf, wobei für beide Teile ein eigenes, mehr oder weniger intuitives, von vielen Vorbildern angeregtes diakritisches Notationssystem entwickelt wurde, das eine letzte Stufe hervorhebt. Diese wird dann in einem Schlußteil, dem „konstituierten Text", nochmals aufgegriffen, um der Leserschaft einen Lesetext zu bieten, wobei der Text entsprechend des jeweiligen Autorisationsgrads als „konstituierter Text" (Hypothese einer Reinschrift), „emendierter Text" (Wiedergabe einer Reinschrift), „unemendierter Text" (fehlerfreier autorisierter

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Druck), „differenzierter Text" (unemendierte Wiedergabe eines redigierten, passiv autorisierten Drucks in typographischer Qualifizierung) geboten wird (Groddeck/Sattler 1977, S. 18). Dieser Lesetext findet seine theoretische Rechtfertigung in „einem den Texten innewohnenden Anspruch auf eine geschlossene Form" (ebd., S. 17) und eine praktische Begründung in dem Anliegen der Edition, „verschiedenartigen Leseinteressen in einer Ausgabe zu entsprechen." Dies ist „freilich nur in der Konstellation dieser Ausgabe vertretbar [...], wo sinnfällig wird, wie sehr solche ,Lesetexte' Abstraktionen sind oder sein können" (Groddeck 1978, S. 46). Auf diese Weise wird den Benutzern, trotzdem die FHA die Unterteilung in Lesetext und Apparat überwunden hat, einerseits ein konkreter Lesetext geboten, sie werden andererseits aber zugleich für die Fragwürdigkeit jeglichen „festgeschriebenen" Textes sensibilisiert. Das Prinzip der „schrittweise[n] Vereindeutigung" (Groddeck/Sattler 1977, S. 8), das eine enge Beziehung zwischen Textstufe und Dokument, abstrakter Idee und konkreter Niederschrift, voraussetzt, wurde im Falle der Gesänge, des „Höhepunktfs] von H. Werk und Summum seines lyrischen Schaffens" (Philipsen 2002, S. 348), modifiziert, obwohl das ursprüngliche Konzept gerade in Hinsicht auf diese fragmentarische Überlieferung konzipiert worden war (Einleitung FHA 1975, S. 18). Statt der Werkstufen wurden „segmente" (Bd. 7, S. 8) festgesetzt, „die kleinste bedeutungstragende Einheit innerhalb des Ganzen" (Groddeck u.a. 2003, S. 24), nämlich des von Sattler postulierten Plans Hölderlins, zwölf Doppelgesänge zu entwerfen. Da diese von Sattler chronologisch bestimmten und entsprechend durchgezählten Segmente auf den verschiedenen Handschriften verstreut sind, ist nun die lineare Textdarstellung nicht die genetisch-chronologische Umsetzung der differenzierten Umschrift einer Handschrift, sondern bezieht sich nur auf ein Segment, das jetzt durch das nächste Segment variiert und ergänzt wird - also anwächst. Sattler merkte dazu an: „demgemäß ersetzt auch der mit jedem integrierten segment anwachsende ,kumulative text' eines gesangs die formal separierten, das resultat einer linearen darstellung fixierenden textstufen" (Bd. 7, S. 8). Damit kann auch der bei der ursprünglichen Methode bestehende letzte Schritt, die Erstellung des konstituierten Textes, entfallen, da die Textkonstitution mit der Integrierung der Segmente erreicht ist. Und um die Übersichtlichkeit zu wahren, wurde eine zusätzliche Zeilenzählung eingeführt: „der editorisch neuen form des kumulativen textes korrespondiert das vor allem die frühstadien der gesangentwürfe erhellende verfahren der prospektiven zeilenzählung' gemäß der letzten gestalt" (ebd., S. 8). Der Wechsel in der Methode war von Anfang an in den Editionsprinzipien der FHA angelegt, wie Groddeck und Sattler feststellten: „Die Methode [...] ist nicht im voraus für alle Textgegebenheiten erdacht, sondern paßt sich jeweils den wechselnden Textbedingungen an" (1977, S. 5). Man wollte nicht Prinzipien, die sich dann als Hindernis entpuppen konnten, über Realien stülpen, sondern die Herausgeber hofften auf die Entstehung eines ,,System[s] der Textdarstellung [...], das in seinen Verzweigungen die Gestalt eines Baumes hat und dessen Methode zugleich auch organisches Wachstum genannt werden kann" (ebd., S. 6). Diese Flexibilität bestimmte auch den Inhalt der

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Einzelbände, die einerseits chronologisch angelegt waren, zur selben Zeit aber auch Genres berücksichtigten, um allen Aspekten des Hölderlinschen Werkes gerecht zu werden. So sollen zum Beispiel die Jugendgedichte „nicht nur punktuell, als poetische Artefakte, sondern zugleich und adäquater in ihrem biographisch-ästhetischen Zusammenhang gelesen [werden], als autonome, in der Zeit verankerte Zeugnisse des werdenden Gesangs" (Bd. 1, S. 13), und die editorische Behandlung der Dichtungen nach 1806 ist geprägt durch die Abwendung „von der Geringschätzung des anscheinend Umnachteten: von Taubheit für seinen diskreter gewordenen Klang, von Blindheit für seine dekorlose Schönheit, vom Mißkennen seiner luziden Wahrheit" (Bd. 9, S. 11).

2.4.3. Wirkung und Kritik

Verwundert und abwartend wahrgenommen von der Tagespresse und über die Jahre langsam akzeptiert von der Fachwelt - bis hin zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Initiator und Hauptherausgeber D.E. Sattler (Martens 1985) - , entwickelte sich die FHA in Fragen der Textdarbietung zum neuen Vorbild für historisch-kritische Editionen (vgl. z.B. die neuesten Ausgaben von Georg Büchner, Franz Kafka, Heinrich von Kleist, Georg Trakl). Das Beeindruckende liegt dabei weniger in dem theoretischen Ansatz der textdynamischen Edition, der Dokumentation durch photographische Abbildung der Handschriften, dem der FHA eigenen Konzept der Variantenpräsentation und dem verwendeten Verzeichnungssystem. Trennung von Befund und Deutung sind schon lange Grundlage kritischer Editionen - und „Sattler hat sich zu dieser Traditionslinie editorischer Reflexion", die auf Hans Zellers Arbeiten (1971) basiert, „wiederholt bekannt" (Martens 1982, S. 55). „Der Apparat als Kernstück der Edition" geht zurück auf Gunter Martens grundlegende theoretische Überlegungen (Martens 1971, S. 171), die dann in der Heym-Edition vorbildhaft umgesetzt wurden. FaksimileAusgaben wurden schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder gewünscht und in Einzelfallen veröffentlicht (s. Hölderlin, Friedensfeier 1959, hrsg. von Binder/Kelletat). Die editorische Metasprache schließlich gründet auf dem Werk der verschiedensten Vorgänger, besonders auf den Leistungen Hans Zellers und dessen C.F. MeyerAusgabe. Das Neue, das Einmalige ist die Konsequenz der Durchführung all dieser Aspekte, die Überzeugungskraft, das politische und organisatorische Talent, das die Realisierung möglich machte. Die meiste Kritik scheint zu verblassen vor dieser Tat und dem damit verbundenen Erfolg, Hölderlin - und mit ihm Literatur allgemein - einer allgemeinen, nicht nur fachbezogenen Öffentlichkeit wieder nahegebracht zu haben. Selbst von der klassischen Literatur ging nun wieder Faszination aus, die Neugierde war erneut Teil der Lektüre. Die Annahme, „die breitere Leserschaft" sei „vom Anspruch dieser Ausgabe überfordert" (Schloz 1975), erwies sich als falsch. Im Gegenteil: So schrieb die Dichterin Helga Novak in einem Artikel im Spiegel·.

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dann sehe ich mir das letzte Wort in jener neuen Zeile an, „des Ursprungs", dann unter Ursprung wieder eine ganze Reihe Wörter, immer untereinander, von denen eins das andere ersetzen sollte. Hastig hingeschrieben oder zögernd, auf jeden Fall abgewogen, und nicht allein nach Silben, Klang und Gewicht. Anders als bei stufenweiser Korrektur durch Auffinden passender Synonyme, treten hier äußerste Widersprüche hervor. Es ist aufregend zu sehen, welches Wort den Sieg davonträgt. (Novak 1977, S. 167)

Und auch der Kritiker Uffhausen (1975-1977, S. 521) stellte fest: „es sei selbst Skeptikern gesagt: auf diese Art Hölderlin neu zu lesen, ist eine Lust!". Trotzdem ist die Kritik vielfältig und umfaßt Praktisches, Theoretisches und wiederum - wie bei Beißner - auch Persönliches (s. auch Metzger 2002, S. 7-9). Der Composer-Satz mußte herhalten, um die berechtigten Einwände an unschönen Abweichungen von der seit Jahrzehnten gewünschten und seit 1985 sich dank der Arbeitsgemeinschaft fur germanistische Edition langsam entwickelnden Standardisierung bei der Verwendung von diakritischen Zeichen zurückzuweisen (Groddeck 1978, S. 36); auch bei der teilweise schlechten Faksimilierung wurden technische Gründe angeführt; die Abgrenzung von anderen Ausgaben wurde überbetont, indem man u. a. auf eingebürgerte Titel verzichtete, statt sie nur deutlich als tradierte Herausgebertitel zu kennzeichnen; die extrem asketische Kommentierung, die eindeutig dem Popularisierungspostulat der Ausgabe widerspricht (Metzger 2002, S. 9), wurde mit einer neuen Leserschaft begründet, die reif ist, selbständig Nachforschungen anzustellen. Praktische und theoretische Überlegungen kollidieren bei der schematischen Festlegung auf drei Schrifttypen bei der Umschrift, wobei auch die bei Beißner kritisierte Teleologie indirekt bei Sattler zu finden ist, wenn er von einem „letztintendierten Text" (Einleitung FHA 1975, S. 18) spricht (Uffhausen 1975-1977, S. 537f.; Waleczek 1997, S. 300) und diesen durch Fettdruck auszeichnet. Die Einsicht in intertextuelle Zusammenhänge ist teilweise noch nicht optimal geleistet, da die „Textphasen" darstellungstechnisch einen zu starken Einschnitt zwischen den einzelnen Stadien der Textentwicklung legen (Martens 1982, S. 60); die „hypothetische Rekonstruktion einer letzten Gestalt" eines Entwurfs, die in den sogenannten „konstituierten Texten" geleistet wird, wirft die Frage auf, „ob denn eine solche Isolierung eines letzten Textbestandes einer Entwurfs- oder Überarbeitungsphase überhaupt möglich ist, ob der Prozeß tatsächlich soweit zum Abschluß gekommen ist, daß ein eindeutiger Zusammenhang der jeweils letzten Bearbeitungsschicht behauptet werden kann" (ebd., S. 61). Doch vor allem wurde gegenüber Sattler der Vorwurf laut, sich „als postumer Prophet seines Dichters" zu fühlen - mit allen editorischen Konsequenzen. So wird die Fragmentarität von Hölderlins Werk von Sattler nicht nur zur Grundlage seiner Ausgabe genommen, sondern sie wird „zu Hölderlins eigentlicher Intention stilisiert" (Metzger 2002, S. 7). Die nicht eindeutige Überlieferung wird ihrer Ambivalenz beraubt, wie Bernhard Böschenstein (1977, S. 56) erläuterte: „Die zeitliche Rekonstruktion der Gedichtphasen [...] wird [...], wie bei Beißner, [...] nicht ohne Willkür hergestellt und ist von dessen starrem Konzept der Ersetzung einer Stufe durch die nächstfolgende abhängig, wogegen Hölderlin [...] die Entscheidungen zwischen verschiedenen Alter-

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nativen oft in der Schwebe lässt." Transparenz, die einer der Hauptgründe für den Beginn der FHA war, besteht wohl in bezug auf die Dokumente, jedoch nicht immer für die Deutung. „Es ist dem Leser oft nicht möglich, die Phasenfolge der Herausgeber zu verstehen, zumal Begründungen für ihre Entscheidungen nicht gegeben werden" (ebd.). Die Textkonstitution, z.B. bei Brod und Wein, wirft Grundfragen auf, die den Kern jeder Ausgabe berühren. Wann grenzt eine Hypothese an Verfälschung? Inwieweit ist es gerechtfertigt, spätere „dichterischen .Reflexionen', die die Partituren der älteren Elegientexte bedecken", in frühere Texte zu integrieren? Spätere Zusätze zu einer früheren Reinschrift sind nicht fraglos als eine Ersetzung der überschriebenen Textpartien zu verstehen. „Durchaus könnte es sich um partiell autonome Formeln, Notate, Einzelteile handeln, die sich zwar auf eine ältere Vorlage stützen, nicht aber als Teilverbesserung dieser sprachlich, rhythmisch und klanglich gänzlich verschiedenen, in sich geschlossenen und zur .Vollendung' gelangten Stufe verstanden werden dürfen" (ebd.). In den Folgebänden wird diese von dem Herausgeber in Anspruch genommene Freiheit der Spekulation noch stärker. Wolfram Groddeck, der erste Mitstreiter Sattlers, faßte die Grundtendenz der Kritik an den Bänden 7 und 8 pointiert zusammen (Groddeck u.a. 2003, S. 16): „Die vom Herausgeber konstituierten Texte werden zu heiligen Texten erklärt, und dies nicht im Sinne eines säkularisierten, sondern eines neuen Heiligen." „Brutale Textmontage" (ebd., S. 9) wirft er Sattler vor. Im Verweis darauf ergänzte Hieber (2003): „Man kann es auch Vollendungsmystik nennen." (Siehe auch Mackrodt 2003.) Damit scheint auch ein der Edition zugrunde liegender, von Groddeck und Sattler einst gemeinsam postulierter Grundsatz an seine Grenzen gestoßen zu sein: „Die Textsynthese darf um so kühner sein, je offener sie sich der Kritik stellt" (FHA, Einleitung, S. 19; Groddeck/Sattler 1977, S. 7).

3.

Gesamtbeurteilung der Auswirkung der editorischen Arbeit am Autor für die (Geschichte der) Editionswissenschaft

„Vom Genealogischen zum Dekonstruktivistischen" könnte man die Geschichte der Hölderlin-Edition betiteln, wenn man den Ausführungen zu den einzelnen Ausgaben folgt. Und sicherlich spielte - wie in den vorangehenden Abschnitten ausgeführt - der Zeitgeist eine entscheidende Rolle, nicht nur bei den theoretischen Überlegungen, sondern auch bei den Arbeitsbedingungen, die stark durch die Gesellschaft bestimmt wurden: Die Erwartungshaltung der Leserschaft sowie die kulturpolitischen Möglichkeiten, den Autor zu vermarkten, boten oder entzogen den Herausgebern die Realisierungsmöglichkeiten für ihre Vorstellungen und bestimmten mit über die Gestaltung der Bände. Die Folge waren Ausgaben, die nicht einander ersetzten, sondern ergänzten, wie E.E. George (1999, S. 77) generell über Editionsarbeit anmerkte: „textual work is cumulative. Every edition of any critical acumen remains important, no matter how old and how much a product of its time".

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So sollten bei einem abschließenden Überblick auch weniger die Gegensätze als die Ergänzungen, die Modifikationen betont werden, denn meist sind die gegensätzlichen Positionen nicht so kraß verschieden, wie sie stilisiert werden, noch die Ideen so neuartig, wie man sie postuliert. Und dies trifft selbst auf die der gesamten HölderlinAuseinandersetzung zugrunde liegende Diskussion über den Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn zu, gekennzeichnet durch die gegensätzlichen Positionen von Cesare Lombroso, der die Auffassung popularisierte, „das Genie sei eine Form der Psychose" (Bothe 1992, S. 68), und Wilhelm Lange. Weder war Zinkeraagel so uneinsichtig, wie seine Polemik vermuten ließ, noch Hellingrath so aufgeschlossen, wie seine offizielle Erklärung nahelegt (s. Abschnitte 2.1.1 und 2.2.1). Auch für ihn gab es eine biographische Grenze des Poetischen, nur legte er sie später als seine Vorgänger, und es dauerte noch weitere Dekaden, bis auch diese - durch ein neues Ästhetikverständnis bedingt - aufgehoben wurde (s. Abschnitt 1.2). Doch ist selbst heute die Trennung zwischen der Intention des Schaffenden und seinem Werk noch nicht ganz vollzogen, wenn auch der „weitgehende Ausschluß der Gedichte des spätesten' Hölderlin in den frühen Editionen [...] einer stark wertenden, rezeptionssteuernden und [...] zugleich ungenügenden Kommentierung gewichen" ist, wie bei der Ausgabe Schmidts im Deutschen Klassiker Verlag (Nottscheid 1997, S. 121). Textologisch gesehen ist die Geschichte der Hölderlin-Edition die Geschichte der genetischen Edition, die Entwicklung und Verfeinerung des Instrumentariums für eine genetische Darstellung und Vertiefung der theoretischen Fundierung. Zinkernagel, bedingt durch seine positivistisch-historistische Herkunft, ging es dabei primär um Dokumentation und Nachprüfbarkeit der editorischen Entscheidungen sowie um weitgehende Vollständigkeit. So zog er es vor, bei der Berücksichtigung der Überlieferung durch Drucke und Abschriften lieber auf der Seite des Zuviel als des Zuwenig zu irren, um Forschern eine möglichst optimale Grundlage zu bieten; bei der Darbietung der Handschriften war sein zentraler Grundsatz - wie später auch bei Hans Zeller (1958, S. 360) - , den Benutzern die Möglichkeit zur Rekonstruktion zu geben, um ihnen den Nachvollzug genetischer Überlegungen zu erleichtern. Gleichzeitig aber sollten alle subjektiven Momente aus dem Lesarten-Apparat ausgeschlossen werden. Zinkernagel (1928, S. 668) überschätzte allerdings die Aussagekraft seiner Darstellung, wenn er in bezug auf sein deskriptives System anmerkte: „Nur so aber ist dem eigentlichen Ideal einer kritisch-historischen Ausgabe, das handschriftliche Material nicht nur der Forschung zu erschließen, sondern ihr auch entbehrlich zu machen, näher zu kommen." Trotz neuer Gedanken und konkreter editorischer Vorschläge war sein Einfluß auf die Editionsgeschichte durch den erzwungenen Abbruch seiner wissenschaftlichen Ausgabe minimal und beschränkte sich auf Hilfsdienste, seine handschriftlichen Entwürfe eines Apparates waren nicht mehr als eine Vergleichsfolie für Friedrich Beißner, der wohl Zinkernagels Fleiß anerkannte, nicht aber sein editorisches Konzept. Dem Praktiker Zinkemagel stand der Dichter-Philologe Hellingrath gegenüber. Sein wissenschaftliches Werk kann als Beispiel dienen, wie selbst die doch sonst so periphere Philologie ins gesellschaftliche Zentrum rücken und eine Breitenwirkung aus-

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üben kann - trotz des jähen Abbruchs seiner Editionsarbeit. Zum einen verwirklichte er sein Ziel, Hölderlin die ihm in der Literaturgeschichte zustehende und „so lang ihm vorenthaltene Stelle einnehmen" zu lassen - „seine Stelle, den Grössten ebenbürtig, keinem vergleichbar, mit keinem fremden Maasse auszumessen" (Bd. 1, S. VII). Zum andern vermochte er sich in die Hölderlinsche dichterische Schaffensweise einzufühlen und so ein Konzept der Genese vorzulegen (s. Zitat aus Bd. 4, S. 273 in Abschnitt 2.2.3), das bis heute für das Hölderlin-Verständnis grundlegend ist (s. Thurmeier 1979, S. 252). In einer langen, auf dem Verständnis von organischem Werden beruhenden Methodentradition stehend (die Lioba Waleczek, 1994, S. 181, nur auf Beißner bezieht), popularisierte Hellingrath den Gedanken der genetischen Darstellung, das Aufzeigen des „schöpferische[n] Prozefsses]" (Pyritz 1962, S. 161), der - wie Beißner (1964, S. 74, s. Zitat in Abschnitt 2.3.2) explizit ausführt - die Essenz des dichterischen Textes beinhaltet. Hellingrath wünschte, diese Erfahrung jedem Leser zugänglich zu machen. Anschaulichkeit, lebendige Darstellung waren ihm deshalb wichtig. Fragen der editorischen Transparenz waren sekundär. Friedrich Beißner knüpfte an beide Vorgänger an und verband das Zinkernagel sehe Streben nach Vollständigkeit mit dem Anliegen Hellingraths, an die Benutzer zu denken. Er konnte sich ganz dem Text, dessen Ansehen Hellingrath gefestigt hatte, in einer beispielhaften Edition (s. Abschnitt 2.3.3) widmen. Statt Dokumentation wurde Deutung zentral, wobei er nicht nur Hellingraths Bedenken teilte, daß eine Handschriften-Beschreibung Benutzer abschrecke, sondern auch auf deren Grenzen hinwies, die die Erkennung der vorliegenden Genese erschweren: Zweifellos wollte Zinkernagel dem Leser zuviel zumuten: die relative Chronologie der einzelnen Varianten selber herauszufinden und das Zueinanderpassende dann aneinanderzufugen, ohne daß ihm die vielerlei kleinen exakten Indizien hülfen, die der philologisch erfahrene und in des Dichters Schreibgewohnheiten eingelesene Herausgeber dem Original stets abfragen kann und muß, nämlich Unterschiede der Tintenfarbe, der Feder, des Duktus, Überschreibungen, winzige Ausbuchtungen der Schreibzeile nach oben oder unten usw. usw. (Beißner 1958, S. 17)

Es war eine Argumentation, die Beißner auch auf Hans Zellers in der C. F. MeyerAusgabe vorgelegtes Modell übertrug (1964, Lesbare Varianten, S. 16 f.). Dabei hatte er so Unrecht nicht, denn selbst die gewissenhafteste, mit dem komplexesten diakritischen Zeichensystem wiedergegebene Deskription ist grob im Vergleich zur „Aura einer Handschrift mit allen Spuren spontaner Kreativität" (Groddeck 1977, S. 33). Eine wirkliche Rekonstruktion einer Handschrift aufgrund editorischer Anweisungen, die selbst auf Deutung beruhen, ist nun einmal eine Illusion, kann nie alle graphischen Feinheiten erfassen, selbst nicht bei einer Überlieferungslage, die weit entfernt ist von dem Hölderlinischen Handschriftenlabyrinth. Dies rechtfertigte nicht Beißners Vorgehen, doch es wies indirekt in die Richtung, die eine bessere Lösung bringen sollte: die Faksimile-Ausgabe kombiniert mit einer genetischen Darstellung.

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Der Ansatz von D. E. Sattler gibt so schließlich Antwort auf die bis zu diesem Zeitpunkt angesprochenen Kritikpunkte und vereinigt Vollständigkeit, Dokumentation, Deutung und Transparenz. Die FHA kann in vieler Hinsicht als die ideale Lösung für die bei Hölderlin vorliegende Überlieferungslage gelten und als die praktische Umsetzung der progressivsten germanistischen theoretischen editionswissenschaftlichen Reflexionen, die primär mit den Namen Gunter Martens und Hans Zeller verbunden sind (s. auch Abschnitt 2.4.3). Dementsprechend wird diese Edition auch noch in den kommenden Jahren auf Theorie und Praxis weiterwirken, vor allem auch da sie im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Ausgaben ein breiteres Publikum anzusprechen verstand. Denn trotz der scharfen Kritik (s. Abschnitt 2.4.3) hat sie sich etabliert und gerade die Auseinandersetzung mit ihr zeigt ihre Stärke. Keine zukünftige Edition, keine zukünftigen Theorien können sie ignorieren. Doch zur selben Zeit - angelegt in der textdynamischen Grundlage, die den traditionellen Text-Begriff, der auf ein „stabiles" Produkt zielt, hinterfragt und der Antipode des teleologischen Text-Verständnisses, der organologischen Poetik ist - vermag auch sie nicht einen editorischen Schlußpunkt zu setzen. Sattlers frühe Proklamation: „Mit der Frankfurter Ausgabe soll die Stuttgarter abgelöst werden" (1975-1977, S. 130), ist nur als publizistische Polemik verständlich und widerspricht seinem eigenen Editionskonzept, denn der „interpretatorische Teil der Ausgabe - Prozessanalyse und Textkonstitution - dient lediglich als Leitfaden in einem Möglichkeitslabyrinth mit mehreren Ausgängen" (ebd., S. 120). Vor allem die StA ist sicherlich auch weiterhin eine der in dieser Aussage implizierten diskussionswürdigen Möglichkeiten. Sattler verneinte nie das „divinatorische Moment, ohne das der Gesang aller philologischen Sorgfalt zum Trotz stumm bleibt" (ebd., S. 120). Immer wieder betonen die Herausgeber der FHA: Kritik an früheren Ausgaben richtet sich [...] nicht in erster Linie gegen deren Subjektivität, sondern dagegen, daß sie nicht - wie es erstmals in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe geschieht - die Quellen zugänglich und alle Entscheidungen überprüfbar machen. [...] Die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe benutzt zwar wissenschaftliche Mittel; sie will jedoch mehr sein als eine literaturwissenschaftlich nutzbare Werkedition. Der Hölderlinischen Form des Denkens, der Offenheit seines Gesanges muß eine offene editorische Darstellung entsprechen, die jedem Leser eine eigene Erkenntnis überläßt. (Groddeck/Sattler 1977, S. 17, 19)

Dies trifft besonders auf den Band 8 zu, wo Sattler es wagte, eine umstrittene Hypothese editorisch durchzuziehen und sich sogar von den doch mehr oder weniger traditionellen, an Überlieferungsträger gebundenen Siglen befreite und Prozeß-Stadien einführte, die er Textsegmente nennt (s. Abschnitt 2.4.2). Die Textdynamik wird so umfassend und übergreifend erfaßt, ähnlich dem in dem Rosenkavalier-Band der Hofmannsthal-Ausgabe vorgelegten Versuch (s. D. Hoffmann 1982). Das Aufgreifen der letzten Stufe des vorhergehenden Segments ist dabei nicht als verkappte Teleologie zu interpretieren, sondern als editorische Hilfestellung, um die Textdynamik deutlicher hervortreten und nicht im Verwirr eines Zeichensystems ersticken zu lassen. Die Editi-

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on wird nur fragwürdig, wenn das Vorgelegte nicht als Hypothese verstanden wird, bei der „die Dekonstruktion sofort mit angelegt ist" (Groddeck u.a. 2003, S. 49). Im Gegensatz zur StA ist der Vorschlag zumindest im Prinzip transparent, wenn auch nicht in allen Punkten der konkreten Ausführung, wie besonders Emery Ε. George kritisch hervorhob (2000/01), der einst als Mitherausgeber dieser Bände eingeplant war (George 1980, einführende Anm. von Sattler). Sicher ist, daß die Komplexität der Überlieferungslage hier wie in den anderen Bänden der FHA einen „eigenständigen und mündigen" (Martens 1982, S. 60) Benutzer voraussetzt. Wenn man sich [aber] wirklich auf diese Art der editorischen Aufbereitung einläßt, wenn man sich vom Strom der Texte forttragen läßt, [...] so hat man tatsächlich die Chance, ganz neue Erfahrungen mit diesen Texten des Hölderlinschen Werkes zu machen. Hier zeigt sich nun auch der Herausgeber als außerordentlicher Kenner der Materie. Er kann auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die man bislang nicht gesehen hatte, selbst wenn man Hölderlin einigermaßen zu kennen vermeinte. Die Art der chronologisch fortlaufenden Darbietung eröffnet für die Texte oftmals neue Sinndimensionen; es ist anregend und manchmal geradezu spannend, sich ganz dieser Verkettung von poetischen Bildern und Gedanken hinzugeben. Sie kann einem die Augen öffnen, wenn denn immer man bereit ist, sich von den überkommenen Vorstellungen und Erwartungen an eine Edition zu lösen. (Groddeck u.a. 2003, S. 39; eine ähnliche Beurteilung auch bei Louth 2003)

Doch Sattler unterschätzte die suggestive Kraft von Postulaten, auf die einst Beißner in bezug auf das Lesen einer Handschrift hinwies - wie eine bekannte Lesung den eigenen Versuch der Entzifferung beeinflussen kann (Beißner 1942, S. 20) die aber für alle Aspekte einer Edition relevant ist. Hypothesen sind zu leicht als gesicherte Erkenntnis aufzufassen und verstellen den Blick fur Alternativen. Sattler glaubte, durch eine Entzerrung „der verwirrenden Überschneidungen mimetischer und analytischer Zeichen auf einer Darstellungsebene" (1975-1977, S. 126) bei seinem textdynamischen Editionsmodell - sowohl der frühen Bände als wohl auch der Bände der gesänge - nicht nur Übersichtlichkeit gewonnen zu haben, sondern auch eine neue Freiheit durch die so extensive und konkrete Darbietung des Befunds. Jedoch konnte dadurch der so gebotene Text, der „die Textperipherie nicht vom Zentrum [scheidet,] in einem durch die postmodernen Denkmotive inspirierten Klima esoterischer Intellektualität" (Wackwitz 1990, S. 139) einerseits zum Mythos erklärt werden, andererseits konnten seine Versuche durch Vergleiche mit editorischem Vorgehen, das auf anderen Prämissen beruhte, abgewertet werden: „Das, was bei Sattler Dokumentation' heißt, ist Edition, und das, was bei Sattler ,Edition' heißt, ist reine Interpretation" (Groddeck u.a. 2003, S. 47). Mit Groddeck (1978, S. 53, Anm. 17) wäre deshalb zu überlegen, ob nicht ein neues philologisches Genre zu schaffen wäre: das der Textmonographie. Sie basiert auf editorisch offengelegten Ausgaben und könnte einzelne Texte und Entwürfe so darstellen, daß alle genetisch möglichen Verzweigungen eines Entwurfsprozesses [...] umfassend und alternativ interpretiert würden. Die editorische Darstellungsform könnte zwangloser und zugleich differenzierter sein, als es sich in einer Gesamtedition, die auf ein verbindliches

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G r u n d m o d e l l b e z i e h b a r b l e i b e n m u ß , r e a l i s i e r e n läßt. D i e T e x t m o n o g r a p h i e k ö n n t e E d i t i o n u n d Interpretation in w e i t h ö h e r e m G r a d e v e r s c h m e l z e n , a l s e s in e i n e r G e s a m t a u s g a b e v e r tretbar ist. S i e w ä r e der Ort w i l d e r H y p o t h e s e n u n d subtilster E r k e n n t n i s s e .

Einmal wäre dann die Möglichkeit geschaffen, keinen der Sache undienlichen Zwang auf Editionen zu legen, sondern auch notwendige werkspezifische Besonderheiten leichter zu berücksichtigen - wie z.B. die Darbietung eines Textes, der mehrere Genesestränge aufweist, die teilweise mehr als einen Autor haben (ein Fall, der in dem Rosenkavalier-Band vorliegt, der deshalb aus dem Gesamt-Konzept der Hofmannsthal-Edition herausfallt und nur durch günstige wissenschaftspolitische Bedingungen realisiert werden konnte). Vor allem aber könnten dann auch die in der germanistischen Edition bisher vernachlässigten gesellschaftlichen Aspekte aufgenommen werden, wie ζ. B. Jerome McGann sie forderte, da „works do not exist apart from the conditions shaping their public texts" und „attempts to reconstruct texts reflecting uninfluenced authorial intentions" limitierend sind (Tanselle 1995, S. 27). Über die Texte Hölderlins, die der Öffentlichkeit präsentiert wurden, die folglich das populäre Hölderlin-Bild formten, kann man leider nur in allgemeinen Artikeln und Büchern, z.B. Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993, etwas erfahren. Geprägt von ihrer Geschichte (s. Plachta 1997) ist die germanistische Editionswissenschaft ganz am Autor orientiert und sieht sogar einen genaueren Vergleich von späteren Drucken, die nachweislich nicht vom Autor beeinflußt waren, als irrelevant, da solche Lesarten „für die Textkritik und die Textgeschichte [...] nicht das geringste bedeuten. Diese unechten Lesarten aufzuzeichnen, ist leerlaufende Akribie" (Beißner [1943] 1969, S. 254). Daß sich hier eine ganz neue editorische Welt auftut, die auch die Buchgestaltung und das Umfeld der Publikation einschließt, wurde vollkommen ignoriert. Ob die ,Werk'-Diskussion, die nicht auf auktoriale Intention beschränkt ist, und ob die technischen Möglichkeiten einer holistischen Edition, die auch die Fortschreibung erlaubt (D. Hoffmann 2002), eine Änderung bringen werden, bleibt abzuwarten (s. auch die Webseiten der Arbeitsstelle Bremen: ).

Literaturverzeichnis Editionen Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Bd. 1 und 2. Tübingen: Cotta 1797 und 1 7 9 9 . - 2 . Aufl. 1822. Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von F. Hölderlin. Frankfurt/Main: Wilmans 1804. Gedichte von Friedrich Hölderlin. [Hrsg. von Ludwig Uhland und Gustav Schwab ] Stuttgart, Tübingen: Cotta 1826. - [2. Aufl.] 1843. Enthält auch: S[schwab], G[ustav] / S[chwab], Christoph Theodor]: Lebensumstände des Dichters. Aus den Mittheilungen seines Bruders und seiner Freunde. - 3. [vermehrte] Aufl. 1 8 4 7 . - 4 . [neu vermehrte] Aufl. 1878. Friedrich Hölderlin's sämmtliche Werke. Hrsg. von Christoph Theodor Schwab. 2 Bde. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1846. - Bd. 1: Gedichte und Hyperion. Enthält auch: C.T. Schwab: Vorwort. - Bd. 2: Nachlaß und Biographie. Enthält auch: C.T. Schwab: Hölderlin's Leben. Friedrich Hölderlin und Karl Mayer. Mit Biographien. Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1854 (Meyer's Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker für alle Stände. 236).

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Gedichte von Friedrich Hölderlin. Leipzig: Reclam [1874] (Universal-Bibliothek. 510). - Letzter Neudruck dieser Ausg. 1917. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Zwei Theile in einem Bd. Leipzig: Reclam [1874] (Universal-Bibliothek. 559/560). - Neudr. [1903] , - Letzter Neudruck dieser Ausg. 1917. Friedrich Hölderlins ausgewählte Werke. Hrsg. von Christoph Theodor Schwab. Stuttgart: Cotta 1874. Enthalt: Gedichte. Der Tod des Empedokles, Fragmente eines Trauerspiels. Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 1. bis 4. Buch. Enthält auch: C.T. Schwab: Hölderlins Leben. Dichtungen von Friedrich Hölderlin. Mit biographischer Einleitung hrsg. von K[arl Reinhold von] Köstlin. Tübingen: Fues 1884. Friedrich Hölderlins Gedichte. Leipzig: Bibliographisches Institut [1890] (Meyers Volksbücher. 190/191). Friedrich Hölderlin: Hyperion. Leipzig: Bibliographisches Institut [1890] (Meyers Volksbücher. 471/472). Friedrich Hölderlins Leben. In Briefen von und an Hölderlin. Mit einem Vorwort von Bertold Litzmann. Hrsg. von Carl C[onrad] Thfeodor] Litzmann. Berlin: Hertz 1890. Hölderlins gesammelte Dichtungen. Neu durchgesehene und vermehrte Ausgabe in 2 Bdn. Mit biographischer Einleitung hrsg. von Berthold Litzmann. Stuttgart: Cotta [1896/97] (Cotta'sche Bibliothek der Weltliteratur. 274 und 276). - Bd. 1: Gedichte. [1896], - Bd. 2: Hyperion. Empedokles. [1897], Deutsche Dichtung: Das Jahrzehnt Goethes. Hrsg. und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. Verlag der „Blätter für die Kunst". Berlin: Privatdruck 1902. - 2. Aufl. 1910. - 3. Aufl. 1923. - 4. Aufl. 1964. Friedrich Hölderlin: Gesammelte Werke. Bd. 1-3. Jena, Leipzig: Diederichs 1905. - Bd. 1: Hyperion. Mit Einleitung und Auswahl seiner Briefe. Hrsg. von Wilhelm Böhm. - Bd. 2: Gedichte. Hrsg. von Paul Ernst. - Bd. 3: Dramen und Übersetzungen: Empedokles. ödipus. Antigonä. Hrsg. von Wilhelm Böhm. 2., vermehrte Aufl. Jena 1909-1911. - Bd. 1: Hyperion. Mit Einleitung hrsg. von Wilhelm Böhm. 1911. - Bd. 2: Gedichte. 1909. - Bd. 3: Empedokles. Übersetzungen. Philosophische Versuche. 1911. [3. Aufl.] 1921. - 4. Aufl. 1924. - Bd. 1: Jugendwerke. Philosophische und ästhetische Versuche. - Bd. 2: Gedichte der Reifezeit. - Bd. 3: Hyperion. Späteste Gedichte. - Bd. 4: Empedokles. Spätere Übersetzungen. - Bd. 5: Ausgewählte Briefe (zuerst als Sonderband 1910 erschienen, s.u.). Hölderlins Werke in vier Teilen. Hrsg., mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Marie JoachimiDege. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong [1908] (Bongs Goldene KlassikerBibliothek). - Τ. 1: Gedichte. Mit Joachimi-Dege: Lebensbild. - T. 2: Hyperion. - T. 3: Empedokles. T. 4: Übersetzungen. Theoretische Schriften. Mit Anmerkungen (zu T. 1-4). Friedrich Hölderlin. Ausgewählte Briefe. Hrsg. von Wilhelm Böhm. Jena: Diederichs 1910. Der Tod des Empedokles von Hölderlin. Für eine festliche Aufführung bearb. und eingerichtet von Wilhelm Scholz. Leipzig: Insel 1910. - 5. und 6. Tsd. 1922. Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert v. Hellingrath. Bd. 1-6. München, Leipzig: Müller 1913-1923. - Bd. 2, 3, 6: Begonnen durch Norbert v. Hellingrath. Fortgeführt durch Friedrich Seebaß und Ludwig v. Pigenot. Berlin: Propyläen. - Bd. 1: Jugendgedichte und Briefe. 1784-1794. Besorgt durch Friedrich Seebaß. 1913. Mit Hellingrath: Vorrede. Und Seebaß: Anhang. - Bd. 2: Gedichte. Hyperion. Briefe. 1794-1798. Besorgt durch Friedrich Seebaß. 1923. Mit Seebaß: Vorrede. Und Anhang. - Bd. 3: Gedichte. Empedokles. Philosophische Fragmente. Briefe. 1798-1800. Besorgt durch Ludwig v. Pigenot. 1922. Mit Pigenot: Vorrede. Und Anhang. - Bd. 4: Gedichte. 1800-1806. Besorgt durch Norbert v. Hellingrath. 1916. Mit Hellingrath: Vorrede. Und Anhang. - Bd. 5: Übersetzungen und Briefe. 1800-1806. Besorgt durch Norbert v. Hellingrath. 1913. Mit Hellingrath: Vorrede. Und Anhang. - Bd. 6: Dichtungen. Jugendarbeiten. Dokumente. 1806-1843. Besorgt durch Ludwig v. Pigenot und Friedrich Seebaß. 1923. Mit Pigenot und Seebaß: Vorrede. Und Pigenot: Anhang [zu den Texten]; Seebaß: Anhang [zu den Dokumenten]. - 2. Aufl. Bd. 1, 4, 5. Berlin: Propyläen 1923. - 3. [um Nachträge verm.] Aufl. Bd. 1-4. 1943. - Manuskripte zu Bd. 5 und Bd. 6 durch Kriegseinwirkungen vernichtet. Gedichte von Friedrich Hölderlin. Auswahl, Textrevision und Einleitung von Emil Strauß. Berlin: S. Fischer [1914], - N e u a u s g . [1941], Friedrich Hölderlins Sämtliche Werke und Briefe in fünf Bänden. Kritisch-historische Ausgabe von Franz Zinkemagel. Bd. 1-5. Leipzig: Insel 1914-1926. - Bd. 1: Gedichte. 1922. Mit Zinkernagel: Einleitung. Bd. 2: Hyperion. Aufsatz-Entwürfe. 1914. - Bd. 3: Empedokles-Bruchstücke. Übersetzungen. 1915. Bd. 4: Briefe. 1921. - Bd. 5: Nachlese. Briefe an den Dichter. 1926. Friedrich Hölderlin, der Dichter des Ideals. Eine Auswahl seiner schönsten Dichtungen. Hrsg., mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Felix Lorenz. Berlin: Ziemsen 1918 (Schriften des SchillerBundes. 1). Hölderlin: Hymnische Bruchstücke aus der Spätzeit. Aus der Handschrift zum erstenmal übertragen. Hannover: Banas und Dette 1920. Mit Hermann Kasack: Nachbemerkung.

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Dierk Ο. Hoffmann, Harald Zils

Die Briefe der Diotima. Veröffentlicht von Frida Arnold. Hrsg. (mit Nachwort und Anmerkungen) von Carl Vietor. Leipzig: Insel 1920. Hölderlin: Neuaufgefundene Jugendarbeiten. Mitgeteilt von Walter Betzendörfer und Theodor [Lorenz] Haering d.J. Nürnberg: „Der Bund" 1921. Friedrich Hölderlin: Gedichte. Gesamtausgabe. Hrsg. von Will Vesper. Leipzig: Reclam 1921 (UniversalBibliothek. 6 2 6 6 - 6 2 6 9 ) . Hölderlins Werke in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Schneider. Stuttgart: Hädecke 1921. Friedrich Hölderlin: Die Gedichte der Reifezeit. Erstmalig geordnet nach dem inneren Zusammenhang der Gruppen und Reihen und eingeleitet von Emil Lehmann. Reichenberg: Stiepel 1922 (Bücher der Deutschen. 20). Hölderlin: Homers Iliade. Übersetzung der ersten zwei Bücher. Hrsg. von Ludwig von Pigenot. Berlin: Propyläen 1922. Mit Pigenot: Nachwort. Hölderlin: Elegien. Hrsg. von Friedrich Seebaß. München: Verlag der Bremer Presse 1922. Mit Seebaß: Nachwort. Hölderlin: Sämtliche Werke. Text der kritischen Ausgabe von Franz Zinkernagel. [Bde. 1-4]. Moderner Rechtschreibung und Zeichensetzung angenähert von Friedrich Michael. Leipzig: Insel [1922], Ab 17. Tsd. [1927] mit Nachträgen. Letzte Ausgabe 1941. Friedrich Hölderlin: Gedichte und Briefe. Hrsg. von Karl Vietor. Frankfurt/Main: Gieschen 1923 (Die guten Geister. 1). Hölderlins Werke. Hrsg. von Hans Brandenburg. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausg. 2 Bde. Leipzig: Bibliographisches Institut [1924], Friedrich Hölderlin: Gedankenlyrik. Ausgewählt und eingeleitet von Eugen Kurt Fischer. München: Kunstwart-Verlag Callwey 1924 (Kunstwart-Bücherei. 21). Hölderlins Werke. Mit Einleitungen und Anmerkungen hrsg. von Karl Quenzel. Leipzig: Hesse und Becker [1924], Hölderlins Werke. Auswahl in 2 Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Martin Lang. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt [1925], Friedrich Hölderlin: Lebendige Worte. Sprüche und Aussprüche. Gesammelt von Emil Lehmann. Augsburg: Bärenreiter 1925. Mit Lehmann: Von Hölderlins Leben und Werk. Und: Hölderlin als Spruchdichter. Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hrsg. von Karl Vietor. Berlin: Volksverband der Bücherfreunde [1925], Mit Vietor: Nachwort. Friedrich Hölderlins Werke. Hrsg. von Karl Justus Obenauer. 3 Bde. Berlin, Leipzig: Tempel-Verlag [1928], Mit Obenauer: Einführung [zu den Briefen], Hölderlins Werke. Ausgewählt und mit einer biographischen Einleitung versehen von Will Vesper. Leipzig: Reclam [1928], Hölderlins Gesammelte Briefe. Eingeleitet von Ernst Bertram. Leipzig: Insel [1935]. Briefe Hölderlins. Leipzig: Insel [1937] (Insel-Bücherei. 506). Enthält auch: [Adolf] v. Grolman: Nachwort. Hölderlins Dichtung. Eine Auswahl mit einer Einführung von Friedrich Franz von Unruh. Stuttgart: Trukkenmüller 1937 (Gestalten und Urkunden deutschen Glaubens. 3). Friedrich Hölderlin: Vom heiligen Reich der Deutschen. Ausgewählt und eingeleitet von Erich Wolf. Jena: Diederichs 1937 (Deutsche Reihe. 24). Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Trauerspiel in zwei Akten. Einrichtung: Paul Smolny. Berlin: Theaterverlag LangenMüller 1938. Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Besorgt von Georg Seidler. Göttingen: Gerstung und Lehmann 1939. Hölderlin: Christushymnen. Einführung von Friedrich Seebaß. München: Münchner Buchverlag 1940 (Münchner Lesebogen. 67). Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Nachbemerkung von Karl Kerenyi. [Amsterdam:] Akad. Verlagsanstalt Pantheon 1941. Friedrich Hölderlin: Empedokles. Ein Fragment in zwei Akten. Ergänzt und nach dem Frankfurter Plan zu Ende geführt von Wilhelm Adt. Stolp: Klas & Buchwitz 1942. Hölderlins späte Hymnen. Deutung und Textgestaltung von Arthur Hübscher. München: R. Piper 1942. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Dessau: Rauch [1942]. Mit Hajo Jappe: Nachwort. Friedrich Hölderlin: Empedokles. Hrsg. mit einer Einführung von Friedrich Seebaß. Leipzig: Reclam 1942 (Reclams Universal-Bibliothek. 7500). Hölderlin: Gedichte. Mit einer Einführung von Rudolf Alexander Schröder hrsg. von Hermann Kasack. Berlin: Suhrkamp 1943. Hölderlin: Feldauswahl. Hrsg. von Friedrich Beißner. Stuttgart: Cotta 1943.

Hölderlin-Editionen

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Hölderlin: Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Im Auftrage des Württembergischen Kultministeriums und der Deutschen Akademie in München [seit 1946: im Auftrag des Württembergischen Kultministeriums / seit 1968 im Auftrag des Kultusministeriums Baden-Württemberg] hrsg. von Friedrich Beißner. Große Stuttgarter Ausgabe. 8 Bde. Stuttgart: Cotta [seit 1951: Kohlhammer, Cotta; seit 1968: Kohlhammer] 1943-1985. [StA] - Bd. 1-5. Hrsg. von Friedrich Beißner; Bd. 6 und 7. Hrsg. von Adolf Beck; Bd. 8. Hrsg. von Adolf Beck und Ute Oelmann. - Bd. 1: Gedichte bis 1800. 1943. 1. Hälfte: Text. - 2. Hälfte: Lesarten und Erläuterungen. - Bd. 2: Gedichte nach 1800. 1951. 1. Hälfte: Text. - 2. Hälfte: Lesarten und Erläuterungen. - Bd. 3: Hyperion. 1957. Enthält auch: Lesarten und Erläuterungen. - Bd. 4: Der Tod des Empedokles. Aufsätze. 1961. 1. Hälfte: Text und Erläuterungen. - 2. Hälfte: Überlieferung und Lesarten. - Bd. 5: Übersetzungen. 1952. Enthält auch: Lesarten und Erläuterungen. Bd. 6: Briefe. 1. Hälfte: Text. 1954. - 2. Hälfte: Lesarten und Erläuterungen. 1958. - Bd. 7: Dokumente. Τ. 1: Briefe an Hölderlin. Dokumente 1770-1793. 1968. - T. 2: Dokumente 1794-1822. 1972. - T. 3: Dokumente 1822-1846. 1974. - T. 4: Rezensionen, Würdigungen. 1791-1847. 1977. Enthält auch: Überlieferung, Lesarten, Erläuterungen jeweils im Anschluß an die einzelnen Briefe bzw. Dokumente. Bd. 8: Nachträge. Register. 1985. Hölderlin: Sämtliche Werke. (Kleine Stuttgarter Ausgabe.) Im Auftrag des Württembergischen Kultministeriums hrsg. von Friedrich Beißner. Bd. 1-6. Stuttgart: Cotta (Bd. 2-6: Kohlhammer, Cotta) 1944-1962. Bd. 1: Gedichte bis 1800. 1944. - Bd. 2: Gedichte nach 1800. 1953. - Bd. 3: Hyperion. 1958. - Bd. 4: Der Tod des Empedokles. Aufsätze. 1962. - Bd. 5: Übersetzungen. 1954. - Bd. 6: Briefe. 1959. Der Seher des Vaterlandes. Die Welt Hölderlins. Eine Auswahl von Ludwig Friedrich Barthel. München: Münchner Buchverlag 1944. Friedrich Hölderlin: Briefe. Ausgewählt und hrsg. von Friedrich Seebaß. Wien, Leipzig: Kirschner [1944], Friedrich Hölderlin: Werke. 2 Bde. Zürich: Atlantis 1944 (Atlantis Ausgaben). Mit einer Einleitung von Emil Staiger. - Bd. 1: Gedichte. - Bd. 2: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Friedrich Hölderlin: Hymnen, Oden, Elegien. Auswahl und Anm. von Walter Clauss. Erlenbach-Zürich: Rentsch [1945], Sophokles: Antigone. In der Übertragung von Friedrich Hölderlin. Wedel/Holstein: Alster 1946. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit von Griechenland. Mit einer Einführung von Adolf von Grolman. Hamburg: Ellermann 1947 (Texte europäischer Literatur. 3). Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Mit einem Nachwort hrsg. von Erich Hock. Aschaffenburg: Pattloch 1947. Friedrich Hölderlin: Empedokles. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. Bonn: Bouvier 1947 (Bonner Texte. Studienausgaben zur deutschen Literaturgeschichte. 1). Friedrich Hölderlin: Das Meisterwerk. Hrsg. und eingeleitet von Ernst Müller. 2 Bde. Stuttgart: Kohlhammer 1947/48. - Ausgabe in einem Bd. 1949. Hölderlin und Diotima. Dichtungen und Briefe der Liebe. Hrsg. von Rudolf Ibel. Hamburg: C. Wegner 1948. - Neue Ausg. Zürich: Manesse 1957. Der junge Hölderlin. Briefe, Tagebuchblätter, Gedichte. Hrsg. von Otto Heuscheie. Berlin: Blanvalet 1948. Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Trauerspiel in 2 Aufzügen. Nach den Fragmenten zum Bühnengestück gefügt von Walter Kordt. Düsseldorf: Renaissance-Verlag 1948 (Kleine RenaissanceBibliothek. 7). Hölderlin: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Rudolf Bach. Heidelberg: Pfeffer 1949. Friedrich Hölderlin: Patmos. Dem Landgrafen von Homburg überreichte Handschrift. Mit einem Nachwort von Werner Kirchner. Tübingen: Mohr 1949 (Schriften der Friedrich Hölderlin Gesellschaft. 1). Friedrich Hölderlin: Die späten Hymnen. Hrsg. und eingeleitet von Ludwig von Pigenot. Karlsruhe: Stahlberg 1949. Hölderlins Werke in einem Band. Erläutert und gedeutet für die Gegenwart von Anton Brieger. Salzburg: „Das Bergland-Buch" 1950 (Die Bergland-Buch Klassiker). Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hrsg. von Bernt von Heiseler, Hans Schumann, Robert Honsell. Braunschweig: Westermann 1950. Friedrich Hölderlin: Gedichte. Ausgewählt und hrsg. von Wolfgang Müller Stuttgart: Klett [1950] (AnkerBücherei: 56). Friedrich Hölderlin: Dichtungen und Briefe. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hannsludwig Geiger. München: Winkler 1952. Friedrich Hölderlin: Dichtungen. Eine Auswahl von Johannes Becher mit einer Einführung von G Lukacs. Berlin: Rütten-Loening 1952. Friedrich Hölderlin: Friedensfeier. Hrsg. und eingeleitet von Friedrich Beißner. Stuttgart: Kohlhammer 1954 (Bibliotheca Bodmeriana. 4). Hölderlin: Ein Lesebuch für unsere Zeit. Von Tilly Bergner und Rudolf Leonhard. Weimar: Thüringer Volksverlag 1954.

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Dierk Ο. Hoffmann, Harald Zils

Friedrich Hölderlin: Gesammelte Werke. Eingeleitet von Bernt von Heiseler. Besorgt von Robert Honseil und Hans Jürgen Meinerts. Gütersloh: Bertelsmann 1954. Friedrich Hölderlin: Gedichte. Ausgewählt und erläutert von Ludwig Voit und Michael Scherer. München: Kösel 1954 (Dichtung im Unterricht. 1). Friedrich Hölderlin: Friedensfeier. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. München: Saupe [1956], Friedrich Hölderlin: Dichtung, Schriften, Briefe. Ausgewählt und hrsg. von Pierre Bertaux. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer 1957 (Fischer Bücherei. 184). Sophokles: Tragödien. (Oedipus. Antigone.) Dt. von Friedrich Hölderlin. Hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Schadewaldt. Frankfiirt/Main, Hamburg: Fischer 1957 (Fischer-Bücherei. 162). Hölderlin: Friedensfeier. Lichtdrucke der Reinschrift und ihrer Vorstufen. Hrsg. von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat. Tübingen: Mohr 1959 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft. 2). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. Frankfurt/Main: Insel 1961. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Fragment von Hyperion. Hyperions Jugend. Mit einem Nachwort von Bernhard Böschenstein. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer 1962 (Die Fischer Bibliothek der Hundert Bücher. Exempla Classica. 54). Friedrich Hölderlin: Werke in einem Band. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Fritz Usinger. Hamburg: Hoffmann & Campe [1962], Friedrich Hölderlin: Werke, Briefe, Dokumente. Nach dem Text der von Friedrich Beißner besorgten Kleinen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Ausgewählt sowie mit einem Nachwort und Erläuterungen versehen von Pierre Bertaux. München: Winkler 1963. Hölderlins Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Herbert Greiner-Mai. Weimar: Volksverlag 1963. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Nachwort von Joachim Müller. Weimar: Kiepenheuer 1963 (Gustav-Kiepenheuer-Bücherei. 22). Friedrich Hölderlin: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Konrad Nussbächer. Stuttgart: Reclam 1963 (Universal-Bibliothek. 6266-6268). Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hrsg. von Günter Mieth. Leipzig: Reclam 1964 (Reclams UniversalBibliothek. 49). Friedrich Hölderlin: Oden, Elegien, Gesänge. Ausgewählt von Friedrich Beißner. Frankfurt/Main: Insel 1964. Friedrich Hölderlin: „... und gehen in Gottes Namen dahin, wo die Not am größten ist." Prosa und Briefe. Nachwort von Werner Kuhfuß. Stuttgart: Freies Geistesleben 1966 (Denken, schauen, sinnen. Zeugnisse deutschen Geistes. 35). Friedrich Hölderlin: 21 Briefe. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Bertold Hack. Frankfurt/Main: Beyer 1966. Aus den Briefen der Susette Gontard an Friedrich Hölderlin. 1798, 1799. Hrsg. von Bertold Hack. Frankfurt/Main: Beyer 1967. Hölderlin: Werke und Briefe. 2 Bde. Hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfurt/Main: Insel 1969. Friedrich Hölderlin: Werke, Briefe, Dokumente. Nach dem Text der von Friedrich Beißner besorgten Kleinen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe ausgewählt sowie mit einem Nachwort und Erläuterungen versehen von Pierre Bertaux. (Sonderausgabe). München: Winkler 1969. Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Günter Mieth. 4 Bde. Berlin, Weimar: Aufbau 1970. - Auch in 2 Bdn. München: Hanser 1970. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden. Hrsg. und kommentiert von Detlev Lüders. Bad Homburg v.d.H.: Athenäum 1970. Friedrich Hölderlin: Morgendämmerzeichen. Eine Auswahl. Hrsg. von Heinz Czechowski. Berlin: Verlag Neues Leben 1970. Friedrich Hölderlin: Stutgard. Originalgetreue Wiedergabe der Londoner Handschrift. Erläuterungen von Cyrus Hamlin. Stuttgart: Hölderlin Gesellschaft 1970 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft. 8). Friedrich Hölderlin: Hyperion. Empedokles. Hrsg. von Klaus Pezold. Leipzig: Reclam 1970 (Reclams Universal-Bibliothek. 559). Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Ein Trauerspiel. Mit einem Nachwort von Sabine Reinhardt. München: Goldmann 1972 (Goldmanns gelbe Taschenbücher. 1991). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Paul Stapf. Sonderausgabe. 2 Bde. Wiesbaden: Vollmer 1973. Friedrich Hölderlin: Der Tod des Empedokles. Hrsg. von Friedrich Beißner. Stuttgart: Reclam 1973 (Universal-Bibliothek. 7500/00a).

Hölderlin-Editionen

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Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hyperion. Empedokles. Briefe. Mit einem Vorwort von Michael Markel. Anmerkungen, Zeittafel und Textinterpretationen von Dieter Roth. Bukarest: Kriterion 1973 (Kriterion Schulausgaben. 1). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. Frankfurt/Main: Verlag Roter Stern [seit 1985 zusätzlich: Basel: Stroemfeid-Verlag] 1975ff. Verschiedene Einzelbände mit Mitherausgebern. [FHA] - Einleitung. 1975. - Bd. 1: Gedichte 1784-1789. Stammbuchblätter und Widmungen I. Hrsg. mit Hans Gerhard Steimer. 1995. - Bd. 2: Lieder und Hymnen. Hrsg. mit Wolfram Groddeck. 1978. - Bd. 3: Iambische und hexametrische Formen. Hrsg. mit Wolfram Groddeck. 1977. - Bd. 4: Oden I. Hrsg. mit Michael Knaupp. 1984. - Bd. 5: Oden II. Hrsg. mit Michael Knaupp. 1984. - Bd. 6: Elegien und Epigramme. Hrsg. mit Wolfram Groddeck. 1976. - Bd. 7: gesänge. dokumentarischer teil. 2000. - Bd. 8: gesänge. editorischer teil. 2000. - Bd. 9: Dichtungen nach 1806. Mündliches. Hrsg. mit Michael Franz. 1983. - Bd. 10: Hyperion 1. Hrsg. mit Michael Knaupp. 1982. - Bd. 11: Hyperion 2. Hrsg. mit Michael Knaupp. 1982. - Bd. 12: Empedokles 1. 1985. - Bd. 13: Empedokles 2. 1985. - Bd. 14: Entwürfe zur Poetik. Hrsg. mit Wolfram Groddeck. 1979. - Bd. 15. Pindar. Hrsg. nach Vorarbeiten von Michael Knaupp. 1987. - Bd. 16: Sophokles. Hrsg. mit Michael Franz und Michael Knaupp. 1988. - Bd. 17: Frühe Aufsätze und Übersetzungen. Hrsg. mit Michael Franz und Hans Gerhard Steimer. 1991. - Bd. 18: Briefe 1. Hrsg. mit Hans Gerhard Steimer. 1993. - Suppl. 1: Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel. Faksimile Edition. Hrsg. mit Hans Gerhard Steimer. 1 9 9 9 . - Suppl. 2: Stuttgarter Foliobuch. Faksimile Edition. Hrsg. mit Hans Gerhard Steimer. 1989. Suppl. 3: Homburger Folioheft. Hrsg. mit Emery Ε. George. 1986. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Kritische Textausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler und Wolfram Groddeck. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979-1988. - Bd. 2: Lieder und Hymnen. 1979. - Bd. 3: Jambische und hexametrische Formen. 1979. - Bd. 4: Oden 1. 1985. - Bd. 5: Oden 2. 1985. - Bd. 6. Elegien und Epigramme. 1979. - Bd. 9: Dichtungen nach 1806. Mündliches. 1984. - Bd. 10: Vorstufen zum Hyperion. 1 9 8 4 . - B d . 11: Hyperion. 1 9 8 4 . - B d . 12: Empedokles 1. 1 9 8 6 . - B d . 13: Empedokles 2. 1986 Bd. 14: Entwürfe zur Poetik. 1 9 8 4 . - B d . 15: Pindar. 1988. Friedrich Hölderlin: Die Maulbronner Gedichte 1786-1788. Faksimile des „Marbacher Quartheftes" Hrsg. von Werner Volke. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1977 (Schriften der HölderlinGesellschaft. 10; Marbacher Schriften. 13). Friedrich Hölderlin: Dem Sonnengott. Der Mensch. Faksimile. Weimar: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur 1977. Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hyperion. Texte nach dem Wortlaut der von Friedrich Beißner hrsg. Kleinen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Nachwort von Helmut Bachmaier. München: Goldmann [1978] (Goldmann Klassiker. 7568). Hölderlin in Frankfurt. 1796-1798. [Briefe ] Hrsg. von Bertold Hack. Frankfurt/Main: Weisbecker 1978 (Briefe aus Frankfurt. N F. 8). Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jochen Schmidt. Frankfurt/Main: Insel 1979 (Insel-Taschenbuch. 365). - Auch 1980 (Insel-Bibliothek). Sophokles: Antigone. Übersetzt von Friedrich Hölderlin. Leipzig: Insel 1979. Hölderlin in Homburg. Seine Briefe aus den Jahren 1798 bis 1800 und die Briefe der Susette Gontard an Hölderlin. Hrsg. von Bertold Hack. Mit einem Beitrag zur Geschichte des Homburger HölderlinDenkmals von Helmut Bode. Frankfiirt/Main: Weisbecker 1979. Friedrich Hölderlin: Werke in 2 Bdn. Hrsg. von Günther Mieth. Stuttgart: Parkland 1980. Johanna Christiana Gock, verwitwete Hölderlin, geb. Heyn. Ausgaben vor den Fritz welche aber wan er gehorsam bleibt nicht sollen abgezogen werden. Mein letzter Wille. Faksimile der Ausgaben-Liste ftir Friedrich Hölderlin und des Testaments (1808-1820). Mit Einfuhrung von Peter Härtling. Nürtingen: Zimmermann 1980. Hölderlins Diotima: Susette Gontard. Gedichte - Briefe - Zeugnisse. Mit Bildnissen. Hrsg. von Adolf Beck. Frankfurt/Main: Insel 1980. Friedrich Hölderlin: 144 fliegende Briefe. Hrsg. von D.E. Sattler. Hinweise und Kritik: Michael Franz und Michael Knaupp. 2 Bde. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1981. Friedrich Hölderlin: Hyperion. Mit einem Nachwort von Pierre Bertaux und III. von Annette Peuker-Krisper. Berlin (DDR): Buchverlag „Der Morgen" 1982. - Auch Wiesbaden: Fourier 1982. Friedrich Hölderlin: Werke. Geschenkausgabe in 4 Bänden. Hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt. Frankfiirt/Main: Insel 1983. - Bd. 1-2: Gedichte. - Bd. 3: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. - Bd. 4: Der Tod des Empedokles. Briefe. Anhang. Friedrich Hölderlin: Ausgewählte Gedichte. Hrsg. von D.E. Sattler. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1983. Friedrich Hölderlin: Empedokles. Heidelberg. Die Götter. Der Nektar. (Faksimile der Handschriften). Begleitwort von Jochen Schmidt. Nürtingen: Zimmermann 1983.

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Dierk Ο. Hoffmann, Harald Zils

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Hölderlin-Editionen

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Die aufgeführte Sekundärliteratur beschränkt sich auf Titel, die für das Thema als wesentlich erachtet und direkt oder indirekt zu der vorliegenden kritischen Übersicht beitrugen, d. h. eingesehen werden konnten. Besonders zu danken ist Marianne Schutz, Hölderlin-Archiv, für viele Hinweise und Übersendung von Materialien aus dem Zinkernagel-Nachlaß.

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Annette Steinich

Kafka-Editionen

1.

Überblick

Die erste editorische Bearbeitung seiner Texte hat Franz Kafka selbst vorgenommen. Wer nach ihm seine Texte ediert, bewegt sich zwischen zwei Polen: der zeitlebens ambivalenten Haltung Kafkas zu seinem eigenen Schreiben und der Verpflichtung auf eine originalgetreue Wiedergabe der überlieferten Manuskripte. Der Beitrag behandelt nach den Drucken zu Lebzeiten drei Ausgaben: Max Brod wird als Vollstrecker von Kafkas Testament zum Geburtshelfer des Autors. Die Kritische Kafka-Ausgabe wendet das wissenschaftliche Paradigma historisch-kritischer Ausgaben an und stößt dabei an dessen Grenzen. Die Frankfurter Kafka-Ausgabe verpflichtet sich radikal der Handschrift, indem sie deren Photographie neben Transkriptionen stellt und damit die editorische Tätigkeit zu einem Ende fuhrt.

2.

Vom Autor zum Text - Beschreibung der Ausgaben

2.1.

Drucke zu Lebzeiten: der Autor als Leser

Kafkas Zögern vor der Publikation, das nicht zuletzt durch Aussagen von Max Brod „Kafka ist ungeheuer schwer zu Veröffentlichungen zu haben. Man muß ihm die Manuskripte förmlich entreißen." - zu einem Topos der Kafka-Rezeption geworden ist und das seinen ambivalenten Ausdruck in den Testamenten findet, ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die „Gier" 1 nach Büchern, wie Kafka 1912 an Ernst Rowohlt schreibt, und die „Orgie beim Lesen" 2 des eigenen Schreibens in gedruckter Form. Kafka hat das eigene Schreiben immer auch mit den Augen eines Lesers wahrgenommen. Der erste Schritt an die Öffentlichkeit war zumeist das Vorlesen seiner Texte. Davon zeugen Lesungen, Briefe an Freunde und die Familie und in besonderer Weise Schreibspuren in den Manuskripten (Überschreibungen, Titellisten, Markierungen). 3 1

2 3

Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen B o m u.a. Bd.: Briefe, S. 167. Die Kritische Kafka Ausgabe wird im Folgenden KKA abgekürzt. KKA Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 30. Im paradigmatischen Fall der Oktavhefte, die Kafka von 1916 bis 1918 mit Aufzeichnungen unterschiedlichster Art ftlllte, belegen Schreibspuren eindeutig die Publikationsabsicht des Schreibenden. Titellisten, eingefügte Absatzmarken - vermutlich im Zusammenhang mit Abschriften - und Paginierungen sind ebenso Indizien einer lesenden Vorbereitung für die Veröffentlichung wie nach Abschluß des Schreib-

248

Annette Steinich

Diese Elemente eines dynamischen Schreibprozesses sind Signale der Segmentierung mit dem Ziel der Veröffentlichung als Einzeltext oder in einem Sammelband. Als integraler Bestandteil des Schreibprozesses stellen sie die andere Seite des Kafkaschen Schreibens als ,ecriture' dar.4 Dem potentiell unabschließbaren Prozeß der Produktion von Bedeutung durch Um-Schreibungen steht der Vorgang der Segmentierung von einzelnen Abschnitten des Schreibstroms aus den Manuskripten gegenüber. Einen weiteren Schritt an die Öffentlichkeit nimmt ein Text durch den Vorgang der Abschrift mit der Schreibmaschine ein. 5 Auch in diesem Medienwechsel kann sich der Schreibprozeß fortsetzen, sei es daß einzelne Sätze weggelassen oder hinzugefügt werden oder auch das Typoskript nochmals handschriftlich bearbeitet wird. Auf die Komposition aller seiner von ihm selbst zum Druck beförderten Sammelbände hat Kafka große Sorgfalt verwandt. Neben den realisierten Bänden Betrachtung (1912), Ein Landarzt (1920) und Ein Hungerkünstler (1924) hat er zwei weitere Sammelpublikationen in Erwägung gezogen. Unter dem Titel Die Söhne sollten die Erzählungen Der Heizer, Die Verwandlung und Das Urteil erscheinen, unter dem Titel Strafen die Texte Das Urteil, Die Verwandlung und In der Strafkolonie,6 Alle Sammelbände werfen die Frage auf, welcher Bedeutungshorizont sich durch die Zusammenstellung der Texte eröffnet. Hierzu bietet sich der von Karl Eibl anläßlich seiner Edition von Goethe-Gedichten eingeführte Begriff der Ensemble-Bildung an. 7 Goethe hat für die Edition seiner Gedichte neben der strengen Anordnung in Zyklen ein Verfahren der Ensemble-Bildung angewandt und die Texte nach Prinzipien der Ähnlichkeit, Opposition, Komplementarität, Relativierung oder Steigerung zusammengestellt. Kafka wendet in seinen Sammelbänden ein ähnliches Verfahren an, das die Interpreten auf die Suche nach dem ,geheimeren Sinn' hinter der Anordnung der Texte schickt. In diesem Zusammenhang fuhrt der Begriff der ,reecriture' weiter, der umgesetzt als poetologisches Prinzip das Phänomen von Identität und Differenz einer thematischen Grundstruktur präzise zu beschreiben vermag. 8 Die Konfiguration von Motiven läßt sich ebenso nachweisen wie unterschiedliche literarische Versuchsanordnungen, inhaltliche Symmetrien stehen neben strukturellen, eine Vielzahl signifikanter Verknüpfungen und Kohärenzmuster ist herstellbar. Kafka bricht den Entstehungskontext zugunsten eines neuen textuellen Kontextes auf. Dabei zieht er nicht nur selbst immer wieder alternative Anordnungsmöglichkeiten in Erwägung, auch die Ensemble-Struktur der Sammelbände ist prinzipiell offen. So stellen sie nicht die , Vollendung' eines Schreibens dar, sondern vielmehr die Manifestation eines spezifischen - vom Autor vorgenommenen Lektüreaktes, der im Kontext einer Schreibpraxis dem Text/den Texten eine weitere

4 5 6

7 8

prozesses vorgenommene Überschreibungen mit einem anderen Schreibutensil, sei es ein wesentlich dickerer Bleistift oder ein Tintenstift. Siehe Schütterle 2002. Zum Begriff ,6criture' siehe zusammenfassend Grisillon 1994. Siehe dazu KKA Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, S. 2 5 - 2 9 . Siehe dazu Kafkas Briefe an den Kurt Wolff Verlag in: Franz Kafka: Briefe 1 9 0 2 - 1 9 2 4 , 1958, S. 116, 149, sowie Dietz 1986. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 1 und 2, 1987/88, v.a. Bd. 1, S. 730ff. Zum Begriff , V e n t u r e ' siehe Schütterle 2002, S. 62 ff.

Kafka-Editionen

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Bedeutungsebene verleiht. Im Gegensatz zum fortgesetzten, dynamischen Schreiben in den Manuskripten, das sich zumeist selbst in Gang hält und keinem erkennbaren Plan folgt, bietet die Publikation eines Sammelbandes dem Schreibenden die Möglichkeit, den eigenen Lektüreprozeß umzusetzen in die Konstruktion eines neuen TextGeflechtes - in einem anderen Medium, unter der Signatur des eigenen Namens, für eine öffentliche Leserschaft.9 Wenngleich Kafka nur ungefähr ein Sechstel von dem, was er geschrieben hat, zur Veröffentlichung brachte, so ist es doch für die Einschätzung seines ambivalenten Verhältnisses zum Druck wesentlich zu wissen, daß beispielsweise allein die im Landarzt-Band versammelten Texte außerhalb dieses Buches insgesamt 21 mal zu seinen Lebzeiten als Einzelpublikationen erschienen sind.10 Viele dieser Publikationen gehen auf die Initiative und Vermittlung von Brod zurück, doch hat Kafka eine subtile Kommunikationsstrategie entwickelt, mit der er seine Interessen gegenüber den Verlagen eigenständig wahrnimmt.11 Alle Drucke zu Lebzeiten sind Ausdruck des Schreibenden, seinen Texten und seinem Namen einen Platz in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

2.2.

Max Brod als Testamentsvollstrecker: die Konstitution eines Autors

Kafkas ambivalente Einstellung zur Veröffentlichung findet ihren letzten Ausdruck in seinen Testamenten. Zwei Wochen nachdem er von seiner Tuberkulose-Erkrankung erfahren hat, notiert er in sein Tagebuch: „Alles zerreißen".12 Ob und in welchem Umfang Kafka eigene Manuskripte vernichtet hat, ist unbekannt.13 Bekannt ist, daß er bis zu seinem Tod intensiv an der Vorbereitung eines weiteren Sammelbandes gearbeitet

10

11

12 13

Die KKA verzeichnet im Apparatband der Drucke zu Lebzeiten sowohl alle ,Entstehungsvarianten' in der Handschrift als auch diejenigen zwischen Handschrift und Drucken, um alle Bearbeitungsstadien des Textes von der ersten Niederschrift bis zum letzten Druck zu Lebzeiten zu dokumentieren. Damit sind zu einem Lemma jeweils alle vorhandenen Überlieferungsträger gleichzeitig dokumentiert, und es läßt sich nachvollziehen, daß Kafka bei der Durchsicht der zweiten oder dritten Auflage oder bei Neudrucken von bereits veröffentlichten Texten anhand des Manuskriptes Korrektur gelesen hat und Veränderungen, die offenbar nicht auf ihn zurückgingen, wieder rückgängig macht, den Text also wieder auf,Handschriftenstand' bringt. Ein chronologisches Verzeichnis aller Drucke zu Lebzeiten findet sich im Apparatband Drucke zu Lebzeiten der KKA. Joachim Unselds These, Kafkas pessimistische Argumentation habe zu einer mißlungenen Kommunikation mit seinen Verlegern gefilhrt, scheint nicht ganz der Realität zu entsprechen. Hans-Gerd Koch weist anhand von Brods bislang unpublizierten Tagebüchern und Äußerungen von Kafka nach, daß dieser sich seit 1913 mehr und mehr von Brod emanzipiert und ihn für seine eigenen Publikationszwecke gegenüber den Verlegern instrumentalisiert; s. Koch 2001. Eindeutig ist in dieser Hinsicht Kafkas Dank an den Freund für Vermittlungsdienste: „Es ist soviel angenehmer durch Dich als selbst zu erinnern (vorausgesetzt daß es Dir nicht unangenehm ist)" (Pasley 1989, S. 232). KKA Tagebücher, S. 832. Wie ambivalent Kafka in der Bewertung des eigenen Schreibens unter dem Gesichtspunkt der Veröffentlichung war, zeigt sich z.B. in einem Tagebucheintrag Ende Dezember 1911: „Außerdem stört mich, daß ich das Tagebuch heute früh daraufhin durchgeblättert habe, was ich M. vorlesen könnte. Nun habe ich bei dieser Überprüfung weder gefunden, daß das bisher Geschriebene besonders wertvoll sei, noch daß es geradezu weggeworfen werden müsse. Mein Urteil liegt zwischen beiden und naher der ersten Meinung, doch ist es nicht derartig, daß ich mich nach dem Wert des Geschriebenen trotz meiner Schwäche für erschöpft ansehn müßte."

250

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hat, der dann Ende August 1924 unter dem Titel Ein Hungerkünstler im Verlag Die Schmiede erschien. 14 Die Testamente stellen letztlich die Fortführung einer Schreibpraxis dar, die immer schon unter dem doppelten Gesetz von fortgesetzter ,ecriture' und ,r££criture' und der auf einen Lektürevorgang zurückgehenden Konstruktion abgeschlossener Einheiten, in denen das Schreiben für die Öffentlichkeit zum Stillstand kommt, steht. Das Verbot zu lesen muß zuvor erst gebrochen werden: Liebster Max, meine letzte Bitte. Alles, was sich in meinem Nachlaß [...] an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen, fremden und eigenem, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andre, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben (Kafka, Der Prozeß 1950, S. 316f.).

Auch die zweite Botschaft an Max Brod ist zweideutig: Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. [...] Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos, soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist [...] - alles dieses ist ausnahmslos, am liebsten ungelesen (doch wehre ich Dir nicht hineinzuschaun, am liebsten wäre mir allerdings, wenn Du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand andrer hineinschaun) - alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen, und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich. Franz. 1 5

Damit hat der Empfänger der Botschaft die Verantwortung für die Schrift zu übernehmen und die Entscheidung zu treffen: und zwar nicht nur darüber, ob er sich über das Verbot hinwegsetzen darf, sondern auch und vor allem, wie er das Schreiben Kafkas liest. Unmittelbar nach Kafkas Tod strebt Max Brod eine Edition des Gesamtwerkes an, um den Nachlaß schnellstmöglich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Pragmatische Voraussetzung für dieses Projekt ist die Akzeptanz durch das Lesepublikum, was zu Konzessionen in der Editionsweise führt. Unter den Kategorien „Normalisierung", „Bearbeitung" und „Ent-Fragmentarisierung" nimmt Brod seine Arbeit am und mit dem Text auf. 16 Die Autorisierung für die massiven Eingriffe in die sprachliche Gestalt und den überlieferten Textkörper gründet Brod auf sein enges, aus seiner Sicht freundschaftliches Verhältnis zum Autor: Ganz im Lachmannschen Sinn wird er zum , Geburtshelfer' des bis dahin fast unbekannten Autors Franz Kafka. 17 Er sieht sich als Propagator Kafkas zu Lebzeiten, der dessen zwiespältige Einstellung zur Publikation auch nach dem Tod in eine eindeutige Entscheidung zugunsten des , Werkes' im klassischen Sinne aufhebt: Mein Entschluß zu veröffentlichen, wird übrigens durch die Erinnerung an all die erbitterten Kämpfe erleichtert, mit denen ich j e d e einzelne Veröffentlichung von Kafka erzwungen und 14 15 16 17

Siehe KKA Drucke zu Lebzeiten Apparatband, S. 386ff. Nachwort von Max Brod in Kafka 1950, S. 317f. Dietz 1990, S. 126f. Brods Rechtfertigung seines Vorgehens findet sich im Nachwort zu seiner Prozeß-Ausgabe. Zu seinem Autorbild siehe seine Kafka-Biographie: Brod 1966.

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oft g e n u g erbettelt habe. Und dennoch war er nachträglich mit diesen Veröffentlichungen ausgesöhnt und relativ zufrieden. 1 8

In Kafkas ,Sinne' sieht er sich ermächtigt, den Text zu lesen und als durch diesen Lektürevorgang gleichsam ,vollendeten' der Öffentlichkeit zu übergeben. Bereits 1925 publiziert er im Verlag Die Schmiede die Manuskripte zum Prozeß als geschlossenen Roman, um Kafka gegenüber den vom Autor selbst publizierten Erzählungen nun auch als Epiker zu etablieren. 1926 folgt schon Das Schloß, 1927 Amerika, beide im Kurt Wolff Verlag. Bis 1935 erscheinen dann beim jüdischen Verlag Schocken in Berlin unter Mithilfe von Heinz Politzer die ersten vier der geplanten sechs Bände einer ersten Gesamtausgabe, ab 1938 die letzten beiden Bände in Prag im Verlag Mercy. Die zweite Auflage dieser Ausgabe bringt nur wenige Jahre später wiederum Schocken, diesmal aus New York, in fünf Bänden ab 1945 heraus, d.h. als Nachdruck der ersten mit kleinen Erweiterungen und ohne die Auswahl aus den Tagebüchern und Briefen. Ab 1950 erscheint die Ausgabe Gesammelte Werke als Lizenzausgabe der Schocken Books in Frankfurt/Main beim S. Fischer Verlag, bis 1958 sind neun Bände, 1974 schließlich elf auf dem Buchmarkt. Erst die späten Briefe werden von Literaturwissenschaftlern ediert: die Briefe an Feiice von Erich Heller und Jürgen Born, die Briefe an Ottla von Klaus Wagenbach und Hartmut Binder. Von den Gesammelten Werken leiten sich wiederum zahlreiche Einzeldrucke, Taschenbuchausgaben, Sonderausgaben und Sammelbände ab. 19 Die Editionspraxis von Max Brod verfolgt keine wissenschaftlichen Ansprüche. Sie setzt den Editor in ein spezifisches Autorisierungsverhältnis zum Autor und produziert Texte als Ergebnis von Interpretation, die zugleich wieder zur Grundlage von Interpretationen werden. Relativ unproblematisch scheinen die nach Kafkas Tod veranstalteten Editionen seiner bereits zu Lebzeiten veröffentlichten Texte zu sein. 1935 geben Max Brod und Heinz Politzer im Schocken Verlag Berlin den ersten Band der Gesammelten Schriften, die Erzählungen und Kleine Prosa, heraus, der 1946 in der zweiten Auflage bei Schocken New York erscheint. Neben zwei Gesprächen aus der Erzählung Beschreibung eines Kampfes enthält der Band von 1935 fast alle von Kafka selbst veröffentlichten Texte. Zu den Sammelbänden Betrachtung, Ein Landarzt und Ein Hungerkünstler findet sich folgende Anmerkung Brods im Nachwort der Ausgabe von 1946: Ich habe die einzelnen Prosastücke in derselben R e i h e n f o l g e und Zusammenstellung belassen, in der sie Franz Kafka selbst in den genannten Büchern veröffentlicht hat. Insoweit diese Bücher Sammlungen bilden, kann in der Aneinanderreihung der Teile kein Zufall erblickt werden. A u c h haben die Bücher als Einheiten ihre Wirkung geübt und gehören daher in dieser Form der Geistesgeschichte an. A u s diesem Grund blieb auch das Stück „Vor dem Ge-

18 19

Im Nachwort von Max Brod in Kafka 1950, S. 319f. Zur bereits früh einsetzenden Kritik an Brods Editionsweise siehe Beißner 1959, Martini 1958, Ryan 1970. Vor allem Ludwig Dietz, der die Eigenart des Kafkaschen Schreibens und die grundsätzliche Problematik der Übersetzung eines dynamischen Schreibprozesses in die Statik des Drucks beziehungsweise das Zeichensystem eines Apparates erkennt, hat sich mit Editionsproblemen auseinandergesetzt: Dietz 1967, 1969 und 1974.

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setz" im ursprünglichen Zusammenhang des „Landarzt"-Bandes bestehen, obwohl es im Text des „Prozeß"-Romans wiederkehrt.20

Wo ein Text also den höchstmöglichen Autorisierungsgrad hat - das .Imprimatur' von der Hand des Autors - , ist die posthume Edition Reproduktion dieses Aktes. Damit ist jedoch nur die eine Seite des Kafkaschen Schreibens berührt, problematisch wird nicht nur die Edition der nicht zu Lebzeiten publizierten Texte, sondern auch die Übersetzung eines handschriftlich überlieferten Schreibprozesses in die genormte Statik eines Druckes. Zumal wenn dieser Übersetzungsakt von vornherein unter dem Vorzeichen steht, abgeschlossene, lesbare Texte zu konstituieren. Um den vermeintlich , fragmentarischen' Charakter vieler Texte möglichst leserfreundlich zu glätten, greift Brod in den überlieferten Textkörper auf allen Ebenen ein: auf der lautlichen und lexikalischen ebenso wie auf der Ebene der Begrenzungen und Übergänge. Dieses Verfahren fuhrt in der editorischen Dokumentation der überlieferten Schreibprozesse zu signifikanten Veränderungen auf der Bedeutungsebene. Ausgehend von der Grundbewertung der überlieferten Schrift als , fragmentarischer Text' und der Zielvorgabe, einen möglichst widerspruchsfreien Text aus den .Bruchstücken' zu konstituieren, rechtfertigt sich der Eingriff des Editors in die Handschrift des Autors. Die Manuskripte Kafkas jedoch dokumentieren das Phänomen einer ,ecriture' und .reecriture', die sich weder einer klassischen Werkästhetik noch einer Teleologie der Textentwicklung unterwerfen lassen. Max Brod hat selbst nicht nur die Schwierigkeiten seines eigenen Ansatzes erkannt, sondern auch die grundsätzliche Problematik einer Edition dieses Schreibens: Ein solcher Versuch, wie ich ihn hier gemacht habe, kann nie eindeutig gelingen, aber auch der wortgetreue Abdruck, ja die photographische Reproduktion der einander widersprechenden Versionen, die durchgestrichen sind und innerhalb des Gestrichenen noch andere, entschiedenere Striche aufweisen, brachte keine Lösung, so daß die Publikation dieses Fragments (wie auch manches andere aus dem Nachlaß) selbst wie eine jener niemals zu Ende zu führenden Aufgaben, eine jener „Chinesischen Mauern" anmutet, die in Kafkas Thematik einen so beherrschenden Platz einnehmen.21

Zusammenfassend läßt sich die Ausgabe von Max Brod und das dahinterstehende Editionskonzept folgendermaßen beurteilen: Auf allen Ebenen des Textes bringt sich der Editor als Ko-Autor ins Spiel. Mögen auch manche Eingriffe auf eindeutigen Lesefehlern beruhen, so dienen andere der Herstellung eines grammatikalisch und stilistisch .korrekten' Textes. Bei der Konstitution des Textes werden ohne Kennzeichnung der jeweiligen editorischen Entscheidung und ihrer Motivation - in einem letztlich autoritären Akt - gestrichene Stellen hinzugezogen oder weggelassen. Motiviert ist dieser konstruierende Umgang mit dem handschriftlichen Ausgangsmaterial weniger durch den Anspruch einer Dokumentation des Manuskript-Befundes als vielmehr durch das Ziel der Herstellung eines lesbaren Textes des Autors Franz Kafka für eine

20 21

Brod im Nachwort seiner Ausgabe Erzählungen und Kleine Prosa 1946, S. 320f. Brod im Nachwort seiner Ausgabe Beschreibung eines Kampfes 1954, S. 353 f.

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sich erst konstituierende Leseöffentlichkeit. In diesem Sinne nimmt Max Brod die testamentarische Verantwortung ernst, was ihm mit der Etablierung eines permanent (um-)schreibenden ,Textdynamikers' in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kaum gelungen wäre. 2.3.

Die Kritische Kafka Ausgabe: ein lesbarer Text

Den Anspruch, die „Handschrift des Autors" zur „Grundlage für die Darbietung der Texte" 22 zu machen, erhebt die seit 1982 erscheinende Kritische Kafka Ausgabe, die als erste den wissenschaftlichen Blick auf das Schreiben Kafkas wirft. 23 In der Unterscheidung zwischen „Text" und „Handschrift" ist bereits das Spannungsfeld benannt, innerhalb dessen sie zu piazieren ist. Die Kritische Kafka Ausgabe unterscheidet sich in Anlage und Anspruch grundlegend von derjenigen Max Brods, da nicht nur erstmals das gesamte überlieferte Textmaterial dargeboten wird, sondern vor allem die Textkonstitution von den Manuskripten ihren Ausgang nimmt und insofern ein wesentliches Kriterium wissenschaftlicher Editionen erfüllt: die „Ermittlung und Präsentation des authentischen Wortlauts". 24 Die „Herstellung eines authentischen Textes" 25 stellt das Ziel der KKA dar, deren Selbstverständnis und Vorgehen im Rahmen des Paradigmas historisch-kritischer Ausgaben zu sehen ist: „Der Charakter der Handschrift bleibt gewahrt, und die Darbietung im Textband versucht nicht, durch Normalisierungen oder durch Korrekturen im vermutlichen Sinne des Autors zu reinigen oder zu glätten." 26 Bereits der Titel der beiden Bände Nachgelassene Schriften und Fragmente zeigt, welche Konzeption von ,Text' hier zugrunde liegt: Wenngleich unklar bleibt, worin der Unterschied zwischen „Schriften" und „Fragmenten" bestehen soll, die ebenso nachgelassen' sind wie alle drei als ,Romane' edierten Texte, so erweist sich doch die Unterscheidung von .unfertigem', fragmentarischem und ,endgültigem' Text27 als für die Edition handlungsleitende Scheidelinie zwischen privatem und öffentlichem Schreiben. Bezugspunkt der Edition sowie der ihr vorausgehenden Interpretation 22 23

24 25 26 27

KKA Nachgelassene Schriften und Fragmente, Apparatband, S. 8. Die 1974 an der Wuppertaler Gesamthochschule gegründete Kafka-Forschungsstelle koordiniert die KKA, seit 1982 ist Hans-Gerd Koch der Leiter der Redaktion. 1982 erschien im S. Fischer Verlag als erster Band Das Schloß, zuletzt 2005 der dritte von fünf Briefbänden für den Zeitraum von 1914-1917. Außer den zwei letzten Briefbanden fehlen der dann ausnahmslos sämtliche Schriften Kafkas versammelnden Ausgabe (auch die Amtlichen Schriften sind 2004 erschienen und haben durch ihre Vollständigkeit die bis dahin einzig vorliegende Ausgabe von Klaus Hermsdorf ersetzt) nur noch die HebräischStudien. Bohnenkamp 1997, S. 180. KKA Das Schloß, Apparatband, S. 7. KKA Nachgelassene Schriften und Fragmente 1, Apparatband, S. 8. Diese Unterscheidung trifft Jost Schillemeit, einer der Hauptherausgeber der KKA, obschon er zugleich den materiellen Aspekt des Schreibens anerkennt: Der Text ist „fast immer eindeutig lesbar, und zwar nicht nur der endgültige Text, sondern auch das zuvor Geschriebene, und überdies - eine weitere Eigentümlichkeit der Manuskripte - nicht nur Wort für Wort, sondern auch Buchstabe für Buchstabe. Ja, man kann geradezu von einem besonderen .Verhältnis zum Buchstaben' sprechen, als einer Eigenheit, die für Kafkas Art des Schreibens und Produzierens überhaupt charakteristisch war und offenbar damit zusammenhängt, daß er seine Formulierungen nicht nur als gedankliche Einheiten, sondern auch als graphischvisuelle und zugleich als rhythmisch-akustische Gebilde erlebte" (Schillemeit 1987, S. 93).

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bleibt damit nach wie vor der Autor, beziehungsweise der nachträglich rekonstruierte Autor-Wille. Im Bewußtsein für dieses Problem, das Verhältnis zwischen autorisiertem und nicht-autorisiertem Text, wählt die KKA den Darstellungsmodus der Doppeledition, d. h. die Texte werden sowohl in den von Kafka veranstalteten Drucken als auch im Kontext der Manuskripte wiedergegeben. Das von der KKA verfolgte „Schriftträgerprinzip" 28 erhält zwar die ursprünglichen Textzusammenhänge der einzelnen Schriftträger, stößt dann jedoch an seine Grenzen, wenn die Schriftträger selbst nicht in ihrer Materialität dokumentiert sind, sondern diskursiv beschrieben werden. Zwar setzt sich die KKA zum Ziel, das Schreiben Kafkas in „Buchstabengenauigkeit" 29 zu dokumentieren und entwickelt zu diesem Zweck ein gut lesbares Zeichensystem, das Streichungen, Einfügungen, Überschreibungen, Umstellungen und Wiederherstellungen durch Unterpungierung darstellt. Nicht verzeichnet wird jedoch die Lokalisierung der einzelnen Schreibakte: weder in bezug auf die Verteilung der Schrift auf der Seite noch in bezug auf das bereits Niedergeschriebene. Damit bleibt die KKA um der einfacheren Benutzbarkeit des Apparatbandes willen hinter den bereits von Beißner in seiner Hölderlin-Ausgabe gesetzten Maßstäben zurück. Dem grundsätzlichen Problem, daß ein Lemmaapparat nur begrenzt den für das Verständnis des Schreibprozesses notwendigen Kontext wiedergeben kann, versucht die KKA dadurch zu begegnen, daß zum einen manche Lemmata aus mehreren Wörtern bestehen, zum anderen bei komplizierteren „Korrekturprozessen" ein Verfahren gewählt wird, „bei dem zwei oder mehrere Zustände der betreffenden Textstelle aus dem Gesamtverlauf des Korrekturgeschehens herausgegriffen und gleichsam in .Momentaufnahmen' dargestellt werden und für jeden dieser Zustände Änderungen gegenüber dem vorhergehenden - die übrigens nicht notwendig zusammengehören müssen - mit Hilfe der eingeführten Zeichen notiert werden". 30 Zwar ist dadurch der Apparat der KKA nicht rein ,ergebnis'-, sondern auch ,prozeßorientiert', doch räumt Schillemeit selbst ein, daß die handschriftlichen Befunde nur „bis zu einem gewissen Grade" 31 wiedergegeben sind. Die Eigendynamik des Schreibens bleibt unübersetzbar, zumal sich die Darstellung von ,Textstufen' bereits bei Beißner hinsichtlich der Begrenzbarkeit einzelner Stufen als problematisch erwiesen hat. Kritische Rezensionen 32 haben Mängel und Fehler der KKA aufgelistet, von grundsätzlicher Bedeutung sind jedoch die Schwierigkeiten der zugrundeliegenden Konzeptionen von ,Text' und ,Autor' sowie die hier erkennbaren Grenzen historisch-kritischer Ausgaben. Die Grenzen dieses Paradigmas bestimmen sich nicht nur durch ein spezifisches Erkenntnisinteresse an Textgenese und Schreibprozessen, sondern auch durch die in den Manuskripten dokumentierten Schreibphänomene. Als besonders problema28 29 30 31 32

KKA Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband, S. 7. Schillemeit 1987, S. 97. Schillemeit 1987, S. 99. Schillemeit 1987, S. 100. Z.B. Arnold 1983, Martens 1991 sowie Dirksen 1994.

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tisch erweist sich in dieser Hinsicht die an der Kategorie der Streichung orientierte Aufteilung des handschriftlich überlieferten Textmaterials auf einen Text- und einen Apparatband. Welchen Status der im Apparatband verzeichnete Text hat, findet auch darin seinen Ausdruck, daß hier im Unterschied zum Textband weder emendiert noch die Orthographie verändert wird. Dies kann zu der paradoxen Situation fuhren, daß das Lemma anders geschrieben ist als die dazu verzeichnete Variante. Die Kategorie ,Textfehler' 3 3 ist also mit der Kategorie ,Streichung' als Ausdruck der .Verwerfung' durch den Autor nicht kompatibel: In nicht-gestrichenem Text sieht sich der Editor ermächtigt, ,Fehler' des Autors zu korrigieren, wohingegen die Streichung durch den Autor selbst den höchsten Autorisierungsgrad hat und zur Verbannung in den Apparatband fuhrt. 34 Wo sich wie bei Kafka Schreiben als Prozeß ereignet, der nicht nach einem vorgefertigten Plan verläuft, sondern sich aus einer immanenten Dynamik entwickelt, wird die Aufteilung des Textes in Apparat- und Textband grundsätzlich problematisch. Die Transkription von Handschrift in das Zeichensystem des Apparates bedeutet zweierlei: Jeder editorischen Entscheidung geht notwendigerweise eine hermeneutische voraus, und jeder Übersetzungsvorgang ist begleitet von einem Informationsverlust. Eine annähernde Wiederherstellung der Dynamik des Schreibens ist nur möglich, wenn der Apparatband als eine Art ,Bildlegende' benutzt wird, die als Lesehilfe für das Manuskript dient. Ohne das Bild der Handschrift bleiben die genormten Druckbuchstaben, denen im Grunde die Funktion der .Illustration' dieses Bildes zukommt, statisch. Jede Transkription des Schrift-Bildes muß sich entscheiden, ob sie das Ergebnis eines Überschreibungsvorganges darstellen will oder diesen selbst. Wer sich nicht entscheiden will, photographiert das Manuskript. In diesem Bild ist dann die zum Stillstand gekommene Bewegung der Schrift sichtbar, jeder Versuch der Wiederbelebung bleibt letztlich ein Mythos. Nur der Lektüreakt vermag eine potentielle Schreibbewegung zu rekonstruieren, die derjenigen auf dem zunächst weißen Blatt Papier zumindest ähnelt. Die KKA kann ein solches an komplexen Schreibprozessen orientiertes Erkenntnisinteresse nicht befriedigen. Sie gerät innerhalb des editorischen Paradigmas historisch-kritischer Ausgaben in ein Spannungsfeld: einerseits die Dokumentation der Handschrift, andererseits das Ziel, einen .lesbaren' Text herzustellen. Die Herausgeber gehen dabei .wissenschaftlich' vor, entfernen sich jedoch von dem, was materialiter überliefert ist. Dabei wird das Aufbrechen von Schreibzusammenhängen und die Feststellung eines dynamischen Schreibprozesses in die Statik gedruckter Buchstaben und das Zeichensystem des Apparats in Kauf genommen. Einen L ö sungsvorschlag', der letztlich weniger einen Ausweg aus dem Dilemma denn die A u f lösung' des Problems darstellt, hat die Frankfurter Kafka Ausgabe vorgelegt.

33

34

Zur für die Editorik zentralen Debatte um den Begriff des ,Textfehlers' siehe Polheim 1991, Scheibe 1991, McGann 1992. Von dort fällt der .verworfene' Text auch aus dem kulturellen Gedächtnis, da sich die TaschenbuchLeseausgaben allein von den Textbänden der KKA ableiten.

256 2.4.

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Die Frankfurter Kafka Ausgabe: die photographierte Handschrift

Die seit 1995 erscheinende Frankfurter Kafka Ausgabe35 versucht, aus dem hermeneutischen Zirkel von Edition und Interpretation auszubrechen: Statt eines konstituierten Textes bietet sie Faksimiles der Handschriften mit einer diplomatischen Umschrift als „Lese- und EntzifFerungshilfe".36 Sie verfolgt mit diesem Ansatz ein mehrfaches Ziel: Zum einen betont sie den Sicherungs- und Archivierungsauftrag der Kulturtechnik Edition: „Ediere so, als erlösche mit Deinem Blick aufs Manuskript die Schrift. Motiv der Rettung."37 Bedingt durch ihre Überlieferungsgeschichte38 sind die Manuskripte Kafkas stark in Anspruch genommen, zudem droht sowohl die Bleistift- als auch die Tintenspur zu verblassen. Dieser ,Auftrag' gründet nicht nur in der kulturhistorischen Bedeutung der Texte, sondern zugleich in einer Anerkennung der Handschrift als ästhetisches Objekt. Entscheidend ist jedoch, daß der FKA eine Konzeption von ,Text' und ,Schreiben' zugrunde liegt, die eine Trennung von Manuskript, soweit es vorliegt, und Text nicht vorsieht. Der Bedeutungsaspekt der Texte ist von der materiellen Dimension der Schrift, wie sie sich in den Manuskripten dokumentiert findet, nicht zu trennen.39 Diese Vorstellung korrespondiert mit einer Konzeption vom Schreiben als Praxis, als ,ecriture', die sich weder unter den Kategorien von ,Gültigem' und Verworfenem' hierarchisieren noch adäquat in ein anderes Zeichensystem übersetzen läßt. Varianten gibt es für eine solche Edition nicht, da „Kafkas Streichungen nicht das zuvor Geschriebene auslöschen, sondern lesbar lassen - als dem lesenden Auge kopräsenter Speicher möglicher Restitutionsmöglichkeiten, aber auch als Fixpunkte neu zu entfachender Phantasie, als Zeugnisse, daß alles auch anders sein könnte oder hätte werden können".40 Hinfällig wird damit auch die Kategorie der ,Fassung', wie Roland Reuß im Vorwort seiner Ausgabe der Beschreibung eines Kampfes formuliert: O b w o h l beide überlieferten Manuskripte in verschiedenen Passagen übereinstimmen, wird es in dieser Edition vermieden, von zwei Fassungen eines und desselben Textes ( w i e sollte der aussehen?) zu sprechen. Es existiert kein ideales Substrat hinter den überlieferten Hand-

35

36 37 38 39

40

Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bisher sind ein Einleitungsband (1995), Drei Briefe an Milena Jesenskä (1995), Der Process (1997), die Beschreibung eines Kampfes (1999), die Oxforder Quarthefte 1 & 2 (2001) und Die Verwandlung (2002) erschienen. Im Folgenden abgekürzt FKA. Jedem Band der FKA ist eine CD-Rom beigelegt, die jedoch hinter den Möglichkeiten bleibt, die eine elektronische Edition bietet. Den Standard hier setzt derzeit die Gottfried Keller-Ausgabe von Walter Morgenthaler (seit 1999 im Stroemfeld-Verlag). Vor allem die Verknüpfung von Text und Bild bzw. Manuskript und Umschrift und der verschiedenen Texte untereinander läßt einen Hypertext entstehen, der dynamische Schreibphänomene adäquat zu dokumentieren vermag. FKA Einleitungsband, S. 17. Reuß 1995, S. 126. Siehe dazu KKA Das Schloß, Apparatband, S. 15. Das heißt keineswegs, daß für den Fall eines gedruckt vorliegenden Textes dieser mit dem Manuskript zu identifizieren wäre. Im Gegenteil: Dem Manuskript kommt genau wie dem gedruckten Text ein eigenständiger Status zu, den die FKA auch als solchen editorisch anerkennt, wenn sie sowohl die Manuskripte als auch den Erstdruck der Beschreibung eines Kampfes dokumentiert. Gibt es jedoch ausschließlich einen handschriftlich überlieferten Schreibprozeß, so ist dieser der Gegenstand der Lektüre und nicht ein davon .abzulösender' oder zu unterscheidender ,Text'. Reuß 1997, S. 22.

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Schriften, deren äußerliche Seite sie wären, noch sind die beiden Handschriften Fassungen voneinander. B e i d e Manuskripte sind j e für sich Individuen, ,haben j e fiir sich einen, ihren Sinn'. 4 1

Auch zwischen Original und Faksimile ereignet sich jedoch ein Übersetzungsvorgang, bei dem signifikante Information verlorengehen kann. Da die FKA bisher nur schwarzweiße Faksimiles bietet, sind weder die Tintenstift-Spuren von Kafkas Hand erkennbar noch die Eingriffe späterer Editoren, wie in den Oktavheften z.B. die von Brod und Politzer eingefugten Absatzmarken zur Kennzeichnung der Grenzen der von ihnen konstituierten Texte. Die FKA erhebt den Anspruch, die Handschrift in ihrer Materialität zu dokumentieren, und ediert deshalb die einzelnen Schriftträger als solche, beziehungsweise als Konvolute: „Ein sachlich angemessener, i.e. dialektischer Umgang mit der handschriftlichen Überlieferung gibt nicht die Handschrift dem Buch preis, noch verzichtet er auf die Vorzüge, die der Buchform eigen sind." 42 Es ist zu hoffen, daß nicht alle Manuskripte einheitlich in dem bisherigen Format der Ausgabe erscheinen werden, da diese sich vorgegebenen, auch verlagspragmatisch bedingten Normen unterwerfende Edition den Charakter der einzelnen Schriftträger ebenfalls nicht wiederzugeben vermag. Wünschenswert und erforderlich im Sinne einer „größtmöglichein] Adäquanz an die Makrostruktur des überlieferten Materials" 43 wäre eine Farbfaksimilierung in der Originalgröße des jeweiligen Schriftträgers. Wer auf die zum Paradigma historisch-kritischer Edition gehörende Selektion und Hierarchisierung von Textmaterial gänzlich verzichtet, ,überwindet' den Apparat und die in ihm begründete Problematik. Die FKA lehnt den autoritären Akt, den die Bewertung des Materials als konstitutiv' oder ,nicht-konstitutiv' für den Text darstellt, grundsätzlich ab und versteht sich deshalb als gleichsam ,basisdemokratische' Kontrollmöglichkeit der bisherigen Editionen: Zugleich wird damit der ideologische Zug einer germanistischen und verlegerischen Praxis deutlich werden, die statt in eine adäquate Darstellung der Materialien und eine damit immer einhergehende Kritik der Filter und kulturellen Zensurinstanzen ihren Ehrgeiz vor allem in eine neuerliche autoritäre Textkonstituierung setzt - o b w o h l hierzu seit den Brodschen Textvorgaben (die ihre historische Berechtigung hatten und bis heute haben) gar keine Veranlassung mehr besteht. 4 4

Das Vertrauen auf den Blick des Lesers macht die Versprachlichung des handschriftlichen Befundes im Apparat überflüssig. 41

42 43 44

Reuß 1999, S. 6. Zur Arbeit mit der FKA siehe als Beispiel aus der Schreibprozeßforschung Giuriato 2003. Reuß 1997, S. 16. Reuß 1997, S. 21. FKA Einleitungsband, S. 16f. Zur für Roland Reuß typischen Argumentation und der hermeneutischen Dimension seiner Ausgabe siehe Wittbrodt 1999. Reuß' Einschätzung der Brodschen Ausgabe hat unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten sicherlich ihre Richtigkeit. Aus editorischer Perspektive irrt er jedoch in ihrer impliziten Gleichsetzung mit der KKA. Sicherlich ist auch der Konstitution von Texten ein letztlich autoritärer Akt, der jedoch innerhalb des Paradigmas historisch-kritischer Ausgaben wesentlich anderen, nämlich wissenschaftlichen Kriterien unterliegt als in der Brodschen Ausgabe.

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Die FKA steht im Kontext einer wissenschaftshistorischen Entwicklung, in der das zunehmende Interesse der Literaturwissenschaft an Textgenese und Schreibprozessen nicht nur zur Diskussion der Konzeption von ,Text' und ,Autor' geführt hat, sondern auch zur Erarbeitung von textgenetisch orientierten Darstellungsverfahren in der Edition sowie einer zunehmenden Tendenz zur Faksimilierung von Handschriften. 45 Pionier in dieser Hinsicht ist D.E. Sattler, der in seiner Hölderlin-Ausgabe neben einem Lesetext sämtliche Handschriften faksimiliert und durch diplomatische Umschriften sowie Phasenanalysen ergänzt. Als zwei weitere Beispiele für die Vermeidung einer Hierarchisierung von Text und Varianten seien die t/Zyssas-Ausgabe von Hans Walter Gabler und die von Wolfram Groddeck besorgte Edition der Dionysos-Dithyramben genannt. Die in diesen Editionen integrierte Faksimilierung verabschiedet den „Glaube[n] an die prinzipielle Möglichkeit von endgültig gesicherten Texten. Die Verunsicherung über Bedeutung und Eindeutigkeit der edierbaren Texte erscheint dabei durchaus als ein kritisches Potential poetischer Erkenntnis."46 Insbesondere die in den siebziger Jahren in Frankreich entwickelte Forschungsrichtung der , critique gen^tique' hat Fragestellungen zu komplexen Schreibprozessen entwickelt, die ausschließlich durch die Untersuchung der Manuskripte beantwortet werden können.47 Erst eine Ausgabe wie die FKA bietet Textgenetik und Schreibprozeßforschung die erforderliche Forschungsgrundlage.48

3.

Text oder Manuskript? Das Dilemma von Textkonstitution und Schreibprozeß

Das Paradigma historisch-kritischer Ausgaben, beziehungsweise dasjenige von Edition' als Kulturtechnik und Praxis der Konservierung und Bereitstellung von Texten überhaupt, tritt zum Kafkaschen Schreiben in ein Spannungsverhältnis. Erst aus einem Befund der Handschrift kann ein Verstehen resultieren, das seinen Texten gerecht wird. Kafkas Schreibakte sind gekennzeichnet durch ein Strömen und Stocken, durch Umschreibungen und Überschreibungen. Aus seiner Handschrift läßt sich nicht ein , idealer' Text vom Editor konstituieren. Seine Manuskripte sind eindrückliche Dokumente einer „veränderten, .modernen' Auffassung vom System des ,Textes' in der Kultur". 49 Die von Kafka selbst veranstalteten Sammelbände zeugen bereits von dem Bemühen, aus dem Schreibstrom der Manuskripte einzelne, begrenzte Einheiten herauszusegmentieren, und den Schwierigkeiten, dadurch eine neue Textkonstellation zu kom-

45

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48 49

Vgl. dazu Plachta 1997, S. 22ff., sowie den von Gunter Martens und Hans Zeller herausgegebenen Sammelband: Textgenetische Edition 1998. Vgl. zur Problematisierung des Autor-Begriffs u.a. Barthes 1994, Foucault 1994 sowie Jannidis u.a. 1999. Groddeck 1995, S. 61. Siehe zur .critique ginötique' eine der Mitbegründerinnen des Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) in Paris: Grisillon 1994, sowie Contat/Ferrer 1998. Siehe z.B. Gellhaus 1994, Stingelin 2000, Schütterle 2002 oder Giuriato 2003. Neumann 1999, S. 419.

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ponieren. Max Brod schließlich transponiert das Problem auf die Ebene des Autors: Er .erfindet' den Autor Franz Kafka, der kohärente, ästhetisch vollendete Texte geschrieben hat. Die Brods editorisches Vorgehen leitenden Kategorien von .Fassung', definitivem Text' und .Fragment' bestimmen sich vor dem Hintergrund eines klassischen Text- und Werkbegriffes sowie einer emphatischen Konzeption vom Autor, der wo möglich zum Bezugspunkt der der Edition vorausgehenden und zugrunde liegenden Interpretation wird. Unstrittig ist die rezeptionsästhetische Bedeutung der Brodschen Ausgaben. Aus heutiger Perspektive ist sein Verfahren philologisch (im weiten Sinne) höchst fraglich, jedoch berührt dies seine übernommene Aufgabe nur am Rande, ging es ihm doch um die Konstruktion eines .modernen Klassikers'. Ein auf den literarischen Schreibprozeß gerichtetes Erkenntnisinteresse kann von einer solchen Ausgabe nicht befriedigt werden. Zudem ist es zweifelhaft, ob die beschriebenen Kategorien das Kafkasche Schreiben adäquat zu dokumentieren vermögen. Die KKA etabliert ebenfalls lesbare(n) Text(e) und dokumentiert darin die Unmöglichkeit, innerhalb des Paradigmas historisch-kritischer Editionen ,ecriture' als solche wiederzugeben. Der Text bleibt im Text- und Apparatband doch ,Werk' und ,Variante'. Für den Schreibprozeß ist allerdings die Frage nach Textidentitäten, die letztlich ein Rezeptionskriterium darstellen, nebensächlich. Ein gewandeltes Selbstverständnis der Edition ist Ausgangspunkt der FKA, die weniger im klassischen Sinne ,ediert' denn ,dokumentiert': die Handschrift als Photographie. Indem sie dem Leser einen unverstellten und unverfälschten Blick auf das Manuskript gewährt, bleibt sie zum Stillstand gekommene Bewegung, eben ein Bild. Streng genommen kann kein Verfahren der Darstellung diesen Stillstand überwinden oder aufheben, nur im lesenden Nachvollzug der handschriftlichen Spuren, sei es in einem genetischen Apparat, sei es in der Interpretation des Bildes läßt sich der Schreibprozeß re-konstruieren. Die Geschichte der Kafka-Edition ist immer zweierlei: die Geschichte der Edition von ,Texten' bzw. Manuskripten und die Geschichte der Edition eines Autors. Damit spiegelt sie in besonderer Weise das jeweils geltende Verständnis der Kategorien Text und Autor sowie den wissenschaftlichen Diskurs über Schrift und Varianten. Die Geschichte der Verwaltung seiner Texte, wie sie sich nach Kafkas Tod bis heute entwikkelt hat, ist immer auch pragmatisch geprägt von institutionellen und verlegerischen Machtstrukturen, durch unterschiedliche Konstellationen im Zugriff auf Manuskripte oder dessen Verweigerung sowie Konstruktionen des Autors Franz Kafka und Selbstinszenierungen seiner jeweiligen Herausgeber.

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Literaturverzeichnis Editionen Kafka-Ausgaben von Max Brod50 Franz Kafka: Erzählungen und Kleine Prosa. Hrsg. von Max Brod und Heinz Politzer. Frankfurt/Main: S. Fischer 1946. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/Main: S. Fischer 1950fF. (Lizenzausgabe von Schocken Books New York): Der Prozeß. 1950. - Das Schloß. 1951. - Tagebücher 1910-1923. 1951. - Briefe an Milena. Hrsg. von Willy Haas. 1952. - Erzählungen. 1952. - Amerika. 1953. - Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. 1953. - Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. 1954. - Briefe 1902-1924. Unter Mitarbeit von Klaus Wagenbach. 1958. - Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born. 1967. - Briefe an Ottla und die Familie. Hrsg. von Hartmut Binder und Klaus Wagenbach. 1974.

Kafka-Ausgaben anderer Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Paul Raabe. Frankfurt/Main: S. Fischer 1983. Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt/Main: S. Fischer 1986.

Kritische Kafka-Ausgabe (KKA) Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. New York, Frankfurt/Main: S. Fischer 1982ff.: Das Schloß. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1982. - Das Schloß. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1982. - Der Verschollene. Hrsg. von Jost Schillemeit. 1983. - Der Verschollene. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. 1983. - Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1990. - Der Proceß. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1990. Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. 1990. - Tagebücher. Apparatband. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. 1990. - Tagebücher. Kommentar. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. 1990. - Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hrsg. von Jost Schillemeit. 1992. - Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Apparatband. Hrsg. von Jost Schillemeit. 1992. - Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1993 - Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Apparatband. Hrsg. von Malcolm Pasley. 1993. - Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. 1994. - Drucke zu Lebzeiten. Apparatband. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. 1996. - Briefe 19001912 (Bd. 1). Hrsg. von Hans-Gerd Koch. 1999. - Briefe 1913-1914 (Bd. 2). Hrsg. von Hans-Gerd Koch. 2001. - Amtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner. 2004. - Briefe 19151917 (Bd. 3). Hrsg. von Hans-Gerd Koch. 2005.

Frankfurter Kafka Ausgabe (FKA) Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern I 9 9 5 f f : Einleitung. Hrsg. von Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle, Michel Leiner und KD Wolff. 1995. - Drei Briefe an Milena Jesenskä vom Sommer 1920. Faksimile-Edition hrsg. von KD Wolff und Peter Staengle unter Mitarbeit von Roland Reuß. 1995. - Der Process. Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. 1997. - Beschreibung eines Kampfes. Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle und Joachim Unseld. 1999. - Oxforder Quarthefte 1 & 2. Hrsg. von Roland Reuß und Pe-

50

Siehe auch S. 251.

Kafka-Editionen

261

ter Staengle. 2001. - Die Verwandlung. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. 2002. - Oxforder Oktavhefte 1 & 2. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. 2005.

Andere Ausgaben Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag, Abt. 1: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 17561799. Hrsg. von Karl Eibl. 1987; Bd. 2: Gedichte 1800-1832. Hrsg. von Karl Eibl. 1988 (Bibliothek deutscher Klassiker. 18 und 34). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. 8 Bde. Stuttgart: Cotta; Kohlhammer 1943-1985. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von D.E. Sattler. Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1975ff. James Joyce: Ulysses. A Critical and Synoptic Edition [1974], Hrsg. von Hans Walter Gabler mit Wolfhard Steppe und Claus Melchior. 3 Bde. New York, London: Garland 1986. Friedrich Nietzsche: Dionysos-Dithyramben. Hrsg. von Wolfram Groddeck. Berlin, New York: de Gruyter 1991.

Andere Literatur Arnold, Heinz Ludwig: Franz Kafkas Werk auf sicheren Grundlagen. Zum Erscheinen des ersten Bandes der Kritischen Ausgabe. In: Schweizer Monatshefte 63, 1982, S. 49-61. Barthes, Roland: La mort de l'auteur. In: Ders.: (Euvres completes II. Paris 1994, S. 491-495. Beißner, Friedrich: Der Erzähler Franz Kafka. Ein Vortrag. Stuttgart 1959. Bohnenkamp, Anne: Textkritik und Textedition. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 2 1997, S. 179-203. Brod, Max: Franz Kafka. Eine Biographie. In: Ders.: Über Franz Kafka. Frankfurt 1966, S. 11-219. Contat, Michel / Ferrer, Daniel (Hrsg.): Pourquoi la critique genetique? M6thodes, thdories. Paris 1998. Dietz, Ludwig: Die autorisierten Dichtungen Kafkas. Textkritische Anmerkungen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86, 1967, S. 301-317. Dietz, Ludwig: Zwei frühe Handschriften Kafkas. Über die Manuskripte zur Novelle „Beschreibung eines Kampfes". In: Philobiblon 13, 1969, S. 209-218. Dietz, Ludwig: Editionsprobleme bei Kafka. Über einen kritischen Text der „Beschreibung eines Kampfes". In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18, 1974, S. 549-558. Dietz, Ludwig: Die Söhne. Kafkas Plan einer Trilogie - Druckgeschichte als Textkritik und Interpretationshilfe. In: Spuren. Festschrift fllr Theo Schumacher. Hrsg. von Heidrun Colber und Doris Petersen. Stuttgart 1986, S. 413-424. Dietz, Ludwig: Franz Kafka. Stuttgart 2 1990. Dirksen, Jens: Kafka wörtlich. Zur Kritischen Ausgabe der „Schriften, Tagebücher Briefe". In: Text und Kritik. Sonderband Franz Kafka. München 1994, S. 299-316. Foucault, Michel: Qu'est-ce qu'un auteur? In: Ders.: Dits et ecrits. Bd. I (1954-1969). Paris 1994, S. 789821. Gellhaus, Axel, zusammen mit Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jaspemeite und Nikolaus Lohse (Hrsg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994. Giuriato, Davide: Kleine Randszene. Komische Marginalien in Franz Kafkas Beschreibung eines Kampfes. In: Schrift - Text - Edition. Hans Walter Gabler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Christiane Henkes, Walter Hettche, Gabriele Radecke und Elke Senne. Tübingen 2003 (Beihefte zu editio. 19), S. 253-264. Gresillon, Almuth: Elements de critique genetique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994. Groddeck, Wolfram: Hölderlin: Neue (und alte) Lesetexte. Oder vom Eigensinn der Überlieferung. In: Text. Kritische Beiträge 1, 1995, S. 61-76. Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. Kittler, Wolf: Der Turmbau zu Babel und das Schweigen der Sirenen. Über das Reden, das Schweigen, die Stimme und die Schrift in vier Texten von Franz Kafka. Erlangen 1985. Kittler, Wolf / Neumann, Gerhard (Hrsg.): Franz Kafka. Schriftverkehr. Freiburg 1990. Koch, Hans-Gerd: Kafkas Max und Brods Franz: Vexierbild einer Freundschaft. In: Literarische Zusammenarbeit. Hrsg. von Bodo Plachta. Tübingen 2001, S. 245-256. Martens, Gunter: [Rez. der Kritischen Kafka Ausgabe, Bd. 1-4], In. Germanistik 32, 1991, S. 553.

262

Annette Steinich

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Bernd Hamacher

Kleist-Editionen

Für Fritz Hackert zum 70. Geburtstag

1.

Bruchstücke der Überlieferungsgeschichte

Die Überlieferungslage der Texte Heinrich von Kleists ist - gemessen an anderen Autoren - einfach und übersichtlich: Sie besteht aus einer relativ kleinen Anzahl an Texten, von denen vergleichsweise wenige Überlieferungsträger vorliegen, darunter nur vereinzelte Handschriften. Bedenkt man jedoch, daß die Entstehungsgeschichte der Texte nur äußerst lückenhaft, ja in manchen Fällen überhaupt nicht dokumentiert ist, so bietet die Geschichte der Kleist-Edition ein Lehrstück für die Schwierigkeiten, denen sich der Versuch, die Bruchstücke der Überlieferung zu einem Mosaik zusammenzusetzen, zumal dann ausgesetzt sieht, wenn die Dokumentation der Textgenese als eine der wichtigsten, wenn nicht gar als die wichtigste Aufgabe der Editionswissenschaft angesehen wird: „Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr"1 - so muß dann allzu oft das Fazit editorischer Arbeit lauten. Der folgende Abriß beginnt mit der ersten Kleist-Edition von Ludwig Tieck: 1821 zunächst die Ηint erlassenen Schriften, 1826 die Gesammelten Schriften. Die weiteren Ausgaben im 19. Jahrhundert werden übergangen bis zur ersten und bis heute einzigen so genannten historisch-kritischen Ausgabe von Theophil Zolling. Ihr folgt die Darstellung der Ausgabe von Erich Schmidt und ihrer Neubearbeitung durch Georg Minde-Pouet. Der Behandlung der wichtigen Studienausgaben von Helmut Sembdner sowie von Siegfried Streller u.a. schließt sich ein Exkurs zur geplanten, aber nicht realisierten historisch-kritischen Kleist-Ausgabe von Klaus Kanzog und Hans Joachim Kreutzer an. Schließlich werden die beiden aktuellen Ausgaben, die Studienausgabe im Deutschen Klassiker Verlag (DKV) sowie die Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA), dargestellt. Die Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists bis zum Zweiten Weltkrieg ist umfassend und vorbildlich aufgearbeitet von Klaus Kanzog, auf dessen

1

Der zerbrochne Krug, v. 646 (BKA, Bd. 1/3, S. 60).

Bernd Hamacher

264

Darstellung mit Nachdruck verwiesen sei.2 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden lediglich einige Akzente der Bewertung anders gesetzt: So scheint der wissenschaftsgeschichtliche Fortschrittsglaube, der in Kanzogs Untersuchung an manchen Stellen spürbar ist, nach dem Scheitern der historisch-kritischen Ausgabe und in der derzeitigen insgesamt keineswegs zufriedenstellenden Editionssituation nicht mehr gerechtfertigt. Demgegenüber soll jede Ausgabe dezidiert an ihrem historischen Standpunkt verortet werden.

2.

Die Editionen

2.1.

Ludwig Tiecks Ausgaben der Hinterlassenen und der Gesammelten Schriften

Sieht man von einigen kleineren Schriften, vor allem Gedichten, und natürlich den Briefen ab, so waren bei Kleists Tod zwei große Texte noch nicht gedruckt: die beiden Dramen Die Herrmannsschlacht und Prinz Friedrich von Homburg, die beide im Kontext der antinapoleonischen preußischen Freiheitsbewegung entstanden. Zunächst war geplant, daß Friedrich de la Motte Fouque, der ebenfalls mit Vaterländischen Schauspielen hervorgetreten war, die hinterlassenen Dramen herausgeben sollte, doch kam die Ausgabe nicht zustande. Statt dessen wußte sich schließlich Ludwig Tieck die entsprechenden Handschriften zu verschaffen, doch erst zehn Jahre nach Kleists Tod, 1821, erschienen schließlich die Hinterlassenen Schriften,3 Außer jenen beiden Dramen enthielt der Band das bereits 1808 in Kleists Zeitschrift Phöbus gedruckte Dramenfragment Robert Guiskard, gedruckte und ungedruckte Gedichte sowie „Bruchstücke aus einer Korrespondenz mit einer geistreichen Verwandtinn",4 nämlich Marie von Kleist, nach einer Abschrift von Wilhelm von Schütz.5 Ob es sich bei Tiecks Druckvorlagen für Prinz Friedrich von Homburg und Die Herrmannsschlacht um Autographen oder Apographen handelte, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Wenn es jedoch noch in Klaus Kanzogs Editionsgeschichte über Tiecks Ausgabe heißt, man könne „von seiner philologischen Leistung nur mit Nachsicht sprechen",6 und ferner von „zahlreichen Texteingriffe[n] Tiecks" die Rede ist,7 so mag diese Kritik auf die dreibändige Ausgabe der Gesammelten Schriften von 1826 zutreffen8 - gerade im Hinblick auf die Erstausgabe der beiden nachgelassenen Dramen ist sie zweifelsohne zu scharf formuliert. Was Konjekturen und Emendationen anbelangt, war Tieck allem Anschein nach äußerst zurückhaltend. Der Berliner Philosoph Karl Wilhelm Ferdinand 2

3 4 5 6 7 8

Kanzog 1979. - Ansätze einer vergleichenden Bewertung von DKV-Ausgabe und B K A bietet Dirksen 1993. Tieck 1821. Tieck 1821, S. XI. Vgl. die Faksimile-Edition mit Umschrift von Staengle 1989. Kanzog 1979, Bd. I, S. 74. Kanzog 1979, Bd. 1 , S . 103. Tieck 1826.

Kleist-Editionen

265

Solger sollte ursprünglich eine Durchsicht der nachgelassenen Dramentexte vornehmen, doch dazu kam es nicht mehr, Solger starb zuvor. So wird man davon ausgehen können, daß es sich bei den Erstveröffentlichungen durch Tieck um zwar alles andere als fehlerfreie, aber doch für die damalige Zeit erstaunlich weitgehend dokumentarische Texte ohne intentionale editorische Eingriffe handelt, ein Befund, der auch in neuesten Editionen seinen Niederschlag gefunden hat: Nach den Recherchen und Vorarbeiten durch Ilse-Marie Barth9 wurde in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages nicht mehr (wie zuvor lange Zeit üblich) das überlieferte Apograph, das heute sogenannte „Heidelberger Manuskript", sondern Tiecks Erstdruck als Leittext für die Edition des Prinz Friedrich von Homburg gewählt. Durch die Vorrede zu den Hinterlassenen Schriften hat Tieck das Bild des Autors Kleist und seiner Texte folgenreich geprägt. In Zustimmung wie Ablehnung bezog sich die Rezeption immer wieder auf die beiden grundlegenden Kontextualisierungen, die Tieck vornahm, indem er zum einen das Vaterländische' herausstrich und zum anderen den Autor literaturgeschichtlich in der (Spät-)Romantik verortete. Auch in philologischer und editionspraktischer Hinsicht war Tiecks Arbeit für die folgenden Jahrzehnte bestimmend, nun vor allem durch die Gesammelten Schriften von 1826: Durch sein Leitbild eines .idealen' Textes,10 das er bei seinen Emendationen zumindest ansatzweise zu verwirklichen trachtete, nährte er die bis ins 20. Jahrhundert hinein äußerst zählebige Vorstellung, Kleists Texte seien außerordentlich fehlerhaft und erforderten umfangreiche Normalisierungen und andere editorische Eingriffe. 2.2.

Die „historisch kritische Ausgabe": Theophil Zolling

Die Bände von Joseph Kürschners Deutscher National-Litteratur trugen den Untertitel „Historisch kritische Ausgabe". Damit erschien 1885 die erste Kleist-Edition, die mit diesem Anspruch auftrat - und sie sollte zugleich die einzige bleiben, die diese Bezeichnung im Titel trug.11 Durch die Eingliederung in das Monumentalunternehmen wurde Kleist zwar einerseits als Autor von nationaler Bedeutung kanonisiert, doch blieb diese Kanonisierung andererseits gleichsam auf halbem Wege stecken, und zwar aufgrund der Person des Herausgebers. Theophil Zolling war Privatgelehrter und zudem Schweizer, in dem zeittypischen Bemühen um die Pflege eines dezidiert nationa-

9

10

11

Vgl. Barth 1978. Über Tiecks Erstdruck des Prinz Homburg urteilt sie: „Ein Anteil Tiecks an der Konstitution des Textes von 1821 ist nicht nachweisbar" (S. 66). - Entsprechend schreibt sie im Kommentar der DKV-Ausgabe in bezug auf Die Herrmannsschlacht: „So dürfen wir heute davon ausgehen, daß uns in der ersten von Tieck veranstalteten Kleist-Ausgabe noch in hohem Grade unverfälschte Kleist-Texte überliefert sind, die lediglich den vermutlich geringfügigen Eingriffen von Setzern und Korrektoren im Reimerschen Verlagshaus ausgesetzt waren" (DKV, Bd. 2, S. 1061). Nach dem Urteil von Klaus Kanzog ließ sich Tieck bei seiner Edition von ähnlichen Idealvorstellungen leiten wie Goethe bei der Vorbereitung seiner Ausgabe letzter Hand, vgl. Kanzog 1979, Bd. 1,S. 118. Zwar wurde und wird die BKA immer wieder als .historisch-kritische' Ausgabe bezeichnet, vor allem weil der Verlag selber die Ausgabe entsprechend beworben hat. Dennoch findet sich die Bezeichnung in der Titelei der Bände selbst nicht, und daher wird auch hier die BKA nicht als historisch-kritische Ausgabe betrachtet.

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Bernd Hamacher

len Kleistbildes also ein klarer Außenseiter. Infolgedessen wurde auch die Außenseiterstellung Kleists in der deutschen Literaturgeschichte durch Zollings Ausgabe keineswegs überwunden. Was jedoch zum Zeitpunkt des Erscheinens der Ausgabe von der deutschen Kritik als Mangel empfunden wurde, kann von einem heutigen philologischen Standpunkt aus ohne Abstriche als Gewinn verbucht werden. Gerade der Umstand, daß ihm als Schweizer an einer nationalen Instrumentalisierung Kleists nicht gelegen war, kam Zollings editorischer Arbeit zugute. Als Leittexte dienten die von Kleist selbst veranlaßten Drucke, doch wurden die Handschriften zur Überprüfung herangezogen. Darüber hinaus dienten sie als erste Autorität in Fällen, wo, wie beim „Prinzen von Homburg", den Gedichten und Kleinen Schriften, der erste Druck nicht von Kleist selbst besorgt wurde. Wo Kleists Originaldruck vorliegt, ist die Handschrift nur von konsultativem Wert, da wir es in erster Linie mit dem Text zu thun haben, den der Dichter durch sein Imprimatur anerkannt hat. 12

Nach altphilologischer Gepflogenheit wurden Varianten als Fußnoten gedruckt, allerdings nur in Auswahl, so daß die Textgeschichte nur ungenau erschließbar ist. Gleichwohl gebührt Zolling das Verdienst, erstmals überhaupt die handschriftliche - und nicht nur die gedruckte - Überlieferung als Problem erkannt zu haben. Als umfassende Bestandsaufnahme aller bekannten und auch seit den letzten größeren Ausgaben neu entdeckten Texte blieb die Ausgabe lange Zeit unverzichtbar und wurde in einigen Aspekten auch durch das Konkurrenz- und Nachfolgeunternehmen der Schmidtschen Ausgabe nicht überholt. So kam es innerhalb von Zollings Edition zur - diplomatisch getreuen - Erstveröffentlichung von Kleists Handschrift der Familie Ghonorez, und ebenfalls erstmals in der Geschichte der Kleist-Edition wurden einer Ausgabe Handschriften-Faksimiles beigegeben, und zwar vom Entwurf Die Familie Thierrez sowie aus der GAorcorez-Handschrift.13 2.3.

Die Ausgabe von Erich Schmidt

2.3.1. Die erste Auflage (1904-1906)

Erich Schmidt plante zunächst eine eigene historisch-kritische Kleist-Ausgabe, bei der ihm jedoch Zolling zuvorkam. Nicht nur aufgrund dieser ursprünglichen KonkurrenzSituation, sondern auch in mehreren anderen Aspekten stand das zwei Jahrzehnte nach Zollings Ausgabe erscheinende Unternehmen unter umgekehrten Vorzeichen. Was Theophil Zolling als Herausgeber nicht leisten konnte, leistete Schmidt: die Kanonisierung Kleists als Autor von nationaler Bedeutung in der wilhelminischen Ära. Für diesen im engeren Sinne politischen Aspekt der Kleist-Rezeption stand insbesondere auch der Mitherausgeber Reinhold Steig, der unbeschadet seiner Verdienste um Kleists Biographie und um die Zuschreibung der sogenannten „Kleinen Schriften" ein dezi12 13

Zolling, Bd. 1,S. CV. Zolling, Bd. 1, zwischen S. 62 und 63.

Kleist-Editionen

267

diert nationales Kleistbild propagierte, 14 das in späteren Jahren von vielen Verzeichnungen beireit werden mußte. Unabhängig davon ist die Bedeutung von Erich Schmidts Herausgeberschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen. Daß der Repräsentant der Germanistik schlechthin sich nach der Arbeit an der Weimarer Ausgabe der Werke Goethes auf dem Zenit seines wissenschaftlichen wie auch nationalen Renommees dem bisherigen literaturgeschichtlichen Außenseiter Kleist zuwandte, bildete einen Markstein in dessen Rezeptionsgeschichte, wie auch immer man die Folgen für das sowohl wissenschaftliche als auch populäre Kleist-Bild beurteilen mag. Klaus Kanzog spricht in diesem Zusammenhang von Schmidts Kleist-Ausgabe als Teil eines wissenschaftstheoretischen und bildungspolitischen Projekts der „Eingliederung der Germanistik in die nationale Repräsentation der Wissenschaft". 15 Klassizität und nationale Bedeutung sollten, wie schon im Falle Goethes, nun auch bei Kleist in Einklang gebracht werden, wobei freilich nicht übersehen werden darf, daß gerade Erich Schmidt „die Andersartigkeit, ja sogar Modernität der Werke des nachklassischen Kleist im Vergleich mit Goethe" in ihrem nicht am Goetheschen Modell zu messenden Eigenwert nachdrücklich herausarbeitete. 16 Philologisch wurde der mit der Orientierung am Vorbild der Weimarer Ausgabe Goethes verbundene Anspruch nicht eingelöst. Die daran „gewonnene Grundanschauung vom Idealtypus der , Werke letzter Hand'" 1 7 versuchte Schmidt auf die Autorisation der einzelnen Buchausgaben zu beziehen. Im Unterschied zu Zolling druckte er daher beispielsweise Die Familie Ghonorez nicht vollständig ab, sondern verzeichnete lediglich die Varianten zu Die Familie Schroffenstein im Apparat. Am schwersten wogen indes die Kompromisse, die Schmidt aufgrund der Wahl des Verlages einzugehen gezwungen war, Kompromisse, die laut Kanzog ein „Risiko für die Wissenschaftlichkeit der Ausgabe" bedeuteten, 18 die aber natürlich auch heute noch gang und gäbe sind, denke man nur an die Editionen des Deutschen Klassiker Verlages. Die KleistEdition wurde nicht, wie eine Zeitlang projektiert, ein Akademienunternehmen, sondern unterlag beim Bibliographischen Institut den Zwängen der Popularisierung. Die Bände 1 bis 3 der Ausgabe wurden von Erich Schmidt herausgegeben und umfaßten die Dramen und Erzählungen. In Band 4 edierte Schmidt die „kleineren Gedichte", Reinhold Steig die „kleineren Schriften". Steig konnte die Überlieferungslage in diesem Bereich wesentlich klären und gelangte aufgrund seiner Untersuchungen insbesondere bei der Autorzuschreibung einzelner Zeitungs- und Zeitschriftentexte zu gesicherteren Ergebnissen, als dies Zolling möglich war. Ferner wurden die Texte nun

14 15 16 17 18

Vgl. Steig 1901. Kanzog 1979, Bd. 1,S. 280. Höppner 2003, S. 28. Kanzog 1979, Bd. 1, S. 300. Kanzog 1979, Bd. 1, S. 288.

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nicht nach Sachgruppen - wie bei Zolling und danach wieder in allen Ausgaben mit Ausnahme der Brandenburger - , sondern nach ihrem Publikationsort angeordnet.19 Im Anhang der einzelnen Bände finden sich jeweils Anmerkungen, überwiegend Sacherläuterungen. Die Varianten zu den Bänden 1 bis 4 erschienen gesammelt in Band 4, behaftet mit allen Nachteilen eines lemmatisierten Einzelstellenapparates. Auch hier wird - wie schon bei Zolling - lediglich eine Auswahl an Varianten geboten. Gleichwohl ist die Darstellung sehr unübersichtlich. In der Vorbemerkung äußert sich Schmidt knapp zu seinen editorischen Grundsätzen. Ein zentraler Satz wird gerade in jüngerer Zeit wieder affirmativ zitiert, und zwar vorwiegend als Einwand gegen Diplomatik als Editionsprinzip - in Rezensionen der Brandenburger Kleist-Ausgabe, aber auch darüber hinaus:20 „wir buchen selbstverständlich nur eigene Varianten Kleists und erwägenswerte Besserungsvorschläge, können aber auch im bloßen Herunterdrucken einer einzelnen Handschrift oder Ausgabe kein kritisches Verfahren sehen."21 Die später viel beschworene - und als Haupteinwand gegen Schmidt geltend gemachte - Eigentümlichkeit von Kleists Interpunktion wird von ihm durchaus gewürdigt, mit der Folge freilich, daß er sie erst konsequent herstellen zu sollen glaubt: „Kleists Interpunktion wird treu bewahrt und da stillschweigend eingesetzt, wo ein ihm eigentümliches Komma vorher oder nachher das entsprechende fordert, oder wo zwei Überlieferungen einander ergänzen."22 Weitere Normierungen folgen der Maßgabe des Verlages, nämlich in den ,,Fälle[n], in denen wir dem orthographischen Gesetz dieser Klassikerausgaben doch über die sonst ängstlich verfochtene Wahrung von Laut und Form hinaus nachgeben mußten." 23 Das größte Verdienst der Ausgabe für die künftige Kleist-Forschung lag in Band 5, der Edition von Kleists Briefen, bearbeitet von Georg Minde-Pouet, der aufgrund umfangreicher biographischer Forschung weit über Zolling hinauskam und insbesondere zahlreiche zuvor nicht bekannte Briefautographen entdeckte und edieren konnte. Aufgrund des geltend gemachten dokumentarischen Charakters der Briefe konnte sich Minde-Pouet der Normierung erfolgreich widersetzen und versprach „einen diplomatisch getreuen Abdruck der Handschriften" 24 - ein Versprechen freilich, das er sogleich nicht unerheblich relativierte: „Nur offenbare Schreibfehler wurden stillschweigend verbessert und einige uns allzu fremde Abkürzungen durch das Geläufige ersetzt. Korrekturen Kleists und von ihm selbst getilgte Stellen sind nur in wesentlichen Fällen vermerkt und in die Anmerkungen aufgenommen worden." 25 Anmerkungen zu jedem Brief wurden im Anhang gegeben, Sacherläuterungen hingegen in Fußnoten. 19

20 21 22 23 24

25

Oliver Jahraus betont die Modernität von Steigs Vorgehen, das er „mit Einschränkungen diskursanalytisch" nennt. „Er untersucht die Beiträge nicht nur im Kontext der Zeit, sondern versteht sie auch als Äußerungsformen eines bestimmten ideologisch ausgerichteten Diskurses" (Jahraus 1999, S. 115). Vgl. noch zuletzt Michelsen 1998. Schmidt, Bd. 4, S. 282. Schmidt, Bd. 4, S. 282. Schmidt, Bd. 4, S. 282. Schmidt, Bd. 5, S. 12. - Nach Klaus Kanzog strebte Minde-Pouet eine dokumentarische Darbietung aller Texte, Schmidt hingegen von vornherein nur der Briefe an; vgl. Kanzog 1979, Bd. 1, S. 304f. Schmidt, Bd. 5, S. 12.

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2.3.2. Die zweite Auflage durch Georg Minde-Pouet (1936-1938)

Erst in den 1930er Jahren kam es zu einer Neubearbeitung der Ausgabe von Erich Schmidt durch seinen ehemaligen Schüler Georg Minde-Pouet, inzwischen seit etlichen Jahren Präsident der Kleist-Gesellschaft und maßgeblicher Propagator eines nationalistischen und schließlich nationalsozialistischen Kleist-Bildes. Daß dieser Bereich seiner Wirksamkeit nur an einzelnen - allerdings signifikanten - Stellen auf die editorische Arbeit durchschlug,26 dürfte unter anderem einem Umstand zugute zu halten sein, der eigentlich einen großen Verlust für die Forschung bedeutete: dem Umstand nämlich, daß der Kommentarband zur Ausgabe nicht mehr erschienen ist.27 Die Ausgabe wurde jetzt mit den auf zwei Bänden verteilten Briefen eröffnet. 28 Abkürzungen wurden im Unterschied zur ersten Auflage in der originalen Form belassen, so daß Kleists Briefe nun bis zu den Neueditionen in der DKV-Ausgabe und in der BKA für rund sechzig Jahre ihre maßgebliche Textgestalt gefunden hatten. MindePouet konnte nämlich noch auf Autographen aus der Berliner Staatsbibliothek zugreifen, die im Zweiten Weltkrieg ausgelagert wurden, als verschollen galten und erst seit 1981 in der Biblioteka Jagiellonska, Krakow, wieder zugänglich sind. Allerdings erschienen die Briefe nun ohne Anmerkungen und Varianten, die für die gesamte Ausgabe dem nicht mehr erschienenen achten Band zugedacht waren. Die Bände 3 bis 5 brachten die Dramen, Band 6 die Erzählungen, wobei MindePouet hier in die von Schmidt edierten Texte nur geringfügig eingriff, auch die Normalisierungen nicht rückgängig machte. Band 7 wurde gegenüber der ersten Auflage vollständig neu ediert. Für die Gedichte zeichnete Minde-Pouet verantwortlich, die Edition der „Kleinen Schriften" wurde Helmut Sembdner übertragen, der an einer Dissertation über Kleists Berliner Abendblätter arbeitete29 und dessen Ausgabe gegenüber derjenigen von Steig wiederum einen Fortschritt insbesondere bei der Autorzuschreibung brachte. Viele Texte wurden neu aufgenommen, manches ausgeschieden. Die Zeichensetzung der Vorlagen wurde beibehalten, die Rechtschreibung, auch der Eigennamen, hingegen normiert. 2.4.

Helmut Sembdners Studienausgabe

Die erste wichtige neue Kleist-Ausgabe nach dem Zweiten Weltkrieg erschien 1952 und wurde von Helmut Sembdner herausgegeben, wodurch die Kontinuität zu Minde26

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29

So sind „alle Verweise Schmidts auf die Forschungsleistung Otto Brahms von Minde-Pouet höchstwahrscheinlich aufgrund der jüdischen Herkunft Brahms getilgt worden, nachdem er ihn in seiner Dissertation noch lobend erwähnt hatte" (Höppner 2003, S. 36). Die Dokumentation des Nachlasses von Minde-Pouet in der Amerika-Gedenkbibliothek Berlin (seit 1996 als Dauerleihgabe in der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte [Kleist-Museum] Frankfurt/Oder) zeigt, daß der Kommentar bis zu seinem Tod 1950 noch nicht annähernd zur Publikationsreife gediehen war; vgl. Kleist-Material 1997. Vgl. Höppner 2003, S. 35f.: „Gemäß der in der 1. Auflage reklamierten einzigartigen Bedeutung nehmen sie also eine noch exponiertere Stellung ein, womit sich letztlich auch der Herausgeber eine hervorgehobene Position zuschrieb." Vgl. Sembdner 1939.

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Pouets Edition gewahrt blieb. Entsprechend fundiert und umfangreich ist insbesondere der Kommentar zu den „Kleinen Schriften", so daß zumindest in diesem Bereich die Lücke geschlossen werden konnte, die durch das Nichterscheinen des Kommentarbandes von Minde-Pouets Ausgabe entstanden war. Freilich genügte erst die zweite Auflage von 1961 wissenschaftlichen Standards. Die erste Auflage hatte, wie Sembdner in der Nachbemerkung zu späteren Auflagen schrieb, „nicht den Ehrgeiz einer kritischen Ausgabe und verzichtete notgedrungen vorerst auf einen wissenschaftlichen Kommentar sowie auf Abdruck von Varianten [...]. Hinsichtlich der Textgestaltung mußte sie mancherlei Kompromisse eingehen." 30 Diese „Kompromisse" erstreckten sich sogar auf die lexikalische Modernisierung. Die Neuauflage biete dagegen „zum erstenmal seit Erich Schmidts grundlegender Edition von 1905 einen anhand der Erstdrucke und Handschriften völlig revidierten Text von bisher nicht erreichter Vollständigkeit."31 Insbesondere beanspruchte Sembdner, Erich Schmidts „Verfälschung" von Kleists Interpunktion „durch eine genaue Vergleichung mit den Ersttexten" beseitigt zu haben. Ansonsten jedoch wurde normalisiert: „Die Rechtschreibung wurde auch in den Briefen, unter Beibehaltung des Lautstandes, modernisiert." 32 In dieser Hinsicht fiel Sembdner mithin trotz einiger neu entdeckter Briefe hinter Minde-Pouets Edition zurück. Eine vollständige Dokumentation der Varianten war nicht beabsichtigt. Hingegen wurden einzelne, vom edierten Text besonders abweichende Partien aus anderen Überlieferungsträgern im Anhang abgedruckt, so unter anderem auch der vollständige Text von Kleists Handschrift der Familie Ghonorez. Insgesamt darf Sembdners Edition nicht mit falschen Maßstäben gemessen werden: Sie war von vornherein als Studienausgabe intendiert - nach Hans Joachim Kreutzers Terminologie eine „normierende Editio minor mit Variantenauswahl" 33 - und ist daher mit den unvermeidlichen Mängeln und Kompromissen einer solchen belastet. Der textkritische und philologische Gewinn der Ausgabe war vor allem durch Sembdners eigene Forschungen, 34 deren Ergebnisse immer wieder in die revidierten Auflagen der Edition einflossen, gleichwohl enorm. Außerdem legte er in den Anmerkungen zumindest in den wichtigsten Fällen Rechenschaft ab, wenn er von Schmidts Textkonstitution abwich. Zwei Einwände können jedoch gegen Sembdners editorisches Verfahren erhoben werden: Zum einen verzichtete er nicht in allen Fällen auf Kontamination von Überlieferungsträgern und damit auf die Herstellung eines Mischtextes (so etwa bei Prinz Friedrich von Homburg und beim Erdbeben in Chili), zum anderen verfuhr er vergleichsweise großzügig mit Emendationen und Konjekturen, insbesondere in grammatischen und stilistischen Fragen, und zwar auch dann, wenn nicht zwingend von einer Textverderbnis

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Sembdner, Bd. 2, S. 1038. Sembdner, Bd. 2, S. 1038. Sembdner, Bd. 2, S. 1039. Kreutzer 1976, S. III. Vgl. Sembdner 1984.

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ausgegangen werden kann.35 Auch in diesen Fragen jedoch ist die Edition ein Kind ihrer Zeit, und man spürt, wie die überkommene Vorstellung, die von Kleist überlieferten Texte seien fehlerhaft und korrekturbedürftig, in die Textkonstitution durchschlug. Bis zum Erscheinen der DKV-Ausgabe und der BKA seit den späten 1980er Jahren war Sembdners Edition die maßgebliche Referenzausgabe für die Forschung. Nach wie vor ist sie die erfolgreichste und am weitesten verbreitete Kleist-Ausgabe und dient häufig noch immer als Zitiergrundlage.36 2.5.

Die DDR-Edition im Aufbau-Verlag

In den 1970er Jahren war Kleist auch in der damaligen DDR im Zuge der Aneignung des Erbes der klassischen deutschen Literatur so weit kanonisiert, daß eine Klassikerausgabe seiner sämtlichen Werke und Briefe erscheinen konnte, die als Studienausgabe das ostdeutsche Pendant zu Sembdners Edition bildete und in den achtziger Jahren schließlich auch auf dem bundesrepublikanischen Taschenbuchmarkt nicht ohne Erfolg mit ihr in Konkurrenz trat - Sembdners Edition als Lizenzausgabe bei dtv, Strellers Ausgabe im Insel Verlag. Die Herausgeber konstituierten einen eigenen Text (der sich im Ergebnis kaum von Sembdners unterschied), wobei sie jeweils als .wichtigste Abweichungen' von der Textgrundlage deklarierte Eingriffe in den Anmerkungen verzeichneten, ansonsten jedoch keine textkritische Rechenschaft ablegten. Normalisierungen des Textes wurden von ihrem editorischen Standpunkt aus als Kommunikations- und Verständnishilfe erachtet. Diesem Zweck dienten auch die im Vergleich zu Sembdner weit ausfuhrlicheren Anmerkungen mit breiter Dokumentation der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Umfangreicher als bei Sembdner war ferner die Präsentation varianter Textfassungen angelegt. So bietet die Ausgabe beispielsweise den vollständigen Abdruck des Penthesilea-Apographs und der />Aö6tts-Fassung des Michael Kohlhaas. 2.6.

„Nichts seht ihr, mit Verlaub": Die geplante historisch-kritische Ausgabe

Bis auf den heutigen Tag laboriert die Kleist-Forschung am Phantomschmerz der von den sechziger bis zu den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geplanten historisch-kritischen Ausgabe. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß in einem Beitrag zur Geschichte der Kleist-Edition auch eine Ausgabe erwähnt werden muß, von der kein einziger Band erschienen ist. An Klaus Kanzogs Prolegomena läßt sich der wissenschaftsgeschichtliche Ort des Unternehmens ablesen. Zwei editionswissenschaftliche Markierungspunkte werden implizit immer wieder deutlich. Dabei handelt es sich zum einen um die in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1943-1985) von Friedrich Beißner und in der C.F. Meyer35

36

Einige prägnante Beispiele für Prinz Friedrich von Homburg S. 11 f. Vgl. dazu den Schlußabschnitt des vorliegenden Beitrags.

sind herausgegriffen bei Hamacher 1999,

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Ausgabe (1958-1996) von Hans Zeller entwickelten unterschiedlichen Formen textgenetischer Darstellung. Die „genetische Erfassung der Textgeschichte" ist für Kanzog ein entscheidendes Kriterium einer modernen historisch-kritischen Ausgabe. 3 7 Den zweiten Orientierungspunkt bilden die anläßlich der Arbeit an der Akademie-Ausgabe der Werke Goethes (1952-1967; abgebrochen) entwickelten editorischen Grundsätze von Siegfried Scheibe, wie an Kanzogs Forderung nach einem weiteren „Abbau der Interpretation" in der Kleist-Edition ersichtlich ist. 38 Aus dem Versuch einer Umsetzung dieser unterschiedlichen Maßgaben auf die spezifischen Gegebenheiten einer Kleist-Edition resultierte dann auch ein Teil der Schwierigkeiten des Unternehmens. Einerseits sollte der „Arbeitsprozeß als solcher" sichtbar werden, andererseits aber lassen sich viele „Brüche in der Textgeschichte" nicht überbrücken und widersetzen sich daher einer genetischen Darstellung. 39 Darüber hinaus stand auch für Kanzog noch das Ideal einer ,Ausgabe letzter Hand' im Hintergrund: Zwar sollte ein Verfahren entwickelt werden, „das synoptische Elemente mit Paralleldruck-Konstruktionen verbindet und eine übersichtliche Darbietung der Varianten ermöglicht", 4 0 andererseits jedoch betont er: „Das Material gehört eindeutig zur Vorgeschichte der .endgültigen' Texte und kann keine Selbständigkeit beanspruchen." 41 Dies soll ausdrücklich in gleicher Weise für vorangehende ZeitschriftenAbdrucke gelten. Auch Kanzog selbst sah natürlich die Schwierigkeiten, die der für eine historischkritische Ausgabe von ihm geforderten „genetischefn] Erfassung der Textgeschichte" 42 im Falle Kleists entgegenstehen, und erwog deshalb eine Kombination von sogenannter ,Archiv-Ausgabe' und historisch-kritischer Ausgabe. 4 3 Vor allem durch diese Einführung des Begriffs einer der historisch-kritischen Edition vorgeschalteten ArchivAusgabe, durch die die gesamte Textüberlieferung dokumentiert werden sollte, um sämtliche Quellen für die weitere Forschung bereitzustellen, befruchtete Kanzog die editionswissenschaftliche Diskussion über den Bereich der Kleist-Edition hinaus. 44 Vier Ergänzungsbände waren für die Kleist-Ausgabe vorgesehen: ein Band mit Lebenszeugnissen, um Helmut Sembdners Band der Lebensspuren45 zu ersetzen dieses Erbe hat inzwischen die BKA angetreten 46 - , ein Band mit Faksimiles, ein Wör-

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Kanzog 1970, S. 25. Kanzog 1970, S. 14. Kanzog 1970, S. 86. Kanzog 1970, S. 177. Kanzog 1970, S. 121. Kanzog 1970, S. 25. Vgl. Kanzog 1970, S. 41. Zunächst trafen Begriff und Konzept der ,Archiv-Ausgabe' vor allem auf Widerspruch, dem Kanzog entgegenhielt, es könne hier „nur um einen gegenüber anderen editorischen und kommentierenden Verfahren möglichst großen Zeitraum gehen, in dem der Zwang zur ständigen Grundlagenforschung durch die Bereitstellung des gesichteten und geordneten Materials aufgehoben ist" (Kanzog 1976, S. 118). Vgl. Heinrich von Kleists Lebensspuren 1996. Vgl. Reuß/Staengle 2000 und 2001, deren .Archiv' jedoch nicht chronologisch, sondern alphabetisch geordnet ist.

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terbuch 47 und eine Bibliographie, die weiterhin ein Desiderat der Kleist-Forschung bleibt. 48 Einige Probleme des Kanzogschen Projektes wurden einige Jahre später in einer separaten Publikation des vorgesehenen Mitherausgebers Hans Joachim Kreutzer verhandelt, der in durchaus zentralen Punkten abweichende Auffassungen vertrat. So sah er nicht wie Kanzog die Arbeitsweise Kleists als ausschlaggebend für das editorische Verfahren an 4 9 Da das doppelte Ideal von Autorisation und vollständig belegter Werkgenese bei Kleist nicht gegeben sei, 50 schlug er eine andere Lösung des zentralen Problems der genetischen Darstellung lückenhaft belegter Entstehungsprozesse vor, indem er sich gegen eine Verabsolutierung des ,Kontaminationsverbots' wandte. 51 Den Angelpunkt in Kreutzers Argumentation bildet dabei die unzureichende Autorisation der Überlieferungsträger, aus der er zwei entscheidende Folgerungen zog: In der Frage der Interpunktion dürften nicht alle Überlieferungsträger wie Autographen behandelt werden, was einer Rehabilitierung Erich Schmidts gegen Helmut Sembdner gleichkam. Zum anderen näherte sich Kreutzer, indem er die Herstellung synthetischer Texte nicht von vornherein ablehnte, der angelsächsischen Copy-text-Theorie. 52 Obwohl Kreutzer damit ganz wesentlich nicht nur von den Überzeugungen Kanzogs, sondern auch vom ,Mainstream' der zeitgenössischen germanistischen Editionswissenschaft abwich, wiegelte er im Hinblick auf die konkreten editorischen Folgerungen ab, indem er geltend machte, daß „für den Wortlaut der seit langem als kanonisch angesehenen jeweils letzten Fassungen der Werke keine nennenswerten Änderungen zu erwarten sind." 53 Einzelne Vorarbeiten zur historisch-kritischen Ausgabe sind teils in Einzelpublikationen dokumentiert, teils in andere Ausgaben eingeflossen. Die Arbeit von Ilse-Marie Barth zur Überlieferung des Prinz Friedrich von Homburg ging in die Textgestaltung der DKV-Edition ein. Seine Vorstellungen zur Kommentaranlage der historischkritischen Ausgabe legte Klaus Kanzog ebenfalls anhand des Prinz Homburg dar, wobei er freilich keinen eigenen Text edierte, sondern Sembdners Text nachdruckte. 55 1994 schließlich erschien - als bei Kanzog angefertigte Dissertation - eine ,Mo-

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Die Erfahrungen mit dem Unternehmen Goethe-Wörterbuch zeigen, daß ein Autorenwörterbuch keinesfalls kurzfristig als Ergänzung einer Edition zu erstellen ist. Eine aktuelle Kleist-Bibliographie wird jedoch seit 1996 periodisch fortgeschrieben in den Heilbronner Kleist-Blättern und soll auch kumuliert werden. Vgl. Kreutzer 1976, S. 14. Vgl. Kreutzer 1976, S. 16. Vgl. Kreutzer 1976, S. 23. Vgl. Kreutzer 1976, S. 8 8 - 9 4 . Kreutzer 1976, S. 30. Vgl. Barth 1978. Den von Barth für die Textkonstitution gezogenen Folgerungen hat im übrigen Klaus Kanzog widersprochen, für den nach wie vor das Apograph, und nicht der Erstdruck, der maßgebliche Überlieferungsträger bleibt; vgl. die Auseinandersetzung mit Barths Arbeit in Kanzog 1979, Bd. 2, S. 2 6 0 - 2 6 5 . Vgl. Kanzog 1977.

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dellausgabe' von Die Familie Ghonorez / Die Familie Schroffenstein.x In seinem „Geleitwort" will Kanzog aus der Not des Scheiterns der historisch-kritischen Ausgabe eine Tugend machen und proklamiert geradezu einen Paradigmenwechsel der Editionsphilologie: „Das Denken in editorischen Mustern nationaler Dichterrepräsentation wurde zugunsten der intensiven Arbeit an Modellausgaben überwunden."57 Dabei wurde nach den Worten der Bearbeiterin Christine Edel das Prinzip der Vollständigkeit im Sinne von Kanzogs Konzeption einer Archiv-Ausgabe angestrebt.58 In Paralleldruck wird einerseits ein aus der Transkription der Handschrift entwickelter Leittext der Familie Ghonorez, andererseits der Erstdruck der Familie Schroffenstein wiedergegeben. Daran schließt sich die Handschriftentranskription an, zwar ohne vollständiges Faksimile, aber mit vergrößerter Wiedergabe von problematischen Stellen. Eine ebenfalls dem Konzept ,Archiv-Ausgabe' zuzurechnende Besonderheit der Edition stellt der editorische Zeilenkommentar zur Konjekturalkritik dar, der Aussagen bisheriger Kommentatoren und Herausgeber zu einzelnen Textstellen auflistet, ohne damit eine eigene Bewertung zu verbinden. Diese Anlage der Modelledition als .ArchivAusgabe' hat denn auch Kritik auf sich gezogen: Die Visualisierung des Materials biete, so Klaus Hurlebusch, noch keine Erschließung der Textgenese.59 2.7.

Die Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag

Die zwischen 1987 und 1997 erschienene vierbändige Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag ist bis zum Abschluß der BKA die derzeit vollständigste und bietet auch aufs Ganze gesehen - in mancher Hinsicht den besten, freilich abermals häufig einen hybriden Text, behaftet mit allen, durch die DKV-Regeln vorgegebenen und oft genug kritisierten Kompromissen, nicht unvergleichbar denen, die schon Erich Schmidt schließen mußte (wenngleich die Regeln, denen er sich zu beugen hatte, noch weit strikter waren). So wurden gedruckte Überlieferungsträger orthographisch modernisiert, Autographe dagegen unverändert belassen, was insbesondere der Briefedition zugute kam. Grammatische Eigenheiten - möglicherweise mundartlich bedingt - wurden, anders als bei Sembdner, ebensowenig normalisiert wie beispielsweise die eigenwillige und uneinheitliche Apostroph-Setzung. Variante Überlieferungsträger werden teils vollständig abgedruckt, teils in Auswahl. Die Ä>wg-Handschrift beispielsweise ist nicht vollständig gedruckt, hingegen die Grundschicht des Penthesilea-Apographen, jedoch in modernisierter Orthographie. Im dritten Band der Ausgabe werden mehrere Erzählungen in Paralleldruck, jedoch als fortlaufende Lesetexte geboten. Der Abdruck folgt jeweils der Buchversion. Die

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Als weiteres Einzelprojekt im Kontext der historisch-kritischen Ausgabe war Amphitryon geplant, doch wurde die Arbeit bislang nicht fertiggestellt. Eine französisch-deutsche Synopse des Moliere- und KleistTextes liegt druckfertig vor (freundliche Mitteilung von Klaus Kanzog, München, 18. September 2002). F G / F S . S . VII. Vgl. FG/FS, S. XI. Vgl. Hurlebusch 1995, S. 194.

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kleineren Schriften werden, wie in fast allen Ausgaben, zu thematischen Gruppen zusammengefaßt. Der editionsphilologisch wertvollste Band der Ausgabe ist der abschließende vierte mit den Briefen von und an Kleist, die erste Briefausgabe Kleists nach dem Wiederauffinden der im Zweiten Weltkrieg verloren geglaubten Bestände in Krakau. Die Beschreibung der Überlieferungsträger ist freilich auf ein Minimum beschränkt - aufgrund fehlender finanzieller Mittel war eine Autopsie nur in bestimmten Fällen möglich. Der Band bietet einen konstituierten authentischen Lesetext ohne Normalisierungen mit kritischem Apparat und Einzelkommentar zu jedem Brief, wobei Variantenapparat und Stellenkommentar anders als bei den anderen Bänden der Ausgabe getrennt sind. Jene Vermischung war viel kritisiert worden. Ein Spezifikum der Ausgabe ist - wie bei der gesamten Reihe des Deutschen Klassiker Verlages - der breit angelegte Kommentar, wobei insbesondere Hinrich C. Seeba in den beiden Dramenbänden zu ambitionierten Gesamtinterpretationen ausholt, in deren Rahmen er ein hermeneutisches Grundmodell mit vier einander ergänzenden Lesarten - geschichtsphilosophischer, epistemologischer, sprachphilosophischer und poetologischer Art - auf jedes Drama anwendet und damit etwa gleichzeitig mit dem Anschwellen der diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Kleist-Forschung noch einmal ein in sich konsistentes und geschlossenes Gesamtbild zu geben versucht. Die Summe, die er zieht, ist zwar eindrucksvoll, muß aber notwendigerweise eine Momentaufnahme bleiben und zieht daher die in solchen Fällen von der Kritik stets beschworene Gefahr des Veraltens in weit stärkerem Maße auf sich als die sachbezogeneren Kommentare von Klaus Müller-Salget in den Bänden zu den Erzählungen und Briefen. 2.8.

Die Berliner bzw. Brandenburger Kleist-Ausgabe

Das Erscheinen der Berliner (seit 1992: Brandenburger) Kleist-Ausgabe seit 1988 wurde von enormem publizistischen Echo begleitet, das auf den Umstand des endgültigen Scheiterns der viele Jahre geplanten und geförderten historisch-kritischen Ausgabe zurückzuführen war.60 Während in den Feuilletons die (teilweise enthusiastische) Zustimmung überwog, wurden die ersten Bände in den Fachrezensionen mit vernichtender Kritik überzogen, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden kann. 61 Moniert wurde unter anderem, daß einerseits eine grundsätzliche Enthaltsamkeit gegen60

61

Am breitesten dokumentiert ist das Presseecho mit zahlreichen Zeitungsartikeln und Fachrezensionen auf der Internetseite des Heidelberger Instituts für Textkritik e.V., das die BKA herausgibt: (gesehen 4.5.2004). Die einläßlichste und detaillierteste Auseinandersetzung bietet Zeller 1992. Trotz teilweise harscher Kritik ist er stets um Faimeß und ein ausgewogenes Urteil und damit um Vermeidung von Polemik bemüht. Einwenden ließe sich allenfalls, daß die von ihm reklamierten „Standards der Editionsphilologie", an denen er die B K A mißt, als allzu absolut gesetzt erscheinen könnten. Seine Argumentation könnte vergessen machen, daß auch diese „Standards" keine zeitenthobenen Maßstabe sind, sondern einem bestimmten wissenschaftshistorischen Stand der Fachdiskussion entsprechen und in der editorischen Theorie und Praxis stets neu auszuhandeln sind.

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Uber editorischen Eingriffen propagiert wurde - begründet mit der These vom Vorrang des Graphs gegenüber dem Phonem bei literarischen Texten 62 - , andererseits doch Emendationen vorgenommen wurden, die in dem als Fußnoten gedruckten Apparat zuweilen unter zahlreichen belanglosen Varianten kaum aufzufinden sind und auch nicht begründet werden, da die Kommentarbände erst für den Abschluß der Ausgabe vorgesehen sind. Geboten werden einstweilen nur knappe Nachbemerkungen sowie begleitende Materialien und Interpretationen in den Berliner bzw. Brandenburger Kleist-Blättern, denen sich die äußerst kontrovers rezipierten metaphysischen editorischen Grundüberzeugungen der Herausgeber entnehmen lassen. Diese werden in Rezensionen immer wieder dem dekonstruktivistischen Lager zugerechnet, was nur sehr bedingt richtig ist. 63 Die in Heidelberg unter dem Einfluß von Gerhard Buhr entwikkelten neuen mikrologischen, textimmanenten Lektüren gehen unter Isolierung einzelner Stellen von der Wortbedeutung aus, wobei jedoch die Einzelbefunde sogleich einer Generalthese zu- und in ein Gesamtbild eingeordnet werden, das meist als Symbolstruktur der poetischen Selbstreferentialität der Texte verstanden wird. So entsteht ein eigentümliches und charakteristisches Ineinander von wörtlicher und allegorischer Lektüre. 64 Als erster Band der Ausgabe (Bd. II/4) erschien 1988 Die Verlobung in St. Domingo, wobei erstmals in der Geschichte der Kleist-Edition auf eine Vereinheitlichung des Namens des Protagonisten (Gustav/August) verzichtet wurde. Dies führte immerhin ein Jahrzehnt später dazu, daß Klaus Müller-Salget zwar die Begründung von Roland Reuß weiterhin anzweifelte und eigene Hypothesen über den Namenswechsel aufstellte, hingegen erklärte, bei einer Neuauflage von Band 3 der DKV-Ausgabe seinerseits die Lesung ,August' restituieren zu wollen. 65 Daß ein hyperdokumentarisches Interesse schließlich zur metaphysischen Aufladung der Materialität der Texte fuhrt, läßt sich nicht zuletzt am Druckbild ablesen („Der Seitenaufbau hält sich in Zeichen- und Zeilenzahl in etwa [!] an den des Druckes aus dem zweiten Band der ,Erzählungen' f...]." 66 ), das nach Ansicht der Herausgeber die Lektüre entscheidend beeinflussen soll, sowie an der Polemik gegen die Herstellung von Paralleldrucken. Diese beförderten, so Roland Reuß über die - nun nicht mehr so genannten - zwei ,Fassungen' von Michael Kohlhaas, „die Herrschaft des einen über den anderen Text" und eine „technomorphe Art von vergleichendem Lesen": „Die Integrität der beiden autorisierten Texte hätte so nicht gewahrt bleiben können." 67 62 63

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Vgl. Reuß 1989, S. 7. Bezogen auf Faksimile-Editionen, spricht Sibylle Peters zutreffend von einer „Durchdringung von ästhetischem Genie-Diskurs einerseits und medial-material orientierter poststrukturalistischer Theorie andererseits" (Peters 2000, S. 146f., Anm. 15). Vgl. auch die Dissertation von Groß 1995. Vgl. Müller-Salget 1998, S. 113. BKA, Bd. II/4, S. 94. BKA, Bd. 11/1,2, S. 295. Vgl. auch Reuß 1990, S. 13: „Zwischen verschiedenen poetischen Texten, und wichen sie auch nur in einem Interpunktionszeichen oder einer Leerzeile voneinander ab, gibt es keine .Textidentität'. [...] Ein textkritischer Apparat für poetische Texte ist Organon des Vergleichs von Unvergleichlichem: Individuellem."

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Daß diese Auratisierung des Textes nicht nur bei Autographen, sondern sogar bei Drucken statthat, bei denen die Einflußnahme des Autors durchaus ungeklärt ist, kann als Spezifikum der BKA bezeichnet werden. Erst recht gilt sie natürlich für die Handschriftenedition. Auch für Penthesilea wird der Begriff der ,Fassungen' abgelehnt - in anthropomorpher Metaphorik wird suggeriert, es handele sich um ,,individuierte[] poetische[] Texte" 68 - und gegen editorische Stufenapparate (wie von Kanzog intendiert) und die Herstellung eines ,genetischen' Zusammenhangs polemisiert. 69 Dies fuhrt dazu, daß die Reihenfolge .Apograph - /"Aö^ws-Fragment - Erstdruck' in der Edition umgekehrt wird: Um das Sperrige (Schleiermacher würde sagen: Irrationale) der Texte in ihrem Verhältnis untereinander deutlich zu machen, war daher auch der Versuchung zu widerstehen, die Texte suggestiv hintereinander so abzudrucken, als handle es sich um Stücke, die aufeinander aufbauen. Daß die gegen diese Suggestion opponierende Reihenfolge der Texte in der BKA umgekehrt den Eindruck erwecken könnte, als würden das ,Phöbus'-Fragment und die Handschrift nur den Status von Appendizes haben, wird in Kauf genommen. 70

Bei der Edition des Zerbrochnen Krugs werden sowohl Polemik als auch Metaphysik weit sparsamer eingesetzt: Hier wird mit Materialmängeln argumentiert, die es nicht erlaubten, die Spätkorrekturen der Handschrift zu bestimmten ,Schichten' zusammenzufassen. So erfolgt die Ablehnung gebräuchlicher genetischer Apparate hier aufgrund der Besonderheiten der Überlieferungslage. 71 Die Edition der Familie Schroffenstein schließlich bietet den Text des Erstdrucks (wobei nach wie vor alle Druckversehen, wie etwa kopfstehende Lettern, verzeichnet werden) sowie ein vollständiges Faksimile mit Umschrift der Familie Ghonorez-Handschrift und des Familie 77?/errez-Entwurfs, womit die Ausgabe über Kanzogs und Edels Modelledition hinausgeht, im Unterschied zu dieser aber keinen edierten Leittext der Familie Ghonorez mehr herstellt. 72 Die (bei Redaktionsschluß des vorliegenden Beitrags noch nicht abgeschlossene) vierte Abteilung der BKA bietet sämtliche Briefe in Faksimiles und diplomatischer Umschrift. So groß die Vorzüge gegenüber dem lemmatisierten Variantenapparat der DKV-Ausgabe sein mögen, so deutlich treten doch die Grenzen dieses Editionstyps gerade hier zutage: Zum einen wird auf die Herstellung eines edierten Lesetextes verzichtet, so daß die Ausgabe in vielen Fällen kaum zitierbar ist und allenfalls komplementär zum Briefband der DKV-Edition verwendet werden kann. Zum anderen sind die Faksimiles derart verkleinert, daß man spätestens bei Korrekturen nur abermals mit Marthe Rull konstatieren kann: „Nichts seht ihr, mit Verlaub", und der Gebrauchswert der Faksimiles daher stark in Zweifel steht, zumal auf Detail Vergrößerungen schwer

68 69 70 71 72

BKA, Bd. 1/5, S. 652. Vgl. BKA, Bd. 1/5, S. 651 f. BKA, Bd. 1/5, S. 652. Vgl. BKA, Bd. 1/3, S. 443f. Daß im Titel dieses Bandes lediglich Die Familie Schroffensie in, nicht aber Die Familie Ghonorez erscheint, muß nach der bislang in der B K A verfochtenen Überzeugung von der Individualität der Einzeltexte überraschen.

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lesbarer Stellen (wie sie im Falle von Penthesilea beigegeben werden) verzichtet wurde. Am spektakulärsten ist jedoch zweifelsohne die Neuedition der Berliner Abendblätter im Rahmen der BKA (als Hybridedition mit CD-ROM), auch weil sie den wissenschaftstheoretischen Prinzipien der Ausgabe teilweise diametral entgegenläuft. Erst seit 1993 wurde die Edition überhaupt in der dann 1997 realisierten Form angekündigt,73 zuvor sollte Band II/7 „Anekdoten und kleinere Erzählungen", Band II/8 „Tagesberichterstattung und politische Schriften" enthalten. Intendiert war mithin zunächst eine auch in anderen Ausgaben, zuletzt der DKV-Edition, realisierte Gruppenbildung nach Themen statt nach Publikationsort der meist so genannten ,kleinen Schriften'. Zielte die Argumentation bislang auf die Autorisierung als individuell hypostasierter Texte ab, so sollte die Autorschaft im Falle der Berliner Abendblätter plötzlich keine entscheidende Rolle mehr spielen. Dahinter dürfte nicht zuletzt eine wissenschaftspolitische Absetzbewegung gegenüber bisherigen Untersuchungen von Kleists Zeitungsprojekt zu suchen sein, die sich häufig auf die strittigen Autorzuschreibungen der einzelnen Beiträge konzentrierten: „Tatsächlich bildete sich in der Konzentration auf die Frage der Autorschaft nur die Fixierung auf einen sehr engen Werkbegriff ab."74 Die kritische Edition solle sich „weniger an ein (mehr oder weniger unbefragtes) Bild vom Autor als Originalgenie als vielmehr an die konkrete Tätigkeit Kleists als Redakteur" halten.75 So wird die Auratisierung des Werkbegriffs vom Einzeltext auf das Gesamtunternehmen verschoben: „Und das Tagwerk von Kleists Händen, Produkt von auktorialer Intuition und Redaktion, Originalität und Rezeptivität zugleich, die ,Berliner Abendblätter', ist eines, ein Werk."76 Gleichwohl wurde auf die Autorzuschreibungen im einzelnen keineswegs verzichtet, die sich zusammen mit Quellenangaben in der Marginalienspalte finden. Auf der CD-ROM sind alle Vorlagen - Zeitungsartikel, Polizeirapporte, Zensur- und andere Verwaltungsakten - als digitales Archiv verfugbar, dazu Faksimiles aller Ausgaben der Abendblätter, die für die Textbände selbst neu gesetzt wurden. Obwohl die mit der Edition der Berliner Abendblätter im Rahmen der BKA versuchte Quadratur des Kreises - das in anderen Bänden implizit vertretene GenieParadigma aufzugeben und doch am damit verbundenen auratischen, metaphysisch aufgeladenen Werkbegriff festzuhalten - dafür sorgt, daß die Herausgeber ihre wissenschaftstheoretische Außenseiterstellung in der Kleist-Forschung nicht verlassen, kann die Bedeutung der beiden Bände für die aktuelle Forschung kaum hoch genug eingeschätzt werden. Im Rahmen diskursanalytischer Theoriebildung und Fragestellungen, 73

74 75 76

Die Konzeptionsänderung ging auf eine Anregung Hans-Jochen Marquardts, des damaligen Leiters der Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte Frankfurt/Oder, zurück; vgl. Müller-Salget 2002, S. 14. BKA, Bd. II/8, S. 384. BKA, Bd. 11/8, S. 386. Reuß 1997, S. 9. - Das Problem der Autorschaft rückt auch Oliver Jahraus ins Zentrum seiner Überlegungen, indem er die Abendblätter Kleist insgesamt als Werk zuspricht, andererseits aber die zentrale Aufgabe betont, „die Materialverwertung Kleists auch im Einzelfall textuell zu konkretisieren" (Jahraus 1999, S. 124).

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mit denen Reuß und Staengle ansonsten wenig verbindet, fließt seit einigen Jahren ein Strom von Arbeiten, die Kleists Zeitungsbeiträge nicht mehr, wie früher üblich, isoliert untersuchen, sondern dezidiert im Kontext ihres publizistischen Umfeldes und im Rahmen der Abendblätter als Gesamtprojekt in den Blick nehmen. 77 Daß diese Arbeiten, selbst wenn sie neuesten Datums sind, dann oftmals die Abendblätter nicht nach der BKA, sondern nach einer der verschiedenen älteren Reprint-Ausgaben zitieren, gehört zu den Kuriositäten der Kleist-Forschung, über die irgendwann das Gras der Forschungsgeschichte wachsen wird. 78

3.

Fazit: „Das gemeine Gesetz des Widerspruchs" und „die beiden Enden der ringförmigen Welt"

Das Fazit, das sich aus dem Überblick über die editorische Arbeit an Kleists Texten für die Kleist-Forschung einerseits und für die Editionswissenschaft andererseits ziehen läßt, fallt nicht allzu optimistisch aus und kann noch einmal einige Merkwürdigkeiten ans Licht setzen. Für die Kleist-Forschung ist der beklagenswerte, ja geradezu skandalöse Umstand festzuhalten, daß eine maßgebliche Referenzausgabe als durchgängige Zitiergrundlage fehlt. Während (wissenschafts-)politische und editionsphilologische Gründe, aber auch der Umstand, daß die Ausgabe noch nicht abgeschlossen ist, es verhindern, daß in breiterem Umfang aus der BKA zitiert wird, trifft die DKV-Ausgabe auf Vorbehalte hinsichtlich der Richtlinien der Textgestaltung. Das Ergebnis (zu dem die Bequemlichkeit des Einzelforschers und der Einzelforscherin ihr Teil beitragen dürfte) sieht so aus, daß die - modernen editionswissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfordernissen eigentlich nicht mehr standhaltende - Ausgabe Sembdners noch immer mit Abstand am häufigsten zitiert wird. Ein Blick in die letzten Jahrgänge des Kleist-Jahrbuchs etwa liefert folgendes Bild: 2000 wurde in sechs Aufsätzen Sembdner zitiert, einmal Sembdner und DKV, zweimal DKV und einmal BKA, 2001 elfmal Sembdner und viermal DKV, 2002 sechsmal Sembdner und zweimal DKV, 2003 dann aber plötzlich zehnmal DKV und dreimal Sembdner. Während also in den letzten drei Jahrgängen gar nicht aus der BKA zitiert wurde, könnte es sein, daß die DKV-Ausgabe der Sembdnerschen zumindest in der Fachwissenschaft allmählich den Rang abläuft. Für die Editionswissenschaft generell kann die editorische Arbeit an Kleists Texten, wie bereits eingangs konstatiert, als Lehrbeispiel für die Schwierigkeiten gelten, die sich einstellen, wenn die Textgenetik als vordringliche editorische Teildisziplin angesehen wird. Daß heute kaum eine kritische Ausgabe mehr ohne Faksimiles auskommt, 77

78

Vgl. für eine Untersuchung der Abendblätter als Gesamtprojekt Dotzler 1998, Peters 2003. Zum Bettelweib von Locarno vgl. Landfester 1998. Tatlock/Loewenstein 2001, S. 62, bezeichnen gar die Herauslösung dieses Textes aus seinem journalistischen Kontext und seine Eingruppierung in Kleists Sammlung von Erzählungen als „displacement". Gute Gründe gegen die Transliteration und für ein Faksimile der Abendblätter führt jedoch Peters 2004 an.

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Bernd Hamacher

dürfte eigenartigerweise von der BKA mit verursacht sein, obwohl die Handschriften bei Kleist eine viel geringere Rolle spielen als bei anderen Autoren. Entscheidend ist jedoch ihr dokumentarischer Wert, der gerade dann hervortritt, wenn sich textgenetische Befunde nicht im erwünschten Maße erheben lassen. Damit aber kommt die von Kanzog propagierte ,Archiv-Ausgabe' wieder ins Spiel, die eine eigentümliche und nur schwer zu durchschauende Position im aktuellen Diskursfeld einnimmt. Offenbar beurteilt Klaus Kanzog die BKA de facto als Archiv-Ausgabe, mißt sie jedoch an den darüber hinausgehenden Ansprüchen an eine historisch-kritische Ausgabe, denen sie nicht genüge: V i e l e Editoren sind sich heute darüber im klaren, daß die Lehre und damit auch die Lektüre der Studenten an den historisch-kritischen A u s g a b e n vorbeifuhrt und daß diese A u s g a b e n in ein Getto geraten sind. D i e müssen mehr bieten als eine bloße Archivarisierung und A u f b e reitung der Textüberlieferung. 7 9

Noch wenige Jahre zuvor sah er anläßlich einer Faksimile-Edition von Georg Büchners Woyzeck sein einstiges Konzept offenbar wieder im Aufwind. 80 Daß er nun in der Kritik an der BKA eine enge Verbindung von Edition und Kommentar fordert, hindert ihn wiederum nicht daran, abermals wenige Jahre später die erwähnte .ArchivAusgabe' FG/FS als ,Modellausgabe' zu betreuen und zu propagieren. Andererseits ist die etablierte Editionswissenschaft offenbar dabei, allmählich mit der BKA Frieden zu schließen - pikanterweise ausgerechnet im Zeichen des Konzepts ,Archiv-Ausgabe': So beurteilt Hans Zeller bei der Edition des Zerbrochnen Krugs (BKA 1/3) die „typographische Umschrift, die die Funktionen einer diplomatischen Umschrift und einer textgenetischen Darstellung vereint",81 als „sehr brauchbare Ergänzung für eine genetisch angereicherte diplomatische Darbietungsweise einfacherer Handschriften." 82 In diesem Kontext empfiehlt er ebenfalls die Faksimile-Ausgabe des Woyzeck als „Grundlagen-Edition im Hinblick auf eine historisch-kritische Ausgabe eines neuen Typus, der dann von der Verpflichtung zur Darstellung des Befundes ganz oder weitgehend entlastet wäre." 83 Diesem Konzept einer ,Archiv-Ausgabe' folgt von den bisherigen Bänden der BKA am stärksten Die Familie Schroffenstein. Das Manuskript Die Familie Ghonorez - Kleists umfangreichste überlieferte Handschrift - wird von den Herausgebern nun selbst als „Glücksfall eines erhaltenen Kleistschen Arbeitsarchivs" aufgefaßt. 84 Einstweilen freilich scheint es, als werde dieses Votum für die Archiv-Ausgabe außerhalb des engeren Zirkels editionswissenschaftlicher Forschung nicht geteilt. So beklagt etwa Heinz Schlaffer in einer Rezension der Edition der Berliner Abendblätter 79 80 81 82

83 84

Kanzog 1990, S. 182. Vgl. Kanzog 1984. - Für den Hinweis auf diese Zusammenhänge danke ich Rüdiger Nutt-Kofoth. Zeller 1998, S. 98. Zeller 1998, S. 100. - Ursprünglich gehörte Zeller zu den Kritikern von Kanzogs Konzept der ArchivAusgabe; vgl. die Aufnahme und Entgegnung der Einwände in Kanzog 1976, S. 116-118. Zeller 1998, S. 89. BKA, Bd. 1/1, S. 556.

Kleist-Editionen

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in der B K A das S c h w i n d e n des Unterschieds „ z w i s c h e n Edition und Archiv". 8 5 D i e Kleist-Edition bleibt s o weiterhin ein B e w ä h r u n g s f e l d für die Konkurrenz unterschiedlicher editorischer K o n z e p t e e b e n s o w i e fur spannungsreiche R ü c k k o p p l u n g e n z w i schen E d i t i o n s w i s s e n s c h a f t und moderner Literaturtheorie. Wie illusorisch, aber auch fatal der Glaube an die M ö g l i c h k e i t einer sauberen Trennung dieser beiden Grundlagendisziplinen ist, lehrt gerade die Geschichte der Kleist-Editionen ( v o n

wissen-

schaftspolitischen Verquickungen einmal g a n z abgesehen). A u c h für die

breitere

Kleist-Rezeption spielt es eine entscheidende Rolle, w i e die Texte ediert werden und w e l c h e Form der Präsentation sich durchsetzt: die kommentierte Klassiker-Ausgabe, die die Texte historisch einordnet und erklärt, oder die Editionsform der B K A mit ihrem grundlegend anderen Textbegriff, die die Texte einerseits esoterisch entrückt, andererseits aber e i n e m unmittelbaren, voraussetzungslosen Z u g r i f f aktualisierender Lektüre aussetzt und s o - g e w o l l t oder u n g e w o l l t - das alte Klischee von der e w i g e n Aktualität und Z e i t g e n o s s e n s c h a f t des e w i g e n Außenseiters Kleist in U m l a u f hält. Ob inskünftig das „ g e m e i n e G e s e t z des Widerspruchs" 8 6 sich durchhält oder aber „die beiden Enden der ringförmigen Welt" 8 7 ineinandergreifen, bleibt abzuwarten. 8 8

Literaturverzeichnis Editionen Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck. Berlin: Reimer 1821. [Tieck 1821] Heinrich von Kleists gesammelte Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck. 3 Bde. Berlin: Reimer 1826. [Tieck 1826] Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Hrsg. von Theophil Zolling. 4 Bde. Berlin, Stuttgart: Spemann [1885] (Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. Hrsg. von Joseph Kürschner. 149/150). [Zolling] Heinrich v. Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hrsg. von Erich Schmidt. Kritisch durchgesehene und erläuterte Gesamtausgabe. 5 Bde. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut [1904-1906] (Meyers Klassiker-Ausgaben). [Schmidt] - 2. Aufl. Neu durchgesehen und erweitert von Georg Minde-Pouet. 7 Bde. [Bd. 8 nicht erschienen.] Leipzig: Bibliographisches Institut [1936-1938]. Heinrrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 2 Bde. 4. Aufl. München: Hanser 1965 [u.ö.]. [Sembdner] Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in 4 Bänden. Hrsg. von Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer und Wolfgang Barthel, Anita Golz, Rudolf Loch. Berlin, Weimar: Aufbau 1978 [u.ö.]. Heinrich von Kleist: Die Familie Ghonorez / Die Familie Schroffenstein. Eine textkritische Ausgabe. Bearb. von Christine Edel. Mit einem Geleitwort und der Beschreibung der Handschrift von Klaus Kanzog. Tübingen: Niemeyer 1994. [FG/FS] Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus MüllerSalget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987-1997. [DKV]

85 86 87 88

Schlaffer 1997, S. L 5. Allerneuester Erziehungsplan (BKA, Bd. 11/7, S. 133). Über das Marionettentheater (BKA, Bd. II/7, S. 325). Bemerkenswert ist die Milde, mit der Klaus Müller-Salget als Mitherausgeber der DKV-Ausgabe inzwischen die BKA beurteilt; vgl. Müller-Salget 2002, S. 13f. Auch von Seiten der BKA wird in den jüngsten Bänden die Polemik immer sparsamer eingesetzt, was als Indiz der allmählichen Etablierung der Ausgabe gewertet werden kann.

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Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger [bis 1991 Berliner] Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Frankfurt/Main, Basel: Stroemfeld/Roter Stem 1988ff. [BKA]

Andere Literatur Barth, Ilse-Marie: Die Überlieferung des Schauspiels Prinz Friedrich von Homburg. Das Heidelberger Manuskript und die Erstausgabe des Jahres 1821 durch Ludwig Tieck. Mit einer verkleinerten Wiedergabe der Heidelberger Handschrift. Heidelberg 1978 (Beihefte zum Euphorion. 14). Dirksen, Jens: Kleist lesen heißt nicht Kleist verstehen. Die allmählich verfertigten Kleist-Ausgaben. In: Text + Kritik. Sonderband Heinrich von Kleist. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Staengle. München 1993, S. 192-205. Dotzler, Bernhard J.: „Federkrieg". Kleist und die Autorschaft des Produzenten. In: Kleist-Jahrbuch 1998, S. 37-61. Groß, Thomas: „... grade wie im Gespräch ..." Die Selbstreferentialität der Texte Heinrich von Kleists. Würzburg 1995. Hamacher, Bernd: „Darf ichs mir deuten, wie es mir gefällt?" 25 Jahre //omiurg-Forschung zwischen Rehistorisierung und Dekonstruktion (1973-1998). In: Heilbronner Kleist-Blätter 6, 1999, S. 9-67. Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. von Helmut Sembdner. 7. erweiterte Neuaufl. München, Wien 1996. Höppner, Wolfgang: Erich Schmidt, die Berliner Philologen und ihre Kleist-Editionen. Zum Zusammenhang von Editions- und Wissenschaftsgeschichte. In: Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Kunst und Wissenschaft. IV. Frankfurter Kleist-Kolloquium, 6.-7.8.1999, Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte [Kleist-Museum], Frankfurt (Oder). Hrsg. von Peter Ensberg und Hans-Jochen Marquardt. Stuttgart 2003 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. 414. Linterreihe Frankfurter Kleist-Kolloquien. 4), S. 25-43. Hurlebusch, Klaus: Kritische Edition als Datenverarbeitung? Eine neue Ausgabe der .Familie Ghonorez' und der .Familie Schroffenstein'. In. Kleist-Jahrbuch 1995, S. 183-199. Jahraus, Oliver: Intertextualität und Editionsphilologie. Der Materialwert der Vorlagen in den Beiträgen Heinrich von Kleists für die Berliner Abendblätter. In: editio 13, 1999, S. 108-130. Kanzog, Klaus: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Theorie und Praxis einer modernen Klassiker-Edition. München 1970. Kanzog, Klaus: Gespräche über die .Prolegomena'. Ein Resümee. In: Hans Joachim Kreutzer: Überlieferung und Edition. Textgenetische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog. Heidelberg 1976 (Beihefte zum Euphorion. 7), S. 115-132. Kanzog, Klaus: Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg. Text, Kontexte, Kommentar. München, Wien 1977 (Reihe Hanser. 236. Literatur-Kommentare. 7). Kanzog, Klaus: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists. Bd. 1: Darstellung; Bd. 2: Editorisches und dokumentarisches Material. Berlin, New York 1979 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F. 74/75). Kanzog, Klaus: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des .Woyzeck'. In: Georg Büchner Jahrbuch 4, 1984, S. 280-294. Kanzog, Klaus: [Rez.:] Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Bd. II/2 und II/4. In: Kleist-Jahrbuch 1990, S. 179-182. Kleist-Material. Katalog und Dokumentation des Georg Minde-Pouet Nachlasses in der AmerikaGedenkbibliothek, Berlin. Im Auftrag des Instituts für Textkritik e.V. hrsg. von Wilhelm Amann und Tobias Wangermann in Zusammenarbeit mit Roland Reuß und Peter Staengle (mit CD-ROM). Frankfurt/Main, Basel 1997. Kreutzer, Hans Joachim: Überlieferung und Edition. Textgenetische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog. Heidelberg 1976 (Beihefte zum Euphorion. 7). Landfester, Ulrike: Das Bettelweib von Locarno. In: Kleists Erzählungen. Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1998, S. 141-156. Michelsen, Peter: Richtigstellung. In: Goethe-Jahrbuch 115, 1998, S. 285. Müller-Salget, Klaus: August und die Mestize. Zu einigen Kontroversen um Kleists „Verlobung in St. Domingo". In: Euphorion 92, 1998, S. 103-113. Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart 2002. Peters, Sibylle: Von der Klugheitslehre des Medialen. (Eine Paradoxe.) Ein Vorschlag zum Gebrauch der .Berliner Abendblätter'. In: Kleist-Jahrbuch 2000, S. 136-160.

Kleist-Editionen

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Peters, Sibylle: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der MachArt der Berliner Abendblätter. Würzburg 2003. Peters, Sibylle: Edition und Redaktion - Drucksatz und Deadline. Ein erster Rückblick auf die Arbeit mit der Neu-Edition der .Berliner Abendblätter' in der Brandenburger Kleist-Ausgabe. In: Kleist-Jahrbuch 2004, S. 160-167. Reuß, Roland: Was ist das Kritische an einer kritischen Ausgabe? Erste Gedanken anläßlich der Edition von Kleists Erzählung „Die Marquise von O....". In: Berliner Kleist-Blätter 2, 1989, S. 3-20. Reuß, Roland: „Michael Kohlhaas" und „Michael Kohlhaas". Zwei deutsche Texte, eine Konjektur und das Stigma der Kunst. In: Berliner Kleist-Blätter 3, 1990, S. 3^»3. Reuß, Roland: Geflügelte Worte. Zwei Notizen zur Redaktion und Konstellation von Artikeln der ,Berliner Abendblätter'. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11, 1997, S. 3-9. Reuß, Roland / Staengle, Peter in Zusammenarbeit mit Arno Pielenz und Renate Schneider: H. v. Kleist, Dokumente und Zeugnisse. Biographisches Archiv. Teil I: Α-K. In: Brandenburger Kleist-Blätter 13, 2000, S. 29-455; Teil II: L-Z. In: Brandenburger Kleist-Blätter 14, 2001, S. 23-911. Schlaffer, Heinz: Boulevard der Kabbalisten. Zwielichtig: Kleists „Berliner Abendblätter" in kritischer Edition. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 280, 2.12.1997, S. L 5. Sembdner, Helmut: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Berlin 1939. Sembdner, Helmut: In Sachen Kleist. Beiträge zur Forschung. 2., vermehrte Aufl. München, Wien 1984. Staengle, Peter: Kleist - in der Hand von Wilhelm von Schütz. Faksimile und Umschrift. In: Berliner KleistBlätter 2, 1989, S. 21-76. Steig, Reinhold: Heinrich von Kleist's Berliner Kämpfe. Berlin, Stuttgart 1901. Tatlock, Lynne / Loewenstein, Joseph: Wer da? The Displaced Bettelweib von Locarno. In: Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Hrsg. von Paul Michael Lützeler und David Pan. Würzburg 2001, S. 61-75. Zeller, Hans: Die Berliner Kleist-Ausgabe und die Standards der Editionsphilologie. In: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 20-40. Zeller, Hans: Die Faksimile-Ausgabe als Grundlagenedition filr Philologie und Textgenetik. Ein Vorschlag. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio. 10), S. 80-100.

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Klopstock-Editionen1 Annäherungen an einen Autor

Whoever thinks a faultless piece to see, Thinks what ne'er was, nor is, nor e'er shall be. (A. Pope, An Essay on Criticism, V. 253 f.)

1.

Von Wielands Sämmtlichen Werken zu Klopstocks Werken

Nach dem Erscheinen der ersten vollständigen Ausgabe des Messias (Altona 1781) dachte Klopstock nicht an eine Sammlung und Ausgabe seiner Werke, sondern nur an eine erweiterte Ausgabe seiner Oden.2 Seine erste, bei Bode in Hamburg 1771 erschienene Ausgabe der Oden (weniger der vorher im selben Jahr in nur 34 Exemplaren hergestellte Privatdruck der Darmstädter Ausgabe der Oden und Elegien) hatte das Ansehen des Lyrikers Klopstock gegenüber dem des Mess/as-Dichters aufgewertet. Klopstock selbst hat also nolens volens die Gewichtsverschiebung vom Messias- zum Oden-Dichter im Klopstock-Bild mitverursacht. Wenn er zunächst nur eine Neuausgabe seiner lyrischen Gedichte beabsichtigte (nachweislich seit den frühen achtziger Jahren), so entspricht er damit dem neuen, auf den Lyriker zentrierten Klopstock-Bild. Es dauerte freilich mehr als ein Jahrzehnt, bis „der gröste lyrische Dichter der Neuern" (Johann Heinrich Merck)3 1796 in Georg Joachim Göschen einen Verleger fand, der sich bereit erklärte, zunächst eine neue Ausgabe der Oden und dann auch eine des Messias herauszubringen. Daß Göschen nicht schon früher „der Verleger unsres ersten

2

3

Im Folgenden sind nur solche Editionen ausgewählt und charakterisiert worden, die als signifikante Beispiele fur Tendenzen der Geschichte des Klopstock-Bildes, der Dichter-Auffassung oder der Editionsphilologie gelten können, d.h. als aufschlußreiche Beispiele für die Betrachtung der Editionsgeschichte als Ideengeschichte. Zur Vervollständigung der Unterrichtung Uber die Editionsgeschichte dienen die einschlägigen Bibliographien: Klopstock, HKA, Addenda I: KIopstock-Bibliographie [bis 1971], Nr. 47-148; KIopstock-Bibliographie 1972-1992, Nr. 16-30; schließlich das Handbuch der Editionen, S. 345-349. Klopstock, HKA, Briefe VIII 1, Nr. 17, Z. 1-3; Nr. 216, Z. 4f. und Erläuterung hierzu (VIII 2, S. 1044). Bereits am 13.6.1774 schreibt Johann Heinrich Voß an Ernst Theodor Johann Brückner: „Seine Oden will er auch verbeßert, mit Hinzufugung der verworfnen, die er auch ausbeßern wird, herausgeben" (Voß, Briefe, Bd. 1, S. 170). Besprechung der Klopstockschen „Oden"-Ausgabe von 1771. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen 1772. Auswahl. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Peter Müller. Leipzig 1971 (Reclams UniversalBibliothek. 374), S. 37-40, hier S. 40. - Merck, Werke, S. 527-531, hier S. 531.

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Odendichters" (Carl Philipp Conz)4 wurde, lag an Klopstocks Verärgerung über die Weigerung des Leipziger Verlegers im Jahre 1788, ein neues Prosawerk des Dichters (Fragmente zur Geschichte des Siebenjährigen Krieges) ohne vorherige Einsichtnahme des Manuskripts zu verlegen.5 Göschen schätzte vor allem den Lyriker Klopstock, weniger den Epiker oder Prosaschriftsteller. Diese Vorzugsbewertung des Klopstockschen Schaffens fand ihren Ausdruck in der Reihenfolge der Werke in der GöschenAusgabe der Werke. Die ersten beiden Bände enthalten die Oden und erst die folgenden vier Bände das Hauptwerk, den Messias-, der postum 1804 erschienene Band 7 wiederum an erster Stelle die zuletzt entstandenen, noch ungedruckten Oden. Die Göschen-Ausgabe hat das maßgeblich unter dem Einfluß der Genieästhetik gewandelte, auf den Lyriker fokussierte Klopstock-Bild sedimentiert. Nur widerstrebend fand sich Göschen bereit, auch ausgewählte Prosa des Dichters in die Ausgabe der Werke aufzunehmen; sie sollte allenfalls in Supplementbänden präsentiert werden (z.B. die „grammatischen Schriften der Gelehrtenrepublik u.s.w."). 6 Carl August Böttiger sollte für den Verleger Klopstock dazu bringen, auf die Neuausgabe der Gelehrtenrepublik zu verzichten.7 Eine erweiterte und verbesserte Fassung erschien dann schließlich doch im zwölften Band der Werke 1817. Damit war diese Ausgabe abgeschlossen. Nach Göschens früherer Absicht sollte das bereits mit dem neunten Band, der zusammen mit dem achten für die Dramen bestimmt war, geschehen.8 Die Ausgabe der Werke ist also bei weitem keine Ausgabe der sämtlichen Werke, von der Göschen in seinem entscheidenden Brief vom 21. März 1796 spricht,9 worin er seinen Willen bekundet, Klopstocks Werke zu verlegen. Durch die Ausführung dieses Unternehmens wollte er dem Dichter Beweise seiner Verehrung geben.10 Seinen typographisch-buchgestalterischen Ehrgeiz hatte der Verleger bereits Jahre früher zum Ausdruck gebracht, als es nur um die Ausgabe der Oden ging; Göschen schrieb am 19. Oktober 1793 an Klopstock: „Ein Werk von der Stärke Ihrer Oden würde mir Gelegenheit geben ein Monumentum Typograph. dieses Jahrzehends zu liefern, welches durch kein Werk des vergangenen Zeitalters in unserm Vaterlande übertroffen werden solte."11 Die vom alten Klopstock selbst mit veranlaßte Vorzugsbehandlung seiner Oden, Elegien und Hymnen, der sich sein Verleger nur allzu bereitwillig aufgrund seines ästhetischen Urteils anschloß, sollte Schule machen und das Bild bzw. die Rezeption

4 5 6

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Klopstock, HKA, Klopstock, HKA, Christian August Z. 3 5 - 3 8 . Klopstock, HKA, Klopstock, HKA, Klopstock, HKA, Z. 9f. Klopstock, HKA, Klopstock, HKA,

Briefe VIII 2, S. 1044f„ Erläuterung zu 2 1 6 , 4 / 5 . Briefe VIII2, S. 1047, Erläuterung zu 216, 19-22. Heinrich Clodius an Klopstock, 2 6 . 1 . 1 7 9 6 ; Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 30, Werke VII 2, S. 3 0 6 - 3 0 8 . Werke VII 2, S. 307. Briefe IX 1, Nr. 40, Z. lOf. Vgl. auch Klopstock an Göschen, 26.3.1796; ebd., Nr. 43, Briefe IX 1, Nr. 40, Z. 6 - 9 . Briefe VIII 1, Nr. 216, Z. 15-18.

Klopstock-Editionen

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des Dichters bis in die Gegenwart bestimmen.12 Klopstock ist einer der ersten deutschsprachigen Dichter des 18. Jahrhunderts, die die literaturhistorische These von der „Lyrik als Paradigma der Moderne" bestätigen.13 Der ästhetischen Auslese der lyrischen Dichtung aus dem Gesamtwerk Klopstocks wäre nicht ein so langes Fortbestehen beschieden gewesen, hätte man nicht immer wieder wahrgenommen, daß Klopstocks poetischer Geist mehr für Gott als für die Welt geschaffen war, d.h. unvergleichlich war und ist in der impulsiven, rhythmischen und klanglichen Verdichtung des Sprechens zu bewegenden und erhebenden Bildern. Wenn Oden Klopstocks in mehr oder weniger großer Auswahl noch als lesens- oder vorlesenswert gelten, so bedeutet das, daß von Klopstocks GEuvre nur dieser vergleichsweise kleine Teil der expandierenden historistischen Betrachtungsweise bis jetzt widerstanden hat, also noch nicht gänzlich der deutschen Literaturgeschichte anheim gefallen ist wie alles Übrige, das dieser Autor geschaffen hat. Und da nur seine Oden noch als lesenswert galten (und gelten), blieb Klopstock ohne wissenschaftliche Gesamtausgabe, als andere große Autoren der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (Lessing, Schiller, Herder, Goethe)14 mit großen Ausgaben geehrt wurden. Nur der CWe/j-Dichter Klopstock wurde mit einer „kritisch-historischen" Ausgabe 1889 gewürdigt (siehe unten). Historisch-kritische Dichter-Ausgaben dieser Gründungszeit der Germanistik waren paradoxe Anzeichen eines überzeitlichen Nachlebens der Autoren. Werke, denen nur noch ein literaturhistorisches Interesse entgegengebracht wurde, wie z.B. Klopstocks Hauptwerk Der Messias, wurden allenfalls in Studienausgaben oder nichtwissenschaftlichen Ausgaben ediert. Richard Hamels Ausgabe der Werke Klopstocks in der Deutschen NationalLitter atur^ gehört zum Typus der Studienausgabe. Sie ist weniger ein Zeugnis dafür, daß die in ihr präsentierten Werke - Der Messias, Oden, Epigramme, Geistliche Lieder, Hermanns Schlacht - als solche lesenswert seien, sondern vielmehr dafür, daß sie produktive Bestandteile der Literaturgeschichte seien und als solche untersuchungswerte Erkenntnisobjekte. Richard Hamels Ausgabe ist aus seinen Studien zur Textgeschichte des Messias (Heft 1-3, Rostock 1879f.) entstanden. Im dritten Heft seiner Klopstock-Studien von 1880, das er Michael Bernays („der zuerst wieder das eingehende Studium Klopstocks anregte") widmete, sagt Hamel zu Anfang: „Vielleicht ermöglicht sich nun eine kritische Ausgabe des Messias mit sämmtlichen Varianten" (S. V). Beide in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienene Ausgaben - die Hamelsche Studienausgabe der Werke und die kritische Ausgabe der Oden von Munk-

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Joseph von Eichendorff: „Das Wahrste in Klopstock's Dichtung sind seine Oden" (Eichendorff 1970, S. 214). - Karl Krolow schrieb in seinem Gedenkartikel zu Klopstocks 250. Geburtstag am 2. Juli 1974 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung u.a.: „Klopstocks Dichtung - mit dem Kem der ,Oden' - ist vor Hölderlin ein frühes Beispiel absolut gewordener Dichtung [...]." Vgl. Hurlebusch 2001, S. 12. Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964. Vorlagen und Verhandlungen. Hrsg. von Wolfgang Iser. München 1966 (Poetik und Hermeneutik), S. 3 9 5 ^ 1 8 , besonders S. 403f. Vgl. Handbuch der Editionen, S. 367f; 498; 270-272; 181-187. Klopstock, Werke, DNL.

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ker und Pawel (1889) - bezeichnen zusammen den Entwicklungsstand der Historisierung des Klopstockschen Gesamtwerkes: Der bei weitem größere Teil gilt nur noch als historisch zugänglich, als Inventar des literaturgeschichtlichen Schatzhauses der Deutschen. Nur eine Anzahl von lyrischen Gedichten (Oden, Elegien, Hymnen) hatten den Zauber ästhetischer Überzeitlichkeit, d.h. Gegenwärtigkeit nicht verloren. Im Prinzip hat sich an dieser Konstellation in der seither verstrichenen Zeit nichts geändert. Allerdings schrumpft die Anzahl derjenigen Gedichte, die fur eine Anthologie unter strenger Anwendung des Kriteriums lesenswert ausgewählt werden. Das, womit Klopstock vor allem Epoche machte, war sein unerhörtes Selbstbewußtsein als ,Sänger', exemplarisch im Exordium des Messias zum Ausdruck gebracht (I 1-17). Das implizierte eine nachdrückliche Aufwertung des dichterischen Autors bzw. der dichterischen Autorschaft. Seinem persönlichen Leben kam wie seinem Werk als dem eines heiligen Dichters öffentliches Interesse zu. Die Vita eines Heiligen der Kirche diente als Erbauung: Das Gleiche erwartet man auch von der Vita eines Heiligen außerhalb der Kirche. Das, was jetzt Wirkungen hervorrief, war nicht mehr das Werk allein, sondern Werk und Autor, ja häufig Autor und Werk. Der Autor gewann an Autorität als erster Zeuge der erneuernden Wirkung seines Werkes. Der Sänger ist aufs Singen bedacht, d.h. auf eine Aktion, die sich nicht von seiner Person lösen läßt wie etwas Geschriebenes. Durch Klopstock wurde aus der Produktionseinheit Werk und Autor auch eine Wirkungseinheit - jedenfalls in der deutschen Literaturgeschichte. (Spätere herausragende Beispiele für diese Doppelfokussierung stellen Hölderlin, Kleist, George, Trakl, Kafka, Thomas Mann dar.) Diese stärkere Bindung des Werkes an den Autor hatte im Falle Klopstocks freilich einen Preis: die Relativierung und Problematisierung des Werkbegriffs.16 Wenn das dichterische Schaffen vor allem zum Ausdrucks- und Erhebungsmedium des Autorgeistes wird, ist dessen Aufmerksamkeit in der Regel jeweils nur einem Werk zugewandt. Nicht gesammelte Werke plante Klopstock ursprünglich herauszugeben, sondern seit Anfang der achtziger Jahre eine neue erweiterte Ausgabe seiner Oden (seine erste war ohne Verfassernamen 1771 in Hamburg herausgekommen).17 Als Göschen am 3. März 1795 Klopstock ein Verlagsangebot fur die neue Oden-Ausgabe machte, schickte er mit dem diesbezüglichen Brief auch Druckproben,18 bei denen es sich wohl um diejenigen handelt, die der Verleger 1793 für die Ausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken hatte anfertigen lassen.19 Diese Ausgabe erschien von 1794 bis 1802 in 42 Bänden, und zwar in vier hinsichtlich Format, Papierqualität und Ausstattung mit Kupfern unterschiedenen Ausführungen. 20 Offenbar hat diese fur einen zeit16 17

18 19 20

Vgl. Hurlebusch 2001, S. 16-25. - Klopstock, HKA, Werke VII 2, S. 2 5 4 - 2 5 9 . [Friedrich Gottlieb Klopstock:] Oden. Hamburg: Georg Joachim Christoph Bode 1771. - Klopstock, HKA, Briefe VIII 2, S. 1044, Erläuterung zu 2 1 6 , 4 / 5 . Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 3, Z. 27f.; IX 2, S. 296, Erläuterung zu 3, 28. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 3, Z. 27f.; IX 2, S. 296, Erläuterung zu 3, 28. Klopstock, HKA, Briefe VIII 2, S. 1046f., Erläuterung zu 216, 12-15. - Vgl. C.F. Cramer über Wielands Sämmtliche Werke: „Ich glaubte mich an keinen liberalern [...] wenden zu können, als an den, der die bändereichen Werke des deutschen Lucian, Ariost und Crebillon, und was ist Wieland uns nicht alles

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genössischen Autor ungewöhnlich aufwendige und ehrende Unternehmung Klopstöck erst bewogen, für sich etwas Ähnliches zu wünschen. Als Antwort auf sein Verlagsangebot für eine erweiterte Sammlung der Oden schrieb am 20. April 1795 Johann Wilhelm von Archenholtz an Göschen u.a.: „Jezt hat er [Klopstock] die Idee nach Wienands] Beispiel auch seine Werke zu samlen." 21 Dieser Wunsch war wohl nicht zuletzt durch die bis in die sechziger Jahre zurückreichende Autorenrivalität Klopstocks mit Wieland geweckt worden. Der erste Odendichter der Deutschen glaubte, mindestens ebenso die Ehre einer größeren Ausgabe verdient zu haben. Am 15. Januar 1796 richtet er an seinen Leipziger Mittelsmann Clodius die rhetorisch vortastende, aber gleichwohl ernst gemeinte Frage: „ist es nicht so wohl für den Verleger als fiir mich am besten, wenn er alle meine Schriften übernimmt?" 22 Mehrmals äußerte Klopstock seinen Wunsch, „die wohlfeilste von den Ausgaben der wielandischen Schriften" von Göschen zu erhalten. 23 Nachdem dieser prinzipiell seine Bereitschaft zur Ausdehnung seines Verlagsangebots auch auf andere Werke Klopstocks durch Clodius übermittelt hatte, 24 beantwortete er am 21. März 1796 direkt die Frage des Dichters mit Ja 25 Er wünsche ihm „durch die Ausführung dieses Unternehmens" Beweise seiner Verehrung geben zu können „und das Lob zu erlangen": er „sey kein unwürdiger Verleger eines der ersten Schriftsteller der Nation geworden." 26 Daraufhin schrieb Klopstock an Göschen am 26. März 1796: „Ich bitte Sie sich als den Verleger meiner Schriften anzusehen." 27 Daß in dem Dichter nach wie vor das agonale Motiv gerade in bezug auf Wieland lebendig war, obwohl es in dieser Zeit zu einer Wiederannäherung zwischen den beiden nicht mehr als ä jour geltenden Autoren kam, zeigt ein Brief Klopstocks an Göschen vom 30. März 1796, wo er zum Ausdruck bringt, den Autorenwettstreit typographisch fortsetzen zu wollen: „Der Abdruck meiner Schriften wird dadurch schöner als der Wielandischen werden, daß kein Wort mit weiter aus einander stehenden Lettern [...] vorkommen soll. Auch fallen alle Striche u sich folgende Punkte weg [...]."28 Pointiert ausgedrückt: Ohne Göschens „colossalische Unternehmung" 29 einer kostbaren Ausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken hätte es auch eine GöschenAusgabe der Werke Klopstocks (12 Bände 1798 bis 1817) wahrscheinlich nicht gege-

21 22 23

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sonst noch? in loblicher didotscher, bodonischer und ibarreischer Pracht im deutschen Publikum aufgestellt und die Bezüchtigung der Ausländer zu Schanden gemacht" (Cramer 1808, S. 358). Klopstock, HKA, Briefe IX 2, S. 293, einführende Erläuterung zu Nr. 3. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 27, Z. 20f. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 35, Z. 3 6 - 3 8 ; Nr. 42, Z. 16f.; vgl. auch Nr. 45, Z. 19f.; Nr. 48, Z. 5 0 52; Briefe IX 2, S. 394, Erläuterungen zu 35, 3 6 - 3 8 . Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 30, Z. 3 2 - 3 8 . Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 40, Z. 4f. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 40, Z. 6 - 9 . Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 43, Z. 9f. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 44, Z. 9 - 1 2 ; Briefe IX 2, S. 416, Erläuterungen zu 44, 9 - 1 2 . Archenholtz an Göschen, 20.4.1795; Klopstock, HKA, Briefe IX 2, S. 293, einführende Erläuterung zu Nr. 3.

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ben. Diese Ausgabe ist mehr dem anspornenden Beispiel der Wielandschen Ausgabe zu verdanken als der genuinen Absicht des Oden- und Afesi/os-Sängers. Die Haltung des Herausgebers war seinem ausdrucksimpulsiven, spontaneitätsbedürftigen Geist nicht eingeschrieben. Ob Klopstock tatsächlich beabsichtigte, seine „sämtlichen Werke", wie Göschen im genannten Brief vom 21. März 1796 voraussetzte, herauszugeben, ist ungewiß,30 aber im Hinblick auf die Vorbildfunktion der Wieland-Ausgabe - cum grano salis betrachtet - wahrscheinlich, jedenfalls für den ursprünglichen Vorsatz. Klopstocks Verzeichnis der intendierten Abfolge der Werke, das er Göschen wohl am 29./30. März 1796 geschickt hatte, ist verschollen, ebenso der Verlagsvertrag.31 Der Dichter hatte sich von seiner Aufstellung kein Duplikat angefertigt oder konnte dieses ebensowenig wiederfinden wie Göschen das seinige. Das Inhaltsverzeichnis der projektierten Ausgabe, vor allem ab Band 7 (daß nach den Oden, Band 1-2, der Der Messias, Band 3-6, folgen sollte, verstand sich fur den Autor von selbst), hatte nicht lange Verbindlichkeit für Klopstock. Im Januar 1797 wollte er die fixierte Folge der Werke ändern. Göschen schlug vor, nach dem Messias die „Bardiette" (d.h. die Hermann-Dramen) zu drucken. Klopstock hingegen wollte ursprünglich die Geistlichen Lieder folgen lassen.32 Bis Ende 1799 hatte er sich offenbar Göschens Vorschlag angeschlossen - „nach dem Mess, die Schauspiele, u zwar in der Ordnung: Der Tod Adams, Hermans Schlacht ff 4 3 3 - , dann aber kam er zu seinem ersten Entschluß zurück, „nämlich die Geistl. Lieder folgen zu lassen."34 Nach der Auslieferung von Band 6 (Band 4 des Messias) im Folio-, Quart- und Oktavformat von August 1799 bis Juli 180035 trat eine fast zwei Jahre dauernde kriegsbedingte Herstellungspause ein. Im Mai 1802 scheint Klopstock bezüglich des Inhalts von Band 7 wieder von seinem ersten Entschluß abgerückt zu sein zugunsten der Alternativabsicht, die Dramen nun folgen zu lassen.36 Auch dabei blieb es nicht. Nach Klopstocks Tod im März 1803 setzten sich Göschens Werkpräferenzen durch: Band 7 enthält einen Nachtrag von 24 späten, in Band 2 nicht aufgenommenen Oden, anschließend die Geistlichen Lieder und Epigramme und erst im Band 8 bis 10 die Dramen, in Band 11 Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften nebst einigen Vermischten Aufsätzen Klopstocks aus dem Nordischen Aufseher und schließlich im letzten, 1817 erschienenen 12. Band das Werk, gegen dessen Aufnahme der Verleger sich lange gesträubt hat: eine vermehrte und verbesserte Fassung der Gelehrtenrepublik.37 Die zwölfbändige Ausgabe der Werke war also in ihrer Motivation und in ihrem Inhalt weitgehend fremdbestimmt: Ohne das Beispiel der monumentalen WielandAusgabe wäre sie wohl nicht zustande gekommen; in Inhalt und Reihenfolge der Wer30 31 32 33 34 35 36 37

Klopstock, Klopstock, Klopstock, Klopstock, Klopstock, Klopstock, Klopstock, Klopstock,

HKA, HKA, HKA, HKA, HKA, HKA, HKA, HKA,

Briefe IX 1, Nr. 40, Z. 10f.; 89. Briefe IX 2, S. 418, Erläuterung zu 45, 11/12. Briefe X 1, Nr. 85, Z. 136-139. Vgl. auch Klopstock, HKA, Werke II, S. 130f. Briefe X 1, Nr. 85, Z. 136f. Briefe X 1, Nr. 85, Z. 38f. Briefe X 1, Nr. 65, Z. 2f.; 8 - 1 0 . Briefe X 1, Nr. 222, Z. 3f.; X 2, S. 803, Abschnitt „Korrespondenzstelle". Werke VII 2, S. 306f.; Werke II, S. 129-132.

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ke ist sie ein Spiegel der ästhetischen Vorlieben des Verlegers, vor allem in der Vorzugsstellung der Oden und in der Nachordnung oder Weglassung der Prosa. Deshalb hat die Bezeichnung „Göschen-Ausgabe" nicht nur hinsichtlich dreifacher Ausführung und Ausstattung einen verlegerischen, sondern auch einen inhaltlichen Grund.

2.

Verstärkte Annäherung an den Autor in Ausgaben

Gleichwohl ist die Göschen-Ausgabe der Werke auch im spezifisch editorischen Sinne eine Klopstock-Ausgabe, vor allem in den zu seinen Lebzeiten noch erschienenen ersten sechs Bänden. Der Autor hat fur sie die Druckvorlagen hergestellt und geliefert sowie Fahnenkorrektur gelesen. Die Autorbezüglichkeit der Oden verstärkte Klopstock in den beiden ersten Bänden dieser Ausgabe (1798) dadurch, daß er sie ausschließlich am Leitfaden der Entstehungschronologie anordnete, die klassizistische Einteilung in Bücher nach dem Vorbild des Horaz, an die er sich in seiner ersten Odert-Ausgabe angelehnt hatte (3 Bücher und am Schluß, für sich stehend, Elegien) und die er noch im März 1785 durch Hinzufügung eines 4. Buches beizubehalten gedachte,38 aufgab. Das, was die Gedichte in der entstehungschronologischen Anordnung miteinander verbindet, ist der ihnen gemeinsame Autor und seine Lebenszeit. Was immer sie jeweils in ihrer Gattungszugehörigkeit sein mögen, hier sind sie vor allem Zeugnisse der Geistesgeschichte ihres Autors. Entstehungschronologisch gereiht, bleibt als übergeordnete Referenzgröße nur der Autor übrig. Seine Bedeutsamkeit wird also mit Hilfe der entstehungschronologischen Reihung hervorgehoben. Sie ist ein Zeichen dafür, daß für Klopstock die horazische Tradition, deren Wirksamkeit er noch in seiner ersten CWe/j-Ausgabe zu erkennen gab, seither an Bindungskraft verloren hatte. Ausgaben, in denen das entstehungschronologische Reihungsprinzip wie in Klopstocks letzter Oden-Ausgabe vorherrscht, sind in besonderem Sinne Autor-Ausgaben. Auch bei dieser editorischen Betonung der Autorbezüglichkeit seiner Oden scheint Klopstock Unterstützung durch Wieland erfahren zu haben. Im Vorbericht des ersten 1794 erschienenen Bandes der Sämmtlichen Werke sagt Wieland u.a.: „Die Geschichte seiner an Materie und Form so mannichfaltigen Werke ist zugleich die Geschichte seines Geistes und Herzens, und, in gewissem Sinne, seines ganzen Lebenslaufs."39

38

39

Klopstock, HKA, Briefe VIII 1, Nr. 17, Z. 1-3; VIII 2, S. 383, Erläuterung zu 17, 1 - 3 . Ein frühes Zeugnis zu Klopstocks Orientierung an Horaz findet sich in seinem Brief an Johann Adolf Schlegel, 25.7.1748. Vgl. Klopstock, HKA, Briefe I, Nr. 12, Z. 13f. Wieland, Sämmtliche Werke, Bd. 1, Leipzig 1794, 8°, S. V. - Vgl. auch Klopstock, HKA, Werke VII 2, S. 718. Vgl. ferner „Wieland an die Käufer seiner sämmtlichen Werke. Die Supplemente betreffend" in Wieland, Sämmtliche Werke, Bd. 30 (Leipzig 1797); wiederabgedruckt: Wielands Werke. Th. 38. Berlin: Hempel, S. 6 6 0 - 6 6 3 . Hier heißt es über die Jugendwerke: „Überdies gehören sie als unentbehrliche Beläge zu der Geschichte meines Geistes und Herzens, welche zu schreiben ich mich verbindlich gemacht, und wovon ein großer Theil ohne sie den Lesern unverständlich bleiben müßte" (S. 660). - Vgl. auch Johann Arnold Ebert an Klopstock, 3.4.1771, als dieser an seiner ersten GWen-Ausgabe arbeitete: „Daß Sie mir ja keine von Ihren jüngern [d.h. älteren] Oden, worinn Sie sich schon so sehr characterisirt haben, auslassen [...] Sie dürfen ja nur das Jahr darüber setzen, wenn sie gemacht sind, wenn dieß zur

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Klopstock hatte Clodius im Februar 1796 ausdrücklich nach diesem Vorbericht gefragt.40 In späteren Ausgaben wurde der Autorbezug noch durch Zugaben von Biographien41 und von Briefen hervorgehoben. Im Falle Klopstocks galten Briefe nicht nur als Zeugnisse des Genies in seinem privaten Dasein, sondern auch als Belege zu der Frage, ob die hohe religiöse Denkungs- und Empfindungsart des Autors, die er in seiner Dichtung zum Ausdruck brachte, auch sein Leben bestimmte. Nicht zuletzt Briefe von ihm, an und über ihn sollten die in seinem Fall geforderte Einheit von Werk und Leben bezeugen. Die relativ umfangreiche Auswahl von Briefen von und vor allem an Klopstock in der Nachlaßausgabe von Clodius war ausdrücklich von dem Ziel bestimmt zu zeigen, daß „er lebte, wie er sang."42 Wenn ein Dichter so wie Klopstock beanspruchte, im Dichten ein heiliges, quasipriesterliches Amt auszuüben, gewann sein Privatleben an öffentlicher Bedeutung und entsprechend dessen Zeugnisse, die sogenannten Egodokumente. Klopstock scheint sich des besonderen Zeugniswertes seiner Briefe, insbesondere der öffentlichen, bewußt gewesen zu sein. In einer seiner Planungen der Göschen-Ausgabe seiner Werke schreibt er an Christian August Heinrich Clodius am 24. Februar 1796: „Der lezte Band meiner Schriften hat die Aufschrift: ,Theoretische Schriften.' Diese werden mit einigen wenigen Briefen beschlossen."43 Noch ein weiterer Umstand bewirkte, daß die Herausgabe von Briefen bzw. Briefwechseln einen Schwerpunkt in der Geschichte der Klopstock-Edition bildet: Klopstocks erste Ehefrau, Margareta (Meta) Moller, „ist eine der größten Meisterinnen des deutschen Briefes: um die Mitte des 18. Jahrhunderts kann sich auf diesem Gebiet

40 41 42

43

Entschuldigung einiger jugendlich-enthusiastischen Stellen nöthig seyn sollte" (Klopstock, HKA, Briefe V, Nr. 181, Z. 126-130). Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 35, Z. 34-36; IX 2, S. 393, Erläuterung zu 35, 34-36. Vgl. Klopstock, HKA, Addenda I, Nr. 186, 187, 192-194. Christian August Heinrich Clodius: Über Klopstock und die gegenwärtige Auswahl seiner nachgelassenen Papiere [...]. In: Klopstock, Auswahl, Bd. 1, S. 1-98, hier S. 72. - Wie stark die soziale Kontrolle der Person des Afesjiaj-Dichters war, bezeugt exemplarisch August Hennings in seinen Reisebemerkungen „von Berlin nach Copenhagen bis zum 30. Oct. 1776", in denen er eine Begegnung mit Klopstock im Theater beschreibt, zum Schluß auch dessen auffällige Kleidung: „er hatte selbst Schuld, meine Aufmerksamkeit von seinem Innern auf sein Außeres zu wenden. Ein weißes tuchenes Kleid, mit Coquelicot seidenem Unterfutter und ovalrunden Knöpfen konnte ich mir nicht als ein Titelkupfer zu seinem Meßias oder Hermann denken" (Hs.: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: Nachlaß August Hennings, Bd. 45, Bl. 154v-155r). Zu dem von Klopstock geweckten Wunsch nach Übereinstimmung von Leben und Werk vgl. auch Johann Martin Miller in seiner Anzeige von Carl Friedrich Crameri Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa) (Teil 1, Hamburg 1777): „Man wird den Sänger Gottes noch mehr lieben und bewundern lernen, dessen ganzes Leben so mit seinen Schriften übereinstimmt. Seine Gesinnungen über Vaterland, Freyheit, Sprache, Fürsten und gewisse Schriftsteller müssen jedem wichtig seyn, dem seine Schriften wichtig sind" (Ulmische Teutsche Chronik 1777, St. 20, 18.12.). An Klopstock und seinen Lesern läßt sich die dialektische Einsicht exemplifizieren, daß Verinnerlichung des Verhaltens nicht einseitig, sondern gemeinschaftlich geschaffen wird. Zur Wendung nach innen braucht man außen das Beispiel anderer. Ein nachhaltig wirksames stellte Klopstock seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 35, Z. 24-26; IX 2, S. 393, Erläuterung zu 35, 24-26.

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niemand in Deutschland mit ihr messen." 44 Kein Wunder, daß von der ersten Nachlaßedition 1810 an bis zur repräsentativen dreibändigen Meta-Klopstock-BriefwechselAusgabe von 1956 aus dem reichen Überlieferungsbestand der Korrespondenz Metas mit Klopstock Teile ausgewählt bzw. Auszüge gemacht wurden. Diese Perlen konnten eine Ausgabe bereichern. Möglicherweise wurde Klopstock zur ausschließlich entstehungschronologischen Ordnung seiner Oden durch die panegyrische Biographie seines jungen Verehrers Carl Friedrich Cramer angeregt: Klopstock. Er; und über ihn. Wie der Titel andeutet, enthalten diese fünf Teile sowohl eine bis zum Jahre 1757 reichende chronologische Dokumentation des dichterischen Hauptwerkes - Messias, Oden, Der Tod Adams, (= „Klopstock. Er") - als auch eine bis zu diesem Jahre reichende Lebensbeschreibung (= „Klopstock [...] über ihn"). Diese wegen der adorativen Grundeinstellung viel gescholtene Biographie ist bemerkenswert insofern, als hier Leben und Werk des Dichters chronologisch gleich behandelt werden. Sie ist so etwas wie eine unvollständige biographische Werkausgabe, die deutlich Züge des Geniekultes trägt, d.h. einer autorzentrischen Perspektive. Ihre Hauptaufgabe ist wie die der über ein Jahrhundert später erschienenen „historisch-kritischen" Schiller-Ausgabe Goedekes (1867-1876) die Darstellung und Dokumentation der Geschichte des Dichtergeistes. 45 Der editorische Teil von Cramers Klopstock-Biographie war bereits als Prototyp einer textgenetischen Ausgabe geplant: Wiedergegeben werden sollte jeweils die früheste Textfassung und von ihr ausgehend die Veränderung. In der Ankündigung seiner Klopstock-Biographie im Deutschen Museum 1781 sagt Cramer: Die schiklichste Form habe ich die zu sein geglaubt, wenn ich ihn [Klopstock] gleichsam genetisch im Entstehen zeigte. Anfang und Fortschritt, manchmal auch Abnahme in der Volkommenheit, findet sich beim Schriftsteller sowol als beim Menschen. [...] Ich wolte anfangs jede Schrift so abdrukken lassen, wie sie in ihrer ersten Gestalt ausgesehen, und seine eignen Verbesserungen an den gehörigen Stellen einschalten. 46

Vor so viel moderner Annäherung an den Autor auf Kosten der Gewohnheiten des Lesers scheint dem Editorbiographen dann doch bange geworden zu sein: „Nach reiflicher Untersuchung aber [...] fand ich, weil doch die wenigsten Leser kritische Leser sind, es besser, das Gegentheil zu thun. Die Varianten aber werden demohngeachtet sorgfältig ausgezogen, und geben noch immer jedem Aufmerksamem Gelegenheit zum Vergnügen der Vergleichung". 47 Die Oden sind meistens in der Textfassung der Klopstockschen Ausgabe von 1771 wiedergegeben, die frühen Fassungen sind in Form von 44

45 46

47

Erich Trunz: Meta Moller und das 18. Jahrhundert. In: Meta Klopstock geborene Moller, Briefwechsel, Bd. 3, S. 9 5 6 - 9 7 4 , hier S. 956. Vgl. Handbuch der Editionen, S. 498, Nr. 1. Vgl. ferner Hurlebusch 1996, S. 480. Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er und über ihn. In: Deutsches Museum 2, 1781, S. 182-185, hier S. 182f. - Zum Verhältnis Cramers zu Klopstock vgl. Schmidt 2002; zu Cramers Plan einer Fortsetzung seines Werkes vgl. ebd., S. 406; zur derzeit besten Bibliographie von Cramers Schriften vgl. Klopstock, HKA, Briefe VIII 2, S. 1098f. Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er und über ihn. In: Deutsches Museum 2, 1781, S. 182-185, hier S. 182 f.

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„Älteren Lesearten" repräsentiert, die jeweils als Anhang zum abgedruckten OdenText mitgeteilt sind. Die Tendenz dieses biographisch-editorischen Werkes ist apologetisch; es sollte erklärtermaßen als Korrektiv derjenigen Urteile dienen, die die herausragende Bedeutung dieses Dichters nur unzulänglich berücksichtigten oder nur mit Vorbehalt anerkannten: „Klopstock ganz lesen, ihn besser verstehen und richtiger beurtheilen zu können, als bisher zum Theil geschehen ist."48 Cramer hatte auch in seinen früher publizierten biographischen „Fragmenten" Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa) Gedichte (Oden und Epigramme) wiedergegeben, aber nur als Einlagen in der biographischen Erzählung. Teil 2 enthält die erste ausfuhrliche Erläuterung des 20. Gesangs des Messias.49 Gegenüber diesem „Klopstock" („Fragmente! Fragmente! [...] Nirgends ein Ganzes") ist der neue (.Klopstock. Er; und über ihn) systematisch zur Sammeledition erweitert, wobei die Texte durch ihre chronologische Anordnung den Modus von Zeugnissen der Geschichte des Klopstockschen Geistes erhielten. Nach dem quantitativen Verhältnis zwischen diskursivem und editorischem Teil zu urteilen, handelt es sich hauptsächlich um eine chronologische Werkausgabe und sekundär um eine Lebensbeschreibung. Wieder abgedruckt in den Bänden 2 bis 5 sind die Gesänge I bis X des Messias, dessen Entstehungsgeschichte einleitend beschrieben ist, 41 Gedichte (von insgesamt 75 in der Oden-Ausgabe von 1771) und das Prosa-Drama Der Tod Adams mit Gleims verifizierter Fassung unter dem Prosatext, außerdem zwei poetologische Aufsätze und Drey Gebete eines Freygeistes, eines Christen und eines guten Königs. Erstmals veröffentlicht wurde im ersten Band Klopstocks am 21. September 1745 in Schulpforte vorgetragene lateinische Abschiedsrede (mit deutscher Übersetzimg).50 Cramers Verehrung für Klopstock fand in der systematischen Ergänzung seiner Studie „über ihn" mit der chronologischen Präsentation des dichterischen Schaffens von ihm einen angemessenen Ausdruck. Denn diese Ergänzung stellt einen Übergang dar vom Diskursiven zur Dokumentation, d.h. einen Wechsel von der Perspektive der 3. Person (des Sprechens über den Dichter und sein Leben) zur Perspektive der 1. Person: der mit dem Dichter direkt konfrontierten Person, die seine Texte sozusagen nachspricht.51 Mit anderen Worten: Cramer vollzog einen Übergang von der indirekten Annäherung des Biographen an den Dichter zur direkten des Klopstock-Lesers. Cramer schlug also den umgekehrten Weg ein, der heutzutage häufig in wissenschaftlichen Ausgaben gegangen wird: von der Dokumentation des Schaffens zum Diskurs über das Dokumentierte bzw. den Autor. Beide Wege laufen aber auf das Gleiche hinaus: zur Aufwertung des Autors im Verhältnis zu seinem Werk. Philologischtextkritisch ist Cramers biographische Ausgabe von geringem Wert, denn die Vorlagen ihrer Textwiedergaben waren überwiegend Drucke, keine Handschriften des Dichters,

48 49 50 51

Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Tl. 1, S. [IV], Cramer, Klopstock, Er; und über ihn, Tl. 2, S. 312-440. Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Tl. 1, S. 54-99. Vgl. Hurlebusch 2006.

Klopstock-Editionen

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dem Cramer übrigens den Text des „Werkes seines Lebens"52, mindestens der Teile 1 bis 3, erst in den Druckbogen zur Kenntnis gab.53 Aber als Zeugnis fortgeschrittenen subjektivistischen Geistes ist Cramers Klopstock nicht nur für die Klopstock-Philologie, sondern auch für die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts relevant.

3.

Von den Werken zu den Sämmtlichen Werken, von den Anmerkungen des Autors zu den Kommentaren von Herausgebern

Göschens Ausgabe der Werke war, obwohl häufig als Gesamtausgabe bezeichnet,54 bei weitem nicht vollständig, nicht zuletzt aufgrund der Geringschätzung des Verlegers gegenüber der Prosa des Dichters (siehe oben). Aber auch Klopstock selbst hat sie zeitweilig jedenfalls nicht als eine der Sämmtlichen Werke (im genauen Wortsinn) beabsichtigt. Einiges von seinen Prosatexten sollte nicht aufgenommen werden, z.B. die Aufsätze über die von ihm reformierte Orthographie und einige Aufsätze im Nordischen Aufseher (1758-1760).55 Bezüglich der Prosa hat sich aber letztlich das Urteil des Verlegers durchgesetzt, der den Autor überlebte. Der größte Teil davon wurde in die Werke nicht aufgenommen, darunter die für Klopstocks moderne Autor-Poetik so wichtigen Arbeiten über Sprache und Dichtung, vor allem die Fragmentensammlung Über Sprache und Dichtkunst (Hamburg 1779/80) und die Grammatischen Gespräche (Altona 1794). Nach Erscheinen des letzten Bandes der Werke 1817 konzentrierte sich die Editionstätigkeit bis zur ersten „kritisch-historischen" Ausgabe der Oden 1889 im wesentlichen auf zwei Aufgaben: auf (a) die Ergänzung der Göschen-Ausgabe der Werke sowie auf die Sammlung gedruckter und ungedruckter Texte nach Maßgabe eines Vollständigkeitsideals, wodurch u. a. der Geniekult in der Editionsphilologie praktisch wurde. War einem Autor der Nimbus des Genies zuerkannt, war alles, was er gesagt oder geschrieben hatte, wichtig; nichts konnte prinzipiell als belanglos ausgeschlossen werden - weder in synchronischer noch in diachronischer Hinsicht, die in die „geheime Werkstatt des Dichters"56 wies.

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Cramer an Klopstock, 9.3.1780; Klopstock, HKA, Briefe VII 1, Nr. 137, Z. 72; VII 3, S. 794, Erläuterung zu 137, 72. Cramer an Klopstock, 23.5.1782; Klopstock, HKA, Briefe VII 1, Nr. 222, Z. 20-24; VII 3, S. 1088, Erläuterung zu 222, 22-24. - Cramers Ausgabe wurde in den Fällen wichtig für Klopstock, wo sie bereits Gedichte enthält, die dieser erst in seine zweite Oden-Ausgabe aufnahm. Vgl. auch Schröder 1892, S. 86f. Vgl. z.B. Funck 1882, S. 515. Klopstock an Clodius, 24.2.1796; Klopstock, HKA, Briefe IX 1, Nr. 35, Z. 13-19. Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. 13, S. VIII.

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Das andere Schwergewicht der philologisch-editorischen Tätigkeit lag (b) in der Ergänzung der Anmerkungen Klopstocks 57 und C.F. Cramers (vor allem in dessen zweitem „Klopstock") durch ausfuhrlichere Erläuterungen, vor allem der Oden. August Leberecht Back und Albert Richard Constantin Spindler erweiterten die zwölfbändige Neuausgabe der Werke (Leipzig: Göschen 1823) zu Sämmtliche Werke durch sechs Bände unter dem zweiten Titel Sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften [...] (Leipzig: Fleischer 1830). 58 Die prätentiöse Bezeichnung im Haupttitel der Ausgabe „Sämmtliche Werke" wurde häufiger aus Gründen größerer Werbewirksamkeit verwendet, selbst für eine einbändige Edition. 59 Die 1839 bei Göschen in neun Bänden herausgekommene Stereotyp-Ausgabe mit dem Titel Sämmtliche Werke wurde von Hermann Schmidlin durch drei Bände ergänzt (Stuttgart 1839). 60 Nicht nur aus gedruckten Quellen wurde gesammelt, sondern auch aus ungedruckten, d.h. aus dem handschriftlichen Nachlaß Klopstocks. 61 Göschen hat offensichtlich aus dem ihm laut Vertrag mit der Witwe Klopstocks zustehenden Gesamtbestand ungedruckter Manuskripte nur eine auf 24 Oden und Epigramme (Werke, Band 7, 1804) beschränkte Auswahl getroffen und bezüglich der noch unveröffentlichten Prosatexte auf sein Verlagsrecht verzichtet. Anders ist es nicht zu erklären, daß Witwe und Stieftochter Klopstocks Friedrich Perthes einige kleine Prosatexte aus dem Nachlaß zur Veröffentlichung im ersten und fünften Heft der Zeitschrift Vaterländisches Museum (Juli/November 1810) überließen. 62 Aus der Beschaffenheit der hier publizierten Nachlaßstücke - disiecta membra unterschiedlichen Inhalts und unterschiedlicher Textsorte und Länge 63 - kann geschlossen werden, daß Klopstock unveröffentlichte größere bzw. selbständige Texte nicht hinterlassen hat. Unter seinen Manuskripten, die dem Brand von 1842 in Hamburg zum Opfer fielen, haben sich vermutlich keine befunden, die unbekannte Werke enthielten, aufgrund deren die Charakteristik von Klopstocks (Euvre anders ausgefallen wäre. 57

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63

Zum Messias (vgl. Klopstock, HKA, Werke IV 6, S. 4 4 6 - 4 5 5 ) , zu den Oden (vgl. Klopstock, Oden, hrsg. von Muncker/Pawel, Bd. 1, S. 2 3 3 - 2 3 8 ; Bd. 2, S. 167-174), zu seinen Hermann-Dramen (Klopstock, Werke, Bd. 8, 1804, S. 2 4 5 - 2 5 9 ; Bd. 9, 1806, S. 189-192; 401^107; Bd. 10, 1806, S. 165-175) sowie zu seinem biblischen Drama Salome (vgl. Klopstock, HKA, Werke V, S. 3 1 - 1 5 6 ) . Klopstock, Sämmtliche Werke, Bd. 1 3 - 1 8 (1-6). Sämmtliche Werke in Einem Bande. Leipzig 1840. Vgl. Klopstock, HKA, Addenda I, Nr. 52. Vgl. Klopstock, HKA, Addenda I, Nr. 51. Zum Inhalt von Schmidlins Ergänzungsbänden vgl. ebd., S. 15. Vgl. die Beschreibung von Erich Trunz in seinem „Nachwort" zu: Briefwechsel zwischen Klopstock und Herder, hrsg. von Sabine Jodeleit. In: Briefwechsel zwischen Klopstock und den Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Hrsg. von Jürgen Behrens. Neumünster 1964 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte. 3), S. 3 4 9 - 3 6 5 , hier S. 3 5 0 - 3 5 4 . Die Auswahl traf vermutlich Klopstocks Freund, Betreuer des Nachlasses und Herausgeber der postum erschienenen Bände der Werke, Christoph Daniel Ebeling. Vaterländisches Museum 1, 1810, St. 1, Juli, S. 1 - 5 : Unter dem Titel „Bruchstücke aus dem literarischen Nachlasse von Klopstock" sind abgedruckt: 1) „Warum Klopstock sein Leben nicht geschrieben habe" [Auszug aus Klopstocks Brief an Johann Arnold Ebert u.a., 3.9.1776; HKA, Briefe VII 1, Nr. 48]; 2) „März 1800"; 3) „1800"; 4) „Über den Messias"; 5) „1801" [vgl. HKA, Werke IV 3, S. 173f.]; St. 5, November, S. 5 8 7 - 5 9 2 : Unter der Überschrift „Noch einiges abgerissene aus Klopstocks Papieren": „1. Verschiedene Arten über Gott zu denken" (Abdruck einer fragmentarischen Handschrift zu dem bereits 1758 im Nordischen Aufseher veröffentlichten Aufsatz Von der besten Art über Gott zu denken), „2. Ein B r i e f (= Klopstock an Meta Moller, 2 0 . 7 . 1 7 5 2 ; vgl. HKA, Briefe II, Nr. 144).

Klopstock-Editionen

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Das bestätigt auch die erste, elf Jahre nach der Publikation der Nachlaßstücke im Vaterländischen Museum erschienene separate Auswahledition aus Klopstocks Nachlaß.64 Der Herausgeber Clodius, der während der Herstellung der Ausgabe der Werke als Vermittler und Unterhändler zwischen Klopstock und Göschen tätig gewesen war, entsprach mit dieser Ausgabe nicht allein seinem eigenen Klopstock-Bild, sondern mußte Rücksicht nehmen auf die Wünsche von Klopstocks Witwe und seiner Stieftochter (Margaretha Johanna von Winthem). Sie wollten durch ihre Auswahl aus dem nachgelassenen Briefbestand ein Bild von der Persönlichkeit Klopstocks schaffen, das ihren Vorstellungen näher war als dasjenige, das Klamer Schmidt mit seiner Sammlung von Briefen aus dem Freundeskreis Klopstocks vermittelt hatte.65 Entgegen dem Ratschlag Christian Stolbergs, den Witwe und Stieftochter zunächst mit der Herstellung der Nachlaßausgabe betraut hatten, die Grammatischen Gespräche von 1794 wieder abdrucken zu lassen und in den zweiten Band die handschriftliche, noch unpublizierte Fortsetzung derselben aufzunehmen mit der Briefauswahl als Anhang, machte Clodius diese zu einem Hauptteil der Edition (Bd. 1) und Klopstocks poetische Übersetzungen aus antiken Dichtern zu einem anderen (Bd. 2). Ähnlich wie Göschen bevorzugte Clodius den Lyriker vor dem Prosaisten. Die Übersetzungsproben Klopstocks, „unsers im lyrischen Ausdruck unbezweifelt größten originellsten und der deutschen Sprache, nach Luther, mächtigsten Dichters",66 verstand Clodius als mustergültige Beispiele nicht so sehr der strengen Übersetzung, als vielmehr der Nachdichtung. Von dem ungedruckten Teil der Grammatischen Gespräche bot er „als Probe" nur ein Bruchstück Die Verskunst67 Er teilte wohl die 1827 von A.W. Schlegel konstatierte „Besorgniß", dieses Werk möchte wie die Fragmentensammlung Über Sprache und Dichtkunst und die Gelehrtenrepublik „nur wenige Leser anlocken und noch wenigere festhalten."68 Für die Bevorzugung des Lyrikers waren nicht nur genieästhetische poetologische Motive wirksam, sondern gewiß auch philologische. Die nachgelassenen unveröffentlichten Prosastücke (Ergänzungen zu den Grammatischen Gesprächen, Übersetzungen aus antiken Prosaikern und Textstücke zum geplanten zweiten Teil der Gelehrtenrepublik) stellten erhebliche Ordnungs-, Datierungs- und Erläuterungsprobleme.69 Neben der Sammlung des zerstreut Gedruckten, der selektiven Veröffentlichung noch ungedruckten Textmaterials wurde die Editionsgeschichte nach Klopstocks Tod von einem dritten Anliegen bestimmt: der Kommentierung. Im Zentrum dieser Arbeit standen die Oden. Sie wurden wiederholt kommentiert, z.B. von Vetterlein, Gruber 64 65

66

67 68

69

[Klopstock], Auswahl. Klopstock und seine Freunde. 2 Bde. Halberstadt 1810. - Die Familie Klopstocks sah diese Ausgabe als unrechtmäßig an. Vgl. Klopstock, HKA, Addenda I, Nr. 106. Christian August Heinrich Clodius: Schlußwort [...] über die vorhergehenden Klopstockischen Übersetzungen und Dichterübersetzungen überhaupt. In: [Klopstock], Auswahl, Bd. 2, S. 3 1 5 - 3 9 4 , hier S. 328. [Klopstock], Auswahl, Bd. 2, S. 6 4 - 7 4 . August Wilhelm Schlegel: Der Wettstreit der Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche. 1798. Anmerkungen. 1827. In: A.W. von Schlegel: Sämmtliche Werke. Hrsg. von E. Böcking. Bd. 7. Leipzig 1846 (Vermischte und kritische Schriften. 1), S. 257. Vgl. Klopstock, HKA, Werke VII 2, S. 7 3 3 - 7 4 2 ; 8 8 5 - 8 8 7 .

298

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und Düntzer.70 Diese Kommentierungen (Sach- und Namenerläuterungen sowie Inhaltsparaphrasen), die dem virulenten Vorwurf der Dunkelheit zu begegnen suchten, gingen einher mit Verschlechterungen der Textwiedergabe, insbesondere auf den Ebenen der Rechtschreibung und der Zeichensetzung. Die Tatsache, daß Klopstock an den Oden-Bänden in der Göschen-Ausgabe der Werke in der einen oder anderen Weise mitgearbeitet hatte (indem er die Druckvorlage lieferte und Korrektur las wie im Fall der beiden ersten Bände oder indem er nur die Druckvorlage herstellte wie im Fall des postum erschienenen Bandes 7), ließ die Erforschung der Überlieferungsgeschichte und strenge Textkritik - sie wird meistens nur als subjektive Konjekturalkritik geübt als entbehrlich erscheinen. Auf der Illusion, daß der Autor dem Editor die kritische Arbeit weitgehend abgenommen habe, basiert noch Edward Schröders Urteil in seinen Klopstock-Studien (1892): „Die Recension der Klopstockschen Oden ist keine schwierige Leistung, für die Emendation giebt es so gut wie nichts zu thun - die Hauptaufgabe wird immer die Interpretation bleiben."71 Daß dieses Urteil zu rektifizieren ist, wird die Edition der Oden in der Hamburger Klopstock-Ausgabe zeigen.

4.

Kritische Ausgaben des Messias und der Oden

Eine verstärkte und selbständige Hinwendung zur Überlieferung setzte erst mit Richard Hamel und Franz Muncker ein. Auch in die Klopstock-Philologie hielt schließlich der Positivismus des 19. Jahrhunderts Einzug. Hamels Arbeit konzentrierte sich auf den Messias, seine Entstehung und die Veränderungen des Textes in den verschiedenen Fassungen. Kein anderes Werk bot ja ein so großes Untersuchungsfeld für das Studium von Klopstocks Sprach- und Verskunst wie dieses Lebenswerk. Wie kein anderer vor ihm hat Hamel mit Zielstrebigkeit und Ausdauer die „Textgeschichte des Messias", d. h. Entstehung und Veränderungen des Textes durch den Autor, wie sie in den verschiedenen Ausgaben manifestiert sind, eigens zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht. Zur Demonstration der Varianz bediente Hamel sich einer Technik der synoptischen Verszeilenkolumnierung,72 die, unabhängig von Hamel, Hans Zeller in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts für die textgenetische Darstellung von C. F. Meyer-Gedichthandschriften entwickelt hat und die sich seither als eine textgenetische Transkriptionsmethode herausgestellt hat, die in ihrer deskriptiven Annäherung an die handschriftlichen raumzeitlichen Änderungsverhältnisse und in ihrer Übersichtlichkeit anderen Methoden überlegen ist.73 In modifizierter Form wird Zellers textgenetische Transkriptionsmethode auch in der Hamburger Klopstock-Ausgabe angewandt (siehe unten). Hamels Interesse an der umfassenden und minutiösen Erkenntnis der Textänderungen des Dichters ist erklärtermaßen aus dem Geniekult entstanden; seinen Auf70 71 72 73

Vgl. Klopstock, HKA, Addenda I, Nr. 6, 70, 71. Vgl. ferner Huriebusch 1982, S. 141-143. Schröder 1892, S. 54. Vgl. Hamel, Klopstock-Studien, H. 3, S. 3 - 2 0 3 . - Vgl. ferner Klopstock, HKA, Werke IV 6, S. 197. Vgl. Hurlebusch 1996, S. 484. - Zeller 2003, S. 163.

Klopstock-Editionen

299

satz Geschichte der Entstehung und der Ausgaben des Messias beginnt er mit folgenden Worten: Es kommt zur richtigen Würdigung der Verdienste Klopstocks darauf an, die erste Gestalt aller seiner Poesien und in chronologischer F o l g e dann die Abänderungen und Verbesserungen zu betrachten. Man betritt s o allein die Werkstätte des sprachschaffenden Genius, als welcher Klopstock in fast einziger W e i s e dasteht. 7 4

Auch die Minuzien des Dichtens sind buchens- und bedenkenswert (also keine nugae), wenn sie die eines Genies sind. Allerdings hat Hamel sie nicht in Handschriften gesucht. Die Varianzdarstellungen sind bei ihm noch integraler Bestandteil seiner Klopstock-Studien. Seine aus diesen entstandene Ausgabe des Messias hat er von der Mitteilung von Textstellenänderungen freigehalten. Aber in seinem fortlaufenden Fußnoten-Kommentar, der übrigens auf den Erläuterungen von Cramer (Gesang I-X; XX) und von Boxberger fußen konnte,75 macht er von Verweisungen auf seine textgeschichtlichen Untersuchungen in den Klopstock-Studien ausgiebigen Gebrauch. Die differentielle Textgenetik blieb innerhalb der Sphäre philologischer Gelehrsamkeit, aus der sie seither auch nur einmal herausgekommen ist - in der Stuttgarter HölderlinAusgabe aber nur um den Preis deskriptiver Genauigkeit. Der historisierenden Einstellung kommt Hamel auch in der Textwiedergabe entgegen: der letzten Fassung aus der Göschen-Ausgabe (Bd. 3-6) von 1799 stellt er im Paralleldruck die erste gedruckte Fassung der Gesänge I bis III von 1748 gegenüber. Das war in der bisherigen Editionsgeschichte des Messias ein Novum, die Frucht der „textgeschichtlichen" Studien Hamels, die zur Erkenntnis der herausragenden Bedeutung der Erstveröffentlichung für die Wirkungsgeschichte des Messias führten.76 4.1.

Ein „unveralteter Schatz unsrer Lyrik": Munckers kritische Ausgabe der Oden

Der Parallelisierung von Textfassungen hat sich auch Muncker in seiner mit Jaro Pawel 1889 herausgegebenen „kritisch-historischen" Ausgabe der Oden bedient. Darin gleichen sich Hamels Afess/as-Ausgabe und Munckers Oden-Ausgabe.77 Im übrigen sind sie so verschieden, wie Studienausgabe und kritische Ausgabe sein können. An die Stelle des commentarius perpetuus tritt in der Oden-Ausgabe der kritische Apparat mit knappen Angaben zur Entstehungszeit und gegebenenfalls auch zum Entstehungsanlaß des jeweiligen Gedichts, mit Informationen über den jeweiligen Überlieferungs74 75

76 77

Hamel, Klopstock-Studien, H. 3, S. 1-69, hier S. 3. Vgl. Cramer, Klopstock. Er; und über ihn, Tl. 2, S. 21-258 (Neuaufl. S. 16-279); Tl. 3, S. 26-307; Tl. 4, S. 107-418; Tl. 5, S. 3-257; Cramer, Klopstock, Tl. 2, S. 312-440. - Klopstock, Werke, hrsg. von Boxberger, Th. 1-4. Vgl. zuletzt Klopstock, HKA, Werke IV 3, S. 1-66. Klopstock, Oden, hrsg. von Muncker/Pawel. - Zu Munckers Anteil an der editorischen Arbeit vgl. Schröder 1892, S. 54: „Muncker hat in weitherziger Collegialität den eifrigen Variantensammler Pawel mit auf den Titel genommen, obwohl er selbst die Hauptsache gethan hat und die Verantwortung allein trägt."

300

Klaus Hurlebusch

bestand und der Verzeichnung der Lesarten bzw. Varianten. Statt der umfangreichen biographischen bzw. literaturgeschichtlichen Einleitung in Teil 3 und 4 der von Hamel herausgegebenen Werke (Oden, Epigramme und geistliche Lieder bzw. Hermanns Schlacht) begnügt sich Muncker mit einer knappen editionsphilologischen Vorrede vor jedem der beiden Bände (nach dem Vorbild der praefatio in Ausgaben der klassischen Philologie). In ihr referiert er knapp die vorausgegangenen Oden-Editionen und gibt Auskunft über die materialen Grundlagen seiner Ausgabe und ihre Editionsprinzipien. Muncker wandte im wesentlichen Lachmanns editorische Prinzipien an, wie er das schon bei der Erarbeitung der 3. Auflage der Lessing-Ausgabe getan hatte. 78 Seine Vorrede im ersten Band der dritten Auflage von Lessings Sämtlichen Schriften ist ergänzend heranzuziehen, will man seine Editionstheorie ausführlich kennenlernen. Seine „kritisch-historische" Ausgabe unterscheidet sich von den vorkritischen Ausgaben (z.B. von Vetterlein, Gruber, Boxberger) vor allem methodisch: durch konsequente Erschließung und Auswertung des Überlieferungsmaterials, durch größere Annäherung der Textwiedergabe an die zugrundegelegten Handschriften und Drucke und entsprechend durch Einschränkung der Eingriffsfreiheit des Editors auf die Korrektur von Fehlern; inhaltlich unterscheidet sie sich durch Verzicht auf Erläuterungen von Namen, Sachen und Besonderheiten des Sprachgebrauchs. Die Vorzugsstellung der Erläuterungsphilologie gegenüber der Quellenphilologie, die die Geschichte der Klopstock-Editionen nach der Göschen-Ausgabe beherrschte, ist hier umgekehrt: Es dominiert in der Oden-Ausgabe die Quellenphilologie. Die wichtigsten Prinzipien, die in der Vorrede formuliert sind, betreffen spezifisch quellenphilologische bzw. editionsphilologische Tätigkeiten: (1) Abgrenzung und Sichtung des Überlieferungsbestandes, (2) Ermittlung des Textbestandes, (3a) Wahl der Textgrundlage und (3b) Textkonstitution, (4a) Anordnung der Texte, (4b) Aussagen zur Entstehung und (5) Auswahl von Lesarten bzw. Varianten. Da bereits andernorts Munckers Oden-Ausgabe ausfuhrlich beschrieben und ihr ein Ehrenplatz in der Geschichte der Klopstock-Editionen zugewiesen wurde, 79 sei hier nur kurz auf Munckers Wahl der Textgrundlage (3a), seine Textkonstitution (3b), seine Anordnung der Texte sowie seine Behandlung von Lesarten bzw. Varianten eingegangen. Wo zwischen mehreren, gleichwertig bezeugten Textfassungen für die Textwiedergabe zu wählen war - etwa bei Gedichten, die in den beiden von Klopstock veranlaßten und überwachten CWe/i-Ausgaben (1771 und 1798) enthalten sind - hat Muncker sich immer für die Fassung der Göschen-Ausgabe von 1798 als Textgrundlage entschieden. Auch die Herausgeber der vorkritischen Ausgaben haben die Fassung letzter Hand bevorzugt. Wie diese Editoren war Muncker offenbar der Ansicht, daß die letzte dichterische Gestalt des Autors einen höheren individuellen Ausdrucks- oder Authentizitätswert darstellt als die früheren Fassungen. Auch diese Annahme ist im ererbten 78

79

Beim Erscheinen der CWen-Ausgabe lagen 4 Bände der 3. Auflage von Lessings sämtlichen Schriften (Hrsg. von Karl Lachmann. 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage. Besorgt durch Franz Muncker) vor. Vgl. Hurlebusch 1982, S. 143-154.

Klopstock-Editionen

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Genie- und Entelechiegedanken begründet. Danach wandelt das Genie sich nicht nur mit der Zeit, sondern entwickelt sich in dem Sinne, daß sein - vorausgesetztes - unwandelbares, überzeitliches Wesen in den Wandlungen der Zeit Gestalt gewinnt, mit einem geschichtsträchtigen Wort benannt: sich bildet. Es ist ein metaphysischer oder substantialistischer Geniebegriff, der hier den Philologen als Richtschnur ihrer Entscheidung für die letzte Fassung diente. Entsprechend veranschaulicht die entstehungschronologische Reihenfolge der Gedichte (4b) das geistige „Werden und Wachsen des Dichters", 80 nicht bloß seinen Wandel. Das bedeutete einen merklichen Schritt zur Historisierung bzw. Objektivierung der Betrachtungsweise, denn wie auch immer die Gedichte unter welchen Gesichtspunkten auch immer zu beurteilen sind, durch die entstehungschronologische Anordnung gelten sie alle als gleichwertig, ob sie nun „tadellose Meisterstücke" oder nur Bruchstücke sind. D.h.: Sie gelten als gleich unmittelbar zum Autor. Sie verdienen folglich die gleiche philologische und editorische Sorgfalt und erhielten sie auch vom Herausgeber - bis zur Treue gegenüber Rechtschreibung und Interpunktion, deren Eigentümlichkeiten bewahrt wurden. Diese Wende zum Objektivismus in der Philologie hatte einen ähnlichen übergeschichtlichen Motivationshintergrund wie die Entstehung des Historismus, etwa bei Ranke, die ohne geschichtstheologische Sinnhaftigkeitsvoraussetzung der Epochen und Entwicklungen („Über allem schwebt die göttliche Ordnung der Dinge") nicht angemessen zu verstehen ist. In der Philologie verbürgt die Objektivität der wissenschaftlichen Methode die Unmittelbarkeit aller Texte des Autors zu seinem vergöttlichten Genie, in der Historie die Unmittelbarkeit der Epochen zu Gott. Muncker hat sich bei der entstehungschronologischen Anordnung der Gedichte offenbar vom eigenen autorzentrischen Werkverständnis leiten lassen und nicht von Klopstocks chronologischer Ordnung seiner letzten CWe«-Sammlung in der GöschenAusgabe, denn allzu häufig ist der Editor von der Reihenfolge des Autors abgewichen durch Umordnung von Texten aufgrund von Entstehungszeugnissen (z.B. in Briefen) oder durch die chronologische Einordnung von Texten und Textfassungen, die Klopstock in seine Sammlungen nicht aufgenommen hat. Paradoxerweise hat also die im Geniegedanken begründete Steigerung des Autorgeistes zu einem übergeschichtlichen Wesen die Historisierung der Gedichte im Sinne einer Objektivierung des Erkenntnisverhältnisses zu ihnen als zu prinzipiell gleichwertigen Zeugnissen im Gefolge. Nach dem analogen Schema hat Goedeke die Jugendwerke Schillers als Zeugnisse der geistigen Entwicklungsgeschichte seines Autors aufgewertet. 81 Wenn auch die Vorzugsstellung, die der letzten Fassung eingeräumt wird, außerhistorisch begründet ist, hat Muncker die Bände 1, 2 und 7 der Göschen-Ausgabe (der Ausgabe letzter Hand) einer bibliographischen und druckgeschichtlichen Untersuchung als Grundlegung textkritischen Entscheidens unterzogen, die sich als wegweisend in der Klopstock-Philologie herausstellte. Munckers Ergebnisse wurden von der

80 81

Franz Muncker: Vorrede. In: Klopstock, Oden, hrsg. von Muncker/Pawel, Bd. 1, S. V. Vgl. Hurlebusch 1996, S. 480.

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analytischen Druckforschung innerhalb der Hamburger Klopstock-Ausgabe in einer Reihe von Aspekten bestätigt, so z.B. seine Antwort auf die textkritische Kernfrage, welche Drucke als kritisch wertvolle fur die Textkonstitution herangezogen werden können. 82 Die im Verhältnis zu diesen Bänden früheren Fassungen hat Muncker in der Regel nicht in lesbarer Form wiedergegeben - mit Ausnahme von vier Fällen, wo er die edierte Fassung der Göschen-Ausgabe mit der Wiedergabe einer repräsentativen Frühfassung parallelisiert hat sondern von ihnen nur eine Auswahl einzelner Lesarten bzw. Varianten in den Fußnoten verzeichnet, „welche dem Ohre vernehmbar sind". 83 Divergenzbefunde der Orthographie und der Interpunktion wurden als „gleichgültige Unterschiede" ausgelassen. Auf diese Fassungen, die nicht in extenso abgedruckt sind, ist ein merklich herabgesetzter Genauigkeitsmaßstab der Wiedergabe angewandt. Diese nichtletzten Fassungen sind hier in doppelter Hinsicht zu kurz gekommen: durch die auf die Divergenzbefunde verkürzte Verzeichnungsweise (negativer Lesarten-Apparat) und durch die Auswahl nur der substantiellen Textabweichungen. Der Varianten- bzw. Lesarten-Apparat ist faktisch, entgegen seinem Anspruch, nicht vollständig. Mit seiner Hilfe sind die Fassungen, z.B. der ersten Oden-Ausgabe Klopstocks von 1771, nur partiell, nämlich nur im Wortlaut, zu rekonstruieren. Ein erheblicher Mangel ist das vor allem hinsichtlich der Interpunktion des Autors. Die Vernachlässigung der Zeichensetzung und Rechtschreibung und überhaupt des jeweiligen synchronischen Textzusammenhangs der nicht wiedergegebenen Fassungen zugunsten des diachronischen sowie die Form des Fußnotenapparates sind Zeichen einer Orientierung des Herausgebers am Editionstypus der klassischen Philologie, die es hauptsächlich mit autorheterogener, nichtautorisierter Überlieferung zu tun hat. Diese Orientierung ist die wesentliche Ursache für die gravierendsten Mängel des Apparates. Anderseits beruht darauf Munckers Haltung des selbstsicher urteilenden Editors, der zu wichtigen Fragen, z.B. welchen textkritischen Wert Handschriften oder Drucke haben oder welche Überlegungen zu Eingriffen in den zugrundegelegten Text gefuhrt haben, entweder gar nichts sagt oder nur in kürzester Form ohne Angabe von Belegen und Begründungen. Dort, wo häufig von der Sache her umständliche Erwägungen von Indizien geboten sind, wie im Falle der Aussagen über die Entstehung eines Gedichtes, erscheint die Lakonie des Herausgebers besonders deplaziert. Seine knappen Aussagen geben zuweilen mehr Rätsel auf, als sie lösen. Ein Jahr vor seiner CWe«-Ausgabe erschien Munckers bis heute nicht ersetzte KIopstock-Biographie. 84 In der Vorrede behauptet der Biograph, daß „richtige Erkenntnis und Würdigung" von Leben und Werk dieses Dichters nur in und durch Wissenschaft, z.B. eine „wissenschaftliche Biographie" gewonnen und vermittelt werden. Munckers 82

83 84

Für Bd. 1 und 2 die Folioausgabe (= Quartausgabe „G") und die Quart- und 1. Oktavausgabe (= Oktavausgabe „gi (a-c)"); für den postum erschienenen Band 7 der 1. Druck der Oktavausgabe „gi". - Vgl. Hurlebusch 1982, S. 147-149. Klopstock, Oden, hrsg. von Muncker/Pawel, Bd. 1, S. V. Muncker 1888.

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„Klopstock" ist ein Beispiel für die Wissenschaftsgläubigkeit von Germanisten in der Gründungsphase dieses Faches. Schon in den ersten Sätzen der Vorrede skizziert er das Bild eines Dichters, der „uns längst fremd, zum Teil sogar ungenießbar und unverständlich geworden" 85 ist. Das heißt: Nach Auffassung seines Biographen ist dieser Dichter nur noch historisch zu verstehen: „Wir sprechen heutzutage im allgemeinen oft noch das Lob nach, das frühere Bewunderer ihm gezollt haben, aber wir freuen uns seiner Werke nicht mehr unmittelbar." 86 Wäre das tatsächlich der Eindruck des OdenLesers Muncker gewesen, wäre dieser wohl nicht zum Herausgeber einer kritischen Oden-Ausgabe geworden. Der Klopstock-£i#/o/· widerspricht denn auch dem Klopstock-Biographen, indem er sozusagen aus der Rolle des distanziert betrachtenden Literaturhistorikers fällt und den Oden des Dichters „eine nie verwelkende Frische und eine nie ermattende Kraft" attestiert, „die uns heute noch ebenso zu rühren und zu begeistern vermag wie die Leser vor hundert und mehr als hundert Jahren." Das heißt: Sie oder jedenfalls viele von ihnen sind noch unmittelbar zugänglich, nicht bloß historisch. Der Herausgeber wagt in seiner Vorrede sogar die kühne, völlig unhistorische Prognose: der „Grundstock dieser Gedichte" werde „stets ein unveralteter Schatz unsrer Lyrik" bleiben. 87 Die Oden sind wissenschaftlich ediert worden, weil sie allein unter Klopstocks Werken die Wissenschaft zu ihrem Verständnis noch nicht brauchten. Auch in diesem Fall bedeutet die kritische Gesamtausgabe - hier aller Oden, deren Muncker habhaft werden konnte - 8 8 nicht Ehrenbegräbnis des Autors (wie Philologieverächter gerne spotten), sondern Zeugnis dafür, daß er - auch außerhalb der Philologie - noch lebendig ist, jedenfalls mit einem lyrischen Teil seines Werkes. In der „kritisch-historischen" Ocfe/i-Ausgabe kommt paradoxerweise zum Ausdruck, daß nur die Wirkungsgeschichte des lyrischen Dichters für Klopstock günstig, d.h. auch ohne tätige Hilfe der Germanistik, verlaufen ist. An diesem Befund hat sich seither im wesentlichen nichts geändert, lediglich die Anzahl der Gedichte, denen ein Platz im „ewigen Vorrat deutscher Poesie" (R. Borchardt) zuerkannt werden kann, ist geringer geworden.

5.

Die Hamburger Klopstock-Ausgabe (HKA)

Die Geschichte der gelehrten Studien über Klopstock und sein Werk enthält etwa seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die wiederkehrende Äußerung des Wunsches nach einer kritischen Gesamtausgabe, wie sie Lessing, Schiller, Herder erhielten. Michael Bemays, der, wie Muncker in der Vorrede seiner 0 . TEI Consortium . Ein Forum filr diese Zusammenarbeit bietet die Zeitschrift Markup Languages: Theory and Practice, hrsg. von Β. Tommie Usdin und C.M. Sperberg-McQueen. Vgl. Walker 1999.

Elektronische Edition

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ligen Betriebssystems eines Computers. Früher gängige Systeme waren ζ. B. ASCII 1 4 oder EBDIC; 1 5 mit ihnen konnten 128, in erweiterten Versionen 256 Zeichen definiert werden. Inzwischen ist Unicode, in dem über 95000 Zeichen definiert sind, der Standard für moderne Betriebssysteme geworden. 16 Insbesondere für Editionen, die eine relativ kleine Zeichenkodierung wie ASCII verwendeten, stellte sich schnell das Problem, daß Zeichen der zu kodierenden Vorlage nicht im Zeichenkode vorhanden waren und deshalb ergänzt werden mußten. Allerdings konnten keine Ergänzungen auf der Ebene der Zeichenkodierung vorgenommen werden, da diese auf der Ebene des Betriebssystems vorgenommen wird. Viele Textauszeichnungssysteme haben deshalb die Möglichkeit, zusätzliche Zeichen zu kodieren. Für elektronische Editionen stellt sich dabei die Frage, ob die so kodierten Zeichen auch angezeigt werden können und ob der Leser nach ihnen suchen kann.

3.

Elektronische Editionen

Die Geschichte der elektronischen Editionen ist über weite Strecken, wie schon erwähnt, keine Geschichte in dem Sinne, daß sich die späteren Editionen in ihrer Gestaltung positiv oder negativ auf vorangehende Ausgaben beziehen. Vielmehr hat der Stand der oben aufgezählten Felder, z.B. Softwareentwicklung oder editionsphilologischer Reflexionsstand, deren Gestalt weitgehend bestimmt. Vergleichbar wird diese Reihe durch den Bezug auf die Felder und ihre Innovationen und Rückschritte. Die erste deutschsprachige elektronische Edition eines umfangreichen literarischen Korpus ist meines Wissens die Digitalisierung der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken durch Randall L. Jones und Helmut Schanze. 17 Die Edition übernahm Goethes Texte, verzichtete aber auf die Kommentare. Ausgeliefert wurde sie auf insgesamt 50 5'/4"-Disketten. Das Programm WordCruncher, das unverzichtbar war, um die Ausgabe lesen und verwenden zu können, mußte noch zusätzlich erworben werden. Trotz dieser offensichtlichen Einschränkungen wies diese Edition bereits typische Vorteile philologisch betreuter elektronischer Editionen auf: Die Texte waren relativ sorgfältig korrigiert worden, und das leistungsfähige Programm WordCruncher erlaubte sehr schnelle und auch schon recht komplexe Abfragen. Das Programm WordCruncher wurde ursprünglich an der Brigham Young University entwickelt, wo man es fur Bibelanalysen verwendet hat. Es besteht aus einem Programm zur Indexerstellung, das die vom Editor aufbereiteten Dateien in ein binäres Format kompiliert, und einem Leseprogramm, WC View. Das WordCruncher-spezifi14

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17

American Standard Code for Information Interchange, 1963 als X 3 . 4 - I 9 6 3 von der US-amerikanischen, heute ANSI genannten Standardisiemngsorganisation definiert. Extended Binary Coded Decimal Information Code, etwas früher als ASCII entstanden und von der Firma IBM geschaffen und verwendet. Vgl. The Unicode Consortium 2000. Die aktuellste Version, zur Zeit 4.0, ist im Internet einzusehen: . Goethe 1989. Heute verfügbar mit einer Folio Views-Oberflache: Goethe 1999.

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Fotis Jannidis

sehe proprietäre Textauszeichnungsformat,18 das eine erweiterbare und für die Wortsortierung konfigurierbare erweiterte ASCII-Zeichenkodierung verwendet, kennt lediglich drei logische Ebenen und - Zugabe in einer späteren Version - Hyperlinks. Das Leseprogramm erlaubt neben der einfachen Zeichenkettensuche die Nachbarschaftssuche,19 die Suche nach trunkierten Zeichenketten mittels Platzhaltern20 und eine Wortlistenkombinationssuche zur Recherche mit Booleschen Operatoren.21 Zusätzlich dazu enthält es ein Statistikmodul, mit dem einfache Häufigkeitsanalysen möglich sind. Diese Möglichkeiten des Information Retrievals sind teilweise bis in die Gegenwart nicht wieder erreicht worden. Auch die erste kritische elektronische Edition, die im deutschen Sprachraum erstellt wurde, verwendet WordCruncher: die Ausgabe des Nachlasses von Robert Musil, herausgegeben von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frise.22 Es handelt sich um eine der wenigen Editionen, die nur im elektronischen Format vorliegen. Die hohen Kosten für den Druck der rund 10000 Seiten waren eine wesentliche Motivation gewesen, eine digitale Edition in Angriff zu nehmen. Hauptanliegen der Edition war die Vermittlung der Textinformation und der wichtigsten Autoreingriffe (Streichung, Einfügung usw.), nicht aber die Wiedergabe des Layouts der Manuskripte. Dazu wäre WordCruncher auch wenig geeignet gewesen, da es den zeichenorientierten Bildschirm im Format 80 χ 25 der Zeit vor den graphischen Benutzeroberflächen verwendet.23 Alle diakritischen Zeichen wurden als spezifische Zeichenketten definiert; allerdings sind diese Zeichenketten für WordCruncher nicht unterscheidbar von den anderen, so daß die so kodierte Information nicht automatisch ausgewertet werden kann, d.h. man kann z.B. nicht nur im gestrichenen Text einer Seite suchen. Diese Einschränkung macht eine Schwäche des verwendeten Programms aus, das aber dafür die oben beschriebenen zahlreichen Suchmöglichkeiten aufweist. Tatsächlich ist es erst mit den SGML/XML-basierten Programmen möglich, das jewei-

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.Proprietär' ist ein Textauszeichnungssystem, wenn der damit kodierte Texte nur von einem spezifischen Programm verarbeitet werden kann und auch die Definition des Codes im Besitz einer Firma sowie unveröffentlicht ist. Gemeint ist damit eine Suche nach einer Zeichenkette in definiertem Abstand zu einer anderen. Also eine Suche in der Form „hun*", in der * der Platzhalter für beliebig viele Zeichen ist, und die als Ergebnis „hundert", „hungrig" usw. ergibt. Der Anwender kann Worte aus der Wortliste, in der alle im Text vorhandenen Worte alphabetisch aufgelistet sind, in eine Suchliste einfügen, also eine Art Synonymenliste für seinen Suchbegriff erstellen. Zwei solcher Listen können wiederum in der Abfrage kombiniert werden. Die Kombination der Wortlisten ermöglicht Abfragen in der Logik Boolescher Operatoren (UND, ODER, NICHT). Musil, Nachlaß 1992. Zu den Prinzipien der Edition vgl. Friedrich 1991. Tatsächlich wird die Edition in zwei Formaten ausgeliefert, einmal im WordCruncher-Format und einmal mit einer eigens für die Edition entwickelten, dokumentenorientierten Oberfläche, deren Textretrieval-Möglichkeiten jedoch weit hinter denen von WordCruncher zurückbleiben, wenn sie auch die Metainformationen besser erschließt. Nach der Einführung von Windows 3.1 entstand auch eine WordCruncher-Version für diese neue Oberfläche, allerdings konnte sie sich niemals so durchsetzen wie die DOS-basierte Version. Neben der ohnehin stets sehr restriktiven Lizenzpolitik war wohl die mangelnde Stabilität ein wesentliches Argument gegen die Windows-Version.

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lige Textauszeichnungssystem durchgehend und für große Textmengen auch in die Textrecherche einzubeziehen.24 Zwei technische Entwicklungen veränderten die Rahmenbedingungen für elektronische Editionen: Die Etablierung von Microsoft Windows als graphischer Benutzeroberfläche für intel-basierte Rechner25 und die allgemeine Verfügbarkeit von CDROM-Laufwerken. Mit MS-Windows konnten nun endlich auch die Benutzer von IBM-kompatiblen Computern die Vorzüge einer graphischen Benutzeroberfläche genießen: die nahtlose Verschmelzung von Graphik und Text. Für die Präsentation elektronischer Editionen ergaben sich dadurch ganz neue Möglichkeiten, Bilder von Manuskriptseiten mit Text zu verbinden. Außerdem änderte sich mit MS-Windows die Art und Weise, wie der Arbeitsspeicher verwendet wurde: Die Einschränkung auf 640 KB und einzelne 64k-Blöcke wurde aufgehoben, wodurch sowohl die Index-Erstellung erleichtert als auch für das Leseprogramm größere Texte verwaltbar wurden. Durch die allgemeine Verfügbarkeit von CD-ROM-Laufwerken hatten elektronische Editionen ein Distributionsmedium, mit dem Texte sehr kostengünstig, in einem für philologische Interessen brauchbaren Umfang und gut geschützt gegen Fehler des Trägermediums verteilt werden konnten.26 Am schnellsten wirkten sich die neuen Möglichkeiten auf die Leseausgaben aus. Es entstanden zahlreiche elektronische Texte, die in ihrer Präsentation häufig genug das Buch imitierten. Sie setzten die inzwischen für die elektronische Lektüre entwickelten Metaphern - Lesezeichen, Notizzettel - im graphischen Retrodesign um.27 Die Buchmetapher mit allen Zusätzen hat den Vorteil, daß sie auch Lesern, die wenig Computererfahrung haben, einen schnellen Einstieg in den Umgang mit dem neuen Medium ermöglicht. Die schnelle Verbreitung des Internets hat allerdings sehr viele bereits an die für Buchbenutzer neue Metapher der Schriftrolle gewöhnt. Erwähnenswert ist von diesen Leseausgaben die kommerziell publizierte Reihe Digitale Bibliothek von DirectMedia. Sie setzt ganz bewußt auf die wesentliche Stärke des Speichermediums CD-ROM: die Masse. Ihr erster Band enthielt auf rund 70000 digitalen Seiten einen durchaus repräsentativen Querschnitt durch die kanonisierte Literatur von Lessing bis in die frühe Moderne.28 Die Digitale Bibliothek verwendet ein selbstentwickeltes Programm mit einer entsprechenden proprietären Kodierung,

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Es gibt ein sehr leistungsfähiges Textanalyseprogramm für philologische Zwecke, TACT, das aber lediglich relativ kleine Texte verarbeiten kann. Die filr linguistische Korpusanalysen entwickelten Programme dagegen sind für editorische Zwecke nur bedingt geeignet. In Deutschland haben die Rechner der Firma Apple nie die Rolle gespielt, die sie etwa im Erziehungssystem der U S A hatten. Insgesamt ist der Einfluß US-amerikanischer Vorbilder auf die Geschichte der deutschen Editionen wohl ziemlich gering; viel wichtiger scheinen der Stand der jeweiligen Kontexte zu sein, insbesondere der Standardsoftware, z.B. WordCruncher, FolioViews oder Dynatext, sowie die editorischen Ziele. Die Edition des Musil-Nachlasses wurde auch schon auf einer CD-ROM verteilt. Stellvertretend genannt seien Reclams Reihe mit gelben Bänden auf C D und Die deutschen Klassiker. Xlibris: München 1995. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Die Basisbibliothek erschien 1997. Im Jahre 2000 erschien eine Neuauflage mit weiteren 3 0 0 0 0 Seiten als Studienausgabe.

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die dem Leser nicht zugänglich ist. Die Darstellung des Textes auf dem Bildschirm ist seitenorientiert, imitiert also das Buch, wodurch auch die Zitierfähigkeit gewährleistet wird. Zusammen mit den inzwischen deutlich verbesserten Grafikkarten und Bildschirmen ist dadurch eine Lektüre am Monitor möglich - wenn auch immer noch nicht mit der eines gedruckten Textes vergleichbar. Der eigentliche Vorteil liegt aber in der ausgesprochen leistungsfähigen und schnellen Suchmaschine, die die große Textmenge erschließt. Neben den Standardmerkmalen (Trunkierung, Boolesche Operatoren, Näheoperatoren, Einschränkung der Suche auf bestimmte Texte) kann man auch Abfragen mit regulären Ausdrücken29 formulieren. Die Trefferliste ist weiterbearbeitbar, man kann also nach einer Suche die Trefferliste um Fehltreffer bereinigen und das Ergebnis abspeichern. Zwar läßt sich die Suche auf spezifische Texte oder Textgruppen eines Autors einschränken, aber eine Suche in selbstzusammengestellten Textgruppen (ζ. B. alle Romane) ist nur sehr aufwendig möglich, bestimmte Merkmale, wie die Entstehungszeit der Texte, sind nicht entsprechend kodiert und lassen sich daher auch nicht in der Suche verwenden. Die Ausgabe weist im Vergleich zu den meisten von Philologen erzeugten Editionen eine höhere Fehlerquote auf. Das Korrigieren von digitalisierten Texten ist eben ein arbeitsintensiver und entsprechend teurer Prozeß. Dieser Nachteil ist in gewisser Weise durch die Möglichkeit einer unscharfen Suche ausgeglichen worden. Auch die nächste zu erwähnende Edition ist aus der Retrodigitalisierung bereits vorliegender, gedruckter Texte entstanden. Auch sie ist nicht das Produkt von Philologen, sondern vielmehr kommerzieller Interessen: Die elektronische Version der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken.30 Der Verlag Chadwyck-Healey hatte sich schon seit einigen Jahren auf sehr umfangreiche Digitalisierungsprojekte konzentriert. Die exorbitanten Preise der Editionen waren nur durch auf Universitätsbibliotheken spezialisierte Vertreter und die rigorose Beschränkung auf die Nationalklassiker31 vermittelbar. Die elektronische Weimarer Ausgabe enthält neben dem kompletten Text der gedruckten Edition auch noch die Biedermannsche Sammlung der Gespräche mit Goethe. Der Text ist entsprechend einer vom Verlag entwickelten DTD in SGML kodiert. Der Benutzer kann auf diesen SGML-kodierten Text jedoch nicht zugreifen, sondern nur auf die kompilierte Form des Textes, die mit dem Programm Dynatext zusammen von Chadwyck-Healey vertrieben wird.32 Ein wesentlicher Vorteil des SGML-Stan-

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Reguläre Ausdrücke ermöglichen die kompakte Beschreibung einer Klasse von Zeichenketten; die bekannten Platzhalter bei Suchen sind die einfachste Form von regulären Ausdrücken. So kann man mit dem Ausdruck „h?t" eine Gruppe von Zeichenketten beschreiben, die mit „h" beginnen, mit „t" aufhören und deren Mittelbuchstabe beliebig ist. Vgl. Friedl 1997. Goethe: Weimarer Ausgabe. 1995. Für den deutschsprachigen Markt wurden die jeweils einschlägigen historisch-kritischen Editionen von Goethe, Luther und Kafka digitalisiert und mit der weitgehend gleichen Oberfläche vertrieben. Aus Geschwindigkeitsgründen verwenden nahezu alle Textretrieval-Programme ein eigenes, binäres Datenformat. Selbst wenn der Editor den Text in einem Format wie SGML/XML erstellt, so ist dieser Text für den Anwender nur dann zugänglich, wenn das Retrieval-Programm über eine entsprechende Exportfunktion verfügt oder der Originaltext mitausgeliefert wird. Dynatext erlaubt lediglich den Export von wenigen Seiten des SGML-kodierten Textes.

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dards ist fur die Käufer der Edition also nicht vorhanden: die langfristige Verfügbarkeit des Texts. Allerdings ist ein weiterer Vorteil von besonderem Nutzen: Der Anwender kann in seinen Suchabfragen gezielt die Struktur der Auszeichnung verwenden. Die Benutzerschnittstelle ist so gestaltet, daß die wichtigsten Strukturmerkmale (Band, Gattung) über Menüs in die Abfrage integriert werden können. Über eine sogenannte Expertensuche können außerdem mittels einer einfachen Abfragesyntax alle weiteren Suchen formuliert werden. So kann man etwa gezielt in Streichungen suchen, die von einer bestimmten Hand vorgenommen wurden. Auf diese Weise kann sowohl der Gelegenheitsbenutzer als auch der Spezialist schnell zu Ergebnissen kommen. Entsprechend dem selbstgesteckten Ziel, eine bereits vorliegende Edition zu digitalisieren, wurden alle Einschränkungen der Weimarer Ausgabe übernommen: Der problematische II. Teil mit den naturwissenschaftlichen Schriften ebenso wie der völlige Verzicht auf eine Wiedergabe der Handschriften. Grafiken sind lediglich integriert, um schwierige Zeichenkonstellationen der Vorlage abzubilden. Die Liste der Treffer bei einer Suche wird entsprechend dem Vorbild eines gedruckten Keyword in Kontext wiedergegeben; d.h. der Benutzer sieht auf den ersten Blick lediglich wenige Worte Kontext, und der Umfang dieses Kontextes läßt sich nicht frei einstellen. Allerdings kann zusätzlich für jede einzelne Fundstelle ein separates Fenster mit dem Suchwort im Kontext des Völltexts geöffnet werden. Die elektronische Weimarer Ausgabe hat bei ihrem Erscheinen die Vorteile einer gut geplanten SGML/XML-kodierten Ausgabe vor Augen gefuhrt. Allerdings sind die Lizenzkosten für das verwendete Programm Dynatext so astronomisch, daß sich dessen Verwendung für die meisten philologisch initiierten Projekte verbietet. Deshalb ist die Studienausgabe der Werke des jungen Goethe einen anderen Weg gegangen: Sie liefert den gesamten Text doppelt aus, einmal zusammen mit dem Retrievalprogramm Folio Views und dann nur als Textdatei im TEI-Format. 33 Diese Hybridausgabe, deren elektronischer Teil siebenmal so umfangreich ist wie der gedruckte, enthält neben den Texten Goethes zahlreiche Kontexte, z.B. spätere Texte Goethes, Berichte über Goethe, wichtige Bezugstexte, ζ. B. die Bibel oder Hederichs mythologisches Lexikon. Neben dieser Materialfülle zeichnet sich die Ausgabe durch die enge Verknüpfung von Text und Kontext aus. Das Retrievalprogramm FolioViews, das eigentlich für die Informationsverwaltung in der Geschäftswelt entwikkelt worden ist, hat sich aufgrund seiner sehr leistungsfähigen und schnellen Suchmaschine als besonders brauchbar für philologische Zwecke erwiesen. 34 Seine Mehrfenstertechnik erlaubt es, auf den Text mehrere Ansichten gleichzeitig zu haben: das Inhaltsverzeichnis (also die Struktur des Textes), einen Ausschnitt aus dem Text, eine

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Der junge Goethe in seiner Zeit. Vgl. dazu auch Eibl/Jannidis/Willems 1999. Die elektronische Nietzsche- und die Wittgenstein-Edition verwenden ebenfalls FolioViews zur Publikation der Texte. Allerdings führt die Geschichte des Programms deutlich vor Augen, daß digitale Editionen die Abhängigkeit von spezifischen Programmen vermeiden müssen: Zwar läuft das Programm noch unter modernen Windowsversionen, es wird aber nach einem Besitzerwechsel seit längerer Zeit nicht weiterentwickelt.

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Positionsangabe, die darüber informiert, wo im Verhältnis zum Gesamttext sich der Ausschnitt befindet, sowie eine Fundsteilenliste mit Positions- und Kontextinformationen. Insbesondere bei der Zusammenstellung verschiedener Materialien in einer Edition erweisen sich Programme wie WordCruncher oder FolioViews, die die Metapher der Schriftrolle bei der Textwiedergabe verwenden, als Herausforderung für die gestaltenden Editoren, da der Leser sehr schnell den Überblick verliert und durch entsprechende Orientierungspunkte geleitet werden muß. Dabei muß die Form der Orientierung sich wiederum anschließen an die habitualisierten Praktiken im Umgang mit dem Medium. Diese Praktiken haben sich durch die schnelle Verbreitung des Internets nach 1993 verändert und stabilisiert. Der Oberfläche der historisch-kritischen Keller-Ausgabe (HKKA), herausgegeben von Walter Morgenthaler, ist anzumerken, daß ihre Entwicklungszeit viele der hier genannten Entwicklungen überspannt: Sie ist eine Mischung aus einer DOS- und einer Windows-Anwendung und übernimmt nur wenige der genannten Standards. 35 Die HKKA ist wahrscheinlich die innovationsreichste deutschsprachige elektronische historisch-kritische Edition, die zur Zeit entsteht und aufgrund ihrer Publikation auch schon beurteilt werden kann. Ihre Basis ist ein Text, der - im Gegensatz zu den meisten anderen Editionen - in einer relationalen Datenbank abgelegt ist. Erleichtert wird dieses ungewöhnliche Vorgehen dadurch, daß eine gedruckte Edition mit Seiten- und Zeilennummer die Basis der Edition bildet. Neben den üblichen Möglichkeiten, den Text zu durchsuchen, zeichnet sich die Edition vor allem durch die verschiedenen Sichten auf den Text aus. So kann der Leser eine Textstufe als Basistext wählen und alle anderen Textstufen als Varianten anzeigen lassen; er muß also nicht die vom Editor gewählte als Basistext übernehmen. Auch in der Integration der Handschriften in die elektronische Edition geht die HKKA neue Wege. Die Handschriften, die in hoher Auflösung angezeigt werden können, werden auch dem Leser zugänglich gemacht, der Kellers Handschrift nicht lesen kann, da die Zeilen unter dem Mauszeiger auf Wunsch transkribiert angezeigt werden. Für Textvergleiche lassen sich Teile des Manuskripts ausschneiden und in einer Vergleichsansicht zusammenführen. Insgesamt gelingt es der Edition sehr gut, die medial bedingte starke Trennung von Text und Bild in der Benutzerschnittstelle zu überspielen. 36 In den Editionen, die von Roland Reuß und Peter Staengle im Stroemfeld Verlag herausgegeben werden, stehen die Handschriften im Mittelpunkt. Die Herausgeber verstehen die editorische Arbeit vor allem als Erleichterung des Zugriffs auf die Hand-

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Keller: Sämtliche Werke. 1996ff. Vgl. zu Geschichte und Konzept dieser Edition Morgenthaler 1999 und Morgenthaler 2003. Wie oben ausgeführt, sind alle Buchstaben als Zahlen kodiert, während Bilder punktweise kodiert sind. Ein Buchstabe in einem Bild ist für den Computer also nur ein Haufen Punkte, solange diese Information nicht extrahiert wird.

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schritten. 37 Der elektronische Teil der Editionen besteht weitgehend aus einer möglichst getreuen Wiedergabe des gedruckten Textes. Um dies zu erreichen, haben die Herausgeber das Format PDF gewählt. 38 PDF ist eine Seitenbeschreibungssprache, 39 die sehr weite Verbreitung gefunden hat. Ihr Nachteil ist, daß der Text keine Strukturinformationen mehr enthält - entsprechend leistungsschwach sind die Retrievalmöglichkeiten. Ebensowenig weist diese Edition die Möglichkeiten der Text-BildIntegration auf, die z.B. in der HKKAzu finden sind.

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Ausblick

Entsprechend dem oben gezeichneten Bild wird die Entwicklung der elektronischen Editionen nicht nur von der Philologie, insbesondere von einer hochspezialisierten elektronischen Editionsphilologie vorangetrieben, sondern auch von neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Textauszeichnung, der Gestaltung von Benutzerschnittstellen, des Information Retrieval, der Zeichenkodierung und der Softwareentwicklung. Die Fortschritte auf diesen Gebieten bringen es mit sich, daß für einige grundlegende Probleme digitaler Editionen in den letzten zehn Jahren brauchbare Lösungen entwikkelt wurden, die auch international angewendet werden: Kodierung mittels dem XMLkonformen TEI, Verwendung von XML-Software, die in reichem Maße vorhanden ist, Vertrieb über CD-ROMs/DVDs bzw. das Internet.40 Für die hochwertige philologische Textauszeichnung hat sich TEI als internationaler Standard etabliert und wird vor allem von neuen Projekten entsprechend verwendet und den eigenen Bedürfnissen angepaßt. Die Arbeit an der neuen Version der Richtlinien (P5), die z.B. neue Verfahren der Kodierung von Zeichen enthalten wird sowie ein neues Modul zur Manuskriptbeschreibung, wird voraussichtlich 2005 abgeschlossen sein. Erst am Anfang steht die Arbeitsgruppe zur analytischen Beschreibung von Druckwerken. Noch ganz offen ist, wann die Kodierung des Layouts von Texten mit TEI möglich sein wird. TEI und alle verwandten Textauszeichnungssysteme machen es dem Anwender schwer, überlappende Hierarchien, z.B. Seiten und Kapitel, parallel gleichgewichtig zu kodieren. Inzwischen gibt es eine Reihe von Forschungsliteratur zu diesem Pro-

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Franz Kafka: Der Process. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1997. Vgl. zur Begründung dieser Wahl Reuß 1999. PDF ist, wie der Vorläufer Postscript, eine Entwicklung der Firma Adobe, die allerdings die Spezifikation vollständig publiziert hat - es existieren daher von Adobe unabhängige Autorenwerkzeuge und Leseprogramme. Man sieht diesen Konsolidierungsprozeß auch deutlich daran, daß die MLA, die die Richtlinien zur elektronischen Edition früher in einem eigenen Papier beschrieben hat, diese inzwischen in ihre allgemeinen Richtlinien zur Erstellung von Editionen mitaufgenommen hat; vgl. MLA 2003.

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blem, ohne daß eine rundum überzeugende Lösung gefunden worden wäre, wenn es auch viele Wege gibt, mit dem Problem umzugehen. 41 Die Gestaltung der Benutzerschnittstelle von Software ist ein eigenes Forschungsfeld, von dessen Einsichten auch Editoren profitieren können. Editorisches Wissen könnte, wenn diese Einsichten berücksichtigt werden, vielleicht schneller und einleuchtender vermittelt werden. Laufende Projekte zeigen bereits, wie sich die graphischen Möglichkeiten des Computers entsprechend einsetzen lassen. 42 Eine bloße Wiedergabe der Handschrift ist wohl kein fruchtbarer Weg, editorisches Wissen dem Fach zugänglich zu machen. Die Geschichte des Information Retrievals hat, was die Möglichkeiten von Standardprogrammen betrifft, einige Zeit stagniert, aber im Zuge der Entwicklung von Intemet-Suchmaschinen hat das Forschungsfeld stark expandiert. Durch die Möglichkeiten, Strukturinformationen in die Suche einzubeziehen, werden zunehmend komplexe Abfragen möglich. Wie eine Frage nach Inhalten in eine Abfrage, die nach Zeichenketten sucht, umzusetzen ist, stellt immer noch ein besonderes Problem dar 43 Durch die schnelle Verbreitung von XML sind zahlreiche kostengünstige oder freie Programme entstanden, mit denen XML-Dateien verarbeitet werden können. Die Flut von XML-Programmen hat bislang jedoch noch keine Standardlösungen für editionsphilologische Bedürfnisse hervorgebracht; dafür sind inzwischen zahlreiche Programme erhältlich, die den Editor bei seiner Arbeit unterstützen. 44 Die Distribution von elektronischen Texten wird in Zukunft weitgehend über das Internet erfolgen. Diese Ablösung der CD-ROM durch das Internet als Distributionsmedium ist schon im Gange. 45 Der nächste Schritt ist die Entwicklung von internettauglichen Publikationssystemen für TEI-kodierte Texte. Neben diesen eher technischen Aspekten hat die Entwicklung des digitalen Mediums, insbesondere des Internets, auch neue konzeptionelle Perspektiven eröffnet. So ist die stärkere Vernetzung verschiedener Editionen zwar noch kaum realisiert, aber in greifbare Nähe gerückt. Die engere Kooperation mit anderen Textwissenschaftlern, aber auch schon die Differenzen zwischen den verschiedenen philologischen Editionskonzepten machen es zunehmend wünschenswert, daß der gleiche Text auf sehr unterschiedliche Weise erschlossen wird und die Vorstellung von einem endgültigen Text mit einem endgültigen Markup verabschiedet wird. An ihre Stelle könnte das Konzept einer Edition treten, die in verschiedenen Versionen, vielleicht auch gemeinsam von 41

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Sperberg-McQueen/Huitfeldt. Oder den Überblick von Robin Cover . Vgl. z.B. die Ideen im Projekt Hypemietzsche.org zur Visualisierung von Textbezügen: . Hierbei stellt insbesondere die Zusammenführung von Suchprozeduren, die XML-Strukturen auswerten, z.B. XQUERY, und klassischem Information Retrieval ein Problem dar, vgl. Fuhr 2003. Die Open Source Bewegung ist ausgesprochen wichtig geworden für digitale Editionsprojekte, da hier die längerfristige Verfügbarkeit der Programme sichergestellt ist; vgl. etwa die XML-Programme aus dem Apache Projekt Auch hier haben angelsächsische Projekte eine Vorreiterstellung: Vgl. etwa das William Blake Archiv .

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Editoren und Lesern, immer weiter entwickelt wird und den Text mit unterschiedlichen Auszeichnungssystemen, etwa durch standoff markup, kodiert, um ihn auf diese Weise ganz unterschiedlichen Fragestellungen zu erschließen. 46 Auch die Visualisierung von editorischem Wissen, die dem Benutzer komplexe Zusammenhänge schnell und gleichsam intuitiv erschließt, steht erst am Anfang. Das gleiche gilt für die Versuche, Algorithmen zur Ermittlung komplexer Strukturen für digitale Editionen fruchtbar zu machen, wie es Michael Stolz nach dem Vorbild von Peter Robinsons Canterbury 7a/ei-Edition nun für die Parzivaledition unternimmt.47 Elektronische Editionen haben inzwischen ihren eigenen Platz neben den gedruckten Editionen erobert. Sie ersetzen diese in vielen Fällen nicht, aber sie ergänzen sie. Nur elektronische Editionen erlauben eine Textsuche über große Textmengen; nur sie ermöglichen es, verschiedene Ansichten auf die gleichen Datenbestände zu haben, und nur sie können in höchstökonomischer Weise Texte miteinander oder mit Bildern, Tönen und Film verbinden. Die Geschichte der digitalen Editionen ereignet sich heute nicht mehr im Verborgenen. Vielmehr ist die digitale Editorik inzwischen zu einem internationalen Forschungsfeld zusammengewachsen, und doch haben wir eben erst angefangen, ihre Möglichkeiten auszuloten.

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Vgl. Robinson 2003, Huitfeld 2003 und Lüdeling/Poschenrieder/Faulstich 2005. Vgl. Robinson 2003 und Stolz 2003.

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