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German Pages 158 Year 2016
Norbert Herrmann Mathematik
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Norbert Herrmann
Mathematik
| Wo Sie sie nicht erwarten
Autor Dr. Norbert Herrmann 01662 Meißen [email protected]
ISBN 978-3-11-044196-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044197-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043369-2
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Ingram Publishing/thinkstock Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort | IX 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Die Kepler’sche Fassregel | 1 Keplers Kritik | 1 Geiz beflügelt den Geist | 2 Keplers Idee zur Inhaltsberechnung eines Weinfasses | 3 Verallgemeinerung für bestimmte Integrale | 4 Wie gut ist Keplers Idee? | 6 Die Idee von Simpson | 10 Zur Modellbildung | 13
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8
Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel? | 19 Eine Kinderfrage? | 19 Newtons Idee der Gravitation | 20 Wolkeneinteilung nach Howard | 22 Howards Ehrengedächtnis | 22 Viskosität der Luft | 23 Die Erklärung | 27 Lass regnen, wenn es regnen will | 27 Weitere Wolkengedichte von Goethe | 28
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Warum fliegt ein Flugzeug? | 29 Das Gesetz von Bernoulli | 29 Flugzeugflügel | 32 Warum wird bei Schneetreiben meine Autoscheibe nicht nass? | 33 Schneeschutzzäune | 34 Weitere Beispiele | 36
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Mathematisch Kurven malen | 39 Magnetneukurve | 39 Lineare Splines | 40 Wie gut sind die linearen Splines? | 44 Verallgemeinerung auf kubische Splines | 45 Weinglas | 49
VI | Inhalt
4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12
Meniskus | 50 Pferdefuß | 52 Wo ist mein Freund gerade? | 52 Berliner Olympiastadion | 53 Tsunamiwarnung | 54 Flächen | 55 Finite Elemente | 56
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8
Rubiks Würfel | 57 Einleitung | 57 Das Prinzip zur Lösung | 58 Gottesalgorithmus und Gotteszahl | 59 Herstellen einer einfarbigen Seite | 60 Untere vier Ecken richtig stellen | 61 Die restlichen acht Kanten richtig stellen | 64 Anzahl der möglichen Positionen | 68 Freund ärgern | 70
6 6.1 6.2 6.3
Die wunderbare Vermehrung von Schokolade | 71 Schokolade vermehren | 71 216 = 217 | 76 64 = 65 | 81
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12 7.13
Das Kreuz mit der 13 | 85 Triskaidekaphobie | 85 Mathematische Eigenschaften | 85 Zum Lotto | 86 Apostel | 88 Dornröschen | 88 13. Stockwerke, Zimmer Nr. 13 | 89 Gate 13 | 90 Freitag, der 13. | 90 Kalenderanfang | 91 Kalenderreform 1582 | 91 Aber vielleicht doch? | 92 Andere Länder, andere Sitten | 93 Meine persönliche Glückszahl | 93
Inhalt |
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Die ultimative Weltmeister-Formel | 95 Die Formel | 95 Anwendung auf die deutsche Mannschaft | 95 Und die Wirklichkeit? | 96 Die Wahrheit zu 2014 | 96 Blick in die Zukunft | 97
9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Paradoxa der Geometrie? | 99 Wie lang ist die Diagonale eines Quadrates? | 99 Angenäherte Diagonale im Quadrat | 99 1 = 4 | 101 Unstetigkeit der Bogenlänge | 103 Bedeutung für die Variationsrechnung | 104
10 10.1 10.2
Das verflixte Münzenrätsel | 105 Die Aufgabe | 105 Die Lösung | 106
11 11.1 11.2 11.3 11.4
Die hinterhältigen Würfel des Herrn Efron | 109 Wir würfeln | 109 Die Würfel von Efron | 110 Bedeutung für die Politik | 114 Nicht immer gilt die Mehrheit | 116
12 12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.7
Neues aus der Lottowelt | 119 Geschichte des Lottospiels | 119 Lottoschein verschenken, aber richtig | 120 6 aus 49 | 121 Was ist eigentlich ein Jackpot? | 123 Binomial oder binominal? | 125 Bringt der Osterhase mir den Jackpot? | 128 Liebe unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit | 130
13 13.1 13.2
Mathematik auf der Autobahn | 133 Ein Autobahnspiel | 133 Wie viele Autokennzeichen gibt es in einem beliebigen Landkreis? | 135
VII
VIII | Inhalt
13.3 13.4 13.5 13.6
Autokennzeichen in Tschechien | 137 Autokennzeichen in Italien | 139 Autokennzeichen in Ungarn | 140 Autokennzeichen in Russland, Finnland, Großbritannien | 141
Literatur | 143 Stichwortverzeichnis | 145
Vorwort Du weißt nie, was du kannst, bevor du es versuchst! (Bruce Low)
„Mädchen haben kein Gehirn für Mathemtik“, so tönte es meiner Frau entgegen, als sie nach dem Studium von Mathematik und Physik voller Elan ihre erste Stelle an einem Gymnasium antrat. So jedenfalls „erklärte“ es ein älterer Mitkollege nicht nur meiner Frau, sondern auch seinen Klassen, die er in Mathematik unterrichtete. Damals war sie auch noch eine Ausnahme im Mathematikkollegium. Meine Frau war entsetzt, denn wie ist es wirklich? Eine neue Untersuchung, die gerade in der Zeitschrift „Focus“ erschienen ist, gibt eine völlig andere Information. Dort wird ein Experiment von Claude Steele aus dem Jahr 1999 vorgestellt. Er und seine Gruppe aus Stanford hatten Männern und Frauen Mathematikaufgaben vorgelegt. Eindeutig waren die Männer besser, wenn man den Test ohne jede Vorbemerkung auf die Beteiligten losließ. Um zu testen, ob Vorurteile eine Rolle spielen, gaben sie den Teilnehmenden die Info, dass ja bekanntlich Männer besser anspruchsvolle mathematische Aufgaben lösen können als Frauen. Das anschließende Ergebnis des Tests bestätigte dieses Vorurteil deutlich. Danach änderten sie die Taktik, indem sie einer anderen Vergleichsgruppe erklärten, dass bekanntlich keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in Bezug auf Mathematik vorhanden seien. Prompt änderte sich auch das Ergebnis: Frauen und Männer schnitten gleich ab. Fazit: Der Einfluss auf das Ergebnis geht offenbar von einer sogenannten „StereotypBedrohung“ aus. Wenn man glaubt, etwas nicht zu können, schneidet man auch schlecht ab bei dem Versuch, es trotzdem zu tun. Marburger Forscherinnen gingen den umgekehrten Weg und erzählten den Probanden vor dem Test, dass ja bekanntlich Frauen besser im Lösen von mathematischen Aufgaben seien. Das Ergebnis überraschte ziemlich, denn jetzt wurden die Männer noch besser. Offenbar fühlten sich die Männer herausgefordert und strengten sich mehr an. Auch in der Universität war das ein Thema, warum so wenige Frauen, nämlich weniger als 20 % Anteil unter allen, die das Diplom in Mathematik anstrebten, waren. Ein Kollege gab mir damals eine Information, die die oben geschilderte Untersuchung stützt. In Russland gibt es ein
X | Vorwort
Institut für Mathematik, das von einer Frau geleitet wird. Dort sind überwiegend Frauen unter den Promovenden, eine Habilitation haben dort fast nur Frauen erreicht. Sein Fazit war, dass es wohl das Vorbild ist, was Frauen von der Mathematik abhält. Wenn immer nur Männer an der Tafel vorne rumspringen, dann ist das wohl auch nur für Männer gedacht. So habe ich für dieses Buch das Motto oben von Bruce Low, wie er es in seinem Song „Noah fand Gnade vor den Augen des Herrn“ singt, gewählt. Niemand sollte sich davon abhalten lassen, es mit Mathematik zu versuchen. In diesem Sinn danke ich hier vor allem meiner Frau, die mich wieder sehr bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt hat. Schließlich hat sie kurz vor dem Abgabetermin alles noch einmal zur Kontrolle gelesen und mir wertvolle Tipps gegeben. So hoffe ich, dass auch dieses Buch meine Leserinnen und Leser nicht nur erfreut, sondern auch anregt zu eigenem Erkunden, so wie ich es als Mathebotschafter der Stiftung Rechnen immer wieder einem großen Publikum, Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Museumsbesuchern, Fersehzuschauerinnen und -zuschauern usw. versuche klarzumachen. Zum Schluss danke ich dem Verlag de Gruyter für seine Geduld, wenn ich mein Manuskript nicht ganz in der Zeit abgegeben habe. Norbert Herrmann
1 Die Kepler’sche Fassregel Der berühmte Astronom Johannes Kepler, der am 27. Dez. 1571 in Weil der Stadt geboren wurde und am 15. Nov. 1630 in Regensburg starb, ist uns allen ja bestens bekannt wegen der von ihm entdeckten Planetengesetze. Obwohl es verlockend ist, sich diese Gesetze einmal genauer anzuschauen, wollen wir hier ein anderes Kapitel über Johannes Kepler aufmachen, das ihn von einer vielleicht etwas ungewöhnlichen Seite zeigt. Wenn wir hässlich wären, könnten wir behaupten, dass Herr Kepler aus reinem Geiz eine wunderbare neue mathematische Formel entwickelt hat. Aber war es wirklich nur der schnöde Mammon, der ihn angetrieben hat, oder war es doch mehr der Entdeckergeist? Worum ging es? Johannes Kepler war als kaiserlicher Hofmathematiker von 1601 bis 1612 in Prag bei den habsburgischen Kaisern Rudolf II., Matthias I. und Ferdinand II. beschäftigt. 1612 erhielt er dann in Linz die Stelle eines „oberösterreichischen Provinzmathematikers“. Ist das nicht ein herrlicher Titel für einen der größten Geister des 17. Jahrhunderts? Nachdem seine Frau noch in Prag gestorben war, heiratete er in Linz die Eferdinger Bürgerstochter Susanne Reuttinger. Dieses Ereignis wurde auch damals schon mit gutem Wein begangen. Dazu bestellte Johannes Kepler einige Fässer Wein bei Linzer Winzern. Als es ans Bezahlen ging, wunderte sich Kepler über die Methode, mit der der Weinhändler den Inhalt der Fässer zu bestimmen suchte. Er steckte oben durch das Spundloch einen Stab in das Fass, und zwar sowohl ganz nach links unten und dann noch einmal ganz nach rechts unten. Oben an dem Stab konnte er dann wohl an einer auf dem Stab angebrachten Skala ablesen, wie viel Wein im Fass war. Vielleicht beachtete er so wie bei einem Ölmessstab am Auto die Füllhöhe, was bei rotem Wein eventuell am Stab zu sehen ist.
1.1 Keplers Kritik Aber Kepler bemerkte natürlich sofort die Einschränkung dieser Messmethode. Wenn wir ein Fass breiter machen, aber nicht so hoch, zeigt der Stab die gleiche Marke an, aber der Inhalt kann sich ganz schön ändern. Wir werden gleich sehen, dass sogar ein leeres Fass den gleichen Punkt auf dem Stab anzeigen kann.
2 | 1 Die Kepler’sche Fassregel
Um das zu veranschaulichen, vereinfachen wir die Darstellung und betrachten nur einen Längsschnitt, siehe Abb. 1.1. Dazu denken wir uns das Fass als Quader, den Längsschnitt also als Rechteck ABCD. Oben in der Mitte ist das Spundloch, in der Skizze ist es der Punkt S.
S S
A a
D
h
B
a a
a
x
B
A
h x
C D
C
Abb. 1.1: Links sehen wir den Querschnitt ABCD eines quaderförmigen Fasses. Messstäbe mit der Länge a sind oben durch das Spundloch S nach links und nach rechts unten durchgestoßen. Und rechts sehen wir den Querschnitt ABCD eines sehr schmalen Fasses.
Beide Male haben die in das Fass eingeführten Messstäbe SC und SD die gleiche Länge, was wir an dem eingezeichneten Umfangskreis sehen. Nach der damaligen Messmethode würden sie also angeblich den gleichen Inhalt haben. Jetzt können Sie sogar die beiden senkrechten Linien, also die Außenkanten des Fasses, zusammenführen. Dann bliebe ein Fass übrig, das gar keinen Inhalt mehr hätte, wo aber beide eingeführten Stäbe immer noch dieselbe Länge zeigten. Es wäre also das leere Fass. Und Herr Kepler hätte trotzdem zu bezahlen. So geht es also nicht, Keplers Kritik ist vollkommen verständlich.
1.2 Geiz beflügelt den Geist Der Gedanke, für ein Fass Wein vielleicht etwas zu viel zu bezahlen, brachte Kepler ins Grübeln. Kann man nicht auf andere Weise den Inhalt eines Fasses bestimmen? Natürlich kann man jedes Fass mit Litergefäßen so lange
1.3 Keplers Idee zur Inhaltsberechnung eines Weinfasses
|
3
auffüllen, bis es überläuft. Wenn man dabei richtig zählt, kann man so den Inhalt bestimmen. Aber das muss man mit jedem Fass einzeln machen. Das befriedigte einen Forscher vom Range Keplers überhaupt nicht. Nein, eine allgemeine Formel musste her, mit der man für jedes Fass oder auch für jedes andere Behältnis den Inhalt berechnen kann, am besten nur aus der Kenntnis von ein paar äußeren Daten des Behältnisses. Ja, das war eine Aufgabe vom Geschmacke Keplers. Tatsächlich verfasste er daraufhin im Jahre 1615 die Schrift „Nova Stereometria doliorum vinariorum“, also eine „Neue Inhaltsberechnung von Weinfässern“. In dieser Arbeit entwickelte er eine neue Formel, die wir heute noch sehr gut zur näherungsweisen Berechnung von Flächeninhalten verwenden können.
1.3 Keplers Idee zur Inhaltsberechnung eines Weinfasses Kepler dachte in seiner Arbeit zuerst wirklich an Weinfässer. Wir werden aber gleich im nächsten Abschnitt zeigen, wie wunderbar sich dieser Gedanke verallgemeinern lässt. Es war ziemlich leicht, bei einem Weinfass der Höhe h, wenn wir es waagerecht hinlegen, so wie auf dem Buchcover die hinteren Fässer, die linke und die rechte Fläche zu berechnen. Das sind ja Kreise. Man sieht von außen auch die Dauben und kann ihre Dicke abmessen, so dass man leicht auf den inneren Flächeninhalt F0 des linken Kreises und analog den inneren Flächeninhalt F h des rechten Kreises schließen kann. Genauso findet man auch durch eine kleine Umfangsmessung den Flächeninhalt F h/2 genau in der Mitte des Fasses. So wusste er also an drei exponierten Stellen des Fasses, links, in der Mitte und rechts, den jeweiligen inneren Flächeninhalt. Schauen Sie sich die Abb. 1.2 an. Die drei dicken Punkte entsprechen den gemessenen Flächeninhalten ganz links, also bei 0, bei der halben Höhe h/2 und ganz rechts bei h. Wenn wir so alle Flächeninhalte von 0 bis h eingetragen hätten, müssten wir den ganzen Flächeninhalt dieser Figur ausrechnen. Leider haben wir aber nur an drei Stellen die Werte. Und jetzt hatte Kepler die Idee, die wir im Bild bereits angedeutet haben. Durch drei Punkte geht genau eine Parabel. Kepler dachte sich die unbekannte Funktion der Fassoberfläche einfach durch diese Parabel dargestellt. Dann rechnete er für diese Parabel das In-
4 | 1 Die Kepler’sche Fassregel y · ·
·
0
h
h
x
Abb. 1.2: Skizze zur Kepler’schen Fassregel.
tegral über das Intervall [0, h] aus. Weil die Berechnung etwas länger ist, lassen wir sie fort und zitieren Keplers Endergebnis in seiner berühmten Fassregel: Satz 1.1 (Kepler’sche Fassregel). Das Volumen eines Weinfasses lässt sich angenähert berechnen durch die Formel V=
h ⋅ (F0 + 4 ⋅ F h/2 + F h ) . 6
Hierbei sind F0 der Flächeninhalt der linken Begrenzungsfläche, F h/2 der Flächeninhalt in der Mitte und F h die Fläche der rechten Begrenzungsfläche. Mit dieser Formel hat Kepler jetzt also nachprüfen wollen, ob er korrekt mit Wein versorgt wurde. Leider ist sein Ergebnis des Weinhandels nicht überliefert.
1.4 Verallgemeinerung für bestimmte Integrale Diese Idee von Kepler lässt sich sofort zur näherungsweisen Berechnung von bestimmten oder unbestimmten Integralen ausbauen. Betrachten wir also eine Funktion f(x) im Intervall [a, b]. Wir möchten gerne die Fläche unter diesem Funktionsgraphen berechnen. Es geht um die Inhaltsmessung der Fläche unter einer Funktion, also um die Berechnung eines bestimmten Integrals: b
∫ f(x) dx. a
1.4 Verallgemeinerung für bestimmte Integrale
| 5
Das ist manchmal ein ganz schön kompliziertes Unterfangen. Wir kennen den berühmten Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, der uns sagt, wir sollen von der Integralfunktion f(x) eine Stammfunktion F(x) ableiten, also eine Funktion F(x), deren Ableitung gerade f(x) ist. Ja, aber wo soll man die denn hernehmen? Für viele Funktionen kennen wir eine Stammfunktion. So ist z. B. für f(x) = cos (x) die Funktion F(x) = sin (x) eine Stammfunktion, denn wir erinnern uns vielleicht und hoffentlich, dass F (x) = (sin (x)) = cos (x) ist. Aber schon für f(x) = x muss man aufpassen. F(x) = x2 ist keine Stammfunktion, denn F (x) = (x2 ) = 2x ≠ x. Hier müssen wir den Faktor
1 2
einbauen: Für
f(x) = x ist die Funktion F(x) =
1 2 ⋅x 2
eine Stammfunktion, denn mit den üblichen Regeln für die Ableitung gilt: F (x) = (
1 2 1 2x ⋅ x ) = ⋅ (x2 ) = = x. 2 2 2
Das sind sehr, sehr einfache Beispiele. Ich kann Ihnen verraten, dass diese Suche nach einer Stammfunktion häufig nicht nur schwierig ist, es gibt viele Funktionen, für die wir gar keine Stammfunktion kennen. Wie wollen wir denn da mit Hilfe des Hauptsatzes integrieren? Hier hat uns Johannes Kepler mit seiner Fassregel eine Näherungsformel angegeben, um ein bestimmtes Integral wenigstens ungefähr zu berechnen. In der Abb. 1.2 zeigen wir noch einmal den Grundgedanken von Kepler. Die drei eingezeichneten Punkte (a, f(a)), ((a +b)/2, f(a +b)/2)und (b, f(b)) bestimmen eine Parabel. Diese Parabel benutzen wir zur Annäherung an den Graphen von f(x). Dann müssen wir nur noch den Flächeninhalt unter diesem Parabelbogen berechnen.
6 | 1 Die Kepler’sche Fassregel y f(x)
Parabel
·
·
·
a+b 2
a
b
x
Abb. 1.3: Verallgemeinerung der Kepler’schen Fassregel.
Seine oben schon erwähnte Fassregel wenden wir jetzt also auf bestimmte Integrale an. Dann lautet sie: b
∫ f(x) dx ≈ a
b−a a+b (f(a) + 4f ( ) + f(b)) . 6 2
Und so kommen wir zu einer Formel, die exakt den Flächeninhalt unter einem Parabelbogen ausrechnet. Hier müssen wir nicht mühsam und eventuell sogar vergeblich nach einer Stammfunktion fahnden. Nur die Funktion f(x), die sowieso im Integral auftritt, müssen wir bemühen. Von dieser Funktion brauchen wir den Wert bei a, also am Intervallanfang, dann den Wert bei a+b 2 , also in der Mitte des Intervalls [a, b], und noch den Wert bei b, also am Intervallende. Der mittlere Wert wird dabei vierfach genommen, die beiden Randwerte nur einfach. Als Vielfachheit haben wir also 1 + 4 + 1 = 6. Schon erkennen wir, warum wir durch 6 dividieren müssen. (b − a) ist die Länge des Intervalls. Damit haben wir die ganze Formel erklärt. Sie lässt sich mit dieser Erklärung auch recht leicht merken.
1.5 Wie gut ist Keplers Idee? Das ist eine typische Frage eines Mathematikers. Wir lassen es nicht auf sich beruhen, dass wir eine Formel oder eine Antwort für ein Problem gefunden haben, sondern wollen die Lösung dann auch noch analysieren. Wie gut ist
1.5 Wie gut ist Keplers Idee?
|
7
mein Verfahren oder meine Lösung? Gibt es noch andere Lösungen? Vielleicht ja sogar noch bessere? Und so fragen wir auch hier, ob wir etwas über die Güte dieser Kepler’schen Fassregel aussagen können. Hier hilft ein in vielen Fällen praktisches Vorgehen. Wir rechnen einmal ein paar Beispiele durch. Wir wählen extra sehr einfache Beispiele, für die wir dieses Näherungsverfahren von Kepler eigentlich gar nicht brauchen, weil wir die exakte Lösung leicht bestimmen können. Aber so können wir beide Möglichkeiten, die exakte Lösung und Keplers Näherunslösung, miteinander vergleichen. Wir berechnen das Integral 4
∫ x2 dx. 2
Ja, für die Funktion f(x) = x2 kennen wir eine Stammfunktion, nämlich F(x) = 13 ⋅ x3 . Wenn wir uns an die Rechenregeln für die Ableitung erinnern, wird die Potenz 3 als Faktor vorgestellt und dann mit der um den Grad 1 verminderten Funktion f(x) = x2 multipliziert. Da sehen wir, dass sich die 3 im Zähler und im Nenner aufheben, also bleibt die Ableitung übrig: F (x) = (
1 3 3 2 ⋅ x ) = ⋅ x = x2 . 3 3
Damit können wir sofort mit unserem Hauptsatz das Integral ausrechnen: 4
∫ x2 dx = F(4) − F(2) = 2
1 3 1 3 64 8 56 ⋅4 − ⋅2 = − = . 3 3 3 3 3
Jetzt berechnen wir das gleiche Integral mit Herrn Kepler: 4
∫ x2 dx ≈ 2
=
4−2 2 ⋅ (f(2) + 6 ⋅ f(3) + f(4)) = ⋅ (22 + 4 ⋅ 32 + 42 ) 6 6 56 1 ⋅ (4 + 4 ⋅ 9 + 16) = . 3 3
Das ist dasselbe Ergebnis wie oben. Aber das war ja auch klar. Kepler hat die Funktion f(x) durch eine Parabel ersetzt. Wenn jetzt die Funktion f(x) selbst
8 | 1 Die Kepler’sche Fassregel
schon eine Parabel ist, macht er keinen Fehler, sondern kommt zum exakten Ergebnis. Na schön! Aber jetzt spinne ich das Spiel etwas weiter und versuche einmal, das Integral über eine kubische Funktion f(x) = x3 mit Kepler anzunähern. Wir betrachten also das Integral 4
∫ x3 dx. 2
Auch hier können wir leicht das exakte Ergebnis ausrechen, denn F(x) = 1 4 3 4 x ist eine Stammfunktion von f(x) = x . Das ergibt: 4
∫ x3 dx = F(4) − F(2) = 2
1 4 1 4 256 16 240 ⋅4 − ⋅2 = − = = 60. 4 4 4 4 4
Jetzt zu Kepler: 4
∫ x3 dx ≈ 2
=
4−2 2 ⋅ (f(2) + 6 ⋅ f(3) + f(4)) = ⋅ (23 + 4 ⋅ 33 + 43 ) 6 6 180 1 ⋅ (8 + 4 ⋅ 27 + 64) = = 60. 3 3
Ja, was sieht denn mein Adlerauge? Wieder ergibt sich als Näherung nach Kepler der exakte Wert. War das Zufall? Jetzt ist der Geist eines Mathematikers hellwach. Als Erstes wird er weitere Beispiele betrachten und immer wieder feststellen, dass mit dieser Näherung von Kepler kubische Funktionen exakt integriert werden, dass es also kein Zufall war, sondern wohl Methode dahintersteckt. Und als Zweites wird er dann fragen: Wie lässt sich das beweisen? Nun, wir gehen einen kleinen Umweg. Der französische Mathematiker Augustin-Louis Cauchy (1789–1857) hat uns eine Formel überliefert, die ausdrückt, welchen Fehler man macht, wenn man Funktionen durch z. B. Parabeln annähert. Das Ganze fußt auf dem berühmten Satz von Taylor. Wir wollen hier nur die Auswirkungen auf unsere Integrationsformel von Kepler beschreiben. Als Folgerung für die Kepler’sche Fassregel ergibt sich, dass wir für den Rest zwischen der exakten Integration und der Näherung nach Kepler den Wert erhalten: b − a 5 1 ⋅( ) ⋅ f (ξ). Rest = − 90 2
1.5 Wie gut ist Keplers Idee?
|
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Diese Formel schreckt viele Nichtmathematiker geradezu ab, während sie bei Mathematikern ein Lächeln hervorzaubert. Wir wollen versuchen, dieses Lächeln auch bei Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, zu erzeugen. Was sagt uns diese Formel? Da steht am Anfang ein Minuszeichen. Na schön, ob der Rest positiv oder negativ ist, ist im Moment nicht weiter wichtig, wir werden später nur 1 fällt etwas vom Himden Betrag des Fehlers berücksichtigen. Der Bruch 90 mel. Aber wir müssen uns den nicht merken. Wir beachten nur, dass es ein fester Bruch ist, der sich nicht ändert, es ist also einfach eine Zahl. 5 Dann steht da ( b−a 2 ) . Das ist ein sehr wichtiger Bruch, der uns aber erst im nächsten Abschnitt beglücken wird. Als Letztes kommt dann die vierte Ableitung der Funktion, die im Integral steht, ins Spiel. Dazu eine ominöse Stelle ξ, an der wir diese 4. Ableitung bilden sollen. Da müssen wir natürlich ergänzen, dass es sich hier um eine Zahl handelt, die im Intervall (a, b) liegt. Ja, genau so, wir können nur feststellen, dass es solch eine Zahl ξ gibt, wissen aber überhaupt nicht, wo diese Zahl zu finden ist oder wie man sie konstruieren könnte. Typisch Mathematiker, werden Sie stöhnen. Rechnet da etwas aus, mit dem ich nichts anfangen kann. Aber halt, so ganz ohne Bedeutung ist das nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass die Funktion f(x) im Integral nicht gerade böswillig ist, sondern dass ihre vierte Ableitung noch brav bleibt, also beschränkt ist im Intervall (a, b), so ist doch diese ganze eigentlich unbekannte Ableitung auch nur eine feste Zahl. Wir kennen sie zwar nicht, aber das ist nicht so schlimm, wenn Sie mir gleich in den nächsten Abschnitt folgen wollen. Aber eine jetzt schon ganz wichtige Beobachtung müssen wir hier anfügen. Wenn wir eine Funktion f(x) im Integral haben, deren vierte Ableitung gleich Null ist, so ist doch der ganze Rest gleich Null. Aha, da haben wir die Erkenntnis, dass kubische Parabeln keinen Rest lassen. Deren vierte Ableitung ist ja Null. Jetzt wissen wir also genau, dass nicht nur Parabeln, sondern sogar noch kubische Funktionen wie z. B. die Funktion f(x) = 4⋅x 3 − 2 ⋅ x2 + 0.4 ⋅ x − 3.7 mit der Kepler’schen Näherungsformel exakt integriert werden. Das ist doch schon mal ein rechtes Gütesiegel, das uns da Herr Kepler beschert hat. Nicht nur Parabeln, sondern sogar kubische Funktionen integriert er exakt. Erlauben Sie mir die kleine Bemerkung. Haben Sie mitbekommen, wie ein Mathematiker mit solchen Formeln umgeht? Jeder Term, jeder Buchstabe
10 | 1 Die Kepler’sche Fassregel
sagt uns ja etwas und gibt uns vielleicht einen Hinweis. Wir Mathemtiker rechnen also nicht, sondern wir interpretieren unsere Formeln. Wir analysieren, was diese Ungetüme eigentlich aussagen, und dann ist es plötzlich sehr spannend, was man entdecken oder ablesen kann. Sie werden gleich sehen, welche Schlussfolgerung wir aus der obigen Formel ziehen. Dieser unscheinbare Term mit der 5. Potenz gibt uns nämlich einen wesentlichen Hinweis.
1.6 Die Idee von Simpson Der englische Mathematiker Thomas Simpson (1710–1761) hatte den Gedanken, das eventuell sehr lange Grundintervall (a, b) in kleinere Teilintervalle aufzuspalten und dann in jedem der kleinen Teilintervalle die Regel von Kepler anzuwenden. Bringt das was? Ein genialer Schachzug, wie wir gleich sehen werden.
·
· ·
·
· ⨂
a f(a)
f(a)
b ⋅ f(b)
⋅ f(b)
c f(c)
d
e 1. Kepler
f(c)
⋅ f(d)
f(e)
2. Kepler
⋅ f(c)
⋅ f(d)
f(e)
Simpson
Abb. 1.4: Hier haben wir das Intervall (a, e) in zwei gleichgroße Teilintervalle (a, c) und (c, e) unterteilt.
1.6 Die Idee von Simpson
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11
In obiger Figur haben wir in jedem der beiden kleineren Intervalle (a, c) und (c, e) die Regel von Kepler angewendet. Im kleinen Intervall (a, c) führt das zu c c−a c−a ∫ f(x) dx ≈ ⋅ (f(a) + 4 ⋅ f ( ) + f(c)) . 6 2 a
Im kleinen rechten Intervall (c, e) ergibt sich e
e−c e−c ⋅ (f(c) + 4 ⋅ f ( ) + f(e)) . 6 2
∫ f(x) dx ≈ c
Das gesamte Integral über dem Intervall (a, e) berechnen wir jetzt näherungsweise, indem wir das Ergebnis über die beiden kleinen Intervalle zusammensetzen. Das führt dann zu der Formel e
c
e
∫ f(x) dx = ∫ f(x) dx + ∫ f(x) dx a
a
c
c−a c−a ≈ ⋅ (f(a) + 4 ⋅ f ( ) + f(c)) 6 2 e−c e−c + ⋅ (f(c) + 4 ⋅ f ( ) + f(e)) . 6 2 Das schreit geradezu nach einer Systematisierung. Als Vorfaktor erhalten wir im Zähler immer die Länge des kleinen Intervalls. Da machen wir die erste Vereinfachung, dass wir das große Intervall in gleichlange kleinere unterteilen. Es ist dabei im Moment egal, wie viel kleine Intervalle wir bilden. Alle mögen nur bitte gleich lang sein. Die dann allen gemeinsame Länge nennen wir h. Wundern Sie sich bitte nicht. Jede Wissenschaft hat so ihre Eigenheiten. In der Numerik gibt es überall kleine Intervalle. Deren Länge bekommt stets den Buchstaben h, das ist keine Vorschrift, hat sich aber so eingebürgert. So also auch hier. Damit haben wir in jedem der kleinen Teilintervalle für unsere Formel den gemeinsamen Vorfaktor h . 6
12 | 1 Die Kepler’sche Fassregel
Mit diesem gemeinsamen Vorfaktor vereinfacht sich die obige Formel sehr: e
c
e
∫ f(x) dx = ∫ f(x) dx + ∫ f(x) dx a
a
c
h c−a ≈ ⋅ (f(a) + 4 ⋅ f ( ) + f(c)) 6 2 e−c h ) + f(e)) + ⋅ (f(c) + 4 ⋅ f ( 6 2 c−a e−c h ) + 2 ⋅ f(c) + 4 ⋅ f ( ) + f(e)) . = ⋅ (f(a) + 4 ⋅ f ( 6 2 2 Jetzt liegt es natürlich nahe, das gesamte Intervall nicht in zwei, sondern in vielleicht 10 oder gar 100 Teilintervalle aufzuteilen. Wir rechnen das ja nicht mehr per Hand und Taschenrechner aus, sondern bemühen den Computer. Und der freut sich geradezu auf solche Rechnungen. Was halten Sie von folgender Merkregel: 1 4 2 4 2 4
⋅⋅⋅
4 2 4
2 4 1?
Klar, was wir meinen. Das sind die Faktoren, die wir auch Gewichte nennen, vor den jeweiligen Funktionswerten, alles hübsch gleichmäßig über das Intervall (a, b) verteilt. Für das Restglied dieser Simpsonregel finden wir in der Literatur die folgende Angabe: Restglied für Simpson:
b − a 4 ⋅ h ⋅ f (ξ). 180
1 und unbeAuch in diesem Restglied finden wir bekannte Zahlen wie 180 kannte Zahlen wie das ominöse ξ. Aber auch die unbekannte Zahl ξ ändert sich nicht im Verlauf der Rechnung, das alles sind also feststehende Zahlen. 4 Wenn wir jetzt einen Vorfaktor ( 2h ) haben, der bei kleiner werdendem Intervall sehr schnell, halt mit der 4. Potenz, kleiner wird, so wird am Ende der ganze Rest sehr klein. Das bedeutet, wenn wir nur immer kleinere Teilintervalle wählen, wird unser Ergebnis immer besser. Für kritische Augen fügen 1 = 0,1 die sehr kleine Zahl 10 1000 = 0,0001 wir an, dass die 4. Potenz von 10 ist. Unser anfänglicher Verdacht, dass eine Annäherung mit Parabeln zu grob ist, auch wenn noch Funktionen 3. Grades exakt integriert werden, wird jetzt zurückgewiesen. Dieser wirklich geniale Gedanke von Thomas Simpson zeigt uns, dass wir ein immer besseres Ergebnis erreichen können, wenn
1.7 Zur Modellbildung
| 13
wir nur die Teilintervalle zunehmend kleiner machen. Das erfordert zwar mehr Rechenarbeit, aber wir leben ja im Zeitalter der Computer.
1.7 Zur Modellbildung Dies ist ein hervorragendes Beispiel, um die Modellbildung, wie sie heute in vielen Bereichen angewendet wird, zu erklären. Viel Geheimnis steht hinter dem Wort „Modell“, man vermutet Fehler oder zumindest Ungenauigkeiten. Vielleicht verführt ja der Name „Modell“ zur falschen Schlussweise. Man denkt an ein Modellauto oder eine Modelleisenbahn. Beides sind ja nur schwache Abbilder der Realität. Niemand wird bei einer Modelleisenbahn Rückschlüsse auf die große Eisenbahn erlauben. Dieses Denken wirft dann große Fragezeichen auf, wenn Physiker und Mathematiker von Modellen, z. B. für die Klimaforschung, reden. Das kann ja gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Als Folge werden ganze Verschwörungstheorien entworfen. Was also hat es mit der Modellbildung auf sich, was kann sie und wie wertvoll ist sie zur Erklärung unserer Umwelt? Anhand dieses recht einfachen Beispiels, das wir Johannes Kepler verdanken, wollen wir diesen Fragen nachgehen. Vielleicht können wir dabei manche Vorurteile abmildern, indem wir genau erläutern, was die Mathematik beisteuern kann, und vor allem auch, was sie nicht erreichen kann. Bitte lassen Sie sich auf dieses Spiel ein.
Der vollständige Modellkreis In Abb. 1.5 zeigen wir zuerst einmal den vollständigen Modellkreis, wie ich ihn in [13] angegeben habe. Diesen Modellkreis wollen wir jetzt ausführlich anhand der Kepler’schen Fassregel erläutern.
Das physikalische Modell Ausgangspunkt war das Problem von Kepler mit seinen Weinfässern. Wie viel Wein mag wohl in einem Weinfass sein? Das ist das physikalische Problem, welches mathematisch nicht sofort lösbar ist, weil wir ja nicht den ganzen Wein ausschütten wollen, um mit einem Messbecher oder einer
14 | 1 Die Kepler’sche Fassregel Phys. Problem
Diskussion
Vereinfachungen
Phys. Modell
Verlässlichkeit
Computer-Modell
Math. Modell
Num. Modell Abb. 1.5: Hier der vollständige Modellkreis.
Gießkanne den Inhalt abzumessen. Auch können wir nur oben durch ein kleines Loch ins Fass hineinschauen, können aber nicht den Innendurchmesser des Fasses abmessen. Also Houston, wir haben ein Problem.
Vereinfachungen Da Kepler der damaligen Methode nicht traute und sich übervorteilt wähnte, entwickelte er eine eigene Formel. Dabei musste er notgedrungen einige Vereinfachungen vornehmen. Mathematiker können mit Kreisen, Geraden und Funktionen umgehen. Aber wenn wir ein solches Weinfass anschauen, so sieht zwar der obere Deckel kreisförmig aus, aber schon eine mittlere Lupe belehrt uns eines Besseren. Diese Holzdauben sind zerklüftet und eingerissen, wie eben Holz so aussieht. Da ist meilenweit keine kreisförmige Linie zu sehen. Da muss man von den Unwägbarkeiten der Natur abstrahieren. Dieser Deckel des Weinfasses ist ein Kreis! Punktum!
1.7 Zur Modellbildung |
15
So geht es auch mit den weiteren Ausdehnungen des Weinfasses. Wir müssen, um zu mathematischen Aussagen zu gelangen, zunächst also mathematische Objekte vor uns haben. Das schreckt manche Beobachter, vor allem Nichtmathematiker, ein wenig auf. Die mogeln also, die Mathematiker. Leider geht es nicht anders. Die Natur ist viel zu kompliziert. Aber wir werden ja sehen, wie weit wir kommen.
Das mathematlische Modell Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton hatten zeitgleich die Integralrechnung entwickelt. Kepler wusste also, dass er ein bestimmtes Integral auszurechnen hatte, also so etwas wie b
I(f) = ∫ f(x) dx. a
Aber für das Weinfass kannte er die Funktion f(x) leider nicht. So hatte er zwar eine mathematische Aufgabe, konnte sie aber nicht lösen. Diese Formel ist das mathematische Modell.
Das numerische Modell Wie wir es oben schon geschildert haben, entwickelte Kepler eine Näherungsformel aus der Idee, statt der unbekannten Funktion f(x) eine Parabel zu wählen. So gelangte er zu seiner Fassregel: Q K (f) =
b−a a+b (f(a) + 4f( ) + f(b)) . 6 2
Diese Regel ist das numerische Modell, denn es lässt sich ja ziemlich einfach damit umgehen.
Das Computer-Modell Allerdings ist diese Regel recht grob. Und da wir heute mit Computern viele Rechnungen durchführen können, betrachten wir die Idee von Simpson, die
16 | 1 Die Kepler’sche Fassregel
Regel von Kepler mehrfach anzuwenden. Das ergibt dann das Computermodell: b
∫ f(c) dx ≈ a
h (f(a) + 4f(a + h) + 2f(a + 2h) 3 + 2f(a + (2N − 2)h) + 4f(a + (2N − 1)h) + f(b)) mit h =
b−a . 2N
Das sieht jetzt reichlich formal aus und erschreckt Sie vielleicht auch ein wenig. Wir wollen es aber auch dabei belassen, denn wie gesagt, es ist ein Modell für den Computer. Und wer mit dem Computer diese Formel programmieren will, der versteht sie sicher auch. Alle anderen sollen ja nur einmal einen Blick auf die Modellbildung werfen.
Verlässlichkeit Hier haben wir sogar zwei Kriterien angegeben, die unser Modell bewerten. Da ist zuerst die Erkenntnis, dass mit der Kepler’schen Fassregel nicht nur Polynome zweiten Grades, sondern sogar dritten Grades noch exakt integriert werden. Mathematisch sagt man, dass diese Quadraturregel die Ordnung 3 hat. Na gut, nur eine Sprechweise. Dann aber können wir sogar etwas sehr Wesentliches über den Fehler aussagen. Er wird umso kleiner, je mehr Funktionswerte wir verwenden. In den Fehler geht der Abstand h der Teilintervalle mit der 4. Potenz ein. Das ist doch ein ganz erstaunliches Ergebnis.
Diskussion Wir haben jeweils bei der Vorstellung der einzelnen Punkte unseres Modellkreises schon viel diskutiert, so dass dieser Punkt hier für unser Beispiel wegfallen kann. Prinzipiell sollte man diesen Punkt aber beachten. Es macht immer Sinn, sich ab und zu zurückzulehnen und auf sein erreichtes Ergebnis mit etwas Abstand zu blicken.
1.7 Zur Modellbildung
| 17
Zurück zum physikalischen Modell Jetzt sollten wir anhand von Beispielen die Methode durchprobieren und dann mit der Wirklichkeit vergleichen, also tatsächlich einmal ein Weinfass ausleeren, um den Inhalt zu messen, und dann das Ergebnis mit unserer Näherungsrechnung vergleichen, so wie wir es oben für die einfache Fassregel von Kepler anhand eines Minifasses vorgeführt haben. In Fachbüchern über Numerische Mathematik findet man viele durchgerechnete Beispiele, vgl. z. B. [10].
2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel? 2.1 Eine Kinderfrage? Das ist doch eine interessante Frage, die vermutlich aus einem Kindermund stammt. Warum fallen die Wolken eigentlich nicht herunter, sondern schweben so frei über unseren Köpfen? An klaren Tagen sieht man einzelne Wolken herrlich am Himmel ruhig vom Wind dahingleiten. Wir kommt es, dass die schweben? Was auch immer ich in die Luft vor mir halte, es fällt, sobald ich es loslasse, nach unten. Wenn ich etwas Schweres wie z. B. ein Buch vor mich halte oder eine Tasse Kaffee, ist das sehr einsichtig und braucht nicht extra überprüft zu werden. Aber auch wenn wir eine flaumenweiche Feder in die Luft halten und loslassen, trudelt sie hin und her schwankend nach unten. Sie bleibt nicht in der Luft schweben. Selbst Seifenblasen schweben in Richtung Erdboden, auch wenn sie der Wind manchmal weit wegwirbelt. Kinder lieben es, aus Papier Flugzeuge zu basteln, die man dann vom Balkon loswirft. Auch sie haben den Drang nach unten. Erinnern Sie sich an den fliegenden Robert? Der Junge wollte bei schlechtem Wetter mit seinem Regenschirm draußen spazieren gehen. Da kam ein Windstoß und blies ihn hoch in die Luft, bis er nicht mehr gesehen wurde. Wer erzählt seinen Kindern bloß solch eine unsinnige Geschichte? Warm angezogen, kann man doch auch im Regen tolle Spaziergänge machen. Und noch nie ist ein Mensch vom Wind hoch in die Luft gezogen worden. Also Fazit: Alles fällt Richtung Erdboden? Warum aber die Wolken nicht? Eine Ausnahme kennen wir immerhin auch. Wir alle haben ja einmal mit Luftballons gespielt. Auf manchen Jahrmärkten werden sie mit Helium oder einem anderen sehr leichten Gas gefüllt. Dann sind sie, wenn sie kräftig aufgeblasen sind, tatsächlich leichter als Luft und schweben nach oben. Nach dem gleichen Prinzip fuhren – ja, Ballons und Zeppeline fahren, sie fliegen nicht, wie jeder, der mal in einen Heißluftballon klettert, als Erstes lernt – die Zeppeline. Aber Wolken sind nicht mit Helium gefüllt, sondern sie bestehen aus kleinen Wassertröpfchen. Ja, manchmal, wenn sie größer sind, fallen sie doch, dann nennen wir das Regen. Manchmal ist die Luft ringsum
20 | 2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?
Abb. 2.1: Eine Schönwetterwolke.
voll davon, wenn so ein dicker Herbstnebel herumwabert. Das werden wir am Schluss kurz erörtern, wenn wir zuvor das Schweben erklärt haben.
2.2 Newtons Idee der Gravitation Angeblich hat ein herabfallender Apfel im Jahre 1665 Isaac Newton (1643–1727) auf die grundlegende Idee mit der Schwerkraft gebracht, eine geistige Leistung, die man kaum hoch genug einschätzen kann. Heute kennt jeder Schüler den Begriff Gravitation, also Schwerkraft, aber 1665? Newton hatte vorher schon festgestellt, dass Erstes Newton’sches Axiom: Actio = Reactio, jede Kraft also eine Gegenkraft auslöst. Sein zweites Axiom ist mindestens ebenso bemerkenswert: Zweites Newton’sches Axiom:
Kraft = Masse mal Beschleunigung.
Und nun noch die Gravitation. Newton fragte als einer der führenden Mathematiker neben Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) natürlich sofort, ob
2.2 Newtons Idee der Gravitation |
21
dahinter nicht ein allgemeines Gesetz steckt. Versuche mit Holz- und Metallkugeln, exakt gleiche Größe, aber unterschiedlich schwer, brachten die Erkenntnis, dass alle Körper gleich schnell fallen, wenn man eine Zusatzbedingung beachtet. Im Physikunterricht wird sehr gerne folgender Versuch gezeigt. Man nimmt eine kleine Feder und eine Münze und lässt sie gemeinsam auf den Experimentiertisch fallen. Die Feder braucht wesentlich länger, bis sie unten ist. Dann steckt man beide Objekte in eine Röhre, die luftleer gepumpt wird. Und jetzt die Überraschung: In der luftleeren Röhre fallen beide Gegenstände gleich schnell zu Boden. Das bedeutet natürlich, dass durch die Schwerkraft alle Gegenstände gleich beschleunigt werden. Nach obigem Gesetz, dass Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist, muss also deshalb die Kraft von der Masse des anziehnden Körpers abhängen, sonst würde ja in der Gleichung links die Kraft ohne Masse, rechts aber die Masse auftreten. Das kann nicht sein. Wegen des ersten Axioms ist diese Kraft dann natürlich auch abhängig von der zweiten beteiligten Masse des fallenden Körpers. Dann brauchte es ein gehöriges Maß an Intuition, anzunehmen, dass diese Gravitationskraft mit dem Quadrat r2 von der Entfernung r zwischen den beiden Objekten abhängt. So gelangt man zu dem Gesetz, das sich in der Praxis voll bestätigt hat: Gravitationsgesetz:
F = G⋅
m1 ⋅ m2 . r2
Dabei ist G die Gravitationskonstante, die erst hundert Jahre später Henry Cavendish (1731–1810) im Jahre 1798 zu G ≈ 6,754 ⋅ 10−11
N ⋅ m2 kg2
annäherte. Loránd Eötvös (1848–1919) verbesserte diese Angabe dann zu G ≈ 6,65 ⋅ 10−11
N ⋅ m2 kg2
.
Jetzt wissen wir also, mit welcher Kraft die Erde alle Gegenstände anzieht, aber sind noch keinen Deut weiter bei der Frage, warum die Wolken diesem Gesetz offensichtlich nicht gehorchen. Dazu müssen wir uns etwas genauer mit den Wolken befassen.
22 | 2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?
2.3 Wolkeneinteilung nach Howard Bereits im Jahre 1803 entwickelte Luke Howard (1772–1864), ein Apotheker aus London, eine Theorie über die Einteilung der Wolken, vgl. [17]. Dabei orientierte er sich an der Höhe der Wolken über dem Erdboden. Er betrachtete vier verschiedene Typen, die heute zwar in viele feinere Abteilungen untergliedert sind, aber im Prinzip immer noch so eingeteilt werden: 1. Stratus: A widely extended horizontal sheet, increasing from below. Also weit ausgedehnte horizontale Schichtwolken, die von unten hochwachsen. 2. Cumulus: Convex or conical heaps, increasing upward from a horizontal base. Konvexe oder kegelförmige Haufenwolken, die von einer unteren horizontalen Basis an hochwachsen. 3. Cirrus: Parallel, flexuous fibres extensible by increase in any or all directions. Parallele gekrümmte (oder gewundene) Fasern, die sich in eine oder in alle Richtungen ausdehnen können. 4. Nimbus: Systems of clouds from which rain falls. System von Wolken, die Regen hervorbringen.
2.4 Howards Ehrengedächtnis Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der ja sehr an Naturphänomenen interessiert war und eine eigene, heute nicht mehr haltbare Farbenlehre hervorbrachte, war von Howards Typisierung der Wolken so begeistert, dass er Gedichte zu Ehren von Howard verfasste. Hier zunächst seine Zeilen, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen, zur Cumulus-Wolke, die wir oben im Bild gezeigt haben: Cumulus Und wenn darauf zu höhrer Atmosphäre Der tüchtige Gehalt berufen wäre, Steht Wolke hoch, zum herrlichsten geballt, Verkündet, festgebildet, Machtgewalt, Und, was ihr fürchtet und auch wohl erlebt, Wie’s oben drohet, so es unten bebt.
Und hier jetzt das Loblied auf Luke Howard, das Goethe 1820 verfasste.
2.5 Viskosität der Luft
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Wenn Gottheit Camarupa, hoch und hehr, Durch Lüfte schwankend wandelt leicht und schwer, Des Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut, Am Wechsel der Gestalten sich erfreut, Jetzt starr sich hält, dann schwindet wie ein Traum, Da staunen wir und traun dem Auge kaum; Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft, Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft; Da droht ein Leu, dort wogt ein Elefant, Kameles Hals, zum Drachen umgewandt, Ein Heer zieht an, doch triumphiert es nicht, Da es die Macht am steilen Felsen bricht; Der treuste Wolkenbote selbst zerstiebt, Eh er die Fern erreicht, wohin man liebt. Er aber, Howard, gibt mit reinem Sinn Uns neuer Lehre herrlichsten Gewinn; Was sich nicht halten, nicht erreichen läßt, Er faßt es an, er hält zuerst es fest; Bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein, Benennt es treffend! – Sei die Ehre dein! Wie Streife steigt, sich ballt, zerflattert, fällt, Erinnre dankbar deiner sich die Welt.
Nach diesem Ausflug in die Welt der Dichter nun wieder zurück zu den Denkern; denn immer noch wissen wir nicht, warum die Wolken schweben.
2.5 Viskosität der Luft Auch wenn man es nicht glauben mag, aber ein Liter Luft wiegt ungefähr 1,293 g. Vielleicht ist die Vorstellung besser, dass ein Kubikmeter Luft ungefähr 1,293 kg wiegt, also ungefähr so viel wie zwei Flaschen Bier. Luft, die man nicht sieht und kaum spürt, auch wenn wir alle schon einmal einen Fön in der Hand gehabt oder einen Ventilator gesehen haben, hat also Gewicht. Bei heftigen Wind- und Sturmböen kann sie uns fast umblasen. Also Luft ist Materie. Der englische Mathematiker und Physiker Sir George Gabriel Stokes (1819–1903) untersuchte die weiteren Eigenschaften von Flüssigkeiten und Gasen ganz allgemein. Dabei stieß er auf die Zähigkeit oder lat. Viskosität, die er mit dem griechischen Buchstaben η bezeichnete. Er untersuchte vor allem Flüssigkeiten, weil dort die Viskosität ausgeprägter ist. Dabei zog er mehr als Gedan-
24 | 2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?
kenexperiment eine kleine Kugel vom Radius r durch eine Flüssigkeit und überlegte, dass direkt an der Kugel die Flüssigkeitsteilchen haften bleiben. Die unmittelbar benachbarten Teilchen werden dann von den haftenden Teilchen mitgerissen, aber immer weniger, je weiter weg sie von der Kugel sind. Seine Beobachtung war, dass im Abstand r des Kugelradius die Flüssigkeit ruhig bleibt. Wenn wir jetzt annehmen, was sicherlich nur eine Näherung ist, dass die Geschwindigkeit der Teilchen vom Kugelrand bis zum Abstand r umgekehrt proportional mit r abnimmt, dann ist also, wenn die Bewegung der Kugel in x-Richtung erfolgt, dv v ≈ . dx r Die Kraft F, die damit auf die Kugel als Bremse einwirkt, ist, weil die Kugel die Oberfläche O = 4 ⋅ π ⋅ r2 hat, F≈η⋅
dv ⋅ 4 ⋅ π ⋅ r2 = −4 ⋅ π ⋅ η ⋅ v ⋅ r. dx
Wenn wir also mit dieser Kraft an der Kugel ziehen, schaffen wir es, sie auf die Geschwindigkeit v zu bringen. Das war aber eine ziemlich grobe Herleitung dieser Formel. Die Annahme über die Geschwindigkeitsabnahme war zu grob. Leider ist eine genauere Herleitung sehr aufwendig. Wir müssen Sie daher auf die Spezialliteratur verweisen. Tatsächlich ist der Unterschied auch nicht sehr groß. Wir beschreiben das im folgenden Satz: Satz 2.1 (Satz von Stokes). Eine in einer strömenden Flüssigkeit ruhende Kugel erfährt eine Reibungskraft der Größe F = −6 ⋅ π ⋅ η ⋅ r ⋅ v. Wir haben also nur statt des Faktor 4 den Faktor 6 zu berücksichtigen. Jetzt müssen wir die Physik mit der Mathematik verbinden. Wir benutzen folgende Abkürzungen: v Geschwindigkeit der umgebenden Flüssigkeit oder des Gases V Volumen des betrachteten Teilchens g Erdbeschleunigung r Radius des sinkenden Teilchens ϱ p Dichte des Teilchens ϱ f Dichte der Flüssigkeit oder des Gases η Viskosität der Flüssigkeit oder des Gases
2.5 Viskosität der Luft
|
25
Für die Viskosität der Luft finden wir in Physikbüchern die Angabe: ηLuft = 0,0000174 [
N⋅s ] m2
mit der Stokes-Reibung FReibung = 6πrηv, die wir gerade oben halb hergeleitet haben, und dem statischen Auftrieb, also dem Gewicht der verdrängten Flüssigkeit FAuftrieb = ρ f Vg und der Gewichtskraft infolge der Gravitation FGewicht = ρ p Vg machen wir den Ansatz FReibung = FGewicht − FAuftrieb . Wir schreiben die Gleichung mit unserer Formel hin: 6πrηv = ρ p Vg − ρ f Vg. Wenn wir jetzt ein kleines Wassertröpfchen betrachten, so ist das wirklich sehr klein in solch einer schwebenden Wolke. Der Durchmesser variiert zwischen 0,001 mm und 0,015 mm. Die Dichte ϱ f von Wasser ist 1000 kg/m3, die Dichte ϱ p der Luft haben wir oben bereits zu 1,293 kg/m3 angegeben. Die Erdbeschleunigung ist g = 9,81 m/s2 . Damit haben wir alle Größen in obiger Gleichung, nur die Sinkgeschwindigkeit v fehlt. Also können wir dieses v aus dieser Formel berechnen. Die (stationäre) Sinkgeschwindigkeit ist v=
2 ⋅ r2 ⋅ g ⋅ (ρ p − ρ f ) . 9⋅η
Wenn wir hier alle Daten einsetzen, erkennen wir, dass diese kleinsten Tröpfchen sehr langsam sinken. Dazu stellen wir noch einmal alle Vorgaben zusammen:
26 | 2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?
Phys. Größe
Abkürzung
Zahlenwert
Einheiten
Viskosität
η
0,0000174
N ⋅ s / m2
Tröpfchenradius
r
0,001
mm
Tröpfchenradius
r
0,00001
m
Dichte der Luft
ϱp
1293
kg / m3
Dichte des Wassers
ϱf
1000
kg / m3
Hier müssen wir aufpassen, dass der Tröpfchenradius in mm angegeben ist, alle anderen Größen aber in m. Also haben wir in der vierten Zeile den Tröpfchenradius noch einmal in m angeführt. Jetzt liegen zwei Rechnungen vor uns. Einmal müssen wir rein numerisch den Zahlenwert der Sinkgeschwindigkeit v unter Mithilfe unseres kleinen Taschenrechners ausrechnen: v=
2 ⋅ 0,000012 ⋅ 9,81 ⋅ (1,293 − 1000) 9 ⋅ 0,0000174
= −0,0125. In einer zweiten kurzen Rechnung sollten wir uns über die verwendeten physikalischen Einheiten klarwerden und überlegen, ob das Ergebnis Sinn macht, ob sich also Einheiten einer Geschwindigkeit ergeben: [
m m2 ⋅ kg ⋅ m ⋅ s ⋅ m ] = [ ]. s m3 ⋅ s2 ⋅ kg
Durch einfaches Kürzen haben wir also gefunden, dass wir es wirklich mit einer Geschwindigkeit zu tun haben. Und unser Ergebnis lautet: Nach kurzer Zeit hat der Tropfen bereits seine Endgeschwindigkeit erreicht und sinkt dann mit etwa Sinkgeschwindigkeit eines kleisten Wassertröpfchens ≈ 1 cm/s.
2.6 Die Erklärung
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27
2.6 Die Erklärung Jetzt haben wir es in dem Topf, wo es kocht. Das ist der Knackpunkt, die winzigen Tröpfchen sinken nur sehr geruhsam nach unten. Wie war das, alles fällt nach unten, ja, auch die Wolken, also das, woraus Wolken bestehen, nämlich aus Wassertröpfchen. Wenn die aber auf ihrem Weg nach unten in wärmere Luftschichten kommen, so sind diese kleinen Tröpfchen auch ganz schnell verdunstet. Na, und was passiert dann? Richtig, der Wasserdampf steigt wieder nach oben. Oben wartet aber eine kältere Luftschicht, so dass der Wasserdampf wie im Winter an einer kalten Scheibe wieder zu einem Tropfen kondensiert. Prompt fällt der wieder nach unten, und das Ganze wiederholt sich und wiederholt sich. Diese Grenze, wo die wärmere Luftschicht die Tröpfchen zum Verdunsten bringt, ist auch zugleich die Grenze, bis zu der die Wolken zu schweben scheinen.
2.7 Lass regnen, wenn es regnen will Was hat es denn nun noch mit dem Regen auf sich? Wir hatten doch erklärt, dass die Tröpfchen nur bis zu einer gewissen Höhe über dem Erdboden herabsinken. Dort treffen sie auf wärmere Luftschichten und verdunsten. Wenn aber jetzt das Wetter schlechter wird, dann sinkt diese wärmere Luftschicht auch tiefer und tiefer, bis sie vielleicht unten am Boden ist. Jedenfalls werden manchmal die Tröpfchen größer bis zu mehreren Millimetern Durchmesser. Dann sinken sie schneller und die Schicht, wo sie verdunsten können, sinkt tiefer. Dann haben wir Nebel oder Regen oder Schnee oder Hagel um uns herum. Noch eine kleine Beobachtung möchte ich Ihnen auf den Weg geben. Wenn Sie das nächste Mal in einem Flugzeug sitzen und wenn der Pilot den Sinkflug einleitet, was Sie am Knacken in den Ohren spüren, dann sehen Sie manchmal die Wolken unter sich immer näher und näher kommen. Achten Sie darauf, wenn das Flugzeug in die Wolken eindringt, dann wird es sehr unruhig. Diese ruhig dahinschwebenden Wolken sind eben nicht ruhig, sondern darin ist ein ständiges Auf und Ab der Tröpfchen. Das merken Sie manchmal sogar sehr heftig am Ruckeln und Wackeln des gesamtem Flugzeugs. Aber jetzt wissen Sie, woher dieses Gewackle kommt, und Sie können sicher sein, dass die Konstrukteure des Flugzeugs dieses Phänomen
28 | 2 Warum fallen die Wolken nicht vom Himmel?
auch kennen und in ihren Berechnungen einbezogen haben. Noch nie ist ein Flugzeug dadurch abgestürzt. Einfach festhalten und durch.
2.8 Weitere Wolkengedichte von Goethe Stratus Wenn von dem stillen Wasserspiegel-Plan Ein Nebel hebt den flachen Teppich an, Der Mond, dem Wallen des Erschein’s vereint, Als ein Gespenst Gespenster bildend scheint, Dann sind wir alle, das gestehn wir nur, Erquickt, erfreute Kinder, o Natur! Dann hebt sich’s wohl am Berge, sammelnd breit, An Streife Streifen, so umdüstert’s weit Die Mittelhöhe, beidem gleich geneigt, Ob’s fallend wässert oder luftig steigt. Cirrus Doch immer höher steigt der edle Drang! Erlösung ist ein himmlisch leichter Zwang. Ein Aufgehäuftes, flockig löst sich’s auf, Wie Schäflein tripplend, leicht gekämmt zuhauf. So fließt zuletzt, was unten leicht entstand, Dem Vater oben still in Schoß und Hand. Nimbus Nun laßt auch niederwärts, durch Erdgewalt Herabgezogen, was sich hoch geballt, In Donnerwettern wütend sich ergehn, Heerscharen gleich entrollen und verwehn! Der Erde tätig leidendes Geschick! Doch mit dem Bilde hebet euren Blick. Die Rede geht herab, denn sie beschreibt; Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.
3 Warum fliegt ein Flugzeug? Ein Airbus A 320 wiegt, wenn er voll besetzt ist, ca. 90 Tonnen. Ein Airbus A 380 bringt es sogar auf 560 Tonnen. Das ist richtig viel. Da fragt man sich doch, wie ein solches Ungetüm eigentlich in die Luft kommt und dann noch weite Strecken fliegen kann?
3.1 Das Gesetz von Bernoulli Der Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli (1700–1782) beschäftigte sich intensiv mit der Strömung von Flüssigkeiten. Sein Hauptwerk „Hydrodynamica“ veröffentlichte er 1738. Darin untersuchte er, wie sich eine Flüssigkeit verhält, wenn der Fließweg verengt wird wie in einem Flaschenhals, vgl. Abb. 3.1.
A
A
Abb. 3.1: Strömung durch einen Flaschenhals.
Wenn wir jetzt einbeziehen, dass Luft nahezu inkompressibel ist, dann muss die Luft im Flaschenhals wesentlich schneller strömen als davor. Dies kennen wir alle, wenn an einer Autobahnbaustelle zwei Spuren auf eine zusammengeführt werden. Würde man dort doppelt so schnell fahren, käme es nicht zu einem Stau. Aber in der Regel wird die Geschwindigkeit an solchen Engstellen sogar noch gedrosselt, was natürlich der Verkehrssicherheit, aber nicht dem schnellen Durchfluss dient. Um das auch mathematisch zu überprüfen, spielen wir ein bisschen mit physikalischen Gleichungen. Wegen der Inkompressibilität durchströmt ein Volumen V in der Zeit t im großen Raum mit der Querschnittsfläche A1 eine kleine Strecke x1 . Dasselbe Volumen V durchströmt dann im Raum mit dem kleinen Querschnitt A2 eine längere Strecke x2 , wobei aber gilt: A1 ⋅
x1 x2 = A2 ⋅ ⇐⇒ A1 ⋅ v1 = A2 ⋅ v2 . t t
30 | 3 Warum fliegt ein Flugzeug?
Hier bezeichnen wir mit v1 bzw. v2 die Geschwindigkeiten in den beiden Rohrteilen. Wegen der Gleichheit, weil die Flüssigkeit inkompressibel ist, ist also v2 > v1 . Im engen Teil fließt die Flüssigkeit daher schneller. Jetzt betrachten wir die zugehörigen Energien, zunächst die potentielle Energie. Wegen Arbeit W = Kraft F ⋅ Weg x, also W = F ⋅ x und wegen Druck p =
F Kraft F , ⇐⇒ p = Fläche A A
erhalten wir W 1 = p 1 ⋅ A1 ⋅ x 1 = p 1 ⋅ V und analog im engen Durchlass W 2 = p 2 ⋅ A2 ⋅ x2 = p 2 ⋅ V. Für die Gesamtbilanz betrachten wir jetzt die kinetische Energie. Es ist E kin =
1 ⋅ m ⋅ v2 . 2
Um das Volumen einzubeziehen, gehen wir über die Dichte ϱ mit ϱ = also m = ϱ ⋅ V. Damit folgt E kin =
m V,
1 ⋅ ϱ ⋅ V ⋅ v2 . 2
Aus dem Energieerhaltungssatz, dass die Summe aus potentieller und kinetischer Energie stets konstant ist, erhalten wir eine Gleichung: E Pot1 +
E Kin1 = E Pot2 + E Kin2 1 1 p 1 ⋅ V+ ⋅ ϱ ⋅ V ⋅ v21 = p 2 ⋅ V + ⋅ ϱ ⋅ V ⋅ v22 . 2 2 Hier können wir noch das sich nicht ändernde Volumen V herauskürzen und erhalten: 1 1 (3.1) p 1 + ⋅ ϱ ⋅ v21 = p 2 + ⋅ ϱ ⋅ v22 . 2 2 Dabei ist p der statische Druck und 12 ⋅ ϱ ⋅ v2 der dynamische Druck. Weil die Stellen, die wir mit Index 1 und Index 2 benannt haben, willkürlich waren, können wir also schließen:
3.1 Das Gesetz von Bernoulli
| 31
Satz 3.1 (Satz von Daniel Bernoulli). Die Summe aus statischem Druck p und dynamischem Druck 12 ⋅ ϱ ⋅ v2 ist konstant: p+
1 ⋅ ϱ ⋅ v2 = const. 2
Diese große Erkenntnis müssen wir nur richtig betrachten, dann erkennen wir auch die fulminanten Auswirkungen. Dazu stellen wir die Gleichung (3.1) etwas um: p1 − p2 =
1 1 ⋅ ϱ ⋅ (v22 − v21 ) = ⋅ ϱ ⋅ (v2 + v1 ) ⋅ (v2 − v1 ). 2 2
Da war der dritte binomische Lehrsatz hilfreich. Es ist 12 ⋅ (v2 + v1 ) der Mittelwert der beiden beteiligten Geschwindigkeiten. Nennen wir sie v. Dann lautet die letzte Gleichung: p 1 − p 2 = ϱ ⋅ v ⋅ (v2 − v1 ). Das bedeutet nun: Wenn irgendwo die Strömung zwei verschiedene Geschwindigkeiten v1 und v2 annimmt, so entsteht dort eine Druckdifferenz p 1 − p 2 . Diese bewirkt einen Zug oder eine Kraft in Richtung des Druckgefälles, also senkrecht zu den Stromlinien. Das können wir mit einem einfachen Experiment mit Blatt und Trichter zu Hause am Küchentisch vorführen. In der Abb. 3.2 zeige ich Ihnen ein Foto aus unserer Küche. Mit einem Trichter, damit sich der Luftstrom gut leiten lässt, blase ich dort unter ein erhöht gelegtes Papier. Man möchte doch vermuten, dass das Papier hoch in die Luft fliegt, wenn ich darunter blase. Aber das Gegenteil passiert. Man sieht an dem Bild, wie sich das Blatt geradezu nach unten biegt. Hoch wegfliegen ist keine Option, nach unten durchbiegen, das sieht man. Prüfen Sie es selbst zu Hause, es ist verblüffend. Nachdem wir aber das Gesetz von Bernoulli kennengelernt haben, ist klar, dass das Papier gar nicht anders kann. Unterhalb ist eine viel höhere Geschwindigkeit durch mein starkes Blasen, oben bleibt die Luft ja in Ruhe. Dadurch entsteht ein großer Sog in Richtung Tischplatte und bewirkt, dass sich das Blatt durchbiegt.
32 | 3 Warum fliegt ein Flugzeug?
Abb. 3.2: Bernoulli-Experiment.
3.2 Flugzeugflügel Diese Entdeckung des Mathematikers Daniel Bernoulli tritt uns in sehr vielen Begebenheiten des Alltags entgegen. Die oben eingangs gestellte Frage, wieso ein Flugzeug überhaupt in die Luft kommt, gehört dazu. Sie sehen in Abb. 3.3 den Querschnitt eines typischen Flugzeugflügels. Sog
Druck
Abb. 3.3: Skizze eines Flugzeugflügels mit Strömungslinien.
3.3 Warum wird bei Schneetreiben meine Autoscheibe nicht nass? | 33
Oben ist eine stärkere Wölbung ausgeformt. Wenn das Flugzeug jetzt Anlauf nimmt und schnell vorwärtsfährt, wie es das beim Start tut, so wird die Luft oben um den Flügel herumgelenkt, die Strömungslinien werden oben sehr viel stärker verengt. Dadurch entsteht nach Bernoulli eine Sogwirkung nach oben. Durch das Schrägstellen des Flügels drückt die Luft von unten an die Flügelfläche und hebt das Flugzeug damit hoch. Aber dieser Effekt bewirkt nur ungefähr ein Drittel der gesamten Kraft, die das Flugzeug in die Luft hebt. Zwei Drittel entstehen durch die Sogwirkung oberhalb des Flügels infolge des Bernoulli-Effekts. Früher haben wir mit einem kleinen Spielhubschrauber – also da war nur die Scheibe mit den Rotorblättern – gespielt. Mit einem geriffelten Plastikstäbchen konnte man die Scheibe in schnelle Rotation versetzen. Wie von Zauberhand hob sich die Scheibe dann und flog bis zur Zimmerdecke, im Freien sogar noch höher. Wenn Sie sich diese Rotorblätter anschauen, sieht man genau die Form unseres in der Skizze 3.3 dargestellten Flügels.
3.3 Warum wird bei Schneetreiben meine Autoscheibe nicht nass? Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Bei leichtem Schneetreiben ist es vor allem abends, wenn man mit Licht Auto fahren muss, interessant, die Schneeflocken zu betrachten, die da im Autoscheinwerfer auf den Fahrer zugeflogen kommen. Man möchte ständig zusammenzucken und die Augen verschließen, aber wie durch Zauberhand werden die kleinen Schneeflocken kurz vor dem Aufprall auf die Windschutzscheibe nach oben fortgerissen und die Scheibe bleibt trocken. Jedes Mal fasziniert mich dieser Anblick. Wie kommt das? Na klar, wieder ist Herr Bernoulli im Spiel. Schauen Sie sich meine unvollkommene Skizze an, Abb. 3.4. Das Auto fahre nach links, die Schneeflocken fallen also von links kommend gegen das Auto. Aber da der Wind durch das Auto gestört wird, werden die Strömungslinien direkt vor der Windschutzscheibe zusammengepresst und um das Auto umgelenkt. Dadurch entsteht nach Bernoulli ein Zug nach links oben, den wir durch Pfeile angedeutet haben. So werden Schneeflocken direkt vor der Windschutzscheibe nach oben gewirbelt. Und das kann
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Abb. 3.4: Schneeflocken vor einem fahrenden Auto.
man genau beobachten, wenn man bei Schneetreiben darauf achtet. Regentropfen sind leider zu schwer, klatschen daher an die Scheibe, und wir müssen wischen.
3.4 Schneeschutzzäune Im Winter kann man an vielen Streckenabschnitten nicht nur von Autobahnen, sondern auch von Bundes- und Landstraßen die Schneeschutzzäune sehen. Aber wie dumm haben denn die Straßenbauer die Zäune aufgestellt? Weit weg von der Straße stehen sie im Feld herum. Die sollten doch eigentlich direkt am Straßenrand stehen, damit sie den Schnee abhalten.
Abb. 3.5: Schneezaun.
Bitte nicht so oberlehrerhaft. Die Leute wissen genau, was sie tun; sie kennen nämlich auch Herrn Bernoulli. Es ist gar nicht so, dass die Zäune den
3.4 Schneeschutzzäune
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Schnee aufhalten und vor ihnen ein Berg Schnee entsteht. Wir müssen genau die Strömungsverhältnisse beachten.
A
Abb. 3.6: Skizze eines Schneezaunes.
So wie ich es in Abb. 3.6 angedeutet habe, werden die Schneeflocken nicht vom Zaun aufgehalten, sondern über den Zaun hinweggetragen und fallen dann, wenn sie den Zaun überquert haben, ein oder zwei Meter hinter dem Zaun in Richtung Straße wieder zu Boden, wo sie dann einen regelrechten Berg bilden. Wenn die Zäune direkt an der Straße stünden, würde dieser Berg genau auf der Straße entstehen, was ziemlich dumm wäre. Wir sehen das im Bild 3.7. Das Foto habe ich von der Straße aus mit leichtem Zoom aufgenommen.
Abb. 3.7: Schneeschutzzaun mit Schneeberg.
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Man sieht deutlich, dass hinter dem Zaun – wir schauen von der Straße her zum Zaun – nur wenig Schnee liegt. Der Zaun fängt also den Schnee nicht auf. Aber von uns aus gesehen vor dem Zaun, direkt davor liegt überhaupt kein Schnee, erst zwei Meter weiter liegt geradezu eine Schneewehe. Dort fallen die hochgewirbelten Schneeflocken also herunter. Und weil der Zaun 20 Meter neben der Straße steht, bleibt der Schnee auf dem Feld und fällt nicht auf die Straße.
3.5 Weitere Beispiele Unser Alltag ist voll von weiteren Beispielen, wo der Bernoulli-Effekt eine Rolle spielt. – Weißer Bahnhofsstrich In Bahnhöfen findet man an allen Bahnsteigen, an denen ein ICE vorbeifährt, eine weiße Linie am Boden, die man bei Vorbeifahrt eines ICE nicht überschreiten sollte. Infolge des Bernoulli-Effektes könnte man bei schneller Fahrt des Zuges durch die Sogwirkung an den Zug herangezogen werden – mit schrecklichen Folgen. – Regenschirm Wenn Sie bei Regen mit einem Schirm unterwegs sind, passiert es bei einer Windböe sehr häufig, dass der Schirm nach oben geklappt wird. Wieder hat Bernoulli zugeschlagen. Durch die Verengung der Strömungslinien, die wir durch unseren Schirm der Luft zugemutet haben, entsteht ein Sog, der den Schirm umklappen lässt. – Sturm und Hausdach Interessant ist es auch, die Wirkung eines heftigen Sturmes zu beobachten. Viele meinen, dass ein überstehendes Hausdach den Wind geradezu einlädt, darunter zu fahren und die Ziegel abzudecken. Wenn man aber den Schaden genau beobachtet, sieht man häufig, dass die Randziegel wunderbar auf dem Dach geblieben sind, aber weiter oben im Dach klafft ein Loch. Wieder ist es Bernoulli, der dieses Übel erklärt. Durch die Sogwirkung dort, wo die Stromlinien zusammengedrückt werden, also über dem Dach, werden die Dachziegel emporgerissen. – Flussbiegung Einen überraschenden Zusammenhang mit Bernoulli findet man an großen Flüssen. Vielleicht besuchen Sie einmal eine große Flussbiegung. Nehmen wir an, der Fluss macht eine Kurve nach rechts in Fließ-
3.5 Weitere Beispiele
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richtung. Dann wissen geschickte Paddler, die flussabwärt fahren, dass man an der Innenkurve fahren muss, nicht nur, weil der Weg dort kürzer ist, sondern weil das Wasser an der Innenkurve schneller fließt. Das hängt, wie Brian Clegg in [2] erklärt, mit der Erhaltung des Drehimpulses zusammen. Den Effekt können Sie bei Eiskunstläufern beobachten, wenn sie Pirouetten drehen. Lassen sie die Arme ausgestreckt, so drehen sie sich langsam. Ziehen sie aber die Arme eng an den Körper, drehen sie sich rasant herum. Genauso ist es mit den Wasserteilchen. Diejenigen, die nah an der Kurve sind, bewegen sich schneller als die weiter außen fließenden, denn so verlangt es die Erhaltung des Drehimpulses. Jetzt tritt Herr Bernoulli auf den Plan. Innen rechts herum heißt schnelle Bewegung, außen rechts herum heißt langsame Bewegung. Also gibt es ein Druckgefälle von außen nach innen. Ja, genau so, von außen nach innen. Wasser strömt also in einer Rechtskurve von außen auf die Innenkurve zu. Dabei nimmt es natürlich Sediment aus dem Flussgrund mit. Dieses lagert sich also in der Innenkurve ab. Genau das kann man an Flussbiegungen beobachten: In der Innenkurve liegen Sandbänke. Als Folge dieses ständigen Zulieferns von Sand an die Innenkurve wird die Ausbuchtung größer, und das führt auf Dauer zu diesen verrückten Meanderbildungen der Flüsse. Fußball, Magnuseffekt Beim Fußball kennen ältere Leser sicher noch die berühmten Bananenflanken von Manfred Manni Kaltz. Wenn der den Ball von der Eckfahne in den Strafraum schoss, konnte man nie vorhersagen, wo der Ball hinflog. Je nachdem, wie er ihn anschnitt, konnte er zum Elfmeterpunkt oder auch direkt ins Tor fliegen. Heute kann das jeder Regionalspieler. Wie kommt der Effekt zustande? Wieder ist unser guter Bernoulli im Spiel. Der Magnus-Effekt, benannt nach Heinrich Gustav Magnus (1802–1870), der als Erster 1852 eine Erklärung für diesen Effekt angab, beschreibt das Verhalten eines Balles, der sich während des Fluges um seine eigene Achse dreht. Das geschieht dadurch, dass der Spieler den Ball nicht in der Mitte, sondern seitlich vesetzt trifft. Man kennt ja diesen Effet auch vom Billard. Nehmen wir für die Beschreibung jetzt an, dass der Ball links von der Mitte getroffen wurde. Dann dreht er sich während des Fluges von oben gesehen im Uhrzeigersinn. Dadurch bewegt sich die linke Seite des Balles gegen den Wind und bremst ihn ab, die rechte Seite bewegt sich in Windrich-
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tung und beschleunigt ihn. Nach Bernoulli entsteht so von der rechten zur linken Seite ein Druckgefälle, so dass der Ball nach rechts abgelenkt wird. Auch beim Tischtennis mit den viel kleineren Bällen kann man diesen Effekt erzielen. Der kleine Tischtennisball fliegt eine Kurve, je nachdem, welchen Drall man ihm versetzt. So habe ich es mit einem Tischtennisball Stefan Raab in einer Sendung gezeigt.
4 Mathematisch Kurven malen In diesem Kapitel möchte ich Ihnen zeigen, welche neuen Möglichkeiten sich auftun, seitdem wir die Computer haben. Die sind zwar unglaublich dumm, aber wenn sie einmal etwas beigebracht bekommen haben, können sie das ungeheuer schnell ausführen. Da ergeben sich völlig neue Ideen, die wir früher nur theoretisch im Kopf hatten. Eine dieser vielen neuen Gedanken ist das Zeichnen von Kurven mittels eines Computers. Man kürzt das heute vornehm mit CAD, also Computer Aided Design, ab. Was steckt dahinter?
4.1 Magnetneukurve Da legte mir ein Ingenieurstudent eines Tages ein Blatt mit merkwürdigen Zeichen auf den Schreibtisch und bat um Unterstützung. In der Abb. 4.1 sehen wir ein Messblatt eines Ingenieurbüros. Dort hat man kleine magnetisierbare Metallstücke, die aber noch nie magnetisiert
Abb. 4.1: Die Neukurve eines Magneten.
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worden waren, wo also die sogenannten Weiß’schen Bezirke noch völlig ungeordnet durcheinanderlagen, in ein veränderbares starkes Magnetfeld eingebracht und bei der Erhöhung des Magnetfeldes H die Magnetisierung T (Tesla) des Metallstücks gemessen. Diese Neukurve musste also bestimmt werden. Wir sehen das Messergebnis am unteren Rand. Nur damit Sie verfolgen können, wovon wir sprechen, schreibe ich die ersten drei Ergebnisse dieses Messprotokolls hier auf: T
kA/m J1
(
.1
)
0.015
J2
(
.2
)
.074
J3 .. .
(
.3 .. .
)
.157 .. .
Eine per Hand gemalte Kurve durch diese Messergebnisse sehen Sie in der Mitte der Abb. 4.1. Sie beginnt im Kreuzungspunkt der beiden Koordinatenlinien und geht dann nach rechts aufwärts. Die darunter liegende und die darüber liegende längere Kurve bilden dann die sogenannte Hystereseschleife, die dadurch entsteht, dass man die Magnetisierung wieder über Null hinaus ins Negative nach links zurückfährt. Das ergibt die obere Kurve. Anschließend magnetisiert man wieder und erhält die untere Kurve. Für meinen Studenten waren nur die Messpunkte der neuen Magnetisierung interessant. Um mit anderen Magneten zu vergleichen, brauchte er aber jetzt eine durchgehende Kurve, die die Messpunkte möglichst gut miteinander verband. Solche Fragestellungen ergeben sich sehr häufig in den anwendungsbezogenen Wissenschaften. Wir werden später einige weitere Beispiele nennen.
4.2 Lineare Splines Ein erstes leicht verständliches Hilfsmittel zur Erzeugung von Funktionen, die vorgegebene Messpunkte verbinden, sind die linearen Splines. Der Name kommt aus dem Schiffbau. Früher hat man Boote dadurch gebaut, dass man Hölzer, die den Verlauf des Bootes markierten, in den Boden gehämmert hat. Anschließend hat man sogenannte Straklatten, die von diesen
4.2 Lineare Splines
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Hölzern fixiert wurden, eingebracht und so das Boot gebaut. Anfangs hat man den Namen „Strakfunktion“ verwendet, der hat sich aber nicht durchgesetzt, sondern stattdessen der englische Begriff „Spline“. Wir beginnen hier mit einem ganz einfachen Beispiel. Wir suchen eine möglichst einfache Verbindung für die Punkte P 0 (x0 , y 0 ) = (1, 1), P 1 (x1 , y 1 ) = (2, 4), P 2 (x2 , y 2 ) = (4, −1). Dazu nehmen wir kleine Geradenstücke. Deren mathematische Beschreibung kennen wir aus der Schule: y = m ⋅ x + b. Dabei ist m die Steigung der Geraden und b der Achsenabschnitt auf der y-Achse, also der Funktionswert der Geraden bei x = 0. In dieser Gleichung stecken also zwei Unbekannte, m und b. Wir könnten also zwei Punkte, durch die die Gerade hindurchgehen möchte, in die Gleichung einsetzen und erhielten zwei Gleichungen, aus denen wir dann m und b ausrechnen könnten – alles im Konjunktiv, weil ich Ihnen eine bessere Methode vorschlagen will. Wir machen den Ansatz: y = a 0 + b 0 ⋅ (x − x0 ). Setzen wir hier die gegebenen Koordinaten des ersten Punktes P 0 ein, also x0 = 1 und y 0 = 1, so folgt sofort y 0 = 1 = a 0 + b 0 ⋅ (x0 − x0 ) = a 0 . Durch einfaches Hingucken haben wir also schon die erste Unbekannte zur Bekannten gemacht. Die zweite Unbekannte b0 ermitteln wir, indem wir den zweiten Punkt P 1 einsetzen, also mit x1 = 2 und y 1 = 4. Dann folgt 4 = a 0 + b 0 ⋅ (x1 − x0 ) = 1 + b 0 ⋅ 2 − 1) = 1 + b 0 . Daraus lesen wir ab: b 0 = 3. Also lautet die Gleichung der Geraden zwischen P 0 und P 1 y = 1 + 3 ⋅ (x − 1).
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Jetzt ist es hoffentlich eine leichte Übungsaufgabe für Sie, die Gleichung der Geraden zwischen P 1 und P 2 auszurechnen: y =4−
5 ⋅ (x − 2). 2
In Abb. 4.2 sehen wir die typische Antwort, wenn wir nach einer stückweise aus kleinen Geraden zusammengesetzten Funktion fragen, die gegebene Punkte miteinander verbindet. Für jedes der beteiligten Teilintervalle erhalten wir ein eigenes Geradenstück, also eine eigene Funktionsgleichung. Klar, bei tausend gegebenen Punkten ist das eine lange Liste. Niemand kann und will so etwas mit Hand auswerten, aber dafür haben wir ja unsere Knechte, die Computer, die das leicht für uns erledigen. Wir fassen das wegen der Wichtigkeit zusammen: Definition 4.1. Eine solche aus kleinen Geradenstücken zusammengesetzte Funktion nennen wir eine lineare Splinefunktion oder kurz einen linearen Spline, wenn zusätzlich die Geradenstücke zusammenhängen. Mathematisch verlangen wir also die Stetigkeit. Splines sind also keine Polynome. Man darf höchstens sagen, dass es stückweise Polynome sind. Das Wort „stückweise“ ist dabei sehr wichtig. Die zu unserem obigen Beispiel gehörige stückweise lineare Funktion, also die lineare Splinefunktion, die die gegebenen Werte interpoliert, haben wir in Abb. 4.2 dargestellt. Sie werden jetzt vielleicht einwenden, dass das ja viel zu primitiv ist, um damit wirklich Kurven zu erzeugen. Dafür habe ich eine gute Antwort. Schauen Sie sich bitte zuerst den folgenden Plot (Abb. 4.3) an, den ich mit einem kommerziellen Grafikprogramm erzeugt habe. An den Stellen, wo die Krümmung besonders groß ist, fällt es auch am ehesten auf. Der ganze Plot besteht nur aus kleinen Geradenstücken. So machen das fast alle Plotprogramme, denn im Innern des Computers gibt es ja keinen Kugelschreiber oder Bleistift, der eine solche Kurve durchgängig zeichnen könnte. Wir sehen, dass die Idee, Kurven durch Geradenstücke anzunähern, schon anderen gekommen ist. Wir werden jetzt zeigen, dass diese Annäherung tatsächlich ausgesprochen gut funktioniert.
4.2 Lineare Splines
y P =( ×
4
)
3
2
1
× P =(
1
)
2
4
3
x
× P
Abb. 4.2: Drei Vorgabepunkte und die zugehörige lineare Splinefunktion.
Abb. 4.3: Ein Plot einer Kurve, die per Computer erzeugt wurde.
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4.3 Wie gut sind die linearen Splines? Dieser Abschnitt bringt uns eine ganz erstaunliche Sicht auf die so simplen linearen Splines. Wir denken uns eine gewisse Funktion f als gegeben, von der wir aber leider nur an wenigen Stellen die Funktionswerte kennen. Für diese unbekannte Funktion möchten wir jetzt eine Funktion ermitteln, die an den Stellen mit der Funktion übereinstimmt. Na klar, da berechnen wir die zugehörige lineare Splinefunktion. Den Abstand der Stützstellen nennen wir h. Wenn nicht alle Abstände gleich sind, nennen wir den größten Abstand h. Wir sagten ja, dass wir von der unbekannten Funktion nur einige wenige Werte kennen. Daher überlegen wir uns rein theoretisch, was passiert, wenn wir weitere Werte kennen würden. Wir verkleinern also im Geiste den Abstand, z. B. durch Halbieren. Dadurch verdoppeln wir quasi die Anzahl der Stützstellen. Und wieder betrachten wir den zugehörigen Spline. Ist er näher an der für uns unbekannten Funktion dran? Wir halbieren vielleicht noch ein weiteres Mal und betrachten den zugehörigen Spline. Und das geht immer weiter, immer h verkleinern und den zugehörigen Spline betrachten. So erzeugen wir im Prinzip eine unendliche Folge von Splines. Dann macht es Sinn zu fragen, ob sich diese unendliche Folge der vorgegebenen Funktion nähert. Diese kennen wir aber normalerweise nicht, sonst würden wir ja nicht interpolieren. Jetzt kommt das Unglaubliche. Obwohl wir die Funktion f nicht kennen, können wir doch angeben, wie genau sich die interpolierenden Splines ihr nähern. Fast mag man das nicht glauben. Aber der folgende Satz sagt uns genau das. Wenn wir den Abstand der Stützstellen immer weiter verfeinern und jedes Mal den zugehörigen Spline berechnen, so erhalten wir eine Folge von solchen Splines, und diese Folge nähert sich unter recht schwachen Voraussetzungen dieser unbekannte Funktion f . Von der Funktion f wird dabei lediglich zweimalige stetige Differenzierbarkeit vorausgesetzt. Satz 4.1. h := max |x i+1 − x i | 0≤i