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English, French, German Pages 280 [282] Year 2019
Philologie auf zweiter Stufe Literarische Rezeptionen und Inszenierungen hellenistischer Gelehrsamkeit Herausgegeben von Gregor Bitto und Anna Ginestí Rosell Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
Palingenesia 115
Gregor Bitto / Anna Ginestí Rosell Philologie auf zweiter Stufe
PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 115
Philologie auf zweiter Stufe Literarische Rezeptionen und Inszenierungen hellenistischer Gelehrsamkeit Herausgegeben von Gregor Bitto und Anna Ginestí Rosell
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12357-0 (Print) ISBN 978-3-515-12361-7 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 7 Einleitung ................................................................................................................. 9
I. DICHTERISCHE REZEPTIONEN ................................................................... 25 Nunzia Ciano Wenn der exegetische Auxiliartext zum dichterischen Text wird. Über Ciceros Benutzung der Scholien zu Arat ...................................................... 27 Jean-Christophe Jolivet «Pourquoi Cyréné n’a pas plongé?» L’embuscade de Protée et la philologie homérique (Virgile, Géorgiques 4, 387–530 et les scholies à l’Odyssée). ............ 39 Joan Pagès Perseus: The Mythographic Tradition and its Reception in Ovid’s Metamorphoses ...................................................................................... 65 Chiara Battistella Seneca tragicus and the scholia to Euripides. Some case studies from the Medea ........................................................................ 79 Gregor Bitto Sed plura vacant. Statius’ Achilleis und die Homerphilologie .............................. 93
II. LITERARISCHE INSZENIERUNGEN......................................................... 117 Philipp Weiß Tod eines Kritikers: Zur Zoilosanekdote bei Vitruv. 7 praef. 8–9 und ihrem Nachleben in den Saturnalia des Macrobius ....................................................... 119
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Inhaltsverzeichnis
Bardo Maria Gauly Seneca: Von Philologie zu Philosophie ............................................................... 133 Thomas Schirren Philologia ancilla rhetoricae. Leseübungen für die rhetorische Brillanz? Quintilians philologische Empfehlungen ............................................................ 147 Anna Ginestí Rosell Etymologie beim Wein. Philologie in der Gruppenidentitätsbildung der Quaestiones Convivales von Plutarch ........................................................... 183 Wytse Keulen Mark Aurel, der Philologenkaiser. Die Literarisierung der Philologie in Frontos Korrespondenz.................................................................................... 201 Ute Tischer Der Sophist als Philologe. Inszenierung und Instrumentalisierung der grammatica in Apuleiusʼ Rede Pro se de magia ........................................... 231 Peter v. Möllendorff Sub iudice philologia. Zur Verarbeitung philologischer Themen im Werk Lukians ................................................................................................. 257 Abstracts .............................................................................................................. 271 Index locorum notabiliorum ................................................................................ 277
VORWORT Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen auf Vorträge zurück, die im Rahmen der gleichnamigen Tagung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vom 26. bis 28. März 2015 gehalten worden sind.1 Ohne die finanzielle Unterstützung der DFG und der Fritz Thyssen Stiftung hätte diese Veranstaltung nicht stattfinden können, weshalb beiden Institutionen an dieser Stelle noch einmal ein herzlicher Dank ausgesprochen sei. Außerdem verdanken wir der Fritz Thyssen Stiftung die großzügige finanzielle Förderung der Publikation dieses Sammelbandes. Den Professoren der Klassischen Philologie in Eichstätt, Bardo M. Gauly und Gernot Michael Müller, sind wir für den wissenschaftlichen Austausch bei der Planung der Tagung zu großem Dank verpflichtet. Bei der Tagungsorganisation haben wir durch die Sekretärin der Klassischen Philologie in Eichstätt, Frau Karin Strobl, sowie die Hilfskräfte Frau Veronika Reisacher und Herr Jonas Ludäscher dankenswerterweise tatkräftige Unterstützung erhalten. Für die Aufnahme in die Reihe Palingenesia sowie für eine aufmerksame Lektüre des Manuskripts danken wir Herrn Prof. Christoph Schubert (Erlangen). Für die technische Bearbeitung des Manuskripts seien die Hilfskräfte Frau Karolin Daferner und Herr Matthias Paun bedankt. Eichstätt, im Oktober 2018
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Neu hinzugekommen ist der Beitrag von Nunzia Ciano.
EINLEITUNG Es ist wohl der Traum eines jeden Philologen: Die eigene wissenschaftliche Beschäftigung mit einem literarischen Text in Form eines Kommentars oder einer Monographie unter einer bestimmten Fragestellung wird zum Material eines neuen literarischen Textes. Wenn wohl auch nicht viele heutige Philologen dieses Glück haben dürften, so ist dies aber zumindest für einige derjenigen, die am alexandrinischen Museion ihrer Tätigkeit nachgingen, Realität geworden. Ihre Textkonstitution, Kommentierung und Erklärung ist nicht nur in den Schulunterricht der nachfolgenden Generationen eingegangen, sondern auch selbstverständlicher Teil des allgemeinen intellektuellen und literarischen Diskurses geworden. Philologisch versiert zu sein, ist nicht nur etwas für den Spezialisten, den grammaticus, sondern gehört zu den hard skills für den sozial und literarisch Erfolgswilligen. Gemeinsames Wissen um philologische Gegenstände und die Fähigkeit zum Austausch darüber sind Integration und Identifikation stiftende Faktoren. Der literarisch-philologische Kanon ist die Richtschnur, die somit zugleich trennt und verbindet. Dennoch ist dies nicht vorrangig im Sinne eines sozialen Drucks zur philologischen Beschäftigung zu verstehen. Ebenso wichtig ist nämlich eine gewisse Lust an der Philologie. Wenn z. B. Vergil Anregungen aus der Homerkommentierung in seiner Aeneis aufgreift, so tut er dies nicht, weil ihm nichts Besseres einfiele oder er einfach unreflektiert die Meinungen Früherer teilt, sondern weil ihn und sein Publikum die Anspielung auf die Tradition und der Reiz an der Bezugnahme auf Früheres, gern auch ein wenig Obskures, verbinden. Man könnte mit Jonathan Lethem auch von einer „ecstasy of influence“ sprechen.1 Die einzelnen Beiträge des Bandes widmen sich unterschiedlichen Ausprägungen dieses Phänomens von der Zeit der späten römischen Republik bis in die Kaiserzeit (und mit Macrobius bis in die Spätantike) hinein. Als Grundlage für die einzelnen Studien sollen zuvor die historisch-kulturellen Voraussetzungen und das Phänomen als Ganzes in einer überblicksartigen Skizze, die in eine Darstellung der Konzeption des Bandes mündet, in den Blick genommen werden.
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Lethem 2011, 93–120, in Reaktion auf Blooms berühmte „anxiety of influence“; treffend auch seine aphoristische Frage p. 98: „[…] what exactly is postmodernism, except modernism without the anxiety?“. Lethems Essay ist selbst Ausdruck dieser ecstasy of influence, wie der Anhang, der alle Übernahmen verzeichnet, ausweist (pp. 112–120).
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1. DIE ENTSTEHUNG DER ‚KLASSISCHEN‘ PHILOLOGIE Mit der Wende vom vierten zum dritten vorchristlichen Jahrhundert ereignet sich eine grundlegende Umgestaltung der griechischen Welt, die alle Lebensbereiche von der Politik bis zur Bildungskultur umfasst.2 Der Blick auf die eigene Vergangenheit, besonders in literarischer Hinsicht, nimmt immer stärker den Charakter einer Bewahrung, Sammlung und Erforschung an.3 Nicht unwesentlich ist dabei, dass diese Tätigkeit in doppelter Hinsicht dem Bewahren gilt: zum einen in physischer Hinsicht, indem nach Texten gesucht wird und verschiedene Überlieferungen zu einer gültiger Gestalt vereint werden; zum anderen in pädagogischer Hinsicht, dadurch, dass der immer größer werdende zeitliche und kulturelle Abstand durch entsprechende Erklärung und Kommentierung aufgefangen werden muss. Diese Relation von Text und Kommentar hat Dubischar mit dem Konzept des Auxiliartextes beschrieben.4 Dabei stellt der Sekundär- bzw. Auxiliartext das Korrektiv bei der Rezeption eines Primärtextes dar. Im mündlichen Gespräch kompensiert der Zuhörer Defizite im Beitrag des Sprechenden. Leser können dies, besonders wenn sie vom Autor/Text räumlich, kulturell, chronologisch etc. getrennt sind, nicht in gleicher Weise leisten. Hier ist nun die Vermittlungsleistung des Auxiliartextes gefragt. In diesem Sinne ist, Rudolf Pfeiffer folgend, die Entstehung der Philologie im dritten vorchristlichen Jahrhundert zugleich eine Geburt der Philologie als ‚klassischer‘ Philologie.5 Diese Beschäftigung mit dem literarischen Erbe wird einer immer mehr spezialisierten Gemeinschaft von Philologen übertragen. Zum einen erklärt sich dieser Wandel hin zu einer professionalisierten Beschäftigung mit Texten durch die bereits angedeuteten veränderten Rezeptionsbedingungen, die einen Bedarf an geregelter Edierung und Kommentierung überlieferter Texte notwendig werden lassen. Zum anderen erzeugt diese Art der philologischen Auseinandersetzung mit Texten eine veränderte Rezeptionshaltung beim Leser. Dies gilt sowohl für die Zeitgenossen der ersten Generation alexandrinischer Philologen, die sich z. B. Homer oder die Tragiker nun auch mithilfe eines Kommentars aneignen können; es gilt in weit größerem Maße aber für die folgenden Generationen, die durch eine philologisch ausgerichtete Schulbildung6 eine philologische Rezeption gewissermaßen als primären Lektüremodus kennen lernen.
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Einführend zu historischen und soziokulturellen Aspekten mit Verweisen auf die entsprechende Forschung: der erste Teil des Sammelbandes von Clauss/Cuypers 2010. Dass diese Entwicklung der Philologie in Alexandria, so eigenständig sie in ihrer Art auch sein mag, wichtige Vorläufer hat, ist immer gesehen worden, vgl. z. B. die ersten Kapitel in Pfeiffer ²1978. Umstritten ist allerdings, inwiefern Aristoteles und der Peripatos in literaturtheoretischer Hinsicht Einfluss ausgeübt haben. Gegen Pfeiffers Ablehnung (²1978, 123f. und 172f.) habe neuere Arbeiten entscheidende Kontinuitäten aufgezeigt: vgl. Richardson 1994, Schironi 2009 und jetzt auch in monographischer Form Bouchard 2016. Dubischar 2010, vgl. auch Asper 2007, 14–17. Pfeiffer 21978, 18. Zur Rolle der γραµµατική in der Bildung sowohl in pragmatischer wie auch ideeller Hinsicht:
Einleitung
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Im dreistufigen antiken Schulsystem hellenistischer Prägung folgt nämlich auf eine Primarstufe mit Lesen und Schreiben der Unterricht beim grammaticus, der schließlich in die Rhetorikausbildung mündet. Bereits auf der zweiten Stufe werden die Schüler mit den klassischen Dichtern vertraut gemacht, ja die Dichtererklärung ist eigentliche Aufgabe des grammaticus.7 Die Form der Erklärung ähnelt dem Vorgehen der uns erhaltenen spätantiken Kommentare und Scholien bei der Textexegese.8 Dionysios Thrax, ein Grammatiker des zweiten bzw. frühen ersten vorchristlichen Jahrhunderts, definiert die Grammatik so, dass die Parallelität augenscheinlich wird:9 Grammatik ist die Erfahrung mit denjenigen Dingen, die zumeist bei Dichtern und Prosaautoren gesagt werden. Sie hat sechs Teile: erstens sorgfältiger Vortrag entsprechend den diakritischen Zeichen; zweitens Auslegungen nach den zugrundeliegenden dichterischen Tropen; drittens anschließende Erklärung seltener Wörter und Mythen; viertens Findung der Etymologien; fünftens Auswahl der Analogie; sechstens Beurteilung der Gedichte, was von allen der schönste Teil der grammatischen Kunst ist.10
Durch die doppelte Veranlagung der ersten Philologen als Dichter und Gelehrte11 eröffnet sich zugleich ein weiteres Einflussfeld der Philologie. Dieses umfasst nicht nur, wie bisher beschrieben, die Rezeption der alten Texte durch die philologisch geschulten Leser, sondern auch die Produktion neuer Texte durch philologisch geschulte Autoren, die zugleich auf eine entsprechende Rezeption ihrer Werke zumindest beim Primärpublikum12 setzen. In diesem Sinne lässt sich in Anlehnung an G. Genette von einer Philologie ‚auf zweiter Stufe‘ sprechen.13
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Morgan 1998, 152–89. Zur Schulbildung im hellenistischen und römischen Ägypten vgl. Cribiore 2001, bes. 185–219 zu Inhalten und Vorgehensweisen beim Lektüreunterricht. Vgl. z. B. Cic. de div. 1.34, der grammatici als interpretes poetarum bezeichnet. Vgl. Bonner 1977, 212–249 und Marrou ²1950, 375–378. Gramm. 1. Die Echtheit der Schrift ist zwar umstritten, allerdings gilt dies nicht für den Anfang, der durch Sextus Empiricus math. 1,57 und 250 belegt ist. Zur Echtheitsfrage vgl. auch den Überblick bei Lallot 21998, 20–25 und bei Pagani 2011, 30–37 (dort auch (17–21) ein Überblick über die antiken Definitionen von Grammatik). Γραµµατική ἐστιν ἐµπειρία τῶν παρὰ ποιηταῖς τε καὶ συγγραφεῦσιν ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ λεγοµένων. µέρη δὲ αὐτῆς ἐστιν ἕξ· πρῶτον ἀναγνώσις ἐντριβὴς κατὰ προσῳδίαν, δεύτερον ἐξήγησις κατὰ τοὺς ἐνυπάρχοντας ποιητικοὺς τρόπους, τρίτον γλωσσῶν τε καὶ ἱστοριῶν πρόχειρος ἀποδόσις, τέταρτον ἐτυµολογίας εὕρησις, πέµπτον ἀναλογίας ἐκλογισµός, ἕκτον κρίσις ποιηµάτων, ὃ δὴ κάλλιστόν ἐστι πάντων τῶν ἐν τῇ τέχνῃ. Zur genauen Bedeutung und Übersetzung der einzelnen Punkte vgl. Lallot 21998, 69–82, bes. 81f. zur κρίσις ποιηµάτων (nicht künstlerische Beurteilung, sondern Echtheitskritik und Einschätzung über die schulische Verwendbarkeit). Vgl. auch die Aufgaben des Grammatikers bei Quintilian 1.8.13–18. Wenn Dionysios Thrax auch von Dichtern und Prosaautoren spricht, so stand doch meist die Dichtererklärung im Vordergrund, vgl. Clarke 1971, 21. Pfeiffer 1978, 115f. sieht eine neue Art der Dichtung bzw. ein neues Dichtungsideal als Ausgangspunkt für die beschriebene Entstehung der Philologie an. Zu den unterschiedlichen Publikumskreisen der alexandrinischen Dichter vgl. Asper 2001. Vgl. den Untertitel von Genette 1982/93: „la littérature au second degré“ bzw. „Literatur auf zweiter Stufe“, einer Untersuchung der von ihm so genannten Transtextualität und ihrer unterschiedlichen Ausprägungen.
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Beide Zweige dieses philological turn,14 philologisches Studium der alten Texte und philologisch inspirierte Produktion und Rezeption neuer Texte, haben in der Forschung besonders der letzten Jahrzehnte große Aufmerksamkeit erfahren.15 Dabei standen auf der Produktionsseite besonders griechische Autoren im Vordergrund, und hierbei verständlicherweise die alexandrinische Trias Kallimachos, Theokrit und Apollonios als Exponenten dieser neuen Art von Literatur. So konnte in der Forschung gezeigt werden, wie von etymologischen Überlegungen über Anspielungen zu textkritisch umstrittenen Stellen oder seltenen Wörtern bei früheren Dichtern bis hin zu Spiegelungen philologischästhetischer Ideen die hellenistische Literatur wesentlich von dieser Art der Auseinandersetzung mit Texten lebt. Aber auch nicht-poetische Texte bzw. spätere griechische Autoren sind bereits untersucht worden, wie Dionysios von Halikarnassos.16 2. DIE RÖMISCHE REZEPTION In wesentlich geringerem Umfang wurde dabei die römische Literatur bedacht, die sich jedoch als hellenistisch geprägte Mischkultur17 ebenso des philologischen Bildungsgutes in der Schule und in der literarischen Produktion bediente. Im spät14 Für Überlegungen zu einem philogical turn im 21. Jahrhundert vgl. Schwind 2009. 15 Für die hellenistische Philologie vgl. z. B. die neueren Sammelbände Matthaios/Montanari/ Rengakos 2011 und Montanari/Pagani 2011 sowie den umfassenden, zweibändigen Companion von Montanari/Matthaios/Rengakos 2015 (inkl. byzantinischer Philologie) und die Einführung von Dickey 2007 (jeweils mit bibliographischen Zusammenfassungen zu den entsprechenden Scholiencorpora, z. B. p. 23 zu den Homerscholien) und die systematische Beschreibung der scholiographischen Literarkritik bei Nünlist 2009. Zu letzterem Themenfeld vgl. auch wichtige frühere Arbeiten wie Richardson 1980 und Meijering 1987. Zu konzeptionellen Aspekten vgl. außerdem Too 1998. Zu historischen Anspielungen in der antiken Literarkritik vgl. Tischer 2006. Eine kommentierte Sammlung der Fragmente von Didymos’ Pindarkommentar mit einem einleitenden Überblick zu Didymos’ exegetischem Vorgehen bietet Braswell 2013. Nic Nicht weniger umfangreich ist die Forschungsliteratur zum gelehrten Umgang mit der dichterischen Tradition: Um nur einige Arbeiten zu nennen, übergreifend Bing 1988, Seiler 1997 und Fantuzzi/Hunter 2004, einführend z. B. Gutzwiller 2007, 169–78; vgl. auch zur Selbstpositionierung der alexandrinischen Dichter Klooster 2011; darüber hinaus z. B. Fuhrer 1992 zu Kallimachos’ philologischer und poetischer Rezeption der Chorlyriker; Rengakos 1993 und 1994 zur Homererklärung und den hellenistischen Dichtern; Reitz 1996 zu homerischen Gleichnissen bei Apollonios. 16 Vgl. Calvani 1990 und 1995, außerdem de Jonge 2008, 213–248 und 2011 für Bezugspunkte zwischen Dionysios’ Aussagen über Thukydides’ Stil und den Scholien. 17 Zur kulturellen Identitätsbildung im spätrepublikanisch-augusteischen Rom vgl. z. B. Wallace-Hadrill 2008 für den römischen Kontext (bes. 9–28 für grundlegende Überlegungen zum Verhältnis romanisation/hellenisation), Wiater 2011 für den griechischen. Für die komplexe römisch-hellenistische Identitätsbildung in der Kaiserzeit vgl. Connolly 2007. Einen neueren Überblick über die Bildungswege im römischen Imperium in Republik und früher Kaiserzeit bietet Wolff 2015.
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republikanisch-augusteischen Rom ist die Kenntnis der hellenistischen Philologie selbstverständlicher Teil der Bildung der römischen Oberschicht: In einem Brief an Dolabella18 kleidet Cicero seine Vermittlertätigkeit zwischen zwei Streitenden in philologische Termini: Der eine bringe zwei Verse mit seiner Geldforderung vor, der andere athetiere diese wie ein Aristarch und nun müsse Cicero entscheiden, ob diese Verse echt oder interpoliert seien. Interessanterweise arbeitet Cicero nicht nur mit Termini technici, sondern auch mit den griechischen Fremdwörtern: ὀβελίζει, τοῦ ποιητοῦ, παρεµβεβληµένοι. Doch nicht nur in der Privatkorrespondenz wird solches Wissen als selbstverständlich beim Adressaten vorausgesetzt, sondern auch in der Rede In Pisonem wird auf Aristarch als Philologen par excellence angespielt.19 Diese Selbstverständlichkeit der Philologie zeigt sich jedoch bereits schon früher auf dem Gebiet der Dichtung. So hat Herrmann Fränkel für die OdysseeÜbersetzung des Livius Andronicus Spuren von alexandrinischer Homerexegese nachweisen können.20 Durch Sueton erfahren wir, dass Livius Andronicus seine Homerübersetzung auch im Schulunterricht eingesetzt hat.21 Und der hellenistische Schulunterricht solcher semigraeci, wie Sueton Livius und Ennius nennt, prägt die römische Bildung der folgenden Generationen. Clarke fasst dies pointiert zusammen: „One might indeed almost say that Latin literature owed its origin to ,grammar‘.“22 Im Sinne der Quellenforschung hat man diese Rezeption der griechischen Philologie bei den römischen Dichtern lange Zeit als Abhängigkeit verstanden.23 Demgegenüber hat Schmit-Neuerburg Vergils Beschäftigung mit der antiken Homerexegese vor dem Hintergrund der aemulatio gedeutet: Vergil rekurriere bewusst mit Blick auf sein Publikum und seine aemulativen Absichten auf die zeitgenössische Homerinterpretation.24 Allerdings bleibe er nicht bei dieser stehen, sondern nutze die Homerphilologie „als Anregung, vor allem aber als Projektionsfläche dichterischer Ideen und Konzepte.“25 Systematische Beschäftigung ist bisher, von einzelnen Arbeiten zu Detailaspekten besonders zu voraugusteischen Dichtern abgesehen, in der Forschung nur Vergil und der antiken Homerphilologie sowie Horaz und der Pindarphilologie
18 Fam. 9.10. 19 Pis. 73. Vgl. allerdings die Einschränkungen von Higbie 2011, 385, hinsichtlich der unterschiedlichen Repräsentation Ciceros in privater Korrespondenz und öffentlichem Raum, was die Kenntnis der philologischen Homertradition betrifft. Außerdem gilt es zu bedenken, dass die publizierte Fassung einer Rede durchaus nicht identisch mit der vorgetragenen Version sein muss. 20 Fränkel 1932, 306–308. 21 Gramm. 1. 22 Clarke 1971, 19. 23 Vgl. z. B. Goetz 1918, aber zu beobachten bis Lennartz 1994, zu letzterem in Bezug auf Ennius und Euripides vgl. auch Bitto 2013. 24 Schmit-Neuerburg 1999, 4. 25 Schmit-Neuerburg 1999, 353.
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zuteil geworden.26 Für die anderen Augusteer und spätere Autoren sind ähnliche Untersuchungen in vergleichbarem Maßstab weitgehend Desiderate.27 3. LITERARISIERUNG IN DER KAISERZEIT Ebenfalls kaum adäquat bedacht erscheint ein dritter Zweig des philological turn: die Literarisierung der Philologie in Gattungen der kaiserzeitlichen Literatur wie den Gelehrtengesprächen oder den Briefsammlungen. Ansätze für eine literarische Spiegelung der Philologie finden sich schon früher, wie in Kallimachos’ erstem Jambus, in dem der wiederauferstandene archaische Dichter Hipponax den Philologen des Mouseions erscheint.28 Mit der kaiserzeitlichen Literatur betreten wir jedoch nicht nur hinsichtlich der Quellenlage ein reicheres Betätigungsfeld. Vielmehr wird die Philologie immer stärker über den Spezialistenkreis hinaus29 Teil eines breiteren intellektuellen Diskurses, wie sich in dem oben zitierten Brief Ciceros bereits sehen lässt und wie es in der uns erhaltenen kaiserzeitlichen Literatur besonders gut nachzuverfolgen ist.30 Bildung ist nämlich ein zentrales Identitäts26 Zu Vergil und Homer: Schmit-Neuerburg 1999, zuvor bereits: Schlunk 1974, Barchiesi 1984 passim (als erweiterte Neuauflage 2015 in englischer Übersetzung erschienen). Darüber hinaus Götz 1918, 18–33 zu den Eklogen und Theokritscholien, 33–37 zu Vergil und den Argonautika-Scholien. Zu biographischen Theokrit-Deutungen und deren Reflexion in den vergilischen Eklogen Korenjak 2003, 67–71. Zur römischen Rezeption der Homerphilologie vgl. außerdem Jolivet 2009 und 2010. Zu Horaz und Pindar: Bitto 2011 und 2012; Details bereits bei: Cazzaniga 1970/71, Wilson 1980, 107, Lefkowitz 1985, 280–282; grundsätzliche Überlegungen bei Castagna 1989, Feeney 1993, 44 und Barchiesi 2002, 114. Graziosi 2009 widmet sich dem Einfluss hellenistischer Dichterbiographien auf die autobiographische Selbststilisierung Horaz’. 27 Gänzlich unbeachtet ist dieses Feld nicht geblieben: Vgl. immerhin bspw. zu den archaischen römischen Tragikern: Lennartz 1994; zu Ciceros Arat-Übersetzung: Leo 1914, 192f. und Götz 1918, 12–18 (für weiteres vgl. den Beitrag von Ciano); zu Ovid und Homer: Lausberg 1981, 189f.; zu Valerius Flaccus und den Argonautika-Scholien Götz 1918, 37–69; Bessone 1991 und Galli 2007; außerdem Goetz 1918, 71–84 zu Germanicus’ Arat-Übersetzung. Zu Berührungspunkten zwischen der zeitgenössischen Literarkritik, wie sie uns im Werk des Dionysios v. Halikarnassos greifbar ist, und den augusteischen Dichtern vgl. z. B. Hunter 2009, 125f. sowie Görler 1979. 28 Darüber hinaus werden natürlich auch früher bereits literarische Texte in anderen literarischen Texten herangezogen, wie beispielsweise bei Platon Gorg. 484b (Pindar) oder Phaidr. 243a (über Stesichoros’ Palinodie sogar inklusive biographischer Anekdote), Xenoph. Symp. 4.6 (Homer) oder Aristoteles EN 1.4 1095b (Hesiod). Stellen wie diese zeigen jedoch, dass hier nicht die philologische Beschäftigung mit dem früheren Text im Vordergrund steht, sondern das Zitat Beweiskraft für die jeweilige Argumentation entfalten soll. 29 Ein Projekt wie die Gründung des alexandrinischen Museions selbst zeugt von der beginnenden Wertschätzung, die der philologischen Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe entgegengebracht wird. Hier wird gewissermaßen der Grundstein gelegt für die in der Kaiserzeit umso deutlicher nachzuvollziehende Entwicklung. Gerade unter den Flaviern und verstärkt unter Trajan und Hadrian wird die Gründung von öffentliche Bibliotheken Teil des kaiserzeitlichen Legitimationsprogramm (König 2012). 30 Vgl. als Analogon auch die zunehmende Philologisierung der Medizin ab dem 3. Jh. v. Chr.
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merkmal der kaiserzeitlichen Elite. Sie definiert die Zugehörigkeit zur Oberschicht und dient als Weg zu politischen Machtansprüchen. Für die Zeit der sog. zweiten Sophistik haben dies die grundlegenden Arbeiten von Schmitz und Whitmarsh deutlich gemacht,31 aber auch lateinische Autoren der späteren Kaiserzeit zeichnen ein ähnliches Bild von gebildeten Eliten.32 Nicht nur die Kenntnis der klassischen Literatur, die in dieser Zeit schon eine Art Kanonisierung durchlaufen hatte,33 wird in diesem Bildungsideal vorausgesetzt, sondern auch die philologische Beschäftigung mit dem Text. Denn der klassischen Literatur wird eine Vielfalt von Deutungen zuerkannt, so dass das vollkommene Verständnis eines Textes nur mit Hilfe philologischer Techniken zu erreichen ist.34 Genau durch diese spezifischen Kenntnisse grenzt sich die gebildete Elite von der übrigen Bevölkerung ab, die ‚nur‘ die kanonisierten literarischen Werke, aber nicht deren hermeneutische Tradition kennt. Die große Beliebtheit, die Werke der sogenannten Kompilationsliteratur in der Zeit genießen, zeigt deutlich die Notwendigkeit der Beherrschung dieses breiten literarischen und kulturellen Erbes, um dem Bildungsideal der Zeit gerecht zu werden.35 Ein wesentlicher Aspekt der Identitätsstiftung in den gebildeten Kreisen ist auch die Gemeinschaft, denn einerseits wird nur im ständigen Austausch das Wissen erweitert, andererseits braucht das Individuum auch den Spiegel der Gruppe, um seine gesellschaftliche Position deutlich zu machen und so den Weg zur politischen Macht begründen zu können.36 Die dynamische Konzeption von Wissen und die darauf aufbauende kommunikative Interaktion spiegelt sich in der literarischen Produktion der Zeit, z. B. in einer neu entstehenden literarischen Gattung wie den Gelehrtengesprächen.37 Hier wird philologische Arbeit als gemeinschaftliche Tätigkeit inszeniert und im Medium der fingierten Mündlichkeit38 kritisch geprüft, aktualisiert, verbreitet und erweitert. Bildung entsteht im performativen Akt, und so wird der Leser zum aktiven Teilnehmer und dadurch zum Mitglied der Gemeinschaft.39 Eine ähnliche performative Kraft für die Identitätsbildung
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und bes. zur Zeit Galens als immer stärker textwissenschaftlich ausgerichtete Disziplin: dazu Asper 2007, 363 und 370. Schmitz 1997, Whitmarsh 2001 und 2005 allgemein. Überholt scheint die These, dass die intellektuelle Beschäftigung der griechischen Elite in der Zeit der zweiten Sophistik als Eskapismus von politischer Entmachtung zu verstehen sei. Johnson 2010 mit einer Analyse der Werke u.a. von Plinius und Gellius; für Apuleius vgl. Harrison 2000. Mehrere Autoren liefern Empfehlungslisten für die literarische Ausbildung, wie Quint. Inst. 10,1,37–131, die so einen kanonartigen Charakter haben (vgl. Morgan 1998, 79). Morgan 2011, 58–59, Johnson 2010, 200. König 2012. Zu miscellaneous literature siehe auch Morgan 2011, 58–60. Johnson 2010, Van Hoof 2010, von Möllendorf 2004. Vgl. auch in parodistischem Kontext die Sentenz des Trimalchio bei Petron Sat. 39: oportet etiam inter cenandum philologiam nosse. Vgl. dazu Häsner 2004, 24. Ginestí 2013. Whitmarsh 2001 und Johnson 2010 sprechen von „active reader“. Solche Interaktionen zwischen textinterner und textexterner Welt sind auch in den Dialogen Ciceros gut zu beobachten, vgl. z. B. Müller 2011.
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eines literarischen und politischen Kreises wird z. B. der Briefsammlung von Plinius zugesprochen, die auf eine gewisse Weise auch Gespräche unter Gleichen darstellt und den Leser in diese Gespräche einbezieht.40 Traditionell wurden die Gelehrtengespräche sowie allgemein die Werke der Kompilationsliteratur als Fundus für Wissen aller Art verstanden, so dass die wissenschaftliche Beschäftigung jahrelang eher deskriptiv als analytisch war.41 In den letzten Jahren hat sich die Perspektive stark verändert, insofern als die Werke als literarische, einheitliche Œuvres verstanden und in ihrem soziokulturellen Kontext gelesen werden.42 Kohärenz und Komposition der Werke, das Spiel mit den Gattungen, die kulturelle Kontextualisierung, die Personenkonstellationen sind aktuelle Fragen. Der Blick auf die Inszenierung der Philologie kann in allen diesen Fragen neue Erkenntnisse und präzisierende Beiträge liefern. Die Rezeption philologischer Literatur in der hellenistisch geprägten römischen Dichtung der späten Republik und frühen Kaiserzeit und die literarische Inszenierung der Philologie bzw. generell die Philologisierung des intellektuellen Diskurses in der Kaiserzeit stellen keine isolierten Phänomene dar, sondern lassen sich als zwei miteinander in Beziehung stehende zentrale Bereiche des intellektuellen Diskurses in Dichtung und Prosa begreifen. Dichten über Dichtung und Reden über Dichtung sind zwei Modi einer philologisierten literarischen Kommunikation. 4. ZUR KONZEPTION DES BANDES43 Die Wirkmächtigkeit des philologischen Denkens in postalexandrinischer Zeit auszuloten, stellt demnach ein besonderes Forschungsdesiderat auf quantitativer und qualitativer Ebene dar, an dem die Tagung ansetzte, deren Erträge hier versammelt sind. An einer Vielfalt von Gattungen und Texten lässt sich die Breitenwirkung der alexandrinischen Philologie auf der Produktions- und Rezeptionsseite ermessen. Dabei ist nicht nur an eine Weiterführung der an alexandrinischen Dichtern erprobten Fragestellungen zu denken. Vielmehr weisen die Texte der späten Republik und Kaiserzeit Eigenarten auf, die durch ihre besondere Rezeptionssituation bedingt sind. Ein späterer römischer oder 40 Vgl. Johnson 2010, 35–41 und Gauly 2008. 41 Vgl. z. B. den Kommentar zu Plutarchs Tischgesprächen: Teodorsson 1989–96. Einen Überblick über die Forschung zu den Tischgesprächen gibt Titchener 2011. 42 Allgemein König/Withmarsch 2007, darüber hinaus z. B. für Athenaios Braund/Wilkins 2000, für Galen Gill/Whitmarsch/Wilkins 2009, für Gellius Keulen 2009. Vgl. allgemein auch das verstärkte Forschungsinteresse an literarischen Aspekten sog. Fachschriftsteller: z. B. Diederich 2007 (bes. das zweite Kapitel) oder den Sammelband Horster/Reitz 2003, sowie Gauly 2004 für die Aneignung griechischer Naturphilosophie in Senecas Naturales Quaestiones. Speziell für die Gattung des Dialogs vgl. die Sammelbände Föllinger/Müller 2013 und Dubel/Gotteland 2015. 43 Auf zusammenfassende Darstellungen der Beiträge innerhalb der Einleitung wurde verzichtet: Englische Abstracts der einzelnen Beiträge sind am Ende des Bandes versammelt.
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griechischer Autor blickt nicht nur auf einen griechischen Vorläufer zurück, sondern tut dies aus dem Blickwinkel des seinerseits bereits auf einer Rezeptionsebene stehenden Philologen. Es handelt sich also gewissermaßen um eine klassizistische Rezeption des alexandrinischen Klassizismus. Durch spezielle Studien zu einzelnen Texten wird außerdem deutlich, in welchem Maße sich die jeweiligen Texte welcher philologischer Strategien und Methoden bedienen. Die Frage nach der Philologie auf zweiter Stufe in der antiken Literatur ist nicht nur eine Frage nach der Rezeption antiker Philologie in anderen Texten, sondern nach einer Literarisierung von fachlichen Metatexten mit ihren Inhalten, Methoden und Formen, d. h. dass nicht einfach eine Verwendung im Vordergrund steht, sondern der Philologie gewissermaßen eine Katalysatorfunktion bei der Entstehung neuer literarischen Texte zukommt, die einen veränderten Charakter im Vergleich zu Vorgängern im gleichen Genre aufweisen oder sogar zur Entstehung neuer Genres führt. Philologische Wissensbestände und philologische Verfahren stellen im Genetteschen Sinne eine „effektive Präsenz“44 im neuen Text dar, die dazu führt, dass Vorgängertexte einer andersartigen, eben philologischen, Lektüre unterzogen werden und bei der literarischen Verarbeitung zugleich Spezialliteratur genutzt wird. Charakteristika dieser philologischen Lektüre sind ein stark analytischer, systematisierender und enzyklopädischer Zugriff auf Texte. Dabei werden alle Ebenen eines literarischen Textes gleichermaßen in den Blick genommen: Überlieferungsvarianten, Worterklärungen, Grammatik, Syntax, Realien, historische Umstände, der Autor und seine Biographie, Aussageabsicht etc. Zudem werden Zusammenfassungen von Texten oder Textcorpora verfasst, die der Orientierung in der wachsenden Literaturproduktion dienen. Dies hat nicht zuletzt durch den philologisierten Schulunterricht bedingt eine doppelte Nachwirkung, denn sowohl Produktion wie Rezeption literarischer Werke verändern sich. Imitatio und aemulatio funktionieren schon bei den Alexandrinern unter neuen Prämissen. Der Vorbildtext und durch seine autobiographische Deutung auch der Vorbildautor erscheinen in einem neuen Licht, wenn z. B. textkritische Diskussionen im Vorbild Anknüpfungspunkte für den neuen literarischen Text darstellen. Der philologische Autor kann auch auf einen philologischen Leser, der die gleiche Bildung (gemeint sind Inhalt und Form) genossen hat, zählen und darum dessen Rezeptions- und Erwartungshaltung voraussetzen, ja er muss ihr auch „standhalten“ können, und er wird zugleich mit ihr spielen. Der Leser verlangt gewissermaßen einen philologisch versierten Autor und wird durch den Text zur (Re)Konstruktion eines impliziten Autors mit philologischer Souveränität angeregt (vgl. die Beiträge von Ciano zu Ciceros Aratea, Jolivet zu Vergils Georgica, Battistella zu Senecas Medea und Bitto zu Statius’ Achilleis). Gleichermaßen entstehen durch den systematisierenden und epitomisierenden Zugriff auf die literarische Tradition neue Ansatzpunkte für die aemulatio (vgl. Pagès zur vermittelten Rezeption des Dithyrambendichters Polyeidos in den Metamorphosen Ovids und Schirren zu Quintilians Empfehlungen einer philologischen Lektü44 Genette 1993, 10.
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re zur Vorbereitung für den Rhetor). Die literarische Ästhetik erfährt durch eine stets mitzulesende Metaebene philologischer Art eine Neukonzeption, der literarische Text ist philologischer Gegenstand und Philologie in einem. Dabei zeigen literarische und literarkritische Werke intensive Wechselwirkungen in einem philologisch geprägten intellektuellen Klima. Generell stellt sich bei einer solchen Betrachtungsweise wie stets bei intertextuell orientierten Untersuchungen die Frage, ob man davon ausgehen muss, dass der zeitgenössische Leser solche Bezüge in all ihrer Komplexität erfassen muss, um ein ästhetisches Vergnügen an der Lektüre zu finden. Kyle Gervais hat diesen Punkt durch eine moderne Analogie noch klarer herausgestellt. Er vergleicht die Aristie des Tydeus im zweitem Buch von Statius’ Thebais mit dem von intertextuellen Referenzen aufgeladenen Kampf der Hauptfigur Beatrix Kiddo am Ende des Films Kill Bill Vol. 1 von Quentin Tarantino: The dense allusions are an important ‚distancing device‘. […] The obscurity of the references and the speed with which they are deployed guarantees that even the most competent viewer will be unable to do more than acknowledge that a reference has been made before noticing the next one. This would have been equally true for Statius’ contemporary audience at a recitation of Tydeus’ monomachy. […] There is a fundamental conflict between the process of φαντασία – which allows the audience to imagine itself as part of the fiction – and allusion – which casts the author and his audience above the fiction, opening and closing textual gaps.45
Wenn man das, was Gervais als Konflikt beschreibt, als zwei unterschiedliche Modi der Rezeption auffasst, so ergibt sich folgendes Bild: Es existiert ein unmittelbarer Rezeptionsmodus, der darauf orientiert ist, nicht die exakte Anspielung zu bestimmen, sondern eine allgemein als intertextuell wahrzunehmende Atmosphäre zu goutieren; daneben existiert ein zweiter, kontemplativer Rezeptionsmodus, bei dem der Leser ein besonderes Vergnügen gerade daraus bezieht, dass er den einzelnen intertextuellen Spuren nachgeht bzw. nachgehen kann.46 Allerdings sei hinzugefügt, dass bei einem philologisch geschulten Publikum, wie man es für die römische Kaiserzeit erwarten darf (s.o. 2. und 3.), die theoretisch anzusetzende Grenze zwischen den beiden Modi ohnehin nicht so scharf zu ziehen ist bzw. große individuelle Verschiedenheiten aufweist, die sich mit einem Modell eines impliziten Lesers nur bedingt erfassen lassen.47 Als wichtige Erkenntnis der Unter45 Gervais 2013, 148f. 46 Damit ist natürlich noch nichts über eventuell unterschiedliche Publikumskreise gesagt: Die Thebais erscheint bei Iuv. Sat. 7,82–87 zwar (wohl in satirischer Verzerrung) als massenwirksames Rezitationsepos. Doch darf man mit Recht fragen, ob sie in gleicher Weise wie ein Film Tarantinos angelegt ist, von höchst disparaten Rezipientengruppen vom filmischen Laien bis zum Intellektuellen oder Filmwissenschaftler geschätzt zu werden. Daran schließt sich die Frage, ob der sich als poeta doctus stilisierende Verfasser nicht in stärkerem Maße eines lector doctus bedarf. Eine theoretische Auseinandersetzung zu den unterschiedlichen Herangehensweisen eines Lesers, die auf unterschiedliche Rezeptionsebenen hindeuten, findet sich allerdings bei Plutarch und in Ansätzen bei anderen kaiserzeitlichen Autoren (Van der Stockt 1992, Konstan 2004 und Konstan 2006). 47 Nicht unerwähnt sei zumindest am Rande das Problem, das für Untersuchungen, die Rezeptionen hellenistischer Philologen nachgehen, der scholiographische Erhaltungszustand des antiken Kommentarmaterials in seiner genauen Datierung (alexandrinisch, kaiserzeitlich,
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scheidung bleibt aber, dass beide Rezeptionsmodi ein ästhetisches Vergnügen für den Leser bieten und damit zur literarischen Substanz des jeweiligen Werkes beitragen. Besonders im zweiten Jahrhundert tritt durch die Verbreitung von Bildung und dadurch auch verbreitete Rezeption von philologischen Werken ein weiteres Phänomen hinzu: Die Philologie wird Bestandteil der Konstruktion einer persona. So wird im Briefwechsel zwischen Mark Aurel und Fronto ein amicitia-Verhältnis auf philologischer Basis inszeniert (vgl. Keulen); Apuleius bestreitet einen (fiktiven) Prozess durch die Selbstinszenierung als philologisch Versierter (vgl. Tischer). Bereits zuvor dient bei Seneca die Philologie zur Unterscheidung zwischen griechischer und römischer Identität (vgl. Gauly). Die Bedeutung der Philologie für die Gestaltung der eigenen persona führt darüber hinaus zur Ausprägung einer neuen (Sub)Gattung, die die beschriebene philologische Metaebene in expliziter Form in den Text hineinspiegelt. In den literarischen Symposien eines Plutarch oder Macrobius werden philologische Fragen beim Mahl verhandelt und als selbstverständlicher Teil einer gebildeten Unterhaltung präsentiert (vgl. Ginestí zu etymologischen Fragen als Teil einer symposiastischen Unterhaltung in Plutarchs Quaestiones Convivales und Weiß zur Rezeption der Figur des Homerkritikers Zoilos und der Gestaltung der Figur des Euangelus bei Macrobius). Die zunehmende breitenwirksame Bedeutung der Bildung führt zu einer verstärkten Funktionalisierung der Philologie als Instrument und Methode auf dem Bildungsweg hin zu einer vertieften Kenntnis der Klassiker, die auch sozial distinguierende Bedeutung gewinnt. Diese Form der philologischen Erkundung und Aneignung eines Autors ist integraler Bestandteil einer zeitgenössischen Bildungskonzeption. Sie ist nicht nur der Zugang der Spezialisten, vielmehr ist ihre grundsätzliche Beherrschung Voraussetzung für einen gebildeten gesellschaftlichen Umgang. Zur impliziten Literarisierung der Philologie, wie sie Vergil in seiner Aeneis mit dem Homertext betreibt, tritt die explizite Form, die im Leben und in einem das Leben spiegelnden und normierenden Text wie Plutarchs Quaestiones Convivales Philologie als Modus der gebildeten Unterhaltung inszeniert. Lukian schließlich bietet ein Beispiel für die Verschränkung beider Ebenen: Wenn auf der Plotebene in den Wahren Geschichten Homer auf philologische Streitfragen hin befragt wird, so erscheint der Erzähler als entsprechend philologisch Gebildeter, der die Kenntnis dieser Fragen voraussetzt. Zugleich wird durch die endgültige Beantwortbarkeit der Fragen durch Homer selbst (gewissermaßen eine ironische Spielart des aristarchischen „Homer aus Homer Erklären“48) auf der byzantinisch) oft unsicher ist und seine unterschiedlichen Transformationsprozesse vom selbstständigen Werk zur exzerpierten Randnotiz oft im Dunklen bleiben. Allen Umarbeitungen zum Trotz ist jedoch auch eine große Konstanz im sachlichen Kern des Materials festzustellen: vgl. als Beispiel dazu Maehler 1994 zu Pindarkommentaren auf Papyrus und in den Scholien. 48 Wie Pfeiffer ²1978, 276–278 nachweist, handelt es sich bei diesem geflügelten Wort um eine Prägung des Porphyrios und stellt keineswegs authentischen aristarchischen Wortlaut dar, auch wenn die Maxime sich mit der Praxis Aristarchs vereinbaren ließe.
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narrativen Ebene ein Ende der philologisch-gebildeten Unterhaltung vor Augen geführt, ebenso wie für den Leser auf die Bedeutung des philologischen Vollzugs im fortgesetzten Diskurs verwiesen wird, wie ihn die literarischen Symposien vorführen (vgl. von Möllendorff zur agonalen Facette der philologischen Auseinandersetzung in Lukians Wahren Geschichten und Soloecista). BIBLIOGRAPHIE Asper 2001, A., Gruppen und Dichter: Zu Programmatik und Adressatenbezug bei Kallimachos, Antike & Abendland 47, 84–116. Asper 2007, A., Griechische Wissenschaftstexte. Formen, Funktionen, Differenzierungsgeschichten, Stuttgart. Barchiesi 1984, A., La traccia del modello. Effetti homerici nella narrazione virgiliana, Pisa. Barchiesi 2002, A., The Uniqueness of the Carmen saeculare and its Tradition, in: T. Woodman/D. Feeney (Hgg.), Traditions and Contexts in the Poetry of Horace, Cambridge, 107–123. Barchisei 2015, A., Homeric Effects in Vergil’s Narrative (übers. v. I. Marchesi u. M. Fox), Princeton/Oxford. Bessone 1991, F., Valerio Flacco e l’Apollonio commentato: proposte, MD 26, 31–46. Bing 1988, P., The Well-Read Muse. Present and Past in Callimachus and the Hellenistic Poets, Göttingen. Bitto 2011, G., Ein horazisches Skolion – Zu Horaz c.1.19 und Pindar frg. 122, Hermes 139, 205– 215. Bitto 2012, G., Lyrik als Philologie. Zur Rezeption hellenistischer Pindarkommentierung in den Oden des Horaz. Mit einer rhetorisch-literarkritischen Analyse der Pindarscholien, Rahden. Bitto 2013, G., Beobachtungen zu Ennius als Euripides-Übersetzer, Hermes 141, 227–232. Bonner 1977, S.F., Education in Ancient Rome, London. Bouchard 2016, E., Du Lycée au Musée. Théorie poétique et critique littéraire à l’époque hellénistique, Paris. Braswell 2013, B.K., Didymos of Alexandria. Commentary on Pindar, Basel. Braund, D./Wilkins, J. 2000 (Hgg.), Athenaeus and his world. Reading Greek Culture in the Roman Empire, Exeter. Calvani 1990, G., Le citazioni omeriche di Dionigi di Alicarnasso nel De compositione verborum, Athenaeum 68, 85–95. Calvani 1995, G., Le citazioni nel De compositione verborum e la tradizione scoliografica, SCO 45, 163–190. Castagna 1989, L., Il Pindarismo mediato di Orazio, Aevum Antiquum 2, 183–214. Cazzaniga 1970/71, L., Due contributi filologici I. L’elenco degli scritti pindarici in Orazio C.IV.2, ed in P.Oxy. 2438, SCO 19/20, 5–8. Chantraine 21973, P., Morphologie historique du grec, Paris. Clarke 1971, M.L., Higher education in the ancient world, London. Clauss, J.J./Cuypers, M. 2010 (Hgg.), A Companion to Hellenistic Literature, Malden/MA. Connolly 2007, J., Being Greek/Being Roman: Hellenism and Assimilation in the Roman Empire, Millenium 4, 21–42. Cribiore 2001, R., Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton/Oxford. Dickey 2007, E., Ancient Greek Scholarship, Oxford. Diederich 2007, S., Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie, Berlin. Dubel, S./Gotteland. S. 2015 (Hgg.). Formes et genres du dialogue antique. Bordeaux.
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I. DICHTERISCHE REZEPTIONEN
WENN DER EXEGETISCHE AUXILIARTEXT ZUM DICHTERISCHEN TEXT WIRD. ÜBER CICEROS BENUTZUNG DER SCHOLIEN ZU ARAT* Nunzia Ciano Die Phainomena Arats, das einzige vollständig erhaltene Werk des Dichters aus Soloi,1 wurden in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. für Antigonos Gonatas verfasst, der – wie man sagt2 – die poetische Version der gleichnamigen prosaischen Abhandlung des Eudoxos von Knidos angefordert hatte. Das Gedicht besteht aus 1154 Hexametern und lässt sich, abgesehen vom Proömium (V. 1–18), in zwei Abschnitte – der erste astronomischen Inhalts (V. 19–732), der zweite meteorologischen Inhalts (V. 733–1154) – unterteilen.3 Wegen des technischen Inhalts4 und der formalen Genauigkeit löste das Werk bald ein großes wissenschaftliches und vor allem sprachliches Interesse aus, wie der Kommentar des Astronomen Hipparch von Nicäa (2. Jh. v. Chr.), der älteste uns erhaltene, bezeugt. Dieser Kommentar bestätigt nicht nur die enge Abhängigkeit des ersten Abschnitts des Gedichts Arats von der Abhandlung des Eudoxos,5 *
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Ich danke herzlich Herrn Prof. Dr. A. Arweiler und den Herausgebern des Sammelbandes für hilfreiche Hinweise und Felicitas Böshagen für die Korrekturen im Deutschen. Für alle eventuell verbliebenen Versehen und Ungenauigkeiten übernehme ich vollständig die Verantwortung. Die anderen Werke des Arat sind verloren oder nur in wenigen Versen erhalten; dazu Martin 1956, 177–182; Ludwig 1965, 27–30; Di Gregorio 2014 und 2015. Vita Arati I, S. 8, 3–11 Martin 1974. Handschriften und Scholien legen im V. 732 das Ende des ersten Abschnitts fest (Kidd 1997, 425), obwohl der eigentlich astronomische Stoff sich bis zum V. 759 erstreckt (Martin 1998, I, LXXI); zur Debatte über die Struktur des Gedichts schon bei den Alten, Fantuzzi – Hunter 2002, 329 A. 144. Man denke daran, dass Arat als Schriftsteller und nicht als Astronom zwei prosaische Werke in Verse brachte; aus diesem Grund enthält sein Gedicht keine mathematischen Daten und die dazugehörigen Kommentare behandelten meist etymologische, sprachliche und literarische Aspekte; s. dazu Marrou 61965, 277–279; übrigens glaubte schon Cicero, dass Arat mehr für seine poetischen Qualitäten als für die astronomische Expertise zu schätzen sei: de orat. 1, 69 constat inter doctos hominem ignarum astrologiae ornatissimis atque optimis versibus Aratum de caelo stellisque dixisse und rep. 1.22 cuius (scil. sphaerae) omnem ornatum et descriptionem sumptam ab Eudoxo multis annis post non astrologiae scientia sed poetica quadam facultate versibus Aratum extulisse; entsprechend betont Santini (2002, 151–153) Arats Verzicht auf eine wissenschaftliche Aufmachung. Im zweiten Abschnitt, dem meteorologischen, könnte man das Gedicht in die Nachfolge einer verlorenen peripatetischen Abhandlung des vierten Jhs. v. Chr. setzen, die Theophrast zugeschrieben wird und die uns aus einer wahrscheinlich zeitlich nach Arat einzuordnenden
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indem er unter anderem verschiedene astronomische Ungenauigkeiten zeigt, die beiden Autoren gemeinsam sind; er gibt auch einige Auszüge aus dem verlorenen Aratkommentar des Attalos von Rhodos wieder und setzt sich mit textlichen Problemen auseinander, indem er Varianten diskutiert und Änderungen vorschlägt, die dem usus scribendi des Dichters entsprechen.6 Zu den fachspezifischen Kommentaren wie dem des Hipparch, die sich auf die Analyse der astronomischen Daten oder der sprachlich-textuellen Aspekte konzentrieren, kamen Kommentare mit Hauptaugenmerk auf die Sternenmythen hinzu. Aus diesen verschiedenen Kommentaren schöpften die meisten der späteren Scholien.7 Die zahlreichen Auxiliartexte bezeugen den Erfolg des Werkes, den es vor allem infolge der kunstvollen Versifikation der Abhandlung des Eudoxos erlangte, insofern die Darstellung in Versen eine leichtere Verbreitung der zeitgenössischen astronomischen Kenntnisse erlaubte. Die Versbildung des Werkes des Eudoxos habe so bewirkt, dass sich das Gedicht Arats, obwohl es nicht als Basis-Handbuch für die Astronomie gedacht war,8 stattdessen eben als solches oder vielmehr als astronomischer Schultext behauptete.9 Diese Hypothese würde auch durch die Praxis des mnemonischen Lernens im antiken Schulunterricht bekräftigt, eine von der Versform erleichterte Lernpraxis, die das Erlernen der Grundkenntnisse der Astronomie anhand des Arattextes befördert hätte.10 Die schulische Nutzung der Phainomena macht es darüber hinaus plausibel, die Scholien als primäres exegetisches Material für das Studium des Textes in der Schule unter Leitung des Grammatikers anzusehen.11 Kurzum, es handelt sich um einen Fall von ‚Gebrauchsliteratur‘, der sich gut mit dem von Kubiak (1979, 24) bemerkten schulischen Zweck von Ciceros Übersetzung der Phainomena vereinbaren lässt. Es ist bekannt, dass die Bearbeitung und Übersetzung von Werken der griechischen Literatur eine Grundlage des römischen Bildungsprozesses bildeten und dass Autoren wie Livius Andronicus, Ennius, Pacuvius und Accius im curriculum studiorum parallel zu den korrespondierenden griechischen Originalen gelernt wurden. Es scheint dann plausibel, dass Cicero, der als Erster und noch admodum adulescentulus (nat. deor. 2,104) Arat auf Latein übersetzte, auch im Sinne hatte, dass das griechische Gedicht als astronomischer Schultext in Rom in Verbindung mit seiner Übersetzung gelernt werden sollte. Daraus wird einerseits ersichtlich, wie bedeutsam für die Überlieferung und Rezeption der Phainomena ihre Verwendung im schulischen Unterricht war.12 Andererseits zeigt sich auch die wichtige Rolle der Überprosaischen Übersetzung bekannt ist; s. dazu Fantuzzi – Hunter 2002, 304; ein alternativer Vorschlag bei Volk 2010, 198. 6 Ausführlich Luiselli 2015, II, 1217–1223. 7 Dickey 2007, 56–60. 8 Santini 2002, 153. 9 Lewis 1992, 113f.; Volk 2015, 255f. 10 Siehe z. B. die Verse 545–549, in denen der Versbau auf die Einprägsamkeit der Inhalte gerichtet zu sein scheint; dazu Kidd 1961, 11. 11 Weinhold 1912, 24; Volk 2015, 256. 12 Für andere Gründe, die den Erfolg der Phainomena erklären würden (stilistisch-literarischer Wert des Werkes; Versform; Darstellung der Inhalte in Form einer systematischen und damit
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setzung Ciceros als Hilfsmittel beim Studium des griechischen Originals und als Ausgangspunkt für die späteren Übersetzungen13 und Wiederaufnahmen14 des Gedichts Arats in Rom. Es ist anzunehmen, dass Cicero als Schüler auch seine alexandrinischen Jugendgedichte – Pontius Glaucus, Nilus, Uxorius, Alcyones, Limon, Thalia maesta15 –, deren exakte Datierung, vor oder nach den Aratea, unbekannt ist, aufgrund seiner Vorliebe für die hellenistische Dichtung verfasste und besagte Gedichte von ihr inspiriert anfertigte, sei es, dass diese ersten Texte in Versen Schulübungen zur Nachahmung der hellenistischen Dichtung waren, sei dass es sich um dichterische Versuche von größerer Anstrengung handelte. Tatsächlich war es Cicero selbst, der sie zum Schweigen verurteilte. Dies kann bedeuten, dass jene Jugendgedichte, falls sie wirklich in der Schulzeit entstanden sind, weder nach Erfolg noch nach dem Anspruch strebten, sich als Schultexte im Gegensatz zu den Aratea zu behaupten,16 die, wie es schon bei theatralischen Texten gewöhnlich war, parallel zu dem griechischen Text der Phainomena gelernt wurden. So hatten die Aratea wie das griechische Gedicht die Funktion als astronomischer Schultext. Als Indiz dieser Funktion kann gelten, dass Vergil bereits in der dritten Ekloge auf das von dem ungefähr siebzehnjährigen Cicero (nat. deor. 2,104 admodum adulescentulus)17 übersetzte griechische Gedicht anspielt und dann im ersten Buch der Georgica (V. 351–465) den zweiten Teil von jenem umformuliert. Außerdem zeigt Ovid noch vor seinem 20. Lebensjahr in den Amores seine Vertrautheit mit dem arateischen Stoff und er selbst versuchte sich später in einer lateinischen Übersetzung der Phainomena.18 Dies lässt uns annehmen, dass alle drei Autoren im Laufe ihrer Schulzeit auf den Text Arats stießen, nämlich während sie mithilfe jenes Textes Astronomie lernten. Nach Ciceros Übersetzung benutzten Vergil und Ovid natürlich auch dessen lateinische Version, von der sie besonders lexikalisch abhängig sind. Der größte Vorzug der Aratea sollte hier die Übersetzung auf Latein sein, wie Cicero selbst durch Licinius Balbus erklärt:
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dem römischen Pragmatismus besonders willkommenen Erfassung; die stoische Komponente, wie sie vor allem im Zeus feiernden Proömium erkennbar ist) vgl. Kidd 1961; Sale 1966; Lewis 1992; Dehon 2003, 94f.; Volk 2015, 257–259. Vor den Aratea des Germanicus und des Avienus die fragmentarische Übersetzungen des Varro Atacinus (frr. 21–22 Bl.) und des Ovid (frr. 1–2 Bl.); später die verlorene Übersetzung des Kaisers Gordian I (3. Jh. n. Chr.); für alle s. Calderón Dorda 1990, 28, 32 und 37; schließlich der so genannte Aratus Latinus, eine Übersetzung in Prosa aus dem 8. Jh. n. Chr. Bekannt ist die vergilische Neuformulierung der arateischen Diosemeiai (georg. 1, 351–465), außerdem die Nähe des ersten Buches der Astronomica des Manilius (besonders V. 255–808) zum Gedicht Arats. Genannt seien auch die Astronomica des Hyginus, das neunte Buch von Vitruvs De architectura und Ovids Fasten (dazu Gee 2000). Für die Unsicherheit des letzten Titels s. Traglia 31971, 12f. Vgl. auch Traglia 31971, 13. Nach Buescu 1941, 28f., und Soubiran 1972, 9, vgl. rep. 1.23 admodum adulescentulus, in Bezug auf den siebzehnjährigen Scipio Aemilianus. Lewis 1992, 114.
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Nunzia Ciano (carmina Aratea) quae a te admodum adulescentulo conversa ita me delectant quia Latina sunt, ut multa ex iis memoria teneam.19 (das Gedicht des Aratos) das du, als du noch sehr jung warst, ins Lateinische übersetzt hast und das mir gerade darum Vergnügen macht, weil es lateinisch ist. So weiß ich denn Vieles daraus auswendig.20
Der Grund dieses Vorzugs ist nicht auf den kaum wahrscheinlichen Umstand zurückzuführen, dass der griechische Text ohne die lateinische Übersetzung nicht verständlich gewesen wäre, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass die lateinische Übersetzung des in der römischen Literatur neuen astronomischen Stoffes einen fachmännischen astronomischen Wortschatz begründet hatte. Hier zeigt sich die gleiche Bestrebung, der sich Cicero später im philosophischen Bereich widmete, anhand folgender Aussage: complures enim Graecis institutionibus eruditi et quae didicerant cum civibus suis communicare non poterant, quod illa quae a Graecis accepissent Latine dici posse diffiderent; quo in genere tantum profecisse videmur, ut a Graecis ne verborum quidem copia vinceremur.21 Viele, die den griechischen Unterricht genossen hatten, waren nicht in der Lage, das, was sie gelernt hatten, ihren Mitbürgern mitzuteilen, weil sie nicht glaubten, dass das, was sie von den Griechen empfangen hatten, auf Lateinisch gesagt werden könne. Auf diesem Gebiet glaube ich meinerseits so große Fortschritte gemacht zu haben, dass wir von den Griechen nun nicht einmal in der Fülle des Ausdrucks überboten werden.
Zusammenfassend lassen sich die alexandrinischen Jugendgedichte Ciceros als von dem Lernen und von der Nachahmung der hellenistischen Dichtung inspirierte poetische Übungen verstehen. Im Gegensatz dazu verfolgen die Aratea als Übersetzung ein doppeltes Ziel, das sich in den anderen jugendlichen Gedichten nicht finden lässt: 1. die Möglichkeit eines parallelen Lernens zwischen dem griechischen Text und der lateinischen Version (wie bereits für die in der Schule gelernten theatralischen Texte praktiziert) anzubieten; 2. die lateinische Sprache mit einem damals fehlenden astronomischen Wortschatz (außer wenigen Beispielen bei Plautus)22 auszustatten. Neben der schulischen Nutzung kann man als weiteren Grund für den Erfolg Arats auch das wachsende Interesse der Römer an der Astronomie im ersten Jahrhundert v. Chr. nennen,23 ein Interesse, das schon Panaitios von Rhodos befördert hatte, als er wahrscheinlich durch Polybius mit den Scipionen in Verbindung gekommen war. Tatsächlich war Rhodos eine echte Schmiede astronomischer – und insbesondere arateischer – Studien: Man denke nur daran, dass Hipparch von 19 Cic. nat. deor. 2,104. 20 Übersetzung von Gigon 1996. Balbus’ Vorzug des Lateinischen scheint widerzuspiegeln, dass Cicero stolz auf seine eigene Übersetzung war. In diesem Fall spricht Balbus an Ciceros Stelle und schützt ihn gleichzeitig vor eventuellen Anschuldigungen des Hochmuts. 21 Cic. nat. deor. 1,8. 22 Plaut. Amph. 271–276 ist ein bedeutender Beleg für lateinische astronomische Wörter, die nicht vom Griechischen entlehnt wurden; s. dazu Domenicucci 2002. 23 Nach Volk 2015, 264 belegen dieses Interesse die Reform des julianischen Kalenders und die Relevanz, die der Astronomie in der augusteischen Propaganda zukam.
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Nicäa, Autor des oben genannten Kommentars zu den Phainomena des Arat und zu denen des Eudoxos, ebenso dort aktiv war wie Posidonius von Apamea, Schüler des Panaitios und selbst Interpret des Aratgedichts, und Geminos von Rhodos, Autor einer Einführung in eben jene Phainomena. Gerade aus diesem wachsenden Interesse an der Astronomie ließe sich das Vorhaben ableiten, in Rom Arat, der sich als Autorität für das grundlegende astronomische Wissen geradezu aufdrängte und für seine formale Feinheit geschätzt wurde,24 zu übersetzen. Die letztgenannte poetische Qualität Arats verweist darauf, dass Cicero mit seiner eigenen Übersetzung gleichermaßen zwei Ziele verfolgen konnte: Den astronomischen Stoff in der Fassung Arats auch in lateinischer Sprache zugänglich zu machen, wahrscheinlich eben als Lehrbuch im cursus studiorum der jungen Römer und mit der Absicht, den lateinischen astronomischen Wortschatz zu bereichern, sich aber auch mit einem der wichtigsten Vertreter der alexandrinischen Dichtkunst zu messen, deren Einfluss auf Cicero von seiner ersten poetischen Produktion an bezeugt ist. Unabhängig von Ciceros Beweggründen dafür, die Phainomena zu übersetzen, ist aber nun offensichtlich, dass er eine mit Scholien versehene Ausgabe Arats verwendet hat. Dies kann man sowohl an einigen auf die Scholien bezugnehmenden Erweiterungen und unterschiedlichen Ergänzungen mit Erklärungsfunktion erkennen25 als auch daran, dass der Text Ciceros mehrfach eine größere Abhängigkeit vom Wortlaut der Scholien aufweist als vom Text des Arat selbst.26 Es ist wahrscheinlich, dass zumindest in den hier ausgewählten Beispielen mögliche Missverständnisse des griechischen Originals vermieden werden sollten oder dass mittels der Ergänzung der Exegese in den Scholien in der lateinischen Übersetzung das Ziel einer stärkeren Verständlichkeit des griechischen Textes verfolgt werden sollte. In diesem Fall fasst eine solche Ergänzung das griechische Original und seine besonders in linguistischer Hinsicht erklärende Rezeption in der lateinischen Version zusammen, damit der Übersetzer zeigt, mit welchen Deutungen er einverstanden ist.27
24 S. das Epigramm Cinnas, fr. 11 Bl.: haec tibi Arateis multum invigilata lucernis / carmina, quis ignis novimus aetherios, / levis in aridulo malvae descripta libello / Prusiaca vexi munera navicula; dazu Volk 2015, 263: „Cinna’s Aratus…is both a champion of the new poetics and an unquestioned authority on the night sky.“ 25 Hier gehe ich nicht auf die wenigen Fälle von Ciceros Erweiterung, Ergänzung oder Verschiedenheit gegenüber dem Text Arats, die unabhängig von den Scholien sind, ein. Als Beispiel gelte Cic. Arat. fr. 17 Soubiran malebant tenui contenti vivere cultu, Erweiterung von Arat. 110 αὕτως δ᾿ ἔζωον, in der malebant auf Hes. Op. 118 ἐθεληµοί als Vorbild des Verses Arats anspielt; s. dazu Ciano 2016. 26 Zum Einfluss der Aratscholien auf die Aratea Ciceros s. Atzert 1908, 3–11; Goetz 1918, 12– 18; Leuthold 1942, 12–15; Malcovati 1943, 82; Bishop 2011, 57–78. 27 Neben diesen Erklärungen, die sich spezifisch auf die hier ausgewählten Beispiele beziehen, gibt es auch andere Gründe für die Benutzung des Scholienmaterials in der lateinischen Dichtung, wie im Fall der Aeneis; z. B. die Inspiration, die der Dichter aus den Scholien schöpft, und der Wille des Dichters, mit dem Modell und mit seiner literarischen Rezeption zu wetteifern; s. dazu Schmit-Neuerburg 1999, passim.
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Aus der Gruppe der Erweiterungen des griechischen Textes möchte ich hier zwei Fälle herausnehmen, die geeignet sind, zwei bestimmte Tendenzen der Übersetzung Ciceros zu unterscheiden: Es handelt sich um die mehrfach zu beobachtende Akzentuierung der Leuchtkraft der Gestirne und zweitens um eine Form der ‚Pathetisierung‘, wie sie von Anfang an die lateinische Dichtung charakterisiert und sich in den Aratea darauf ausgerichtet findet, Arats statische Beschreibungen zu beleben (vgl. Quint. inst. 10,1,55 Arati materia motu caret).28 1. Eine Erweiterung der gegebenen Aussage über die Helligkeit finde ich im Hexameter über den Kranz der Ariadne, Arat. fr. 13 Soub.: hic illa eximio posita est fulgore Corona Hierhin wurde der berühmte Kranz mit seinem einzigartigen Lichtschein gestellt,29
einziges Überbleibsel der breiteren Beschreibung des Arat, V. 71–73: αὐτοῦ κἀκεῖνος Στέφανος, τὸν ἀγαυὸν ἔθηκε σῆµ’ἔµεναι Διόνυσος ἀποιχοµένης Ἀριάδνης, νώτῳ ὕπο στρέφεται κεκµηότος εἰδώλοιο30 Dort windet sich auch jener Kranz, den Dionysos hinterlegt hat, daß er ein erlauchtes Zeichen sei für die weggegangene Ariadne, unter dem Rücken des ermüdeten Bildes.
Zu der üblichen Bedeutung ‚bewunderungswürdig, ausgezeichnet, vornehm‘ fügt das arateische ἀγαυόν (V. 71) hier die neue Bedeutung ‚glänzend‘ hinzu, wie der spätere Gebrauch in Bezug auf andere Himmelskörper deutlich macht (V. 90; 392; 469; 506). Diese semantische Neuheit wird genau im Scholion ad l. unterstrichen, S. 107,6–10 M. τὸν ἀγαυὸς ἔθηκεν: ἐὰν µὲν ἀγαυός ἀναγνῶµεν, ὁ Διόνυσος· ἐὰν δὲ ἀγαυόν ᾖ, τὸν ἐπίσηµον (σηµαίνει δὲ καὶ τὸν ἔνδοξον), ὅτι τὸν τῆς ἐρωµένης στέφανον ἀγαυὸν ἐποίησεν ἐν οὐρανῷ, τουτέστι λαµπρόν31 Wenn wir ἀγαυός lesen, wird Dionysos gemeint; wenn ἀγαυόν, meinen wir den berühmten scil. Kranz (es bezeichnet in der Tat den ausgezeichneten Kranz), weil Dionysos im Himmel den Kranz der Geliebten ἀγαυόν, d. h. leuchtend, machte.
Das Scholion erklärt, wie ἀγαυόν, gerade auf den Kranz bezogen, einerseits seine Berühmtheit zeigt – τὸν ἐπίσηµον…τὸν ἔνδοξον (scil. Στέφανον): vgl. Arat. 71 κἀκεῖνος Στέφανος –, andererseits seine Leuchtkraft (ἀγαυὸν…τουτέστι λαµπρόν), d. h. zwei Qualitäten, von denen die erste auf die Bekanntheit des Mythos zurückgeführt werden kann, die zweite auf den Platz im Himmel. Dem arateischen ἀγαυόν entspricht das ciceronianische eximio…fulgore, das in der Nachfolge der scholiastischen Erklärung die Bedeutung des griechischen 28 Vgl. Buescu 1941, 35, und Soubiran 1979, 169f. 29 Die Übersetzungen Ciceros und der Scholien zu Arat sind meine eigenen, während ich für Arat die Übersetzung von Erren 20092 verwende. 30 Für eine diachronische und intertextuelle Analyse der beiden Stellen s. Ciano 2018. 31 Zusätzlich zur semantischen Erklärung des Adjektivs diskutiert das Scholion zwei unterschiedliche Lesarten in Arat. 71 – ἀγαυός vs. ἀγαυόν. Zu den Argumenten für ἀγαυόν und gegen ἀγαυός s. Ciano 2018.
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Adjektivs erweitert. In der Tat gibt die iunctura im Ablativ die beiden vom Scholion aufgezeigten Bedeutungen wieder, d. h. ‚berühmt‘ durch eximius und ‚glänzend‘ mittels fulgor. Auf der einen Seite eignet sich das Attribut eximius, um die traditionelle Bedeutung des griechischen ἀγαυόν ‚bewunderungswürdig, ausgezeichnet, vornehm‘ auszudrücken, wobei es als hapax den Sinn der Unterscheidung32 noch verstärkt;33 auf der anderen Seite gibt das Substantiv fulgor die zweite und neue Bedeutung ‚glänzend‘ wieder, die von Arat eingeführt und treffend vom Scholion erklärt wird. Die durch Ciceros Beschreibung vergrößerte Helligkeit von Ariadnes Kranz, der tatsächlich aus wenig glänzenden Sternen besteht,34 scheint also alles andere als eine typical hyperbole35 zu sein, die man lediglich auf das emphatische Merkmal der Leuchtkraft zurückführen könnte, das sowohl von Arat36 als auch von Cicero37 regelmäßig den Himmelskörpern zugeschrieben wird. Sie erweist sich vielmehr als poetische Umsetzung der mit Hilfe der Scholien von Cicero geführten philologischen Lektüre des Arattextes. 2. Eine offenbare Erweiterung mit pathetisierender Wirkung wurde dagegen vor Kurzem in den Versen Ciceros über das Sternbild des Eridanos entdeckt,38 Arat. fr. 34,145–148 Soub.: namque etiam Eridanum cernes in parte locatum caeli, funestum magnis cum viribus amnem, quem lacrimis maestae Phaethontis saepe sorores sparserunt, letum maerenti voce canentes Und in der Tat wirst du in einem Teil des Himmels auch den Eridanos sehen, den fatalen Fluss mit heftigen Strömungen, den die traurigen Schwestern Phaetons oft mit Tränen besprengten, während sie mit betrübter Stimme seine Totenklage anstimmten.
Die vier Verse entsprechen Arat. 359–360: οἶον γὰρ κἀκεῖνο θεῶν ὑπὸ ποσσὶ φορεῖται λείψανον Ἠριδανοῖο πολυκλαύτου ποταµοῖο Da fährt nämlich ganz allein unter den Füßen der Götter auch jenes Überbleibsel vom Eridanos, dem vielbeweinten Fluß.
mit der Erweiterung des Verses 360 in den zwei Hexametern von Arat. 34,147– 148. Im griechischen Original spielen λείψανον ‚Überbleibsel‘ und πολυκλαύτου ‚viel beweint‘ nur leicht auf die zum ersten Mal von Arat durchgeführte Identifikation des himmlischen Flusses mit dem Fluss an, in den Phaeton stürzte und den Tod fand. Cicero bringt die Anspielung deutlich zum Ausdruck, indem er die traurigen Schwestern des Phaeton dynamisch darstellt, wie sie den Fluss, in den ihr 32 Kidd 1997, 205. 33 Diese Leistungsfähigkeit des hapax unterschätzt Panichi 1969, 8: „all’ἀγαυόν di Arato…fa riscontro eximio…fulgore, piuttosto generico, nonostante l’apparente forza espressiva di eximio che negli Aratea costituisce un hapax.“ 34 Leuthold 1942, 22. 35 Kidd 1997, 205. 36 Hutchinson 1988, 217. 37 Traglia 1950, 141; Soubiran 1972, 91. 38 Von Pellacani 2014, 107–114.
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Bruder gefallen war, immer wieder mit Tränen besprengen. Er tut dies in Anlehnung an sch. Arat. 360, S. 254,5–9 M. πολυκλαύτου δὲ εἶπεν ὅτι αἱ Ἡλιάδες παρὰ ταῖς τοῦ Ἠριδανοῦ ὄχθαις ὀδυρόµεναι τὸν ἀδελφὸν εἰς αἰγείρους µετεβάλοντο, ὅπου αὐτῶν καὶ τὸ δάκρυον ἤλεκτρον ποιεῖ Er sagte ,viel beweint‘, weil die Heliaden zu Pappeln wurden, während sie an den Ufern des Eridanos den Bruder beweinten, wo ihre Tränen Bernstein hervorbringen.
An der scholiastischen Erklärung des arateischen πολυκλαύτου orientiert sich deshalb die Erweiterung bezüglich des Weinens und des Jammers der Heliaden, die von Cicero durch Kumulation von Wörtern aus dem Begriffsfeld ‚Begräbnis‘ pathetisiert wird: funestum; lacrimis… / sparserunt; maestae; letum maerenti voce canentes. Eine Ergänzung Ciceros lässt sich dann im Vers über den Umlauf des Kleinen Bären erkennen, Cic. Arat. fr. 7,5 Soub. nam cursu interiore brevi convertitur orbe „in der Tat dreht sie sich (scil. Kynosura) in einer engeren Bahn, eine kurze Strecke zurücklegend“, Übersetzung von Arat. 43 µειοτέρῃ γὰρ πᾶσα περιστρέφεται στροφάλιγγι „denn sie dreht sich mit ihrer ganzen Gestalt in engerem Wirbel herum“. Außer der Entsprechung des interiore…orbe zu µειοτέρῃ… στροφάλιγγι einerseits, des convertitur zu περιστρέφεται andererseits, sehen wir die ciceronische Zugabe von cursu…brevi als Glosse zu interiore…orbe. Sie beruht auf der Anregung durch die Scholien: S. 90, 2–3 M. ἐλάττονι στροφῇ χρῆται καὶ περιφορᾷ „sie läuft eine Runde und einen kürzeren Umlauf herum“ und S. 91, 1–2 ἐλάττονα κύκλον περιγράφει „sie zieht eine kleinere Bahn“.39 Schließlich seien zwei Beispiele für Mehrdeutigkeit im Arattext genannt, eines für syntaktische, eines für lexikalische Mehrdeutigkeit. Sie zeigen, dass Cicero in diesen Fällen die Scholien heranzieht, um die Bedeutung des Griechischen für eine richtige Übersetzung festzulegen. 1. Syntaktische Mehrdeutigkeit – Arat. 161f. Ἑλίκης δέ οἱ ἄκρα κάρηνα / ἀντία δινεύει ermöglicht syntaktisch zwei verschiedene Lesarten, da der Genitiv Ἑλίκης sowohl von ἄκρα κάρηνα („die Oberseite des Kopfes der Helike kreist dem Fuhrmann gegenüber“)40 als auch von ἀντία („die Oberseite des Kopfes des Fuhrmanns kreist der Helike gegenüber“)41 abhängig sein kann. Die Scholien sprechen sich dafür aus, dass der Kopf des Fuhrmanns (nicht jener der Helike) kreist, S. 160,10–14 M., Ἑλίκης δέ οἱ ἄκρα κάρηνα: πληθυντικῷ ἐχρήσατο ἀντὶ ἑνικοῦ· ἀντὶ τοῦ ἡ κεφαλὴ αὐτοῦ […] ἀντία δινεύει und S. 160,17 – 161,1 ἡ τοῦ Ἡνιόχου κεφαλὴ ἐξ ἐναντίας τῶν γενύων τῆς Ἑλίκης κεῖται. Aus der Erklärung der Scholien wird die richtige Lektüre des arateischen Textes abgeleitet: οἱ ist dativus possessivus, bezogen auf ἄκρα κάρηνα (V. 161) und von Cicero treffend mit Wechsel des Subjekts im Satz (Fuhrmann bei Arat, Helike bei Cicero) über39 Für weitere Details s. Ciano 2018. 40 Vgl. Erren 20092, 15: „Helikes vorgestrecktes Haupt kreist ihm gegenüber“. 41 Vgl. Kidd 1997, 85: „opposite Helice circles his head at the extremity“, mit Erklärung auf den Seiten 241f.; Martin 1998, I, 10: „le sommet de sa tête tourne en face d’Héliké“ (s. auch II, 226f.).
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tragen, Arat. fr. 25,2 Soub. adversum caput huic Helice truculenta tuetur „Helike sieht finster seinen (scil. des Fuhrmanns) in der entgegengesetzten Richtung gestellten Kopf an“. Ciceros Orientierung an den Scholien wird in der Veränderung zum Sing. caput statt des Pl. κάρηνα deutlich, den der Scholiast als plurale pro singulari (πληθυντικῷ ἐχρήσατο ἀντὶ ἑνικοῦ) erklärt. 2. Lexikalische Mehrdeutigkeit – In Arat. 167f. πὰρ ποσὶ δ’ Ἡνιόχου κεραὸν πεπτηότα Ταῦρον / µαίεσθαι „bei den Füßen des Fuhrmanns ertaste man hingebreitet den gehörnten Stier“ ist πεπτηότα epische Form des Partizip Perfekt sowohl von πίπτω ‚umfallen‘ (daher die resultative Bedeutung ‚gebrochen liegen, ausgestreckt‘) als auch von πτήσσω ‚sich niederkauern‘. Die Unklarheit in Bezug auf das Verb, auf das das arateische Partizip sich zurückführen lässt, scheint die Verwendung und die Annahme der Scholien bei Cicero zu motivieren: Cic. Arat. 27 Soub. corniger est valido conixus corpore Taurus „der gehörnte Stier von mächtigem Körper stemmt sich auf“ ~ S. 162,11 M. ὥσπερ γὰρ ὀκλάσας ἐστίν „es ist, als ob er niedergebeugt ist“.42 Insgesamt belegen die hier aufgezeigten Fälle die enge Verbindung zwischen Dichtung und philologischer Exegese in den Aratea des Cicero. Der Untrennbarkeit des griechischen Gedichts von seinem exegetischen Apparat von Kommentaren und Scholien entspricht das Bedürfnis der lateinischen Übersetzung, gleichfalls auf eben dieses exegetische Material zurückzugreifen, als ein grundlegendes interpretamentum, das den Vorgang des vertere anleitet. Auf diese Weise wird das exegetische Material zuerst erstellt, um das Verständnis der Phainomena zu erleichtern, und dann für die Produktion ihrer lateinischen Übersetzung übernommen. Eine derartige Verbindung lässt sich in die typisch lateinische Praxis einordnen, das exegetische Material der zu übersetzenden oder nachzuahmenden Autoren zu benutzen. Man bedenke in diesem Zusammenhang Werke wie die Odusia des Livius Andronicus43 und die Medea des Ennius44, oder die Aeneis des Vergil45, die Oden des Horaz46 und die Argonautica des Valerius Flaccus47. Eine Praxis also, die die hellenistische Vereinigung von Dichtung und Philologie übernimmt und die, indem sie direkt auch die Aratea betrifft, Cicero in die römische Schule der „hellenistischen Dichter“ integriert.48
42 S. auch Germ. 174 Aurigae pedibus trux adiacet…Taurus „der grausame Stier liegt bei den Füßen des Fuhrmanns“~ S. 163, 4–5 M. παρὰ δὲ τοῖς ποσὶ τοῦ Ἡνιόχου ὑποπεσόντα ζήτει τὸν Ταῦρον „bei den Füßen des Fuhrmanns suche den da aufgestellten Stier“ – die beiden Verben sind Komposita; anders Maurach 1978, 82: „zunächst ist zu sagen, das Germanicus das πεπτηότα Arats (V. 167) von πτήσσω und nicht von πίπτω herleitete“. 43 Fränkel 1932, 306–308; Mariotti 1952, 28f. 44 Bitto 2013. 45 Hexter 2010 (mit vorheriger Bibliographie). 46 Bitto 2012. 47 Bessone 1991; Scaffai 1997; Galli 2007. 48 Für Cicero als hellenistischen Dichter s. auch Knox 2011.
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«POURQUOI CYRÉNÉ N’A PAS PLONGÉ?» L’EMBUSCADE DE PROTÉE ET LA PHILOLOGIE HOMÉRIQUE (VIRGILE, GÉORGIQUES 4, 387–530 ET LES SCHOLIES À L’ODYSSÉE). Jean-Christophe Jolivet Vergil’s attitude toward his model [Homer] is not conceivable outside the cultural background in which practices of exegesis and critical commentary had become the sole «authorized» way to gain access to the poetry of the past – which had by then been turned, in the hands of 1 the philologist-poets, into a literary object.
L’influence de la philologie homérique et en particulier des problèmes homériques2 sur l’Enéide de Virgile a été amplement démontrée à la fin du siècle dernier.3 Par ailleurs, il a été reconnu depuis longtemps que l’épisode de la capture de Protée par Aristée au chant 4 des Géorgiques était, dans toute l’œuvre de Virgile, la section où l’imitatio Homeri est tout à la fois la plus nette, la plus suivie et la plus précise. Les travaux de Joseph Farrell et de Llewelyn Morgan ont fait ressortir de façon convaincante la double dimension métapoétique et allégorique de l’épisode.4 Farrell a notamment montré que la reprise de l’histoire de Protée, l’un des épisodes les plus étranges de toute la poésie homérique était une manière de réutiliser la signification allégorique traditionnellement associée à cet épisode par une partie des critiques antiques: Vergil has maintained this character’s (i. e. Proteus) Homeric identity (…) as a kind of clue to the reader. Proteus (…) tends himself to allegorical interpretation.5
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Barchiesi 2015, 32. Je remercie vivement Anna Ginestí Rosell et Gregor Bitto de leurs remarques qui ont permis d’améliorer cet article. Sur les problèmes homériques, sous forme de zètèmata auxquels on apporte des solutions (lyseis), voir Nünlist 2009, 11–14. Sur la diffusion de ces questions à Rome, Jolivet 2014. Schlunk 1974; Schmidt-Neuerburg 1999. Farrell 1991; Morgan 1999. La présente étude se concentrant sur les rapports de l’épisode de Protée avec la philologie homérique, il n’a pas paru opportun de mobiliser la très importante littérature afférente aux Géorgiques parue ces dernières années. Il n’a pas été possible de consulter Vasiles A. Phyntikoglou, Virgiliou. Vougonia: To epullio tou Aristaiou (Georgikon IV 281–558). Vivliotheke Archaion Sungrapheon, 42. Athènes 2007. Le commentaire de M. Herren, P. Vergilius Maro: ‹Georgica›, Band 2: Kommentar, Heidelberg 2003 n’apporte pas sur ce passage précis beaucoup d’éléments nouveaux par rapports aux commentaires plus anciens en ce qui concerne les sources homériques. Voir encore sur ces modèles Farrell 1991, 104–106; Biotti 1994, 250–251. Farrell 1991, 266.
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Morgan a de son côté considérablement approfondi la lecture de l’épisode sur le plan allégorique en puisant dans les commentaires anciens relatifs à la figure de Protée6 et a mis en valeur la dimension métapoétique des références à l’Océan, symbole d’Homère et de sa poésie, chez Virgile.7 En tout état de cause, le passage homérique a fait l’objet d’interprétations allégoriques liées au caractère merveilleux des métamorphoses de Protée. Il est, pour ainsi dire, l’exemple même des passages «problématiques»8 d’Homère. Il est donc vraisemblable de conclure que la reprise virgilienne évoque auprès du public lettré tout son environnement exégétique et tout son questionnement interprétatif. Il n’est pas question de revenir ici sur les aspects allégoriques et métapoétiques, mais d’examiner l’éventuelle influence sur Virgile d’éléments d’exégèse homérique portant sur d’autres aspects. A titre exploratoire, on partira cependant des constatations formulées par un allégoriste sur l’épisode de l’Odyssée. Les Allégories d’Homère d’Héraclite9 constituent un corpus d’explications regroupant de façon éclectique des interprétations anciennes liées à des problèmes homériques; il est vraisemblable que ce corpus présente un groupement de loci communes en la matière dont une part au moins remonte à une période antérieure à Virgile.10 Les développements consacrés à l’épisode de Protée (chapitres 64 à 67) sont essentiellement dédiés à l’exégèse allégorique cosmogonique de l’épisode. Toutefois, le développement initial, emblématique de la façon dont procède l’exégèse allégorique pour se justifier, énumère un certain nombre de problèmes posés par l’épisode; ce passage correspond au chapitre 64 des éditions modernes: Καὶ µὴν ὁ περὶ Πρωτέως λόγος οὕτω πολὺς ἐκταθεὶς ὑπὸ Μενελάου τὴν ἐξαπατῶσαν εὐθὺς ἔχει φαντασίαν· πάνυ µυθώδης γεγονέναι τῆς ἐν Αἰγύπτῳ νησίδος ἄθλιον ἔποικον εἰς ἀθανάτου µέτρα τιµωρίας παρελκόµενον, ᾧ βίος ἠπείρου καὶ θαλάττης κοινὸς ἀτυχεῖς ὕπνους µετὰ φωκῶν κοιµώµενος, ἵν᾿ αὐτοῦ κολάζηται καὶ τὸ τερπνόν. Θυγάτηρ δ᾿ Εἰδοθέα διὰ πατρὸς ἀδικίας ξένον εὖ ποιοῦσα καὶ γινοµένη προδότις αὐτοῦ· δεσµοὶ µετὰ τοῦτο καὶ Μενέλαος ἐνεδρεύων· εἶθ᾿ ἡ πολυπρόσωπος εἰς ἅπαντα ἃ βούλεται Πρωτέως µεταµόρφωσις ποιητικοὶ καὶ τεράστιοι µῦθοι δοκοῦσιν, εἰ µή τις οὐρανίῳ ψυχῇ τὰς ὀλυµπίους Ὁµήρου τελετὰς ἱεροφαντήσειε. L’histoire de Protée, que Ménélas développe si longuement, offre au premier abord une apparence trompeuse: N’est-ce point pure fiction, qu’un malheureux habitant cette petite île d’Egypte, traînant sa peine éternellement, partageant sa vie entre la mer et la terre ferme, dormant, l’infortuné, en compagnie des phoques, pour que ses joies même soient empoisonnées? Sa fille, Eidothée, favorise un étranger au détriment de son père, qu’elle trahit. Ajoutez encore ces chaînes et l’embuscade de Ménélas; puis les métamorphoses de ce Protée aux 6 7 8 9 10
Morgan 1999, 75–101. Morgan 1999, 33–36 ; 63–74 et passim. Au sens où cet épisode est source de zètèmata ou problèmata. On utilisera ici le nom d’Héraclite plutôt que la formule «pseudo-Héraclite». Buffière 1962, XXXI–XXXIX; les Allégories d’Homère, composées sans doute entre Auguste et Néron, regroupent un matériau d’exégèse allégorique partiellement ancien. Sur leur caractère éclectique, voir Chiron 2005. L’opinio communis consiste à considérer que les Allégories d’Homère, le De vita et poesi Homeri du Pseudo-Plutarque et les Quaestiones homericae de Porphyre remontent à une source commune et combinent des éléments de doctrine pergaméniens et stoïciens. Voir Ramelli/Lucchetta 2004, 378 et passim.
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mille visages, prenant toutes les formes qu’il veut: autant de traits qui ont tout l’air de contes faits à plaisir et fantasmagoriques: à moins qu’une âme céleste ne vienne nous initier à ces mystères de l’Olympe qui se jouent chez Homère.11
Selon l’analyse d’Héraclite, c’est l’accumulation de problèmes et de détails incongrus qui rend le passage µυθώδης. C’est précisément la multiplication des problèmes homériques qui rend impossible l’explication de l’épisode dans le cadre d’une lecture littéraliste; c’est cette multiplication qui nécessite le recours à l’explication allégorique,12 seul moyen de défendre et d’expliquer le passage. La méthode cumulative dont use Héraclite semble avoir été, comme le suggère Jean Pépin, à propos d’un auteur plus tardif, un élément typique de la démarche d’interprétation allégorique.13 Il faut donc dresser le catalogue de tous les détails qui font de ce récit une ἐξαπατῶσα φαντασία, le rendent µυθώδης: 1. l’isolement de Protée dans une île égyptienne; 2. sa vie commune avec les phoques, invraisemblable à cause de la mauvaise odeur de ces animaux;14 3. la trahison de sa fille Eidothée, qui est contre nature, surtout au profit d’un étranger, Ménélas; 4. la capture de Protée et l’embuscade tendue par Ménélas; 5. les métamorphoses de Protée. Cette présentation revêt deux caractéristiques notables. D’une part, il s’agit là d’un inventaire plus ou moins systématique des traits étranges ou problématiques de l’histoire de Protée. D’autre part, il est frappant de constater que l’allégoriste prend soin de souligner des traits problématiques qui ne relèvent pas uniquement du merveilleux (les métamorphoses de Protée), mais aussi sans doute de considérations morales, de vraisemblance (πιθανότης, πρέπον…), etc., critères d’évaluation que l’on retrouve traditionnellement dans les commentaires anciens, bien au-delà de la seule exégèse allégorique.15 C’est par exemple le cas pour le problème posé par la trahison filiale, qui n’a rien de spécialement extraordinaire, ou pour l’embuscade tendue par l’Atride, ravalé au rang de chasseur de phoques. L’étonnement de l’allégoriste peut même parfois sembler trivial, quand il traite de l’odeur des phoques. L’interprète semble en tout cas avoir synthétisé dans ce passage un ensemble de zètèmata qui dépasse le cadre de la seule exégèse allégorique. Ces questions constituaient peut-être des problèmes classiques posés par l’épisode et il n’est pas impossible qu’Héraclite en ait trouvé la trace dans les commentaires alexandrins. Quoi qu’il en soit, il est intéressant de les confronter, à titre exploratoire, à l’interpretatio Romana virgilienne. Par ailleurs, en dépit d’une reprise extrêmement précise du modèle homérique, il est facile de constater que, dans les Géorgiques, un certain nombre des éléments du récit homérique ont été modifiés. Virgile a conservé les métamorphoses de Protée, l’aspect pour ainsi dire le plus merveilleux de l’épisode: les ποιητικοὶ καὶ τεράστιοι µῦθοι, mais certains 11 12 13 14
Traduction Buffière 1962. Buffière 1962, 70, n. 1. Pépin 1966. Sur les phoques de l’épisode de Protée, voir l’étude fouillée de Trinquier 2010 et son abondante bibliographie. 15 Richardson 1980; Schmit-Neuerburg 1999.
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détails ont fait l’objet d’une modification. Comme on le sait, l’utilisation des commentaires hellénistiques a pu pousser Virgile à pratiquer un type de Kontrastimitation16 du modèle dans l’Enéide. Examinons ce qu’il en est dans ce passage du livre 4 des Géorgiques. 1. POURQUOI CYRÉNÉ N’A PAS SAUTÉ À L’EAU? Voici comment se conclut l’épisode de Protée (528–530): Haec Proteus, et se iactu dedit aequor in altum, quaque dedit, spumantem undam sub uertice torsit. At non Cyrene. Telles furent les paroles de Protée et, d’un saut, il se livra à la mer profonde; là où il s’y livra, il fit tournoyer dans le flot profond une onde écumante. Mais ce ne fut pas le cas de Cyréné.
La formule at non Cyrene a pu éveiller la curiosité des commentateurs et faire l’objet d’un moderne zètèma: Cyrene does not do precisely what Proteus has just been stated to have done, that is, depart into the sea. But the question then becomes quite why Virgil needs to deny that Cyrene might do the same as Proteus.17
La très grande proximité de l’épisode avec le chant 4 de l’Odyssée invite à considérer l’hypothèse suivante: cette formule, qui différencie le comportement du Protée virgilien et celui de Cyréné, renvoie a contrario au parallélisme de comportement du Protée homérique et de l’alter ego de Cyréné dans l’Odyssée, Eidothée: après avoir donné des conseils à Ménélas sur la façon de capturer Protée, elle plonge dans l’onde pour en ramener les peaux de phoque qui permettront aux Achéens de se dissimuler pour s’emparer du devin: ὣς εἰποῦσ᾽ ὑπὸ πόντον ἐδύσετο κυµαίνοντα (425). Lorsque, à la fin de l’épisode homérique, Protée plonge après avoir fait ses révélations à Ménélas, c’est la même formule qui est employée à son sujet: ὣς εἰπὼν ὑπὸ πόντον ἐδύσετο κυµαίνοντα (570). C’est le vers imité par Virgile quand il écrit: Haec Proteus, et se iactu dedit aequor in altum (528). Est-ce le moyen pour Virgile de signaler la fin de son imitatio Homeri, comme on l’a supposé, précisément au moment où Protée plonge dans l’Océan, symbole homérique par excellence?18 Il n’est pas sûr qu’il ne s’agisse que de cela. Placée dans un contexte qui invite de façon aussi explicite à la comparaison avec le modèle homérique, la formule at non Cyrene ne peut qu’évoquer à un lecteur familier du chant 4 d’Homère, une différence entre Cyréné et son modèle homérique, Eidothée19. Eu égard à l’acribie dont Virgile fait preuve dans l’imitatio ho16 17 18 19
Schmit-Neuerburg 1999, 4–13 et 244–298. Morgan 1999, 47. Morgan 1999, 47–48. Morgan 1999, 47: «A reader with an eye very firmly on Odyssey 4 would therefore have reason to expect Cyrene to depart in a similar fashion to Proteus, since that is what she (sic)
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mérique du chant 4, il est tentant de voir dans cette formule une sorte de signal soulignant la différence avec le modèle: les deux personnages féminins qui président à chacun des deux épisodes, Eidothée et Cyréné, ne se comportent pas de la même manière. Toutefois, même si l’on admet la valeur quasi-philologique de cette formule virgilienne, ses tenants et aboutissants semblent bien difficiles à déterminer. On peut formuler, à titre exploratoire, l’hypothèse que cette étrange formule serait le signe même de la Kontrastimitation opérée par Virgile. 2. OU EST PHAROS? On l’a vu, Héraclite incrimine le fait que Protée traîne une vie misérable dans une île égyptienne: τῆς ἐν Αἰγύπτῳ νησίδος ἄθλιον ἔποικον εἰς ἀθανάτου µέτρα τιµωρίας παρελκόµενον: «un malheureux habitant d’une île d’Egypte qui y traîne éternellement sa peine.» Ménélas présente ainsi le lieu de son aventure (354–355): νῆσος ἔπειτά τις ἔστι πολυκλύστῳ ἐνὶ πόντῳ Αἰγύπτου προπάροιθε, Φάρον δέ ἑ κικλήσκουσι. Il est une île dans la mer agitée, au-devant de l’Egypte. On l’appelle Pharos.
On sait que la localisation de Pharos a constitué un problème homérique important dans l’Antiquité. Homère indique en effet que Pharos se trouve à un jour de navigation de la côte. Se fondant entre autres sur ce vers, Eratosthène mettait en doute les données géographiques contenues dans Homère. Strabon apportait à ce problème une lysis et répondait à Eratosthène en prétendant grosso modo qu’il fallait mettre cette localisation au compte de Ménélas, lequel était par ailleurs au courant des phénomènes d’alluvionnement du Nil et en aurait induit une localisation de Pharos plus éloignée de la côte, «en haute mer» (πελαγίαν), dans les temps anciens.20 Ce débat célèbre se trouve par exemple synthétisé par Lucain (10.508– 510): Nunc claustrum pelagi cepit Pharon. Insula quondam in medio stetit illa mari sub tempore uatis Proteos, at nunc est Pellaeis proxima muris. Maintenant [César] a pris Pharos, rempart de la haute mer. L’île autrefois s’est tenue au milieu de la mer, à l’époque du devin Protée, mais aujourd’hui, elle est toute proche des remparts macédoniens. does in the Odyssey model». On pourra toutefois noter que d’une part Cyréné, précisément, ne part pas: elle va délivrer les instructions qui permettront à Aristée de mener à bien la bougonie et que d’autre part, dans Homère, le plongeon d’Eidothée intervient dans un contexte narratif particulier: elle plonge non pour s’en aller, mais pour procurer à Ménélas les moyens de son embuscade, les peaux de phoques. 20 Strab. 1.2.23: ἱστόρησε δὲ καὶ τὴν Φάρον πελαγίαν οὖσαν τὸ παλαιόν· προσεψεύσατο δὴ καὶ τὸ πελαγίαν εἶναι, καίπερ µηκέτι πελαγίαν οὖσαν. «Ménélas] avait donc entendu dire que, jadis, Pharos était une île en haute mer, et il a amplifié volontairement, prétendant indûment qu’elle était encore l’île de haute mer qu’elle avait cessé d’être.» Voir aussi schol. ad Od. 4. 355.
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La version virgilienne ne semble pas reprendre la localisation homérique de l’épisode de Protée. Loin d’enfermer le devin dans l’île problématique, Virgile situe d’une part la résidence habituelle de Protée dans la mer de Carpathos, d’autre part, il le dépayse, reprenant des données hellénistiques, puisées chez Lycophron et Callimaque,21 et l’envoie en voyage du côté de la Chalcidique: la scène est à Pallène. C’est du moins ce que l’on croit pouvoir déduire des paroles de Cyréné (390–391):22 Hic nunc Emathiae portus patriamque reuisit Pallenen. Celui-ci [Protée], à cette heure, revient visiter les ports de l’Emathie et Pallène, sa patrie.
L’opposition avec la version homérique semble particulièrement nette (384: πωλεῖταί τις δεῦρο γέρων ἅλιος νηµερτής). Toutefois, les deux vers débutant le récit méritent examen (387–388): Est in Carpathio Neptuni gurgite uates Caeruleus Proteus…. Il est dans la mer de Carpathos un devin de Neptune, Protée le céruléen.
On constate aisément que in Carpathio… gurgite concorde assez bien avec πολυκλύστῳ ἐνὶ πόντῳ / Αἰγύπτου προπάροιθε. Mais on est bien obligé de constater qu’il n’y a plus trace de l’île de Pharos dans la version virgilienne. Virgile a-til fait tout simplement disparaître la version homérique, problématique, pour se concentrer sur une version hellénistique? Ce n’est peut-être pas si simple. Voici les paroles de Ménélas à propos de l’île: Φάρον δέ ἑ κικλήσκουσι: «on l’appelle Pharos». Il y a chez Lycophron un hapax legomenon, φάρος, dont le sens, attesté non seulement par les scholies,23 mais aussi par la tradition lexicographique,24 est gorge.25 Or, l’un des sens de gurges est précisément «la gorge».26 Le gurges Carpathius ne rappellerait-il pas le nom de Pharos? On pourrait objecter bien sûr qu’il y a là un hasard, le terme gurges n’étant absolument pas surprenant en ce contexte. On pourra toutefois remarquer: 1) que le simple fait de situer Protée en 21 Thomas 1988, 217–218. Cf. Lyc., Alex. 126–127 et Call., SH, frag. 254, 5–6. 22 Voir par exemple Thomas 1988, 217, ad loc.: «Aristaeus does not have to travel to Egypt, since Proteus is visiting Thessaly and Pallene…». Les rapports éventuels de cette relocalisation avec les spéculations savantes relatives au périple de Ménélas (Aristonicos) semblent difficiles à préciser. Virgile fait allusion au périple de Ménélas en En.8, 262: l’Atride se trouve aux «colonnes de Protée». 23 Ce mot se trouve ainsi glosé dans les scholies, ad loc.: φ ά ρ υ γ ξ – καὶ φ ά ρ ο ς – ἀντὶ τοῦ φάρυγγι. 24 Par ex. EM s. v. Φάρυγξ: Παρὰ τὸ φέρω, δι’ ἧς φέρεται τὸ πνεῦµα. Φέρω φέρος καὶ φάρος· καὶ παρώνυµον, φάρυγξ. Ὡς Λυκόφρων, ‹ἐτύµβευσεν φάρῳ.› Ἀντὶ τοῦ φάρυγγι. 25 Déméter, dit Lycophron, a enseveli les chairs de Pélops dans sa gorge (154) : ἄσαρκα µιστύλασα τύµβευσεν φάρῳ. Voir Guilleux 2009, 232 et note 46 (hapax contre l’attente). Contra Deroy 1985. 26 Ernout/Meillet 1994, sub uerbo : «Gurges, -itis m.: 1° gouffre, abîme; 2° gosier (populaire, Lucil.), cf. ingurgitare.» Voir OLD, sub uerbo gurges 1 b. Cf. gurgulio, etc.
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haute mer (in Carpathio Neptuni gurgite) est déjà en soi une référence pour tout lecteur érudit à la quaestio homerica de la résidence de Protée, le débat sur Pharos portant précisément sur sa localisation en haute mer; 2) que l’emploi de gurgite intervient dans un contexte où Virgile fait appel à une variante légendaire liée précisément à Lycophron, dans un contexte de références complexes avec la poésie alexandrine;27 3) que cette etymologia latens pourrait se trouver confirmée par l’insistance que constitue la reprise du terme gurges un peu plus bas (395): Pascit sub gurgite phocas; 4) que l’on retrouve ailleurs dans la poésie latine des alliances entre le nom de Pharos, ou l’adjectif Pharius, ou encore Protée et gurges;28 5) que l’on a pu croire trouver un jeu étymologique analogue dans l’Enéide, à propos d’un guerrier nommé Pharo, qui se trouve blessé, comme de juste … à la gorge: A. 10.322–23: ecce Pharo, voces dum iactat inertis, / intorquens iaculum clamantis sistit in ore. (cf. φ ά ρ ο ς , ‹throat› and Harrison [1991] ad loc.).29
L’île de Pharos est peut-être donc bien là, cachée sous les flots de la mer de Carpathos, dans une étymologie savante qui supprime les difficultés de la géographie homérique au profit d’une inflexion hellénistique de la légende de Protée.30 3. A QUELLE HEURE PROTÉE SORT-IL DE L’EAU? Quant au moment de l’embuscade, il est identique à celui du modèle homérique. Ménélas et Aristée guettent Protée à l’heure de midi (Od. 4, 400). Il a été suggéré que des correspondances structurelles existaient entre le chant 4 de l’Odyssée et le chant 4 des Géorgiques:31 le vers 400 de nos éditions modernes du chant 4 de l’Odyssée: ἦµος δ’ ἠέλιος µέσον οὐρανὸν ἀµφιβεβήκῃ, se trouve exactement traduit par le vers 401 du chant 4 des Géorgiques: medios cum sol accenderit aestus.32 Coïncidence ou non, il faut reprendre le passage: Eidothée déclare donc dans ses instructions à Ménélas: ἦµος δ’ ἠέλιος µέσον οὐρανὸν ἀµφιβεβήκῃ, (400) τῆµος ἄρ’ ἐξ ἁλὸς εἶσι γέρων ἅλιος νηµερτὴς 27 Voir par ex. Thomas 1988, 217-218 ad loc.; il rappelle en outre que Lycophron est originaire de Chalcis qui a colonisé la Chalcidique où se trouve Pallène: «Callimachus (…) referred to Proteus as the seer from Pallene (…) V. has Pallene as Proteus’ fatherland, while Lycophron states that he visited Pallene from his fatherland, Egypt (Alex. 126 πάτραν). The reversal, and V.’s insistence, might suggest a Callimachean correction of Lycophron.» 28 Il y a quelques reprises dans la tradition poétique latine: Ov. Met. 11.249: Carpathius medio de gurgite uates; Luc. 7.692, Pharioque a gurgite. Voir aussi Claud., Epist. 2.57. 29 O’Hara 1996, 291. Renvoi à Harrison 1991, S.J., Vergil: Aeneid 10, Oxford 1991. 30 Pour les jeux étymologiques dans la poésie augustéenne, on se contentera de renvoyer à O’Hara 1996 (en particulier, pour les Géorgiques, 253–289) et Michalopoulos 2001. 31 Thomas 1988, ad loc., note que les paroles d’Eidothée à Ménélas commencent à Od. 4.383; celles de Cyréné à Aristée à G. 4.387. 32 Ce vers était peut-être d’ailleurs le vers 400 autrefois, si le vers 338 est bien une interpolation. Voir l’analyse de Morgan 1999, 25–27 et 223–229.
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Jean-Christophe Jolivet Lorsque le soleil dans son cours a atteint le milieu du ciel, alors sort de l’eau le vieux prophète de la mer.
Virgile insiste davantage qu’Homère sur la chaleur qui règne quand il évoque la sortie de Protée hors de l’eau, juste avant sa capture par Aristée. Cyréné s’exprime ainsi (401–404):33 Ipsa ego te, medios cum sol accenderit aestus, cum sitiunt herbae et pecori iam gratior umbra est, in secreta senis ducam, quo fessus ab undis se recipit. Moi-même, lorsque le soleil aura enflammé ses feux du milieu du jour, au moment où les herbages ont soif et où déjà le bétail se plaît davantage aux ombrages, je te conduirai à la cachette du vieux, là où il se repose au sortir de l’eau.
Le narrateur insiste encore sur la chaleur qui règne quand, quelques vers plus loin, Protée apparaît sur la plage (424–429): Iam rapidus torrens sitientis Sirius Indos ardebat caelo et medium sol igneus orbem hauserat, arebant herbae et caua flumina siccis faucibus ad limum34 radii tepefacta coquebant, cum Proteus consueta petens e fluctibus antra ibat. Déjà Sirius vorace, qui consume les Indiens assoiffés, brûlait dans le ciel et le soleil enflammé avait à moitié épuisé son orbite: les herbages séchaient, et les rayons chauffaient jusqu’au limon les cavités des fleuves dans leurs gorges à sec, quand Protée, gagnant depuis les flots son antre accoutumé, s’avançait.
L’amplification du motif par rapport au modèle est particulièrement notable. Elle a pu trouver son origine, comme il a été proposé, dans les liens qui unissent Aristée à la canicule chez Apollonios de Rhodes,35 ou encore dans une physica ratio confrontant un principe igné (représenté par Aristée) et un principe aqueux (représenté par Protée), du fait notamment des liens entre Aristée et Apollon, dieu solaire, ou encore d’un lien étymologique entre Aristaeus et arista dérivé ab ariditate.36 L’amplification s’accompagne peut-être aussi d’un jeu étymologique sur Sirius et σειριᾶν, attesté ailleurs.37 Mais l’insistance du passage virgilien sur la chaleur peut encore s’éclairer d’autre manière si l’on lit les scholies au vers 400:
33 Thomas 1988, 219 ad 401 sqq. 34 La question de l’alluvionnement était essentielle notamment dans la polémique autour de la situation de Pharos et l’étymologie proposée pour le nom du Nil. Malgré la situation de la scène en Chalcidique, sans doute à Pallène, on peut se demander s’il n’y a pas là une allusion à ces questions. Cf. Strab. 1.2.23 et schol. ad Od. 4.355. 35 Trinquier 2009, 83–84. Voir notamment le rapprochement avec Apoll. Arg. 2.516–517. 36 Morgan 1999, 87–89 et notes 112 à 114. Serv. ad G. 1.8. Voir l’analyse du passage dans Biotti 1994, 324–326. 37 O’Hara 1996, 288, relève une occurrence possible de ce jeu chez Arat. Phaen. 328–332. Voir aussi Eust. ad Od. 1709, 54.
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Schol. ad Od. 4.400 c: µέσον οὐρανὸν ἀµφιβεβήκει] διὰ τί φησιν κατὰ µέσην τὴν ἡµέραν ἔρχεσθαι τὸν γέροντα; διότι οἱ θεοὶ ἐν ἄλλῃ ὥρᾳ οὐ πλησιάζουσι τοῖς πρὸς γῆν οὖσιν, ὡς τοῦ τόπου ψυχροῦ ὄντος. κατὰ δὲ µέσην ἡµέραν ἐστὶ καύσων καὶ πυροῖ τὰ ἐνταῦθα καὶ παρεικάζει τῷ αἰθέρι ἔνθα διατρίβουσι· τότε γοῦν ἐναργῶς ἐφαίνοντο αὐτοῖς ὡς τοῦ πρὸς γῆν τόπου ἰσάζοντος τρόπον τινὰ τῇ τοῦ αἰθέρος θέρµῃ. Pourquoi [Eidothée] dit-elle que le vieillard arrive au milieu du jour ?38 C’est que les dieux ne fréquentent pas les lieux terrestres à une autre heure, parce que l’endroit serait froid. Mais au milieu du jour quand il y a une chaleur ardente et qu’elle consume ce qui s’y trouve et assimile la terre au ciel, alors ils y passent du temps. C’est à ce moment donc qu’ils se montraient ostensiblement aux êtres terrestres, l’environnement terrestre égalant, d’une certaine façon, la chaleur de l’éther.
Le paysage virgilien semble correspondre à la scène idéale pour une épiphanie: un paysage brûlé et desséché par les rayons du soleil, où la sécheresse règne même dans le cours des fleuves. Cela prélude à un événement extraordinaire. Cette inflexion par rapport à Homère trouve peut-être une partie de son origine dans les commentaires anciens.39 4. POURQUOI PROTÉE VIT-IL AVEC DES PHOQUES? Aux vers 392–395, la Cyréné virgilienne évoque les dons divinatoires de Protée, qu’elle associe étroitement à son rôle de berger des phoques: Nouit namque omnia uates quae sint, quae fuerint, quae mox uentura trahantur. Quippe ita Neptuno uisum est, immania cuius armenta et turpis pascit sub gurgite phocas. Devin qu’il est, il sait tout, le présent, le passé, les faits qui bientôt viendront dans la suite. Ainsi en a décidé Neptune dont [Protée] fait paître les troupeaux monstrueux et les phoques difformes sous l’abîme marin.
Comme on le sait, les vers 392–393 reprennent les vers 69–70 du chant 1 de l’Iliade, relatifs aux pouvoirs de Calchas (G. 4.393 = Il. 1.70): Κάλχας Θεστορίδης οἰωνοπόλων ὄχ’ ἄριστος, ὃς ᾔδη τά τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόµενα πρό τ’ ἐόντα. Calchas, fils de Thestor, le tout meilleur des augures, qui connaît ce qui est, ce qui sera et ce qui a été auparavant.
Les vers virgiliens développent également les vers 403–406 du chant 4 de l’Odyssée, quand Eidothée évoque l’arrivée de Protée:40
38 La formule introductive est typique de la démarche zétématique et des problèmes homériques en particulier. 39 Serv. ad 4.400: Medios cum sol accenderit aestus: fere enim numina tunc uidentur. 40 La mention de Neptune renvoie au vers 386 du chant 4, où Protée est donné par Eidothée comme ὑποδµώς de Poséidon.
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Jean-Christophe Jolivet ἐκ δ’ ἐλθὼν κοιµᾶται ὑπὸ σπέεσι γλαφυροῖσιν· ἀµφὶ δέ µιν φῶκαι νέποδες καλῆς ἁλοσύδνης ἁθρόαι εὕδουσιν, πολιῆς ἁλὸς ἐξαναδῦσαι, πικρὸν ἀποπνείουσαι ἁλὸς πολυβενθέος ὀδµήν. Il sort et va se coucher sous ses cavernes creuses. Autour de lui, les phoques difformes de la belle Halosydnè les uns contre les autres dorment, sortis de la blanche écume, exhalant l’odeur piquante des grands fonds marins.
On peut remarquer 1) que les dons de Calchas, équivalents à ceux de Protée, sont mis en rapport dans l’Iliade avec la divination par les oiseaux (οἰωνοπόλων); 2) que le texte de l’Odyssée n’établit pas de lien entre les phoques et les dons divinatoires de Protée; 3) que le passage virgilien juxtapose la double fonction de Protée comme uates et comme berger des phoques, tout comme le faisait vraisemblablement déjà Callimaque, dans le proème de la Victoria Berenices, qui le désignait comme Παλληνέα µά[ντιν, / ποιµένα [φωκάων].41 Pour Cyréné – comme pour son compatriote Callimaque de Cyrène –, Protée est tout à la fois un devin et le berger de Neptune. Quel est le rapport entre les deux? C’est uniquement dans les scholies que se trouve évoqué le rôle des phoques dans la divination: il n’y en a nulle trace dans le texte homérique. La présence des phoques auprès de Protée est implicitement présentée comme un point problématique par Héraclite (ἀτυχεῖς ὕπνους µετὰ φωκῶν κοιµώµενος, ἵν᾿ αὐτοῦ κολάζηται καὶ τὸ τερπνόν). A plusieurs reprises, les scholies justifient la présence de ces animaux par leur fonction divinatoire:42 Schol. ad Od. 4.384 e 1: γέρων ἅλιος νηµερτής] ἠλληγόρηται παρὰ τῷ Ἡρακλείτῳ [cf. qu. Hom. 64.2–3] οὕτως· ὁ Πρωτεὺς ἄνθρωπος ἦν οἰκῶν κατὰ θάλασσαν, εἴτε πλησίον αὐτῆς εἴτε ἐν νήσῳ, χρώµενος µαντικῇ ἀπὸ τῶν ἐναλίων ζῴων, ὡς ἄλλοι ἀπὸ τῶν ὀρνέων καὶ ἄλλοι ἀπὸ τῶν ἱερείων. Le vieux de la mer: Héraclite propose l’interprétation allégorique suivante :43 Protée était un homme qui habitait près de la mer, soit sur un rivage, soit dans une île. Il avait recours aux animaux marins pour la mantique, comme d’autres recourent aux oiseaux ou à des prophétesses.44
41 Call., SH, frg. 254, 5–6. Voir Thomas 1986, 319: «That Vergil is recalling Callimachus seems beyond doubt, since his lines resemble those of Callimachus and differ from the Homeric archetype in two other ways: he twice (387, 392) calls him uates (cf. µάντιν, frag. 254. 5); and he associates him with Pallene (390–91: patriamque reuisit / Pallenen). Vergilius ecce iterum conflat.» 42 Schol. ad Od. 4.404 a 1: ἀµφὶ δέ µιν φῶκαι: περὶ αὐτὸν δέ. φώκαις συνδιαιτᾶται ὁ Πρωτεύς· ἐπιτηδειότατον γὰρ τῶν ἐναλίων ζῴων τοῦτο εἰς µαγείαν; 404 c 1. 43 Postérieure à Héraclite et à Virgile, cette scholie introduit des éléments qui ne se trouvent pas dans notre texte des Allégories d’Homère, notamment, précisément, la mention de la fonction divinatoire des phoques. Voir Pontani 2010, 291, ad loc.: «[Heraclit.] … Proteum artis magicae peritum non inducit.» 44 La lysis au problème de la présence des phoques auprès de Protée se trouve encore évoquée dans d’autres scholies, ainsi: Schol. ad Od. 4.404a2: ἀµφὶ δέ µιν φῶκαι] συνδιαιτᾶται γὰρ φώκαις ὁ Πρωτεύς, διότι ἐπιτηδειότατον εἰς µαντείαν τῶν ἄλλων ἐναλίων τοῦτο τὸ ζῷον. «Autour de lui des phoques: à ses côtés. Protée passe sa vie avec des phoques parce que cet animal est le plus utile de tous les (autres) animaux marins pour la mantique.»
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Tout se passe comme si Callimaque et Virgile, en associant les fonctions pastorales et divinatoires de Protée, résolvaient implicitement le problème homérique de la présence énigmatique des phoques, en suggérant la lysis des scholies. Il est en outre intéressant de voir la dernière scholie citée mettre en parallèle la divination par les oiseaux et la divination par les animaux marins; or, Virgile, en citant l’Iliade, compare implicitement le pasteur de phoques Protée avec Calchas, spécialiste de l’ornithomancie (οἰωνοπόλων ὄχ’ ἄριστος): les phoques sont à Protée ce que les oiseaux sont à Calchas. La présence des animaux marins se trouve ainsi plus nettement motivée dans le texte virgilien qu’elle ne l’était dans le texte modèle. 5. POURQUOI PROTÉE COMPTE-T-IL SES PHOQUES? Arrivé sur la plage, dit Eidothée, Protée comptera ses phoques comme un berger ses moutons, νοµεὺς ὣς πώεσι µήλων (411–413) – et ce d’étrange façon.45 Mais la raison même d’un tel décompte n’est pas explicitée par le texte homérique. Voici ce qu’indique Eustathe de Thessalonique à ce sujet : Ἀριθµεῖ δὲ τὰς φώκας ὁ Πρωτεὺς, (…) πρὸς πιθανότητα τοῦ ‘νοµεὺς ὣς πώεσι µήλων’. µετρεῖ γὰρ καὶ ὁ νοµεὺς τὰ ὑπ’ αὐτόν.46 Protée compte les phoques (…) pour vraisemblance à ‹comme un berger dans son troupeau de moutons› (411). En effet, le berger compte ses bêtes.
Montrer Protée en train de compter ses phoques, c’est en quelque sorte justifier l’emploi d’une comparaison avec un berger. L’invocation de la vraisemblance (πρὸς πιθανότητα) pourrait indiquer que l’on a affaire ici à une remarque ancienne, tendant à justifier la comparaison de Protée et du pasteur.47 Chez Virgile, l’amplification de la comparaison est intéressante (433–436): Ipse, uelut stabuli custos in montibus olim, Vesper ubi e pastu uitulos ad tecta reducit auditisque lupos acuont balatibus agni, consedit scopulo medius numerumque recenset. Quant à lui, tel un gardien d’étable dans les montagnes parfois, lorsque le soir ramène les veaux à la maison au sortir de la pâture et que les agneaux, par les bêlements qu’ils font entendre, excitent les loups, il s’est assis sur un roc au milieu [des phoques] et il compte leur nombre.
45 Sur la question de savoir comment Protée compte les phoques, voir Piettre 1993. 46 Eust. 1502, 32. 47 Nünlist 2009, 32: «To describe the purpose or function of a particular passage is to deny implicitly or explicitly that it is superfluous. Alexandrian scholars such as Aristarchus were prone to athetise verses which seemed to lack a clear function.» Pour les qualités des comparaisons, voir ibid. 293–294.
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Il est possible que la comparaison soit le résultat d’un savant travail de window reference.48 Mais surtout, le lien entre le dénombrement et la comparaison pastorale se trouve précisé. Le décompte est motivé par l’évocation du retour des pâturages et de la présence des loups.49 L’analogie entre les uituli et les uituli marini que sont les phoques50 renforce le lien entre comparant et comparé. Il se peut que le développement trouve son origine dans une analyse de la comparaison avec le berger, insuffisamment motivée dans le texte homérique, du point de vue des commentateurs.51 6. QUE SIGNIFIE ΝΕΠΟΔΕΣ? Les troupeaux de Protée ne font pas l’objet d’une longue description. Le texte homérique porte seulement: φῶκαι νέποδες. Quant à Virgile, il évoque les phoques par la bouche de Cyréné de la manière suivante: immania cuius / armenta et turpis pascit sub gurgite phocas. L’interprétation de l’adjectif νέποδες posait toutefois des difficultés comme en atteste la série des propositions d’explication que l’on trouve dans les scholies, dont voici quelques-unes: Schol. ad Od. 4.404 c 1: νέποδες : βοσκήµατα τῆς θαλάσσης. rejetons «de la belle Halosydné» :troupeaux de la mer. Schol. ad Od. 4.404 c 2: νέποδες] ἐρχόµεναι ἀπὸ θαλάσσης Nepodes: «qui viennent de la mer.»52 Schol. ad Od. 4.404 e : φῶκαι νέποδες] αἱ ἐστερηµέναι τῶν ποδῶν, εἰ πρὸς τὰ µεγέθη τῶν σωµάτων αὐτῶν συγκρίνῃ τις. τὸ «νέποδες» ἀντὶ τοῦ σχεδὸν ἄποδες· σφόδρα γὰρ οὖσαι µεγάλαι σµικροτάτους ἔχουσι πόδας. Phoques nepodes: dépourvus de pattes,53 si l’on compare aux proportions de leur corps. Nepodes équivaut à «presque sans pattes». Ils sont très volumineux et ont de toutes petites pattes.
On retrouve dans ces gloses des éléments qui peuvent rendre compte des mots latins suivants: armenta (βοσκήµατα), immania (τὰ µεγέθη τῶν σωµάτων), turpis (ἐστερηµέναι τῶν ποδῶν, σχεδὸν ἄποδες). L’adjectif immanis signifie en effet «effroyable par la taille, gigantesque, énorme.»54 Quant à turpis, «l’adjectif a dû 48 Selon Biotti 1994, 331, «espansione in tono bucolic»; l’image est inspirée de l’Iliade 4, 433– 435, à travers Apoll. Rh. 1.1243–1247. 49 Sur cette comparaison, Thomas 1988, 223–224 ; Mynors, 1990, 312–313. 50 Mynors, 1990, 312 ad 433–436 ; Biotti 1994, 309 ; Trinquier 2009, 84. 51 Sur la modification des comparaisons homériques dans l’Enéide en fonction des remarques des commentateurs hellénistiques, voir Schmit-Neuerburg 1999, 236–241. 52 Au sens que ce sont des rejetons de la mer. 53 On remarquera au passage qu’il y a d’autres animaux dépourvus de pattes dans le chant 4 des Géorgiques, les abeilles (cf. G. 4.310: apes serait dérivé de sine pedibus. Cf. O’Hara 1996, 287 avec référence à Serv. ad 4.257). 54 Ernout/Meillet 1994, s. v. manis, -e ; manus, -a, -um. Cf. V. Fl. 3.727: immanes… phocas.
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désigner à l’origine un défaut physique précis: cf. le turpe caput, turpis phocas de Virg. G. 3.52; 4.395.»55 En quelque sorte, l’imitatio virgilienne se nourrit des gloses de l’adjectif homérique. On notera encore que l’expression pascit sub gurgite a pu être influencée par τρέφει κλυτὸς Ἀµφιτρίτη. 7. OÙ EST PASSÉE HALOSYDNÈ? Lors de l’apparition des phoques sur la plage où guette Aristée, voici quelle est la présentation virgilienne (429–431): Proteus, consueta petens e fluctibus antra ibat; eum uasti circum gens umida ponti exsultans rorem late dispersit amarum. Protée, gagnant selon sa coutume son antre au sortir des flots, allait; autour de lui, la gent humide du vaste océan bondit et répand au loin l’amère rosée.
Ce passage dépend lui aussi des vers 403 à 406 du chant 4 de l’Odyssée. Cette dépendance est bien identifiée par la critique.56 Le passage est à nouveau cité ici avec traduction, pour faciliter la comparaison: ἐκ δ’ ἐλθὼν κοιµᾶται ὑπὸ σπέεσι γλαφυροῖσιν· ἀµφὶ δέ µιν φῶκαι νέποδες καλῆς ἁλοσύδνης ἁθρόαι εὕδουσιν, πολιῆς ἁλὸς ἐξαναδῦσαι, πικρὸν ἀποπνείουσαι ἁλὸς πολυβενθέος ὀδµήν. [Protée] sort et va se coucher sous ses cavernes creuses. Autour de lui, les phoques difformes de la belle Halosydnè les uns contre les autres dorment, sortis de la blanche écume, exhalant l’odeur piquante des grands fonds marins.
Comme il est facile de le voir, ἐκ δ’ ἐλθὼν se trouve traduit par ibat e fluctibus; σπέεσι γλαφυροῖσιν par antra; l’expression ἁλὸς πολυβενθέος a pu être reprise dans uasti ponti; ἀµφὶ δέ µιν se trouve très précisément repris par eum circum; πικρὸν est traduit par amarum, πολιῆς ἁλὸς par rorem; jusqu’au préfixe de ἐξαναδῦσαι qui se retrouve dans exsultans. Mais nulle mention chez Virgile de l’odeur des phoques.57 A la place de l’âcre exhalaison, on trouve une description des animaux marins en train de s’ébrouer – on reviendra sur ce point. Nulle mention non plus d’Halosydnè, que ce terme soit l’épithète de Thétis ou qu’il s’agisse ici du nom d’une autre déesse marine.58 A moins que cette suppressio nominis ne cache quelque chose. Voici en effet comment les commentateurs expliquent ce nom: Schol. ad Od. 4.404 g 1: Ἁλοσύδνης: ἐπιθετικῶς τῆς Ἀµφιτρίτης, παρὰ τὸ ἐν ἁλὶ σεύεσθαι. Schol. ad Od. 4.404 g 2: Ἁλοσύδνης: τῆς θαλάσσης, παρὰ τὸ ἐν ἁλὶ σεύεσθαι.
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Ernout/Meillet 1994, s. v. Cf. Ov. Met. 1.200: deformes…phocae. Morgan 1999, 221. Biotti 1994, 330, ad loc. Heubeck et alii, 1990, ad loc.
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Jean-Christophe Jolivet d’Halosydnè, d’Amphitrite, en employant une épithète; dérivé de ‘bondir dans la mer’ d’Halosydnè, de la mer, dérivé de ‘bondir dans la mer’
Cette étymologie est bien attestée, comme l’indiquent de nombreux témoins, notamment des lexiques.59 Il est possible que le participe exsultans reprenne le sens de ἐξαναδῦσαι;60 mais il est possible que l’expression ἐν ἁλὶ σεύεσθαι se trouve reproduite par le latin ponti / exsultans.61 Y aurait-il là encore une etymologia latens? 8. QUI VOUDRAIT DORMIR AUPRÈS D’UN ANIMAL MARIN? «Qui voudrait dormir auprès d’un animal marin?» déclare Ménélas, contraint de se
mettre en embuscade parmi les phoques pour surprendre Protée (443). Précisément, la promiscuité entre Protée et ses phoques, le fait que le devin dormait parmi eux posait apparemment une difficulté aux commentateurs.62 Chez Héraclite, on l’a vu, s’est conservée la trace du problème homérique de la vie commune partagée par Protée et son troupeau: ἀτυχεῖς ὕπνους µετὰ φωκῶν κοιµώµενος, ἵν᾿ αὐτοῦ κολάζηται καὶ τὸ τερπνόν. L’on constate au passage que Ménélas pose luimême, si l’on ose dire, le problème homérique, bien avant le commentateur allégorique.63 On a vu que les scolies devaient justifier la présence des phoques par la mantique. Ces animaux n’étaient pas personae gratae. Voici donc comment Eidothée présente l’attitude de Protée avec ses phoques: λέξεται ἐν µέσσῃσι (413): «il se couchera au milieu d’eux.» Puis le narrateur, Ménélas, confirme la chose: ἔπειτα δὲ λέκτο καὶ αὐτός (453): «lorsqu’il se fut couché lui aussi». Les scholies ne laissent aucun doute sur le fait qu’il s’agit bien pour Protée d’être couché au milieu de ses phoques.64 Il en va de même pour Ménélas et ses compagnons qui doivent, à leur grand dam, partager la couche de ces animaux. Lycophron a d’ailleurs insisté sur cette situation peu plaisante. Evoquant le périple de 59 Pontani 2010 ad loc. 60 Les scholies ad 405 e glosent ce dernier mot par ἀνελθοῦσαι et ἐξελθοῦσαι. 61 Sal, que Virgile emploie pour désigner la mer (par ex. En. 1.173) ne conviendrait pas ici au génitif dans la même sedes métrique. 62 Un commentaire papyrologique fortement mutilé (Schol. ad Od. 4.437 g) conserve, si l’on se fie aux restitutions des savants (restitutions de Lobel et Pontani, voir Pontani 2010, ad loc.), les traces du problème de la trahison filiale d’Eidothée (δόλον δ’ ἐπεµήδετο πατρί ) . On a vu que le problème figurait chez Héraclite: Θυγάτηρ δ᾿ Εἰδοθέα διὰ πατρὸς ἀδικίας ξένον εὖ ποιοῦσα καὶ γινοµένη προδότις αὐτοῦ). Homère y est mis en cause ([πῶ]ς οὖν [ὁ] π[ο]ιητὴς…), mais surtout, ce qui reste de la scholie comporte apparemment deux éléments de solution (lysis). Le premier consiste à dire qu’Eidothée veut accroître la renommée de son père parmi les hommes, solution dont on trouve la trace ailleurs (Schol. ad Od. 4.388 a, 1–2). Le second indique qu’Eidothée veut également détourner Protée de sa vie sauvage: ἀπὸ τοῦ θη[ριώδο]υς βίου ἀποτρέπουσα. 63 Sur l’idée d’un personnage posant de l’intérieur du texte une quaestio homerica dans une sorte d’Urphilologie, voir Jolivet 2014, 36–45. 64 Schol. ad Od. 4.413 a 1: λέξεται: ἀντὶ τοῦ κοιµηθήσεται, ἀπὸ τοῦ «λέχος»: «lexetai: à la place de ‹se coucher›, dérivé de ‹lit›», etc.
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Ménélas, l’Alexandra indique les circonstances de l’embuscade que Ménélas devra tendre à Protée: ἐπόψεται δὲ τοὺς θερειπότους γύας καὶ ῥεῖθρον Ἀσβύσταο καὶ χαµευνάδας εὐνάς, δυσόδµοις θηρσὶ συγκοιµώµενος. [Ménélas] verra ensuite les plaines qui sont désaltérées en été, le cours de l’Asbyste et les litières à même le sol, se couchant au milieu des bêtes malodorantes.65
N’est-il dès lors pas étrange de constater que, contrairement au Protée homérique et à Ménélas, le Protée virgilien et Aristée se sont légèrement éloignés de leur entourage malodorant66 et ne partagent plus ses litières à même le sol (436)? Le passage virgilien ménage en outre une différence marquée entre phoques grecs et latins. Les premiers se regroupent pour dormir: ἀµφὶ δέ µιν φῶκαι (…) ἁθρόαι εὕδουσιν (404–405); les seconds s’éloignent au contraire les uns des autres, rendant assurément moins pénible leur voisinage: Sternunt se somno diuersae in litore phocae (432): «les phoques se dispersent pour se coucher sur le rivage.» Quant au Protée virgilien, il prend soin de prendre ses distances: Ipse consedit scopulo medius (433): «Quant à lui, il s’assit au milieu d’eux sur un rocher.» On remarquera bien sûr l’opposition entre ἁθρόαι et diuersae qui semble significative, ainsi que la différence entre λέκτο, appliqué à Protée (Hom.), συγκοιµώµενος, appliqué à Ménélas (Lyc.) et le consedit latin; entre scopulo et χαµευνάδας εὐνάς (Lyc.). La cohérence de ces divergences, dans le contexte global du problème que constituait la promiscuité de Protée et Ménélas avec les phoques, suggère une Kontrastimitation dont la tonalité est difficile à évaluer. Si le fait que Protée dorme avec son troupeau était identifié comme problématique par Héraclite, si Ménélas lui-même prenait la peine de dénigrer cette pratique comme peu réjouissante, l’introduction par le récit virgilien de divers détails qui éloignent Protée des animaux prend tout son sens. 9. COMMENT UN DEVIN PEUT-IL ÊTRE PRIS PAR SURPRISE? On l’a vu, Héraclite souligne non seulement l’invraisemblance de la capture de Protée, mais encore, implicitement, celle de l’embuscade de Ménélas (Μενέλαος ἐνεδρεύων). Ce problème comporte plusieurs aspects. C’est tout d’abord le caractère paradoxal de la situation du devin pris par surprise. Comment le devin, l’omniscient Protée, ne se doutait-il de rien et tombait-il aux mains des Achéens: οὐδέ τι θυµῷ / ὠΐσθη δόλον εἶναι (452–453)? Le problème était déjà évoqué dans les scholies homériques à ce passage:
65 L’Alexandra fait allusion aux crues du Nil, qui est désigné par le nom d’un peuple de Cyrénaïque, les Asbystes. 66 Thomas 1988, 223, ad loc.
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Jean-Christophe Jolivet Schol. ad Od. 4.453 a: ὠΐσθη: οὐκ εἶπεν «οὐκ ἐνόησεν», παρ’ ὅσον δαίµων ἦν, καὶ οὐκ ἠγνόησεν ἂν εἰ ἐσκέψατο· διαφοραὶ γὰρ αἰσθήσεως παρὰ τῷ ποιητῇ δαιµόνων τε καὶ θεῶν παραδηλοῦνται. [Protée] ne soupçonna pas (l’embuscade): [Ménélas] n’a pas dit ‹il ne sut pas›, dans la mesure où Protée était un démon. Et il n’aurait pas ignoré s’il avait été attentif; il est clair que, chez le poète, il y a des différences de perception entre les démons et les dieux.67
Il fallait donc recourir à de curieuses hiérarchies divines pour expliquer la chose. Mais le problème reparaît avec plus d’acuité dans le texte homérique; une fois capturé, Protée souligne lui-même le paradoxe de la situation (462–465):68 τίς νύ τοι, Ἀτρέος υἱέ, θεῶν συµφράσσατο βουλάς, ὄφρα µ’ ἕλοις ἀέκοντα λοχησάµενος; τέο σε χρή; ὣς ἔφατ’, αὐτὰρ ἐγώ µιν ἀµειβόµενος προσέειπον· οἶσθα, γέρον· τί µε ταῦτα παρατροπέων ἐρεείνεις; ‹Allons, qui des dieux t’a donc conseillé pour que tu me prennes en embuscade, malgré moi? de quoi as-tu besoin?› Ainsi parla-t-il. Et moi je lui répondis: ‹Tu le sais, vieillard; pourquoi me poser ces questions détournées?›
Ainsi donc, Protée, en bon devin, connaît l’identité de son agresseur (Ἀτρέος υἱέ), mais avoue ensuite qu’il est tombé malgré lui dans l’embuscade (ἀέκοντα λοχησάµενος) et subodore qu’il y a là une entreprise orchestrée par un dieu (τίς νύ τοι (…) θεῶν συµφράσσατο βουλάς;), mais sans sembler savoir que c’est sa fille qui a tout organisé. Cette situation conduisait à imaginer un certain nombre de lyseis dont il ne reste que des traces. Outre la solution envisagée par la scholie au vers 453 citée plus haut, une autre, assez similaire, consistait à retrancher une part des pouvoirs divins du Vieux de la mer: Schol. ad Od. 4.463 a: λοχησάµενος: τὸ ὄνοµα καὶ τὴν ὑποστροφὴν ἐπιστάµενος, τὴν ἐνέδραν τὴν εἰς αὑτὸν ἀγνοεῖ, ὅτι οἱ θεοὶ ἔδωκαν αὐτῷ πάντα γινώσκειν, διὰ δὲ τὸ µὴ ἐπαίρεσθαι ἴσως τοῖς θεοῖς δεδώκασι τὰ οἰκεῖα ἀγνοεῖν. ‹Pris en embuscade malgré moi›: [Protée], bien que connaissant le nom [de Ménélas] et le fait qu’il rentre chez lui (cf. 466–469), ignore l’embuscade qui lui est tendue parce que les dieux lui ont donné de tout savoir ; mais, du fait qu’il ne s’élève pas au rang des dieux, ils lui imposent d’ignorer des choses qui le touchent de près.69
Cependant, la capture de Protée est d’autant plus difficile qu’il s’agit bien de capturer un dieu, Ménélas lui-même l’affirme (397): ἀργαλέος γάρ τ’ ἐστὶ θεὸς βροτῷ ἀνδρὶ δαµῆναι. «C’est chose difficile pour un mortel que de dompter un dieu.» Les commentateurs voulaient donc minorer les pouvoirs de Protée ou dis67 Voir Pontani 2010, 309, ad loc.: «Differentia perceptionis, scil. non scientiae, cum daemones et ipsi omnia sciant.» 68 Le motif paradoxal du devin pris par surprise ou ignorant n’est pas rare dans la littérature populaire. Voir d’autres références antiques dans Mynors 1990, 313. 69 Il est difficile de déterminer ce que recouvre exactement cette ignorance des οἰκεῖα. Cela peut renvoyer au fait que Protée ignore l’embuscade tendue à l’initiative d’Eidothée, sa fille, ou, plus concrètement, la présence de Ménélas et de ses hommes, dissimulés parmi le troupeau, sous les peaux de phoques.
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cuter sa nature, sans doute pour rendre sa capture par surprise plus acceptable.70 Le commentaire d’Eustathe s’attache lui aussi, selon une autre démarche, à justifier les paroles paradoxales du devin pris à son insu (1505,6): Ὅρα τὸ, ‹τίς συµφράσατο›, οὐ δι’ ἄγνοιαν ἐρωτηθέν. οὐ γὰρ εἰκὸς ἀγνοεῖν τὸν µαντικώτατον Πρωτέα τίς ὁ συµφρασάµενος τὸν ἐπ’ αὐτῷ λόχον, ἀλλ’ ἁπλῶς οὕτω κατὰ θάµβος ῥηθέν. εἰ δὲ καὶ µὴ προέγνω ἐλλοχώµενος, καινὸν οὐδὲν εἶναι δοκεῖ, οὐ γὰρ προεσκέψατό φασιν. οὐκ ἂν οὖν εἴη µὴ εἰδὼς ὁ προειπὼν υἱὸν Ἀτρέος τὸν λοχήσαντα Μενέλαον ὃν οὔπω εἶδε. διὸ καὶ ὁ Μενέλαος φησίν. οἶσθα γέρον. Vois que ‹qui t’a dit…?›, n’est pas posée par ignorance. Il n’est pas vraisemblable que Protée, devin entre tous, ignore qui a conseillé de lui tendre une embuscade, mais ces paroles expriment simplement sa stupeur. Et s’il n’a pas prévu l’embuscade, il n’y a semble-t-il rien d’extraordinaire: il n’a pas fait attention, disent . Celui qui vient de désigner comme ‹fils d’Atrée› Ménélas, qui lui a tendu l’embuscade et qu’il ne connaît pas encore, ne saurait ignorer . C’est la raison pour laquelle Ménélas dit: ‹Tu le sais, vieillard›.71
Ainsi, la question posée par Protée à Ménélas n’est pas une vraie question, et s’il a été pris par surprise, c’est faute d’avoir fait attention, puisqu’il sait tout, comme le lui fait remarquer Ménélas. Ces considérations peu convaincantes, qu’elles soient antiques ou byzantines, soulignent la difficulté à laquelle se heurtaient les critiques pour sauver un passage qui semblait marqué au coin de l’invraisemblance diégétique: on est prêt à admettre qu’il y a des devins, mais pas qu’ils puissent être pris par surprise! On verra d’ailleurs que l’appréciation des aspects concrets de l’embuscade fait partie de l’évaluation positive de l’épisode par certaines scholies qui soulignent combien l’embuscade était bien préparée. Quoi qu’il en soit, les problèmes posés par le dialogue entre Protée et Ménélas semblent avoir engendré quelques modifications dans l’imitatio virgilienne, même si celle-ci ne change pas globalement la situation paradoxale du devin trompé.72 Voici comment s’expriment Protée et Aristée (445–450):
70 Il y a peut-être dans la version virgilienne quelque chose qui va en ce sens: si le texte virgilien ne précise pas la nature de Protée, il l’humanise quelque peu, juste après ses métamorphoses, ne serait-ce que par l’expression (443): in sese redit atque hominis tandem ore locutus. «Protée revint à sa nature première et s’exprima enfin d’une bouche humaine». Cette «humanisation» du devin semble d’ailleurs avoir déjà eu cours chez les interprètes d’Homère (pour la question de l’accès des dieux à la parole humaine, voir Bouchard 2016, 78–80). Certaines interprétations de l’épisode homériques se signalent encore par une tendance évhémériste: le caractère merveilleux de l’histoire de Protée est réduit au profit d’une interprétation. Le devin serait, comme sa fille Eidothée, un mortel pratiquant la mantique. Les scholies d et e au vers 384 insistent sur ce point. Cf. encore schol. ad Od. 4.364 c: θεῶν] τῶν µάγων ἢ τῶν ἀρχόντων. 71 Le commentaire d’Eustathe se rattache notamment à la scholie ad Od. 4.453 a: ὠΐσθη: οὐκ εἶπεν «οὐκ ἐνόησεν», παρ’ ὅσον δαίµων ἦν, καὶ οὐκ ἠγνόησεν ἂν εἰ ἐσκέψατο· διαφοραὶ γὰρ αἰσθήσεως παρὰ τῷ ποιητῇ δαιµόνων τε καὶ θεῶν παραδηλοῦνται. 72 Pour ce problème Servius, ad 423, adopte une solution analogue à celle des commentateurs homériques: une divinité qui n’est pas permanente: Sciendum Proteum temporalem suscipere diuinitatem; alioquin potuit etiam Aristaeum cum Cyrene scire latitantem. «Il faut savoir que
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Jean-Christophe Jolivet ‹Nam quis te, iuuenum confidentissime, nostras iussit adire domos? quidue hinc petis?› inquit. At ille: ‹Scis, Proteu, scis ipse; neque est te fallere quicquam. Sed tu desine uelle. Deum praecepta secuti uenimus hinc lassis quaesitum oracula rebus›. Tantum effatus. ‹Qui donc, ô des hommes le plus audacieux, t’a dit de venir en nos demeures? que viens-tu chercher ici?› dit-il. Aristée répond: ‹Tu le sais, Protée, tu le sais de toi-même et il n’est pas possible de te tromper en rien. Mais toi, cesse de vouloir : c’est suivant les instructions des dieux que nous sommes venus chercher ici des oracles dans une situation difficile.› Il n’en dit pas plus.
Le passage paraît avoir fait l’objet d’une restructuration à partir du matériau homérique pour en modifier l’économie. D’autres exemples existent.73 Malgré l’affirmation forte de l’omniscience de Protée (392–393), la réorganisation virgilienne semble atténuer le caractère paradoxal de la capture par les moyens suivants: 1) en éludant l’identification paradoxale de «l’agresseur» qui n’est pas aussi précisément désigné (Ἀτρέος υἱέ devient iuuenum confidentissime;74 2) en supprimant une expression problématique: ἀέκοντα λοχησάµενος, celle-ci étant remplacée par une notation plus vague: adire domos; 3) en transférant la référence aux conseils divins de la question de Protée à la réponse d’Aristée (τίς (…) θεῶν συµφράσσατο βουλάς; devient deum praecepta secuti). Ce point est remarquable: l’invocation par Aristée d’une puissance supérieure (deum ... praecepta) justifie l’embuscade et son succès par l’aide divine, matérialisée par l’onction d’ambroisie, alors que la question du Protée homérique (τίς (…) θεῶν συµφράσσατο βουλάς;) souligne surtout l’ignorance par le devin du rôle de sa fille Eidothée. Mais enfin, encore une fois, le texte virgilien ne masque pas totalement le caractère paradoxal de la situation. Il évoque par la bouche d’Aristée l’impossibilité de tromper Protée: neque est te fallere quicquam. Fallere n’est pas l’équivalent de λοχησάµενος. Très vraisemblablement, cette transposition cache autre chose; le vers: Scis, Proteu, scis ipse; neque est te fallere quicquam, avec son système d’insistance: scis, scis ipse, n’est autre chose qu’une glose de l’adjectif νηµερτής appliqué à Protée. Cette étymologie est donnée par une scholie: Schol. ad Od. 4.349 e: νηµερτής: ἀπὸ τοῦ «νη» στερητικοῦ µορίου καὶ τοῦ «ἁµαρτῶ», ὁ µὴ ἁµαρτήσας…. ‹nemertès›: de ‹nè-› particule privative et d’hamartô: celui qui ne se trompe pas.
Protée ne reçoit la divinité que temporairement; sinon, il aurait pu savoir qu’Aristée se cachait avec Cyréné». 73 On peut penser à l’entretien d’Enée et de Pallas, au chant 8 de l’Enéide, qui procède d’une réorganisation de l’échange entre Télémaque, Mentor et Pisistrate, au chant 3 de l’Odyssée. Schmit-Neuerburg 1999, 282–285. 74 L’accent est mis sur la stupeur de Protée qui dans Homère s’exprime, selon Eustathe, κατὰ θάµβος. Biotti 1994, 334, voit aussi dans l’emploi de la forme archaïque nam quis la marque de la stupeur du Vieux de la mer.
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La formule neque ... fallere reprend cette étymologie. Tout en changeant l’économie du dialogue, la version virgilienne souligne le paradoxe par l’étymologie. 10. QUE DOIT-ON DIRE À UN DEVIN? Après avoir capturé Protée, Ménélas lui expose en trois vers sa situation (465– 469): οἶσθα, γέρον· τί µε ταῦτα παρατροπέων ἐρεείνεις; ὡς δὴ δήθ’ ἐνὶ νήσῳ ἐρύκοµαι, οὐδέ τι τέκµωρ εὑρέµεναι δύναµαι, µινύθει δέ µοι ἔνδοθεν ἦτορ. ἀλλὰ σύ πέρ µοι εἰπέ, θεοὶ δέ τε πάντα ἴσασιν ὅς τίς µ᾽ ἀθανάτων πεδάᾳ καὶ ἔδησε κελεύθου… Tu le sais, vieillard; pourquoi me poser ces questions détournées? Tu sais depuis combien de temps je suis arrêté dans l’île, sans que je puisse y trouver aucun terme; en mon cœur, mon courage diminue. Mais toi dis-moi – les dieux savent tout – qui des immortels me fait obstacle et empêche mon retour.
Mais informer plus avant Protée de ce qu’il est déjà censé savoir peut paraître inutile, comme l’ont fait remarquer les critiques: Peccat leuiter Hom. 4 Odys. apud quem Menelaus tribus uersibus aperit Proteo causam cur eo uenerit. Nihil hoc necesse, satis fuit dixisse: οἶσθα, γέρον etc. Consultior Virgil., qui nihil addit.75
De fait Aristée ne donne pas d’informations sur sa présence, mais s’attache à justifier sa présence (par la volonté des dieux)76 et à faire cesser les métamorphoses de son captif. Il s’agit de convaincre Protée et non de l’informer: ‹Scis, Proteu, scis ipse; neque est te fallere quicquam. Sed tu desine uelle. Deum praecepta secuti uenimus hinc lassis quaesitum oracula rebus›. Tantum effatus. ‹Tu le sais, Protée, tu le sais de toi-même et il n’est pas possible de te tromper en rien. Mais toi, cesse de vouloir : c’est suivant les instructions des dieux que nous sommes venus chercher ici des oracles dans une situation difficile.› Il n’en dit pas plus.
Les vers 466–467 de l’Odyssée constituent en outre une répétition: ils reprennent les vers 373–374. Les scholies à l’Iliade signalent précisément un cas d’athétèse dans un passage qui est lui aussi un modèle pour l’épisode d’Aristée, l’entretien entre Achille et Thétis au chant 1 de l’Iliade.77 Thétis (l’un des modèles de Cyré75 La Cerda 1619, 500. 76 Les paroles d’Aristée ne manifestent pas, comme celles de Ménélas, la conscience de l’hostilité d’une divinité. L’expression deum praecepta secuti condense à la fois les expressions homériques τίς (…) θεῶν συµφράσσατο βουλάς; (462) et ὅς τίς µ᾽ ἀθανάτων πεδάᾳ καὶ ἔδησε κελεύθου (469). Le thème de l’hostilité divine (à Protée et à Ménélas) devient celui de l’aide divine apportée à Aristée. 77 Voir e. g. Thomas 1988, ad loc., Biotti 1994, 259–261 ad loc.
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né) interroge Achille sur les causes de son chagrin: il est inutile de lui répondre, selon Achille, puisqu’elle sait tout. Le héros reprend pourtant le récit des événements précédents. Aristarque frappait d’athétèse un long passage: Schol. A ad Il. 1.365 a: {2Ariston.}2 ο ἶ σ θ α · τ ί η τ ο ι < τ α ῦ τ α ἰ δ υ ί ῃ π ά ν τ ’ ἀ γ ο ρ ε ύ ω ; > : ὅτι παλιλλογεῖν παρῄτηται. ἀλλότριοι ἄρα οἱ ἐπιφερόµενοι στίχοι εἴκοσι ἑπτά (sc. Α 366 – 92). ‹Tu le sais, pourquoi te dire des choses qui te sont toutes connues?› parce qu’ refuse de répéter.78 Les 27 vers suivants sont donc transposés d’ailleurs.79
Ainsi, Aristée, loin de commettre la même erreur qu’Achille ou que Ménélas et de perdre son temps à redire des choses déjà connues de son interlocuteur, ne reprend pas la matière des vers 466–467 du chant 4 de l’Odyssée (eux-mêmes répétition des vers 373–374). Ce refus se trouve particulièrement bien motivé par le fait que Protée est un devin! Dès lors, l’expression tantum effatus prend un relief particulier: non seulement Aristée refuse d’en dire plus, contrairement à Achille, censuré par Aristarque, ou à Ménélas, mais il le signale et le souligne. Dans un tel contexte, il est difficile de ne pas voir dans le tantum effatus une référence plus ou moins directe aux commentaires alexandrins.80 11. QUI A ÉCORCHÉ LES PHOQUES? La mise en œuvre pratique de l’embuscade a elle aussi suscité un certain nombre de questions. Chez Homère, Eidothée plonge dans les flots et en ramène des peaux de phoques qu’elle donne à Ménélas et à ses compagnons pour tromper Protée (435–443): τόφρα δ’ ἄρ’ ἥ γ’ ὑποδῦσα θαλάσσης εὐρέα κόλπον τέσσαρα φωκάων ἐκ πόντου δέρµατ’ ἔνεικε· — πάντα δ’ ἔσαν νεόδαρτα· — δόλον δ’ ἐπεµήδετο πατρί. εὐνὰς δ’ ἐν ψαµάθοισι διαγλάψασ’ ἁλίῃσιν ἧστο µένουσ’· ἡµεῖς δὲ µάλα σχεδὸν ἤλθοµεν αὐτῆς· ἑξείης δ’ εὔνησε, βάλεν δ’ ἐπὶ δέρµα ἑκάστῳ. ἔνθα κεν αἰνότατος λόχος ἔπλετο· τεῖρε γὰρ αἰνῶς φωκάων ἁλιοτρεφέων ὀλοώτατος ὀδµή· τίς γάρ κ’ εἰναλίῳ παρὰ κήτεϊ κοιµηθείη; Alors [Eidothée] qui avait plongé dans le vaste sein de la mer rapporta de la mer quatre peaux de phoques – les quatre étaient fraîchement écorchées – et elle trama une ruse contre son père. Après avoir tracé quatre couches dans le sable marin elle s’assit et nous attendit. Dès notre arrivée, elle nous fit coucher en rang et couvrit chacun de nous d’une dépouille. Alors c’aurait été une embuscade insupportable! l’horrible vapeur de ces animaux nourris au fond des mers nous suffoquait: qui pourrait reposer à côté d’un phoque?
78 Aristée répète lui aussi sa plainte: G. 4.349–350: iterum maternas impulit auris / luctus Aristaei. 79 Voir Kirk 1985, 91. 80 Pour une situation analogue exploitée de façon paradoxale, voir Pind. Pyth. 9.44–51.
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Les scolies relatives à l’embuscade ne nous permettent malheureusement pas de déterminer précisément comment était jugé le stratagème des peaux de phoques. On conserve toutefois des commentaires laconiques au terme neodarta qui justifient de deux manières le recours à des peaux de phoques récemment écorchées: elles permettent de donner l’illusion de phoques vivants81 et elles s’ajustent mieux aux corps des Achéens que si elles étaient sèches.82 L’embuscade était donc analysée de façon concrète, en valorisant les procédés de chasse d’approche. Un autre élément peut retenir l’attention; Eustathe indique que le poète n’a pas précisé qui avait écorché les phoques: Ὅρα δὲ καὶ ἐνταῦθα σχῆµα τὸ κατὰ τὸ σιωπώµενον. ὡς µὲν γὰρ νεόδαρτα ἦσαν τὰ δέρµατα, λέγει. τίς δὲ αὐτὰ ἐξέδειρεν, οὐ λέγει.83 Voir ici aussi une figure par le silence. Il dit que les peaux étaient fraîchement écorchées, mais il ne dit pas qui les avait écorchées.
Cette question procède bien sûr d’une attitude hypercritique et la réponse la plus naturelle consiste à dire qu’il y a ellipse de la chasse et de l’écorchement et que la narration procède ici κατὰ τὸ σιωπώµενον. Il est difficile de déterminer si la remarque du commentaire byzantin a une origine ancienne. Quoi qu’il en soit, elle révèle peut-être la réticence de certains lecteurs à envisager Eidothée en écorcheuse de phoques.84 Chez Virgile, en tout cas, le problème ne se pose pas: Aristée échappe à l’épreuve qu’avaient dû endurer Ménélas et ses compagnons, personne n’a à dépecer de phoques et, du même coup, Protée n’a pas à prendre en compte dans ses étranges calculs des hommes dissimulés sous des peaux; le stratagème a disparu dans les Géorgiques: son caractère trivial et malséant ne correspond sans doute pas à l’esthétique de l’épisode virgilien, comme on le verra plus loin. Cyréné se contente donc de dissimuler Aristée dans une cachette (423–424: hic iuuenem in latebris auersum a lumine Nympha / collocat). Là encore, comme dans le cas de Protée, la position des personnages évolue légèrement d’un récit à l’autre, et l’on s’éloigne du troupeau de phoques.85
81 Schol. ad Od. 4.437 c: νεόδαρτα] πιθανῶς, ὑπὲρ τοῦ φαντασίαν ζώντων παρέχειν. «‹fraîchement écorchées›: pour la vraisemblance du récit, pour fournir l’illusion de [phoques] vivants». 82 Schol. ad Od. 4.437 d: νεόδαρτα] τὰ γὰρ ξηρὰ οὐ συναρµόζονται τοῖς σώµασιν. «‹fraîchement écorchées›: des [peaux] sèches ne s’adaptent pas aux corps». 83 Eust. 1503,61. 84 L’intérêt des commentateurs hellénistiques pour la figure κατὰ τὸ σιωπώµενον invoquée ici par Eustathe n’est cependant pas une garantie. Eustathe l’utilise lui-même souvent. Voir Nünlist 2009, 157–173 et 160, note 10. 85 Cette différence a bien sûr été repérée par la critique. Voir Trinquier 2009, 80: «Ni Protée, ni Aristée ne se couchent cependant au milieu des phoques. Protée les domine du haut d’un rocher, tandis qu’Aristée se cache dans la pénombre de la grotte. L’élégance délicate de l’épisode ne s’accommode plus de l’épouvantable puanteur des phoques, si ce n’est de façon très allusive.»
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12. QUE FAIRE DE L’AMBROISIE? La correction que constitue la suppression des peaux de phoques se trouve implicitement soulignée dans le texte virgilien par l’utilisation de l’ambroisie. Dans le récit homérique, celle-ci a une utilité pratique: elle permet à Ménélas et ses compagnons de supporter l’odeur des phoques (444–446): ἀλλ’ αὐτὴ ἐσάωσε καὶ ἐφράσατο µέγ’ ὄνειαρ· ἀµβροσίην ὑπὸ ῥῖνα ἑκάστῳ θῆκε φέρουσα ἡδὺ µάλα πνείουσαν, ὄλεσσε δὲ κήτεος ὀδµήν. Mais la déesse prévint notre perte; un peu d’ambroisie qu’elle approcha de nos narines nous ranima par son parfum céleste, et anéantit l’effet de cette odeur de monstre marin.
L’ambroisie se trouve bien mentionnée dans le texte virgilien, selon un autre modèle homérique,86 mais sans que la finalité de son utilisation soit identique (414– 417): Haec ait et liquidum ambrosiae defundit odorem, quo totum nati corpus perduxit; at illi dulcis compositis spirauit crinibus aura atque habilis membris uenit uigor. Ainsi dit-elle et elle répandit l’ambroisie liquide et odorante dont elle oignit le corps tout entier de son fils. Sa chevelure parée en exhala doucement l’odeur et une souple vigueur vint en son corps.
Le passage virgilien souligne sa différence par rapport à Homère (ὄλεσσε δὲ κήτεος ὀδµήν / liquidum ambrosiae defundit odorem; ambrosiae s’oppose à κήτεος, defundit à ὄλεσσε, les mots ὀδµήν et odorem, tous deux à l’accusatif se trouvent en fin de vers), mais encore il explicite les effets de l’onction à l’ambroisie: la suave odeur qui se dégage de la chevelure d’Aristée et la force qui lui est octroyée, justifiant ainsi sa capacité à lutter avec Protée.87 L’usage différent qui est fait de l’ambroisie dans Homère et chez Virgile signale en creux l’absence de l’épisode des peaux de phoques. Si les scholies et commentaires ne portent pas de traces explicites de la condamnation du passage homérique, l’on en trouve la critique dans la bouche même de Ménélas, on l’a vu, et chez Héraclite. Un seul texte, tardif, condamne explicitement l’épisode des «peaux de phoques», et ce pour des raisons de poétique; c’est un passage de Nonnos de Panopolis, où la nébride, symbole de poikilia, se trouve préférée aux peaux de phoques d’Homère, dans une claire opposition de poétiques.88 L’expression de Nonnos est au 86 Hom., Od. 8.18–19. 87 Le commentaire de Servius précise autrement la fonction de cette onction: elle doit donner à Aristée le pouvoir et le droit de voir le dieu : unxit eum quo posset esse uidendi numinis capax. 88 Paschalis 2014, 107: «He [Nonnus] rejects the Homeric heavy-smelling seal skin of Menelaus for the sake of the Dionysiac «dappled fawn skin» that smells of the aroma of Maronian nectar. In doing so he simultaneously rejects the single shape (seal skin) for the many shapes of the νεβρὶς ποικιλόνωτος, which stands for the quality of ποικιλία in the new epic. Furthermore while the seal skin is a casual means of disguise, intended only to deceive, the fawn skin is a ritual garment occurring several times in the Dionysiaca.»
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demeurant suffisamment explicite pour suggérer que l’épisode des peaux de phoques avait été considéré comme peu séant: βυθίῃ δὲ παρ´ Εἰδοθέῃ καὶ Ὁµήρῳ φωκάων βαρὺ δέρµα φυλασσέσθω Μενελάῳ.89 Qu’Eidothée, l’habitante des profondeurs et Homère réservent à Ménélas l’insupportable peau des phoques.
La formule de Nonnos laisse supposer que la séquence modèle de l’Odyssée posait des difficultés: l’artisan de l’embuscade, Eidothée, se trouve associé au poète responsable de l’histoire, Homère. Ceci suggère une double condamnation: du passage et de la poétique dont il témoigne.90 Il est toutefois impossible de faire remonter cette condamnation plus haut que Nonnos, mais on peut subodorer que la Cyréné virgilienne est un peu trop callimachéenne pour plonger dans la mer, en ramener des peaux de phoques qu’elle vient d’écorcher et en vêtir Aristée. L’usage de la philologie homérique ne relève pas chez Virgile d’une érudition stérile. Cet usage procède d’abord d’un horizon lettré que le poète partage avec son lecteur. Une partie du public lettré partage vraisemblablement une certaine familiarité avec les commentateurs dans une Rome où enseignent des grammatici Graeci. Par ailleurs, l’érudition philologique est partie intégrante d’un mode de composition caractéristique de la persona même du poiètès hama kai kritikos dont les Augustéens ont hérité de leurs modèles hellénistiques. Elle est liée à la recherche d’une esthétique normée sur les critères philologiques qui permet le renouvellement des modèles archaïques. En l’occurrence, pour notre passage, si l’on revient à l’hypothèse de départ, celle d’une correction du modèle suggérée par la formule at non Cyrene, on peut avancer la proposition suivante: il est possible que la retractatio virgilienne ait eu entre autres pour objet la suppression ou l’effacement d’un certain nombre de problèmes homériques secondaires, en s’appuyant notamment sur la littérature zétématique et les problèmes mentionnés dans les scholies; ce serait notamment le cas des problèmes relatifs à la trahison filiale et à certains aspects concrets ou paradoxaux de l’embuscade tendue à Protée. Cette correction du modèle pouvait avoir plusieurs finalités: d’une part concentrer davantage l’attention sur le caractère merveilleux de l’épisode afin de privilégier la dimension allégorique des métamorphoses de Protée; d’aute part, inscrire l’épisode dans une esthétique différente de celle du modèle homérique, en supprimant les éléments réalistes de l’embuscade (l’odeur des peaux de phoques, l’Atride transformé en chasseur…). Le nouvel usage de l’ambroisie est à cet égard significatif: elle ne sert plus à permettre au héros Ménélas de supporter l’odeur des phoques, mais magnifie Aristée et le dote d’une force nouvelle. Cette double hypothèse ne doit pas faire oublier une troisième perspective, celle d’une érudition 89 Nonn. D. 1.37–38. 90 Sur ce rejet comme geste adapté de la poétique callimachéenne, voir Hopkinson 1994, 9–10: «The noisome Homeric sealskin is a collateral descendant of Callimachus’ long-distance cranes, braying ass, bloated woman, and filthy river.»
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homérique, lexicale notamment – la glose étymologique des termes nepodes, nemertes ou les possibles etymologiae latentes de Pharos et d’Halosydné –, dont les enjeux peuvent relever d’une poétique homérique revisitée par la poétique hellénistique. BIBLIOGRAPHIE 1. Editions et commentaires Barchiesi 2015, A., Homeric Effects in Vergil’s Narrative, Princeton/Oxford. Biotti 1994, A.,Virgilio, Georgiche. Libro IV, commento a cura di A. Biotti, Bologna. Buffière 1962, F., Héraclite, Allégories d’Homère, troisième tirage, Paris (première éd. 1962). Heubeck 1990, A., (Hainsworth, J./West S.), A commentary on Homer’s Odyssey, volume I, Introduction and Books 1–8, Oxford. Kirk 1985, G.S., The Iliad: A Commentary. Volume I: Books 1–4, Cambridge. Lloyd-Jones H./Parsons P. 1983, Supplementum Hellenisticum, Berlin. Pontani 2010, F., Scholia Graeca in Odysseam, Scholia ad libros γ–δ, vol. II, Rome. La Cerda 1619, J.L., P. Virgilii Maronis Bucolica et Georgica, argumentis, explicationibus et notis illustrata, Lyon. Stallbaum 1825, G., Eustathii Archiepiscopi Thessalonicensis Commentarii ad Homeri Odysseam: ad fidem exempli romani editi, Leipzig. Thomas 1988, R.F., Virgil. Georgics. Volume 2. Books III–IV, Cambridge.
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«Porquoi Cyréné n’a pas plongé?»
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PERSEUS: THE MYTHOGRAPHIC TRADITION AND ITS RECEPTION IN OVID’S METAMORPHOSES1 Joan Pagès 1. INTRODUCTION The aim of this chapter is to provide an analysis of the reception of the Perseus myth by Ovid (Met. 4.610–5.249) focusing on the possible influences of exegetical literature. Textual parallels in classical epics have already been discussed in depth in modern criticism, and therefore they shall not be discussed in this paper. The results of this analysis may be useful for a better understanding of Ovid’s text, its literary purpose and objectives, its narrative techniques, the degree of originality and the way he uses his sources. Unfortunately, the loss of some models Ovid had at his disposal at the time, limits the scope of our study.2 Despite this, the extant evidence facilitates a fruitful approach, as shall be seen. The analysis I have conducted of Ovid’s account of Perseus, then, has focused on the question of the use of literary sources beyond epic, lyric, and tragedy, namely, philological literature, and, more specifically, scholia and mythography.3 Ovid, when planning the composition of Metamorphoses, established his own criteria about the selection of motifs and sources. Eventually, he reshaped all this material to raise interest in traditional stories narrated from a different and refreshing literary perspective. The poet addresses an educated reader, familiar with the classics and accustomed to the different levels of reading, able to distinguish a simple imitation from an artistic recreation, and to appreciate the ironic and parodic tone that is often perceived in his poem.4 For this purpose, he undoubtedly handled a large repertoire of Greek and Latin sources. In this brief study we endeavour, therefore, to analyse the case of the story of Perseus in order to detect the possible use of philological texts as hypotextual references in the passage analysed. To begin with, I shall briefly explain the sequence in the episodes of the Perseus myth, in the order in which they appear in Ovid’s narrative, listing the main literary (and some iconographic) sources for each of them. 1 2 3 4
Project FFI2016-79906-P (AEI/FEDER, UE). In most cases, we only know the titles of the works, some summaries, testimonia or, at best, some fragments. In a recent article (Pagès 2015) I have already addressed, though in a tangential way, the question of the possible relationship between Ovid and mythographic scholia. Cf. Holzberg 1998, 4–10.
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2. THE STORY OF PERSEUS BY OVID AND ITS LITERARY PRECEDENTS The story is skilfully structured with a beginning in medias res according to conventions of the epic genre: starting with a reference to Acrisius, king of Argos, the poet mentions Perseus’ birth. In an abrupt manner and through an elliptical leap, Ovid introduces Perseus with Medusa’s head flying over Libya (4.614–630).5 The monster’s blood droplets fall on the African sands and breed different species of snakes. This motif comes from Apollonius of Rhodes (4.1513–17). In fact, a conscious will to imitate this passage is perceived. Thus, i) verse 617, super Libycas victor penderet harenas, evokes Apollonius 4.1515 εὖτε γὰρ ἰσόθεος Λιβύην ὑπερέπτατο Περσεύς; ii) verses 618–619, Gorgonei capitis guttae cecidere cruentae; / quas humus exceptas varias animavit in angues, are, without a doubt, a Latin reshaping of Apollonius’ words Γοργόνος … κεφαλὴν …, / ὅσσαι κυανέου στάγες αἵµατος οὖδας ἵκοντο, / αἱ πᾶσαι κείνων ὀφίων γένος ἐβλάστησαν. The narrative continues with the motif of Perseus and Atlas (631–662), which I shall later analyse in greater depth, because, as we shall see, it is fundamental to the understanding of Ovid’s compositional criterion and the relationship between this passage and the philological texts. The following episode is that of Andromeda and the sea monster (4.663– 756).6 For this episode, there are no epic antecedents, but tragic ones: we have some fragments and testimonia of an Andromeda by Sophocles, and another play with the same title by Euripides. Quite a few fragments of the latter were preserved and they probably influenced later authors, especially in Rome, where there is a record of an Andromeda by Livius Andronicus.7 The oldest testimony of an Andromeda episode is not literary but iconographic: a hydra8 of the second third of the 6th century BCE preserves a pictorial scene that depicts Perseus, in the centre, throwing stones at the monster, located on the left, and Andromeda appears on the right, behind Perseus. The names of the three characters are clearly readable. The scene is repeated in later iconographic testimonies, as an indication of the popularity of the subject from this period onwards. Although the Andromeda motif might have been an innovation in the 6th century BCE, the Medusa motif had already been documented since c. 650 BCE.9
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Cf. Otis 1970, 345–349; Bömer 1976, 189–190. Cf. Ogden 2008, 72–99; Bömer 1976, 198–199. Accius probably composed an Andromeda as well. Moreover, we have testimonia of tragedies entitled Danae by several authors: in addition to Euripides, Livius Andronicus and Naevius: see TrRF Livius Andronicus fr. 12 (Andromeda) fr. 13 (Danae); Cn. Naevius fr. 2–12 (Danae) (pp. 43–47; 74–84). Berlin, Staatliche Museen F 1652 = LIMC s. u. Perseus 187 (= Andromeda I 1). Plate 1. Corinthian vase, Museum of Aegina, K253 (1376) = LIMC, s. u. Perseus 112. The Medusa motif has been widely attested since the second quarter of the 7th century BCE. See also LIMC, s. u. Perseus 117, 122, 137, 151. The motif of the gorgons chasing Perseus after the beheading of their sister Medusa is attested only by iconography (Gorgon painter’s Dinos of the Musée du Louvre E 874, Etruria, c. 600 BCE; Beazley, ABV 8,1; plate 2).
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In contrast, the lack of evidence in archaic epics is surprising: the rescue of Andromeda is not mentioned throughout the preserved texts.10 This may be due to the loss of written sources. Yet this absence of evidence may be also due to the lack of a written epic poem about Perseus or, at least, a written poem widely copied, read and performed in later times. We shall return to this point shortly. Ovid bases his approach on epic models such as the Odyssey and the Aeneid by presenting Perseus as the narrator of his own deeds at a court banquet. In fact, the episode of Medusa (4.772–803) occurs during the celebration of Perseus and Andromeda´s wedding. The account includes the episode of the Graeas or Phorcides (4.774–776). The narrative acquires an archaised tone, given the nature of the motifs and literary referents: Hesiod11 and, probably, Aeschylus, acting as hypotexts. The Medusa episode coincides with the end of book IV of the Metamorphoses. The first part of book V is devoted to the rivalry between Perseus and Phineus, suitors of Andromeda, a motif built upon a recurrent pattern in epics (cf. Aeneas and Turnus in the Aeneid), and the slaughter of Phineus and his followers (5.1–235). The story concludes, as abruptly as it begins, with the petrification of Proetus in Argos (5.236–241)12 and that of Polydectes in Seriphos (5.242–249). Ovid is particularly reminiscent in this remarkably epic passage. He specifically devotes the first 235 verses of book V to the detailed account of the struggle of Perseus against Phineus and his followers. In this account, the reader recognizes influences of the classical epics.13 The theme of the killing of Phineus’ supporters has no precedents. The extant mythography which, as we shall see, offers a global view of the most widely spread mythology about Perseus, does not record this episode. In summary, Ovid’s text features what we could call a “cyclical” Perseid.14 After a brief mention of the motif of the hero’s birth, he proceeds to recount two of his most celebrated deeds from ancient times: the beheading of Medusa and the rescue of Andromeda. Yet, in order to build a novel story, he adds two new motifs 10 Hesiod records the marriage of Perseus and Andromeda in a genealogical passage in the Catalogue of Women (135 Merkelbach-West = P. Cair, 45624 ed. Edgar). Despite the deteriorated state of the papyrus, the genealogical succession can be read perfectly. There is no room to provide the narration of the episode in this text. The earliest ancient authors mentioning the motif of Andromeda are Herodotus (7.61) and Pindar (see below). 11 Th. 270–279; Sc. 233f.; A. Phorcides, TrGF 3 fr. 262 Radt. 12 Ovid collects a tradition about Proetus which differs from the mythographic vulgate. See Ogden 2008, 22–23. 13 See Otis 1970, 131–133; 159–165. The motif of the bloody banquet in which the hero fights his detractors is obviously taken from the Odyssey. As regards the Aeneid, see above. Ovid seems to parody these episodes, he uses as a hypotext. The death of the supporters of Phineus is characterized by truculence and baroque. Otis (1970, 159–165) makes a negative assessment of this episode, which he calls grotesque. 14 By “cyclical” we mean a poem perfectly structured around a single theme following a criterion of unity, regardless of its structuring in episodes. This is the meaning of the adjective κυκλικόν applied to epics in archaic times. See Nagy 2015, 60. On the “cyclical” conception of Ovid's epics understood as global and inclusive, see Rosati 2015, 565–568.
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that are not included in the most widely spread versions: the petrification of Atlas at the beginning, and the fight against Phineus and his followers at the end. It is obvious that the poet wanted to go beyond the vulgate of this myth. By the term vulgate we mean the summarized story that has come down to us through scholia and mythography, which provided the most widespread version. As for Perseus, we have several summaries that collect the main episodes of his legend.15 What follows is a short note about them. 3. MYTHOGRAPHIC PRECEDENTS The most complete summary of the Perseus story is that of Apollodorus’ Library,16 which features a sequence of episodes in “chronological” order; that is, in fact, the way they often appear in mythography, as an inheritance of the old Hesiodic genealogies. The Library offers a comprehensive overview of the whole myth in the most common version, namely, the vulgate. Moreover, it is based on earlier mythographic sources, some of them quoted by name and others not. The second summary consists of a set of three scholia to Apollonius of Rhodes, which quote Pherecydes.17 Indeed, Pherecydes of Athens could have been one of the main sources of Apollodorus’ Library, if we judge it by the number of explicit references throughout the whole book. In fact, he is the most cited author although not in his account of Perseus. The three scholia mentioned provide an incomplete summary of the myth due to the fragmentary nature of the text. The scholiast undoubtedly consulted Pherecydes, but the degree of fidelity to the original cannot be assessed, since the quotation of this historian should not be necessarily understood as a literal copy of the cited text.18 The third summary is a scholium to Lycophron,19 and it is fairly complete. It features some details that are not present in Apollodorus or in the fragments of Pherecydes. The most significant is the location of the meeting with the Phorcides and the beheading of Medusa. These two episodes take place in Tartessos, a city 15 See an in-depth study of the Greek mythographic tradition on Perseus in Kenens 2012. 16 Apollodorus can hardly be a direct source for Ovid for chronological reasons. But there may have been earlier sources shared by both. This is a complex issue that falls beyond the scope of this study. Note that I avoid using the prefix pseudo- when referring to this author. 17 Pherecyd. fr. 10–12 Fowler. 18 It has been proved that the so-called subscriptiones or references to sources that appear in mythographic literature under the formula ἱστορεῖ ὁ δεῖνα or ἡ ἱστορία παρὰ τῷ δεῖνα do not imply at all that the text is a summary of a passage of the cited author. At most, we can presume that the cited author alluded to or related the same myth, and perhaps coincided partially with the mythographer who quotes him. Such a phenomenon can be verified by comparing the abstract with the original cited on the few occasions when this is possible. See an in-depth analysis of the issue in Cameron 2004, 89–123; cf. Nünlist 2009, 17 (for scholia); Van Rossum-Steenbeek 1998, 111–113 (for the so-called Mythographus Homericus). 19 In fact, the story is divided into two different scholia: Sch. in Lyc. Alex. 836 (about Andromeda) and 838 (about Perseus) ed. Scheer.
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in Iberia. The tradition of this location at the westernmost point of the known world is shared by Ovid, but it contradicts ancient sources such as Pindar,20 who places these episodes in the land of the Hyperboreans, to the north.21 Fourthly and lastly, we must cite Eratosthenes’ Catasterisms22 15 (Cepheus), 16 (Cassiepea), 17 (Andromeda), 22 (Perseus).23 We must add to this list the hypotheseis of Euripides’ plays entitled Danae, Dictis and Andromeda, even though neither the plays nor their summaries have been preserved. These hypotheseis were part of a mythographic handbook which contained abstracts from tragedies and comedies. One of these handbooks is conventionally known as Tales from Euripides.24 Most probably, this handbook influenced some of the aforementioned mythographic sources.25 All these texts are undoubtedly based on ancient mythography, namely, the ancient historians and mythographers such as Acusilaus, Pherecydes, Hellanicus and the like. These authors, whose works have been lost, were widely cited from the Hellenistic period onwards. The later mythographers, cited so far, must have consulted those earlier works, either in the original or in abridged versions.26 This type of secondary literature27 was written to facilitate quick access to repertoires of myths. Some other handbooks also summarized the content of old works; let us recall the summary of the Trojan cyclic epics attributed to Proclus. In this way, a reader could get to know part of the ancient literature without reading the original works. Very likely, the proliferation of such manuals would have contributed to the loss of ancient works: this seems to be the case for most of the epic cycle as well as for some early mythography. The dedication of Parthenius of Nicaea to Cornelius Gallus in his work Ἐρωτικὰ παθήµατα is particularly meaningful in this respect. Parthenius is being ironic and deliberately humoristic. Of course, he is not treating 20 Pi., P. 12, 17f. 21 The first mention of the Atlantic Ocean as the scene of one of the episodes of the Perseus myth appears in a fragment of Euripides’ Andromeda (TrGF 5.1 fr. 145 Kannicht): ὁρῶ δὲ πρὸς τὰ παρθένου θοινάµατα / κῆτος θοάζον ἐξ Ἀτλαντικῆς ἁλός. But Euripides is referring to Andromeda and the monster, without any mention of the encounter of Perseus and Atlas. The geographical adjective Ἀτλαντικός should be interpreted not as a specific location on the map but rather as meaning “extremely remote”. 22 See the commentary by Pàmias and Geus 2007, 226–231. 23 Ogden 2008, 74–77. As far as the Perseus story is concerned, the main sources quoted by Eratosthenes are theatrical plays: Aeschylus’ Phorcides, Sophocles’ and Euripides’ Andromeda. No epics are mentioned. 24 Zuntz 1963, 129–152. 25 Most of these hypotheseis were collected in the medieval Mss as an introduction to the text of the tragedies preserved (Zuntz quoted in the previous note). We also have a large papyrus repertoire of some of them: see van Rossum-Steenbeek 1997, 1–47; 185–226. 26 We have not made any reference to the Metamorphoses of Antoninus Liberalis, in which the poem Ἑτεροιούµενα of Nicander of Colophon was summarized. This is one of the most outstanding sources of Ovid. This omission is due to the absence of any hint in the summary of Antoninus Liberalis that the myth of Perseus appeared in Nicander's original work. Moreover, Antoninus Liberalis’ work appeared later than Ovid’s. 27 See, in general, the monograph by Cameron 2004.
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Cornelius Gallus as a “bad poet”. He does not really say that his book replaces the masterpieces of amatory poetry, he only tells him that the stories in his book are written in the manner of “brief commentaries” (ὑποµνηµατίων). This particular detail gives us a clue to understanding that he is criticizing the way many people access cultural contents, namely, through abstracts of the main works. In fact, his book is a manual that summarizes multifarious material from literary sources.28 4. ANCIENT GREEK EPICS ABOUT PERSEUS As for the possible epic background, the question is whether there was a Perseid in the archaic or later Greek epics that Ovid could have consulted. If so, the text of Ovid may not offer any novelty, as it would be a mere recreation of an earlier work. Otherwise, as we have seen, most of the literary models are theatrical plays. Thus Ovid would have picked up some details and motifs from some texts written for the stage, and would have adapted his text to epic patterns as far as metrical and rhetorical conventions are concerned. On the other hand, mythography would have provided the outlines of the myth. In any case, the presence of the Perseus mythical episodes in the traditional repertoire of the aoidoí is unquestionable. The character is mentioned en passant in the Iliad29 as an ancestor of Heracles. Subsequently, in the poems of Hesiod30 reference is made to the beheading of Medusa. As we see, some themes of the mythology of Perseus appear as collateral motifs in other epic contexts. The scarcity of data recorded by the preserved epics contrasts with the wide impact in visual arts and tragedy of the motifs related to Perseus: his birth, the chest of Danae, the encounter with the Phorcides, the beheading of Medusa and the rescue of Andromeda. Some archaic lyric poets also echoed them: Simonides (371 Page) evokes the motif of the chest of Danae, and Pindar refers to Perseus, Danae and Medusa in Pythia 10 (30–49) and Pythia 12 (11–29). In Isthmia 5 (28– 35) he also reminds us that poetic recitals took place in Argos within the framework of the cult of Perseus, as well as in other cities when honouring other heroes. The poet refers to the recitals performed as part of the cult to a hero. His testimony gives evidence that oral epics survived in the classical period (the ode is dated 478 BCE). The epics of Perseus, in short, had undoubtedly a long oral tradition,
28 Also the Library of Apollodorus, as it has come down to us embedded in the Library of Phocius, is preceded by an epigram which explicitly says that there will be no need to read the classics since in this booklet the reader will find an abstract of all the mythical subject-matters. See van Rossum-Steenbeek 1998, xiii–xix (introduction). 29 In Il. 14.319 Zeus mentions Danae among his lovers, with whom he conceived Perseus. This is the only reference to Perseus in all the Homeric poetry, except for the use of the patronymic Perseides referring to Sthenelus, one of the sons of Perseus and Andromeda (Il. 19.116, 123). 30 In Hes. Th. 270–281 the Phorcides and Gorgons are mentioned for the first time, as well as the beheading of Medusa theme. In Sc. 223–240 the motif of Perseus and Medusa is described as represented on a shield.
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and their influence is perceived both in lyric poetry and tragedy. However, there is no evidence of any written record in an ad hoc epic poem. Nonetheless, a poem named Perseis is mentioned in three very late sources. i) The pseudo-Plutarchean treatise De fluviis, in which such a poem is quoted twice, although it is attributed to two different authors, both completely unknown: Ctesias of Ephesus31 and Agathonymus. ii) A scholium to Euripides’ Trojan Women32 conserved in two codices, Vatican and Neapolitan, which quotes a Perseis by Lysimachus. iii) The Suda refers to a poet called Musaeus of Ephesus related to the court of Pergamon, author of another Perseis. Yet, when we assess these three references, we conclude that they are not very reliable. The De fluviis treatise often quotes unknown sources, many of them suspicious or false.33 The scholium to Euripides cites textually two epic verses attributed to an unknown Lysimachus. Furthermore, the mention of Acamas, Demophon and Agamemnon in these verses does not make any sense. In addition, the reading of the word Περσείς in the Mss. could easily be a corruption of πέρσις, which suggests an archetypal reading Πέρσις. As regards the Suda, it is important to note that it is the only testimony of an epic poet called Musaeus of Ephesus who would have written a Perseid in nine books and some other works dedicated to Eumenes and Atalos.34 We would be dealing, then, with a late Hellenistic poem. Cameron35 puts forward a hypothesis according to which Musaeus may have written his Perseid in 183 BCE on the occasion of the ktisis of the city of Perseid undertaken by Philippus V of Macedon whose son and successor was named Perseus. Yet the ancient sources do not provide any piece of evidence for this statement, which is only an inference based on the Suda and Livy (39.53). Moreover, even in the case that such a Perseid may ever have been written, its influence in later literature appears to be insignificant, judged on the basis of the absence of references and quotations. In short, very late sources of dubious reliability cite four Perseids from four different authors, all of them unknown. Apart from these four references, no other author or scholiast cites them. No publisher of fragments of ancient Greek epics has collected these testimonies36 as they offer no basis for postulating the exist31 Contra Ogden (2008, 54; 102), which gives some credit to the pseudo-plutarchean De fluviis regarding Ctesias’ Perseid, a work of uncertain dating. Previously, Davies (1986, 96–98), and Dillon (1990, 3; 58) had postulated the inexistence of an epic Perseid. 32 Sch. in E. Tro. 31. 33 See an in-depth discussion of this subject in Cameron 2004, 127–134. 34 Suda, s. v. Μουσαῖος (Adler); Μουσαῖος, Ἐφέσιος, ἐποποιός, τῶν εἰς τοὺς Περγαµηνοὺς καὶ αὐτὸς κύκλους. ἔγραψε Περσηΐδος βιβλία ι’· καὶ εἰς Εὐµένη καὶ Ἄτταλον. This testimonium is collected in the Supplementum Hellenisticum (Lloyd-Jones/Parsons), 560 (Perseis) and 562 (To Eumenes and Atalus), but, as a testis unicus, there is no other evidence to compare it to. 35 Cameron 1995, 283–284. Della Corte (cited by Ucciardello 2010, 341–345) postulated in 1936 that the Berlin Papyrus 9870 might be a piece of evidence for a Hellenistic Perseid which could have been a clear precedent for Ovid’s account. This theory has been challenged and recent studies on this papyrus have proven that there is no basis for such a statement (Ucciardello 2010). 36 The only exception is quoted in note 34 (SH 560–561).
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ence of a cyclical epic Perseid featuring the most outstanding deeds of the hero, a poem that would have become a text of reference in later times. Therefore, Pherecydes seems to be the first author who wrote a more or less standardized story about Perseus, which could be called the “cycle” of Perseus. The akmḗ of Pherecydes is dated in Cimon’s times.37 If this is correct, he was a contemporary of the performances mentioned by Pindar and of the first lyric and tragic versions. Parallel to Pherecydes’ compiling mythography, certain episodes acquired a remarkable popularity due to the dramatic versions. Those versions were later the subject of mythographic summaries in the so-called hypotheseis, as we have already mentioned. This is the beginning of the process which would end in the vulgate. 5. OVID’S RESHAPING OF THE MYTH BEYOND THE MYTHOGRAPHIC VULGATE Let us now focus on the criterion of motif selection in Ovid’s poem. The poet omits much of the story of the mythographic vulgate. The most significant absences are the episodes relating to the childhood and adolescence of the hero: the punishment of Danae, the motif of the chest, and Perseus’ childhood in Seriphos, very popular themes due to the reception of the dramatic genre,38 or the motif of the eranos,39 which caused the deeds of Perseus and the beheading of Medusa. The absence of the motif of the oracle given to Acrisius at the beginning of the story, and that of its fulfilment at the end is also surprising. In contrast to these absences, we notice the presence of the two episodes absent from the vulgate: the encounter of Perseus with Atlas, and the slaughter of Phineus’ supporters. As I have already said, the story rendered by Ovid is structured around four episodes: Atlas, Andromeda, Medusa and Phineus. The two central episodes, fully consolidated in earlier times, are framed by the other two that bring originality to the story. The rescue of Andromeda is the dramatic theme par excellence from the times of Sophocles, and Medusa is one of the mythical episodes already treated by epics from the 6th century BCE onwards. These are the two main subjects that, in short, in a cyclical Perseid, could not be avoided for the sake of their ancient prestige. An account of the deeds of Perseus cannot be understood without them. But Ovid surprises the reader with a prologue describing the encounter with Atlas and an epilogue in which the heroic struggle against Phineus is related. To summarize, these two episodes confer a new shape on the mythology of Perseus in Ovid’s story. Given that neither is recorded in the vulgate, we conclude that either Ovid consulted sources which retained different versions or we are 37 See the testimonia in Fowler, EGM I, 272–274; II 59, 469, 476–478. 38 The hero’s childhood and adolescence had been dealt with in dramatic versions: we are referring, above all, to Euripides’ Danae and Dictis, and their lesser-known antecedents, Polydectes and Fishermen (Δικτυουλκοί) by Aeschylus. 39 Pi. P. 12.14; Apollod. 2.4.2.
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dealing with Ovid’s own creations. In any case, the criterion for the conception and composition of the prologue and the epilogue does not seem to be the same for both. In fact, the episode of Phineus is a variation of a motif of the vulgate. Apollodorus the mythographer (2.4.3) tells about the petrification of Phineus. Ovid, based on the motif of the defeated suitor, expands this motif with the description of the fight in an epic style inspired by the classics.40 Regarding Atlas, the poet devotes a 35-verse introductory episode,41 which constitutes his main contribution, to the mythology of Perseus. The hero arrives at the westernmost part of the world at sunset and decides to rest from his wanderings. There, he meets Atlas, a gigantic cattle owner and king of the region. Atlas’ countless flocks and cattle graze on green meadows, and golden fruits hang from golden trees. Perseus asks Atlas for his hospitality and boasts about being Jove’s son and about all his deeds. Atlas, however, knew from an oracle that a son of Jove may come and steal his golden fruits, and instead of giving him shelter, he mocks him, questions his deeds and even Jove’s parenthood. That is when Perseus shows Atlas the head of Medusa and petrifies him, so he becomes a mountain. This section is based on a different criterion, as we mentioned above. Ovid, most likely, consulted exegetical literature on the work of Polyidus of Selimbria, a dithyrambographer whose akmḗ Diodorus of Sicily (14.26) places c. 398 BCE.42 The work of this author has been completely lost, but it has left a trace in the scholia to Lycophron and in the Etymologicum Genuinum. A scholium to the Alexandra43 retains a brief comment on the Atlas myth. It features two different traditions. Below is the text of the scholium: Λίβυς γὰρ ὁ Ἄτλας. τὴν Λιβύην λέγει. Ἄτλας γὰρ µαθηµατικὸς ἦν Λίβυς ἀνήρ, ὃς εἰς ὄρος ὑψηλὸν ἀνερχόµενος πρὸς ἀκριβεστέραν κατασκοπὴν τῶν ἀστέρων ποτὲ παρασφαλεὶς κατέπεσεν ἀπ’ αὐτοῦ εἰς τὴν ὑποκειµένην θάλασσαν καὶ ἀνῃρέθη ὅθεν ἀπ’ αὐτοῦ* τό τε ὄρος καὶ τὸ πέλαγος Ἀτλαντικὸν ἐκλήθησαν. Πολύιδος δὲ ὁ διθυραµβοποιὸς τὸν Ἄτλαντα τοῦτον ποιµένα Λίβυν φησιν, οὐ µαθηµατικόν, ἀπολιθωθῆναι δὲ ὑπὸ Περσέως δείξαντος αὐτῷ τὴν γοργόνην διὰ τὸ µὴ ἐᾶν αὐτὸν διελθεῖν, ἀλλ’ ἐρωτᾶν αὐτόν, τίς εἴη. τούτου καὶ τοῦ Ἄτλαντος υἱὸς Ἕσπερος κατὰ τοὺς λοιπούς, οὐ κατὰ τὸν Πολύιδον. Libis is Atlas. It refers to Libya. Atlas was a mathematician from Libya who climbed a high mountain for a better view of the stars. On one occasion he got lost and died when falling from a cliff to the sea below. Since then, both, the mountain and the sea, are called, by him, Atlantic. But Polyidus, the dithyrambographer, says that Atlas was a Libyan shepherd, not a mathematician, who was petrified by Perseus, when he showed him the Gorgon for not letting him pass and asking who he was. Hesperus was the son of this Atlas according to the other authors, but not according to Polyidus.
40 Namely, the killing of the suitors in the Odyssey and the episode of Aeneas and Turnus in the Aeneid (see above). Cf. Bömer 1976, 229–232. 41 Verses 627–662. Cf. Ogden 2008, 49; Bömer 1976, 191. 42 D. S. 14.46.6; Marmor Parium IG XII 5,68; Plu. Mus. 21; Ath. 8.352b; CIG2 3053; Edmons, J. M. (ed.), Lyra graeca III, 404. 43 Sch. in Lyc. Alex. 879 Sheer.
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The Etymologicum Genuinum44 mentions the quoted scholium as a source: Ἄτλας· ὄρος Λιβύης. Πολύιδος δὲ ὁ διθυραµβοποιὸς παρίστησιν αὐτὸν ποιµένα γεγονέναι καί φησιν ὅτι παραγενόµενος ὁ Περσεὺς ἐπερωτώµενός τε ὑπ’ αὐτοῦ, τίς εἴη καὶ πόθεν ἀφίκοιτο, ἐπειδὴ λέγων οὐκ ἔπειθεν, ἀνάγκῃ ἔδειξεν αὐτῷ τὸ τῆς γοργόνης πρόσωπον καὶ ἀπελίθωσεν αὐτόν. καὶ ἀπ’ αὐτοῦ τὸ ὄρος Ἄτλας ἐκλήθη. οὕτως Λυκόφρονος ἐν Ὑποµνήµατι. Atlas: Mount of Libya. Poliydus, the author of dithyrambs, introduces him as a shepherd, and states that he asked Perseus, when he met him, who he was and where he came from, but when Perseus saw that Atlas did not believe his answer, he forced him to look at the Gorgon’s head and he became petrified. And the mountain was named Atlas after him. This is explained in the Commentary of Lycophron.
Both texts witness the existence of exegetical literature related to Atlas. Two mythical versions can be traced. As it appears in the text, Atlas is first described as a mathematician;45 and then, as a shepherd. The vulgate version assessed previously does not provide any hint of these two variants, and conversely, in neither of these two versions is Atlas considered a titan or a giant, as he is usually described by classical authors. The first text, not attributed to any author, is a euhemeristic, rationalizing version:46 Atlas was not a titan, not even a god, but a mathematician who, in order to better contemplate the sky, climbed a mountain in Libya. The relationship between the character and the firmament is explained according to rationalistic patterns: the story of the mythical titan that supports the celestial vault is nothing more than a fable originating from a supposedly historical character. The aetiological tradition appears at the end of the story, as it is usual in this type of exegetical literature: the sage Atlas accidentally fell into the sea from the mountain (motif based on the katapontismós pattern47), giving rise to the names Mount Atlas and the Atlantic Ocean. The second text, attributed to Polyidus, does not tell about a sage but a shepherd. The summary which appears in the scholium (in its two versions) coincides greatly with Ovid’s account of Atlas, except for one detail: the character recovers his titanic features as a giant son of Iapetus in the Metamorphoses. He is, however, the owner of innumerable flocks. This detail does not appear in any other literary or iconographic source, and it is known only from this testimony quoting Polyidus and from Ovid. The poet appears to be merging two different traditions: that of the Titan Atlas, which comes ultimately from Hesiod, and that of the shepherd petrified by Perseus, probably Polyidus’ creation.
44 EG α 1357. 45 This version is also attested by Heraclitus the Paradoxographer (Heraclit. Incred. 4). 46 Cf. Sch. in Lyc. Alex. 17 Sheer, featuring an allegorical and rationalistic interpretation of the Perseus myth. The hero is identified with the sun, Athena with the air, and the myth is explained as an allegory of physical phenomena. 47 Cf. the story of Aegeus, falling down to the Aegean see. For the katapontismós as a narrative pattern and its ritual origin see Gallini 1963.
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A significant detail in the scholium is worth noting: according to Polyidus, Atlas was not the father of Hesperus as other sources report. That is, Atlas could not be the father of Hesperus, because he was a simple shepherd, not a god. Polyidus, therefore, seems to have created the motif of the meeting of Perseus and Atlas by means of a process of remythification originating from rationalizing versions. Such remythification has to be understood as an artifice of poetic recreation. Polyidus might have treated those rationalistic interpretations ironically, subjecting them to his critical revision. But, in the end, this version was not so influential in the mythographic tradition and none of the main mythographic sources collects it. Ovid, then, recovered this almost forgotten version to build his innovative Perseid. The Roman poet goes one step further in this process of ironic remythification, and restores the shepherd to the status of a titan. Ovid likely took from Polyidus not only the motif but also the mechanism of the literary artifice of poetic recreation, which allowed him to offer the renewed version of an old myth. We do not know whether Ovid may have read the dithyrambs of Polyidus themselves, nor do we know the date when Polyidus’ works disappeared. He is a very poorly attested author, and the few extant testimonia about him focus on his fame as an innovative musician.48 Yet the lack of papyri and indirect transmission suggests an earlier loss of his texts. Not even the title of a work has been preserved. Polyidus’ poetry has completely disappeared, which is not the case for the other dithyramb writers from the classical period. Instead, Philoxenus, Timotheus and Telestes are widely attested in imperial literature. Some authors such as Plutarch and Athenaeus among others, give testimony of their lives and works, and they even provide some textual quotations. There are other pieces of information in the scholia as well. As regards Polyidus, only a few pieces of evidence have survived. What follows is a short description of them. The Marmor Parium49 is the earliest mention and records Polyidus’ victory in Athens, though the exact date cannot be read (it is placed between 398 and 380 BCE). Next is Aristotle, who mentions him in his Poetics (16; 17) saying there is a work about Iphigenia by Polyidus the Sophist (sic). An inscription from Teos (c. 170/140 BCE) witnesses the survival of Polyidus’ music in late Hellenistic times.50 Diodorus of Sicily lists Polyidus among the best dithyramb writers from the classical period along with Philoxenus, Timotheus and Telestes, highlighting Polyidus’ knowledge of music and painting. The pseudo-Plutarchean treaty On Music in a short and en passant mention seems to suggest that Polyidus’ music for the cithara was still executed in imperial times, though not really appreciated. Athenaeus (8.352b) mentions him once in a short humorous anecdote. As regards the story of the meeting of Perseus and Atlas and the petrification of the latter, only one abstract and one attribution to Polyidus has survived (the case analysed so far). Judging by the scarce data at our disposal and the surprising 48 LeVen 2014, 52–53. 49 IG XII, 5 444, 68, see n. 42. 50 CIG2 3053 line 9 (McCabe, Teos Inscriptions 21.5).
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absence of a later reception of Polyidus’ texts in more recent literature, it seems that the story of Perseus and Atlas could have survived only in philological and exegetical texts, namely, rationalistic criticism of mythology and mythographic scholia. The story attributed to Polyidus has been preserved because it was a matter of exegesis as it challenged rationalistic criticism. Thus, there is no doubt that Ovid knew the rationalizing interpretations about Atlas, as he had some scholia commenting on the topic at his disposal. As this subject-matter was absent from the mythographic vulgate about Perseus, it has to be considered as a part of those marginal traditions preserved in some lesser-read and little-known works such as those of Polyidus, which would have been completely lost if it was not for exegetical literature. 6. CONCLUSION The set of data analysed so far, provides a coherent overview of the Perseus story told by Ovid in the Metamorphoses and its conception and structure, as well as its literary background and poetic project. Although in some specific passages Ovid is mainly inspired by Greek models,51 this story, far from being a mere Roman imitation of Greek epics, seems rather the outcome of a process of creation derived from literary knowledge and research. In conclusion, Ovid, like any educated Roman of his time, searched for rare topics and he probably inquired in philological literature in order to offer a new account of the mythology of Perseus. In accordance with these criteria, he composed his story with the conscious purpose of arousing the readers’ interest in an ancient legend reshaped in a new way. He found inspiration not only in the classics, but also in philology. Thus, in his account, not only the influence of epics and tragedy is acknowledged, but also the mythographic tradition as well as commentaries and scholia. BIBLIOGRAPHY 1. Editions Bömer 1976 = P. Ovidius Naso, Metamorphosen IV–V. Kommentar von Franz Bömer, Heidelberg. EGM I = Early Greek Mythography (Texts), vol. I ed. R. Fowler, Oxford 2000. EGM II = Early Greek Mythography (Commentary) vol. II, ed. R. Fowler, Oxford 2013. Eratosthenes, Sternsagen (Catasterismi), Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Jordi Pàmias und Klaus Geus, Oberhaid 2007. Lycophronis Alexandra ed. E. Scheer, vol. II (Scholia), Berlin 1908. Lyra Graeca III ed. J. M. Edmonds, Cambridge Ma-London 1980 [1927]. TrGF 3 = Tragicorum Graecorum Fragmenta, vol III (Aeschylus) ed. S. Radt, Göttingen 1985. 51 For instance 4.614–630; cf. A. R. 4.1513–17 (discussed above, p. 68).
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PLATES
Perseus, Andromeda and the sea monster: Late Corinthian vase, Berlin, Staatliche Museen F1652. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/56/Perseus_and_andromeda_ amphora.jpg, 9.10.2018)
Gorgon painter’s Dinos of the Musée du Louvre E 874, Etruria, c. 600 BCE; Beazley, ABV 8,1. (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/ba/Dinos_Gorgon_Painter_Louvre_ E874.jpg,9.10.2018)
SENECA TRAGICUS AND THE SCHOLIA TO EURIPIDES. SOME CASE STUDIES FROM THE MEDEA* Chiara Battistella Is there any evidence that would suggest that tragic Seneca was familiar with the ancient scholia, that is the exegetical material, with which Euripides’ tragedies have come down to us? To the best of my knowledge, this kind of inquiry does not appear to have attracted the attention of scholars so far. Although Seneca never cites his tragedies in his prose works nor offers a unified theory of literary composition, he nonetheless demonstrates sensitivity towards issues of the writing process and of poetic creativity, especially in Ep. 79 and 84.1 The gist of the arguments presented therein is that it is always possible to inject novelty into wornout subjects or mythological topics so as to confer a noua facies upon them (Ep. 79.6). Moreover, in Ep. 84.3, Seneca employs the bee metaphor to describe imitation as a transformative activity: the writer, like the bee, gathers, through a process of miscellaneous reading, his material from a variety of sources, creating his own product. Keeping to the bee analogy and focusing specifically on the Medea, I aim to show that Seneca’s miscellaneous reading, underlying his tragic writing, may have conceivably included both Greek plays and their ancient commentaries, thus a variety of source-texts. Euripides’ homonymous play, which survives in its entirety, plausibly represents the chief Greek source text for Seneca’s tragedy. The main problem with the uetera scholia to Euripides’ plays is that, as is well known, a reliable edition is to date still lacking.2 However, there is evidence that Ennius was acquainted with the scholia to Euripides’ plays, which must have circulated in the Roman world in the second century BCE, equipped with annotations. As far as Ennius’ Medea is concerned, a volume by K. Lennartz and a recent article by G. Bitto3 demonstrate that, despite the heavily fragmentary condition of the play, Ennius clearly drew on the scholiastic commentaries to Euripides’ play, producing a very erudite and carefully crafted piece of work from the Greek model. *
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My thanks go to the organizers of the conference, Gregor Bitto and Anna Ginestí Rosell, for inviting me. Gregor also read previous drafts of this paper, giving useful advice on content and bibliography. I also thank Damien Nelis for commentary on a very early draft. Needless to say, I remain solely responsible for any errors. Cf. Trinacty 2014, 9–16. On this cf. Dickey 2007, 31–34. Lennartz 1994; Bitto 2013.
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One can have only a vague idea what Ennius’ Medea may have looked like, and yet the scant surviving fragments suffice to allow a conception of it as being quite different from Seneca’s play. Admittedly, the attitude of Latin writers towards Greek sources radically changed over time, in that they started to replay their models not so much as translations stricto sensu but as rewritings.4 In this paper, I shall look specifically at two case studies from Seneca’s Medea in order to provide evidence that during Seneca’s time Euripides’ text may have circulated accompanied by the same commentaries that were read in the second century BCE. In the first example, in particular, I attempt to show how such material may contribute to the appreciation of a precise aural feature in Seneca’s text, despite the presence of multiple sources (Seneca’s Medea must have massively drawn on both Greek and Latin models,5 some of which are unfortunately lost to us, such as Ovid’s tragedy). I will start with a passage from Euripides and its relevant scholia and subsequently turn to Seneca. In the second example, moving to the epilogue of the plays, I will reverse the process and start with Seneca’s text to trace back to Euripides and his ancient commentators. Two further examples, revolving around the end of Seneca’s play, will be also discussed. Since I have not conducted a systematic and exhaustive analysis of Seneca’s text alongside the scholia to Euripides, which would have been beyond the scope of this article, the present study will be able to offer only some tentative thoughts on Seneca’s acquaintance with the scholia to Euripides’ Medea in the hope of stimulating future interest in the topic. MEDEA’S SERVATRIX AND THE ISSUE OF SIGMATISM Line 476 of Euripides’ Medea attracted the attention of commentators already in antiquity owing to the presence of marked sound effects, famously labelled as “sigmatism”:6 ἔσῳσά σ᾽, ὡς ἴσασιν Ἑλλήνων ὅσοι ταὐτὸν συνεισέβησαν Ἀργῷον σκάφος ‘I saved your life – as witness all the Greeks who went on board the Argo with you’ (Kovacs)
Indeed, it contains several hissing sigmas (7x), as pointed out by the scholion ad loc.:7 πλεονάζει ὁ στίχος τῷ σ. (‘the line is packed with s’s’, transl. mine). Further information is then provided by the scholion, which mentions the reuse of this Euripidean verse by the comic playwright Plato in the Heortai (ἔσωσας ἐκ τῶν σῖγµα τῶν Εὐριπίδου, fr. 29 K.-A.: ‘You saved us from the sigmas of Euripides’) 4 5 6 7
For Johnson 1988, 85 Seneca’s plays look like ‘malicious subversions of Euripides’ tragedies’. Cf. recently Boyle 2014, lxiii–lxxviii. Based on quantity rather than on arrangement only (cf. Clayman 1987, 70ff.). The standard edition is Schwartz, 1887–1891. On scholiasts’ attention to sound effects cf. e.g. Meijering 1987, 42.
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and by Eubulus in the Dionysius (fr. 26 K.-A.).8 Both rewrote line 476, alerting their audiences to their parodic intent and thus showing that the verse had become in short time the subject of comic lampoon because of its aural features. This line belongs to the rhesis that Medea delivers in front of Jason upon their first on-stage encounter after she has learned that Creon intends to expel her from Corinth. She attacks Jason verbally and then reminds him of the events that took place back in Colchis and in which she had a decisive role in saving his life. The line under consideration emphatically introduces such a list of events. Modern commentators offer the following insights into this verse: Page (107) points out that ‘it is perverse to suppose that what is so effective can be accidental’; Mastronarde (252) notes that ‘the alliteration seems to reflect vehemence or exasperation’; Mossman (266) does not tackle the issue of hissing sounds in the line; however, she observes that in the immediately subsequent verses Medea’s language is ‘ornate and impressive’.9 A standard reference for sigmatism in Greek poetry is an article by D.L. Clayman,10 in which the phenomenon is statistically surveyed. The author reaches the conclusion that harshness of content is by no means the only cause of heavily sigmatic lines (77) and that Euripides indeed proves to be more sigmatic than the other tragedians (78). Sigmatism – and especially word-initial sigmas – is a distinctive feature of his tragic style, but it is also consistent with contemporary practice. She also points out that, despite statistics, the difference in sigmatism between Euripides and the other tragedians must have been ‘both perceivable and meaningful’ to their audiences (73, n. 20), as proved by Plato’s and Eubulus’ parody (cf. above). From the aesthetic standpoint, the sound ‘s’ was perceived as rather unpleasant in antiquity, as stated by Dionysius of Halicarnassus in his de comp. uerb. 14.80: ‘σ is neither charming nor pleasant and is very offensive when used to excess, for a hiss is felt to be a sound more closely associated with an irrational beast (θηριώδους γὰρ καὶ ἀλόγου) than with a rational being’ (Usher).11 As W.B. Stanford observes, ‘poets choose words that inherently and intrinsically promote the desired emotional effects’; the heavy sibilance exploited by Euripides in Med. 476 most likely points thus to hostility,12 also given that those words are spoken by a barbarian character. Since Seneca’s plays, as already noted, are far from being faithful translations of Greek originals and offer instead powerful rewritings of their models,13 one may wonder what has become of Euripides’ line 476 in Seneca’s text. The pas8 9 10 11
Cf. Hunter 2004, 119–120. Page 1938; Mastronarde 2002; Mossman 2011. Clayman 1987. Cf. Conte 1988, 69 ad Luc. 6.151 inpius et cunctis ignotus Caesaris armis? He points out that Roman poets are generally keener on soundplay than Greek poets. Cf. also Cronin 1970, who has recourse to statistics without however touching on the semantic effects of sigmatism. 12 Cf. Stanford 1981, 137; cf. also Cyrino 1996, 5: ‘the Greek hisses out her bitterness and outrage’. 13 Cf. e.g. Buckley 2013, 205–206.
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sage that shows more thematic or conceptual resemblance with our Euripidean locus is represented by lines 225ff., in which Medea addresses Creon before encountering Jason:14 […] Solum hoc Colchico regno extuli, decus illud ingens Graeciae et florem inclitum, praesidia Achiuae gentis et prolem deum seruasse memet. munus est Orpheus meum, qui saxa cantu mulcet et siluas trahit
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[a catalogue of the Argonauts she has saved follows; Jason is referred to in 233 nam ducum taceo ducem] ‘[…] The only thing I brought from the kingdom of Colchis was this: the great glory of Greece, its celebrated flower, the bulwark of the Achean race and the offspring of the gods – I saved them. Orpheus is a gift from me, he who charms rocks and transports forests with his singing’ (Hine)
Line 228 seruasse memet. munus est Orpheus meum is obviously no literal translation of Eur. Med. 476; it appears, however, situationally close to our target line, in that it has an “incipitary” seruasse and mentions one of the Argonauts, Orpheus.15 A.J. Boyle, the latest commentator, observes that Euripides’ Medea makes a more restricted claim, as she is interested in recalling only the rescuing of Jason.16 Commentators do not seem to have paid much attention to line 228,17 but I was personally struck by its phonetic effects produced by a six-time repetition of “s”.18 Indeed, this is a very sigmatic chunk of text, whose sibilance may perhaps also be an attempt to reproduce the enticing effects of Orpheus’ music (229).19 Nonetheless, the key motif remains undoubtedly Jason’s, or rather, the Argonauts’ rescue thanks to Medea’s intervention (one may also note that line 228 offers another alliterative pattern, “m”: memet, munus, meum). There are certainly other examples of sigmatism in extant Latin texts that ideally may bridge the gap between Euripides’ Medea and Seneca’s Medea. A fragment from Ennius’ Medea (107 Jocelyn), centred on the same theme of Jason’s rescue, can be brought into the picture: 14 ‘In Seneca’s play, Medea’s saving of the Argonautic crew is an important motif in the scene with Creon’ (Boyle, 2006, 168). Cleasby 1907, 50 already cites Seneca’s lines 225–228 as mapping onto Euripides’ lines 476–477. 15 Cf. Costa 1973, ad 228: ‘M. now names some of the more distinguished Argonauts’. 16 Boyle 2014, ad loc. 17 Boyle has a very informative note on 228, which however does not touch on the issue of sigmatism. 18 On Medea seruatrix Hine 2000, ad loc. references some of the loci paralleli that are also discussed here (Eur. Med. 476–485; 515; Ov. Her. 12.173; 203; Met. 7.55–61; Ov. Med. fr. 1 Ribbeck). Cf. also Jacobi 1988, 52. 19 Cf. Eur. Alc. 357–359 εἰ δ᾽ Ὀρφέως µοι γλῶσσα καὶ µέλος παρῆν,/ὥστ᾽ ἢ κόρην Δήµητρος ἢ κείνης πόσιν/ὕµνοισι κηλήσαντά σ᾽ ἐξ Ἅιδου λαβεῖν. Sigmatism is also present in Verg. Georg. 4.509–510 flesse sibi et gelidis haec euoluisse sub antris [astris : Rrv]/mulcentem tigres et agentem carmine quercus, in which Orpheus laments the second loss of Eurydice.
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tu me amoris magis quam honoris seruauisti gratia (5x) ‘you saved me for love more than as a favour’ (transl. mine)
Apart from some sigmatic effects, the verb seruare also occurs here. Amazingly enough, of the two lines that survive from Ovid’s Medea, one of them reads as follows (fr. 1 Ribbeck): seruare potui: perdere an possim, rogas? (4x) ‘I could save. You ask if I can destroy?’ (Boyle)
There is consensus that this line was spoken by Medea in response to Jason. Because of its menacing tone, it may belong to a confrontation scene between the two characters. Boyle has some interesting remarks on it, which I quote: ‘Note the rhythmic alliteration of “p”s and nuanced repetition of “r”s, making it a forceful and speakable line reflective of Medea’s contempt and strength of will. Quintilian (Inst. 8.5.6) cites the line for its force, uis, which he attributes to its particularity’ (168). As a matter of fact, sigmatism is also audible, but it goes unnoticed in Boyle’s observations. Medea’s saga is also recounted elsewhere in Ovid and sigmatism, again, strikingly characterises the verse’s ‘sound profile’ in those passages focusing on her saving of Jason: Ov. Her. 12.203 dos mea tu sospes, dos est mea Graia iuuentus (7x) ‘my dowry is yourself – saved; my dowry is the band of Grecian youth!’ (Showerman) 12.127 sospes ad Haemonias victorque reverteris urbes (6x) ‘yet unharmed and victorious you return to Haemonia’s towns’20 Met. 7.93–4 ... seruabere munere nostro, seruatus promissa dato! ‘you will be saved by my favour: when you are saved give me what you have promised’ (Hill)
Given the sustained popularity of her myth in antiquity, the motif of Medea seruatrix is to be acknowledged as a topical pattern in the saga; as a result, source hunting inevitably has its limits. As underlined by scholars such as Cleasby and Tarrant, Seneca’s Medea looks back to both Euripides and Ovid, so that it would certainly be misguided to downplay the importance of Roman sources and, above all, that of Augustan tragedy.21 However, owing to the much regrettable loss of 20 McKeown 1998 states that ‘Medea was the most celebrated exponent of sigmatism, a feature which enhances the magnificent vehemence of the line so splendidly’, scil. Ov. Her. 12.121 compressos utinam Symplegades elisissent); cf. also Bessone 1997, 190 and 270. Ov. Her. 6.147 (Hypsipyle Iasoni) is also heavily sigmatic: ipse quidem per me tutus sospesque fuisses. 21 Cf. Tarrant 1978, in part. 261 and 263. Cf. also Pratt 1983, 27, who keeps Accius and Ennius apart from Seneca’s plays, in that archaic examples of Roman tragedy can be considered free
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Ovid’s tragedy, Euripides remains the chief tragic source text to work with. The force of Euripides’ line and its intrinsic phonetic capacity to influence Seneca’s re-appropriation of it may seem sufficient to rule out mediation by the scholion. Nevertheless, in my view, Seneca’s choice to mobilise the perfect infinitive seruasse points to some degree of intentionality in the rewriting: in picking up the sigmatism of the corresponding Greek form ἔσῳσα, he gives prominence to a distinctive feature that is also interestingly retained in and replayed by the comic playwrights cited by the scholia. By claiming her role of helper-maiden,22 Medea not only reproduces a topical moment of the story, she also phonically hints at it, positing sigmatism as a salient element already brought to the fore by ancient commentaries. Moreover, another Ennian fragment, 274–275 Vahlen, which is usually, although not unanimously, attributed to Ennius’ Medea, deserves brief attention here. G. Bitto, in his Hermes article, observes that one may relate these lines to Eur. Med. 476–477 because of similarity of content: non commemoro quod draconis saeui sopiui impetum, non quod domui uim taurorum et segetis armatae manus ‘I don’t mention that I put to sleep the sauvage serpent’s assault, nor that I tamed the bulls’ strength and the power of the armed crop’ (Boyle)
Now, if one adds to Euripides’ line 476 lines 480–481, it may immediately be noticed that they are also highly sigmatic, as they are meant to recall the serpent’s hissing: δράκοντά θ᾽, ὃς πάγχρυσον ἀµπέχων δέρος σπείραις ἔσῳζε πολυπλόκοις ἄυπνος ὤν ‘[I killed] the dragon who kept watch over the Golden Fleece, sleeplessly guarding it with his sinous coils’ (Kovacs)
Bitto states that Ennius, as far as one can tell, drastically reduces the sigmatism of the Euripidean model, perceived as unpleasant, and confines it to the alliteration of saeui sopiui to imitate the serpent’s hissing, thus giving it less visibility. Hence, if this is true, Seneca’s lines are even more indicative of a “sigmatism-oriented” rewriting of the Greek model. Seneca seems to have looked back to it alongside his exegetical material with an erudite interest so as to bring to the fore, intentionally (and provocatively), the feature of sigmatism criticised by the scholia.23 translations or adaptations of Greek originals, a far cry from Seneca’s tragic composition. He also notices that, had Seneca written as Ennius did, the question of sources would never have arisen and it is therefore quite irrelevant to pin down parallels between Ennius and Seneca or Accius and Seneca, since they result merely from the common subject matter. 22 This is, incidentally, the function she is predominantly invested with by Apollonius of Rhodes in his deliberate inversion of Euripides’ depiction of her character (cf. Boyle 2014, lxviii); cf. Apoll. Rh. 4.195ff. 23 Bitto (forthcoming) discusses an example from Statius’ Silvae, in which the poet gives prominence to aspects that both ancient scholia and Augustan poets considered as violating an allegedly shared notion of prepon. Interestingly, there seems to be a general tendency on the
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WHERE IS SENECA’S MEDEA HEADED? My second case study deals with Sen. Med. 891–892 (near the end of the play), lines which are usually assigned to Medea’s nurse, although manuscript E has the messenger voicing them after Creon and his daughter have been killed by Medea’s poison and while the palace is burning. Nonetheless, it seems less problematic, also from a dramaturgical perspective, to assign them to the nurse (cf. Boyle ad loc.): NUTRIX Effer citatum sede Pelopea gradum, Medea, praeceps quaslibet terras pete ‘Depart with all speed from Pelops’ home, Medea, and make haste for whatever lands you choose’ (Hine)
These lines can be related to Eur. Med. 1122–1123: ΑΓΓΕΛΟΣ Μήδεια, φεῦγε φεῦγε, µήτε ναΐαν
λιποῦσ᾽ ἀπήνην µήτ᾽ ὄχον πεδοστιβῆ ‘Medea, run for your life! The sea vessel and the chariot that threads the ground – do not refuse them!’ (Kovacs)
Again, Seneca’s rewriting does not imitate the Greek model slavishly. Euripides’ messenger is not interested in Medea’s ultimate destination, as long as she flees from her enemies. However, the readers already know from 757ff. where she is headed, since in those lines she formally accepts Aegeus’ offer to join him in Athens (‘I shall come to your city as soon as I can, when I have accomplished what I intend and gained what I wish’). Besides, in the close she will also overtly announce that she will go to Athens (1384–1385: ‘As for myself, I shall go to the land of Erechtheus to live with Aegeus, son of Pandion’). By contrast, Medea’s final destination in Seneca is completely unknown. Her aerial flight leaves the reader wondering where she might be going, as she literally disappears in mid-air (1022 patuit in caelum via ‘a path to the heavens has opened up’; 1025 ego inter auras aliti curru vehar ‘I shall ride on my winged chariot among the winds’). Jason too is left wondering about her final destination and delivers a trenchant commentary: per alta vade spatia sublime aetheris, / testare nullos esse, qua veheris, deos (1026–1027 ‘travel up above through the high expanses of the heavens; bear witness that wherever you go there are no gods’). Seneca’s plot, therefore, remains silent on this, not to mention that Aegeus’ scene has been entirely removed from this play, which can be seen as indicative of Medea’s transformation into a more powerful and autonomous figure than her Euripidean counterpart.24 Although the nurse’s warning that Medea must flee to part of post-Augustan poets to retrieve and bring to the forefront elements criticised by ancient commentators and predecessors. 24 Cf. Boyle 2014, cxv: ‘Seneca’s Medea needs no Aegeus to ensure safe passage from Corinth’.
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quaslibet terras appears obscure or even elusive, quaslibet does not seem to have received attention from commentators. Now, if we turn to the scholion to Eur. Med. 1122, it posits a rather descriptive and almost pedantic commentary, which, however, might help shed light on Seneca’s apparently colourless quaslibet. The scholion comments thus on the vehicles Medea will employ: καταχρηστικῶς τὴν ναῦν ἀπήνην ὠνόµασεν· ἀπήνη γὰρ κυρίως ἡ ἅµαξα. ὄχον δὲ λέγει τὸ ὄχηµα. ὅ δὲ νοῦς· εἴτε διὰ νεὼς εἴτε δἰ ὀχήµατος εἴθ̓ ὁπωσοῦν φεῦγε25 the term ‘chariot’ is misapplied (= is applied by extension) to ‘ship’; ἀπήνη is, to use plain language (= precisely), the ‘chariot’ (ἅµαξα = four-wheeled wagon). He [scil. the messenger] names ὄχος the ὄχηµα. The meaning is: ‘run away either on a ship or on a chariot or in any way whatsoever’ (transl. mine)
Mastronarde’s commentary to Eur. Med. 1122–1123 is in line with the scholion’s interpretation: ‘a grandiloquent circumlocution for “whether by sea or by land” or “by any available means”’. Owing to the fragmentary condition of sources on Medea in the Latin world before Seneca, one cannot tell whether the indeterminacy of quaslibet terras comes from a Roman source text (Ovid?) or is genuinely Senecan. As already pointed out, there is no exact correspondence with the equivalent speech delivered by the messenger in Euripides apart from context. Despite this, if one adds to this picture the relevant scholion to Euripides, the expression quaslibet terras, by gesturing towards ὁπωσοῦν, may be explained from a different angle. In Euripides, the messenger is not aware that Medea will soon take off on a flying chariot sent by the sun god and points to more conventional, “human”, means of escape, whatever they are (no matter how). In Seneca, the nurse warns Medea to leave as soon as she can (praeceps), wherever she might go (no matter where). The scholion appears to situate itself halfway between the two texts and connect them lexically by means of ὁπωσοῦν,26 whose meaning remains latent in Euripides’ passage, but fully emerges in quaslibet, although with a new meaning, in a sort of translation cum uariatione. Quaslibet also introduces an element of novelty into Seneca’s epilogue, pointing to the mystery of Medea’s final destination, which remains unnamed. The value of quaslibet is thus not merely cosmetic or colourless, as may be that of ὁπωσοῦν in the pedantic note of the scholia, but functional. Once more, Seneca seems to combine erudition with innovation, by drawing on ancient material to adapt it to new content.
Seneca is clearly not interested in representing a realistic escape at the end of the play. Also, in Euripides, Aegeus’ scene is clearly aimed at praising Athens. 25 The standard vocabulary of exegetical commentaries occurs here, cf. for example καταχρηστικῶς, κυρίως, νοῦς, on which cf. Lachenaud 2010, xxxii–xxxiii. They are also recorded in Erbse 1983 and Nünlist 2009. As Dickey 2007, 219 points out, ‘there is a great need for a thorough, accurate study of this vocabulary’. 26 A search in the TLG-Corpus proves that ὁπωσοῦν is a relatively frequent term in prose, especially in enumerations.
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THE INFANTICIDE SCENE My last two examples revolve around the final moments of Medea’s tragedy, that is the infanticide and, again, her own flight. Let us start with the latter. The very last words in Seneca’s play are uttered by Jason and addressed to Medea. They are concise and trenchant (1026–1027): IASON Per alta uade spatia sublime aetheris, testare nullos esse, qua ueheris, deos. ‘Travel up above through the high expanses of the heavens; bear witness that wherever you go there are no gods’ (Hine)
In Jason’s view, Medea is so wicked as to cancel the presence of the gods wherever she flies on her aerial journey. These brilliant lines, a sort of atheistic and unStoic proclamation on Jason’s part,27 do not have an equivalent in the Greek model. However, in turning to the scholia to the end of Euripides’ Medea, I was struck by the narrative variant I came across in the commentary to Eur. Med. 1386. It is a passage coming from another tragedy about Medea, written by the poet Neophron, whose relation to Euripides’ chronology is still debated (ancient sources report that Euripides plagiarised the Medea from Neophron's work):28 the lines cited by the scholion contain Medea’s prophecy on Jason’s death, who will die by hanging, whereas, according to Euripides’ version, Medea predicts that Jason will be hit by a fragment of the ship Argo (1386–1387). In Neophron’s play Medea speaks thus: τέλος φθερεῖς γὰρ αὑτὸν αἰσχίστῳ µόρῳ, δέρῃ βροχωτὸν ἀγχόνην ἐπισπάσας. τοία σε µοῖρα σῶν κακῶν ἔργων µένει ‘In the end you will do away with yourself in a most shameful death drawing a noose for hanging about your neck Such a destiny awaits you for your evil deeds’ (Luschnig)29
Medea’s prophecy is rounded off by a pointed remark, whose content is highly didascalic (cf. δίδαξις): δίδαξις ἄλλοις µυρίας ἐφ̓ ἡµέρας θεῶν ὕπερθε µήποτ̓ αἴρεσθαι βροτούς ‘instruction to others for countless days telling mortals never to exalt themselves above the gods’
27 T.S. Eliot judged unique Jason’s final cry, on which cf. Costa 1973, 160. Cf. also Boyle 2014, ad loc. and cxvii. 28 On this cf. e.g. McDermott 1989, 20–24. 29 For fragments of Neophron’s Medea see http://www.stoa.org/diotima/anthology/neophron. shtml.
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Although in Seneca’s time Neophron’s tragedy is not likely to have circulated, Seneca may have encountered these lines in the scholia to Euripides’ play and hence reworked them consistently with his own treatment of Medea’s story. I would like, therefore, to suggest that there may be a lexical and conceptual connection between Neophron’s and Seneca’s lines, for which no correspondence is to be found in Euripides’s play. In Neophron, Medea warns Jason (and mortals in general) not to rise above the gods. Her words, resolute and menacing, shed negative light on Jason, represented as an evil and arrogant man who does not fear the gods. Given the fragmentary status of Neophron’s play, one may wonder to what extent Jason dared rise above the gods with his behaviour. In Euripides’ play, Medea violently accuses Jason of perjury (493–494; 1391–1392), so that his violation of the oaths they swore upon their elopement (160–162) becomes one of the distinctive features of his character. Neophron’s Jason, arguably, has in common with the Euripidean counterpart the same ethos of perjurer, due to which he does not respect the gods. By contrast, in Seneca, Jason’s final shocking words, indicating that wherever Medea flies there can be no gods, place her character as the true villain of the play, for whom no redemption whatsoever is contemplated. She is pure evil and her actions are completely beyond morality, for they subvert both human and divine rules.30 Since she can get away with such a hideous murder, Jason’s outcry seems to imply that Medea’s presence suffices to trigger the absence of gods. Testare (1027) is likely to gesture intertextually towards Jason’s final words in Eur. Med. 1405–1414, when he calls on the gods to bear witness to Medea’s killing of their children (cf. 1410 µαρτυρόµενος), but it also appears to be endowed with didascalic content. As a matter of fact, the imperative ‘bear witness’ hints that Medea is the living proof that there exist no gods, in the same way as Neophron’s Jason serves as proof (δίδαξις) that the gods punish those who rise above them. Their respective behaviours both have instructive value. Thus, if one brings the two passages closer together, also thanks to the lexical similarity shown in bold type above, Medea’s escape per alta spatia, read against Neophron’s metaphorical line θεῶν ὕπερθε µήποτ̓ αἴρεσθαι βροτούς, points to a flight during which she will overstep all boundaries, both physical (qua veheris) and moral, as suggested by comparison with the fragment. In fact, she will not only rise above the gods in her aerial flight, she will also end up annihilating them by means of her potency. My last example sets out to suggest that the scene in Seneca’s play representing Medea and the children together after the infanticide may be related once again to an observation from the scholia to Euripides. As is well known, dramatic scholia, being particularly attentive to questions of staging and dramaturgy, often attempt to provide the kind of information spectators in the theatre would have immediately obtained from watching the play.31 The commentators’ efforts, there-
30 Cf. 414 … sternam et evertam omnia. 31 On this cf. Nünlist 2009, 338–365; cf. also Trendelenburg 1867, in part. 135–137.
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fore, may also reside in helping ancient readers visualise the play, the acting of a particular scene being amongst their main exegetical priorities. In Euripides’ play, Medea kills her children inside the house and then appears with their corpses aboard the sun’s chariot (no mention of a serpentine chariot is made in the text). She announces that she will take the children’s bodies with her and bury them in the temenos of Hera Akraia before flying off to Athens (1317– 1385). The scholion ad Eur. Med. 1320 reads as follows: ἐπὶ ὕψους γὰρ παραφαίνεται ἡ Μήδεια, ὀχουµένη δρακοντίνοις ἅρµασι καὶ βαστάζουσα τοὺς παῖδας ‘Medea appears on top [of the house], boarding her serpent-drawn chariot and taking the children on board’ (transl. mine)
The scholion clarifies, by making it explicit, a dramaturgic moment that in the text may only be inferred from Medea’s words, when she speaks thus in lines 1321– 1322: ‘such is the chariot Helios my grandfather has given me to ward off a hostile hand’ (Kovacs). Therefore, after killing the children, Medea must have taken them safely on board out of Jason’s reach before appearing aloft on top of the house. Modern editions of the play, for clarity’s sake, introduce into the text stage directions32 to help readers better understand the progress of action, as for example Kovacs does right before line 1317: ‘Medea appears aloft in a winged chariot upon the mechane, which rises from behind the skene’. Although no explicit mention of the children’s corpses has been made so far, we may assume that Medea has already taken them on board, as becomes clear later in the final exchange between her and Jason (1317–1404). Seneca opts for a different version of the infanticide: Medea kills the first child in the house in full view of the audience. Immediately afterwards, when she hears the noise of Jason’s armed attendants approaching, she speaks thus (973– 974): excelsa nostrae tecta conscendam domus caede incohata … ‘I shall climb the lofty roof of our house – the slaughter is unfinished ….’ (Hine)
Hence she addresses the still living child (974–975): … perge tu mecum comes. tuum quoque ipsa corpus hinc mecum aueham ‘ … you go on, keep next to me. Your body too, I shall carry off with me’ (Hine)33
The second killing takes place on top of the house and, again, is not concealed, as in Euripides’ play. Yet, before leaving aboard her famous chariot,34 she gets rid of
32 The reference book on this is Taplin 1978. 33 Jason, upon arrival, points at Medea (995): en ipsa tecti parte praecipiti imminet.
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her children’s corpses, thereby introducing a powerful element of novelty into Seneca’s plot (1024–1026): squamosa gemini colla serpentes iugo summissa praebent. Recipe iam gnatos, parens; ego inter auras aliti curru uehar. ‘twin serpents offer their scaly necks in submission to the yoke. Now take your sons back, parent; I shall ride on my winged chariot among the winds’ (Hine)
The imperative recipe, expressing a deictic gesture, serves as a signal of stage directions. Medea first takes the children with her to the top of the house (aueham) and then, instead of loading their corpses into the chariot, hands them to Jason (recipe), boarding alone the serpentine chariot to flee. Boyle ad loc. comments thus: ‘Seneca is the first dramatist whom we know to have diverged from Euripides’ ending by having Medea leave the children’s corpses behind’. Such an innovation is perhaps worth reading alongside the aforementioned scholion to Euripides (1320), which also shares with Seneca’s play the detail of the serpentine chariot.35 The scholion explains that Euripides’ Medea is about to take the children with her (βαστάζω means ‘to load’, ‘to lift’); on the contrary, as noted, Seneca’s Medea returns them to Jason (recipe; it does not really matter how: some scholars assume that she may have thrown them from the top at Jason’s feet; she may also have left them on the roof of her house;36 what counts is that she is not taking them with her in the chariot). I believe that looking at the relevant note in the scholia to Euripides may help better appreciate the differences between Seneca and his Greek model in the last scene. Seneca incorporates into his own text the stage directions he likely read in the scholia to Euripides’ passage, again with a view to innovating by inverting Medea’s action: whereas the scholion makes explicit that Medea boards the children’s bodies, Seneca has Medea return them to their father. This also raises a correlated question concerning the visual impact of Senecan tragedy. While there is no doubt that absence of stage directions in Euripides’ text might have been compensated by actual representation, it is still uncertain whether Seneca’s plays were put on stage, were offered as Rezitationsdra34 1022–1024: sic fugere soleo. Patuit in caelum via: / squamosa gemini colla serpentes iugo/ summissa praebent ... . 35 I do not intend to claim that Seneca took it directly from the scholia to Euripides. Seneca plausibly drew it from Ovid (cf. Met. 7.218–404). Although in Euripides’ play the chariot is not said to be drawn by serpents, this detail is attested by the iconographic tradition at least from the fourth century BCE and is also found in authors like Pacuvius and Horace (cf. Boyle 2014, ad loc.). 36 Cf. Boyle 2014, ad loc. Cf. also Gatti 2014, 78–81, who discusses a new fragment from Ovid’s Medea, in which Vulcanus is said to have been hurled down from Olympus by Juno (fr. 18 Osann Vulcanus […] praecipitatus est a Ioue de coelo […] At Ouidius in Medea a Iunone). This version, which is less common than the one having Zeus hurl down Vulcanus, fits well into the episode of brutality against children of Medea’s story. Hence, Hera’s act in Ovid may have represented a model for Medea in throwing her children from the top of the house.
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men, or were meant for private reading.37 In my view, the greater abundance of pathos in Seneca’s plays establishes the priority of text over action, making up for the visual lacuna deriving from the circumstance that his tragedies were not represented in a traditional way: in Seneca the drama is to be placed first and foremost in the word, as also suggested in the title of an article by D. Mastronarde, in which the author brings to the fore the power of Senecan tragic lexis.38 In Seneca the word comes first, before gesture and scenic apparatus. Medea says ‘aueham’ and ‘recipe’, when she takes the children with her and then hands them back to Jason. Euripides’ Medea does not have to explain her actions: they were expressly meant to be seen on stage and, only later, commentators began to clarify them for the readers’ sake. BIBLIOGRAPHY 1. Editions and Commentaries Barchiesi 1988, A., Seneca. Le Fenicie, Venezia. Bessone 1997, F., P. Ovidii Nasonis, Heroidum Epistula XII, Medea Iasoni, Firenze. Boyle 2006, A.J., Roman Tragedy, London/New York. Boyle 2014, A.J., Seneca, Medea, Oxford. Costa 1973, C.D.N., Seneca. Medea, Oxford. Erbse 1983, H., Scholia Graeca in Homeri Iliadem (Scholia Vetera), Volumen Sextum, Indices I IV continens, Berlin. Hill 1992, D.E., Ovid. Metamorphoses V–VIII, Warminster. Hine 2000, H., Seneca. Medea, Warminster. Hunter 2004, R.L., Eubulus. The Fragments, Cambridge. Kovacs 1994, D., Euripides. Cyclops, Alcestis, Medea, Cambridge, MA. Lachenaud 2010, G., Scholies à Apollonios de Rhodes, Paris. Mastronarde 2002, D.J., Euripides. Medea, Cambridge. Mossman 2011, J., Euripides. Medea, Oxford. Page 1938, D.L., Euripides. Medea, Oxford. Schwartz 1887–91, E., Scholia in Euripidem, I–II, Berlin. Showermann 21977, G., Ovid. Heroides, Amores (revised by G.P. Goold), Cambridge, MA/London. Usher 1974, S., Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays, Cambridge, MA.
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37 On this cf. Kohn 2013 and Zanobi 2014. 38 Cf. Mastronarde 1970; cf. also Barchiesi 1988, 16–17 on the ‘patetizzazione della parola’.
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SED PLURA VACANT. STATIUS’ ACHILLEIS UND DIE HOMERPHILOLOGIE Gregor Bitto 1. EINLEITUNG Wenn man am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus ein Epos in lateinischer Sprache über Achill verfassen will, so sieht man sich gleich mit den zwei einschüchterndsten literarischen Größen der beiden Weltliteraturen konfrontiert: Homer und Vergil. Einer möglichen anxiety of influence begegnet Statius in seiner Selbststilisierung in Silven 4.4, einer Versepistel an den literarisch interessierten und politisch ambitionierten Vitorius Marcellus, dem nebenbei bemerkt auch Quintilias Institutio gewidmet ist, ganz offensiv: Er befinde sich gerade im otium und schöpfe mit leichten Liedern am Grab Vergils Kraft (Silv. 4.4.32–34/53–55): et nostra fatiscit laxaturque chelys. vires instigat alitque tempestiva quies; maior post otia virtus. [...] tenues ignavo pollice chordas pulso Maroneique sedens in margine templi sumo animum et magni tumulis adcanto magistri: [...]. [...] auch unsere Leier entspannt sich ermüdet. Eine rechtzeitige Ruhe schafft und nährt neue Kräfte; größer ist die Leistung nach der Erholung. [...] mit trägem Daumen schlage ich leichte Saiten an und während ich am Rande des Vergiltempels sitze, schöpfe ich Mut und singe beim Grab des großen Meisters [...].
Am Ende der gleichen Silve wird er dann konkret, was die gegenwärtigen dichterischen Pläne betrifft (4.4.87–100): nunc si forte meis quae sint exordia musis scire petis, iam Sidonios emensa labores Thebais optato collegit carbasa portu Parnasique iugis silvaque Heliconide festis tura dedit flammis et virginis exta iuvencae votiferaque meas suspendit ab arbore vittas. nunc vacuos crines alio subit infula nexu: Troia quidem magnusque mihi temptatur Achilles, sed vocat arcitenens alio pater armaque monstrat Ausonii maiora ducis. trahit impetus illo iam pridem retrahitque timor. stabuntne sub illa mole umeri an magno vincetur pondere cervix? dic, Marcelle, feram? fluctus an sueta minores nosse ratis nondum Ioniis credenda periclis?
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Wenn du nun wissen willst, welchen Anfang meine Musen nehmen, die Thebais hat schon die sidonischen1 Mühen durchmessen und im erwünschten Hafen die Segel gerefft und auf dem Gebirgsjoch des Parnass und im Wald auf dem Helikon festlichen Flammen Weihrauch übergeben sowie die Eingeweide einer jungfräulichen Kuh, sie hat auch an einem Votivbaum meine Haarbinden aufgehängt. Nun nähert sich ein Band mit anderer Verflechtung meinen Haaren, die sich in Muße befinden: An Troja und dem großen Achill versuche ich mich, aber der bogentragende Vater (= Apoll) ruft anderswohin und zeigt auf die größeren Waffen(taten) des ausonischen Feldherrn (= Domitian). Längst treibt es mich dorthin und hält mich Furcht doch zurück. Werden meine Schultern unter dieser Last bestehen oder der Nacken vom großen Gewicht besiegt? Sag, Marcellus, werde ich es tragen können? Oder ist mein Schiff, das sich daran gewöhnt hat, nur kleinere Fluten kennengelernt zu haben, noch nicht den Gefahren der ionischen See anzuvertrauen?
Befürchtungen gibt es ironischer Weise gerade nicht gegenüber dem homerischen Thema Troja bzw. dem Hauptcharakter Achill oder der von Vergil so entscheidend geprägten Gattung an sich, sondern nur in Bezug auf eine andere Person und ein anderes Thema, die in der gleichen Gattung zu behandeln wären: Domitian und seine kriegerischen Erfolge. Auf einer Ebene ist das natürlich eine spielerische Umdeutung der traditionellen recusatio zu panegyrischen Zwecken. Wenn im Proöm, auf das wir gleich genauer zu sprechen kommen werden, die Achilleis als Vorspiel für das kommende Domitian-Epos bezeichnet wird (A. 1.19: magnusque tibi praeludet Achilles), so finden wir eine Wiederaufnahme dieser Vorstellung. Doch ist offensichtlich nicht nur der Blick nach vorn auf ein niemals realisiertes und vielleicht auch ohnehin nie geplantes Domitian-Epos von Interesse für die Standortbestimmung der Achilleis, sondern auch der Blick auf die literarische Vergangenheit, des Statius und der literarischen Tradition. Herbert Juhnke hat vor mittlerweile mehr als vier Jahrzehnten immer noch erhellende Beobachtungen dazu gemacht. Für die Thebais legt Juhnke dar, wie Statius durch den eigenständigen Rückgriff auf die Ilias sich die Unabhängigkeit gegenüber der Aeneis bewahrt: „Statius versucht, mit Hilfe vorwiegend iliadischer Motivzusammenhänge und Szenenblöcke ein Gegenstück zur Aeneis zu schaffen. [...] und im Prooemium zur Achilleis enthüllt sich das Bewusstsein dichterischer Mächtigkeit vollends so deutlich, dass die Schranken zum Wettstreit mit der Aeneis jedenfalls in inneren und unausgesprochenen Wünschen und Erwartungen geöffnet zu sein scheinen.“2 So hält Juhnke z. B. mit Blick auf die Gestaltung der Schlussszene des ersten Buches der Achilleis fest: „Hier ist eine neue Form der Homernachfolge zu beobachten: In lockerer Anknüpfung werden Gedanken und Wendungen aus homerischen Reden in den eigenen Zusammenhang einbezogen, ohne dass im Ganzen eine homerische Szene den Rahmen gäbe oder die Einzelanspielungen ‚Leitzitate‘ einer Szenennachbildung darstellten.“3 1 2 3
Gemeint ist thebanischen, nach der Herkunft von Thebens Gründer Kadmos aus dem phönizischen Sidon. Juhnke 1972, 172–184, Zitat: 184. Juhnke 1972, 171. Vgl. auch schon Mulder 1955, 120f.: Nach Durchmusterung möglicher
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Von diesen einführenden Beobachtungen ausgehend möchte ich im Folgenden auf die Linien zwischen Homer und Statius fokussieren und zeigen, wie ein Motiv aus dem Proöm der Achilleis, eben das titelgebende sed plura vacant (A. 1.4), von Statius nicht nur in Auseinandersetzung mit den dichterischen Vorgängern selbst in der Achilleis entfaltet wird, sondern auch unter Rückgriff auf oder vielleicht besser gesagt im συµφιλολογεῖν4 mit der antiken Homerkommentierung.5 2. HELLENISTISCHE DICHTERKOMMENTIERUNG UND RÖMISCHE EPIK Dieses συµφιλολογεῖν mit der hellenistischen Dichterkommentierung scheint für die römische Epik bereits durch ihren Begründer als Teil ihrer Matrix eingeschrieben. Fränkel hat für Livius Andronicus’ Odyssee-Übertragung Spuren der Homerkommentierung aufgezeigt.6 Dabei ist Livius Andronicus durchaus nicht Urheber einer solchen produktiven Rezeption philologischer Tätigkeit, vielmehr führt er die zeitgenössische alexandrinische Praxis fort. Beispielhaft sei auf die Forschungen zur Rezeption der Homerphilologie in Apollonios’ Argonautika verwiesen, die die intensive Auseinandersetzung mit Homer und der zu ihm stattfindenden philologischen Diskussion als wesentlichen Teil der epischen Konzeption überzeugend vorgeführt haben.7 Ausführlich hat Schmit-Neuerburg für Vergils Aeneis die Tiefe der Rezeption der alexandrinischen Homerexegese, besonders in ihrer ethischen und kritischen Facette, herausgearbeitet.8 Dabei hat Schmit-Neuerburg auch die nach vergilische Epik zur Profilierung herangezogen und für Statius’ Thebais mehrere Fälle für die Rezeption der Homerkommentierung wahrscheinlich machen können.9 In allen diesen Fällen lässt sich gewissermaßen Zustimmung zu den ästhetischen Urteilen der alexandrinischen Exegese feststellen, insofern, als dass bei Homer Kritisiertes umgangen oder dementsprechend variiert wird. Vorausgreifend sei an dieser Stelle schon einmal angedeutet, dass sich ähnliche Fälle auch für die Achilleis finden lassen (s.u. 6.), wobei auch ein gegenteiliges Phänomen der ironisierenden Absetzung prominent figuriert (s.u. 5.).
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Homeranklänge kommt Mulder zu dem Schluss, dass für die Achilleis Homer nur in Details Vorbild gewesen sei. Vgl. für den Terminus Cic. ad fam. 16.21.8. Auch Uccellini 2012, 34 (zu 1.3–7) misst plura vacant einen „valore programmatico“ zu. Vgl. auch Heslin 2005, 193, der Statius’ Anspruch als berechtigt ansieht: „Apart from Ovid and the odd casual reference (e.g. Prop 2.9.16, Hor. Carm. 1.8.13–16) there is no extended treatment of the Scyros myth in Latin verse before Statius.“ Fränkel 1932, 306–308, gegen Kritik verteidigt von Schmit-Neuerburg 1999, 336 Fn. 897. Vgl. z. B. Rengakos 1994 und Reitz 1996. Schmit-Neuerburg 1999, vgl. zuvor schon Schlunk 1974. Vgl. außerdem Barchiesi 2015 passim, bes. die methodischen Überlegungen 32–34. Schmit-Neuerburg 1999, 53/154/229f./261f./333f.
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Doch nicht nur mit der Fachliteratur zum großen griechischen Vorbild hat sich Statius offensichtlich auseinandergesetzt, sondern auch mit derjenigen zum römischen. Sowohl für die Thebais wie auch für die Achilleis hat bisherige Forschung Reaktionen auf Vergilkritik ausmachen können.10 Im Falle des Statius kommt zu dem Befund, dass es sich bei der Rezeption philologischer Beschäftigungen in literarischen Werken um eine etablierte Praxis römischer Epiker bzw. Dichter allgemein11 handelt, die Tatsache hinzu, dass sein Vater als Dichter und Grammatiker tätig war und der Sohn in einem Epikedion auf den Vater die Verdienste auf diesem Gebiet herausstreicht (Silv. 5.3). In einer Passage dieses Epikedions macht Statius Ausführungen zum Unterrichtsinhalt des Vaters (Silv. 5.3.146–158): Zu dessen Kanon gehören (in dieser Reihenfolge) die Dichter Homer, Hesiod, Pindar, Ibykos, Alkman, Stesichoros, Sappho, Kallimachos, Lykophron, Sophron und Korinna. Man sieht, dass neben den erwartbaren Klassikern auch weniger prominente Namen wie Lykophron oder Korinna auftauchen. Am Beispiel Pindars lässt sich sehen, dass für den Unterricht des Vaters einige philologische Spezialität behauptet wird: Er habe pindarische Metrik, und zwar genauer gesagt, die Regeln der Responsion unterrichtet (qua lege recurrat/Pindaricae vox flexa lyrae, Silv. 5.3.151f.).12 Wie Gibson herausgestellt hat, legen die Formulierungen des Katalogs nahe, dass der Unterricht des Vaters vier Bereiche in den Vordergrund gestellt habe: Plot, Wirkung, Metrik und Exegese.13 Statius rühmt die Gelehrsamkeit seines Vaters gleich zu Anfang des Gedichts (genitor praedoctus, Silv. 5.3.3) und versäumt es zur Eigenwerbung auch nicht darauf hinzuweisen, dass er die Arbeit an der Thebais noch unter Aufsicht des Vaters begonnen habe (Silv. 5.3.233–237). McNelis zufolge ist das Curriculum des Vaters „consistent with the known activity of grammatikoi“.14 Wichtig ist mit Blick auf einen solchen Katalog dabei auch McNelis’ Betonung der sozialen Relevanz, die die Kenntnis griechischer Dichtung als Bildungskapital hat.15 In diesem Sinne ist nicht nur die Selbstdarstellung des Statius anhand seines Vaters in Silv. 5.3 zu sehen, sondern auch die Gestaltung seiner beiden Epen: Philologische Durchdringung ist Ausweis seiner 10 Für die Thebais: Schmit-Neuerburg 1999, 289f.; für die Achilleis: Heslin 2005, 95–99. 11 Vgl. schon Goetz 1918 für den analogen Fall der Rezeption der Apollonios-Scholien bei Vergil (33–37), Valerius Flaccus (37–69) und Statius (69–71). Außerdem widmet sich Goetz den Aratea Ciceros und des Germanicus (6–17 und 71–84) sowie dem Verhältnis von Theokritkommentierung und Vergils Eklogen (17–33). Zu Valerius Flaccus und den Apollonios-Scholien vgl. auch Bessone 1991 und Galli 2007. Für Horaz und die Pindarkommentierung Bitto 2012 und Phillips 2015. 12 Vgl. dazu auch Holford-Strevens 2000, 42 zum Bezug zu Horaz, der in c. 4.2.11f. absolute metrische Freiheit Pindars behauptet hatte (numeris fertur/lege solutis): „thanks to my father, I know what Horace (for all his father’s care over his schooling) did not know, how Pindaric metre works, by what law, from which he is not free, the strophic sound of his lyre does not run wild but returns to its starting point [...].“ 13 Gibson 2006, 321. 14 McNelis 2002, 83. 15 McNelis 2002, 86–90. Holford-Strevens 2000 argumentiert dafür, Statius stärker in einem griechischen literarischen Milieu zu verorten, wofür der Katalog in Silv. 5.3 ein Beleg sei.
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dichterischen Professionalität und implizites Kompliment an den Mäzen als Leser.16 Mit Blick auf die Achilleis als Untersuchungsgegenstand sei zudem darauf hingewiesen, dass Jolivet 1999 für Ovids dritten Heroiden-Brief, der in seiner Achill-Darstellung ein wichtiger elegischer Vorläufer für den statianischen Achill ist, eine intensive Auseinandersetzung mit der Homerphilologie hat aufzeigen können, dies gilt insbesondere für den Sänger Achill, dessen Auftauchen in Ilias 9 sowohl die Kommentierung wie auch die Literatur zu generischen Positionierungen herausgefordert hat (s.u. 5.). Auch was die Rezeption der Homerphilologie betrifft, setzt Ovid damit Maßstäbe hinsichtlich des Umgangs mit der Ilias und der Figur Achills für seine dichterischen Nachfolger und deren Leser. 3. DIE HANDLUNG DER ACHILLEIS IM ÜBERBLICK Bevor wir uns dem Proöm widmen, möchte ich kurz einiges Grundlegende über die Achilleis in Erinnerung rufen. Erhalten sind insgesamt etwas über 1100 Verse, die in der handschriftlichen Überlieferung verschiedentlich auf zwei, vier oder fünf Bücher aufgeteilt sind. Dabei kann durch eine spätantike Zitation die Einteilung in zwei sehr ungleich lange Bücher von 960 und etwa 160 Verse als zumindest spätantik übliche Edition abgesichert werden. Ob es sich dabei um die von Statius angelegte Einteilung handelt, muss jedoch offen bleiben.17 Inhaltlich wird insbesondere eine Episode aus dem Leben Achills vor Troja geboten: und zwar sein Aufenthalt auf der Insel Skyros. Diesen hat seine Mutter Thetis arrangiert, um ihren Sohn von einer Teilnahme am beginnenden trojanischen Krieg zurückzuhalten. Am Anfang des ersten Buchs sehen wir Thetis, die, durch Paris’ Raub der Helena aufgeschreckt, Neptun um eine Flut und dadurch Störung der Überfahrt nach Troja bittet. Dies wird von Neptun mit Hinweis auf das Schicksal abgelehnt, woraufhin Thetis die Rettung ihres Sohnes in die eigene Hand nimmt. Sie entführt diesen schlafend von seinem Ziehvater, dem Kentauren Chiron, und versetzt ihn auf die Insel Skyros. Diese hat sie ausgewählt, da sie möglichst weit von allen kriegerischen Aktivitäten entfernt ist. Denn auf ihr herrscht nur ein alternder und darum friedfertiger König, Lycomedes. Gemeinsam mit seinen Töchtern bewohnt er einen Palast, der als imbellis, unkriegerisch, bezeichnet wird (1.208). Um ihren Sohn dort sicher zu verstecken, will Thetis Achill als Mädchen verkleiden und dem Lycomedes zur Pflege überlassen. Achill weigert sich zunächst auf Thetis’ Plan einzugehen, da er eine Verkleidung als Mädchen unangemessen findet. Als er jedoch die schöne Tochter des Königs, Deidamia, erblickt, verliebt er sich sofort. Thetis nutzt geistesgegenwärtig die Gelegenheit, um diese Verliebtheit als Argument für den Verbleib auf Skyros zu präsentieren. Achill willigt nun ein, Thetis staffiert ihn entsprechend aus. Dem König 16 Für Statius’ Karriere und Patrone vgl. Hardie 1983, 58–72. Ausführlich zu Patronageverhältnissen bei Statius: Nauta 2002. 17 Zur Überlieferung in diesem Punkt: Dilke 23, Méheust xlviif. und Anderson 2009, XII.
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Lycomedes wird der verkleidete Achill als unglaublich ähnliche Schwester des Achill verkauft, auch er willigt ein, auf „sie“ aufzupassen. An diesem Punkt pausiert die Skyros-Handlung: Es werden nun die Kriegsvorbereitungen der Griechen beschrieben. Die Soldaten verlangen nach der Teilnahme Achills, dessen Ruf ihm trotz seiner jungen Jahre schon vorauszueilen scheint. Da niemand über den aktuellen Aufenthaltsort Achills Auskünfte geben kann, wird der Seher Calchas befragt. Von der Gottheit ergriffen, weissagt Calchas das Gewünschte, und Odysseus und Diomedes machen sich auf den Weg nach Skyros. Unterdessen hat sich auf Skyros Achill immer stärker in Deidamia verliebt. Doch seine vorsichtigen Annäherungsversuche haben noch nicht den gewünschten Erfolg. So beschließt er, sich mit Gewalt zu nehmen, was er ersehnt, um sich als Mann zu beweisen. Ein Bacchus-Fest gibt die Gelegenheit dazu. Die Vergewaltigung führt aber nicht zu einer Entzweiung, sondern die zunächst verstörte Deidamia verrät aus Liebe Achill nicht an ihren Vater. Aus der Verbindung entspringt ein Sohn, eine Amme ist die einzige Mitwisserin. So vergeht ein Jahr. Dann erreichen Odysseus und Diomedes Skyros. Sie werden freundlich bei Lycomedes aufgenommen. Bei einem abendlichen Empfang kann Odysseus den verkleideten Achill zwar erkennen, aber Deidamia gelingt es, durch geschickte Intervention zu verhindern, dass Achill enttarnt wird. Allerdings hat, wie zu erwarten, Odysseus bereits einen Plan, genauer gesagt, eine Falle. Er stellt Gastgeschenke aus: zum einen bunte und bestickte Bänder, Tympana etc. und zum anderen einen Schild und eine Lanze. Erwartungsgemäß stürzen sich die Töchter des Lycomedes auf die Bänder, doch Achill ist hypnotisiert von dem Schild. Odysseus versucht nun rhetorisch ihn zur Enttarnung zu bewegen, Achill schwankt schon, aber erst ein Warnsignal, das Odysseus in Auftrag gegeben hat und das nun erschallt, bewegt Achill dazu, nach den Waffen zu greifen und seine Verkleidung fallen zu lassen. Achill bekennt in der Folge die Wahrheit gegenüber Lycomedes, dieser verzeiht ihm und legalisiert die Verbindung zu seiner Tochter. Am Ende des ersten Buches steht die Hochzeitsnacht mit den Gesprächen der beiden Liebenden, in denen Hoffnungen und Ängste geäußert werden. Das kurze zweite Buch berichtet von der Abfahrt und den Unterhaltungen an Bord, unter denen eine Erzählung Achills über seine Kindheit den größten Raum einnimmt. Der erhaltene Teil endet mit Achills Hinweis, dass er berichtet habe, woran er sich erinnern könne und dass das Übrige seine Mutter wisse – scit cetera mater (2.167). Unklar ist und wohl auch nicht zu klären, wie der Fragment-Status zu bewerten ist. Da sich die letzten datierbaren Referenzen im Werk des Statius auf 95 ansetzen lassen,18 wird allgemein ein Todesjahr 95 oder 96 angenommen. Stellt nun der erhaltene Teil alles dar, was er bis zu diesem Zeitpunkt vollendet hat? Oder einen Ausschnitt, der um seiner Geschlossenheit willen, aus einem größeren Fragment herausgelöst worden ist? Auffällig ist nämlich, dass der erhaltene Teil, eine in sich abgeschlossene Episode bietet und mit dem Hinweis auf die Mutter
18 Vgl. dazu Hardie 1983, 63–66 und Nauta 2002, 443f.
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am Ende sogar der Bogen zu Thetis am Anfang geschlagen wird.19 Hätte man das Proöm nicht, auf das wir gleich zu sprechen kommen werden, so könnte man die Achilleis in der erhaltenen Form für ein Epyllion, ein Klein-Epos halten. Die bereits erwähnte mittelalterliche Aufteilung in fünf Bücher, fünf Akten entsprechend, spiegelt übrigens diese Abgeschlossenheit wider.20 4. DAS PROÖM DER ACHILLEIS Doch nun zum bereits angekündigten Proöm! Es beginnt mit folgenden sieben Versen (1–7): Magnanimum Aeaciden formidatamque Tonanti progeniem et patrio vetitam succedere caelo, diva, refer. quamquam acta viri multum inclita cantu Maeonio (sed plura vacant), nos ire per omnem— sic amor est—heroa velis Scyroque latentem Dulichia proferre tuba nec in Hectore tracto sistere, sed tota iuvenem deducere Troia.
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Den erhabenen Aiakos-Nachfahren und die Nachkommenschaft, vor der sich Iuppiter fürchtete und der es verboten war, auf den Himmelsthron, den der Vater beherrscht, nachzufolgen, Göttliche, sollst du besingen. Wenn auch die Taten des Mannes durch den Gesang Homers sehr berühmt sind (Vieles ist aber noch übrig [sed plura vacant]), wollen wir auf deinen Wunsch hin – danach haben wir ein herzliches Verlangen [amor] – den ganzen Helden durchgehen und ihn, der sich auf Skyros verborgen hat, mit Odysseus’ Kriegsruf hervorlocken und nicht beim geschleiften Hektor Halt machen, sondern den Jüngling im ganzen Troja behandeln.
Ganz explizit weist Statius in diesem Proöm auf den literarischen Vorgänger Homer und die ‚Lücken‘ in dessen Werk hin, die ihm gewissermaßen als Rechtfertigung für sein eigenes Vorhaben dienen.21 Diese Art der Unabgeschlossenheit der Ilias auf der stofflichen, nicht aber der kompositorischen Ebene wird auch in der Homerkommentierung festgestellt. So zitiert ein Scholion zum Schlussvers der Ilias über Hektors Bestattung den Homerphilologen Menekrates: Μενεκράτης φησὶν αἰσθόµενον ἑαυτοῦ ἀσθενείας τὸν ποιητὴν καὶ τοῦ µὴ ὁµοίως δύνασθαι φράζειν σιωπῆσαι τὰ µεθ’ Ἕκτορα. καλῶς δὲ ἐταµιεύσατο τὰ λοιπὰ ἑαυτῷ τῶν †ζητηµάτων† εἰς τὴν Ὀδύσσειαν· µικρὰ γὰρ ἦν ἡ ὑπόθεσις περὶ τῆς οἰκίας Ὀδυσσέως µόνον· τὰ γὰρ λείψανα ἐκεῖ ἃ µὲν Ὀδυσσεύς, ἃ δὲ Νέστωρ καὶ Μενέλαος, ἃ δὲ Δηµόδοκος κιθαρίζων φασίν. ἄλλως τε πολιορκίαν µακρὰν οὐκ ἄξιον διηγεῖσθαι. (Schol. bT Il. 24,804a ex.)
19 Das zeigen z. B. Heslin 2005, 62–65 und Delarue 2008. 20 Zur mittelalterlichen Debatte über die Abgeschlossenheit vgl. Anderson 2009, XIII; vgl. auch de Angelis 1984, bes. 169–178 zur frühneuzeitlichen Debatte über die Vollständigkeit der Achilleis, die sich u.a. um das rechte Verständnis von A. 1.7 dreht. 21 Ich beschränke mich auf einen Aspekt des Proöms und verweise auf zwei wichtige Forschungsbeiträge zum Proöm: Barchiesi 1996 und Heslin 2005, 71–82, sowie auf den ausführlichen Kommentar von Uccellini 2012, 27–53.
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Gregor Bitto Menekrates sagt, dass, da der Dichter seine eigene Erschöpfung bemerkt habe und auch dass er nicht in gleicher Weise fähig sei zu dichten, er die Ereignisse, die auf Hektor[s Tod folgten,] verschwiegen habe. Gut hat er aber22 das Übrige an †Fragen† sich selbst für die Odyssee aufgeteilt: Klein wäre nämlich der Plot über die Geschehnisse in Odysseus’ Haus allein. Das Übrige nämlich findet sich in dem, was Odysseus (Od. 9.39–12.453), Nestor (Od. 3.98–312), Menelaos (Od. 4.271–289/341–586) und Demodokos in seinem Gesang (Od. 8.73–82/499– 520) berichten. Außerdem ist eine Stadteroberung nicht wert ausführlich erzählt zu werden.
Das von Homer Ausgelassene betrifft also den Streit um die Waffen Achills, die Eroberung der Stadt – beides nur knapp berichtet in indirekter Wiedergabe von Demodokos’ Gesang bzw. kurz angerissen von Menelaos, sowie der Heimkehrgeschichte der drei Feldherrn Odysseus, Menelaos und Nestor. Dass in der Odyssee die Eroberung Trojas selbst nur so knapp behandelt wird, stilisiert Menekrates23 am Ende des Scholions zu einer impliziten Poetologie Homers: Eine solche Eroberung verdiene keine ausführliche Erzählung. Auffällig ist natürlich die erste Begründung, die Menekrates eingangs liefert: Aus Erschöpfung habe Homer diese Stoffaufteilung vorgenommen. Von einer Erschöpfung nach dem ersten Epos haben wir auch eingangs in Statius vierter Silve des vierten Buches gehört.24 Diese Lücken führen beim Statius des Proöms zu einem Verlangen, amor, die fehlenden Teile und damit den ganzen Achill in den Blick zu nehmen.25 Auch hier finden wir Reflexe philologischer Diskussionen. Ein weiteres Scholion zum 24. Buch der Ilias erklärt zur Leserwirkung dieses letzten Buches anlässlich der Beschreibung von Thetis, die das kommende Schicksal ihres Sohnes beweint, Folgendes: ἐπειδὴ µέλλει καταστρέφειν τὸν λόγον εἰς τὰς Ἕκτορος ταφάς, προλαβεῖν τι ἐπιχειρεῖ τῶν ἑξῆς καὶ τὸ κέντρον ἐγκαταλιπεῖν, ὡς ὁ κωµικός φησι, τοῖς ἀκροωµένοις ὥστε ποθῆσαί τι καὶ περὶ τῆς Ἀχιλλέως ἀναιρέσεως ἀκοῦσαι καὶ ἐννοεῖν παρ' ἑαυτοῖς, οἷος ἂν ἐγένετο ὁ ποιητὴς διατιθέµενος ταῦτα. (Schol. bT Il. 24.85a ex.) Da er noch auf das Begräbnis Hektors zu sprechen kommen [sc. und damit die Ilias beenden] will (Il. 24.804), versucht er etwas von den folgenden Ereignissen vorwegzunehmen und einen Stachel, wie der Komödiendichter [Eupolis, 102,7 Kassel-Austin] sagt, den Zuhörern zu22 Prof. Nünlist verdanke ich den Hinweis, dass καλῶς δέ nicht nur in fortsetzendem Sinne, sondern auch als Entgegnung zum ersten Satz aufgefasst werden kann. 23 Falls hier noch die Meinung des Menekrates referiert wird und nicht mit καλῶς δέ (s. vorhergehende Fußnote) ein Gegenargument eingeführt wurde. 24 Zu Recht weist Prof. Jolivet mich daraufhin, dass Menekrates wie Ps.Longin 9.11–15 auch dadurch motiviert ist, beide homerischen Epen trotz ihrer Unterschiedlichkeit als Werk eines Dichters zu deuten, sowie dass auch die Frage nach der οἰκονοµία von Ilias und Odyssee im Hintergrund steht. Bereits Bühler 1964, 48f. hat davor gewarnt, die Erschöpfung bei Menekrates mit der Altersschwäche bei Ps.Longin gleichzusetzen. Allerdings spricht Menekrates, wie auch Ps.Longin 9.12, von λείψανα mit Blick auf die von der Ilias nicht behandelten Ereignisse. Zumindest kann also ein Leser, der bereits mit dem Alterswerkdiskurs in Bezug auf Homer vertraut ist, und als solche scheinen mir Statius und sein Publikum zu denken zu sein, eine solche Haltung bei Menekrates angedeutet finden. Ausführlich zur Alterswerkfrage, die hier nicht verhandelt werden kann: Bitto 2016, bes. 33–56 zum theoretischen Hintergrund. 25 Programmatisch im Sinne der generischen Orientierung an der Liebeselegie und der thematischen Einbeziehung der Skyros-Episode verstehen amor u.a. Barchiesi 1996, 58; Feeney 2004, 97f.; Heslin 2005, 73f.
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rückzulassen, so dass sie sich danach sehnen, auch etwas über den Tod Achills zu hören und für sich selbst vorzustellen, wie der Dichter dies verfasst hätte.26
Das Ende der Ilias versetzt den Leser in Sehnsucht nach mehr: ποθῆσαι. Diese Sehnsucht nach mehr, amor, hat auch der Sprecher des Proöms der Achilleis, der Achill durch Ereignisse vor Troja, also auch seinen Tod, führen will. Vor diesem Hintergrund wirkt die Parenthese sed plura vacant, wie eine weitere Spielart der sogenannten, durch dicunt, ferunt oder ähnliches signalisierten alexandrinischen Fußnote.27 Bei der Erwähnung von fehlenden Stellen und des ganzen Helden im Proöm hat man in der Forschung bereits vielfach an einen Verweis auf die kyklischen Epen gedacht28 und zumindest exkursartig möchte ich darauf kurz eingehen: Der Überlieferungszustand macht es nahezu unmöglich einzuschätzen, was an zusätzlichem Inhalt mit Bezug auf Skyros in der Ilias parva und den Cypria gegenüber der Ilias geboten worden ist.29 Zurückhaltend vermutet Fantuzzi, dass wenigstens die Liebschaft mit Deidamia und die Zeugung des Neoptolemos vorgekommen sei, dass allerdings der Aufenthalt auf Skyros anders begründet worden seien, nicht wie in der Achilleis, um Achill vor dem trojanischen Krieg zu bewahren, sondern dass mit der Absicht einer Eroberung oder als Folge eines Schiffsbruchs die Landung auf Skyros geschehen sei. Darum sei auch das Moment der Verkleidung Achills nicht Teil der kyklischen Tradition.30 Laut Proklos’ Chrestomathie habe sich Achill in den Cypria mit Deidamia vermählt (γαµεῖ; p. 104,8–10 Allen). Ein D-Scholion bietet anlässlich der Erwähnung in der Ilias, dass Neoptolemos auf Skyros aufwachse (19.326), eine ausführliche Nacherzählung einer Episode auf Skyros, die er den Cypria zuschreibt und die wesentlich mit Statius übereinstimmt. Diese Zuschreibung ist zuweilen akzeptiert worden,31 wird von Heslin und Fantuzzi aber entschieden abgelehnt.32 Für weitere interpretatorische Schlüsse erscheint die Faktenbasis zu gering, sodass nicht mehr als die Feststellung übrig bleibt, dass zusätzliches Material zu Achills Aufenthalt auf Skyros in den kyklischen Epen vorhanden gewesen ist und insbe26 Vgl. zu diesem Scholion auch Nünlist 2009, 41f. im Rahmen der Besprechung von προσαναφόνησις und προοικονοµία; Nünlist verweist auch auf Schol. Il. 17.719: Dort heißt es, Homer hätte Achills Tod anders beschrieben als die νεώτεροι. 27 Vgl. zum Terminus Hinds 1998,1f. Vgl. auch Ov. Pont. 2.10.13f. (an Pomponius Macer): tu canis aeterno quicquid restabat Homero,/ne careant summa Troica bella manu. Auf diese Stelle macht mich Prof. Jolivet aufmerksam, der den Hinweis anschließt, dass restare hier vielleicht auf den Terminus παραλελειµµένα aus der Homerphilologie anspiele (vgl. Nünlist 2009, 161 und 170f.), wenn auch wahrscheinlicher auf die Tradition Ante- bzw. Posthomerica zu verfassen rekurriert werde. 28 Vgl. z. B. Heslin 2005, 81f., Ripoll 2008, 9f. 29 Heslin 2005, 202–205; Fantuzzi 2012, 23–29, bes. 27–29 zur Homererklärung (Aussparung der nicht angemessenen Episoden bei Homer, z. B. Schol. T Il. 9.668b). Vgl. auch Severyns 1928, 285–288 für Aristarchs Reaktionen auf das Problem der Skyros-Episode bei Homer und im epischen Kyklos. 30 Fantuzzi 2012, 26f. 31 Z. B. von Burgess 2001, 21. 32 Heslin 2005, 204; Fantuzzi 2012, 26.
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sondere durch die Begegnung mit Deidamia Ansatzpunkte für eine Fortspinnung und Uminterpretation angelegt sind.33 Bei Homer selbst ist von Skyros nicht im Zusammenhang mit einem amourösen Aufenthalt wie bei Statius die Rede, sondern nur an drei Stellen wird Skyros erwähnt: zweimal im Zusammenhang mit Achills Sohn Neoptolemos, der auf Skyros erzogen werde, so die Ilias (Il. 19.326), bzw. der von Odysseus von Skyros nach Troja geholt worden sei, so die Odyssee (Od. 11.506–509). Die dritte Stelle befindet sich im neunten Buch der Ilias: Dort wird eine Beutefrau namens Iphis erwähnt, die bei der Eroberung von Skyros ‚erworben‘ worden sei (Il. 9.666–668): πὰρ δ' ἄρα καὶ τῷ Ἶφις ἐΰζωνος, τήν οἱ πόρε δῖος Ἀχιλλεὺς Σκῦρον ἑλὼν αἰπεῖαν Ἐνυῆος πτολίεθρον. Bei diesem [gemeint ist: Patroklos] also war auch die schöngegürtete Iphis, die ihm der göttliche Achill ‚verschafft‘ hat, nachdem er das steile Skyros erobert hatte, die Stadt des Enyeus.
Ein Scholion zur Stelle bemerkt: οἱ µὲν νεώτεροι ἐκεῖ τὸν παρθενῶνά φασιν, ἔνθα τὸν Ἀχιλλέα ἐν παρθένου σχήµατι τῇ Δηιδαµείᾳ †κατακλίνουσιν†, ὁ δὲ ποιητὴς ἡρωϊκῶς πανοπλίαν αὐτὸν ἐνδύσας εἰς τὴν Σκῦρον ἀπεβίβασεν οὐ παρθένων, ἀλλ’ ἀνδρῶν διαπραξόµενον ἔργα, ἐξ ὧν καὶ τὰ λάφυρα δωρεῖται τοῖς συµµάχοις. (Schol. T Il. 9.668b ex.) Die nachhomerischen Dichter sagen, dass dort das Jungfrauenzimmer gewesen sei, wo sie Achill in Gestalt einer Jungfrau mit Deidamia †sich niederlegen lassen†, der Dichter aber hat ihn in heroischer Weise in Rüstung nach Skyros nicht als Jungfrau ziehen lassen, sondern um Männertaten zu vollbringen, von denen er auch seinen Gefährten Beutestücke schenkt.
Eine ähnliche Einschätzung finden wir übrigens auch bei Pausanias (1.22.6): Ὁµήρῳ δὲ εὖ µὲν παρείθη τόδε ὠµὸν οὕτως ἔργον· εὖ δέ µοι φαίνεται ποιῆσαι Σκῦρον ὑπὸ Ἀχιλλέως ἁλοῦσαν, οὐδὲν ὁµοίως καὶ ὅσοι λέγουσιν ὁµοῦ ταῖς παρθένοις Ἀχιλλέα ἔχειν ἐν Σκύρῳ δίαιταν, ἃ δὴ καὶ ἔγραψεν. Gut aber hat Homer diese krude Tat übergangen: Gut scheint er mir gedichtet zu haben, dass Skyros von Achill erobert wird, und nichts in gleicher Weise wie diejenigen, die sagen, dass Achill auf Skyros zusammen mit den Jungfrauen gelebt habe, was auch Polygnot gemalt hat.
Diese Stellen zeigen zweierlei: nicht nur das rigide und moralisierende Denken antiker Leser und Kommentatoren, wie es von Nünlist als ein Charakteristikum der antiken Literarkritik im Allgemeinen herausgestellt wurde,34 sondern auch die Existenz und Verbreitung von Abweichungen von diesem moralischen code. Gerade also die Plot-Elemente, für deren Aussparung Homer in der Kommentierung gelobt wird, werden von Statius aufgegriffen. Insofern ist plura im Proöm der Achilleis doppeldeutig: nicht nur mehr von dem wird geboten, was die Kommentierung als Material für akzeptabel hielte, wie den Tod Achills, was Homer 33 Für mögliche, aber sehr spekulative Einflüsse der Cypria auf die Achilleis vgl. auch McNelis 2015. 34 Nünlist 2009, 13f.
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aber aus kompositorischen Gründen ausgespart habe bzw. nur andeute, sondern auch mehr von dem, was die Kommentierung als moralisch nicht passend ansieht und für dessen vollständiges Auslassen Homer gelobt wird. Allerdings ist die Homerkommentierung, was einen liebenden Achill betrifft, durchaus noch komplexer. Für die Skyros-Episode haben wir die ablehnende Haltung gegenüber Alternativversionen zu Homer gesehen. Was jedoch den Hauptkonflikt der Ilias angeht, der Streit mit Agamemnon über Briseis, so ist zu bemerken, dass die Kommentatoren je nach ethischer Prämisse bzw. vorgeformtem Bild von Achill und Homer, unterschiedliche Bewertungen vorgenommen haben.35 So wird z. B. in Schol. bT Il. 1.349 ex. als Motivation für die Tränen, die Achill vergießt, nachdem er sich zurückgezogen hat, neben der gekränkten Ehre auch die Entführung der Briseis erwogen: ἴσως δὲ καὶ τὸ γύναιον ἀκουσίως ἀπαλλαττόµενον ἐλεεῖ. ἄκρως δὲ ἐρῶντα χαρακτηρίζει· οὗτοι γὰρ ταῖς ἐρηµίαις ἥδονται, ἵν’ οὕτω τῷ πάθει σχολάζωσιν. Vielleicht aber trauert er auch über die kleine Frau, die ihm gegen seinen Willen genommen wurde. Treffend charakterisiert [Homer] die Liebenden. Diese nämlich lieben die Einsamkeit, damit sie sich der Leidenschaft hingeben können.
Diese erotische Motivation Achills in Bezug auf sein Verhalten in der Ilias findet sich vor Statius nicht nur in der Homerkommentierung, sondern wird besonders in der Liebeselegie weidlich inszeniert, die Statius in der Achilleis intensiv rezipiert.36 In der Ilias spricht Achill selbst nur an einer einzigen Stelle explizit von einer Liebe zu Briseis (9.341–343). Hier jedoch zeigen die Kommentare, wie Fantuzzi überzeugend demonstriert hat,37 ein interpretatorisches Umgehen einer möglichen erotischen Deutung zugunsten einer rhetorischen. Achills rhetorische Strategie bzw. sein rhetorisches Talent in der Argumentation werden betont. Die Frage, ob Achill es ernst meine, wird nicht berührt.38 Fantuzzi zieht noch eine weitere Stelle aus der Ilias zur Demonstration heran:39 In 16.85 spricht Achill über Briseis und Geschenke, die er von den Griechen haben wolle. Dabei nennt er Briseis περικαλλής (sehr schön). Scholien zur Stelle äußern sich tadelnd.40 Ihre Strategie wird von Fantuzzi wie folgt beschrieben:
35 Ausführlich dargelegt von Fantuzzi 2012, 104–116. 36 Prop. 2.8.29–38; Ovid Am. 1.9.33f.; 2.8.11; Rem. Am. 777; Her. 3. Daneben auch z. B. Hor. Epist. 1.2.11–13. Ausführlich dazu (mit weiteren Stellen) Fantuzzi 2012, 128–175; neben der Achilleis bei Statius auch in Silv. 4.4 (s.u. 5. sub fine). Die Rezeption der römischen Liebeselegie in der Achilleis ist gut erforscht: vgl. u.a. Koster 1979, Rosati 1994 und 2005, Micozzi 2007, Sanna 2007, Uccellini 2012, xxviii mit Fn. 60. Zum Einfluss Ovids auf Statius’ Achill vgl. Chinn 2013. 37 Fantuzzi 2012, 110–113. 38 Vgl. Schol. AbT Il., 937–939 (πρακτικὸς ὁ λόγος, δεικνὺς τὸν Ἀγαµέµνονα ἢ ἀσύνετον ἢ ἄδικον κτλ.), bT Il. 9.340–343 und 341 (τεχνικῶς κτλ.). 39 Fantuzzi 2012, 113–115. 40 Schol. bT 16.85b: ἔρωτα δὲ παλλακῆς καὶ φιλαργυρίαν ἐπιδείκνυνται οἱ στίχοι; Schol. bT zu 16.83–96: ἀπρεπὲς δὲ καὶ τὸ παλλακίδος καὶ δώρων µεµνῆσθαι.
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Gregor Bitto However, in the case of 16.85 the possible romantic sincerity of the epithet is radically downplayed by the scholiasts. Instead they consider it as belonging to a sort of strategy and contrived egocentrism, which is simulated by Achilles in his speech in order to increase the effectiveness of the limitations he places on Patroclus’ action. In tune with this interpretative stance, Briseis loses all individuality and becomes an unsympathetic παλλακίς/παλλακή [...].41 [... Commentators] diminished and rationalized the romantic potential of this evidence of Achilles’ feelings for the girl; these commentators thus obscured the possibility that at least part of his motivation was emotional or erotic.42
Auch in Bezug auf Thetis und ihr Verhalten lässt sich eine kontrastive Parallele zwischen der Homerkommentierung und der Achilleis ausmachen: Im 24. Buch der Ilias ermahnt Thetis ihren Sohn Achill, von der Schändung von Hektors Leichnam abzulassen (24.128–137). Sie gibt ihm u.a. den Rat, sich vor dem baldigen Tode eher den schöneren Dingen zuzuwenden und sich eher mit einer Frau zu vereinigen. Dies wird von Aristonikos folgendermaßen kommentiert: ἀθετοῦνται στίχοι τρεῖς, ὅτι ἀπρεπὲς µητέρα υἱῷ λέγειν ‚ἀγαθόν ἐστι γυναικὶ µίσγεσθαι’. ἔτι δὲ καὶ ἁπάντων ἀσυµφορώτατόν ἐστι καὶ µάλιστα τοῖς εἰς πόλεµον ἐξιοῦσι· χρεία γὰρ εὐτονίας καὶ πνεύµατος. (Schol. A Il. 24.130–132a Ariston.) Diese drei Verse werden athetiert, da es unschicklich ist, dass eine Mutter dem Sohn sagt, ‚gut ist es, sich mit einer Frau zu vereinigen.‘ Außerdem ist es von allen Dingen das Unvorteilhafteste, dies auch gerade denjenigen, die in den Krieg ziehen, zu sagen: Sie haben nämlich Spannkraft und Atem nötig.
Gerade aber so verhält sich Thetis in der Achilleis: Als sie sieht, wie sich Achill, der sich bisher nicht für ihre Pläne, auf Skyros versteckt zu werden, erwärmen konnte, in Deidamia verliebt (A. 1.301–317), nutzt sie die Gelegenheit, ihn darauf hinzuweisen, dass er hier versteckt mit ihr zusammen sein könnte und gibt sogar ihrer Hoffnung auf einen Nachkommen Ausdruck (1.318–322, vgl. auch die auffällige Wendung43 iungere curas in Thetis’ Rede (321) und µίσγεσθ‘ in Il. 24.131). In der Achilleis möchte Thetis genau das erreichen, was Aristonikos in der Ilias bemängelt: den Verlust der Kräfte für den Krieg. Was sich für die Ilias nur in Athetesen ereignen darf, steht in der Achilleis im Zentrum. 5. ACHILL ALS SÄNGER: IRONISCHE BEZÜGE ZUR HOMERKOMMENTIERUNG Diese bereits mit den ersten Versen des Proöms beginnende Linie findet auch bei der weiteren Ausgestaltung der Achill-Figur eine Fortsetzung. Beim abendlichen Zusammentreffen von Thetis, Chiron und Achill gibt der Ziehvater seinem Pflegesohn die Leier und dieser singt gern, libens, von den Ursprüngen großen Ruhmes, immania laudum/semina (1.187f.). Hier haben wir gewissermaßen eine aitio41 Vgl. dazu auch seine Ergänzungen p. 115, Fn. 39 zur Verwendung dieser Bezeichnung für Briseis. 42 Fantuzzi 2012, 115f. 43 Vgl. dazu Ripoll zu 1.321.
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logische Retrospektive des Achills, der im neunten Buch der Ilias von κλέα ἀνδρῶν singt, als er sich aufgrund seines Streites mit Agamemnon von der Teilnahme am Krieg zurückgezogen hat (Il. 9.189).44 Diese Retrospektion wird auch in der Formulierung bei Statius hervorgehoben: von laudum semina singt Achill, nicht laudes. Vielleicht wird dies auch durch ein Zahlenspiel unterstrichen: Denn fast an derselben Stelle befinden sich die beiden zitierten Formulierungen aus Achilleis und Ilias, im 187. und 188. Vers der Achilleis, im 189. Vers von Ilias 9, also gewissermaßen bildlich im Versgefüge des Buches etwas früher.45 Die Leier in der Ilias stammt, wie kurz zuvor gesagt wird, von einem Beutezug, bei dem Achill sich von den Beutestücken die Leier genommen habe (Il. 9.188). Ein Scholion kommentiert dies folgendermaßen: ὅτι ἀστεῖον τὸ µὴ οἴκοθεν κοµίσαι ὥσπερ µέλλοντα ἐν πολέµῳ ἄνεσιν ἔχειν, ἀλλ’ ἐκ τῶν λαφύρων ἀνῃρῆσθαι ἁρµόνιον καὶ οὐκ ἄµουσον. (Schol. A Il. 9.188a Ariston.) weil es Zeichen von rechter Bildung ist, die Leier nicht von zuhaus mitzunehmen, als wenn man im Krieg Erholung hätte; aber sie von den Beutestücken genommen zu haben, ist passend und zeigt seine musische Seite.
Hier liegt der Fokus auf einer Darstellung von Achills Charakter als recht für den Krieg erzogen und dennoch auch musisch begabt. Mit etwas anderer Schwerpunktsetzung trifft ein anderes Scholion eine ähnliche Einschätzung: πιθανῶς ἔφη ἐκ λαφύρων κεκτῆσθαι τὴν κιθάραν τὸν Ἀχιλλέα· ἀνοίκειον γὰρ εἰς πόλεµον ἥκοντα κιθάραν ἐπικοµίζεσθαι. εὑρόντα οὖν, φησίν, παρελθεῖν ὡς ἄµουσον ἀπρεπὲς ἦν. (Schol. A Il. 9.188b D) Glaubwürdig sagt er, dass Achill die Leier aus den Beutestücken erworben hat: Unpassend nämlich wäre es gewesen, wenn er sie in den Krieg ziehend mitgenommen hätte. Als er [sc. Achill] allerdings eine Leier gefunden habe, sagt er, wäre es unschicklich gewesen, sie wie ein unmusischer Mensch zu übergehen.
Hier wiederum stehen glaubwürdige Motivation und zudem noch deutlicher geradezu die Notwendigkeit für Achill, diese Leier von den Beutestücken selbst zu nehmen, im Vordergrund. In Porphyrios’ Ὁµηρικὰ ζητήµατα46 finden wir auf44 Zu diesem Thema in den Scholien und im Verhältnis zur sonstigen Darstellung Achills vgl. auch Fantuzzi 2012, 134–136. 45 Vgl. zu solchen Entsprechungen von Verszahlen in der Thebais Kytzler 1969, 211 Fn. 1 und allgemein Lowe 2013, 443 mit Fn. 1–3 für einen Überblick über sog. stichometrische Anspielungen bei Vergil und anderen Dichtern. 46 Porphyrios zu Il. 9.186 (= p. 134f. Schrader, ~ 149 MacPhail, der allerdings den Text erst mit οἰκεῖον τῷ ἥρωι κτλ. beginnen lässt; vgl. Schol. bT Il. 9,186). Es liegen zwar etwa zwei Jahrhunderte zwischen Porphyrios und der Achilleis, allerdings greift Porphyrios seinerseits auf älteres Material (u.a. Aristoteles) zurück, andererseits dürfte er, wie die übrigen Zitate oben zeigen, keine Einzelmeinung darstellen. Die breite Belesenheit des Porphyrios in der homerischen Sekundärliteratur demonstriert Erbse 1960, 47–72; vgl. auch die allgemeine Charakterisierung von Porphyrios‘ Methodik auf p. 61: „Die echten Probleme haben meist eine sehr ehrwürdige Vergangenheit: sie knüpfen an textkritische Fragen an, die bereits Aristarch durch Untersuchungen über den homerischen Sprachgebrauch zu lösen suchte, oder
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schlussreiche Bemerkungen über den Hintergrund von Achills Leierspiel, die zeigen, dass anscheinend die bei Homer gegebenen Erklärungen der Gemütsergötzung (θυµὸν ἔτερπεν, Il. 9.189) nicht als ausreichend empfunden wurden. Demgegenüber hat Porphyrios das Heldenbild Achills mit mehrfachen Erklärungen folgendermaßen zu retten versucht: ἀπρεπὲς δοκεῖ καταλαµβάνεσθαι κιθαρίζοντα. λύεται δ' ἐκ τοῦ καιροῦ· (1) ἐν γὰρ νυκτὶ οὐκ εὐπρεπέστερον ἄλλως καταλαµβάνεται. γυµνάζεσθαι µὲν γὰρ τῷ σώµατι οὐκ ἦν τότε· κοιµώµενος δὲ ἢ παννυχίζων ἀπρεπέστερον ηὑρίσκετο. (2) οἰκεῖον τῷ ἥρωι νυκτὸς οὔσης γυµνάζεσθαι µᾶλλον τὰ µουσικά, ἀλλὰ µὴ διαπαννυχίζειν· παραµυθία γὰρ ταῦτα θυµοῦ καὶ λύπης. (2a) ἔστι δὲ νέος καὶ φιλόµουσος καὶ λάφυρον ἔχων τὴν κιθάραν, (2b) καὶ οὐ θηλυδριώδη µέλη ἀλλὰ κλέα ἀνδρῶν ᾄδει. (3) ἢ οἰόµενος ἥξειν αὐτοὺς σοβαρεύεται. καλῶς δὲ ἀπούσης τῆς ἐρωµένης ᾄδει, ὅπως µὴ δοκοίη κωµάζειν. (4) ἢ ὅτι πεφρόντικε µὲν τῆς τῶν Ἑλλήνων ἀσφαλείας, προσποιεῖται δὲ καταφρονεῖν· [...]. Unpassend erscheint es, dass er beim Leierspiel angetroffen wurde. Das lässt sich vom Zeitpunkt her lösen: (1) In der Nacht kann man nicht auf andere Weise passender angetroffen werden. Körperliche Ertüchtigung war da nicht möglich. Und es wäre unpassender gewesen, hätte man ihn beim Feiern oder beim Durchwachen der Nacht angetroffen. (2) Es ist passend für den Heroen in der Nacht musische Übungen zu betreiben, aber nicht die Nacht durchzuwachen: dies ist nämlich Trost für das Herz auch bei Trauer. (2a) Er ist aber jung und musisch interessiert, außerdem hat er als Beute eine Leier: (2b) und er singt nicht weibische Lieder, sondern Ruhmestaten von Männern. (3) Oder: weil er glaubt, dass sie kommen werden, schneidet er auf. Gut aber, dass er singt, während die Geliebte abwesend ist, damit er nicht zu feiern scheint. (4) Oder: weil er an die Unsicherheit der Griechen denkt, gibt er Verachtung vor.
In der Achilleis wird die musische Seite seiner Erziehung an der bereits erwähnten Stelle thematisiert, wenn Chiron an Achill die Leier übergibt. Im zweiten Buch wird Achill in seiner Kindheitserzählung ebenfalls dieses Detail seiner umfassenden Erziehung bei Chiron erwähnen (2.157f.). Allerdings findet sich in der Achilleis ebenso etwas, was man m. E. als ironische Spiegelungen solcher auf Anstand und Wahrscheinlichkeit fokussierten Kommentare deuten kann, wobei Ironie hier im liebevoll-spielerischen, nicht destruktiven Sinne gemeint sei.47 Auf Skyros, in sie befassen sich mit sachlichen Widersprüchen, welche schon aufmerksame Beobachter des 5. Jh. entdeckt hatten. Die Lösungen des Porphyrios weisen eine gewisse Gleichförmigkeit auf: obenan steht der aristarchische Grundsatz, Homer aus Homer zu erklären [...]. Die einzelnen Möglichkeiten des Verständnisses ordnen sich den Begriffen ἐκ τῆς λέξεως, ἐκ τοῦ ἔθους, ἐκ τοῦ καιροῦ, ἀπὸ µηχανῆς unter, auch spielen psychologische Argumente eine nicht unwesentliche Rolle [...]. Alle diese Begriffe sind aristotelisch: die Lösungswege, die Porphyrios beschreitet, unterscheiden sich kaum von denjenigen, die Aristoteles im 25. Kapitel der Poetik beschreibt.“ 47 Für einen Überblick über die verschiedenen Konzepte von Ironie (εἰρωνεία, rhetorische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie) vgl. Heckel 2009. Treffend bemerkt Heckel p. 21f., dass die romantische Ironie nicht ausschließlich auf die entsprechende Epoche begrenzt werden könne, sondern im Sinne einer „Fiktionsironie“ auch in antiken Texten zu finden sei. Neben der Alten Komödie nennt Heckel auch Ovid als Beispiele. Statius’ Umgang mit Homer und der Homerkommentierung könnte man auch diesem Typus der Fiktionsironie zuordnen, bei der für den wissenden Leser der Kunstcharakter des Kunstwerkes hervortritt.
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Deidamias Nähe, greift Achill ebenfalls zur Leier, allerdings in ganz anderer Weise als in der Ilias (A. 1.570–576): nunc nimius lateri non evitantis inhaeret, nunc levibus sertis, lapsis nunc sponte canistris, nunc thyrso parcente ferit, modo dulcia notae fila lyrae tenuesque modos et carmina monstrat Chironis ducitque manum digitosque sonanti infringit citharae, nunc occupat ora canentis et ligat amplexus et mille per oscula laudat.
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Bald hängt er allzu sehr an ihrer Seite, die ihm nicht aus dem Weg geht, bald bewirft er sie mit leichten Kränzen, bald mit absichtlich fallengelassenen Körbchen, bald mit zartem Thyrsos, bald zeigt er ihr die süßen Saiten der bekannten Leier, sanfte Weisen und Gesänge Chirons und führt ihre Hand, schlägt ihre48 Finger an die klingende Leier; bald belegt er den Mund der Singenden, flicht Umarmungen und lobt sie mit tausend Küssen.
Hier ist Achill der Lehrer, der mithilfe seiner bei Chiron erworbenen Kenntnisse seine Annäherungsversuche an Deidamia unternimmt. Hatten die Kommentatoren noch an Homer gelobt, dass er keine amourösen Skyros-Abenteuer hat und, wenn er Achill singend zeigt, so doch in Abwesenheit einer Frau und auch nicht über unmännliche Themen, so kehrt Statius dies in seiner Darstellung um: Es werden zwar noch Chirons männliche Gesänge dargebracht, aber nicht nur, sondern auch sanfte Lieder (tenues modos); eine Frau ist darüber hinaus nicht nur anwesend, sondern sie wird auch noch von Achill im Leierspiel unterrichtet! Achill tut hier genau das, was ihm von der Homerkommentierung im Vergleich zu Paris explizit zu seiner Rettung abgesprochen wird:49 Hektors Beschimpfung, dass Paris im Kampf mit Menelaos seine Leier und die Gaben der Aphrodite nichts nützen würden (Il. 3.54), kommentiert ein Scholion durch einen vorsorglich auf Ilias 9 blickenden Kontrast zum Sänger Achill: ἡ ἐπὶ πορνείᾳ πρὸς χάριν Ἀφροδίτης, οὐ Μουσῶν διδοµένη. ἡ δὲ Ἀχιλλέως κιθάρα καὶ τὸ εἶδος ἐνάρετον. πᾶν δὲ σωµατικὸν πλεονέκτηµα δίχα ψυχικῆς ἀρετῆς ἄχρειόν ἐστι· διὸ καὶ Ἀφροδίτης αὐτά φησι, τὸ δὲ ἄλλο θεῶν. (Schol. bT Il. 3.54b ex.) Die Leier, die man bei unzüchtigen Handlungen spielt, ist zur Freude der Aphrodite, nicht der Musen gegeben. Achills Leier aber ist auch von der Art her tugendhaft. Jeder physische Vorteil ist ohne seelische Tugend nutzlos. Darum sagt er, dass diese [Gaben] Aphrodites sind, das andere aber von den Göttern.
Das Scholion möchte eine mögliche Parallelisierung von Paris und Achill gewissermaßen als vorweggenommenen Einwand gleich unterlaufen. Demgegenüber scheut Statius in der Achilleis die Parallelisierung beider Figuren gerade nicht und macht sie durch eine gemeinsame Beschreibung ihrer Handlung sogar augenfällig: Beide agieren gleichermaßen blande, verführerisch (Paris in 1.21, Achill in 1.567).50 48 So ad loc. Dilke, Méheust, Ripoll und Nuzzo: vgl. monstrat in 573! 49 Dieser Kontrast ist zuvor, wie Jolivet 1999 zeigt, bereits von Ovid für Her. 3 genutzt worden! 50 Zu Parallelen zwischen Paris und Achill vgl. Heslin 2005, 175f. (zu A. 2.78–83). Die Annäherung Achills an die Charakterisierung des elegischen Liebhabers (s.o. Fn. 37) bewirkt
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Die Spitze der Ironie scheint mir allerdings zu sein, dass Achill die Leier, ganz wie es die beiden ersten Scholien forderten, nicht mitgenommen haben kann, sondern auf Skyros vorgefunden haben muss. Aber dies war keine freiwillige Entscheidung, sondern im nächtlichen Schlaf wurde er ja von seiner Mutter von Chiron entführt und nach Skyros gebracht (1.228–230)! Als er dann auf Skyros eine Leier entdeckt, so dürfen wir schließen, greift er musisch, wie er ist, zu dieser, um sein Ziel zu erreichen. An dieser Stelle können wir sogar einen Bogen zur eingangs zitierten Silve 4.4 schlagen: Als ein Argument für das otium wird u.a. Achill als Exempel vorgebracht (4.4.35f.): talis cantata Briseide venit Achilles acrior et positis erupit in Hectora plectris. So kam, nachdem er Briseis besungen hatte, Achill energischer [zurück in den Kampf] und brach gegen Hektor los, nachdem er das Plektron abgelegt hatte.
Achills Thema ist in Statius’ Exempel nicht mehr der Ruhm der Männer, sondern Briseis – so darf man sich auch den Achill der Achilleis in der nicht existenten Fortsetzung vorstellen, wenn er sich vor Troja befindet. Das – nebenbei bemerkt – scheint mir eine Vorausdeutung auf die weitere Konzeption der Achilleis zu sein, die ja am Ende eben dieser Silve in den Blick genommen wird, wie wir zu Anfang sahen. 6. NICHT-IRONISIERENDE BEZÜGE ZUR ANTIKEN HOMERKOMMENTIERUNG Bisher ist von einer eher ironischen Bezugnahme auf antike Homerinterpretationen die Rede gewesen. Doch scheinen mir zumindest drei Beispiele für eine ‚seriösere‘ Spiegelung antiker Homerphilologie auszumachen. Hierin dürfte er sich dem Umgang mit der antiken Homerkommentierung annähern, wie ihn SchmitNeuerburg für Vergils Aeneis umrissen hat: Wenn er [Vergil] Ilias und Odyssee Homers übertreffen, die hieraus resultierenden Umformungen aber – dem Wesen literarischer aemulatio entsprechend – erkannt wissen wollte, so war er mit dem gängigen Homerverständnis seiner Zeitgenossen konfrontiert und hatte auf dieses Bezug zu nehmen; so ist nicht nur das epische Modell, sondern auch seine literarische Rezeption zu berücksichtigen, wenn angenommen wird, dass die Homerimitation Vergils kein Selbstzweck war, der Dichter vielmehr Anspielungen auf das homerische Modell dazu 51 nutzte, eigene Ideen und Vorstellungen zu verdeutlichen. Gerade hier dürfte sich die Eigenständigkeit Vergils als eines Dichters zeigen, der auch außerhalb der Homerexegese die gelehrten Bestrebungen des lebhaften literarischen Betriebs natürlich auch eine Annäherung an Paris als einen prototypischen Vertreter eines elegischen Liebhabers (vgl. z. B. die Prominenz des Paris als Exempel bei Ov. Am. 1.10,1f.; Ars 1.54/247, 2.5f./360, 3.254; Rem. Am. 65/457/573/775; Her. 5/16–17; Prop. 2.3.37; 2.15.13f.; 3.8.29f.). 51 Schmit-Neuerburg 1999, 4.
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seiner Zeit nachweislich völlig geteilt und ihre Erträge genutzt hat, um sie dann im Rahmen 52 eines ‚agonalen Wettstreits‘ selbstständig weiterzuentwickeln.
Kommen wir also zum ersten dieser drei Beispiele. Am Anfang der Achilleis unterhalten sich nach ihrer Ankunft Thetis und Chiron über den noch abwesenden Achill; dessen Auftritt, sein erster im Werk, wird Chirons Rede zum Abbruch bringen (A. 1.126–158). Wir finden hier eine parallele Konstruktion zur Odyssee. Dort kommt im fünften Buch Hermes nach einer Götterversammlung zu Kalypso, damit diese den bei ihr weilenden Odysseus entlasse. Als Hermes auf Kalypso trifft, ist Odysseus abwesend am Strand (Od. 5.81–84); sein erster Auftritt im Werk erfolgt, als Kalypso nach dem Gespräch mit Hermes Odysseus aufsucht (Od. 5.150). In einem Scholion wird dies, wie folgt, kommentiert: „Es hätten sich nämlich nicht in Anwesenheit des Mannes die Götter in unverhüllter Weise miteinander unterhalten können.“ (οὐ γὰρ ἔδει περὶ τοῦ παρόντος τοῦ ἀνδρὸς ἀπερικαλύπτως θεοὺς ἀλλήλοις διαλέγεσθαι, Schol. Od. 5.81, sub fine). So wie Hermes und Kalypso sich über den abwesenden Odysseus in unverhüllter Weise unterhalten können (5.85–147), so tun dies auch Thetis und Chiron (Α. 1.127–158): Thetis bringt ihren Vorwand vor, unter dem sie Achill mitnehmen möchte; Chiron berichtet von der ungeheuren Kraft Achills und seiner Entwicklung. Beides wäre in Gegenwart Achills schlecht möglich. Allerdings übergeht das Scholion eine dramatische Komponente, die für die Odyssee und in besonderem Maße für die Achilleis in Anschlag gebracht werden kann. Denn durch Chirons Äußerungen wird eine Erwartung und Spannung auf den ersten Auftritt Achills aufgebaut, dessen Auftauchen auch durch die Aposiopese wesentlich eindrucksvoller ist, als wenn er dort schon wie Chiron von Thetis angetroffen worden wäre. Einen verlagerten Auftritt des titelgebenden Haupthelden hat nicht nur die Achilleis mit ihrer Thetis-Handlung, sondern auch die Odyssee, bei der allerdings nicht nur knapp 160 Verse vergehen,53 bis Odysseus in Erscheinung tritt, sondern mehr als vier Bücher, also ein Sechstel des gesamten Werkes. Genau dieses Charakteristikum dürfte auch den Ausschlag dafür gegeben haben, dass die Verzögerung des Auftritts als dramatische Komponente innerhalb des fünften Buches keine Rolle mehr für das Scholion gespielt hat. Auch generell weist die Achilleis in den großen Handlungslinien eine so große Nähe zur Odyssee auf, dass man geradezu von einer Odyssee Achills sprechen könnte: Seine Liebschaft mit einer Frau, die sich auf einer Insel fern vom trojanischen Krieg abspielt,54 erinnert nicht von ungefähr an Odysseus’ Aufenthalt bei den Phaiaken und die Frauenfiguren der Odyssee Nausikaa, Kirke und Kalypso. Eine weitere Parallele stellt die Tötung der Freier im 22. Buch dar, durch die Odysseus nach dem Durchlauf vieler Stadien vom Schiffbrüchigen und verkleide52 Schmit-Neuerburg 1999, 353f. 53 Allerdings stellen 160 ein Sechstel von 960 Versen dar. Zu sog. stichometrischen Anspielungen s.o. Fn. 46. 54 Zur Darstellung von Skyros als literarisch imaginierter Insel und elegischer Gegenwelt vgl. Ripoll 2012.
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ten Bettler seine epische Konstitution zurückerhält. Denn nach dem Verlust der Frauenkleider (A. 1.876–885) sieht der Leser Achill am Anfang des zweiten Buches der Achilleis als epischen Helden seine Reise antreten (2.5–22).55 Mit Telemach fokussiert Homer in den ersten vier Büchern auf einen Heros in der Entwicklung, eine Perspektive die derjenigen auf Achill bei Statius vergleichbar ist.56 Doch nicht nur in diesen strukturellen und motivischen Parallelen ist der homerische Odysseus in der Achilleis präsent, er tritt auch selbst als Charakter auf, es wird auf seine zukünftige Odyssee vorausgewiesen (1.94) und seine Charakterdarstellung ist mit derjenigen Homers kompatibel (Betonung von Klugheit, Eloquenz, Voraussicht und Listigkeit, 1.542/698/718; 2.30f./85).57 Diese Orientierung an der Odyssee offenbart innerhalb des hier gewählten Rahmens eine sinntragende Beziehungsebene: Homer lasse, so die antike Kommentierung, wie wir gesehen haben, Lücken in der Ilias, die er in seinem zweiten Werk, der Odyssee, schließe. In analoger Weise impersoniert Statius in seinem zweiten Epos, das zugleich nach der Ilias ein zweites Achill-Epos ist, den lückenfüllenden Homer der Odyssee – in dieser Logik kann man das, was in der Ilias nicht über Achill gesagt wird, also nur in Odyssee-artiger Weise über ihn sagen. Für die letzten beiden Beispiele wenden wir uns dem Ende des ersten Buches der Achilleis zu. Zunächst kann ich auf eine Überlegung des schon zitierten Juhnke zurückgreifen. Kurz vor Ende des ersten Buches markiert Vers 926, in dem die Verbindung der beiden Liebenden Achill und Deidamia berichtet wird, einen Szenenschluss: nox conscia iungit amantes, heißt es dort. Mit Zweifeln verweist Juhnke auf das von den Homerkommentatoren Aristophanes und Aristarch auf Vers 296 im 23. Buch gesetzt Ende der Odyssee. Dort heißt es: „Sie aber [Odysseus und Penelope] gelangten glücklich zur Stätte des alten Bettes.“ (οἱ µὲν ἔπειτα/ἀσπάσιοι λέκτροιο παλαιοῦ θεσµὸν ἵκοντο, 23.295f.).58 Die Handlung der Odyssee endet, so die Logik der beiden Kommentatoren, mit dem Zusammenfinden der Getrennten.59 Das Ziel des Heimkommens ist erreicht, ebenso ist mit 926 das Ziel der Skyros-Handlung erreicht, denn die Heirat ist das offensichtliche En55 Die Enttarnung des Odysseus ist nicht nur eine Aufdeckung der Identität, sondern, wie bei Statius’ Achill, eine Beendigung einer unmännlichen Verkleidung bzw. Verwandlung: Nach seiner Ankunft auf Ithaka verwandelt Athene Odysseus in diesen alten Bettler (Od. 13.430– 438). Die Rückverwandlung erfolgt schrittweise: Am Anfang des 22. Buches entblößt sich Odysseus vor dem Kampf gegen die Freier von seinen Lumpen (Od. 22.1), im 23. Buch wird er nach seiner ersten Begegnung mit Penelope gewaschen und von Athene wieder verschönert (Od. 23.153–163). 56 Vgl. das Zitat von McAuley 2010 in Fn. 66. 57 Die Relevanz der Odyssee hat besondere konzeptionelle Gründe, denen hier nicht nachgegangen wird: vgl. dazu Bitto 2016, 57–66 und 143f. 58 Juhnke 1972, 170, Fn. 496. Vgl. Schol. zu Od. 23.296 M.V.Vind.: Ἀριστοφάνης δὲ καὶ Ἀρίσταρχος πέρας τῆς Ὀδυσσείας τοῦτο ποιοῦνται. bzw. 296 H.M.Q.: τοῦτο τέλος τῆς Ὀδυσσείας φησὶν Ἀρίσταρχος καὶ Ἀριστοφάνης. 59 Gegen die traditionelle Auffassung, dass mit πέρας bzw. τέλος das Ende des Werkes gemeint sei und dementsprechend alles Folgende als spätere Zutat zu sehen sei, hat Erbse 1972, 166– 177 ausführlich und überzeugend argumentiert. Vielmehr sei, so wie oben auch angedeutet, das Ziel der Handlung gemeint.
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de für den versteckten Achill, denn nur als Mann kann er heiraten, die Tarnung ist also definitiv beendet, tandemque retectum/foedus heißt es dementsprechend in 925f. Als pointiertes Ende erscheint diese Verbindung auch vor dem Hintergrund der bereits erwähnten60 elegischen Stilisierung Achills: Eine durch Heirat legalisierte Beziehung dürfte das Ende der elegischen Liebschaft bedeuten.61 Blickt man unter diesen Vorzeichen retrospektiv auf die Odyssee erscheint Odysseus als exclusus amator, der in Buch 23 endlich das ersehnte Ziel erreicht und damit die elegische Handlung ans Ende bringt. In diesem Sinne würde Statius’ Achill ein re-enactment eines solchen Odysseus darstellen. Für eine solche literarhistorisch anachronistische Deutung Homers in elegischen Konstellationen findet man bspw. bei Ovid einen Vorläufer.62 Eine Bezugnahme auf die Odyssee-Kommentierung scheint mir dann gar nicht so sehr zweifelhaft, sondern eher gut begründbar. Denn in der Achilleis endet zwar im beschriebenen Sinne ein Handlungsstrang, zugleich folgt wie in der Odyssee das Gespräch zwischen beiden Liebenden. Während Odysseus von seinen Abenteuern berichtet, äußert Deidamia in einer längeren Rede ihre Sorgen und Zweifel angesichts der bevorstehenden Teilnahme Achills am trojanischen Krieg, auch an seiner ehelichen Treue. So ist ein solcher Szenenschluss Ende und zugleich doch nicht Ende, in Achilleis und in Odyssee. In der Odyssee wird nicht mehr viel folgen, nur ein und ein halbes Buch – die Achilleis hingegen hätte wohl noch 11 weitere Bücher umfasst.63 Allerdings ist auch für Odysseus noch nicht das Ende der Reisen erreicht, wenn man Teiresias’ Prophezeiung im 11. Buch ernst nimmt, die von Odysseus im 23. Buch kurz vor der gemeinsamen Nacht mit Penelope ihr gegenüber wiederholt wird. Denn es wartet noch eine Entsühnung Poseidons auf ihn, wofür er so weit reisen müsse, bis er zu Menschen käme, die so weit vom Meer entfernt wohnten, dass sie ein Ruder, das er über der Schulter trägt, für eine Worfelschaufel hielten.64 Doch kehren wir zurück zur Achilleis! Das Ende des ersten Buches bilden Achills indirekt wiedergegebene Versprechungen, die Deidamias Befürchtungen 60 S.o. 4. sub fine. 61 Vgl. z. B. Prop. 2.7.1–11 für die elegische Liebe vs. eheliche Liebe. Eine elegische Note erhalten diese Verse dennoch durch das Attribut der Nacht: conscia (vgl. z. B. Prop. 1,10, 1f.; 3,15,7f.; Ov. Am. 1.4.50; 2.5.34; 2.8.8; Ars 1.354; 2.703; 3.625). Skyros war zuvor schon von Calchas verächtlich als conscia tellus (1.532) bezeichnet worden, die Achill vor seiner Kriegsbeteiligung schützend beherberge. Als Thetis sieht, wie sich ihr Sohn in Deidamia verliebt, und sie dies nutzt, um ihn zum Aufenthalt auf Skyros zu überzeugen, wird sie conscia mater (1.318) genannt. Diese elegische Note leitet dann subtil auch zur folgenden Passage, dem Abschied von Deidamia, über, der mit seinen Heroides-Anklängen ebenfalls eine elegische Färbung aufweist, vgl. dazu Rosati 1994, 43–53; daran anknüpfend: Heslin 2005, 141–145. 62 Vgl. Trist. 2.371f./375f.: Ilias ipsa quid est aliud nisi adultera, de qua/inter amatorem pugna virumque fuit? [...] aut quid Odyssea est nisi femina propter amorem,/dum vir abest, multis una petita viris? 63 Zur Frage nach der Fortsetzung und Gesamtkonzeption vgl. Bitto 2016, 175–177, sowie 177– 183 für einen Forschungsüberblick. 64 Od. 11.121–130 und 23.267–277.
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beschwichtigen sollen. Er verspricht neben seiner Treue, bei seiner Rückkehr Dienerinnen und Schätze mitzubringen.65 Mit dem letzten Vers des Buches wird auch der mythologisch etwas schwerfällige Leser erinnert, dass es zu einer solchen Rückkehr nicht mehr kommen wird: inrita ventosae rapiebant verba procellae (Stürmische Winde raubten diese Worte unerfüllt; 1.960). Statius spielt hier vielleicht auf eine Technik an, die von einem Ilias-Scholion identifiziert worden ist. Als im 17. Buch der Ilias Patrokolos bereits getötet worden ist, doch Achill davon noch nichts erfahren hat, ist in mehreren Versen von Achills Hoffnungen die Rede: Dieser hofft auf die Rückkehr seines Freundes, auf eine gemeinsame Eroberung Trojas, die der Erzähler als vergebliche Hoffnungen kennzeichnet (Il. 17.401–409). Ein Scholion zur Stelle erklärt Folgendes: εἴωθε συµπάθειαν ἐγείρειν διὰ τούτων, ἐπὰν οἱ τὰ µέγιστα δυστυχοῦντες ἐν ἀγνοίᾳ τῶν κακῶν εἶεν καὶ ἐπὶ φιλανθρωποτέρων φέρωνται ἐλπίδων, ὡς Ἀνδροµάχη καὶ Δόλων καὶ νῦν Ἀχιλλεύς. (Schol. bT Il. 17.401–2 ex.) Er pflegt durch diese Dinge Mitleid zu wecken, wenn diejenigen, die großes Unglück erleiden, in Unwissenheit der [kommenden] Übel sind und angenehmere Hoffnungen hegen, wie Andromache [22.437–446] und Dolon [10.350], und hier Achill.
Durch die Hoffnungen Achills auf Rückkehr und Beute am Ende des ersten Buches der Achilleis wird eine Brücke zum Achill der Ilias geschlagen: Im zweiten Buch wird Achill sich auf den Weg nach Troja machen, um in der Welt der Ilias anzukommen. Seine Hoffnungen stellen dabei trotz aller bereits besprochenen Unterschiede zwischen Achilleis- und Ilias-Charakter ein verbindendes Band mythenchronologischer kontra literarhistorischer Ebene dar. Es ist ein anderer, aber kein völlig veränderter Achill, den uns Statius präsentiert.66 7. FAZIT Mit diesen Überlegungen zum Buchende möchte ich auch selbst zum Ende kommen. Juhnke hat in den eingangs zitierten Worten (s.o. 1.) die Unabhängigkeit des 65 A. 1.956–959: talia dicentem non ipse inmotus Achilles/solatur iuratque fidem iurataque fletu/spondet et ingentis famulas captumque reversus/Ilion et Phrygiae promittit munera gazae. 66 Zur Bedeutung der Entwicklung Achills vgl. auch McAuley 2010, 57: „Indeed, it would be a mistake to view the whole previous narrative as simply building towards this moment of full masculine embodiment [sc. bei der Enttarnung durch Odysseus]. For surely it is the journey itself, rather than its telos, that undermines and reconfigures our notions of masculinity, to the extent that when Achilles does become the man recognisable from Homeric epic, he is nonetheless entirely different: epic heroism itself has undergone a transformation. Homer will never be the same again.“ Zum Verhältnis zur epischen Tradition McAuley 2016, 367: „[...] the generic play and metamorphic mode allows Thetis a certain liberty to try out ‚what is left over‘ in excess of the Homeric masterplot – to temporarily act the author and bend the gender of the boy-hero [...].“ Zum statianischen Achillbild in Relation zur Rhetorik der Virilität bei Quintilian vgl. Barchiesi 2005.
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Statius herausgestellt: eine Unabhängigkeit, die er über den selbstständigen Rückgriff auf Homer gegenüber Vergil bewahrt, aber auch eine Unabhängigkeit, die im freien Umgang mit homerischen Vorbildern besteht. Ähnliches lässt sich m. E. auch am Umgang mit der philologischen Beschäftigung zu Homer beobachten. Literarische Techniken wie die Gestaltung vom ersten Auftauchen eines Haupthelden, eines Szenenschlusses oder der psychologisch motivierten Emotionalisierung des Lesers, die von den Kommentatoren bei Homer ausgemacht werden, finden sich in der Achilleis wieder. Es wird bei solchen Parallelen immer der Einwand möglich sein, dass doch unabhängig voneinander zwei Betrachter eines Textes auf den gleichen Gedanken bzw. die gleiche Interpretation kommen können. Erschwerend kommt im Falle des Statius hinzu, dass bereits eine elegisierende Achill-Tradition ihm vorausgeht, deren Spuren in der Achilleis vielfach zu finden sind. Der prominente Homer-Bezug im Proöm allerdings macht den Leser explizit auf diesen als wichtigen poetologischen Referenzpunkt aufmerksam, was natürlich auch im generischen Rahmen von Bedeutung ist: Hier kommt dann zum Tragen, was der bereits zitierte Schmit-Neuerburg festgehalten hat, dass ein Dichter dieser Zeit bewusst an das allgemeine Homerverständnis seiner Leser anknüpfen möchte,67 ja, so muss man hinzufügen, durch seine eigene Schulbildung – und es sei daran erinnert, dass Statius’ Vater Dichter und Grammatiker war (s.o. 2.) – selbst Teil dieser Interpretationsgemeinschaft ist.68 Neben diesen unironischen Bezugnahmen gibt es jedoch eine, wie mir scheint, ironisch zugespitzte Neustilisierung Achills, die sich von der konventionellen Homerinterpretation dezidiert absetzt bzw. den latenten Konflikt in der moralischen Deutung Achills, der in den Kommentaren zu beobachten ist (s.o. 4.), explizit ausspielt. Die Achilleis setzt somit die Homerkommentierung voraus, um richtig gewürdigt werden zu können. Statius demonstriert aber mithilfe der Homerphilologie seine Unabhängigkeit von Homer bzw. dem Homerbild der Scholien. Außerdem zeugt sein Rekurs auf die alexandrinische Homerexegese von einem spielerischeren Umgang als dies bei Vergil der Fall ist. Schmit-Neuerburg69 hat viele Beispiele für die Bewahrung des decorum in alexandrinischer Nachfolge in der Aeneis vorbringen können. Bei Statius scheint genau das Umgekehrte der 67 Schmit-Neuerburg 1999, 4/353f. (s.o. 6.). Vgl. auch Barchiesi 2015, 34: „The competence of the audience is therefore a constituent part of the meaning [...].“ 68 Was Schmit-Neuerburg 1999, 4 als „gängige[s] Homerverständnis“ bezeichnet, muss vielleicht insofern konkretisiert werden, als dass es sich nicht zwangsläufig um eine monolithische Interpretationstradition handeln muss. Neben einem gewissen philologischen Mainstream, der nicht nur in Kommentaren zum Ausdruck kommt, sondern auch in der poetologischen Literatur rezipiert wird (z. B. Horaz, Ars 120–122) und der einen hyperepischen Achill als Ideal propagiert, stehen andere Deutungsmöglichkeiten für einen kaiserzeitlichen Leser z. B. in Form der Liebeselegie zur Verfügung. Auch die Homerkommentierung selbst ist, bei aller Tendenz, nicht monolithisch in diesem Punkt: Es fehlt, wie oben angedeutet (s.o. 4.), z. B. nicht an Scholien, die der µῆνις des Achill eine erotische Konnotation verleihen. 69 Schmit-Neuerburg 1999.
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Fall zu sein: Er gewinnt Ansätze für Überschreitung dieses decorum in der Gestaltung seines Achill gerade aus der Kommentierung. Zugleich wird das decorum nicht vollständig gebrochen, sondern in eine Neukonzeption des Helden integriert. Wichtig ist dabei der Entwicklungsgedanke: Die Ilias präsentiert mit Achill einen fertig entwickelten, von der Exegese als besonders episch normiert gedeuteten Charakter; die Achilleis hingegen einen reifenden Achill, der mehr Facetten zeigen kann, also im Sinne des Proöms der ganze Held, omnis heros, ist. Kürzlich hat Tom Phillips bei der Diskussion der Schlussverse von Horaz’ dreizehnter Epode (Ep. 13.15–18) gezeigt, dass dessen Achilldarstellung auch auf die Homerkommentierung zurückgreift.70 Zugleich hat er dabei betont, dass dies nicht der Präsentation philologischer Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen diene, sondern ein integraler Bestandteil der symposiastischen Persona sei. Er verweist dabei auf die reale Symposienpraxis, ebenso wie auf literarische Symposien, bei denen das Zitieren und genaue Argumentieren mit dem dichterischem Text einen wichtigen Platz einnahm, und schlussfolgert: „Therefore, while the poem’s engagements with the Iliad have generic force, they also help to articulate Horace’s poetic role as symposiarch.“71 Zwar modelliert sich Statius nicht als lyrischer Symposiarch, aber mutatis mutandis ist für die Rezeption der Homerkommentierung in der Achilleis Ähnliches in Anschlag zu bringen: Teil einer (post)hellenistischen epischen Persona ist es (s.o. 2.), auch die Gelehrsamkeit zum Element der epischen Matrix zu machen, genauer gesagt, auch die philologische Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition bzw. die Rezeption dieser philologischen Auseinandersetzung. Er betätigt sich nicht selbst als Philologe, genauso wenig wie alle Teilnehmer eines Symposium, bei dem literarische Fragen behandelt werden, dies tun. Er betreibt auch keine Doppelinszenierung als Grammatiker und Dichter, wie es sein Vater tat bzw. er es in Silv. 5.3 für seinen Vater tut. Statius’ Image als professioneller Dichter umfasst eine Selbstdarstellung als maximal kompetenter Poet, der auch die Extreme beherrscht, sowohl die spontane literarische Improvisation (Silvae) als auch die sorgfältige und langwierige poetische Komposition (Thebais, Achilleis).72 Beleg und Gradmesser für letztere ist der produktive Umgang mit der philologischen Literatur, der in der Achilleis in absoluter Souveränität zwischen Nachfolge und ironischer Umkehr dem Leser vor Augen geführt wird.73
70 Phillips 2015. Im Blick sind dabei insbesondere die unter 5. behandelten Kommentare. 71 Phillips 2015, 96. 72 Bereits in der Praefatio zum ersten Silven-Buch wird die Thebais als großes Werk den Silven als Parerga gegenübergestellt, implizit also seine Fähigkeit für beides annonciert (Silv. 1 praef. 1–15). 73 Ein vergleichbarer Fall scheint mir in Silv. 1.1.91–94 mit Bezug auf Pindar und die Pindarkommentierung vorzuliegen, worauf ich an anderer Stelle eingehen werde.
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II. LITERARISCHE INSZENIERUNGEN
TOD EINES KRITIKERS: ZUR ZOILOSANEKDOTE BEI VITRUV. 7 PRAEF. 8–9 UND IHREM NACHLEBEN IN DEN SATURNALIA DES MACROBIUS Philipp Weiß Kein Name verbindet sich enger mit der Tradition der antiken Homerkritik als derjenige des Zoilos von Amphipolis. In gewisser Hinsicht ein Gegenbild zur Positivfigur Aristarch,1 steht Zoilos bis heute repräsentativ für alle übelwollenden Beckmesser, die vermeintliche sachliche Fehler, ethische, d. h. die Charakterzeichnung betreffende Verstöße gegen das Plausibilitätspostulat, Mängel in der Handlungsmotivation oder auch sprachliche Schwächen in Ilias und Odyssee geißelten. Den hellenistischen Philologen war die Kritik dieses prototypischen ἐνστατικός – eine von Karl Lehrs wohl im Anschluss an Eustathios von Thessalonike populär gemachte Bezeichnung2 – Anlass und Ansporn, überzeugende Antworten und Lösungen auf die aufgeworfenen Fragen zu finden; das Wechselspiel von ζήτηµα und λύσις ‒ schon vorbereitet in den aristotelischen Ἀπορήµατα Ὁµηρικά ‒ etablierte sich fest im Methodenkanon der Alexandriner.3 Von Zoilos selbst ist wenig mehr erhalten geblieben als die 17 Fragmente aus seiner einst neun Bücher umfassenden Schrift Κατὰ τῆς Ὁµήρου ποιήσεως, der er in späterer Zeit seinen Beinamen Ὁµηροµάστιξ verdankte.4 Darüber hinaus finden sich biographische Notizen und gelegentliche Erwähnungen, diese freilich in nicht unbeträchtlichem Umfang. Mit dem Namen des Ὁµηροµάστιξ verband sich zumindest in einem Teil dieser Zeugnisse ein ganz bestimmtes Kritikerklischee, das bis weit in die Spätantike in verschiedenen Kontexten aufgerufen werden konnte und das dann auch generell die anmaßende Haltung eines Kritikers bzw. Grammatikers bezeichnete: Zoilos erscheint insbesondere als kynischer Lästerer gegen eine für göttlich-unfehlbar gehaltene Dichterautorität.
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Vgl. den Beitrag von Wytse Keulen in diesem Band. Vgl. Lehrs 1882, 197–221. Vgl. zuletzt Dubischar 2015, 563–565. Arist. poet. 25 gibt eine ‒ überlieferungsbedingt verunklärte ‒ Systematik möglicher λύσεις. Zu den Ἀπορήµατα Ὁµηρικά vgl. Hintenlang 1961 und Pfeiffer 1978, 95–97. Alle Testimonien und Fragmente gesammelt bei Friedländer 1895, 6–25 (s. a. FGrH 71); die Fragmente aus der Schrift Κατὰ τῆς Ὁµήρου ποιήσεως sind bequem zugänglich bei Gärtner 1978, 1545–1548 (s. a. FGrH 71 F 3–19). ‒ Zoilos’ Werk war nicht auf Homerkritik beschränkt, er verfasste auch historische und rhetorische Schriften, epideiktische Reden und kleinere Streitschriften; vgl. die Übersicht bei Gärtner 1978, 1536–1543.
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Die Ursprünge dieses Charakterbildes liegen weniger in den spärlichen biographischen Daten begründet, sondern resultieren aus einer ganz bestimmten Stilisierungsabsicht späterer Zeiten. Auffallend ist, dass die meisten der relevanten griechischen und lateinischen Zeugnisse in den römischen Kulturbereich verweisen (s. u.), die Genese des Zoilosbios also augenscheinlich einen – für die Bewertung zumindest eines Teilbereichs griechischer Gelehrsamkeit in Rom signifikanten – Aspekt von „Philologie auf zweiter Stufe“ in Rom ausmacht. An der biographisch kaum greifbaren Figur des Zoilos bildete sich ein Schema für die Wahrnehmung griechischer Literaturkritik aus, das bis in die Figurengestaltung einer Schrift wie der Saturnalia des Macrobius relevant wurde. Bevor daher im Folgenden die Rezeption des griechischen Kritikertypus anhand dieses konkreten spätantiken Textes schlaglichtartig beleuchtet wird, soll zunächst die Genese des Zoilosbios und insbesondere die Stilisierung dieser Figur zum Kyniker im Zentrum stehen. In Vitruvs Architekturtraktat werden am Ende der Zoilosanekdote in der Vorrede zum siebten Buch (Vitr. 7 praef. 8–9 = frg. 1 Friedländer) einige widersprüchliche Nachrichten über die Todesumstände des Kritikers referiert, ohne dass der Autor einer der umrissenen Varianten den Vorzug gäbe. Die Anekdote lautet im Kontext:5 insequentibus annis a Macedonia Zoilus, qui adoptavit cognomen, ut Homeromastix vocitaretur, Alexandriam venit suaque scripta contra Iliadem et Odyssean comparata regi recitavit. Ptolomaeus vero, cum animadvertisset poetarum parentem philologiaeque omnis ducem absentem vexari et, cuius ab cunctis gentibus scripta suspicerentur, ab eo vituperari, indignans nullum ei dedit responsum. Zoilus autem, cum diutius in regno fuisset, inopia pressum summisit ad regem postulans, ut aliquid sibi tribueretur. rex vero respondisse dicitur Homerum, qui ante annos mille decessisset, aevo perpetuo multa milia hominum pascere, item debere, qui meliore ingenio se profiteretur, non modo unum sed etiam plures alere posse. et ad summam mors eius ut parricidii damnati varie memoratur. alii enim scripserunt a Philadelpho esse in crucem fixum, nonnulli Chii lapides esse coniectos, alii Zmyrnae vivom in pyram coniectum. quorum utrum ei acciderit, merenti digna constitit poena; non enim aliter videtur promereri, qui citat eos, quorum responsum, quid senserint scribentes, non potest coram indicari. In den folgenden Jahren kam aus Makedonien Zoilos, der sich den Beinamen Homeromastix beilegte, nach Alexandria und las dem König seine Schriften vor, die er gegen Ilias und Odyssee verfasst hatte. Als aber Ptolemaios bemerkt hatte, dass der Vater der Dichter und führende Geist der ganzen Literatur abwesend hart angegriffen würde und er, dessen Werke von allen Völkern verehrt würden, von Zoilos kritisiert wurde, da würdigte er unwillig Zoilos keiner Antwort. Als aber Zoilos sich längere Zeit in dem Königreich aufgehalten hatte, schickte er heimlich zum König, er sei in drückende Not geraten, und begehrte eine Unterstützung. Der König soll jedoch geantwortet haben, Homer, der vor tausend Jahren gestorben sei, böte von jeher ununterbrochen vielen tausend Menschen Nahrung; daher müsste der, der vorgebe, besseren Geist zu besitzen, nicht nur einem Menschen, sondern sogar mehr Leuten Nahrung bieten können. Und kurz gesagt: Wie er, der wie wegen Vatermordes verurteilt worden ist, zu Tode gekommen ist, darüber gehen die Nachrichten auseinander. Einige nämlich haben geschrieben, er sei von Philadelphos gekreuzigt worden, einige, er sei in Chios gestei5
Vgl. zu den philologischen Anekdoten in den Vorworten von De architectura allgemein Fraser 1970.
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nigt worden, andere, er sei in Smyrna lebendigen Leibes auf den Scheiterhaufen geworfen worden. Was davon ihm zugestoßen sein mag, die Strafe war so, wie er sie verdiente. Nichts anderes nämlich scheint der zu verdienen, der diejenigen vor Gericht ruft, die sich nicht in eigener Person verteidigen und sagen können, was sie in ihren Schriften gemeint haben. (ÜS Fensterbusch).
Vitruv nennt hier drei mögliche Arten, wie Zoilos zu Tode gekommen sein könnte.6 Am einfachsten ist die Wahl der beiden alternativen Schauplätze zu erklären: Chios und Smyrna lassen sich unschwer als zwei der acht Ortschaften identifizieren, die in der Antike um die Ehre stritten, Homer hervorgebracht zu haben.7 Die genannten Hinrichtungsarten8 geben bei näherer Betrachtung schon mehr Rätsel auf: Die Kreuzigung ist eine im griechischen Kulturkreis äußerst seltene Form der Bestrafung, die nur bei Personen niedrigen Standes oder bei Sklaven vorgenommen wurde.9 Die Steinigung als Form der Lynchjustiz war eine ‒ in der Regel spontane ‒ Reaktion einer Stadtgemeinde auf einen Religionsfrevel, mit dem Ziel, das schädliche Miasma zu tilgen.10 Der Feuertod schließlich war in Griechenland völlig unüblich; die Römer wandten ihn nur gegen Unfreie und Personen niedrigen Standes an.11 Mit den gewählten Todesarten rücken demnach zwei Aspekte, religiöses Frevlertum und die niedrige soziale Stellung des Zoilos, in den Vordergrund – ohne dass Vitruv darauf aber eigens einginge.12 Was schließlich den konkreten Grund für die Todesstrafe anbelangt, so herrscht in dem kurzen Abschnitt wieder Unklarheit: Einleitend wird Zoilos’ Vergehen mit dem eines Verwandtenbzw. Vatermörders verglichen (ut parricidii damnati), ohne dass auch hier eine entsprechende Vorgeschichte Erwähnung fände. Im Schlusssatz scheint Vitruv dagegen Zoilos’ Hauptschuld darin zu sehen, dass er Homer angeklagt habe, ohne dass dieser die Möglichkeit zur Verteidigung gehabt hätte (non enim aliter videtur promereri qui citat eos quorum responsum, quid senserint scribentes, non potest coram indicari). Demnach hätte also das unfaire „Prozessverhalten“ des Kritikers die Todesstrafe nach sich gezogen (cum animadvertisset poetarum parentem philologiaeque omnis ducem absentem [!] vexari). Es stellt sich die Frage, ob sich auch die anderen Charaktermerkmale – Frevlertum und soziale Randstellung, die in den Strafformen zum Ausdruck kommen, und das Vergehen des Vatermordes – aufeinander beziehen lassen, ob die bei Vitruv genannten bzw. angedeuteten disparaten Figurenmerkmale also auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Dazu zunächst ein Vergleich mit einem ande6
Zur Plausibilität dieser historischen Fiktion und zur ‒ fiktiven ‒ historischen Datierung vgl. Gärtner 1978, 1534–1535. 7 Vgl. dazu etwa Hillgruber 1994, 84–87. 8 Vgl. allgemein Hyldahl / Salomonsen 1991. 9 Vgl. zusammenfassend Latte 1940 / 1968, 1606–1608 bzw. 400–403. 10 Vgl. Latte 1940 /1968, 1605 bzw. 399. 11 Vgl. zusammenfassend Hyldahl / Salomonsen 1991, 348. 12 Insbesondere was die soziale Stellung des Zoilos betrifft, macht Vitruv keine expliziten Angaben. Als Sklave wird er in der späteren Überlieferung bei Herakl. alleg. Hom. 14 = frg. 6 Friedländer (τὸ Θρᾳκικὸν ἀνδράποδον) gekennzeichnet; vgl. zur Datierung der Schrift um 100 n. Chr. Russell / Konstan 2005, XI.
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ren Grammatikerbios: Man hat bereits festgestellt, dass die von Vitruv berichteten Todesarten auffällige Parallelen in der biographischen Überlieferung über den Grammatiker und Homerkritiker Daphitas aus Telmessos (~ 2. Jhd. v. Chr.) haben.13 Strab. geogr. 14.1.39 = p. 647 Casaubon berichtet davon, dass Daphitas die Warnung des delphischen Orakels, er solle sich vor einem Θώραξ in acht nehmen, fehlgedeutet und zuletzt in der Stadt gleichen Namens ans Kreuz geschlagen wurde, weil er Distichen gegen die lokalen Herrscher verfasst habe. Eine andere Zeugnisgruppe spricht von einem Frevel gegen die Pythia, hier stirbt Daphitas durch Felssturz.14 Die beiden Vorwürfe, die man ihm machte ‒ Schmähsucht gegen Autoritäten und Frevel gegen die Götter ‒, fasst Suda δ 99 s. v. Δαφίδας prägnant zusammen: ἦν δὲ οὗτος λοιδορούµενος παντὶ καὶ µέχρις αὐτῶν µὴ φειδόµενος τῶν θεῶν. Bei seinem Tod wird ‒ zumindest in den Zeugnissen der zweiten Gruppe ‒ Gotteslästerung bzw. religiöser Frevel als Grund für die Bestrafung genannt. Die Strafen gelten dem Blasphemiker, der die Orakel missachtet bzw. dem politischen Spötter; sie haben aber keinerlei Verbindung zu seinen homerkritischen Schriften. Delikt und Hinrichtungsform erscheinen hier in plausiblerer Weise als bei Vitruv, wo der suggerierte Frevel unbestimmt bleibt, aufeinander bezogen. Bei Vitruv ist mit der Nennung der Strafen der Aspekt der Gotteslästerung unausgesprochen auf den Vorgang der Homerkritik übertragen. Derselbe Gedanke liegt auch den späteren Derivaten des Zoilosbios zugrunde, etwa wenn Galen den Ὁµηροµάστιξ neben Salmoneus stellt, einen prototypischen Frevler, der sich wie Zeus huldigen ließ: ἀλλ’ οὐκ ἀγαθὴν οὗτοί γε δόξαν ὑπελίποντο σφῶν αὐτῶν, οὐδὲ ζηλοῖ νοῦν ἔχων ἀνὴρ οὐδεὶς οὔτε τὸν Ὁµηροµάστιγα Ζωΐλον οὔτε τὸν παραπλῆγα Σαλµωνέα, καίτοι τοῖς µὲν φιλολοιδόροις ζηλωτὸς ὁ Ζωΐλος, τοῖς δ’ 13 Hinweis auf die Parallele bei Gärtner 1978, 1535–1536. ‒ Crusius 1901 datiert Daphitas ins 3. Jhd., Montanari 1997 ins 2. Jhd. v. Chr. Laut Suda δ 99 s. v. Δαφίδας [!] habe er in einer seiner Schriften Homer eines Irrtums beschuldigt, weil dieser die Athener gegen die Trojaner ziehen hat lassen (γεγραφὼς περὶ Ὁµήρου καὶ τῆς αὐτοῦ ποιήσεως ὅτι ἐψεύσατο· Ἀθηναῖοι γὰρ οὐκ ἐστράτευσαν ἐπὶ Ἴλιον). Vgl. zu Daphitas außerdem Fontenrose 1960, Braund 1982 und Weber 1998/1999. 14 Val. Max. 1.8 ext. 8 (Non inuitus huic subnecto Daphniten, ne quis ignoret quantum interfuerit cecinisse deorum laudes et numen obtrectasse. hic, cum eius studii esset cuius professores sophistae uocantur, ineptae et mordacis opinationis, Apollinem Delphis inridendi causa consuluit an equum inuenire posset, cum omnino nullum habuisset. cuius ex oraculo reddita uox est inuenturum equum, sed ut eo proturbatus periret. inde cum iocabundus quasi delusa sacrarum sortium fide reuerteretur, incidit in regem Attalum saepe numero a se contumeliosis dictis absentem lacessitum, eiusque iussu saxo, cui nomen erat Equi, praecipitatus ad deos usque cauillandos dementis animi iusta supplicia pependit.) und Suda δ 99 s. v. Δαφίδας, wo Religionsfrevel und politische Unbotmäßigkeit kombiniert erscheinen (καὶ Ἄτταλον µὲν τὸν βασιλέα Περγάµου διὰ τοῦτο ἔχειν αὐτῷ ἐπιβουλεύοντα. εἰς δὲ τὴν Πυθίαν ἐλθόντα ποτὲ σκώπτειν εἰς τὸ µαντεῖον καὶ ἐπιγελῶντα ἐρέσθαι, εἰ τὸν ἵππον εὑρήσει. χρησθῆναι δὲ αὐτῷ, εὑρήσειν ταχέως. εἶτα ἐκεῖνον διαθρυλῆσαι τοῦτο, ὅτι µηδὲ ἦν αὐτῷ ἵππος, µηδὲ ἀπώλετο. ἀναχωρήσαντα δὲ συλλαβόµενος Ἄτταλος ἐπέταξε κατακρηµνισθῆναι. ἐν ᾧ δὲ τόπῳ τοῦτο ἐγένετο, ἐκαλεῖτο Ἵππος ὁ τόπος. καὶ ἔγνω πρὸς τῷ θανάτῳ, µὴ ἐψεῦσθαι τὸ λόγιον. οὕτως οὖν ἐνυβρίσας κακῶς ἀπώλετο.); außerdem ohne Nennung der Todesursache Cic. fat. 5. ‒ Zur Strafform des Felssturzes vgl. Berneker 1971.
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ἱεροσύλοις ὁ Σαλµωνεύς.15 In der byzantinischen Vita wird Zoilos explizit wegen seiner Homerkritik von den skironischen Felsen gestürzt.16 Es ist demnach auch für Vitruvs Anekdote anzunehmen, dass die Homerkritik des Zoilos als eine Form des religiösen Frevels aufgefasst wird, der dann in den erwähnten Todesarten resultiert. Außerdem wird Zoilos bei Vitruv explizit des Verwandtenmords (parricidium) bezichtigt. Lässt sich auch hier eine Verbindung zur Homerkritik des Zoilos herstellen? Es bietet sich an, die Notiz auf das verbreitete Klischee vom „Vater Homer“ zu beziehen, gegen den sich Zoilos ‒ hier in der Rolle eines ungehorsamen Sohnes ‒ vergeht.17 Als „Vater“ wurde Homer bei Vitruv ja kurz zuvor schon bezeichnet, als von Ptolemaios’ Entrüstung darüber die Rede war, dass man dem „Vater der Dichter“ (poetarum parentem) Gewalt antue.18 Verwandtenmord konnte in der Antike nicht anders denn als Verstoß gegen die heiligste Ordnung der Natur gewertet werden, und es gab – sieht man von gelegentlich erwähnten Barbarensitten ab – nur eine philosophische Haltung in der antiken Welt, die ein derartiges Verhalten gebilligt hätte, nämlich diejenige der Kyniker. In der Politeia des Diogenes, des Antisthenesschülers und Hauptrepräsentanten der kynischen Sekte, fand sich sogar eine Stelle, nach der der Verzehr des Fleisches der Eltern erlaubt sei.19 Die christlichen Apologeten griffen eine solche Schauerdoktrin gerne auf, wie insbesondere aus Theophil. ad Autol. 3.5 = SSR V B 134 hervorgeht: Demnach hätten es Zeno, Diogenes und Kleanthes gebilligt, dass Kinder die Körper ihrer Eltern nach deren Tod verspeisten.20 Diogenes hätte das an Abscheulichkeit noch übertroffen, wenn er forderte, dass die Kinder nicht auf den Tod der Eltern warten, sondern sie gleich selbst opfern und dann verspeisen sollten (πρὸς τούτοις ἀθεωτέρα τις φωνὴ εὑρίσκεται, ἡ τοῦ Διογένους, διδάσκοντος τὰ τέκνα τοὺς ἑαυτῶν γονεῖς εἰς θυσίαν ἄγειν καὶ τούτους κατεσθίειν).21 Ein späteres Beispiel findet sich in der Vita des Peregrinus Proteus: Dem berüchtigten Kyniker wurde der Mord an seinem Vater vorgeworfen.22 Dass der Vatermörder selbstverständlich keine andere Strafe verdiene als den Tod, stellt bei Lukian übrigens der
15 Gal. meth. med. 1.3 = p. 18 Kühn = frg. 13 Friedländer. 16 Suda ζ 130 = frg. 19 Friedländer (Ζωΐλος, Ἀµφιπολίτης ..., ὃς ἐπεκλήθη Ὁµηροµάστιξ, ὅτι ἐπέσκωπτεν Ὅµηρον. διὸ αὐτὸν διώξαντες οἱ ἐν τῇ Ὀλυµπίᾳ κατὰ τῶν Σκιρωνίδων πετρῶν ἔρριψαν). 17 Vgl. z. B. Plin. nat. hist. 25.11 (primus doctrinarum et antiquitatis parens). 18 Vgl. Vitr. 7 praef. 8. 19 Diese Lehre ist in Philodems Schrift über die Stoiker (vgl. P. Herc. 155/339 col. XVI 20–24) bezeugt; vgl. Dorandi 1982, 102 u. 108. 20 Vgl. zu Zeno Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 3.207; 3.247f.; adv. math. 11.192–194; Diog. Laert. 7.121; 7.188. Zu Diogenes vgl. auch Diog. Laert. 6.73. 21 Vgl. allgemein zu Diogenes und seiner Haltung zu gesellschaftlichen Konventionen Döring 1998, 290–292. 22 Lukian. Peregr. 10 (ἃ δὲ τὸν πατέρα ἔδρασεν καὶ πάνυ ἀκοῦσαι ἄξιον· καίτοι πάντες ἴστε, καὶ ἀκηκόατε ὡς ἀπέπνιξε τὸν γέροντα, οὐκ ἀνασχόµενος αὐτὸν ὑπὲρ ἑξήκοντα ἔτη ἤδη γηρῶντα); 14–15; 21; 37.
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anonyme Verteidiger des Kynikers fest.23 Peregrinus Proteus hätte demnach wegen seines schändlichen Vergehens eher den Hitzetod im Stier des Phalaris als den schnellen, von ihm selbst bevorzugten Tod auf dem Scheiterhaufen verdient.24 Der bei Vitruv als Grund für die Todesstrafe angegebene „Vatermord“ des Zoilos ‒ verstanden als ein metaphorischer Ausdruck für die pietätlosen Angriffe gegen den Dichter von Ilias und Odyssee ‒ reicht allein noch nicht hin, um in Vitruvs Zoilos schon einen Kyniker zu erkennen. Die Art aber, in der der Hinweis auf dieses Vergehen in die Zoilosanekdote eingefügt ist, macht einen besonderen Bezug zu der genannten kynischen Skandaldoktrin und mithin eine kynische Prägung seiner Charakterzeichnung plausibel. Zwei Aspekte sind hier relevant, nämlich einmal der Gedanke, Homer ernähre die Menschen (Homerum ... aevo perpetuo multa milia hominum pascere; vgl. das oben erwähnte Diogenestestimonium über die Eltern, die den Kindern zur Nahrung dienen), andererseits die Rolle, die Zoilos in seinem Gespräch mit dem ägyptischen König einnimmt. Der verarmte Hungerleider Zoilos hatte auf seine Bitten hin vom König Ptolemaios ja den Bescheid bekommen, dass sich jemand, der sich über einen so großzügigen Dichter wie Homer stellt, leicht werde allein ernähren können.25 Zoilos erscheint hier als Schmarotzer, der sich aber mit seiner freimütig geäußerten Kritik alle Sympathien verspielt und sein Recht verwirkt hat, von der Tafel des Königs zu speisen. Vitruv stattet Zoilos, wenn er ihn als Parasiten auftreten lässt, mit einem Merkmal kynischer Figurenzeichnung aus.26 Bei Vitruv nicht explizit als solches gezeichnet, erscheint das Bild vom Kyniker Zoilos in einem anekdotischen Abschnitt in Aelians Ποικίλη ἱστορία (2./3. Jh. n. Chr.) umso deutlicher ausgeführt. Der Kritiker trägt hier den Beinamen „redegewandter Hund“ (Κύων ῥητορικός); seinen Bart lässt er lang wachsen, das Kopfhaar hingegen schert er kurz; typisch ist sein Hang zur üblen Nachrede (ἀγορεύειν κακῶς) und zur Schmähsucht (ψογερὸς ἦν), und seine üblen Absichten übertreffen sogar noch seine bösen Worte (Ael. poik. 11.10 = p. 123,1–10 Dilts = frg. 15 Friedländer): Ζωίλος ὁ Ἀµφιπολίτης ὁ καὶ εἰς Ὅµηρον γράψας καὶ εἰς Πλάτωνα καὶ εἰς ἄλλους, Πολυκράτους µὲν ἀκουστὴς ἐγένετο· οὗτος δὲ ὁ Πολυκράτης καὶ τὴν κατηγορίαν ἔγραψε τὴν κατὰ Σωκράτους. ἐκαλεῖτο δὲ Ζωίλος οὗτος Κύων ῥητορικός. ἦν δὲ τοιοῦτος· τὸ µὲν γένειον αὐτῷ καθεῖτο, κέκαρτο δὲ ἐν χρῷ τὴν κεφαλήν, καὶ θοἰµάτιον ὑπὲρ τὸ γόνυ ἦν. ἤρα δὲ ἀγορεύειν κακῶς, καὶ ἀπεχθάνεσθαι πολλοῖς σχολὴν εἶχε, καὶ ψογερὸς ἦν ὁ κακοδαίµων.
23 Vgl. Lukian. Peregr. 21: (... οὐκ ἀνάξιος ὤν, µὰ τὸν Ἡρακλέα, εἴ γε χρὴ καὶ τοὺς πατραλοίας καὶ τοὺς ἀθέους δίκας διδόναι τῶν τολµηµάτων). 24 Vielleicht eine Parallele zum Feuertod, den Vitruv als eine der möglichen Todesarten für Zoilos erwähnt hatte. 25 Vgl. oben Vitr. 7 praef. 9. ‒ Eine ähnliche Antwort wie die des Ptolemaios an Zoilos soll, wie ein bei Plutarch überliefertes Apophthegma zeigt, durch Hieron I. auch an den Homerkritiker Xenophanes ergangen sein; vgl. Plut. mor. 175c (Πρὸς δὲ Ξενοφάνην τὸν Κολοφώνιον εἰπόντα µόλις οἰκέτας δύο τρέφειν ‘ἀλλ’ Ὅµηρος’ εἶπεν, ‘ὃν σὺ διασύρεις, πλείονας ἢ µυρίους τρέφει τεθνηκώς.’). Vgl. dazu Steinmetz 1966, 16. 26 Zum Klischee vom kynischen Parasiten vgl. Gerhard 1909, 43–44 u. 250–251 und Gerhard 1912 / 1991, 404–405 bzw. 102–103.
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ἤρετο οὖν αὐτόν τις τῶν πεπαιδευµένων διὰ τί κακῶς λέγει πάντας· ὁ δέ· ,ποιῆσαι γὰρ κακῶς βουλόµενος οὐ δύναµαι.‘ Zoilos von Amphipolis, der Schriften gegen Homer und Platon und andere verfasst hat, war Hörer des Polykrates. Dieser Polykrates schrieb die Anklage gegen Sokrates. Zoilos wurde ‚redegewandter Hund‘ genannt. Und so war er: Der Bart hing ihm herab, während er den Kopf bis auf die Haut geschoren hatte; sein Mantel reichte nur bis ans Knie. Er erging sich gern in übler Nachrede, und seine Beschäftigung bestand darin, sich vielen Leuten verhasst zu machen; der unselige Mensch war sehr schmähsüchtig. Ein Gebildeter fragte ihn, warum er allen Menschen Böses nachrede, darauf er: ‚Weil ich Böses zu tun nicht fähig bin, obwohl ich es möchte.‘ (ÜS Helms).
Im Bild des Kynikers Zoilos verdichtet sich hier, was bei Vitruv nur durch einige versteckte Hinweise angedeutet wurde. Der Augusteer war noch zurückhaltender mit seiner negativen Bewertung des Kritikers und verzichtet auf eine eindeutige philosophisch-ideologische Zuordnung. Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass zu Vitruvs Zeit die Bewertung der Homerkritik des Zoilos noch nicht abgeschlossen war, wie aus einigen zeitgleichen Erwähnungen hervorgehen mag. Der Autor der Schrift περὶ ὕψους, die noch vor Abfassung von De architectura entstanden sein dürfte, stützt sich in seinen Ausführungen über das Erhabene auf den Kritiker, den er beistimmend und ohne jede kynische Verzerrung zitiert.27 Dionysios von Halikarnass lässt in seinen neutralen Erwähnungen weder eine positive noch eine negative Wertung über den ῥήτωρ Zoilos erkennen.28 Dass es aber – abgesehen von Vitruv – schon in augusteischer Zeit das Bild vom Kyniker Zoilos gab, wird aus einer Stelle in Ovids Remedia amoris ersichtlich (Ov. rem. 365–368 = frg. 9 Friedländer): ingenium magni Livor detractat Homeri: quisquis es, ex illo, Zoïle, nomen habes. et tua sacrilegae laniarunt carmina linguae, pertulit huc victos quo duce Troia deos. Neid ist’s, der das Genie des großen Homerus verkleinert; | wer du auch bist – dank ihm, Zoilus, bist du bekannt. | Der du Trojas bezwungene Götter hierher geführt hast, | dein Werk haben sogar gottlose Zungen zerfetzt. (ÜS Holzberg).
Hier werden Homer- und Vergilkritik parallelisiert, um den Nachweis zu führen, dass die besten Dichter auch den vehementesten Anfeindungen ausgesetzt waren. Zoilos steht pars pro toto für die Homerkritik; sein vergilisches Kritikerpendant wird in kynischen Farben gemalt: Frevel (sacrilegae) und Hundemetaphorik (laniarunt ... linguae) geben die Interpretationsrichtung vor, die sich – von der Vergil- auf die Homerkritik zurückprojiziert – mit der bei Vitruv nur angedeuteten Auffassung vom kynischen Kritikaster Zoilos in Deckung bringen lässt.29 27 Vgl. [Long.] sublim. 9.14 = frg. 7 Friedländer. – Zur Einbettung der anonymen Schrift in die ästhetischen Diskurse der augusteischen Zeit vgl. de Jonge 2012. 28 Vgl. Is. 20 = frg. 3 Friedländer und Pomp. 1.4 = frg. 4 Friedländer. 29 In der polemischen Anfangsphase der Vergilkritik bewegte man sich ganz in den Pfaden der traditionellen Homerbekrittler, was nicht zuletzt auch der Umstand zeigt, dass eine Schrift mit dem Titel Aeneidomastix entstehen konnte; vgl. VSD 44 und Görler 1987, 809–810. Dass die in diesem Zusammenhang genannte Gegenschrift des Asconius Pedianus contra obtrectatores
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Der Name des Zoilos war spätestens zu Aelians Zeit zu einem Inbegriff übelwollender Verleumdung und ätzender Kritik geworden – wohl kein gerechtes Urteil, wie ein Blick auf die Zeugnisse aus augusteischer Zeit verraten hat. Die spätere Rezeption ließ nach und nach die thematische Vielfalt im Werk des Mannes aus Amphipolis vergessen, indem sie das biographische Stereotyp vom Κύων ῥητορικός isolierte, der sich mit seiner herostratischen Lästerei gegen den θεῖος Ὅµηρος und „Vater der Dichter“ schließlich sogar einen gewaltsamen Tod nach Sklavenart eingehandelt habe. Übrig blieb der kynische Homerverächter, und als solcher ist Zoilos auch in die Konzeption des Vergilverächters Euangelus, den Macrobius in seinen Saturnalia (ca. 435 n. Chr.) auftreten lässt, eingegangen. Ein abschließender Blick auf die Auftrittsszene des Euangelus soll zeigen, dass die fiktive biographische Folie auch literarisch wirksam werden konnte. Euangelus nimmt in den Saturnalia die Rolle des Vergilkritikers ein.30 Dass eine solche Figur auftritt, überrascht zunächst, geht es den Sprechern des Dialogs doch darum, die enzyklopädische Kompetenz des Dichters der Aeneis auf den verschiedensten Gebieten antiker Wissenschaft – Pontifikal- und Auguralrecht, Astrologie, Philosophie, Rhetorik und Grammatik – zu erweisen. Die kritische Stoßrichtung, die Euangelus in seiner Auftrittsszene (s. u.) vertritt, macht aber deutlich, dass auch diese Figur zum Vergillob der Saturnalia beiträgt. In Sat. 1.24.7 gibt er folgende, aus seiner Sicht triftige Gründe an, weshalb Vergil die Aeneis testamentarisch verbrennen lassen wollte:31 erubuit quippe de se futura iudicia, si legeretur petitio deae precantis filio arma a marito cui soli nupserat nec ex eo prolem suscepisse se noverat, vel si mille alia multum pudenda seu in verbis modo Graecis modo barbaris seu in ipsa dispositione operis deprehenderentur. Und er hatte Grund dazu, scheute er doch die künftigen Urteile über sich, wenn man läse, wie die Göttin Venus Waffen für den Sohn Aeneas von ihrem Gatten erbat – dieser war der einzige, mit dem sie verheiratet war und von dem sie wusste, dass sie kein Kind von ihm hatte –, oder wenn man tausend weitere höchst schimpfliche Fehler fände, etwa beim Gebrauch griechischer oder barbarischer Wörter oder Fehler in der Komposition selbst. (ÜS nach Schönberger).
Derlei Einwände – Euangelus spricht die Bereiche πιθανότης (Bitte der Venus an den Gott der Schmiedekunst um Waffen für ihren Sohn Aeneas, der freilich nicht von Vulcan abstammt), λέξις (... in verbis modo Graecis modo barbaris ...) und οἰκονοµία (... in ipsa dispositione operis ...) an – lassen Euangelus als traditionellen Vergilkritiker32 in der Nachfolge der frühen Homerkritiker erscheinen. Die Vorträge der beiden folgenden Festtage verfolgen dann letztlich das Ziel, die TheVergilii (VSD 46) auf die hier erhobenen Vorwürfe im Stile der hellenistischen λύσιςSchriften einging, erscheint nur folgerichtig. Zoilos und die ihn widerlegenden alexandrinischen Philologen hatten mit ihren Schriften eine methodische Folie geliefert, die von den römischen Philologen aufgegriffen werden konnte. 30 Vgl. zu ihm zusammenfassend Flamant 1977, 74–75, Tornau 2008, 319–322, Dorfbauer 2009, 284–288 und Goldlust 2010, 231–232. 31 Vgl. Gell. 17.10.7 und VSD 37–41. 32 Vgl. auch die in VSD 44 genannten kritischen Schriften.
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se des Euangelus von der Unbildung Vergils zu widerlegen.33 Die Strategien, mit denen die Gesprächsteilnehmer die Aeneis im Folgenden zum sacrum poema (Sat. 1.24.13) auratisieren, können in diesem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Die Kritikpunkte des Euangelus fungieren aber in gleicher Weise wie für die alexandrinischen Philologen die Einwände des Zoilos als dialektisches Element innerhalb eines Erkenntnisprozesses – ein historisches Phänomen, die Reaktion auf Kritik an Homer, wird als methodische Möglichkeit im Dialog inszeniert.34 Aber nicht nur hinsichtlich der kritischen Methoden bzw. auf der Ebene der Dialogtechnik lassen sich Bezüge zwischen Euangelus und Zoilos herstellen, sondern auch auf der Ebene der Figurengestaltung. Euangelus wird von Macrobius nämlich als dezidiert kynischer Kritiker gezeichnet, wobei sich die Zoilosfiguration mit einer bestimmten Ausprägung des symposiastischen Rollenklischees des ungeladenen Gastes überlagert. Werfen wir zur Stützung dieser Behauptung einen genaueren Blick auf die bereits angesprochene Auftrittsszene der Figur. Nach dem Gespräch am Vorabend des Festes haben sich am 17. Dezember, dem ersten Tag der Saturnalia, die geladenen Gäste in der Bibliothek des Gastgebers, Vettius Agorius Praetextatus, versammelt. Sie sind kaum über ihren ersten, eher zufällig gewählten gelehrten Gegenstand ins Gespräch gekommen, da werden sie schon durch die von einem Sklaven gemeldete Ankunft dreier ungeladener Gäste unterbrochen. Nicht so sehr die Meldung, dass sich Dysarius ‒ nach Auskunft des Erzählers der damals renommierteste Arzt in Rom ‒ oder der kurz darauf genannte ehemalige Faustkämpfer Horus angekündigt habe, sondern der Name Euangelus sorgt bei den versammelten Symposiasten für Skepsis.35 Die Begründung für ihre Ablehnung erfolgt umgehend: Euangelus zeigt nämlich gewisse Verhaltensauffälligkeiten, die ihn von der bisher geschilderten Gesellschaft isolieren.36 Wie ist dieses Verhaltensmuster näher zu klassifizieren? Euangelus gibt selbst einen Hinweis in seinem provokativen Gespräch mit dem Gastgeber Praetextatus (Sat. 1.7.10): supervenire fabulis non evocatos haud equidem turpe existimatur, verum sponte inruere in convivium aliis praeparatum nec Homero sine nota vel in fratre memoratum est ‒ et vide ne nimium arroganter tres tibi velis Menelaos contigisse, cum illi tanto regi unus evenerit. Wenn man zu Gesprächen kommt, ohne eingeladen zu sein, gilt das ja nicht als unehrenhaft; mit Absicht aber in ein Gastmahl einzubrechen, das anderen bereitet ist, das ist auch bei Ho33 Vgl. insbesondere die doctrina-Kritik in Sat. 5.2.1. 34 Vgl. zu Zoilos z. B. schol. A ad Il. 1.129 über einen – nach Meinung des Scholiasten: vermeintlichen – Soloikismos Homers. – In ähnlicher Funktion wie Euangelus, nämlich als Anreger von und Beiträger zu Diskussionen, erscheint der kynische Gesprächsteilnehmer – er heißt hier Kynulkos – in den Deipnosophisten des Athenaios; vgl. z. B. deipn. 7.1 = 275a– 276a (s. u. Anm. 45). 35 Vgl. Sat. 1.7.2: Conrugato indicavere vultu plerique de considentibus Evangeli interventum otio suo inamoenum minusque placido conventui congruentem. 36 Vgl. ibid.: Erat enim amarulenta dicacitate et lingua proterve mordaci, procax ac securus offensarum quas sine delectu cari vel non amici in se passim verbis odia serentibus provocabat.
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Philipp Weiß mer nicht ohne Missbilligung erwähnt, selbst wenn es sich dort um den Bruder des Gastgebers handelt; und du musst aufpassen, dass du dir nicht im Übermut drei Menelause aufgehalst hast, während jener großmächtige König es mit nur einem zu tun bekam. (ÜS nach Schönberger).
Der Hinweis auf Menelaos, der im 2. Buch der Ilias (Il. 2.408) ungeladen beim Mahl des Agamemnon erscheint, vom Gastgeber aber freundlich hinzugebeten wird, entlarvt Euangelus und seine beiden Gefährten Dysarius und Horus als ἄκλητοι, als ungeladene Gäste und damit als Repräsentanten eines bestimmten symposiastischen Rollenklischees.37 Platons Sokrates etwa führt, wenn er den ungeladenen Aristodemos überreden will, mit ihm zum Gastmahl des Agathon zu kommen, die entsprechenden homerischen Verse im Munde (Plat. symp. 174b). Wichtiger aber ist vielleicht eine andere Parallele, die für Macrobius die Anregung gegeben haben dürfte, nämlich eine Szene aus Lukians Λαπίθαι.38 Auch in dem von Lukian geschilderten Gastmahl bei Aristainetos stürzt nach dem Beginn des eigentlichen Mahles ein ungeladener Gast in den Raum, der Kyniker Alkidamas (Lukian. symp. 12): Ἅµα οὖν ταῦτα ὁ Κλεόδηµος εἰρήκει καὶ ἐπεισέπαισεν ὁ Κυνικὸς Ἀλκιδάµας ἄκλητος, ἐκεῖνο τὸ κοινὸν ἐπιχαριεντισάµενος, ,τὸν Μενέλαον αὐτόµατον ἥκοντα‘. τοῖς µὲν οὖν πολλοῖς ἀναίσχυντα ἐδόκει πεποιηκέναι καὶ ὑπέκρουον τὰ προχειρότατα, ὁ µὲν τὸ ,Ἀφραίνεις Μενέλαε‘, ὁ δ’ ,Ἀλλ’ οὐκ Ἀτρεΐδῃ Ἀγαµέµνονι ἥνδανε θυµῷ‘, καὶ ἄλλα πρὸς τὸν καιρὸν εὔστοχα καὶ χαρίεντα ὑποτονθορύζοντες· ἐς µέντοι τὸ φανερὸν οὐδεὶς ἐτόλµα λέγειν· ἐδεδοίκεσαν γὰρ τὸν Ἀλκιδάµαντα, βοὴν ἀγαθὸν ἀτεχνῶς ὄντα καὶ κρακτικώτατον κυνῶν ἁπάντων, παρ’ ὃ καὶ ἀµείνων ἐδόκει καὶ φοβερώτατος ἦν ἅπασιν. Während Kleodemos und Ion einander noch zuflüsterten, stürzte Alkidamas, der Kyniker, ungeladen in den Saal herein, indem er der Sache durch den in solchen Fällen gewöhnlichen Scherz ‚Menelaos kommt selbst‘ eine artige Wendung zu geben glaubte. Die meisten fanden seine Zudringlichkeit unverschämt und, da sie ihren Homer so gut wussten als er, fehlte es nicht an passenden halben und ganzen Versen, die dem schmutzigen Menelaos auf der Stelle zugezischelt wurden. ‚Rasest du, Menelaos‘, murmelte einer ‒ ‚Aber dem Agamemnon gewährt es wenig Vergnügen‘, flüsterte ein anderer. Doch unterstand sich keiner, seinen Witz laut werden zu lassen, so sehr fürchteten sie sich vor der brüllenden Stimme des Alkidamas, der unter allen Kynikern am stärksten bellte und, weil seine Überlegenheit von dieser Seite anerkannt war, sie alle dadurch in Respekt zu erhalten wusste. (ÜS nach Wieland).
Im bereits zitierten Abschnitt Sat. 1.7.2 wird an Euangelus die bitterböse Redseligkeit (amarulenta dicacitas) hervorgehoben; an anderer Stelle die schreiende Stimme des Euangelus negativ vermerkt.39 In solchen Bemerkungen lässt sich ein Echo auf die Stimmgewalt des Alkidamas erkennen (βοὴν ἀγαθὸν ἀτεχνῶς ὄντα), die seiner freimütigen Parrhesie erst zum Durchschlag verhilft. Auch das Zitat Il. 37 Vgl. dazu allgemein Martin 1931, 64–79. 38 Vgl. auch zur Beliebtheit der homerischen Menelaosszene als Gesprächsthema bei Symposien Plut. qu. con. 7.6 = 706f und Athen. deipn. 5 = 177c–178e. – Ausschließlich auf Lukian zurückzuführende Rezeptionszeugnisse finden sich bei Macrobius m. W. nicht. Die jüngste Saturnalia-Ausgabe von Robert A. Kaster verzeichnet aber immerhin zwölf loci similes, die eine entsprechende Lektürekenntnis bei Macrobius wahrscheinlich machen; vgl. den Index bei Kaster (2011), S. 498–499. 39 Vgl. Sat. 3,10,1 (... exclamat Euangelus ...).
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2.408 verbindet Euangelus und Alkidamas. Darüber hinaus aber scheint Macrobius seinem Euangelus explizit kynische Züge zu verleihen, wenn er von der ungestümen Bissigkeit der Zunge spricht (erat ... lingua proterve mordaci). Die Hundemetapher ist ein gern verwendetes Bild in der Polemik gegen die Kyniker (s. o.), doch dürfte Macrobius hier speziell auf Lukians Charakterisierung des Alkidamas als κρακτικώτατος κυνῶν ἁπάντων Bezug nehmen. Folgt man dieser Deutung, so lassen sich noch einige weitere Aspekte der Figurengestaltung dahingehend interpretieren, dass Macrobius hier auf eine bewusste Stilisierung des Euangelos zum kynischen ἄκλητος abzielt. Zunächst ist die zur Schau gestellte Obszönität zu nennen: Euangelus verteidigt das gemeinsame Sammeln von anzüglichen Apophthegmata gegenüber Servius, der in den Saturnalia als zurückhaltender, aber umfassend gebildeter junger Grammatiklehrer und damit als Gegenbild zu Euangelus figuriert.40 Auch bei Lukian wird Alkidamas mit obszöner Freizügigkeit verbunden: Er schreckt nicht einmal davor zurück, sich vor den versammelten Gästen vollständig zu entkleiden.41 Dann das Lachen als charakterisierende Verhaltensweise: Sozialen Sanktionierungsversuchen seitens der anderen Gäste begegnet Euangelus mit spöttischem Lachen, ebenso wie er selbst seine Kritik an anerkannten Autoritäten wie Vergil mit Lachen und entsprechenden Ausdrücken des Lachens verbindet.42 Dieses Lachen isoliert ihn ‒ anders als das identitätsstiftende Lachen oder Lächeln, mit dem die anderen Gäste einander ihre Sympathie bekunden ‒ und betont seine Opposition gegen die herrschenden Regeln.43 Dazu kommt ein ostentativer Moralismus der Figuren, der an den Stellen, an denen Euangelos Vergil kritisiert, kaum zu überhören ist.44 Auch Alkidamas begleitet sein Schmarotzen an der Tafel des reichen Aristainetos mit Schmähreden gegen das Gold- und Silbergeschirr seines Gastgebers. Schließlich der Weingenuss: Euangelus bedient ein kynisches Rollenklischee, wenn er in Sat. 2.8.4 zum unmäßigen Weingenuss auffordert und sich dabei in aller Deutlichkeit gegen die zuvor von Praetextatus verkündete Zurückhaltung stellt. Mit seiner Neigung zum übermäßigen Weingenuss gibt Euangelus ganz deutlich seine Verwandtschaft mit kynischen ἄκλητοι vom Schlage des Alkidamas kund. Der gerät in seiner Trunkenheit bei Lukian ja in einen so kritischen Zustand, dass er sich, wie bereits erwähnt, vor allen Gästen entkleidet und wüst auf sie schimpft. Freilich muss man einschränkend bemerken, dass die dargelegte Stilisierung bei Macrobius nicht immer kohärent und in allen Zügen durchgeführt ist. Ein Punkt fällt hier besonders auf: Euangelos äußert in Sat. 1.11.1 dezidiert negative Ansichten über den Sklavenstand, was der herrschenden Auffassung der Kyniker widerspricht, die den Sklaven in der Regel die gleichen Rechte und die gleiche Würde wie den anderen Menschen zubilligten. Das schwächt den Gesamteindruck aber kaum: Macrobius greift offenkundig auf eine Option der Rollengestaltung 40 41 42 43 44
Vgl. Sat. 2.2.12. Vgl. Lucian. symp. 16. Vgl. Sat. 1.24.8–9. Vgl. zum Lachen auch den Beitrag von Anna Ginesti Rosell in diesem Band. Vgl. die Wortwahl im oben zitierten Abschnitt Sat. 1.24.7 (... multa pudenda ...).
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zurück, die das Figurenrepertoire der Symposienliteratur vorsah, nämlich auf den kynischen ἄκλητος.45 Der Autor der Saturnalia treibt dabei aber auch in gewisser Weise sein Spiel mit den Rollenerwartungen seiner Leser: Er lässt mit Dysarius, Horus und Euangelus statt einem drei ἄκλητοι auftreten, von denen er den einen, Horus, auch explizit als Kyniker bezeichnet ‒ ohne ihm aber auch nur irgendeinen typisch kynischen Zug mitzugeben. Den anderen, Euangelus, weist er zwar nicht explizit der kynischen Schule zu, macht aber durch die an den Tag gelegten Verhaltensweisen unmissverständlich klar, wes Geistes Kind er ist. Die Rollenvorgaben, die Macrobius auf Euangelus projiziert, stammen einerseits aus der Tradition der Gastmahlliteratur (kynischer ἄκλητος), überlagern sich aber mit der biographischen Überlieferung zu Zoilos. Voraussetzung für eine Stilisierung im letzteren Sinn war das erst spät verfestigte Klischee von Zoilos als kynischem Frevler gegen die göttliche Dichterautorität Homers, das sich erst in augusteischer Zeit und hauptsächlich im römischen Kulturbereich nachweisen lässt. Indem Macrobius den kynischen Aspekt seiner Zoilosfigur Euangelus hervorstreicht, betont er indirekt aber auch die gleichsam göttliche Autorität Vergils, gegen den sich – analog zu den Angriffen des Zoilos gegen den θεῖος Ὅµηρος – die frevlerischen Anfeindungen des Euangelus richten. Euangelus ist demnach nicht mehr nur der Stichwortgeber für die affirmativen Vorträge der übrigen Mahlteilnehmer, sondern er weist gerade in seiner Eigenschaft als kynischer Frevler diesen Vorträgen eine grundsätzlichere, über den grammatischen Horizont hinausreichende Funktion zu: Die Referate der beiden folgenden Festtage legitimieren den universalen Anspruch des vergilischen Werks als enzyklopädische Dichtung und damit den herausgehobenen Status seines Dichters als Weltweisen. Die Sichtweise auf Zoilos als Kyniker hat sich also als ein sekundäres Phänomen herausgestellt, das die ausgewogeneren Einschätzungen der ursprünglichen kritischen Tendenz allmählich ablöste und aus ihm einen gehässigen und böswilligen Kritikaster machte. Schon Ovid übertrug das Phänomen der bissigen Homerkritik auf die Vergilrezeption. Macrobius geht dabei einen Schritt weiter, wenn er eine seiner Figuren, Euangelus, als Vergilkritiker auftreten lässt und ihn mit Charaktermerkmalen ausstattet, die diesen als Kyniker ausweisen. Diese verbinden sich mit dem aus symposialem Kontext bekannten Figurenstereotyp des ungeladenen Gastes, das Macrobius durch Bezüge wohl hauptsächlich auf Lukian in seiner Euangelusfigur realisiert. Für die Kanonisierungsabsicht der Saturnalia ist allerdings die „Vergilisierung“ der Zoilosfigur ausschlaggebend: Die Entlar45 Der ungeladene Gast muss ja nicht unbedingt ein störendes Element im Symposium sein, auch muss er, wenn er stört, nicht unbedingt ein Kyniker sein. Wenn Macrobius seinen ἄκλητος aber mit kynisch zu deutenden Eigenschaften ausstattet, so tut er das im Rückgriff auf diese besondere Gattungstradition, wie sie bei Lukian greifbar wird. – In welchem Verhältnis stehen die beiden Präfigurationen für Euangelus – Zoilos und Alkidamas – hinsichtlich ihrer Gewichtung zueinander? Euangelus wird von Macrobius als Kyniker gezeichnet, um ihn zum vergilischen Zoilospendant zu stilisieren. Konkrete Anregungen für die Umsetzung scheint er hauptsächlich aus Lukian bezogen zu haben, wobei hier grundsätzlich auch andere Texte in Frage kommen; vgl. z. B. die bereits erwähnte Figur des Kynulkos in den Deipnosophisten des Athenaios.
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vung der von Euangelus vorgebrachten Anfeindungen dient letztlich wie schon die „Lösungen“ in der Homerphilologie dem dialektischen Erweis des göttlichen Ranges der vergilischen Dichtung. BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben / Kommentare / Übersetzungen Dilts 1974, M., Claudii Aeliani Varia historia, Leipzig. Fensterbusch 1964, C., Vitruv. Zehn Bücher über Architektur, Darmstadt. Helms 1990, H., Claudius Aelianus. Bunte Geschichten, Leipzig. Holzberg 2011, N., P. Ovidius Naso. Remedia amoris. Heilmittel gegen die Liebe, Stuttgart. Kaster 2011, R., Macrobii Ambrosii Theodosii Saturnalia, Oxford. Macleod 1972, M. D., Luciani opera. Tomus I: Libelli 1–25, Oxford. Ramírez de Verger 2003, A., P. Ovidius Naso. Carmina amatoria. Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, München/Leipzig. Russell, D./Konstan, D. 2005, Heraclitus: Homeric Problems, Atlanta. Schönberger 2008, O. u. E., Ambrosius Theodosius Macrobius. Tischgespräche am Saturnalienfest, Würzburg. Wieland 1981, Ch. M., Lukian. Werke in drei Bänden. Erster Band, Berlin/Weimar.
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SENECA: VON PHILOLOGIE ZU PHILOSOPHIE Bardo Maria Gauly Von Senecas philosophischen Schriften scheint für die Frage der Rezeption von Philologie in Literatur wenig zu erwarten, da sie gegenüber der hellenistischrömischen Grammatik, also dem Feld der Bildung, das unserem Begriff von Philologie am nächsten kommt, eine geradezu feindselige Haltung zur Schau stellen, weil sie eine fruchtlose Gelehrsamkeit hervorbringe. Darin wiederum ist sie einer Schulphilosophie ähnlich, die theoretische Probleme argumentativ entfaltet, ohne die gelebte philosophische Praxis zu unterstützen. Grammatische Bildung und Schulphilosophie werden mitunter so eng geführt, dass nicht leicht zu sagen ist, wovon die Rede ist. Nehmen wir den berühmten Schluss von Ep. 106 als Problemanzeige; Seneca hat seinem Schüler Lucilius auf dessen Wunsch hin die stoische Lehre von der Materialität moralischer Güter erläutert, die eigentlich erst in seiner geplanten Gesamtdarstellung der Ethik behandelt werden sollte; Lucilius, so heißt es im Schlussabschnitt, werde auf diese sehr technische Diskussion zweifellos ebenso reagieren wie der Philosoph selbst; er werde sie als Spielerei abtun:1 Latrunculis ludimus. In supervacuis subtilitas teritur: non faciunt bonos ista sed doctos. Apertior res est sapere, immo simplicior: paucis est ad mentem bonam uti litteris, sed nos ut cetera in supervacuum diffundimus, ita philosophiam ipsam. Quemadmodum omnium rerum, sic litterarum quoque intemperantia laboramus: non vitae sed scholae discimus. (Sen. Ep. 106.11f.) Wir vertreiben uns die Zeit mit Spielfiguren. Der Scharfsinn wird für Überflüssiges vergeudet. Diese Überlegungen machen niemanden rechtschaffen, allenfalls gelehrt. Wie man weise wird, liegt offener zu Tage, ja ist einfacher: Für einen rechtschaffenen Sinn braucht man wenig Gelehrsamkeit, aber wie wir alles andere überflüssig weit ausdehnen, so auch die Philosophie selbst. Wie wir in allem anderen an Maßlosigkeit leiden, so auch in der Gelehrsamkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.
Der hier gebrauchte Begriff von litterae ist denkbar unscharf, er verweist auf nicht näher spezifizierte intellektuelle Anstrengung. Die Verbindung von Philologie und Schulphilosophie wird explizit in Brief 108 formuliert, wo der Philosoph zunächst an seine philosophische Unterweisung in jungen Jahren erinnert, bevor er beklagt, dass der Schulbetrieb der Gegenwart auf Schärfung des Intellekts, nicht auf seelische Stärkung ziele:2 Itaque quae philosophia fuit facta philologia est.
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Senecas Epistulae morales werden nach der Ausgabe von Reynolds (1965) zitiert. Sen. Ep. 108.23: „So ist aus Philosophie Philologie geworden.“ Das Ende des Briefes wendet sich aber gegen eine philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung mit den großen Philo-
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Die darauf folgenden Belege für die These sind aber nicht, wie man erwarten könnte, dem philosophischen Schulbetrieb entnommen, sondern dem philologischen, d. h. der Grammatikschule. Bleiben wir noch einen Augenblick bei Brief 106, der eine weitere Inkonsistenz aufweist. Gelehrsamkeit wird zwar als Spielerei abgetan, aber nicht gänzlich verworfen; nur ihr Übermaß auf allen Gebieten wird beklagt; Seneca kann sie schon deshalb nicht uneingeschränkt ablehnen, weil der Hauptteil seines Briefes ja eine Kostprobe solch technischen Wissens über philosophische Theorie bot und dies ausdrücklich als Vorwegnahme einer späteren ausführlichen Darstellung der moralis philosophia bezeichnete.3 Die ambivalente Haltung sowohl zur Grammatik als auch zu einer verschulten Philosophie, die beide als parallele Phänomene wahrgenommen werden, legt die Frage nahe, inwieweit Elemente philologischen Unterrichts in einen Bildungsgang philosophischen Anspruchs integrierbar erscheinen. Welche Qualitäten der Grammatik können, Seneca zufolge, zumindest mittelbar philosophische Wirkung entfalten? Wie ist das auffällige Schweigen über den letzten Teil des hellenistisch-römischen Studiengangs, die Rhetorik, zu bewerten? Wie positioniert sich das in den Epistulae morales exemplarisch in Szene gesetzte Bildungsprogramm in Relation zu Grammatik und Rhetorik?4 Ich möchte einer Antwort auf diese Fragen in drei Schritten näher kommen: Untersucht werden sollen zunächst die diskursive Auseinandersetzung mit der Philologie, dann die Benutzung philologischer Kenntnisse und Techniken, insbesondere für eine philosophisch fruchtbare Dichterlektüre, und schließlich der Rückgriff des Philosophen auf im traditionellen Bildungsgang verankerte vorphilosophische Normen. Dass Seneca in erster Linie die Grammatik und nicht die auf ihr aufbauende Rhetorik kritisiert, lässt sich auf deren pragmatischen Wert auch in philosophischer Unterweisung zurückführen; in der Tat differenziert Seneca auch dann, wenn er die Logik der Alten Stoa aus seinem Curriculum verbannt, indem er die Kritik an den Spitzfindigkeiten der stoischen Logik allein an der Dialektik und
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sophen der Vergangenheit, die ohne Folgen für das eigene Handeln bleibt (Ep. 108.38); zur Verschulung der Philosophie in der Kaiserzeit s. Hadot 2003. Sen. Ep. 106.2. Inwood nimmt das in seinem Kommentar (2007) zur Stelle als Beleg für die These, die Ablehnung einer theorieorientierten Philosophie sei durch die Gattung des Briefes bedingt und daher keine grundsätzliche Position Senecas; die These hat angesichts des nie ausgeführten Planes einer Gesamtdarstellung der Ethik den Vorzug, nicht falsifizierbar zu sein, aber doch auch den Nachteil, nicht verifizierbar zu sein, zumal auch auf anderen Feldern der Philosophie die Theorie nie als Selbstzweck betrachtet wird; so wird in De Beneficiis nach einer theoretischen Grundlegung mit exempla gearbeitet; in den Naturales quaestiones weitet sich die Erklärung einzelner Phänomene zu einer Gesamtschau des Kosmos und damit zu erbaulicher Betrachtung; zur Struktur von De beneficiis s. Griffin 2013, 111–148 und 169– 340; zu den Naturales quaestiones Gauly 2004, 67–72 und Williams 2012, 17–53. Für Cooper ist Ep. 106 ein Beispiel dafür, dass Seneca die stoische Theorie zwar gut kennt, aber sie häufig zugunsten einer rhetorischen Einwirkung auf diejenigen, die keine spezifisch philosophischen Interessen haben, zurückstellt (2004, 320f. et passim). Zu den Epistulae morales als „dramatized education“ s. Schafer 2011. Zum römischen Bildungssystem grundlegend Bloomer 2011; zu den Deklamationen Gunderson 2003.
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ihren Syllogismen festmacht, während die Rhetorik in diesem Kontext nicht thematisiert wird.5 So wird auch in Brief 88, wo der geringe philosophische Wert der artes liberales beklagt wird, die Rhetorik nicht behandelt, während die Nutzlosigkeit des Wissens, das die alexandrinische Philologie gesammelt hat, sarkastisch kommentiert wird.6 Ich zitiere nur ein Beispiel:7 Grammatice circa curam sermonis versatur et, si latius evagari vult, circa historias, iam ut longissime fines suos proferat, circa carmina. Quid horum ad virtutem viam sternit? Die Grammatik befasst sich eingehend mit der Sprache und, wenn sie ihr Gebiet erweitern will, mit historischen Schriften; wenn sie ihr Feld ganz weit absteckt, mit Poesie. Was davon bahnt der Tugend den Weg?
Auch wenn sich vergleichbare Äußerungen mehrfach finden,8 ist die Reichweite dieser Kritik schon deshalb nicht leicht zu bestimmen, weil Seneca mit einer uneinheitlichen Terminologie arbeitet. Er verwendet sowohl den Begriff des grammaticus als auch den des philologus; am klarsten differenziert werden beide in Ep. 108, wo auf die schon zitierte Klage über den Niedergang der Philosophie, die zur Philologie geworden sei, zunächst der Unterschied zwischen einer grammatischen und einer philosophischen Vergillektüre vor Augen geführt wird, bevor anhand eines weiteren Beispiels, Ciceros Schrift De re publica, drei unterschiedliche Textanalysen vorgestellt werden: Der Philosoph interessiert sich für das Wesen der Gerechtigkeit, der philologus für die Verwandtschaftsverhältnisse der römischen Könige oder für die Amtsbezeichnungen in der archaischen Epoche, der grammaticus schließlich für den im Lauf der Zeiten veränderten Sprachgebrauch.9 Allerdings wird diese terminologische Unterscheidung zwischen zwei Formen von Texterklärung, einer historischen und einer sprachlichen, nicht durchgehalten, sodass grammaticus mitunter als Oberbegriff über beide Formen verwendet zu sein scheint (wie in Ep. 88.3). Dafür könnte der Umstand verantwortlich sein, dass in Rom nur grammaticus als Berufsbezeichnung verwendet wird,10 zumal für Seneca allein die Tatsache, dass Grammatik auch zum Broterwerb betrieben wird, Grund genug für eine kritische Sicht ist, wie er zu Beginn des Briefes über die artes liberales ausdrücklich festhält.11 Doch unabhängig von diesen sozialen Vor5
Z. B. Sen. Ep. 82.8–10.19–24; s. dazu Hadot 1969, 108–117; Barnes 1997; vgl. Schafer 2011, 49–51. 6 Insbesondere Sen. Ep. 88.36–40; was das Schweigen über die Rhetorik angeht, so muss allerdings festgehalten werden, dass Reynolds mit einer größeren Lücke in § 4 rechnet (in seiner Ausgabe 1965). Pani erklärt die Schärfe von Senecas Kritik an den artes liberales plausibel mit den sozialen und politischen Veränderungen in der frühen Kaiserzeit: Die artes stellen sich in die Dienste neureicher Schichten (1985). 7 Sen. Ep. 88.3. Zu Senecas Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der griechischen Stoa s. Batinski 1993. 8 Z. B. Sen. Dial. 10.13; Ep. 108.23–35. 9 Sen. Ep. 108.23–35; s. dazu Fantham 1998, 134; zur Herkunft der Terminologie s. Romano 1991. Schmeling verweist zu Petron. 39.3 (2011) auf Sen. Apoc. 5.4, wo philologi für „men of culture“ oder auch auch nur für „men with a pretence of culture“ stehe. 10 Fantham 1998, 274 Anm. 35. 11 Sen. Ep. 88.1f.
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urteilen gibt es innerhalb seiner Haltung zur Grammatik Differenzierungen; die Kritik richtet sich in erster Linie an den antiquarischen Teil der Texterklärung, also an die Tätigkeit des philologus. So spottet Seneca über eine Gelehrsamkeit, die nach der Heimat Homers, der Zahl der Ruderer auf Odysseus’ Schiff oder nach dem Namen des ersten Siegers in einer Seeschlacht fragt, während er die grammatici, also die Philologen im engeren Sinne, immerhin einmal lobend als custodes Latini sermonis erwähnt.12 Zwei der drei Beispiele für die sinnlose Sammlung von Wissen stammen aus dem Traktat De brevitate vitae, wo der Ursprung dieser Form von Vergeudung kostbarer Lebenszeit benannt wird; es ist die alexandrinische Philologie und ihre römische Rezeption: Nam de illis nemo dubitabit quin operose nihil agant qui litterarum inutilium studiis detinentur, quae iam apud Romanos quoque magna manus est. Graecorum iste morbus fuit quaerere quem numerum Ulixes remigum habuisset, prior scripta esset Ilias an Odyssia [...]. Ecce Romanos quoque inuasit inane studium superuacua discendi. (Sen. Dial. 10.13.1–3) Denn niemand wird im Zweifel darüber sein, dass diejenigen eine aufwendige Form des Nichtstuns pflegen, die sich mit nutzloser Gelehrsamkeit unterhalten; auch in Rom gibt es schon viele von ihnen. Denn bisher war das ja eine griechische Krankheit, nach der Zahl von Odysseus’ Ruderern zu fragen oder danach, ob die Ilias oder die Odyssee früher geschrieben wurde [...]. Jetzt ist es so weit: Auch die Römer sind vom eitlen Streben nach überflüssigem Wissen angesteckt.
Die gleiche Konstruktion findet sich in Brief 88, wo zunächst die unglaubliche Vielschreiberei des grammaticus Didymus gerügt wird (4000 Bücher), bevor sich die Kritik den Römern zuwendet; allerdings wird kein Römer namentlich genannt. Erwähnt werden die Rezeption der textkritischen Notation Aristarchs und der alexandrinische Philologe Apion, der zeitweise in Rom wirkte. Aber auch hier steht die Kritik an antiquarischer Gelehrsamkeit im Vordergrund.13 Der Fehler der römischen Grammatik liegt demnach darin, sich unreflektiert Formen griechischer Gelehrsamkeit zu eigen zu machen. Aber auch wenn die Ablehnung scharf formuliert wird, ist sie doch nicht absolut; auch die Grammatik kann einen Beitrag zur philosophischen Bildung leisten, wenngleich nur einen vorbereitenden; so heißt es mit Bezug auf die artes liberales insgesamt zu Beginn von Brief 88:14 Meritoria artificia sunt, hactenus utilia si praeparant ingenium, non detinent. Tamdiu enim istis inmorandum est quamdiu nihil animus agere maius potest; rudimenta sunt nostra, non opera.
12 Das erste Beispiel findet sich in Sen. Ep. 88.37, die beiden folgenden in Dial. 10.13.2f.; vgl. auch Ep. 88.6–8. Das Lob der Grammatiker in Ep. 95.65 wird von Kaster als „sarcastic reference“ charakterisiert (1988, 53); dagegen spricht die Parallele in Ep. 120.4. 13 Sen. Ep. 88.37–40; Didymus werden wieder typisch antiquarische Fragen zugeschrieben, etwa die nach der Heimat Homers oder der wahren Mutter des Aeneas (§ 37). 14 Sen. Ep. 88.1.
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Das sind käufliche Techniken, die nur insoweit nützen, als sie den Verstand vorbereiten, ohne ihn aufzuhalten. Man darf sich also mit ihnen nur beschäftigen, solange die Seele nichts Größeres tun kann; sie sind die Vorschule, noch nicht eigene Leistung.
Insbesondere der Dichterlektüre wird ein positiver Effekt bescheinigt, weil die gebundene Form, wie es in Brief 108 unter Berufung auf Kleanthes heißt, moralische Erkenntnis einprägsamer vermittle.15 Allerdings kommt dabei alles auf eine richtige Lektüre an, die nicht bei antiquarischen oder sprachhistorischen Erläuterungen stehen bleibt, sondern zu philosophischer Erkenntnis und Erbauung verhilft. Es liegt nahe, dabei an eine allegorische Interpretation von Dichtung zu denken, und in der Tat spielt sie, wie wir sehen werden, eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Poesie für die philosophische Bildung fruchtbar zu machen. Allerdings scheint auch hier Senecas Haltung wenig konsistent, da er die Praxis stoischer Mythenallegorese mehrfach kritisiert. So steht am Anfang seiner Abhandlung über die Wohltaten eine Auseinandersetzung mit Chrysipps allegorischer Deutung der Grazien und ihrer bildlichen Darstellungen; diese trage nichts zur moralischen Unterweisung bei; die Beschäftigung mit Mythen solle man den Dichtern überlassen. Seneca spricht von ineptiae, sodass man annehmen wird, ihm scheine Chrysipps mythologische Abschweifung dem Ernst des Themas nicht angemessen.16 Sein beiläufig-launischer Kommentar, Chrysipp sei zwar ein bedeutender Mann, aber eben doch ein Grieche,17 weist aber darauf hin, dass auch hier ein Konflikt zwischen griechischer und römischer Kultur mit im Spiel ist. Was Seneca gegen die stoische Mythenallegorese einzuwenden hat, wird zumindest etwas klarer, wenn wir den Anfang der Schrift De constantia sapientis in den Blick nehmen, wo eine stoische Allegorese der mythischen Helden Odysseus und Herakles Roms Orientierung an historischen Helden wie Cato Uticensis gegenübergestellt wird. Cato habe in einer Zeit gelebt, da man die Leichtgläubigkeit vergangener Epochen überwunden habe, und habe sich allein dem Untergang der Freiheit entgegengestellt.18 Rom, so die These, lebt in historisch heller Zeit und kann mehr oder weniger fiktiven Helden wie Odysseus historisch bezeugte exempla gegenüberstellen. Es ist also die traditionelle Form von Normenbegründung, die Orientierung an Vorbildern, die hier in Gegensatz zu textexegetischen Verfahren der Griechen tritt. Aber das bedeutet nicht, dass nicht auch Seneca Allegorese betreibt, und damit kommen wir zum zweiten Punkt, zur Nutzung der Philologie im Dienst der Philosophie. Die Grammatik kommt dem Philosophen zunächst dann zu Hilfe, wenn er vor der Aufgabe steht, eine lateinische Terminologie für philosophische Konzepte zu entwickeln. Brief 58, in dem ein mittelplatonisches System der Ontologie entfaltet wird, führt zunächst im Plauderton das Thema des Sprachwandels ein, das er an 15 Sen. Ep. 108.9–12. Zur Dichterlektüre s. Martín Sánchez 1990, 201–205; Batinski 1993. 16 Sen. Ben. 1.3.2–1.4.6; der Begriff ineptiae in 1.4.5; vgl. dazu Griffin 2013 zu 1.3.8 und S. 133–135. 17 Sen. Ben. 1.4.1: magnum mehercules virum, sed tamen Graecum. 18 Sen. Dial. 2.2.1f.
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Beobachtungen zu Vergils Sprachgebrauch festmacht, der etwa noch das Simplex cernere an Stelle des später üblichen Kompositums decernere verwendet habe. Man müsse also nicht auf archaische Dichter wie Ennius oder Accius zurückgreifen, um die Geschwindigkeit des Sprachwandels zu ermessen. Diese ganze „Vorbereitung“ (praeparatio) ziele nicht darauf ab, klarzumachen, wieviel Zeit er beim Grammatiker vergeudet habe (quantum tempus apud grammaticum perdiderim), sondern darauf, den Gebrauch eines philosophischen Neologismus zu rechtfertigen: Er wolle das griechische οὐσία mit essentia wiedergeben. Doch als sei es ihm nicht genug, sich auf allgemeine philologische Überlegungen zum Sprachwandel zu stützen, beruft er sich zusätzlich auf zwei römische Vorbilder, auf seinen älteren Zeitgenossen Papirius Fabianus und auf Cicero.19 In Brief 95 referiert er Poseidonios’ Terminologie und sucht erneut bei der Grammatik Unterstützung, als er dessen Begriff der Aitiologie, nachdem er ihn zunächst übersetzt hat, als Fremdwort im Lateinischen einführen will:20 His adicit causarum inquisitionem, aetiologian quam quare nos dicere non audeamus, cum grammatici, custodes Latini sermonis, suo iure ita appellent, non video. Dem fügt er noch die Untersuchung der Ursachen hinzu; ich sehe keinen Grund, dafür nicht den Begriff Aitiologie zu riskieren, da ihn doch die Grammatiker, die Wächter der lateinischen Sprache, zu Recht so verwenden.
Und in Brief 120 rechtfertigt er den Gebrauch des Fremdwortes Analogie wieder mit Verweis auf die Grammatik:21 Hoc verbum [sc. analogian] cum Latini grammatici civitate donaverint, ego damnandum non puto, in civitatem suam redigendum. Utar ergo illo non tantum tamquam recepto sed tamquam usitato. Da die lateinischen Grammatiker diesem Wort das Bürgerrecht verliehen haben, dürfen wir es meiner Meinung nach nicht verwerfen, sondern müssen ihm zu seinem Bürgerrecht verhelfen. Ich werde es also nicht wie ein nur toleriertes, sondern wie ein traditionelles Wort verwenden.
In all diesen Fällen sind die Grammatiker Verbündete des Philosophen, der ihre philologische Kompetenz benötigt, wenn er die in Brief 58 beklagte egestas der lateinischen Sprache überwinden und der Philosophie eine lateinische Begrifflichkeit schaffen will. Gegen die oben referierte Kritik an der Grammatik sind sie zum einen immun, weil es nicht um antiquarische Erklärung von Texten, sondern um Sprachpflege geht, zum anderen, weil es sich nicht um alexandrinische, sondern um römische Grammatiker handelt, die die Reinheit der lateinischen Sprache bewahren bzw. mit der gebotenen Behutsamkeit fortentwickeln wollen. Auch eine philologisch informierte Dichterlektüre kann unter entsprechenden Voraussetzungen philosophisch fruchtbar werden, zumal die Sprache der Poesie Vorzüge hat, die sie geeignet macht, dem philosophischen Anfänger philosophische Weisheit zu vermitteln:22 Ihr Rhythmus mache die Gedanken eingängig und 19 20 21 22
Sen. Ep. 58.1–7. Sen. Ep. 95.65. Sen. Ep. 120.4. Zu Senecas Hermeneutik s. Batinski 1993.
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einprägsam;23 ihre Kürze und Prägnanz machen ihre Worte wirkungsvoller als die der Prosa, wie es in Brief 108 heißt, wo Kleanthes mit einem schönen Bild für die Dichte poetischer Sprache zitiert wird: Der Klang der Tuba erziele sein Volumen aus dem erhöhten Druck, den die durch eine enge Röhre gepresste Luft erzeuge.24 Aber auch spezifisch poetische Tropen können philosophisch fruchtbar werden, wenn der Leser entsprechend disponiert ist. So werden im gleichen Brief verschiedene Lektüreverfahren am Beispiel von Vergils Georgica gegenübergestellt:25 Qui grammaticus futurus Vergilium scrutatur non hoc animo legit illud egregium ,fugit inreparabile tempus‘: ,vigilandum est; nisi properamus relinquemur; agit nos agiturque velox dies; inscii rapimur; omnia in futurum disponimus et inter praecipitia lenti sumus‘: sed ut observet, quotiens Vergilius de celeritate temporum dicit, hoc uti verbo illum ,fugit‘. Wer als angehender Philologe Vergil untersucht, interpretiert den herrlichen Satz ‚unwiederbringlich flieht die Zeit‘ nicht so: ‚Wachsamkeit ist geboten; wenn wir nicht eilen, bleiben wir zurück; uns treibt der rasch verstreichende Tag; und er wird selbst getrieben; ohne es zu merken, werden wir dahingerafft; alles verschieben wir auf die Zukunft und säumen im Strudel der Zeit‘. Ihm liegt an der Beobachtung, dass Vergil, sooft er über die rasende Zeit spricht, dieses Wort ‚flieht‘ verwendet.
Der Vergleich wird mit einer parallelen Stelle der Georgica fortgesetzt, die erneut den Topos von der Kürze des Lebens formuliert, und wieder werden philologische Analyse und philosophische Erbauung kontrastiert.26 Die philosophische Lektüre kann dabei rasch in die Nähe der Allegorese geraten. So liest Seneca in Brief 12 (auch er reflektiert die Kürze des Lebens) Didos letzte Worte gegen den Erzählerkommentar der Aeneis selbst; Didos Worte: vixi et quem dederat cursum fortuna peregi werden zur stoischen Maxime, den Tod, wann immer er kommt, als gottgegeben anzunehmen, während der Erzähler der Aeneis ausdrücklich festhält, dass ihr Sterben unverdient und vorzeitig war. Nur durch die Umdeutung kann Dido zu einem Vorbild stoischen Sterbens werden.27 Seneca liest also ungeachtet seiner eigenen Kritik an der Allegorese der Alten Stoa poetische Texte allegorisch; allerdings haben sich die Referenzpunkte gegenüber seinen Vorgängern deutlich verschoben. Nur punktuell greift er auf griechische Texte zurück; insbesondere Odysseus’ Irrfahrten werden gelegentlich 23 24 25 26 27
Sen. Ep. 33.6. Sen. Ep. 108.9f. Sen. Ep. 108.24. Sen. Ep. 108.24–29. Mann 2006; Verg. A. 4.653: „Mein Leben ist vorbei und der Lauf, den mir das Schicksal gegeben hatte, vollendet“; zitiert und interpretiert in Sen. Ep. 12.9; die Deutung des Erzählers in Verg. A. 4.696f.: nam quia nec fato merita nec morte peribat, / sed misera ante diem subitoque accensa furore. („Denn weder ihr Schicksal noch ihr Tod war verdient; die Arme starb vor der Zeit und von jähem Rasen entflammt.“) Berno spricht mit Bezug auf die drei Zitationen desselben Vergilverses bei Seneca (neben unserer Stelle noch Dial. 7.19.1 und Ben. 5.17.5) von einer „quasi completa decontestualizzazione“ des Verses (2014, das Zitat S. 134); da man in der Tat mit einer gewissen Verselbständigung des Verses als einer Sentenz rechnen kann, wird es von Bildung und Disposition des Lesers abhängen, ob er die dem ursprünglichen Sinn zuwiderlaufende Verwendung registriert.
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psychologisch-philosophisch gedeutet, vielleicht unter dem Einfluss der zeitgenössischen griechischen Homerallegorese, die uns durch Heraklits Schrift greifbar ist.28 Aber mit weitem Abstand am häufigsten werden Vergils Georgica und seine Aeneis herangezogen; Aeneas kann zum stoischen Weisen werden oder zumindest doch zum stoischen proficiens; als Letzterer erscheint er, wenn Lucilius aufgefordert wird, sich unabhängig von Reichtum zu machen, und dazu Euanders Worte zitiert werden, mit denen er Aeneas in sein bescheidenes Haus bittet:29 Incipe cum paupertate habere commercium; ‚aude, hospes, contemnere opes et te quoque dignum / finge deo.‘ Nemo alius est deo dignus quam qui opes contempsit. Beginne damit, dich mit bescheidenem Leben zu arrangieren: ‚Nur Mut, lieber Gast, schätze Reichtum gering und arbeite daran, selbst auch würdig des Gottes zu werden.‘ Nur der ist des Gottes würdig, der Reichtum geringschätzt.
Brief 67 vertritt die These, tapferes Erdulden von Leid sei wünschenswert, auch wenn das Leid als solches nicht wünschenswert sei; zum Beleg werden dann (in dieser Reihenfolge) die Schicksale von Regulus, Cato Uticensis, Rutilius, Sokrates, Aeneas und Decius angeführt, wobei Aeneas mit seiner im Seesturm des ersten Buches geäußerten Klage zitiert wird, glücklicher seien die, denen es vergönnt gewesen sei, in Troja zu sterben.30 Bezeichnend scheint mir zu sein, dass kaum noch zu klären ist, ob Aeneas hier mythische Allegorie oder historisches Exempel ist; die Verbindung zu den (mehr oder weniger) historischen Figuren legt Letzteres nahe.31 Allegorie und exemplum treten auch in Brief 95 als Paar auf; dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil dieser Brief erklärtermaßen das Ziel verfolgt, die Notwendigkeit einer theoretischen Begründung moralischen Handelns nachzuweisen. Damit bildet er das Pendant zum vorhergehenden Brief, in dem der Sinn von praecepta, also praxisnahen Handlungsanweisungen, erläutert wurde. Praecepta, so ergänzt Brief 95, seien aber nicht hinreichend, um tugendhaftes Handeln zu gewährleisten. Erst decreta, Lehrsätze, Dogmen sicherten ein dauerhaft tugendhaftes Leben, weil sie die Ziele definierten, an denen sich das praktische Handeln orientieren müsse.32 Allerdings sei es nicht immer leicht zu erkennen, was die Vernunft gebiete:33
28 Zu Odysseus s. Sen. Ep. 88.7f. und Ep. 53; zu diesem Brief und zum Einfluss Heraklits s. Wenskus 1994. 29 Sen. Ep. 18.12. Vgl. auch Ep. 76.33; zu diesen Beispielen sowie dem folgenden s. Martín Sánchez 1990, 211–215. 30 Sen. Ep. 67.7–9; zitiert wird Verg. A. 1.94–96. 31 Voraussetzung für diese Verwendung von Mythos bzw. exemplum ist jedenfalls eine allgemein als herausragend akzeptierte literarische Darstellung wie etwa die der Odyssee oder der Aeneis. Sowohl eine allegorisch-philosophische Deutung als auch ein Verständnis einzelner Figuren und Taten als exemplum unterscheiden sich von der typologischen Deutung auf Augustus und das römische Imperium, wie wir sie etwa in den spätantiken Kommentaren fassen; s. dazu Coleiro 1984, 109f. 32 S. insbesondere Sen. Ep. 95.44-46; zu Brief 94 und 95 s. Schafer 2009. 33 Sen. Ep. 95.61.
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Ratio autem non impletur manifestis: maior eius pars pulchriorque in occultis est. Doch das offen zu Tage Liegende ist noch nicht die ganze Vernunft; ihr größerer und schönerer Teil liegt im Verborgenen.
Mit diesem Gedanken wird zum Schlussteil des Briefes übergeleitet: Praecepta et alia (so heißt es wörtlich) seien auch den Unerfahrenen zugänglich.34 So habe Poseidonios die Moralphilosophie nicht nur in praecepta und decreta eingeteilt, sondern unter anderem eine Ethologie eingeführt, die die Kennzeichen tugendhaften Verhaltens beschreibe; und dies, so fährt Seneca fort, sei auch sinnvoll:35 Proponamus laudanda, invenietur imitator. Putas utile dari tibi argumenta per quae intellegas nobilem equum, ne fallaris empturus, ne operam perdas in ignavo? Quanto hoc utilius est excellentis animi notas nosse, quas ex alio in se transferre permittitur. ,Continuo pecoris generosi pullus in arvis / altius ingreditur et mollia crura reponit; / [...].‘ Dum aliud agit, Vergilius noster descripsit virum fortem: ego certe non aliam imaginem magno viro dederim. Si mihi M. Cato exprimendus inter fragores bellorum civilium inpavidus et primus incessens admotos iam exercitus Alpibus civilique se bello ferens obvium, non alium illi adsignaverim vultum, non alium habitum. (Sen. Ep. 95.66–69) Wir müssen vor Augen stellen, was lobenswert ist, dann findet sich auch ein Nachahmer. Du hältst doch Kennzeichen für nützlich, an denen du ein edles Pferd erkennen kannst, um dich beim Kauf nicht betrügen zu lassen, um kein Geld für einen lahmen Gaul zu verschwenden? Wieviel nützlicher ist es, die Merkmale einer hohen Seele zu kennen, die du vom anderen auf dich übertragen kannst? ‚Sogleich schreitet das Füllen edlen Geblüts stolzer auf den Fluren umher und setzt graziös seine Beine. [...]‘ Unser Vergil hat, während er von ganz anderem handelte, einen tapferen Mann beschrieben: Ich jedenfalls würde kein anderes Bild für einen großen Mann verwenden. Wenn ich M. Cato darzustellen hätte, wie er im Tosen der Bürgerkriege furchtlos und in vorderster Front auf die Heere losgeht, die sich schon den Alpen nähern, und sich dem Bürgerkrieg entgegenstellt, würde ich ihm keine andere Miene, keine andere Haltung zuschreiben.
Seneca liest Vergils Beschreibung des edlen Füllens allegorisch, und er sagt das auch ausdrücklich (dum aliud agit); was er nicht sagt, ist, dass eine solche Lektüre der Georgica durchaus naheliegt.36 Für uns wichtiger ist, dass er erneut Allegorie und exemplum miteinander verknüpft, wobei sich Letzteres im Folgenden verselbständigt, wenn Catos Heroismus biographisch entfaltet wird. Aus Poseidonios’ Ethologie macht Seneca historisch-exemplarische Erzählung, und eben dieses Verfahren begründet er im Anschluss:37 Proderit non tantum quales esse soleant boni viri dicere formamque eorum et liniamenta deducere sed quales fuerint narrare et exponere. Es wird nützlich sein, nicht nur zu sagen, wie rechtschaffene Männer zu sein pflegen, und ihre Gestalt und ihre Umrisslinien nachzuziehen, sondern zu erzählen und darzustellen, wie sie waren.
34 35 36 37
Sen. Ep. 95.64. Seneca zitiert Verg. G. 3.75–81 und 83–85. Richtig dazu Fantham 1998, 273 Anm. 32. Sen. Ep. 95.72. Roller hat anhand von Ep. 94 und Ep. 120 gezeigt, wie Senecas philosophische Kritik an exempla mit ihrer reflektierten Anwendung einhergeht (2016).
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An wen er dabei denkt, sagt er auch noch, und so endet der lange Brief erneut mit exempla, mit Cato, Scipio, Laelius und Tubero. Man muss sich vergegenwärtigen, dass das ganze umfangreiche Briefpaar 94 und 95 dem Nachweis galt, dass praecepta allein für die moralische Unterweisung nicht hinreichend sind, sondern der Begründung durch eine theoretische Ethik bedürfen, um zu ermessen, wie sehr sich der Schluss vom prätendierten Beweisziel löst und wie sehr sich die narrative Philosophie gegenüber der theoretischen verselbständigt, wenn es darum geht, ein abstraktes Ideal vor Augen zu stellen. Ein letztes Beispiel für die philosophische Dichterlektüre ist den Naturales quaestiones entnommen, und der Dichter, der gelesen wird, ist in diesem Falle Ovid. Der Schluss des dritten Buches, das die Aitiologie des Wassers behandelt, stellt das Bild einer endzeitlichen Flut vor Augen, die als funktionales Äquivalent für die stoische Ekpyrosis konzipiert ist – ein theoretisch problematisches Unterfangen. Für die Schilderung der immer weiter steigenden Wasser benutzt Seneca einzelne Verse aus Ovids Erzählung von der deukalionischen Flut, um zugleich andere Verse wegen ihrer Unangemessenheit zu kritisieren:38 Ergo insularum modo eminent ,montes et sparsas Cycladas augent,‘ ut ait ille poetarum ingeniosissimus egregie, sicut illud pro magnitudine rei dixit, ,omnia pontus erat, deerant quoque litora ponto,‘ ni tantum impetum ingenii et materiae ad pueriles ineptias reduxisset: ,nat lupus inter oues, fuluos uehit unda leones.‘ non est res satis sobria lasciuire deuorato orbe terrarum. (Sen. Nat. 3.27.13f.) Also ragen nach Art von Inseln ‚Berge‘ heraus ‚und vermehren die Zahl der verstreuten Kykladen‘, wie der von allen am höchsten begabte Dichter herrlich formuliert; auch die folgenden Worte entsprechen der Größe des Gegenstandes: ‚Alles war Meer, nicht einmal Küsten hatte das Meer.‘ Hätte er nur nicht den Schwung seiner Begabung und seines Stoffes auf kindische Albernheiten verkleinert: ‚Der Wolf schwimmt zwischen Schafen, die Flut trägt gelbe Löwen davon.‘ Wer Übermut zeigt, wenn die Welt verschlungen wird, ist dem Ernst der Sache nicht gewachsen.
Das Wechselspiel von Zitat und Kritik wiederholt sich im Folgenden. Seneca ignoriert, dass Ovids Erzählkunst nicht zuletzt davon lebt, im Tragischen das Rührende und im Heiteren das Grausame wahrzunehmen. Was er im Ergebnis kritisiert, ist, dass Ovids Text einer allegorischen Deutung Widerstand leistet, indem er das Pathos unterminiert; ein solcher Text kann nicht Teil seines philosophischen Curriculums werden. Das aber sagt Seneca nicht, sondern benutzt für seine Absage an Ovid das Material der Schulkritik; der Gegensatz von überreicher Begabung und Albernheit, d. h. der fehlende Wille, das ingenium der Disziplinierung durch die ars zu unterwerfen, ist geradezu ein Topos einer Ovidkritik, deren frühester Zeuge für uns Seneca pater ist, die aber fast unverändert noch bei Quintilian wiederkehrt.39 38 Mit Ov. Met. 2.264; 1.292.304. 39 Sen. Con. 2.2.8–12; Quint. Inst. 10.1.88–98; allerdings entschuldigt Quintilian Ovids lascivire in Übergängen mit der Notwendigkeit, die verschiedenen Erzählungen miteinander zu verbinden. Degl’Innocenti Pierini (1990 [1984], 187) macht auf eine Parallele in Porphyrios Kommentar zu Horazens Reminiszenz an den Deukalionmythos (Carm. 1.2.9) aufmerksam: Leviter in re tam atroci et piscium et palumborum meminit, nisi quod hi excessus lyricis
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Es bleibt also in erster Linie Vergil, der für Senecas philosophisches Bildungsprogramm ohne Einschränkung herangezogen werden kann. Die unterschiedliche Rezeption von Vergil und Ovid deutet an (und damit sind wir beim letzten Punkt), wo die Parallelen zwischen einer traditionellen römischen Bildung und Senecas neuem philosophischen Curriculum liegen, das er in den Epistulae Morales exemplarisch durchspielt. Allegorische Deutung vergilischen Heldentums verbindet sich mit historischen exempla der Römer, ohne dass eine kategoriale Unterscheidung zwischen beiden Verfahren der Normbegründung getroffen wird. Wenn Seneca die Benutzung einer philologischen Technik wie der Allegorese mit einem rhetorischen Gestus der Ablehnung hellenistischer Gelehrsamkeit verbindet, suggeriert er, dass seine neue Form stoischen Philosophierens hinter die Rezeption der griechischen Bildung zurückgreift und an traditionelle römische Verfahren der Normenbegründung anknüpft. Diese Verbindungslinien zwischen römischer Erziehung und Senecas neuer Form von Konservatismus lassen sich mit drei Stichworten benennen: Traditionalismus, Virilismus, Nationalismus. Zum ersten: Zu Beginn von Brief 108 erinnert Seneca an seinen eigenen Bildungsgang und an seine Lehrer. Besonders einflussreich sei der Pythagoreer Sotion gewesen, der ihn zu vegetarischer Lebensweise überredet habe; allerdings habe diese Phase nur ein Jahr gedauert. Tiberius habe damals Anhänger orientalischer Religionen verfolgt; doch entscheidend sei der Einfluss seines Vaters gewesen:40 Patre itaque meo rogante, qui non calumniam timebat sed philosophiam oderat, ad pristinam consuetudinem redii; nec difficulter mihi ut inciperem melius cenare persuasit. Deshalb bin ich auf Bitten meines Vaters, der zwar keine Angst vor Verleumdung hatte, aber die Philosophie verabscheute, zu meiner früheren Lebensweise zurückgekehrt; und er hatte keine Schwierigkeiten, mich davon zu überzeugen, reichhaltiger zu essen.
Erstaunlich ist dieses Zeugnis deshalb, weil es den Gehorsam gegenüber einem Vater, der die traditionellen Vorbehalte gegenüber der griechischen Philosophie pflegt, über die eigene philosophische Neigung stellt. Seneca selbst nimmt die Anekdote zum Beleg der These, dass jugendliches Ungestüm der Anleitung bedürfe; aber dass er ignoriert, dass die Anleitung darauf zielt, ihn ganz von der Philosophie abzubringen, ist nur als Versuch zu verstehen, eine Verbindung oder einen Kompromiss zwischen traditioneller und philosophischer Erziehung zu finden.41 concessi sunt. („An Fische und Tauben zu denken, entspricht nicht dem Gewicht des grässlichen Themas; doch sind solche Abschweifungen den Lyrikern erlaubt.“) 40 Sen. Ep. 108.22. 41 Im Brief über die artes liberales wird einer antiquarisch interessierten Lektüre der Odyssee eine philosophische Unterweisung gegenübergestellt, die lehrt, das Vaterland, die Gattin und den Vater zu lieben (Ep. 88.7f.). An einer späteren Stelle des Briefes wird die Philosophie erneut zum Kompromissangebot, in diesem Fall zwischen einigen als besonders nutzlos angesehenen artes und einer traditionell römischen Erziehung, die die Stärkung des Körpers und das militärische Training in den Mittelpunkt gestellt habe; beides helfe nicht, die Laster zu besiegen (Ep. 88.18f.); damit wird die Philosophie zu einem dritten Weg zwischen Tradition und hellenistischer Gelehrsamkeit.
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Zum Stichwort Virilismus: Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die römische Rhetorik durchgehend mit einer gender-Konstruktion arbeitet, die gute Rede mit männlicher Rede assoziiert. Die Schriften von Seneca pater bieten dafür reiches Anschauungsmaterial.42 Seneca philosophus folgt diesem Muster und konzipiert in analoger Weise eine recht verstandene stoische Philosophie als männliche Philosophie; die kürzeste Formulierung des Konzeptes ist natürlich der Begriff virtus,43 aber Seneca entfaltet es auch ausführlicher, wenn er etwa in De providentia die Götter mit guten, aber strengen Vätern vergleicht.44 Nicht das schönste, aber doch das eindrücklichste Beispiel bietet der Anfang der Schrift De constantia sapientis:45 Tantum inter Stoicos, Serene, et ceteros sapientiam professos interesse quantum inter feminas et mares non inmerito dixerim, cum utraque turba ad uitae societatem tantundem conferat, sed altera pars ad obsequendum, altera imperio nata sit. Ceteri sapientes molliter et blande [...] medentur [...]: Stoici uirilem ingressi uiam [...]. (Sen. Dial. 2.1.1) Es wäre wohl nicht falsch zu sagen, Serenus, dass der Abstand zwischen den Stoikern und den anderen Lehrern der Philosophie eben so groß ist wie der zwischen Frauen und Männern, da beide zwar zur Lebensgemeinschaft ebenso viel beitragen, aber die einen zum Gehorchen, die anderen zum Befehlen geboren sind. Die übrigen Philosophen wenden sanfte und behutsame Medizin an [...]; die Stoiker dagegen beschreiten den männlichen Weg [...].
Virilismus verbindet sich oft mit Nationalismus, und obwohl Seneca eine griechische Philosophenschule vertritt, so betont er doch durchgehend den römischen Charakter seiner Version stoischer Philosophie. Dazu gehören Bemerkungen wie die zitierte Sottise über Chrysipp, dazu gehört die Bevorzugung der Dichtung Vergils, dazu gehören die exempla aus der römischen Geschichte und dazu gehört die proklamierte Nähe zu römischen Philosophenschulen, insbesondere der des Sextius, der nicht nur Römer ist, sondern auch römisch philosophiert:46 Sextium ecce cum maxime lego, virum acrem, Graecis verbis, Romanis moribus philosophantem. Nimm Sextius; ich lese ihn gerade, einen beherzten Mann, der in griechischer Sprache, aber nach römischer Art philosophiert.
Wie Sextius das macht, bleibt offen; entscheidend ist erneut die Suggestion, es gebe so etwas wie eine spezifisch römische Philosophie.
42 S. z. B. Suas. 3.6f: Gallio, der Adoptivvater des älteren Bruders des Philosophen Seneca, verspottet einen Deklamator als plena deo; zur gender-Konstruktion der Rhetorik s. Gleason 1995; Richlin 1997; Gunderson 2000 und 2003, 153–190; Bloomer 2011, 181–188. Zum Virilismus des Redners in Seneca philosophus s. Gleason 1995, 111–113. 43 Graver 1998 zeigt die Verbindung von Senecas Virilitätskonzept zur materialistischen Psychologie der Stoa auf. Zum Begriff virtus S. 607f. mit Verweis auf Cic. Tusc. 2.43. 44 Sen. Dial. 1.1.5f.; vgl. dazu Smith 2014, 118 mit weiteren Belegen. Grundlegend zu Senecas Kategorisierung von Philosophie als „männlich“ s. Harich 1993, 132–135. 45 Vgl. z. B. auch Ep. 46.2; Ep. 95.15–21 (s. dazu Gazzarri 2014); zur gender-Orientierung von Senecas Philosophie insgesamt s. Habinek 1998, 137–150. 46 Sen. Ep. 59.7.
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Mit all dem stellt sich Seneca in eine Linie mit einer traditionellen römischen Erziehung; er kaschiert damit, wie innovativ seine Philosophie ist, die sich nicht darauf beschränkt, griechische Philosophie in lateinischer Sprache zu vermitteln oder auszulegen, sondern auf stoischer Grundlage zu Selbstreflexion und Selbstsorge anleitet. Trotz der ostentativen Ablehnung hellenistischer Gelehrsamkeit wird diese ebenso wie die theoretische Philosophie der Griechen und die römische Normenbegründung durch Tradition in sein philosophisches Bildungsprogramm integriert. Gewissermaßen versucht er, die von ihm beklagte Entwicklung (Philosophie sei zu Philologie verkommen) umzuwenden; philologische Beschäftigung mit großer Literatur kann philosophisch fruchtbar werden, zumal wenn sie sich mit der römischen Tradition des Denkens in exempla verbinden lässt.47 BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben / Kommentare Inwood 2007, B. (Hg.), Seneca, Selected philosophical letters: Translated with introduction and commentary, Oxford (Clarendon later ancient philosophers). Reynolds 1965, L. D. (Hg.), L. Annaei Senecae ad Lucilium Epistulae morales, 2 Bde., Oxford. Schmeling 2011, G., A commentary on the Satyrica of Petronius, With the collaboration of Aldo Setaioli, Oxford.
2. Sekundärliteratur Barnes 1997, J., Logic and the imperial Stoa, Leiden (Philosophia Antiqua 75). Batinski 1993, E., Seneca’s response to Stoic hermeneutics, Mnemosyne 46, 69–77. Berno 2014, F., Il saggio destino di Didone. Aen. IV 653 in Seneca (vit. b. 19,1; benef. 5,17,5; ep. 12,9), Maia 66, 123–136. Bloomer 2011, W., The school of Rome: Latin studies and the origins of liberal education, Berkeley [u.a.]. Coleiro 1984, E., Art. „allegoria – esegesi allegorica“, Enciclopedia virgiliana 1, 108–110. Cooper 2004, J., Moral theory and moral improvement: Seneca, in: ders.: Knowledge, nature, and the God. Essays on ancient philosophy, Princeton, 309–334. Degl’Innocenti Pierini 1990, R., Tra Ovidio e Seneca, Bologna (Edizioni e saggi universitari di filologia classica 44). Fantham 1998, E., Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der römischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart/Weimar. Gauly 2004, B., Senecas Naturales Quaestiones: Naturphilosophie für die römische Kaiserzeit, München (Zetemata 122). Gazzarri 2014, T., Gender-based differential morbidity and moral teaching in Seneca’s Epistulae morales, in: J. Wildberger / M. Colish (Hgg.), Seneca philosophus, Berlin (Trends in classics. Suppl. 27), 209–227.
47 Für Kritik und Hinweise danke ich den Teilnehmern an der Diskussion; besonderen Dank schulde ich Gregor Bitto für eine eingehende Lektüre des Manuskriptes und hilfreiche Gespräche.
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PHILOLOGIA ANCILLA RHETORICAE. LESEÜBUNGEN FÜR DIE RHETORISCHE BRILLANZ? QUINTILIANS PHILOLOGISCHE EMPFEHLUNGEN Thomas Schirren
Wolfram Ax praeceptori artis oratoriae 1. VORBEMERKUNGEN Wenn wir nach Philologie als einer inszenierten Lektüre fragen, so könnte man nicht nur sagen, dass sie auf zweiter Stufe über der angewandten und still gelehrten Philologie stünde; man könnte auch daran denken, sie als eine ins Quadrat gesetzte Philologie zu betrachten: eine Philologie der Philologie. Als Metaphilologie müsste sie allerdings zugleich ihr eigenes Geschäft reflektieren und thematisieren. In der Karikatur des Philologen liegt bereits dieses Moment, wenn auch in einem zugegebenermaßen geringen und misshelligen Bilde. Doch je höher die philologische Kritik steigt, von der Evaluierung und Auswahl der Textzeugnisse bis hin zur Konstituierung eines Textes, desto deutlicher wird auch die produktive Macht der Philologie. Schließlich geht sie von der Anlage von Verzeichnissen den taxonomischen Schritt zur Kanonisierung von Texten und von zu lesenden Autoren. Aus dem positivistischen Sammeln ist der Schritt zum Deuten und Werten gemacht, was alles auch auf einer tieferen Stufe geschieht, der der Textkritik, nun aber einen Kosmos von Werken schafft, deren Lektüre nicht länger ins Belieben des Lesers gestellt bleibt, sondern der erfasst sein will und für den es einen Kompass gibt, wenn man sich darin bewegen will. Irgendwo ist dann der Punkt, auf den sich die Nadel stets ausrichtet und von dem aus allen anderen Texten ihr Platz angewiesen wird. Aus der Sukzession der zeitlichen Abfolge einzelner Texte wird ein System. Die ganze antike Literatur ist dann aber nicht nur ein System von aufeinander bezogenen Texten, sondern in ihrem, wenn man so will, genetischen Code liegt zugleich eine Literaturtheorie. Literatur wird gemacht, das wissen wir, aber auch deren Maßstäbe sind gemachte und so auch ihre ‚Geschichte‘.1 Diese Zirkularität ist in der Frühromantik Ausgangspunkt von Überlegungen zu einer neuen Literatur, die freilich nach den Maßstäben der alten geschaffen werden soll. Solche Maßstäbe aber kann nur eine nach den exemplaria der Alten geschulte 1
Aristoteles z. B. schreibt eine Literaturgeschichte als fortschreitende Entfaltung der µίµεσις πράξεως.
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Urteilskraft bereitstellen, die wiederum kritisch zu sein hat. Wie sich das in Notizen des jungen Friedrich Schlegel niederschlägt, der in seinen ‚Studien‘ eine neue Poesie ankündigen möchte, sei hier zitiert: Unter der nachträglichen Überschrift „Principien der Philologie“ heißt es: Das Wesen des Alterthums κ/0 [absolute Kritik]und d[as] d[er] Modernheit σθ/0 [absolute Synthese].– Zum Römersinn selbst gehört auch κρ/0 [absolute Kritik]. Eine einzige Konjektur sezt eine vollständige d. h. unendliche Kenntniß des Alterthums voraus. –
Aehnlichkeit der öffent[lichen] Institute für Ws[Wissenschaften] zur römischen Kaiserzeit mit unsern Universitäten. Auch hier schon Anfänge der Modernen. – Der gesamte populus Romanus war wohl ein Cyniker. – Hat Caesar die Taktik nicht bis zur Ironie gebracht? – Sinn für Fragmente ist ein spezifischer Bestandtheil des vollkommenen Alterthumskenners. (StA 3v, 1–12)
Es scheint mir in diesem Zusammenhang eminent wichtig und sinnvoll zu betrachten, wie die Frage nach der Philologie im Frühstadium der Altertumswissenschaften gestellt wurde. In diesen Aufzeichnungen dokumentiert sich die Frage nach der produktiven Kraft der Kritik: Kritik ist nicht nur Evaluation, Hoch- und Absetzen von Texten, Kritik lenkt den Prozess der Herstellung. Keine Literatur könnte ihr entraten, denn immer wo etwas ist, ist etwas anderes nicht, und zwar mit Gründen. Schlegel sieht nun in der „absoluten Kritik“ „das Wesen des Alterthums“; dem stellt er die absolute Synthese der Moderne gegenüber. Wenn er nun aber auch im „Römersinn“ „absolute Kritik“ (κρ/0) ausmacht, so denkt er daran, wie die römische Literatur durch die alexandrinische Kritik geprägt und nach diesen Maßstäben produziert worden ist; und wenn die Kyniker für die Umwertung aller Werte stehen und für ein konsequentes In-Frage-Stellen, so wird diese unausgesetzte und fortlaufende Kritik zu einem Wesenszug des römischen Volkes, aus deren Mitte die Dichtung entsteht (Schlegel denkt an Horatius’ Satiren, Juvenal, Martial).2 In eine ähnlich verstörende Richtung geht die Frage, ob „Caesar die Taktik nicht bis zur Ironie gebracht“ habe. Denn andernorts bemerkt Schlegel, Caesar sei durchaus taktisch in seinen Schriften und habe, wie Plato und Herodot, sogar Ironie.3 Also wird Taktik zu einer Stileigentümlichkeit und wenn diese bis zur Ironie gesteigert ist, dann meint Schlegel damit die Figur der unendlichen Brechung; und beschreibt Caesar seine Taktik im Felde nicht auch taktisch? Die sprachliche spiegelt die militärische Taktik und beide vereinen sich im ingenium Caesars als eines militärisch-politischen Dichters, der so einen Grundzug der römischen Literatur verkörpert.
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Dazu FGP 6r,06–10: „Fünf Perioden der römischen Satire. 1) Ennius 2) Lucilius Vollendung der Röm[er]. 3) Mischung mit Griech.[ischer] Cultur. Horatius. 4) Nachahmung der besten Mischung. Correctheit. Persius. 5) Anfang der Modernen Satire. Juvenalis.“ StA17v,01–02: Caesar hat Ironie. Plato und Herodot auch; diese alle sind naiv. – (Giebts nicht eine eigne histor.[ische] Ironie?)
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Ein öffentlich besoldeter Rhetoriklehrstuhl wie derjenige Quintilians, auf dem ein Lehrer und Kritiker dem Verfall der Redekunst begegnen soll oder will,4 nimmt sich in dieser Perspektive wie die Ankündigung des neuen Anfangs aus, den sich die Frühromantiker als Synthese alles Bisherigen erhoffen. Also blitzt hier Modernität inmitten des römischen Altertums auf. Und so verändern sich die Begriffe Antik und Modern: Sie sind nämlich nicht mehr epochale, sondern philologische Begriffe. Sie bezeichnen nun eine bestimmte Machart von Texten, die sich wiederum bestimmten Prinzipien verdankt. Kritik ist damit nicht nur Kennzeichen der kantischen Aufklärung, sondern wird zu einer Entstehungsbedingung von Literatur unter dem Diktat der Korrektheit. Darin liegt zumal eine Selbstreflexion der Produzenten. Mit solchen Vorüberlegungen möchte ich mich nun dem angeleiteten Lesen zuwenden, das Quintilian dem angehenden Orator auf den Weg geben möchte. Denn seine Gedanken gehören genau in diesen Umkreis einer potenzierten Philologie, in der die Techniken der Philologie wiederum neue Produktivitäten ermöglichen sollen. Es kann daher auch nicht verwundern, dass der junge Schlegel gerade das 10. Buch der Institutio öfter zitiert hat.5 Was es damit im Einzelnen auf sich hat, möchte ich im Folgenden umreißen. 2. LESEN FÜR DIE RHETORISCHE BRILLANZ Zu Beginn des 10. Buches unterbricht sich der Praeceptor. Er hatte bis zum 9. Buch die elocutio behandelt, im letzten Kapitel 9.4. die compositio verborum, die wiederum sehr deutlich unter der Leistung Ciceros steht: „Über die compositio wagte ich nicht, nach Cicero zu schreiben, der wohl keinen anderen Teil seines Werkes mehr ausgearbeitet hat, wenn nicht Menschen seiner Zeit mit Briefen seine Wortfügung zu tadeln gewagt hätten und nach seinem Tod mehrere vielerlei hinterlassen hätten, was sich auf dieses Thema bezöge.“6 Quintilian gibt sich also
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Zu dieser Nachricht siehe Hieronymi Chronicon, ed. Helm 1984, 190, 19–21, CCXVI Olymp. VIII (= 88 n. Chr.): Quintilianus ex Hispania Calagurritanus primus Romae publicam scholam et salarium e fisco accepit et claruit. Außerdem Suet. Ves. 18: primus e fisco latinis graecisque rhetoribus annua centena constituit, was eine frühere Datierung als Hieronymus nahelegt. Zum Thema des Verfalles der Redekunst, das Quintilian in der verlorenen Schrift De causis corruptae eloquentiae behandelt hat, s. Schirren 2005, 70–71. FGP 4r,34 „Quinct. lib X. cap. VII. von der facilitas extemporalis“; Ja, er will Quintilian neben anderen sogar als Vorbild seiner Studie zur griechischen Poesie nehmen: FGP 9r28–33: „Das Werk über Gr π – die größte Sat⁄0 κφ [kritisch philosophisch] im Styl, aber überall Ein Geist würdig darüber schwebend. Im Styl, Herod, Demosth. Caesar, Sallust, Tacitus. Wegen d gleichen Stoffs – Varro, Cicero, Quinctilian, Dionysius, Plutarch, Suetonius. – Das Studium nur ein Theil dieses Werks.“ FGP 29v, 9–11; 32v, 29; StA 22r,17–18. Quint. Inst. 9.4.1: De compositione non equidem post M. Tullium scribere auderem, cui nescio an ulla pars operis huius sit magis elaborata, nisi et eiusdem aetatis homines scriptis ad ipsum etiam litteris reprehendere id conlocandi genus ausi fuissent, et post eum plures multa ad eandem rem pertinentia memoriae tradidissent. Bereits hier kündigt sich auch das Anliegen
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selbst sowohl als Epigonen wie auch als Teilnehmer einer kritischen Fachdiskussion; er möchte sein eigenes iudicium vorbringen, aber ohne den anderen ihres zu nehmen. Fragen der Wortwahl und der Wortfügung sind offenbar diffizile Gegenstände,7 noch die besten Autoritäten werden kritisiert, andererseits möchte der Theoretiker jedem sein eigenes iudicium lassen. Fremdbestimmung und zumindest behauptete Souveränität in diesen Fragen liegen eng beieinander. Denn die Urteile auch anerkannter Autoritäten differieren so sehr, dass man sich einerseits nach Orientierung umschaut, andererseits aber auf sich selbst gestellt weiß.8 Und nun wird es noch komplizierter: So wichtig die praecepta eloquendi für die Planung sind, so unzureichend bleiben sie für die vis dicendi,9 wenn ihnen keine facilitas, die die Griechen ἕξις/hexis nennen, zu Hilfe kommt.10 Facilitas ist die Geläufigkeit, dasjenige also, was den versierten Profi-Künstler vom HobbyKünstler unterscheidet. Manche diskutieren noch, ob man solche Versiertheit eher durch Schreiben, Lesen oder Sprechen erreiche, aber da keine der drei Übungsmethoden verzichtbar ist, widmet Quintilian sich zunächst dem Lesen. Denn wer keinen Anhalt an einem guten Musterautor finde, der „schwanke“ in seiner rhetorischen Arbeit (labor ille carens rectore fluitabit 10.1.2) und selbst wenn er wüsste, was wie zu sagen wäre, „wache man doch geizig wie auf verschlossenen Schatztruhen“, solange man es nicht unmittelbar zur Verfügung habe. Hexis kommt eben von ἔχειν ‚haben‘ und ‚halten‘ und hat man alles im Griff und in Übersicht, so wird ein ‚Verhalten‘ eine Habitualität daraus.11 an, Ciceros Stil gegen die Neuerer zu verteidigen, die sich dabei zumal auf Seneca beriefen, s. unten Anm. 52 und Seite 167. 7 Cousin 1935, 518, Anm. 1–4; verweist auf Cic. Orat. 174ff.; 226ff.; Kritik an Cicero ist in Tac. Dial. 18. 5–6 und Lob durch Gallus Asinius und Larcius Licinus bei Gel. 17.1.1 fassbar. 8 Zur Situierung im Gesamt der Institutio siehe auch Peterson 1891, 11: „The reference is generally to the theoretical part of the work, which has just been completed, but specially to the two books immediately preceding, in which Quintilian deals with elocutio (φράσις, ,style‘). In Books III–VII he has treated of inventio (including dispositio); and the transition to Books VIII and IX is marked in the words ,a dispositione ad elocutionis praecepta labor‘ vii. §17 ad fin. He passes now to the exercises necessary for practice“. 9 Damit ist das Wesen der Beredsamkeit gemeint, so Peterson 1891, 11 mit folgenden Belegen: „,true eloquence‘, 10.1.8 vim orandi, 10.2.16 vim dicendi atque inventionis non adsequuntur, 10.6.2 vim cogitandi, 12.1.33 vis ac facultas dicendi expugnat ipsam veritatem, 8. pr. 30 praeparata dicendi vis, 12.10.64 vim orationis. E. Bonnell, Lexicon Quintilianeum, Leipzig 1834, 233. The vis of a thing is its essence, that which makes it what it is.“ 10 Quint. Inst. 10.1.1–2: Sed haec eloquendi praecepta, sicut cogitationi sunt necessaria, ita non satis ad uim dicendi ualent nisi illis firma quaedam facilitas, quae apud Graecos hexis nominatur, accesserit: ad quam scribendo plus an legendo an dicendo conferatur, solere quaeri scio. […] uerum ita sunt inter se conexa et indiscreta omnia ut, si quid ex his defuerit, frustra sit in ceteris laboratum. Nam neque solida atque robusta fuerit umquam eloquentia nisi multo stilo uires acceperit, et citra lectionis exemplum labor ille carens rectore fluitabit, et qui sciet quae quoque sint modo dicenda, nisi tamen in procinctu paratamque ad omnis casus habuerit eloquentiam, uelut clausis thesauris incubabit. 11 Hier wäre an die aristotelische Definition der ethischen Tugend zu erinnern, die eine Wirklichkeit als Habitualität sein soll (ἐνέργεια bzw. ἕξις µετὰ λόγου ἀληθοῦς z. B. Arist. EN 6.5 1140b20). Für Aristoteles ist entscheidend, dass die Arete eine feste und unverrückbare
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In den modernen Ausgaben wird die auffällige Verwendung der ἕξις vermerkt: Cousin notiert den Begriffszusammenhang der aristotelischen Ethik, wenn er auf „disposition ou même une puissance, mais une puissance définie qui tend à passer à l’acte, une disposition permanente“ verweist.12 Die beste mir bekannte Sammlung einschlägiger Stellen bietet Johann Christian Gottlieb Ernesti:13 Zunächst verweist er nämlich auf Seneca den Jüngeren: „Is cum notare vellet illam orationis virtutem, qua sine nimio impetu et rapida celeritate, expedite tamen fluit, et decora quadam aptaque mobilitate labitur, Fabianus, inquit Epist. 40, vir egregius, disputabat expedite magis, quam concitate, ut possis dicere facilitatem esse illam non celeritatem“. Den Redner mit facilitas zeichnet also aus, dass er ‚geläufig‘, aber nicht hastig, nämlich mit einer angemessenen Wendigkeit (mobilitas), spricht. Damit wird das Ideal des expedite dicere beschrieben, das Cicero im Redner Q. Varius verwirklicht sieht, „der im Auffinden scharfsinniger sei, ohne es an sprachlicher Umsetzung fehlen zu lassen, außerdem aber ein eindrücklicher Redner, mit scharfem Zugriff, reichem Vokabular, ohne abgelegen zu sein, und alles in allem eben ein echter Redner“.14 Ernesti kommentiert: „Nam omnis loci contextus declarat, de eo oratore dici, qui sit verbis expeditus, ut ibidem Q. Varius nominatur. Eadem fere est expedita et profluens quodammodo celeritas, quae ab ingenio acri et vivido perfecta, etiam in linguae usu et pronuntiatione cernitur; Graecorum εὐκολία, εὐγλωττία, εὔροια.“ In dieses Konzept passe dann die firma Habitualität ist, die sich im Handeln verwirklicht. Genau dieser begriffliche Hintergrund gilt auch für die rhetorische Hexis der facilitas. Man kann das gesamte 10. Buch der Ausbildung dieser facilitas gewidmet sehen, wie dies Ax 2011, 25 in seinem Kommentar in einer Übersicht tut:
Im weiteren Verlauf meiner Darstellung wird diese technische Seite der Habitualität mit der soziologischen verknüpft, s. unten Seite 160ff. 12 Cousin 1978, 292; doch auch schon zu Beginn seiner Einleitung, p. 3, verweist er auf Arist. EN 1103a31 ἐκ τῶν ὁµοίων ἐνεργειῶν αἱ ἕξεις γίνονται. Der Verweis aber auf D. H. Comp. 1.7 geht ins Leere; Cic. Inv. 1.36; 2.30 betrifft nicht die rednerische Hexis, sondern den geistigen Habitus oder die körperliche Verfassung als sedes argumentorum. Russell 2001, 246 kommt in seiner Einleitung nur auf die facilitas zu sprechen und verweist auf die imitatioLehre bei Ps.-Longin, De subl. 13–14, Sen. Ep. 114 und D. H. De imitatione . Doch sind diese Verweise zu allgemein und betreffen auch nicht die facilitas im engeren Sinne, wie sie Quintilian als technische Grundlage darstellt. Zu ergänzen wäre mit Peterson 1891, 12 noch Plin. Ep. 2.3.4 (von Isaeus) ad tantam ἕξιν studio et exercitatione pervenit. 13 Ernesti 1797, 162f. 14 Cic. Brut. 221: acutior in rebus inveniendis nec minus verbis expeditus; fortis vero actor et vehemens et verbis nec inops nec abiectus et quem plane oratorem dicere auderes. Cicero nennt ihn in de Orat. 1.117 einen vastus homo atque foedus. In Brut. 305 werden er, C. Carbo und Cn. Pomponius, als diserti bezeichnet, qui habitabant in rostris. Er wird jedoch nach Einbringung der lex Varia selbst nach diesem Gesetz verbannt und stirbt nach 89 v. Chr., s. Cic. Brut. 305; die Reste in ORF, 304–305.
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facilitas des Quintilian in Inst. 10.1 und er folgert: „ea assequimur ut, quae dicamus aut scribamus, habeamus in promtu, de praeceptis vel artis disciplina minus solliciti: ein Habitus in der Beredsamkeit, auf Uebung und Lektüre gegründet.“ Diese Stelle hatte Curtius im Kopf, als er die wirkungsmächtigen Zeilen über Quintilian im Mittelalter verfasste:15 Der ganze Lehrstoff der Rhetorik ist in den vorstehenden Kapiteln [also Inst. 1–9] abgehandelt. Aber auch der Studierende, der ihn ganz in sich aufgenommen hat, besitzt noch lange nicht die zum Habitus gewordene Leichtigkeit der Rede. Dies erfordert eine umfangreiche Reserve stets verfügbarer Redewendungen und Wissensinhalte – copia rerum ac verborum (X 1,5). Beides erwirbt man durch Lektüre.
Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik findet man zur facilitas keinen eigenen Eintrag; unter ‚Habitus‘ unsere Quintilianstelle nicht direkt, sondern nur den Hinweis auf Curtius; der Autor hat also nicht nachgeschlagen, sondern nur übernommen. Im Lemma ‚Virtuose‘ fehlt Quintilian leider ganz.16 Das ist deswegen ein Manko, weil es dem Rhetor gerade um diese Virtuosität des Orators geht, denn alles, was später dem Virtuosen zugeschrieben wird, zeichnet die facilitas als hexis gerade aus. Denn zwar ist das gute Reden (scientia bene dicendi ist ja die Definition der Rhetorik in der Institutio 2.15.34) das Telos der Rhetorik, aber nachdem die großen Kapitel und Lehrgegenstände behandelt sind, ist der imaginäre orator instituendus bereits ein Athlet, der schon alle Tricks gelernt hat und jetzt das geeignete Training erhalten soll, um sich auf die Wettkämpfe vorzubereiten. Diese Betonung der actio hat der brillante Redner des römischen Rhetors mit dem Virtuosen der Musik seit der frühen Neuzeit gemein. Das Lesen dient also der Selbstoptimierung für den Wettkampf der actio. Denn nachdem inventio, dispositio und elocutio eigentlich schon durch sind, gehe es nunmehr darum, wie man umsetzen könne, was man gelernt habe. Es ist in diesem Zusammenhang auch an die sophistische Trias von physis, mathesis und askesis zu denken, die Protagoras etablierte und die ihn in der jüngsten Zeit zum Übungsphilosophen gemacht hat.17 Naturanlage bedarf der Ausbildung durch einen strukturierten Unterricht, aber erst die konsequente Einübung verleiht der Performanz jene fundamentale Sicherheit, über die der Virtuose gebietet. Man könnte auch an den rhetorischen Dreischritt von praecepta, imitatio und exercitatio denken, den wir beim frühesten römischen Rhetor in knappen Worten belegen können, der aber sicherlich auf die Griechen zurückgeht:18 Haec omnia [die Redestadien] tribus rebus assequi poterimus, arte, imitatione, exercitatione. Ars est praeceptio quae dat certam viam rationemque dicendi. Imitatio est qua impellimur 15 Curtius 1965, 436. 16 Kosenina 1996, (Habitus); Behrisch 2009, (Virtuose). 17 Protagoras bei Diels/Kranz 2,264, B3 = 48/49 Schirren/Zinsmaier: Μέγας Λόγος·φύσεως καὶ ἀσκήσεως διδασκαλία δεῖται καὶ ἀπὸ νεότητος δὲ ἀρξαµένους δεῖ µανθάνειν (Große Rede: Unterweisung bedarf der natürlichen Anlagen und der Übung. – Von Jugend an muss man lernen). Sloterdijk 2009, 451–455. 18 Hier wie im weiteren, wenn nicht anders angegeben, Übers. ThS.
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cum diligenti ratione ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse. Exercitatio est assiduus usus consuetudoque dicendi. (Rhet. Her. 1.3) All dieses werden wir durch dreierlei erreichen können: Durch Kunstlehre, Nachahmung und Übung. Kunstlehre ist die Vorschrift, die einen bestimmten geplanten Weg vorgibt. Nachahmung ist dasjenige, was uns dazu anspornt, mit Sorgfalt anderen im Sprechen ähnlich zu sein. Übung ist der fortgesetzte Gebrauch und Gewohnheit im Reden.
2.1. Umkehrung der produktiven Perspektive: Semiotik Der Redner muss sich über die Bedeutung der verschiedenen Sprachzeichen (verba) im Klaren sein. Darin liegt die Umkehrung der philologischen Analyse. Geht diese von einer zu erhellenden Textstelle aus, indem sie semasiologisch fragt, was die dort verwandten Lexeme bedeuten,19 so muss der Rhetor onomasiologisch die intendierte res mithilfe von Sprachzeichen ausdrücken. Nun sind aber die Ausdrücke keineswegs auf einen bestimmten Sachverhalt festgelegt; denn sie können das Bezeichnete unterschiedlich thematisieren. Quintilian begründet dies ex negativo damit, dass andernfalls sich mit den Sachen selbst schon die Wörter einstellen würden. Das gilt z. B. für Fachausdrücke, die daher auch nicht Gegenstand semantischer Analysen sein können: Ihre Bezeichnung ist nicht durch den Sprachgebrauch, sondern durch Setzung der Fachleute festgelegt. Weil es aber für jeden Signifikanten ein gewisses semantisches Spektrum gibt, das bezeichnet wird (Worthof), also eine typische Unschärfe obwaltet, wenn es um das Signifikat geht, hat der Redner auszuwählen, um seine Aussage fein zu nuancieren: Ein Wort ist magis proprium, magis ornatum, magis efficiens, melius sonans als ein anderes:20 Num ergo dubium est quin ei uelut opes sint quaedam parandae, quibus uti ubicumque desideratum erit possit? Eae constant copia rerum ac uerborum. Sed res propriae sunt cuiusque causae aut paucis communes, uerba in uniuersas paranda: quae si [in] rebus singulis essent singula, minorem curam postularent: nam cuncta sese cum ipsis protinus rebus offerrent. Sed cum sint aliis alia aut magis propria aut magis ornata aut plus efficientia aut melius sonantia, debent esse non solum nota omnia sed in promptu atque [id] ut ita dicam in conspectu, ut, cum se iudicio dicentis ostenderint, facilis ex his optimorum sit electio. (Quint. Inst. 10.1.5–7) Ist es also irgend zweifelhaft, dass der Redner sich gewisse Mittel verschaffen muss, um sie zu nutzen, wo immer es erforderlich ist? Diese zerfallen nun in Wörter und Sachen. Aber für jede Sachlage gibt es eigentümliche Wörter oder deren Gebrauch erstreckt sich nur auf wenige andere Dinge gemeinsam. Die Wörter müssen aber für alle bereitgestellt werden. Wenn 19 Und so hat Rudolf Pfeiffer in seiner Geschichte der Klassischen Philologie bereits des Aristoteles Interessen für Glossen an den Beginn der Philologie gestellt. In der nächsten Generation ist es Philitas von Kos, der Sammlungen von unbekannten Wörtern anlegte, Pfeiffer 1978, 105–106; 118–120. Die dem ‚Grammatikos‘ Dionysios Thrax zugeschriebene Techne zählt ebd. §1 (Callipo 2011) folgende sechs Schritte auf: 1) Lesen; 2) Erklärung der Tropen; 3) Erklärung von Glossen; 4) Etymologie der Wörter; 5) Analogie; 6) Kritik „als schönster Bestandteil dieser Techne.“ Quintilian geht also nach diesen grammatischen Arbeitsschritten vor und adaptiert sie für die Produktion: Literaturkritik jedoch bleibt bestehen und findet sich in den von ihm angelegten evaluativen Listen. 20 Hier beweist sich die geforderte facilitas in der facilis electio.
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Thomas Schirren diese nun nur als einzelne für einzelne Dinge gälten, bräuchte man sich nur wenig Mühe machen, denn alle würden sich mit den Dingen selbst schon anbieten. Aber entweder weil die einen besser als andere passen oder weil die einen mehr Schmuck als andere bieten oder mehr bewirken oder schöner klingen, müssen alle nicht nur bekannt sein, sondern bereit und sozusagen im Überblick zur Verfügung stehen, damit dann, wenn sie sich dem Urteilsvermögen des Redenden zeigen, leicht aus diesen die Auswahl der besten Wörter geschehen kann.
Es ist deutlich, dass der Rhetor diese produktionstheoretischen Schritte aus der Grammatik kennt und für den rhetorischen Unterricht adaptieren will. So wie die Arbeit der frühen kritikoi mit der Worterklärung begann,21 ist die Bereitstellung der copia verborum eine erste Grundlage der produktiven Kompetenzen des Redners. Die Entsprechungen gehen aber noch weiter. Denn für die krisis benötigt der Kritikos wie auch der Redner ein steuerndes iudicium. 2.2. Das iudicium als Steuerungsinstrument Um also souverän auszuwählen, den besten Ausdruck einzusetzen und die jeweiligen Unterschiede geschickt zu handhaben, muss man über ein umfassend geschultes iudicium verfügen. Nun mag mancher Redelehrer seinen Eleven Synonymenlisten zum Auswendiglernen geben, um die sprachliche Darstellung abwechslungsreicher zu gestalten. Doch hält Quintilian davon nichts: Denn was fehle, sei gerade das iudicium, das aus der paradigmatischen Achse das beste Passende auswählt und komparativ gegen andere mögliche Kandidaten abzusetzen vermag, weil das gewählte Wort aufgrund des besseren Klanges, des besseren Schmuckes und der schärferen Bezeichnung hier die beste mögliche Wahl ist. So führt der abwägende Komparativ zu einem rhetorischen Optimum, die Deliberation zur Entscheidung. Umgekehrt hätte der Philologe in der Kommentierung zu prüfen, ob das verwandte Lexem an dieser Stelle seinen besten Platz hätte und diese Stelle mit diesem Lexem am besten gestaltet wäre. Erst in diesem eigentlich philologisch instruierten iudicium erfüllt der Orator seine elokutionäre Kompetenz, andernfalls bliebe es eine „billige Marktschreierei“.22 Man könnte an den Grundsatz der Homererklärung erinnern, die Homer aus dem ihm eigenen Sprachgebrauch erklären möchte: Ὅµηρον ἐξ Ὁµήρου σαφηνίζειν.23 Denn auch dabei sucht man sozusagen nach der ‚Handschrift‘ eines Autors, nach den ihm 21 Man denke dabei auch an die sogenannten D-Scholien zu Homer (Van Thiel 2014: http://kups.ub.uni-koeln.de/5586/), die die wohl ältesten Arbeiten der Kritikoi dokumentieren, seltene oder schwierige Wörter zu sammeln und zu erklären, dazu Wilson 1997, 87–88. 22 Quint. Inst. 10.1.8: Nobis autem copia cum iudicio paranda est, uim orandi, non circulatoriam uolubilitatem spectantibus. Id autem consequimur optima legendo atque audiendo: non enim solum nomina ipsa rerum cognoscemus hac cura, sed quod quoque loco sit aptissimum. („Wir aber müssen den Wort-Thesaurus mit Urteilskraft bestücken, da wir es ja auf die rednerische Kraft abgesehen haben, nicht eine billige Marktschreierei. Das aber erreichen wir nur durch die Lektüre und das Hören der besten Autoren: Denn nicht nur die Wörter selbst erlernen wir durch diese Übung, sondern welches Wort wo am besten steht.“). 23 Dazu allgemein Wilson 1997, 90.
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eigenen Ausdrucksformen und das geschieht näherungsweise und komparativ in der Einsatzprobe. Für dieses iudicium bedarf es also einer besonderen Schulung. Erst durch die Lektüre von solchen Texten, in denen diese Kritierien der Semasiologie und Onomasiologie optimal erfüllt sind, kann sich der Schüler ein eigenes Bewertungssystem aufbauen. Damit aber erhalten die auctores imitandi eine taxonomische Bedeutung, die die jeweilige poetische Qualität transzendiert. Es geht nicht darum, Homer zu lesen, um ein homerisches Epos zu verfassen, sondern Homers elocutio wird als Norm einer gelungenen Wortwahl genommen, selbst wenn der Redner ganz andere verba gebrauchen muss. Im Hintergrund dieser Leseübungen steht daher vor allem eine Einlesung in einen Bildungskanon, der die literarische Produktion weit diffuser und feiner beeinflusst als es ein Stilvorbild (exemplum) vermag.24 Es geht hierbei um einen bestimmten Ton,25 der getroffen werden soll. Die vorher aufgeführten Komparative, die Abwägung des Mehr und Weniger, um das oratorisch Optimale zu erreichen, ergeben sich aus diesen kulturellen Determinanten als vorbildlich angesehener Texte und ihrer bestimmten Lektüre. Denn jedes Wort soll seinen bestimmten Ort haben; das kann natürlich auch ein gewöhnliches sein, wenn gefordert (vulgare), oder ein einfaches (humile); ein glänzendes oder ein schmutziges. Aber wie weiß ich denn, was es gerade für einen Beigeschmack hat? Es ist offenbar weniger der sermo cotidianus, der mir dies verdeutlicht, als der Kanon vorbildlicher Autoren, der meine ästhetische Urteilskraft entsprechend formt. Denn nur das Lesen und das Anhören vermag mir die ästhetischen Qualitäten zu vermitteln. Die Lektüre zeigt nämlich nicht nur, wie eine bestimmte Formulierung funktioniert (was man auswählen muss), sondern sie ist zugleich Richtschnur, warum es so sein muss. Die Lektüre der auctores imitandi wandelt sich so von der Deskription, was es gegeben hat, zur Präskription, wie weiterzuschreiben ist. Was in der Moralphilosophie als Fehlschluss angesehen wird, ist in der rhetorischen Stillehre Programm: Das So-Sein ist zugleich Regel des So-muss-es-Sein.26 Denn die Exempla sind viel wirksamer als die in 24 Siehe unten Anm. 39. 25 Dieser Begriff ist von Friedrich Schlegel zu einem literaturwissenschaftlichen, vor allem literaturhistorischen Merkmal erhoben worden: „Die Bestimmung der Schulen und ihrer Gränzen (die Kriterien dessen, was einerjeden Schule angehört, und die Aufzählung der Werke, welche sie umfaßt), ihre Charakteristik, die Entwicklung der Prinzipien, welche sie beherschten u. lenkten, die Gründe aus welchen ihr Charakter und ihr Ton entsprang: ist das erste und das nothwendigste Erfordernis zu einer gründlichen Kentnis der Griechischen Poesie.“ (Von den Schulen der griechischen Poesie (1794), in: KFSA 1, 4) „In den Alexandrinischen Werken gab es doch noch einen Stil; der Charakter und der Ton desselben ist homogen und regelmäßig, er läßt sich auf Prinzipien zurückführen.“ (ebd. 17). 26 Der von Moore aufgewiesene Fehlschluss kann entweder als naturalistisch oder besser noch als deskriptivistisch bezeichnet werden, Hügli 1984. Kennzeichen dieses Fehlers ist, „eine Äußerung als deskriptiv zu verstehen, die es nicht ist“ (ebd. 521), etwa wenn man auf vermeintlich natürliche Bedürfnisse verweist, deren Befriedigung immer auch moralisch geboten sei. Im Falle der auctores imitandi wird eine bestimmte sprachliche Form zunächst genau beschrieben und dann zur Regel erhoben, die man zu befolgen habe. Der ‚Fehlschluss‘ ist hier geringer, weil ja auch die Sprachnorm sich nur aus dem Gebrauch ableitet. Hier wird
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den artes tradierten Regeln. Indem der orator zeigt, wie es geht, erzielt er eine größere Wirkung denn der Lehrer: doctor praecepit – orator ostendit (10.1.15). In diesem Zeigen liegt mehr als Deixis: Es ist zugleich Anweisung, nämlich weisen, wie man es machen muss, weil es funktioniert oder weil es sich bei diesem Autor findet. Genau darin liegt eine spezifische Zirkularität des Kanons, die dem hermeneutischen Zirkel des Philologen komplementär ist: „[…] Sobald der Schüler dorthin gelangt ist, dass er ohne das Zeigen des Lehrers versteht und mit eigener Kraft dem Beispiel folgen kann […].“27 Dieser Schüler hat das Lernziel erreicht, da er nicht mehr angewiesen werden muss, sondern die Vorgaben so verinnerlicht hat, dass er diesen auch selbst nachstrebt, denn alle Unterweisung muss danach streben sich überflüssig zu machen.28 2.3. Hören und Lesen Das Hören ist ein rhetorisches Ereignis, in dem die Dinge scheinbar selbst auftreten, nicht ihre Bezeichnung. Der symbolische Zugang, der doch gerade so ausführlich erörtert wurde, als die Valenz der Zeichen betont wurde, die auszuwählen sind, wird im gebannten Hören rhetorischer Produkte vergessen und wir finden uns scheinbar inmitten der Dinge wieder, von denen wir hören: Alia uero audientis, alia legentis magis adiuuant. Excitat qui dicit spiritu ipso, nec imagine †ambitu† rerum sed rebus incendit. Viuunt omnia enim et mouentur, excipimusque noua illa uelut nascentia cum fauore ac sollicitudine: nec fortuna modo iudicii sed etiam ipsorum qui orant periculo adficimur. […] In lectione certius iudicium, quod audienti frequenter aut suus cuique fauor aut ille laudantium clamor extorquet. Pudet enim dissentire, et uelut tacita quadam uerecundia inhibemur plus nobis credere, cum interim et uitiosa pluribus placent, et a conrogatis laudantur etiam quae non placent. Sed contrario quoque accidit ut optime dictis gratiam praua iudicia non referant. Lectio libera est nec actionis impetus transcurrit, sed repetere saepius licet, siue dubites siue memoriae penitus adfigere uelis. Repetamus autem et tractemus et, ut cibos mansos ac prope liquefactos demittimus quo facilius digerantur, ita lectio non cruda sed multa iteratione mollita et uelut [ut] confecta memoriae imitationique tradatur. (Quint. Inst, 10.1.16–18) Manches hilft mehr den Hörern, manches mehr den Lesern. Wer redet, erregt die Zuhörer durch seinen eigenen Atem; und nicht nur durch die Vorstellung der Dinge, sondern durch die Dinge selbst entflammt uns der Redner. Es lebt nämlich alles und bewegt sich und wir vernehmen die Dinge gleichsam im Moment ihres Entstehens mit Neigung und mit Sorge. Wir werden nicht nur durch ein schicksalhaftes Gerichtsverfahren, sondern auch die Gefahren derer selbst, die reden, berührt. […] Beim Lesen dagegen ist die Urteilskraft sicherer, welche beim Hören oftmals entweder eine persönliche Vorliebe oder jenes bekannte Geschrei der Lobenden trübt. Man schämt sich nämlich, anderer Meinung zu sein, und wir werden von einer unausgesprochenen Bescheidenheit gehemmt, uns mehr zuzutrauen, da nun auch mehre-
der Gebrauch vorgängig restringiert, was eine soziologische Dimension hat. Zur imitatio äußert sich Quintilian dann im folgenden Kapitel 10.2. 27 Inst. 10.1.15: Cum eo qui discit perductus est ut intellegere ea sine demonstratione et sequi iam suis viribus possit. 28 Siehe unten Seite 177.
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ren das Falsche gefällt und ein bestelltes Publikum lobt, was eigentlich keinen Beifall finden sollte. Auf der anderen Seite geschieht es dagegen öfter, dass ein verdorbenes Urteil dem, was gut gesagt ist, die Anerkennung verwehrt. Die Lektüre aber ist frei. Und der Angriff zieht nicht vorüber, wie beim Auftritt, sondern man kann es öfter wiederholen, sei es, dass du noch Fragen hast, sei es, dass du es der Erinnerung tiefer einprägen willst. Lasst es uns aber wiederholen und durcharbeiten und wie gut durchgekaute Speise, die schon beinahe zu einem Nahrungsbrei geworden ist, herunterschlucken, um sie dann zu verdauen. So darf die Lektüre nicht roh, sondern durch reichlich Wiederholung durchgeweicht und wie vorverdaut dem Gedächtnis und der Nachahmung zur Verfügung gestellt werden.
Hier muss der Redelehrer natürlich darauf verweisen, dass der Rezipient wiederum einer rhetorischen Leistung ausgesetzt und daher sein iudicium getrübt wird. Erst der totale Ausstieg aus der rhetorischen Angriffslinie, dem actionis impetus, sichert, dass der Schüler auf die Machart des sprachlichen Produktes achten kann. Aus dem Hörer wird ein philologischer Leser. Denn nur die lectio ist frei: Während man als Zuhörer neben anderen Zuhörern sitzen muss und von deren Urteil mitgerissen wird, ja sich sogar schämt, eine andere Einschätzung zu haben (pudet dissentire), erlebt man als Leser den Text vereinzelt und in einer sicheren Distanz. Man kann aus der Satzstruktur ausscheren und den Satz noch einmal von vorne lesen. Auf diese Weise kommt man dem raffinierten Redner auf die Schliche. Denn indem man das Gelesene aufspaltet und in seine Bestandteile zerlegt, verleibt man sich dessen Atome gefahrlos ein (10.1.19). Die Digestiva sind philologische Enzyme, die die rhetorische Struktur knacken. Aber das gelingt nicht im Vortrag, sondern nur im Studiolo des Philologen. Einsamkeit, die oftmals als Merkmal philologischer Arbeit erscheint, nächtliches Wachen über dem Text, ist Bedingung der philologischen Zugangsart.29 Aber auch der Produzent kann Texte herstellen, die noch nach dem Öl der Lampe riechen, wie man es dem Demosthenes nachgesagt hat.30 Aber wenn das zu Lesende so fein zu analysieren und zu zerkleinern ist, dann stellt dies umso höhere Ansprüche an den Gegenstand: Nur das Beste ist gut genug und zwar solches, das den vertrauensvollen Leser nicht täuscht. Die Warnung vor dem fallere muss sich auf die Qualität beziehen, es geht also um – wenn wir im Bilde der Nahrungszufuhr bleiben wollen – eine Nahrungsmittelkontrolle. Hierbei werden Leseformen gefordert, die bezeichnenderweise nicht der Auffüllung der copia verborum gelten, sondern wie beim Kompositionsprozess (ad scribendi sollicitudinem 10.1.20) wird alles genauestens bis in die einzelnen Teile durchforscht (scrutanda sunt omnia) und das einmal durchgelesene Buch ein zweites und drittes Mal gelesen. Dieses Leseverfahren empfehle sich insbesondere bei Reden, in denen die virtutes öfter gerade absichtlich versteckt würden: saepe enim praeparat dissimulat insidiatur orator, eaque in prima parte actionis dicit quae sunt in summa profutura.31 29 Im Rahmen der frühen Lektüre wird auch schon die Einsamkeit eingeübt, s. unten Seite 171. 30 So spottete Pytheas gegen Demosthenes, dessen akribische Vorbereitung bekannt war, Plu. Syn. Dem. et Cic. 50 (1); zum Studium des Demosthenes, der dadurch seine körperlichen Schwächen kompensierte, Cic. de Orat. 1.260. 31 Quint. Inst. 10.1.21 „Oft nämlich führt der Redner etwas im Schilde, verbirgt seine Absichten
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Der Leser soll so dem rhetorischen Strategen auf die Schliche kommen; nebenbei aber wird hier auch eine ganz elementare philologisch-hermeneutische Verfahrensweise gelobt, die insbesondere in der postmodernen Literaturtheorie grundlegend ist: die Lektüre im zweiten Durchlauf, bei dem die Verweise des Erzählers einerseits, die Erwartungshaltungen des Lesers andererseits reflektiert und überprüft werden können. Lesen als ‚Akt‘ ist insbesondere und maßgeblich durch Wolfgang Isers Theorie in den Blick genommen worden. Jenseits der psychologischen und neurolinguistischen Betrachtung dieser mentalen Operationen32 macht Iser deutlich, dass erst die Mitarbeit des Lesers aus dem Text die Geschichte macht, indem dessen „mitwandernder Blickpunkt“ sich durch das Werk bewegt und ständig Gelesenes und Erwartungen in Beziehungen setzt. Die Lektüre im zweiten Durchgang darf daher als eine potenzierte Form betrachtet werden, da nun das iudicium, von der Spannung der Handlung dispensiert, sich ganz dem Wie der Darstellung widmen kann; aus dem mitgerissenen Leser wird der kritisch betrachtende, der prüft und wertet. Iser nennt dies die „Verstrickung“ des Lesers in den Text, die einerseits notwendig ist, um zu einer „Gestaltbildung“ des Gelesenen zu gelangen, andererseits aber dort problematisch ist, wo der Text selbst – wie gerade im modernen Roman, aber nicht nur dort – ständig mit Ambiguitäten arbeitet und so die Konsistenzbildung unterläuft. Die Kritik ist dann zumal eine Möglichkeit der Distanzierung:33 Deshalb verspüren wir auch immer wieder das Bedürfnis, über gelesene Texte zu reden – weniger, um uns von ihnen zu distanzieren, als vielmehr, um in solcher Distanz das zu begreifen, worin wir verstrickt waren. Hierin wurzelt nicht zuletzt eine latente Notwendigkeit der Literaturkritik, die auf weiten Strecken nur der diskursive Versuch des Einholens solcher Verstrickungen ist.
Verstrickung, wäre zu folgern, ist aber nicht nur dort für die Rezeption konstitutiv, wo es um Narrative der Textsorte Erzählung/Roman geht, nein, auch die bewusst auf eine bestimmte Wirkung hin komponierten Reden wollen die Rezipienten verstricken und die Rezipienten wollen wissen, worin sie eigentlich verstrickt sind. Quintilian denkt daher auch daran, durch die genaue Lektüre Schwächen aufzudecken, denn nicht alles, was selbst die besten Autoren sagen, ist immer nur vollkommen: Nam et labuntur aliquando et oneri cedunt et indulgent ingeniorum suorum uoluptati, nec semper intendunt animum, nonnumquam fatigantur. (Quint. Inst. 10.1.24) Denn öfters straucheln sie ein wenig und geben der Last, die sie zu schultern haben, nach, sie frönen geradezu der Lust ihres Ingeniums, sind nicht immer aufmerksam und machen auch gelegentlich ein Nickerchen.
und plant einen Anschlag, und sagt im ersten Teil seiner Rede dasjenige, was er erst am Ende nutzen möchte“. 32 Siehe dazu Bemerkungen aus neurobiologischer Sicht von Wittmann/Pöppel 1999; Christmann/Groeben 1999. 33 Iser 1994, 214.
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Quintilian weist auf diese Schwächen hin, damit man nicht versehentlich die Fehler nachahmt, sondern nur das Gelungene der Besten. Wir dürfen also das iudicium über die Bewunderung der auctores imitandi nicht vergessen! Es geht um eine durchgängige, man könnte auch sagen: absolute, unendliche Kritik, eine alles prüfend zersetzende Evaluierung, um sich nur die besten Ingredienzen zuzuführen. Mit anderen Worten: Quintilian empfiehlt eine regelrechte Diätetik der Lektüre. Diese Zersetzung des Gelesenen lässt gerade die „Gestaltbildung“ eigentlich nicht zu, oder erschwert sie derart, dass sie nur mehr als künstliches Produkt gelingen kann. Künstlich nämlich im Sinne einer reflektierten und evaluativen Lektüre, die dann umstandslos in die Sammlung der Literaturgeschichte führt. Das Lesen des Rhetorikschülers ist daher genauso weit entfernt vom „Akt des Lesens“ wie das des Philologen. Und dieser Umgang beginnt bereits im frühen Kindesalter beim Lesenlernen.34 Wenn man so will, ist es eine Pragmatisierung des Lesens, die sich dem primären Akt des Lesens immer entziehen will. Nichts zeigt dies deutlicher als die Liste, die das einzelne unvergleichliche Rezeptionserlebnis der Lektüre in ein Schema bringt, es einordnet und mit einem bestimmten, durch seinen Platz gegebenen, Wert versieht. Aus dem Akt der Rezeption wird der Gewaltakt der Vergleichung und Abschätzung. Nicht zufällig klingt im ‚Abschätzen‘ auch ‚abschätzig‘ als gewonnene Haltung mit. Und so muss der Lehrer auch schon wieder vor der nächsten Gefahr warnen, nämlich der Abwertung aus Unverständnis. Denn „wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“, fragt sich noch Lichtenberg in seinen Aphorismen.35 Vor die Wahl gestellt, hält der römische Rhetor daher doch dafür, eher zu viel zu loben als zu viel zu tadeln (10.1.26). 3. LESELISTEN Was und vor allem wen soll man denn nun lesen?, fragt sich der Rhetor und fragen sich seine Leser. Quintilian hat mit Listen zu tun;36 und die Interpreten Quintilians folgen ihm in dieser Marotte der Verlistung der Literaturgeschichte. An diesem Punkt wird die Inanspruchnahme der Literatur durch den Rhetor problematisch, jedenfalls dann, wenn man an diese Listen die Frage nach einer Literaturgeschichte stellt. Zunächst nämlich sind es nur Taxonomien mit kurzen Qualitätsmarkern, nicht unähnlich den Charts, nach denen manche nicht nur die kurzlebigen Hits der Popmusik sortieren, sondern auch eigene Lebensbegegnungen in Reihungen bringen.37 Darum geht es offenbar: Man gehört dazu oder nicht. Dazu34 Siehe unten Seite 172. 35 Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen D396, hg. von Albert Leitzmann (1902/1908), ND Frankfurt 2005. 36 Listen finden sich auch bei anderen Autoren mit ähnlicher Thematik, so bei Hermog. Id. 2.11– 12 (= p. 395–413 ed. Rabe 1903) zum πολιτικὸς λόγος. 37 Wie jene berühmten Sätze aus dem ersten Kapitel von Nick Hornbys High Fidelity (1995) zeigen mögen: „My desert-island, all-time, top five most memorable split-ups, in chronological order: 1) Alison Ashworth, 2) Penny Hardwick, 3) Jackie Allen, 4) Charlie
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zugehören aber setzt Kriterien voraus, nach denen dieses entschieden wird. Für Bourdieu sind das die Unterschiede, die das soziale Feld strukturieren und nach denen der Habitus der Individuen sowohl aufgebaut ist als auch wiederum das Feld strukturiert. Die im sozialen Feld sich bewegenden Individuen bauen also als Produkte des Feldes dieses immer auch mit und fungieren ebenso strukturiert wie strukturierend. Bourdieu erkennt nun in polaren Begriffen die Koordinaten, nach denen sich die sozialen Felder aufspannen lassen. Das Geschmacksurteil wird zur soziologischen Funktion der In- und Exklusion. Beim Phänomen der Listungen zeigt sich in ähnlicher Weise, dass nicht nur Autoren in eine taxonomische Reihe gebracht werden (was oft genug über ihr literarisches Überleben entschieden hat), auch umgekehrt reihen sich Leser in imaginäre Listen derer ein, die das ‚Richtige‘ gelesen haben. Im Falle der Rhetorikschüler entscheidet nämlich die richtige Lektüre über die richtige Nahrung und daraus resultiert die richtige Sprache. Was man hier fassen kann, ist der Übergang von den Pinakes als bibliographischen Verzeichnissen des Bestandes zu den Kanones,38 und das ist eine eminent soziologische Frage.39 Dieser Übergang ist da gemacht, wo zu den Namen Gründe treten, warum ein Autor an der Stelle steht, wo er gelistet wird. 3.1. Listenplätze 3.1.1. Epische Dichter (Inst. 10.1.46–50/85–90) Quintilian stellt den verschiedenen Gattungen, die sehr grob aufgeteilt werden (Prosa versus Dichtung; dann die Prosa in den Untergliederungen Historiographie, Philosophie und Rhetorik), jeweils einen princeps voran: Homer freilich führt Nicholson, 5) Sarah Kendrew. These were the ones that really hurt. Can you see your name in that lot, Laura? I reckon you‘d sneak into the top ten. but there’s no place for you in the top five.“ 38 Dass man zwischen Listen (Pinakes) und Kanones unterscheiden müsse, betont auch Steinmetz 1964, 456. 39 Auf den Spuren von Pierre Bourdieus opus magnum 1979/1982 versucht der Sammelband Assmann 1987 eine „Archäologie der literarischen Kommunikation“. Zum Klassifikationssystem schreibt Bourdieu 1982, 98, dass im Unterschied zur wissenschaftlichen Erschließung der Produktionsbedingungen eines Werkes (Produktionsästhetik), dessen Rezeption im gesellschaftlichen Feld zu „nichts anderem herhalten muss, als das Werk dem zirkulären Kreislauf der wechselseitigen Legitimation zuzuführen“; d. h. es geht um Referenzen, die wiederum Bildungsstufen dokumentieren und schaffen. Es liegt nahe, den wertenden Umgang Quintilians mit der griechischen und römischen Literatur eher mit diesem sozialen Klassifikationssystem zu assoziieren, denn die „Relevanzkriterien, anhand derer sich die Stileigenschaften der Schlüsselwerke bestimmen, bleiben selbst bei den Fachleuten meistens unausgesprochen,“ da die „zur Unterscheidung, Klassifizierung und Einordnung herangezogenen ästhetischen Taxonomien keineswegs die ihnen bisweilen von den ästhetischen Theorien zugesprochene Stringenz aufweisen“ (ebd. 98). Mit anderen Worten: Selbst bei der angeblich wissenschaftlichen Werkanalyse wirken unausgesprochen die sozialkonnotierten Kriterien mit. Quintilian etwa benutzt zur Klassifizierung gerne die Polarität von Männlich – Weiblich.
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auch die gesamte Literatur an, da man bei ihm wie Arat bei Zeus anheben müsse. Seine Würdigung erstreckt sich auch am längsten (§46–51) und umfasst die meisten virtutes auf den meisten Gebieten: Homer ist sowohl in den genera dicendi der erste, wie auch in allen genera causarum (§47). Er versteht sich auf die motus animi wie auf die Formen des delectare, um die officia oratoris zu beherrschen. Prooemium, narratio, probatio, epilogus sind mustergültig und auch die Fragen des ornatus und der dispositio weiß er so souverän zu handhaben, dass er alle in der eloquentia weit hinter sich lässt, am meisten aber die epischen Autoren, denn hier werde der Vergleich besonders deutlich. Die Nennung des primus poeta als zugleich optimus in omnibus zeigt deutlich den Zugriff, den der Rhetor auf die Literatur hat.40 Tatsächlich wird der Epiker eigentlich fast ausschließlich unter sachfremden, d. h. eigentlich unepischen, Kategorien bewertet. Und die einzelnen Qualitäten zeigen überall zumal die Norm, die Homer vorgibt, denn er erfüllt einfach alle möglichen, sogar gegensätzliche virtutes – und das so perfekt, dass man sich fragen mag, wie seine Dichtung dann eigentlich beschaffen sein muss, wenn der Dichter sowohl laetus wie pressus, iucundus und gravis, tum copia, tum brevitate mirabilis sei. In dieser Überdeterminiertheit ist er auch schon wieder unterdeterminiert. Die Archegetenstellung impliziert also zumal eine Inklusion aller möglicher rhetorischen virtutes, sodass die individuelle Form eigentlich dahinter zurücktritt. Ein unfassbares Ideal. Und genau darin, im göttlichen und strukturierenden Anfang der gesamten Literatur, gleicht Vergil diesem vorbildlichen Archegeten (§85–87):41 Itaque ut apud illos Homerus, sic apud nos Vergilius auspicatissimum dederit exordium, omnium eius generis poetarum Graecorum nostrorumque haud dubie proximus. Vtar enim uerbis isdem quae ex Afro Domitio iuuenis excepi, qui mihi interroganti quem Homero crederet maxime accedere ‚secundus‘ inquit ‚est Vergilius, propior tamen primo quam tertio‘. (Quint. Inst. 10.1.85–87)
40 Hierzu sind die Ausführungen von [Plutarchus] Vit. Hom. 161–174 zu vergleichen; Hillgruber 1994/1999, 1–5 rückt diese Schrift in einen ähnlichen zeitlichen Horizont wie Quintilians Lebenszeit (daher auch mögliche Beeinflussung durch die Homerstudien von Plutarch in dieser Schrift): Es zeigt sich nämlich, wie detailliert Pseudo-Plutarch auf einzelne rhetorische Themen im Epos eingeht und die Qualität differenziert darstellt (Oikonomia, Redeteillehre, Argumentationsform, Rednerethos), obwohl er am Universalanspruch Homers als Quelle alles Wissens festhält. Demgegenüber bleiben die Ausführungen des römischen Rhetors konturlos, selbst wenn er z. B. die dispositio besonders lobt, denn er sagt nicht, worin der Vorzug besteht; Hillgruber 1994/1999, 354 sieht das Lob der Presbeia (Ilias, 9. Gesang) bei PseudoPlutarch als wenig originell („bewegt sich […] ganz in vorgegebenen Bahnen“), doch verglichen mit Quintilian §47 wird Pseudo-Plutarch dann doch konkreter im Lob, während Quintilian in Ilias 1;2;9 nur omnes artes litium atque consiliorum entfaltet sieht; vgl. die rühmende Bemerkung von D. Chr. 18.8, die ähnlich pauschal-umfassend ist: „Homer ist Anfang, Mitte und Schluss, er gibt jedem Knaben, Manne und Greis so viel von sich, wie ein jeder nehmen kann.“ (Ὅµηρος δὲ καὶ πρῶτος καὶ µέσος καὶ ὕστατος παντὶ παιδὶ καὶ ἀνδρὶ καὶ γέροντι, τοσοῦτον ἀφ᾿ αὑτοῦ διδοὺς ὅσον ἕκαστος δύναται λαβεῖν). Dieser Bedeutung Homers ist die Studie von Hölscher 1987 gewidmet. 41 Diese Konstruktion des römischen Anfangs steht in der Tradition der augusteischen Erneuerung durch die aurea aetas.
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Thomas Schirren Und wie bei den Griechen Homer, so wird bei uns Vergil den glücklichsten Anfang gegeben haben, da er zweifellos von allen griechischen Dichtern dieses Genus und von unseren derjenige ist, der ihm am nächsten kommt. Ich möchte dafür nämlich dieselben Worte gebrauchen, die ich als junger Mann von Domitius Afer gehört habe, der mir auf meine Frage, wer denn dem Homer am nächsten käme, ‚Vergil ist der zweite‘, antwortete, ‚aber näher am ersten als am dritten Platz‘.
Was dann über Vergil ausgeführt wird, ist eine Gegenüberstellung von Griechisch und Römisch: Genialität hie, hellenistische lima dort; was „wir“ (diese 1. Pers. Pl. gebraucht Quintilian hier zum ersten Mal für „wir Römer“!) an herausragenden Stellen (eminentia) weniger haben, das gleichen wir durch gleichmäßige, Schlegel sagt, „durchgängige“ Durcharbeitung aus: aequalitate pensamus (§86). Cicero wird hier gegenüber Demosthenes die Verhältnisse umkehren. In der Epik müssten „wir Römer“ der himmlischen und unsterblichen Natur weichen, die ein Homer verkörpere. Damit nimmt Homer die Rolle eines Gottes ein, dem nur irdische Approximation im Sinne der ὁµοίωσις θεῷ verstattet ist. Das menschliche Geschäft ist durch Arbeit und Sorgfalt gekennzeichnet (cura, diligentia), Tugenden, die seit Hesiod für das Streben der irdischen Existenzform stehen. Dass diese Charakterisierung ausgerechnet die exclamatio „hercule“ einleitet, ist sicherlich kein Zufall. Was Schlegel über den Römersinn sagte, nämlich die „absolute Kritik“, zeichnet auch den princeps poetarum Romanorum aus, dessen Dichtung in diesem Sinne ‚kritisch‘ ist. – Zumal darin, dass sie sich von der genialischgöttlichen der Griechen ‚unterscheidet‘, aber auch darin, dass sich die römische Dichtung danach bemessen lassen muss. Es lohnt sich aber auch, die weiteren genannten Epiker kurz zu betrachten. Macer und Lucretius sind ein Duo. Ersterer, Aemilius Macer, der Freund Vergils aus Verona, und Letzterer, der Philosophendichter Lucretius bilden einen polaren Gegensatz, indem der eine zu niedrig (humilis), der andere zu schwierig (difficilis) ist, sodass sich daraus keine Anleitung für die elocutio gewinnen lasse (§87). Man könnte diese Polarität auch so deuten, der eine schreibe zu einfach, der andere zu schwierig. Beide aber begehen typisch römische Fehler, indem es solche der Schülerschaft sind: Unterbietung oder Übertreibung des anzustrebenden Maßes. Es sind also ‚Strebefehler‘, wenn man so will. Mit Ennius aber wird wieder die sakrale Ebene gefunden: Die Römer sollten Ennius so verehren wie heilige Haine, in denen die großen alten Bäume eher religiöse Scheu als Bewunderung ihrer Schönheit abnötigen (grandia et antiqua robora iam non tantam habent speciem quantam religionem §88). Hier, wo die Ästhetik zurückbleibt, verlangt der Rhetor eine patriotische religio. Der Gegensatz zum lasziven Ovid könnte nicht größer sein. Denn die unbestreitbare ästhetische Qualität lasse diesen Dichter wiederum eitel werden (nimium amator ingenii sui),42 es bleibt dann nur die Anerkennung der einzelnen Teile.43 Für die Stilistik ist da nichts zu gewinnen. Ästhetische Urteile werden also zumal moralisch-religiös formuliert. Wo der Geschmack abwerten müsste, wird er in die Sphäre der frommen Scheu geführt: Wer angesichts des Ennius noch an rein äs42 §88; denselben Vorwurf erhebt er abschließend gegen Seneca s. unten Seite 169. 43 Zu diesem Verständnis von in partibus s. Peterson 1891, 85.
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thetische Kategorien denke, sei so verdorben, wie wer ohne Ehrfurcht heilige Haine betrete. Noch ein letzter Blick auf Lucan, weil sein Onkel später noch eigens bewertet wird (§90): Der Epiker scheint mit ardens und concitatus von der spezifischen Qualität des großen Epikers Homer weit entfernt. Und nun merkt man, dass der so herausgehobene Vergil eigentlich gar keine Prädikate erhalten hat. – Und genau darin gleicht er dem göttlichen Homer: eine überragende Qualität, ohne dass man sie näher beschreiben müsste oder vielleicht auch könnte. Wer wollte die Qualität des Numinosen auch in dürre Begriffe fassen? Den Gott bewerten? Der Gott verbietet jedes Urteil, er ist, was er ist. Wer sich da noch bemüht und anstrengt (concitatus), der wirkt eher getrieben als inspiriert und mächtig. Dagegen die vollständige Erfüllung aller ästhetischen Kriterien bei Homer auch und gerade darin, dass diese Erfüllung eigentlich gar nicht möglich ist, jedenfalls nicht dem Menschen. 3.1.2. Griechische und römische Redner Schon mehr in das Zentrum der rhetorischen exempla, trotz aller affirmierten rhetorischen Kompetenz des princeps poetarum gelangen wir in 10.1.76–80: „Es folgt“, so heißt es dort, „die riesige Schar der Redner, da ja in Athen ein Zeitalter zehn Redner zugleich hervorbrachte. Von diesen war Demosthenes bei weitem Abstand der Führer (longe princeps) und verkörperte sozusagen das „Gesetz des Redens“ (lex orandi).44 Wiederum also wird eine Gattung, hier die Rhetorik, durch einen princeps eingeführt, der die Regeln für diese Gattung festlegte. Quintilian erkennt einen klaren Zusammenhang von Gattung und Gattungsgesetzen, wenn man so will, auch wenn Demosthenes als lex orandi natürlich auch mehr ist als nur Gattungsgesetz. „Denn in ihm ist solche Kraft (vis), alles so gedrängt, so sehr wie mit Nerven angespannt, dass nichts müßig (nihil otiosum) bleibt. Seine Redeform ist so, dass man nichts finden könnte, was fehlt, noch was zu viel wäre.“ (§76) In Anbetracht der Bedeutung des princeps oratorum ist die literarkritische Etikettierung nun wieder etwas blass. Wichtig aber für die Abgrenzung von der im engeren Sinne literaturgeschichtlichen Betrachtung ist die Tatsache, dass Demosthenes contra ordinem temporis an den Anfang gestellt wird, denn Lysias und Isokrates folgen später, während Aischines nach ihm genannt wird; und das wohl nicht, weil ihm der zweite Platz gebührt, sondern weil er sein großer Kontrahent war. Allerdings nennt ihn Dionys in De Dem. (Opuscula 1, p. 206,8–11) als Redner mit hervorragender Anlage, dem nach Demosthenes keiner vorangesetzt werden dürfe. Dionys führt in seiner Schrift Über die Alten Redner diese Reihe indes streng chronologisch ein (ebd. §4 p. 7,15–23): Denn es werden zwei 44 Das hatte Cicero auch Brut. 35 schon ähnlich herausgehoben: nam plane quidem perfectum et quoi nihil admodum desit Demosthenem facile dixeris. nihil acute inveniri potuit in eis causis quas scripsit, nihil, ut ita dicam, subdole, nihil versute, quod ille non viderit; nihil subtiliter dici, nihil presse, nihil enucleate, quo fieri possit aliquid limatius; nihil contra grande, nihil incitatum, nihil ornatum vel verborum gravitate vel sententiarum, quo quicquam esset elatius.
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Dreiergruppen angeordnet: Lysias, Isokrates, Isaios; dann aus der Gruppe, die nach diesen ihre Akme hatten, Demosthenes, Hyperides und Aischines. Demgegenüber Quintilian: Aischines sei voller (plenior) und weitläufiger (magis fusus) und wirke daher großartiger (grandior), weil er weniger auf Kürze bedacht sei. Seine Charakterisierung als habet plus carnis, minus lacertorum lässt an die Klassifikation der Bildhauerstile denken, die Quintilian ebenfalls kannte (s. unten 189ff.). Dass es aber jetzt nicht einfach immer schlechter wird, macht die Kritik des Lysias deutlich, an dem eigentlich nichts auszusetzen ist. Isokrates freilich ist so beflissen in der compositio, dass ihm das wiederum zum Tadel gereicht (in compositione adeo diligens ut cura eius reprehendatur (10.1.79), wie er überhaupt für den ästhetisch bedachten Hörer, nicht für das Gericht komponiert habe, d. h. er ist geradezu poetisch. Bedenkt man die beiden Dreiergruppen, so könnte man allerdings eine chronologisch-taxonomische Reihung erkennen, die jeweils von einem princeps ausgeht und dann chronologisch fortfährt, wobei Quintilian die zweite Gruppe bei Dionys an den Anfang stellt, offenbar weil er den princeps herausheben möchte. Dass es jedenfalls bei den Reihungen auch um Wertungen geht, erhellt aus dem Fazit, das sich mit Demetrius von Phaleron verbindet: dieser sei nämlich der letzte, der unter den attischen überhaupt noch als Redner gelten könne, denn nach ihm sei die Beredsamkeit schlechter geworden (inclinasse dicitur ebd. §80); Cicero aber halte ihn für den besten Vertreter des mittleren Stiles.45 Quintilian bezieht sich hier zum Abschluss seiner Bemerkungen zu den Rednern noch einmal auf die ingens manus der Zehn, von denen aber nur fünf genannt worden waren, Antiphon, Andocides, Isaios, Lykurgos und Deinarchos fehlen. Verzichtbar mögen sie scheinen, weil die Eckpunkte benannt sind: 1. Alle genera dicendi: Lysias für das genus subtile, Demetrius für das genus medium, Isokrates für das genus robustum, das freilich (mit anderen Vorgaben) auch Demosthenes für sich beanspruchen kann. (dazu auch Inst. 12.10.58–63) 2. Alle genera causarum: genus demonstrativum durch Isokrates, genus deliberativum durch Demosthenes, genus iudiciale durch Lysias. Auch versucht sich Quintilian bei der Musterung der einzelnen Gattungen an ähnliche Umfänge zu halten: In der Prosa jedenfalls sind die Abschnitte der Historiker, Redner und Philosophen annähernd gleich lang. Die gesamte ingens manus jedenfalls hätte diesen Rahmen gesprengt, denn auch die Historiker müssen sich bei drei Paragraphen auf sieben Namen beschränken, die Philosophen bei vier Paragraphen auf sechs, wo auch Schulen mitgezählt werden (Sokratiker und Stoiker). Quintilian möchte es kurz und bündig haben, es geht ihm um den ersten Platz und allenfalls die beiden folgenden Ränge: Platon ist der Homer der Philosophen, denn ihm wird eine facultas divina quaedam et Homerica bescheinigt; unter den Historikern, mögen sie auch zahlreich sein, müssen sich zwei den ersten Rang mit großem Abstand zu den folgenden teilen: Thukydides und Herodot. Theopomp 45 Cic. Brut. 36ff.
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folgt mit Abstand und ist für den Redner sogar brauchbarer, weil er selbst einmal als Redner tätig war. (§74) Man wartet daher gespannt, wie der Rhetor mit den römischen Kollegen verfahren wird (§105–122). Den Reigen eröffnet, wie sollte es anders sein? – Cicero, der es mit jedem griechischen Redner aufnehmen könne, sogar mit Demosthenes. Doch ist das eine riskante Einschätzung, denn es scheint auch arge Kritiker des ciceronischen Stils zu geben (s. oben 161). Und so versichert Quintilian, man solle seinen Demosthenes nicht nur lesen, sondern geradezu auswendig lernen. Später ergänzt er, Cicero sei auch deshalb so bedeutend, weil er am exemplum Demosthenis lernen konnte. Hier verschränkt sich die imitatio-Doktrin wohl auch mit einer historischen Perspektive: „Freilich muss man einräumen, dass Demosthenes der frühere war und dass größtenteils er es war, der Cicero zu dem machte, was er ist.“ (§108) Auch wenn er überlegt, ob die geringere affektische Wucht des Demosthenes vielleicht daher rühre, dass es in Athen nicht erlaubt war, in den epilogoi allzuweit auszuholen, bzw. dass eine bestimmte Form der Lexis an das Attische gebunden war und nicht auf das Lateinische übertragen werden könne, kann man das als eine historisch-kulturelle Relativierung ansehen, mit der das auftrumpfende „vincimus“ (§107) eingeschränkt wird. Die Gegenüberstellung führt denn auch vor Augen, dass man doch eigentlich sehr Ungleiche verknüpft: Synkrisis
Demosthenes
Cicero
densior
copiosior
concludit adstrictius
concludit latius
acumen
pondus
cura
natura
nihil detrahi potest
nihil adici potest salibus et commiseratione vincimus
prior fuit et fecit Ciceronem quantus est
effinxit vim Demosthenis
Ciceros Epigonentum hat aber auch andere Griechen zum Exemplum genommen: nämlich außer der vis Demosthenis auch die copia Platonis und die iucunditas Isocratis. Cicero sammelt so aber, pindarisch gesprochen, kein Regenwasser in der Zisterne (§109), sondern er lässt seine Rede aus einem lebenden Quell verströmen, da er von der Natur so reich beschenkt wurde, dass er alle seine Kräfte an der Beredsamkeit erproben konnte. So betrachtet, wird Cicero wieder zum Griechen, der als genialisch Begabter der cura Demosthenis gegenübertritt. Jedenfalls sei seiner vehementia und seinem movere kein Richter gewachsen: Zu Recht soll er als Potentat im Gericht bezeichnet worden sein und sein Name für die Beredsamkeit selbst stehen (ut Cicero iam non hominis nomen sed eloquentiae ha-
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beatur §112).46 Zusammen mit Demosthenes bilden sie aber ein Duo, das sich deutlich vom epischen Homers und Vergils abhebt. Insbesondere die Unbestimmtheit Homers (und Vergils) fällt in die Augen, da demgegenüber die zugesprochenen Qualitäten zwar nicht so hoch veranschlagt sind, aber doch deutlicher die stilistische Eigenart bezeichnen. Sogar eine historische Relativierung findet sich. 3.1.3. Seneca: Fehlendes iudicium §125–131 Hatte Cicero als hellenophile Übernatur die Position des princeps oratorum für sich entschieden, so fällt das Urteil über die zu lesenden Philosophen sehr viel knapper aus: Das rührt natürlich von Quintilians notorisch problematischem Verhältnis zu jenen ‚Räubern‘ eigentlich urrhetorischer Gegenstände her, die jetzt als genuin philosophische firmieren.47 Diese grundsätzliche Spannung ist im Kopfe zu behalten, wenn man das Urteil Quintilians über Seneca beurteilen möchte. Cicero ist unter den Philosophen der römische Platon (dieser selbst ist, wie wir hörten, der göttliche Homer der Philosophen), aber nur Brutus, der Caesarmörder, sei dem pondus rerum gewachsen, denn er wisse, wovon er spreche (scias eum sentire quae dicit).48 – Ist Cicero zu sehr orator, als dass er das nötige Gewicht auf die philosophische Waage bringen könnte? Das wäre eine schlechte Referenz für das Anliegen Quintilians, das der Philosophie verlorene Terrain der Rhetorik wiederzugewinnen – nun aber Seneca! Lange habe er ihn zurückgeschoben (distuli), denn man habe fälschlich über ihn, Quintilian, verbreitet, dass er Seneca verurteile und ihn als seinen Feind erachte (damnare eum et inuisum quoque habere); es geht also um den Vorwurf der persönlichen Abneigung, denn beide Leben überschneiden einander von 35 bis 65, also genau in der Lebensphase, da Seneca als philosophischer Schriftsteller hervortrat, Quintilian in der Phase seiner rhetorischen Etablierung wirkte. Näheres wissen wir nicht. Anlass der Kritik sei aber ein pädagogischer: Denn als er die damalige depravierte Redepraxis wieder habe aufrichten wollen – ein Hinweis auf die verlorene Schrift de causis corruptae eloquentiae –49 habe er bei den Adepten des fractum dicendi genus allenthalben Seneca als Muster gefunden. Nun habe er gar nicht versucht, diesen den Seneca völlig auszureden, doch habe er auch nicht zulassen wollen, dass er anderen Mustern vorgezogen werde. Beginnen wir zunächst mit der Frage der persönlichen Invektive. Otto Seel, ein sensibler Interpret, gibt mit guten Gründen zu bedenken, nehme man alles zusammen, was Quintilian an Seneca zu loben hat, bleibe genug Anerkennung 46 Ein Motiv für diese Umkehrung der traditionellen Rollenverteilung von Griechisch und Römisch mag sein, dass Quintilian auf diese Weise die Kritik der Neuerer seiner Zeit an Cicero in dem Punkt widerlegen will, wo diese das ingenium gegen die Tradition stellen: Gerade die römische Tradition hat in Cicero das ingenium, will er sagen. 47 Dazu Schirren 2018. 48 Diese Einschätzung hat bereits Cicero vorgeprägt, Ac. 1.12; Tac. Dial. 21. 49 Siehe oben Anm. 4; Schirren 2005, 70f.
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übrig:50 Immerhin wird jenem vom Redelehrer ein ingenium facile et copiosum, plurimum studii, multa rerum cognitio bescheinigt und sachliche Fehler werden ausdrücklich auf sorglose Mitarbeiter geschoben, denen der Autor vertraut habe. Sein Œuvre umfasse nicht nur Prosagattungen (orationes, epistulae, dialogi), sondern auch Dichtung. Nun aber die rhetorische Kritik: Im philosophischen Fachdiskurs lasse er es an Genauigkeit fehlen (parum diligens), doch sei er in seinem Sprechhandeln dafür umso erfolgreicher (egregius insectator vitiorum).51 Die rhetorische Kritik zeichnet sich deutlich ab: Sachliche Präzision werde dem stilistischen Anspruch preisgegeben. Der sententiöse Stil (multae claraeque sententiae §129) gehe auf Kosten des Inhalts, mögen die Sentenzen auch noch so wirkungsvoll sein. Dieses Übermaß an Wirkungsabsicht (was zugleich Zeichen seiner Eitelkeit ist) führt dann zum Urteil der corrupta eloquentia (multa in eloquendo corrupta ebd.), weil sich diese Wirkungsabsicht nur durch Fehler erreichen lasse, mögen diese auch dulcia sein. Es ist daher bei Seneca nicht ein Fehlen der rhetorischen Begabung zu konstatieren, sondern des rhetorischen iudiciums, welche Mittel wie einzusetzen seien. Doch hat das wiederum weitere Konsequenzen: Seneca verspiele seine philosophische Redlichkeit, indem er sich stilistisch zu Mätzchen versteige, die ihm nicht den Beifall der Gebildeten, sondern nur der Knaben einbrächten. Und in diesem Punkt der stilistischen Manieriertheit verbindet sich ein vorher eher beiläufig geäußerter Vorwurf zu einem moralischen Makel: Seneca, der sich seines modernen Stiles wohl bewusst sei (diversi sibi conscius generis §126), hatte nicht das Zutrauen in seine Kunst, jedenfalls beim Einsatz jener Mittel, mit denen frühere Rhetorik glänzen konnte.52 Daher habe er selbst Vertreter der Tradition scharf angegriffen. Und da ihm Quintilian dieses vorwirft, wird am stilistischen Fehler der moralische erkennbar, nämlich Eitelkeit.53 Das ist eine glänzende Replik auf die doch etwas bemühte Argumentation des Stoikers, dass sich in der Schreibe dieselbe Verkommenheit des Geistes niederschlage wie im
50 Seel 1977, 190f.; 198–201, der damit eine Fehleinschätzung von v. Albrecht 1971, 149 Anm. 38 korrigiert: „In Quintilians Überblick über die Literaturgeschichte [schon das wäre ja verfehlt! ThS] wird eine offensichtliche Abneigung nur notdürftig durch Scheinobjektivität verschleiert.“ 51 v. Albrecht 31995, 149 hat dieses rhetorische Mittel gebührend herausgehoben: „Er [Seneca] begnügt sich dabei nicht mit ruhiger Kontemplation, sondern versucht, den Willen seines Lesers zu aktivieren.“ Und weiter: „Seneca hat also die Philosophie durch Rhetorik nicht etwa „verdorben“ [im Sinne des corrumpere Quintilians ThS], sondern die Rhetorik als Methode verbaler Fremd- und Selbstbeeinflussung des Willens in den Dienst der praktischen Philosophie gestellt.“ Es ist bezeichnend, dass Quintilian diese eigentlich urrhetorischen Kompetenzen nicht nur nicht erwähnt, sondern sogar als übertrieben kritisiert. Denn landläufigem Verständnis zufolge wäre der Wirkungsanspruch gerade als besonders ‚rhetorisch‘ zu bezeichnen. Nimmt er ihm also auch übel, in der Philosophie rhetorisch zu agieren, wie auch die Kritik am mangelnden pondus rerum Ciceros (s. oben Seite 166) nahe legen könnte? 52 §126 … potioribus praeferri non sinebam, quos ille non destiterat incessere, cum diversi sibi conscius generis placere se in dicendo posse quibus illi placerent diffideret. 53 §130 […] si aliqua contempsisset […] si non omnia sua amasset wäre er nicht nur von den Knaben bewundert worden.
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Gang und anderen Tätigkeiten;54 denn die von Quintilian diagnostizierte stilistische Schwäche suche der Schwächling durch Schmähsucht zu kompensieren und disqualifiziere sich so moralisch selbst: Er macht nur schlecht, was er nicht erreichen kann. Dagegen wirkt die stoische Interpretation der Gleichung von vita und oratio ebenso konventionell wie abgeschmackt. Der Ausbildung des iudicium dient das ganze Lesetraining, dem sich der Rhetor widmet, aber Seneca, wiewohl er viel studiert und gelesen habe, führe sein falsches iudicium in die Dekadenz. Und das mache nun auch noch Schule, da er eben wegen seiner dulcia vitia geschätzt werde! Es scheint wie eine Droge zu sein. Und so sehr er als insectator vitiorum auftrete, produziere er doch selbst lauter vitia, nämlich stilistische,55 und reiße andere mit ins Verderben seines fractum atque corruptum genus. Quintilian wünschte sich, er hätte mit seiner Begabung, aber mit anderem iudicium gesprochen! Dessen Hang aber zum Zerhacken großer Gegenstände in kleinste Sentenzen sei kindisch, darin gibt er auch seinen philosophischen Anspruch preis, denn über Großes müsse auch großartig gesprochen werden.56 Trotz aller Kritik aber – man müsse ihn mit Standhaftigkeit lesen, aber sorgfältig bei der memorialen Einverleibung auswählen, sonst vergiftet man sich wie an gewissen maritimen Delikatessen, um im Bilde der Einverleibung zu bleiben.57 Und so schließt sich denn der Kreis: Zu Beginn des Seneca-Abschnittes verteidigt sich Quintilian, er habe ehedem das missratene genus dicendi zu strengerem iudicium zurückgerufen. Es gehe also nicht um persönliche Abneigung, sondern um eine Verfehlung des technisch anzuleitenden iudicium, die weithin grassiere. Senecas Prosa erscheint dann wie ein süßes Gift, das die Urteilskraft betäubt, sodass man sich zu deliziösen Eskapaden hinreißen lasse, und das bringe das ganze Lesetraining um seinen Erfolg: Amabant autem eum magis quam imitabantur, tantumque ab illo defluebant, quantum ille ab antiquis discenderat (§127). Es kann somit kein Zufall sein, dass Quintilian die Behandlung des Seneca bis zum Schluss hinausschiebt, obwohl er auch als Dichter hätte schon früher aufgeführt werden können: Denn so kann er mit dem corruptum iudicium als Menetekel das ganze Kapitel enden lassen. Das lässt sich nachvollziehen, insofern Senecas manieristische Formulierungen nicht ohne semantische Spannungen und Verzerrungen auskommen; die Worte wirken wie festgezurrt in den Sinn der Sentenz und können nicht leicht herausgelöst werden.58 Der schon angesprochene Zusammenhang von Stil und Moral bedarf aber noch weiterer Ausführungen. Bereits in der Wortwahl des corruptum genus dicendi kann man eine moralische Implikation hören. Besonders pikant ist diese 54 Siehe Ep. 114. 55 Möller 2004, bemerkt zu Recht, wie auch in Senecas Ausführungen stets vitia zwischen technischem und moralischem Fehler changiere. 56 Dieses Prinzip des inneren aptums bzw. des πρέπον steht seit Gorgias B 6 (Diels/Kranz) τὸ δέον ἐν τῷ δέοντι καὶ λέγειν καὶ σιγᾶν καὶ ποιεῖν als Regel über der Lexis, Aristoteles systematisiert es in Rhet. 3.7 als τοῖς ὑποκειµένοις πράγµασιν ἀνάλογον (1408a 10–11). Auch in der Stoa fand dieser Grundsatz Anerkennung, z. B. bei Kleanthes SVF 1,109,9 = Fr. 186. 57 Siehe oben Seite 157. 58 In diese Richtung auch allgemeine Überlegungen von v. Albrecht 2014, 714–715.
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Anspielung aber deshalb, weil kein anderer als Seneca selbst die Gleichung von vita und oratio in seinem moralphilosophischen Diskurs breit ausgeführt hat. Die Ep. 100, 114 und 115 legen beredtes Zeugnis davon ab, wie scharf er gerade jene stilistischen Mittel verurteilt, die ihm hier, und nicht nur hier, selbst angelastet werden.59 In Ep. 59.5 lobt er den Stil des Lucilius mit pressa sunt omnia et rei aptata. loqueris quantum vis et plus significas quam loqueris; in Ep. 114.1 dagegen tadelt er gerade die Dunkelheit im Ausdruck (abruptae sententiae et suspiciosae, in quibus plus intelligendum esset quam audiendum), wie sie insbesondere auch bei Sallust gebraucht wird. (sic Sallustio vigente anputatae sententiae et verba ante expectatum cadentia et obscura brevitas fuere pro cultu Ep. 114.17). Sein stilistisches Vorbild Fabianus wird in Ep. 100 zusammen mit Cicero empfohlen, doch was der Vater Senecas über diesen sagt (saepe minus quam audienti satis est eloquitur contr. 2, praef. 2), scheint das Urteil des Sohnes Lügen zu strafen. Schnell ist der Vorwurf der Hypokrisie im Raum, der sich ja auch gerne einstellt, wenn man Seneca über den Reichtum dozieren hört und bedenkt, dass er mit 300 Millionen Sesterzen selbst einer der reichsten Männer war.60 „Das Merkwürdigste ist“, so resümiert Norden, „daß er als Stilist seine eigenen Fehler nicht kennt und an anderen tadelt, was ihm selbst anhaftet.“61 Norden erklärt genauer, dass die konventionellen Satzschlüsse in seinen „kleinen, zerhackten Sätzen“ mit „jener Aufdringlichkeit“ hervorträten, die für die Asianer charakteristisch sei. Dennoch oder gerade deshalb: Seneca dürfe nicht wie Quintilian dies tue, unhistorisch betrachtet und beurteilt werden, denn „neben Tacitus [habe] keiner den modernen Stil in so glänzender Weise zum Ausdruck nicht nur der eigenen Persönlichkeit, sondern der ganzen Zeit gemacht: ingenium amoenum et temporis eius auribus accomodatum“ (Tac. Ann. 13.3). Verkennt Quintilian also in seinem Traditionalismus die Innovation Senecas, die zudem gültiger Ausdruck von dessen Zeit gewesen ist? Wenn man wie von Albrecht einfach Neuerer gegen Konventionalisten rückt, kann leicht aus dem Blick geraten, dass es gerade Seneca war, der über bestimmte stilistische Mittel den Stab brach und sie als ‚unmännlich‘ und ‚aus krankem Geiste‘ entstanden verwarf.62 Maecenas wird so in Ep. 114.4–11 zu einem exemplum depravierter Moral und Rede: talis oratio qualis vita. Das ist es, was geklärt werden muss, ehe man dem Stilisten gerecht werden kann.63 Die eingehendste Analyse des von Seneca zum Programm erhobenen Diktums talis oratio qualis vita ist die gleichnamige Studie von Melanie Möller.64 Sie sucht Seneca 59 60 61 62 63
Außer von Quintilian auch von Gel. 12.2; und Fro. Ant., ed. van der Hout 1988, p. 153–160. Siehe dazu das instruktive Kapitel „Seneca Praedives“ in Griffin 1976, 286–314; bes. 291f. Norden 21909, 310; er kann sich dafür bereits auf Balzac berufen, 311 Anm. 1. Zu diesen Polaritäten s. oben. Anm. 40. v. Albrecht 31995, 150 möchte zwischen den „Exzessen der damaligen Moderhetoren und dem Stil Senecas unterscheiden“; aber wie? Tatsächlich bleibt es bei Behauptungen wie dass er „alles allzu Übertriebene und Ungewöhnliche zu vermeiden“ suche. Hier steht Aussage gegen Aussage. 64 Möller 2004, 167–261; „Quintilian macht Seneca seinen sententiösen Stil und seine Selbstgefälligkeit zum Vorwurf. […] Trotz wohlwollender Einschränkungen bringt er ihn mit dem corruptum et omnibus vitiis fractum dicendi genus […] immerhin in Verbindung (in
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freilich vor dem Vorwurf der Hypokrisie in Schutz zu nehmen und betont die subjektiv begründete Differenz zu anderen Autoren wie dem von ihm gescholtenen Maecenas, da er sich in der Reflexion über den Stil bereits auf einer anderen Stufe wähnt: Seneca hat seine Fehler nicht nur gekannt; er reflektiert sie in seiner Prosa. Die Selbstreferenz ist gerade in Epistel 114 unverkennbar. Er will allerdings nicht einfach einzelne seiner stilistischen Missgriffe entschuldigen, sondern eine Probe seines künstlerischen Könnens abliefern, das eine ständige Gratwanderung zwischen ‚gelungen‘ und ‚verfehlt‘ darstellt. (250) Wenn Seneca stilistisch normierte und verständliche Kunst fordert, dann dient das nicht nur der Kontrolle und Erwartungsstrukturierung, sondern auch der Selbstvergewisserung des Subjekts Seneca. Ist diese Vergewisserung gelungen und die Distanz zum kritisierten Gegenstand markiert, hat sich die ästhetische Wahrnehmung an der Betrachtung des Gegebenen gemessen und stabilisiert, so hindert den Schreiber nichts daran, von allen zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen. (260)
Diese subjektivitätstheoretische Wendung soll Senecas Doppelbewegung erklären: einerseits seine Disqualifizierung verdorbener Stilistik als notwendiger Folge eines verkommenen Charakters, andererseits selbst in solcher Kritik eine Lust an eben jener inkriminierten Stilistik. Stechen nun aber nicht die gelobten Ideale der Schlichtheit und der Natürlichkeit allzu deutlich von der eigenen stilistischen Praxis ab, als dass man annehmen könnte, er prangere bestimmte negative Auswüchse an, wolle aber selber zeigen, wie man es besser machen könne und richtig sei? Oder ist er doch soweit im Zeitgeschmack befangen (siehe Norden, oben Anm. 61), dass er diese Ähnlichkeit gar nicht bemerkt und sich im Glashaus sicher wähnt, wo er fortwährend Steine schleudert? Es fehlt ja nicht an Affirmationen der unbedingten Folge von Sprechen und Tun, die das alte biographische Thema von Lehre und Leben aufgreifen.65 Ebenso verdammt er ja auch stets den Reichtum und das Streben nach materiellem Besitz und zählte dennoch zu den reichsten Männern in Rom.66 Quintilian gibt sich deshalb besonders kritisch, weil er die Kritik am Traditionalisten Cicero tadelt, der Seneca doch stilistisch überlegen sei (Inst. 10.1.126). Zwar trifft diese Kritik für Ep. 114.16 zu, nicht aber in Ep. 100.6–7, wo er seinem Adepten Lucilius Cicero gerade gegen den Zeitgeschmack empfiehlt. Was Gellius aus verlorenen Briefen an Lucilius berichtet, zeigt freilich eine weitaus schärfere Kritik an Cicero, die wiederum erklären kann, warum Quintilian so empfindlich reagiert.67 Dabei enthält sich Gellius selbst der Kritik am Stil Senecas und zitiert nur die Ablehnung der Archaisten, die Senecas oratio beinahe wörtlichem Anklang an das Proömium der 114. Epistel), um schließlich zu behaupten, Seneca habe überhaupt nur wegen seiner Fehler gefallen.“ (247) 65 Zu Recht betont von Möller 2004, 249 mit Ep. 75.4, die es als „appellative Variante“ der Gleichung von vita und oratio bezeichnet. Gegen Rozelaars 1976, 362 Versuche einer Harmonisierung („Mittelweg“) zeichnet sie Seneca als einen Mann der Extreme (was Rozelaar 1976, 369 auch zugeben muss), der in seiner scharfen Diktion der Polemik im Detail nicht ausweiche; das Lob des Cicero und Papirius Fabianus in Ep. 100 sieht auch Möller 2004, 252 in einer Diskrepanz dazu. 66 Siehe oben Anm. 60. 67 So von Albrecht 1971, 150, der im übrigen Quintilians Urteil korrigieren möchte.
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vulgaria et protrita tadeln und die Bildung als halbseiden, da ohne Quellenstudium der Alten, herabsetzen, während andere fehlende elegantia (apartes Vokabular) zwar einräumen, doch der Schärfe und Gewichtigkeit seiner moralischen Gardinenpredigten (in vitiis morum obiurgandis) ästhetische Attraktivität gerade nicht absprechen wollen (non invenusta severitas et gravitas).68 Man könnte die Kritik an Seneca folglich als eine Reaktion auf dessen Innovationsleistung erklären, die selbst gegenüber den Archaisten auf Polemik nicht verzichtet. Da sich die Dekadenz als Kulturmodell gerade in diesen Kreisen fest etabliert hatte, lag es nahe, den Neuerer zugleich als moralisch dekadent zu brandmarken.69 Seneca machte in seiner Polemik den Fehler, durch den Moral-Stil-Diskurs auf eine Topik festgelegt zu sein, die seine Äußerungen in das Zwielicht ständiger performativer Widersprüche setzten. Ob dies mit Überlegungen zur subjektiven Differenz Senecas erklärbar ist, steht dahin. Wenn daraus ein Gefühl der Überlegenheit resultieren sollte, hätte jedenfalls Quintilian mit seinem Tadel der Eitelkeit nicht gänzlich unrecht. 4. FRÜH ÜBT SICH … Nicht nur im berühmten Abschnitt 10.1 der Institutio,70 sondern bereits im Zuge der Erziehung künftiger Redner spielt die richtige Lektüre eine Rolle. Hier wird jenes Fundament gelegt, das später die Hexis des Redners auf eine sichere Grundlage stellen soll. Bildet die Hexis die Grundlage der auszuübenden ars oratoria, so muss diese Hexis selbst als Habitus möglichst früh angelegt werden. Quintilian sieht dafür insbesondere eine angeleitete, d. h. immer wieder korrigierende Lektüre als wirkungsvolles Instrument zur mentalen Formung. 4.1. Erstes Buch: Literarische Früherziehung Schon im Knabenalter plant der Lehrer, wie der Geist des Zöglings ‚formatiert‘ werden muss, damit er später rhetorisch funktioniert.71 Die Lektüre sollte mit sieben Jahren beginnen, denn wenn es auch quantitativ wenig sein mag, was man sich später schneller angeeignet hätte, so lerne man im Knabenalter doch Wichti-
68 Gel. 12.2.1; Möller 2004, 248 schreibt diese Kritik irrtümlich Gellius selbst zu, wenn sie behauptet, er verfolge „Seneca und seinen Schreibstil mit grober Verachtung.“ 69 Bourdieu 1982, 356 freilich zeigt, dass es zum Bestand aller herrschenden Ästhetiken gehöre, „Nüchternheit, Einfachheit, Sparsamkeit der Mittel für äußerst wichtige Kriterien“ zu halten. Das könnte auch Senecas Bestehen auf dieser Ästhetik – bei gleichzeitigem Unterlaufen dieser Forderungen aus unserer Sicht – erklären. 70 Dem berühmtesten der Institutio, wie Russell 2001, 246 treffend bemerkt. 71 Zur formenden Erziehung der Kinder s. Quint. Inst. 1.3.12: modo nulla videatur aetas tam infirma quae non protinus quid rectum pravumque sit discat, tum vel maxime formanda cum simulandi nescia est et praecipientibus facillime cedit; 2.15.33: formare perfectum oratorem.
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ges:72 Vor dem Hintergrund der Wertelisten des 10. Buches wird deutlich, dass es darum gehen muss, die elementa so zu vermitteln, dass sie den Adepten für das spätere iudicium strukturieren. Ähnlich wie der Spracherwerb in jungen Jahren tiefere Spuren hinterlässt, soll der Zögling mit jeder Faser die richtige Literatur aufnehmen. Suggestiv fragt der Rhetor, ob ein Alter, in dem bereits das Verhalten geformt werde (mores), nicht auch schon für die Literatur richtig sein soll. Diese ‚Prägung‘73 entscheidet später über das literarische Geschmacksurteil und die Einpassung in den Kanon. Auch für die biologische Prägung gilt, dass zwischen der Prägung und der dadurch gesteuerten Handlung eine gewisse Zeitspanne der Latenz liegt. Im Rahmen der Rednerausbildung wäre diese Latenz nur der Grund dafür, dass allgemein zu wenig auf die literarische Früherziehung geachtet werde; das sei ein großer Fehler, denn die Prägung selbst ist irreversibel und uneinholbar.74 Sie steht als besondere Eigenschaft daher im Kontext der ‚feinen Unterschiede‘, die über Zugehörigkeit und Prestige entscheiden.75 Man könnte auch sagen, dass es darauf ankomme, gerade die Individualität zu schwächen, indem statt an die Stelle eigener Erfahrungen und Erlebnisse bereits vermittelte der Literatur treten: Die Heranwachsenden machen also gewissermaßen ‚vorformatierte‘ Erfahrungen, nämlich solche, die auch andere schon gemacht haben.76 Genau das führt dann natürlich zu gruppenspezifischen Ansichten, die für die Hexis als Habitus im Sinne Bourdieus höchst relevant sind. Man könnte geradezu sagen, dass die Hexis, die Quintilian als rhetorische Grundlage formuliert und durch die Lektüre aufbauen und konsolidieren will, eigentlich nicht nur eine rhetorische im engeren Sinne ist, sondern eine eminent soziologische Dimension aufweist. Denn die Art und Weise, wie ich gerade in solchen Momenten spreche, in denen ich unwillkürlich reagiere (diese Reaktionen nicht zum rhetorischen Desaster werden zu lassen, soll ja die Hexis nach Quintilian dienen) kann über meine Akzeptanz bei einem Publikum entscheiden, das auf einen bestimmten Sprachcode geeicht ist. Signifikant ist, dass Quintilian den Kindern auch dann Literaturwerke vermitteln will, wenn sie noch nicht alles verstehen können (1.1.14–15). Statt des späteren intellektuellen Erfassens literarischer Werke bleibt es bei einem niedriger an72 Quint. Inst. 1.1.18: Nam certe quamlibet parvum sit quod contulerit aetas prior, maiora tamen aliqua discet puer ipso illo anno quo minora didicisset. 73 Dieser Begriff stammt aus der Verhaltensforschung und ist durch die Arbeiten von Konrad Lorenz ins breitere Bewusstsein gelangt. 74 Dazu Bourdieu 1982, 125–133 über das Verhältnis von Anciennität und Gelehrsamkeit. 75 Bourdieu 1982, 53 stellt im Rahmen von durch Bildung erreichter Statuszuschreibungen folgende Überlegungen an: „Zweifellos hat diese Logik [nämlich Statuszuweisung durch Allokation] nicht geringen Anteil daran, dass die legitime Einstellung, will heißen die Einstellung zur Sphäre des Legitimen, erworben im Umgang mit einer besonderen Klasse von Werken, nämlich den vom Schulkanon anerkannten der Literatur und Philosophie, sich in Folge auf andere, minder legitime Produktionen wie die avantgardistische Literatur oder auf akademisch weniger renommierte Sparten wie den Film erstreckt: Die Tendenz zur Generalisierung liegt jener Einstellung immanent zugrunde; jener Einstellung, legitime Werke anzuerkennen, jenem Hang und Vermögen, deren Legitimität zu erkennen, sie wahrzunehmen als Werke, die an sich selbst zu bewundern sind.“ 76 In diesem Kontext ist auch das imitatio-Kapitel 10.2 zu betrachten.
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setzenden Verständnis auf Wort- und Satzebene; natürlich handelt es sich psychologisch auch dabei um eine aktive Aufnahme, denn die Grapheme müssen identifiziert und mit den Phonemen abgeglichen werden, ehe die Dekodierung mit zunehmender Komplexität fortschreiten kann.77 Dennoch gewinnt man den Eindruck, Quintilian denke an eine eher materiale Auffüllung der copia verborum. Dann aber spielt auch schon eine Rolle, welche Wörter gelernt werden. Die Knaben sollen Spruchweisheiten lernen (1.1.35), denn diese kondensierten Moraleinheiten sind es gerade, die knappe Anweisungen vermitteln, die sich gut einprägen, aber auch das moralische Handeln bestimmen sollen. Auch hier dient die sprachlich-rhetorische Propädeutik bereits der Ausbildung eines bestimmten sozialen Habitus, der durch gruppenspezifische Moralcodes aufgebaut wird. Auch die Erlernung von vornehmlich griechischen Fremdwörtern, deren phonetische Kenntnis wichtiger ist als deren Gegenstand (wer griechische Wörter korrekt aussprechen kann, gehört zur Klasse der besonders Gebildeten) oder auch das Training von schwer auszusprechenden Wörtern (‚Zungenbrecher‘) ist in diesem Zusammenhang zu sehen. In 1.4 eröffnet Quintilian die Grammatikstudien mit dem Hinweis, dass diese mehr zu bieten hätten, als man auf den ersten Eindruck hin annehmen würde (plus habet in recessu quam fronte promittit); denn die Fertigkeit des Schreibens hänge unmittelbar mit der des Sprechens zusammen,78 und das fehlerfreie Lesen erst ermögliche die Erklärung (enarratio) des Inhalts, alles aber sei mit dem Steuerungsinstrument des iudiciums verflochten. Vor dem Hintergrund der später in der Institutio entfalteten Bedeutung des iudiciums zeichnet sich ab, dass der umfassenden Bedeutung des iudiciums als Steuerungsinstrument der ars auch eine fundamentale Bedeutung in der Ausbildung des Einzelnen zuerkannt wird. Umgekehrt heißt dies aber auch, dass, wer diese Ausbildung nicht genossen hat, später niemals über ein entsprechendes iudicium verfügen wird können. Daher die Betonung des acuere ingenia puerilia und des exercere altissimam quoque eruditionem ac scientiam (1.4.6); denn es genüge auch in der Kindheit nicht, nur Dichter zu lesen: Jedes literarische Genus verdiene Beachtung. Auch bei der Dichtung müsse man von anderen Wissenschaften etwas verstehen, wie etwa Empedokles, Varro und Lucretius bewiesen (1.4.4). Um diesen Autoren gerecht zu werden, bedürfe man einer nicht geringen eloquentia. Und echte eloquentia kann nur über solches einsames Autorenstudium erreicht werden (1.4.5).79 Die Ausübung rhetorischer Kompetenz und die Mittel zu deren Erreichen bedingen also einander gegenseitig: „Wenn man diese nicht als Grundlagen des zukünftigen Redners legt, wird, was auch immer darauf aufbaut, in sich zusammenstürzen.“ (1.4.5) Am Anfang der Lektüre der Zöglinge (1.8) stehen dieselben Autoren, die auch am Anfang der literarischen Gattungen stehen: Homer und sein lateinisches Pendant Vergil. Auch hier spielt das höhere intellektuelle Verständnis der Lesenden 77 Sogenannte Graphem-Phonem-Übertragung s. Wittmann/Pöppel 1999, 228. 78 Die Neurobiologie betont die Verflochtenheit von Sprechen und graphischer De- und Enkodierung, s. Wittmann/Pöppel 1999. 79 Siehe oben Anm. 29, Seite 157.
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eine geringere Rolle als das Einlesen in den Beginn, der als genealogische Denkfigur zugleich die Verfügung über alles Folgende impliziert. Auch wenn die Knaben den Sinn der Heldengedichte nicht erfassen können, weil dafür erst das zu entwickelnde iudicium erforderlich wäre, soll ihr Geist vom erhabenen Gedicht hinangezogen und mit denjenigen moralischen Werten ausgestattet werden, die statusgemäß sind. Das tiefere Verständnis der Makrostruktur könne in späteren Lektüren nachgereicht werden. An dieser Argumentationsfigur lässt sich wiederum zeigen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, der ‚Stallgeruch‘, durch das Einlesen in das, was bereits die Väter gelesen haben, vorbereitet wird. Der Wert dieser Gedichte steht außer Frage und daher darf man sie auch lesen, ohne die Makrostruktur zu verstehen: Dieses Paradox bestätigt die soziologische Dimension der Literatur, wie sie durch die Rhetorik in Dienst genommen wird. Freilich betont Quintilian andererseits immer wieder, dass man nur lesen könne, was man verstehe. Verstehen und verstehen sind also nicht dasselbe: Superest lectio: in qua puer ut sciat ubi suspendere spiritum debeat, quo loco uersum distinguere, ubi cludatur sensus, unde incipiat, quando attollenda uel summittenda sit uox, quid quoque flexu, quid lentius celerius concitatius lenius dicendum, demonstrari nisi in opere ipso non potest. Vnum est igitur quod in hac parte praecipiam, ut omnia ista facere possit: intellegat. (Quint. Inst. 1.8.1–2) Übrig bleibt das Lesen (dichterischer Texte). Wie der Schüler dabei zur Kenntnis dessen kommt, wo er den Atem in der Schwebe halten muss, wo er einen Sinneinschnitt im Vers zu setzen hat, wo der Gedankengang zu Ende geht, wo er anfängt, wann die Stimme zu erheben oder zu senken ist, was mit jeweils welcher Stimmfärbung, was langsamer, schneller, aufgeregter, zurückhaltender vorzutragen ist, das kann nur bei der praktischen Arbeit am Text selbst gezeigt werden. Ich gebe also nur eine einzige Lehre für diesen Teil der Arbeit, damit der Schüler all dies leisten kann: Er soll verstehen, was er liest.80
Dieses Verständnis bezieht sich auf die oberflächlichen Sinnstrukturen, die im Wesentlichen durch die grammatische und metrische Struktur geregelt werden. Um einen Text verständlich vorzutragen, müssen bestimmte, basale Sinnzusammenhänge erkannt werden; dies ist in der scriptio continua natürlich für den Lesenden viel schwieriger und macht erforderlich,81 dass man den Text vorher durchgegangen ist, um keine Fehler bei der Wortabtrennung zu begehen. Die Makrostrukturen des Textes, wie Zeichnung des Ethos der Handelnden, Handlungsverläufe etc. müssen dafür nicht verstanden werden.82 Sit autem in primis lectio uirilis et cum sanctitate quadam grauis, et non quidem prorsae similis, quia et carmen est et se poetae canere testantur, non tamen in canticum dissoluta nec plasmate, ut nunc a plerisque fit, effeminata. (Quint. Inst. 1.8.2)
80 Übersetzung Ax 2011. 81 Vgl. die Bemerkung in Quint. Inst. 2.5.4, wo Hilfslehrer den Schülern vorlesen sollen, damit diese am Text die Wortabtrennungen markieren können. 82 Dazu aus der Perspektive der modernen Psycholinguistik siehe zusammenfassend Christmann/Groeben 1999, 148–162, wo die aufeinander aufbauenden Stufen Buchstabenund Worterkennung, Semantik und Syntax, satzübergreifende Integrationsmechanismen unterschieden werden.
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Vor allem aber sei das Lesen männlich und ernst mit einer gewissen Feierlichkeit, doch nicht dem Prosalesen gleich, weil es sich um Dichtung handelt und die Dichter bezeugen, dass sie singen, aber andererseits auch nicht zu echtem Gesang degeneriert und auch nicht durch eine Stimmmodulation, wie sie heutzutage von sehr vielen verwendet wird, effeminiert.83
Mit dieser weiterführenden Bemerkung, die die richtige Form des Lesens (Intonation) betrifft, soll gleich wieder eine wichtige Distinktion vorgenommen werden: Das Lesen soll „männlich“ sein und nicht „effeminiert“. Letzteres wäre dann der Fall, wenn gesungen würde (lectio in canticum dissoluta, ‚Arienstil‘), nicht gesprochen; Quintilian wendet sich damit gegen eine zu seiner Zeit übliche Rezitationsform. Die Forderung nach ‚Männlichkeit‘ ist im Zusammenhang mit der ebenfalls als ‚männlich‘ apostrophierten Rhetorik zu sehen, die vom vir civilis vere Romanus (1 pr. 10) ausgeübt werden soll.84 Das später von Quintilian kritisierte corruptum genus eloquentiae zeichnet sich ja gerade durch scharfe Einschnitte wie in den cantica aus.85 Diesem Übel soll also bereits im frühen Alter begegnet werden, indem ein ‚rhetorischer‘ Vortrag nach Quintilians Maximen angestrebt wird.86 Die Vorgabe der ‚Männlichkeit‘ formatiert natürlich zugleich auch schon die Rezeption der epischen Dichtung als ‚Heldendichtung‘ in einem spezifischen Sinne. 4.2. Buch 2 Die lectio und enarratio poetarum beim Grammatiker wird auf der nächsten Ausbildungsstufe mit der Lektüre von Historikern beim Rhetor (2.5.1–17) fortgesetzt. Quintilian grenzt diese lectio zunächst von der declamatio ab, doch wird in seiner Darstellung allenthalben deutlich, dass der Unterricht auf die spätere Kompetenz des Redners zielt. So wie der Grammatiker sich selbst um den zu vermittelnden Stoff kümmere, müsse auch der Rhetor diese Aufgabe höchstselbst übernehmen und könne sie keinesfalls an andere, geringer Qualifizierte (Hilfslehrer) delegieren. Denn diese können nur solche Hilfen geben, die weit unter der Kompetenz des Rhetors anzusiedeln sind (multum infra rhetoris officium existimanda est 2.5.4), wie Vorlesen, Worterklärungen etc. Bei der Lesung im Rhetorikunterricht ist vielmehr die Darstellung der vitia und virtutes zu leisten, also genau dessen, was später in 10.1 für die gesamte Literatur durchgeführt wird, hier aber auf das 83 Übersetzung Ax 2011. 84 Zu diesen Polaritäten s. oben Anm. 39. 85 Siehe oben Seite 168; Seneca tadelt in Ep. 114.1 (oratio in morem cantici ducta), dass auch Prosa wie (lyrische) Dichtung formuliert wird. 86 Das hebt zu Recht Ax 2011, 357 heraus: „Man merkt deutlich, dass Quintilian schon mit seinen Hinweisen von 1.8.2 propädeutisch auf den gewünschten späteren Redevortragsstil einwirken will. Im abwehrenden Sinn will er dem schwerwiegendsten Fehler der pronuntiatio der Rede vorbeugen, der sich schon beim falschen musikalischen Vortrag von Dichtertexten einschleifen könnte, dem vitium cantandi.“ Ax hat auch die Verbindung zur damaligen musikalischen Praxis aufgezeigt, die Quintilian ablehnte. Vor allem passt in dessen Augen ein ‚weiblicher‘ Arienstil nicht zur männlichen Heldendichtung Homers und Vergils.
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rhetorische Proprium reduziert wird. Daher soll ein Schüler selbst die Rede vortragen und dabei die pronuntiatio einüben und in einem nächsten analytischen Schritt sollen die Vorzüge und Schwächen auf der Grundlage des zu verhandelnden Falles erörtert, dann die relevanten Produktionsstadien und deren Redeteile und Funktionen betrachtet werden.87 Dieser Diskurs kann nur vom Fachmann geführt werden (ea sola in hoc ars est, quae intellegi nisi ab artifice non possit 2.5.8). Doch nicht nur gelungene Reden, auch verfehlte können pädagogischdidaktischen Nutzen bringen. Und hier findet man genau dieselben Kategorien, die später etwa für Seneca angewandt werden, denn bei der gemeinsamen Lesung geht es darum, aufzuzeigen, quam multa inpropria, obscura, tumida, humilia, sordida, lasciva, effeminata seien (2.5.10) Dergleichen rhetorische Fehler würden von vielen genau deshalb und dafür gelobt. Gegen diese Dekadenz setzt Quintilian nun die ‚gerade‘ und ‚natürliche‘ Sprache (sermo rectus et secundum naturam enuntiatus §11), die jedoch von den verdorbenen Neuerern abgelehnt werde; hier hört man dieselben Argumente, die auch im Abschnitt über Seneca in 10.1.124ff. fallen: Nam sermo rectus et secundum naturam enuntiatus nihil habere ex ingenio uidetur; illa uero quae utcumque deflexa sunt tamquam exquisitiora miramur non aliter quam distortis et quocumque modo prodigiosis corporibus apud quosdam maius est pretium quam iis quae nihil ex communis habitus bonis perdiderunt, atque etiam qui specie capiuntur uulsis leuatisque et inustas comas acu comentibus et non suo colore nitidis plus esse formae putant quam possit tribuere incorrupta natura, ut pulchritudo corporis uenire uideatur ex malis morum. (Quint. Inst. 2.5.11–12) Denn die gerade und natürliche Rede scheint in ihrem Ausdruck nichts Ingeniöses aufzuweisen. Doch jenes, mag es auch wie auch immer verbogen sein, bewundern wir als etwas Besonderes, nicht anders als bei manchen Menschen die verkrümmten und irgendwie von der Natur abweichenden Körper in höherem Wert stehen als dasjenige, was nichts vom natürlicherweise Guten eingebüßt hat, das allen gemein ist. Und sogar diejenigen, die vom äußeren Anschein gefangen sind, glauben, dass diejenigen, die sich depilieren und die Haut glätten lassen, die sich ihre gebrannten Locken mit Nadeln hochstecken und nicht mit ihrer natürlichen Farbe glänzen, mehr Schönheit haben, als eine unzerstörte Natur (incorrupta natura) es ermöglichen würde. So scheint es denn, dass die körperliche Schönheit aus schlechter Moral entspringt.
Tatsächlich geht es im Rhetorikunterricht darum, diese Geschmacksurteile an einer Norm auszurichten und dann scharf zwischen ‚Normal‘ und ‚Anormal‘ zu unterscheiden. Die Norm als das Richtige ist daher auch das Gerade (rectus), das einen communis habitus aufweist. Was davon abweicht, ist dekadent und unnatür87 Quint. Inst. 2.5.7: quodque in inventione quodque in elocutione adnotandum erit, quae in prooemio conciliandi ratio, quae narrandi lux, brevitas, fides, etc. Vgl. damit die Modelle des höheren Textverstehens bei Christmann/Groeben 1999, 162–183, die beim Textverständnis 179 folgende Stufen referieren: 1) Zusammenhangorientiertes Lesen; 2) zentrale Gedanken des Abschnittes herausheben; 3) zusammenhängende Gesichtspunkte auswählen; 4) Information auswählen, die Probleme oder Fragen lösen können; 5) thematisches Problem klar darlegen; 6) neue Probleme entdecken; 7) Argumentationsgang herausfinden; 8) Gültigkeit der Aussagen beurteilen. Diese oder leicht modifizierte Schritte finden sich in der modernen Literatur und sie lassen sich recht direkt mit dem Curriculum des Redners verknüpfen.
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lich im Sinne von krank. Es steht außerhalb des Gemeinsamen. Das Kanonische greift so in die ästhetischen Werturteile der Zöglinge ein und sorgt für scheinbar natürliche Abneigungen gegen das, was als von der richtigen Norm abweichend definiert wird.88 In dieser Analyse soll der Rhetor Fragen stellen, um die Passivität der Zuhörer zu stören; damit arbeitet er am iudicium; der eher unbewussten Formation des Geschmacksurteils tritt so eine Reflexion zur Seite, die Gründe anzugeben vermag, um das schwer Fassbare ästhetischer Urteile diskursiv zu durchdringen. Wenn Quintilian abschließend bemerkt, dass der Sinn der Unterweisung darin bestehe, nicht immer unterweisen zu müssen, so gibt er sich zuversichtlich, dass die Unterweisung jene Hexis herausbilden werde, die für stabile Geschmacksurteile notwendig sei. Anders formuliert: die Unterweisung ist daraufhin konzipiert, dass die Zöglinge genau das Wertesystem akzeptieren, das ihnen exponiert wird: Hoc diligentiae genus ausim dicere plus conlaturum discentibus quam omnes omnium artes, quae iuuant sine dubio multum, sed latiore quadam comprensione per omnes quidem species rerum cotidie paene nascentium ire qui possunt? (Quint. Inst. 2.5.14) Diese Art der Sorgfalt wird, möchte ich sagen, den Schülern mehr nützen als alle Rhetoriklehrbücher aller Lehrer, die sicherlich viel nützen, aber wie sollen die Schüler in weiterer Anwendung sich durch alle Formen der Gegenstände, die beinahe täglich hinzukommen, hindurch arbeiten?
In diese Aporie tritt nun das Vorbild des Redners; Quintilian vergleicht diese Methode mit der Kriegskunst, wo nach dem Erlernen der Regeln die einzelnen Strategien ausgewiesener Heerführer betrachtet werden sollen, da fast in allen Fällen Versuche mehr nützen als Vorschriften – und schließlich sei es auch angenehmer, Fehler anderer aufzuspüren, als sich den eigenen zu stellen. (2.5.16) Die Hinweise aus den beiden ersten Büchern zum Curriculum sollen den Blick auf die soziologische Dimension lenken, in der die Lektüre steht. Die Vermittlung der Lese- und Schreibkompetenz geht Hand in Hand mit der Aufnahme der jungen Menschen in die Welt der Erwachsenen; das scheint mir überall dort besonders deutlich zu werden, wo die Lektüre diesseits des hermeneutischen Verständnisses von Makrostrukturen betrieben wird. 5. NACHLESE UND AUSKLANG: DIE KUNSTGESCHICHTE Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen. Die Geschichte dieser ehrwürdigen Disziplin beschreibt in den letzten 150 Jahren 88 Vgl. dazu Bourdieu 1982, 277–286, bes. 284 „Der Geschmack bildet mithin den praktischen Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen, der kontinuierlichen Verteilung in diskontinuierliche Gegensätze: durch ihn geraten die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen. Er verwandelt objektiv klassifizierte Praxisformen, worin eine soziale Lage sich (über seine Vermittlung) selbst Bedeutung gibt, in klassifizierende, d. h. in einen symbolischen Ausdruck der Klassenstellung dadurch, dass er sie in ihren wechselseitigen Beziehungen und unter sozialen Klassifikationsschemata sieht.“
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Thomas Schirren unverkennbar den Weg eines stetigen Niedergangs. Ihre Gipfelleistungen gehören allesamt in das 19. Jahrhundert. Die Geschichte einer Nationalliteratur zu schreiben, galt […] als das krönende Lebenswerk des Philologen. Die Patriarchen der Disziplin sahen ihr höchstes Ziel darin, an der Geschichte der Dichtwerke die Idee der nationalen Individualität auf ihrem Wege zu sich selbst darzustellen. Dieser Höhenweg ist heute schon eine ferne Erinnerung. Die überkommene Form der Literaturgeschichte fristet im geistigen Leben unserer Gegenwart nur mehr ein kümmerliches Dasein. Sie hat sich in einer abbaureifen Examensforderung der staatlichen Prüfungsordnung erhalten. Als Pflichtpensum des Gymnasialunterrichts ist sie in Deutschland schon fast aufgegeben. Sonst sind Literaturgeschichten allenfalls noch in Bücherschränken des Bildungsbürgertums zu finden, das sie in Ermangelung eines besser geeigneten Wörterbuchs der Literatur vornehmlich aufschlägt, um literarische Quizfragen zu lösen.89
So Jauß in seiner berühmten „Literaturgeschichte als Provokation“. Diese Einschätzung macht das Interesse deutlich, das man an das Lesetraining des Rhetors herantrug, und, als spärlich kommentierte Liste betrachtet, kommt diese auch kaum über ein Who is Who der griechisch-römischen Literaturgeschichte hinaus. Das Jahr 2000 war, was diesen Abschnitt in der Institutio anging, besonders ertragreich, da unabhängig voneinander mehrere Arbeiten erschienen, die sich dieser Literaturliste widmeten. Ax hatte 1990/2000 die fachdidaktische Einschränkung im Blickwinkel auf die römische Historiographie bedauert, Schwindt spürt 2000 in seinen „Prolegomena“ einer Phänomenologie der römischen Literaturgeschichtsschreibung nach, Sabine Grebe beobachtet die Literarkritik bei Quintilian. Schwindt kommt zu dem Schluss, dass „die Reihung der Namen und Urteile […] einigermaßen willkürlich“ erscheine (Schwindt 2000, 163) und es daher ausgeschlossen sei, „dass Quintilians Übersicht irgend Anspruch auf literaturhistorische Geltung jenseits des ihr gesteckten rhetorikdidaktischen Rahmens machen könnte“ (ebd.).90 Vielmehr gehe es um den Kanon, der die „rhetorische und literaturpädagogische Macht“ sei, an der sich „junge Redner und Autoren bewähren müssen“, es gehe daher um „Anverwandlung des Fremdkanonischen an die unverwechselbaren Konditionen der eigenen Persönlichkeit. Die Kritik aber entscheidet, ob das Neue als kanonisch gelten kann und dem Alten als ebenbürtig zur Seite treten darf“ (Schwindt 2000, 168). Grebe (2000) resümiert, Quintilians Literaturkritik orientiere sich an der Frage, welchen Nutzen die Schriftwerke für den angehenden Redner hätten (Grebe 2000, 320). Quintilian verfolge rhetorischpädagogische Zwecke. Zwar behandle Quintilian die unterschiedlichsten Gattungen, äußere sich zu Inhalt, Sprache und Stil und vergleiche des Öfteren Autoren miteinander, doch fehlten typische Kennzeichen einer Literaturgeschichte wie biographische Daten, Werktitel und Anzahl der Bücher, wie dies Cicero im Brutus für die Rhetorik und in De or. 2.51–58 für die Geschichtsschreibung vornähme. Quintilian durchbreche mehrfach die Chronologie. Daher sei das Kapitel keine
89 Jauß 1970, 144. 90 Doch wenn er ebd., 164 feststellt, dass die natürliche Rhetorizität eines Autors nicht das Hauptkriterium für seine Berücksichtigung und Einstufung sei, so übersieht er das Lob Homers.
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Literaturgeschichte, sondern eine Zusammenstellung und Auswertung der für die Rednerausbildung relevanten Autoren. Die Parallelen, auf die Grebe verweist, sind vielleicht nicht belastbar genug, um in der antiken Literatur überhaupt eine Literaturgeschichte aufzuspüren.91 Schwindt hält zwar einerseits an einer römischen Literarhistorie fest, doch zeigt er auch, dass moderne Überblickswerke, die einen Epochenbegriff zur Struktur erheben, keine antiken Entsprechungen haben; stattdessen werde die Richtschnur des quid ad nos gespannt, und zwar nicht nur von Quintilian, sondern ebenso von der egozentrischen Teleologie Ciceros und der politischen Literatenbiographie Nepos’ (Schwindt 2000, 217). Dieses „quid“ führt Quintilian eigentlich ganz gut aus, denn es geht ja um die Wesensfrage der Einverleibung. Die Wechselwirkung von Kanonizität eines Autors und dem Bildungsanspruch des Redners, dessen Autorität ganz wesentlich von einem Kanon, den er beherrscht, abhängt, war ein Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse. In der römisch-pragmatischen Frage quid ad nos, die heute die alles vereinnahmende Frage der Fachdidaktiker sein muss, ist aber doch wohl auch ein winziger Anteil von jener literarischen Kommunikation spürbar, die Jauß als provokatives Moment herausstellen wollte: Indem sie nämlich produktiv verfährt und das Alte auf seine Verwertbarkeit im Jetzt hin befragt. Dass jedoch die Entwicklungsgeschichte einem Autor wie Quintilian nicht fremd war, zeigt 12.10.1–9. Dort nämlich skizziert Quintilian eine antike Kunstgeschichte und zwar, indem er die Malerei von Aglaophon bis Apelles als eine Entwicklungsgeschichte erzählt. Hierin folgt er letztlich, vermittelt durch Zwischenquellen wie dem älteren Plinius, Xenokrates von Athen, der seinerseits auf das Modell des Aristoteles zurückgreifen konnte.92 Leitfaden dieser Ausführungen ist stets die ars, die unbeirrbar aus rohen Anfängen zu großer Virtuosität fortschreitet. Quintilian parallelisiert nun die individuellen genera dicendi mit diesen kunstgeschichtlichen Phänomenen: „Wenn man bei der Rede wahrlich die Formen in den Blick nehmen wollte, würdest du beinahe so viele Anlagen (ingenia) wie körperliche Erscheinungsformen finden. Aber es gab gewisse Ausdrucksformen, die durch die Zeitumstände ziemlich unkultiviert wirkten (horridiora), aber andererseits wiederum von einer schon großen Macht des ingeniums zeugten. Das sind die Laelii, Africani, Catones, die du die Polygnote, oder Callones nennen magst …“ (12.10.10) Also mag man sich fragen, warum Quintilian in 10.1 dann diese generischen Fächer aufmacht, in denen die Autoren vorgestellt werden. Vielleicht ist es die römische Freude am Ordnen und Sichten, die ihn hindert, wirklich nur lektürerelevante Autoren zu präsentieren.93 91 Vgl. jedoch die Überlegungen von Steinmetz 1964, der eine listenhafte Literaturgeschichte als Produkt des Hellenismus vermutet. 92 Dazu die Studien von Koch 2000 und Koch 2013. 93 Dazu siehe die Studie von Steinmetz 1964, bes. 458–460 Gattungen und Epochen, der mit guten Belegen aus Quintilian zeigen kann, dass wichtige Strukturen der Darstellung Quintilians aus den Listen der Grammatiker im 2. Jh. stammen müssen (Quint. Inst. 10.1.53; 54; 61; vgl. Steinmetz 1964, 455 Anm. 4.)
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Ein anderes Moment wäre das der ‚absoluten Kritik‘, die Friedrich Schlegel konstatiert hatte: Einerseits wird von Quintilian alles auf Verwertbarkeit geprüft und geschieden, andererseits stellt er Homer als einen gottgleichen Archegeten extra ordinem. Das hängt mit einem apriorischen Problem zusammen: Ohne taxonomische Einordung keine Möglichkeit der Orientierung, Orientierung aber ist nötig, um wiederum die Stilistik in ein taxonomisches Raster zu bringen. Wie aber erhält der Pol seine Geltung? Diese ist a priori nur durch eine Archegetenstellung zu begründen, aus der sich dann alles weitere qua Prinzipiiertes ergibt: Genealogie als Argument ist eine Denkform, der sich Schlegel in seinen Aufzeichnungen bedient, und es ist verlockend, diese hier hermeneutisch fruchtbar zu machen.94 Schlegel versucht am Leitfaden des Genealogiebegriffes eine Systematizität in der (scheinbaren) Kontingenz der Literaturgeschichte aufzuzeigen. Diese Sichtweise scheint aber das diachrone Modell der Abfolge vorauszusetzen, die auch in den Listungen Quintilians deutlich wird. Was auch Quintilian letztlich anstreben müsste, um dem ‚fachdidaktischen‘ Impuls seiner Darstellung gerecht zu werden, wäre eine Systematisierung der diachron entfalteten Eigentümlichkeiten (vitia, virtutes) zu einem Regelwerk der gelungenen rhetorischen Lexis. So unterschiedlich Quintilian und der junge Friedrich Schlegel sein mögen, in ihrem Umgang mit den Daten der Literaturgeschichte treffen sie sich als Produzenten, denn auch Friedrich Schlegel denkt an eine neue Poesie, die durch das System ermöglicht werden soll. BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben / Kommentare Ax 2011, W., Quintilians Grammatik (Institutio oratoria 1,4–8): Text, Übersetzung und Kommentar, Texte und Kommentare 37, Berlin. Callipo 2011, M., Dionisio Trace e la tradizione grammaticale, testo greco con traduzione italiana a fronte, introduzione e commento a cura di M. Callipo, Bonanno. Cousin 1975–1980, J., Quintilien: Institution oratoire: I–XII, Paris. Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von H. Diels, Berlin 1903, mit Wortindex v. W. Kranz, 6. Aufl., hg. v. W. Kranz in 3 Bänden, Berlin 1951–1952. Dionysius Halicarnaseus, Opuscula: I–II, ed. H.Usener, L. Radermacher, [1899] ND Stuttgart 1965 Ernesti 1797, J. C. G., Lexicon technologiae Latinorum rhetoricae, Leipzig. FGP: Friedrich Schlegel, Fragmente zur Gesichte der griechischen Poesie (MS: Angabe nach MSSeite und Zeile), erscheint in KFSA 15.3, hg. von Armin Erlinghagen und Thomas Schirren. Helm 1984, Die Chronik des Hieronymus – Hieronymi Chronicon; 3. unver. Aufl. mit einer Vorbemerkung von Ursula Treu, Berlin. Hillgruber 1994/1999, M., Die pseudoplutarchische Schrift de Homero: I–II, Stuttgart. van den Hout 1988, M. P. J., M. Cornelii Frontonis Epistulae: Schedis tam ed. quam ined. Edmundi Hauleri usus iterum editum, Leipzig 1988.
94 Siehe oben Seite 147ff., dazu Schirren 2010, 193–202.
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ETYMOLOGIE BEIM WEIN. PHILOLOGIE IN DER GRUPPENIDENTITÄTSBILDUNG DER QUAESTIONES CONVIVALES VON PLUTARCH Anna Ginestí Rosell 1. EINLEITUNG In den Quaestiones Convivales lässt Plutarch die Mitglieder seines Kreises in gepflegter Unterhaltung beim Symposion auftreten. Das Werk wurde ca. 110 n. Chr. geschrieben, mehr oder weniger gleichzeitig mit den Parallelviten.1 Hier werden Gespräche nacherzählt – so der Erzähler Plutarch –, denen er selbst im Laufe seines Lebens beigewohnt habe; er selbst war ca. 60 Jahre alt, als er das Werk schrieb. Die Historizität solcher Gespräche sollte man nicht zu wörtlich nehmen; es wird deutlich, dass Plutarch durch die Inszenierung von Bildung als einem dynamischen Prozess, der im Kollektiv stattfindet, ein bestimmtes Bild der hellenischen Elite seiner Zeit zeichnen und vermitteln will.2 Neben der identitätsbildenden Funktion erfüllt das Werk zudem eine propädeutische Funktion beim intendierten Leser, der mit der Lektüre der vermittelten Regeln und der präsentierten Beispiele an die ideale Art der Konversation beim Symposion herangeführt und somit in den Kreis der πεπαιδευµένοι sozialisiert werden soll.3 Die dargestellte harmonische Atmosphäre in den Quaestiones Convivales und die immer wieder als zentrales Element befürwortete Gemeinschaft (κοινωνία)4 soll nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Konversationen auch von gruppeninterner Konkurrenz gekennzeichnet sind.5 Solche Konversationen sind ein geeigneter Ort, 1 2
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Zur Datierung der Werke von Plutarch siehe Jones 1966; spezifisch für die Quaestiones Convivales siehe Fuhrmann 1972, XXV–XXVI. Zur Rolle der Bildung als zentralem Element der Identität der Elite in der Kaiserzeit siehe die grundlegenden Arbeiten von T. Schmitz (1997) und T. Whitmarsh (2001). Wie wichtig die Beherrschung der sozialen Kompetenzen im Rahmen des plutarchischen Symposion ist, zeigt Egelhaaf-Gaiser 2013. Eine gute Zusammenfassung der aktuellen Forschung über die Quaestiones Convivales findet sich in Klotz/Oikonomopoulou 2011. Zur propädeutischen Funktion des Werkes siehe z. B. König 2007 sowie Frazier / Sirinelli 1996, 177–207. Wie z. B. im siebten Prolog (697C: ὡς τοῦ δείπνου κοινωνίαν καὶ φιλοφροσύνην ἐφηδύνουσαν ἀεὶ ποθοῦντος) oder in der Frage I 1 (614E: δεῖ γὰρ ὡς τὸν οἶνον κοινὸν εἶναι καὶ τὸν λόγον, οὗ πάντες µεθέξουσι) explizit gemacht. Die κοινωνία ist aber ein immer wiederkehrendes Konzept im gesamten Werk (Frazier / Sirinelli 1996, 179). Egelhaaf-Gaiser 2013. Zum Symposion als Ort der Konkurrenz zur persönlichen Profilierung innerhalb der Oberschicht der zweiten Sophistik siehe Schmitz 1997, 127–133.
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um durch die Zurschaustellung der eigenen Bildung und der eigenen intellektuellen Fähigkeiten die Hierarchie in der Gruppe zu definieren und immer neu zu verhandeln.6 Denn in den Dialogen geht es nicht darum, eine richtige Antwort auf eine Frage zu finden, sondern vielmehr darum, die eigenen Fähigkeiten stetig zu trainieren.7 Beiträge, die über die gängigen Argumente hinausgehen und einen neuen Weg einschlagen sowie außergewöhnliche Quellen werden von den Teilnehmern besonders anerkannt8 und zeigen, dass eine Profilierung innerhalb der Gruppe intendiert ist. In diesem Beitrag soll am Beispiel einer Frage aus dem achten Buch gezeigt werden, wie spezielles philologisches Wissen zu dieser Profilierung beitragen kann. In den Quaestiones Convivales werden Fragen zu zahlreichen Themen behandelt: Philosophie, Medizin, Physik, antiquarisches Wissen und natürlich auch die Philologie.9 Zudem stehen oft die richtige Organisation oder das richtige Benehmen im Symposion im Zentrum der Erläuterungen. Die Kombination dieser programmatischen Passagen mit deren Umsetzung in den inszenierten Gesprächen vermittelt dem Leser sowohl einen Normenraum für das Symposion wie auch zahlreiche Beispiele, um die eigene Reflexion voranzutreiben.10
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Gerade die Form der Symposionliteratur sei laut Egelhaaf-Gaiser besonders geeignet, um das „Spannungsverhältnis von Agonalität und Konsens immer wieder neu auszuhandeln“ (2013, 296). 7 So wird ein kritischer Beitrag von Ammonios mit diesen Worten kommentiert (III 1, 646A): ἐγὼ δ᾽εἰδὼς ὅτι γυµνασίας ἕνεκα καὶ ζητήσεως καταβέβληκεν ἐν µέσῳ τὸν λόγον ὁ Ἀµµώνιος (...) „Da ich wusste, dass Ammonios diesen Beitrag zwecks der Übung und der Untersuchung in die Runde geworfen hatte (...)“. Noch deutlicher wird dies in einer Anekdote über Demokritos, die als Beispiel für alle Gebildeten dienen soll: Als Demokritos dem Grund für den süßlichen Geschmack einer Gurke nachgehen wollte und sich deswegen in den Gemüsegarten begab, erzählte ihm seine Dienerin, sie habe einfach aus Versehen die Gurke in einen Behälter hineingegeben, wo vorher Honig aufbewahrt worden war. Demokritos kontert aber, diese Mitteilung werde ihn in der Suche nach einem natürlichen Grund für die Süße nicht hindern (Q.C. I, 10, 628CD). Dass die Dialoge Plutarchs den Fokus auf die Aktivierung und Variierung von Wissensbeständen legen, argumentiert auch T. Thum (2013, 35–36). 8 König 2007, 57–59, mit der erwähnten Passage III 7 (656B): Σφόδρ᾽οὖν ἀπεδεξάµεθα τὴν εὑρησιλογίαν τῶν νεανίσκων, ὅτι τοῖς ἐµποδὼν οὐκ ἐπιπεσόντες ἰδίων ηὐπόρησαν ἐπιχειρηµάτων, „Wir lobten die Findigkeit der Jungen, denn sie hatten nicht auf gängige Argumente zurückgegriffen, sondern es war ihnen gelungen, eigene zu entwickeln“. Auch Plutarch zeigt seinen Stolz, als er ein ungeläufiges Zitat einbringen kann: V 2 (675AB): ἐπιτυχῶς ἀναµνησθεὶς ἀπέφαινον Ἀκέσανδρον ἐν τῷ περὶ Λιβύης ταῦθ᾽ ἱστοροῦντα. ‘καὶ τοῦτο µέν’ ἔφην ‘τὸ ἀνάγνωσµα τῶν οὐκ ἐν µέσῳ ἐστί, (...) „da erinnerte ich mich zum Glück daran und sagte, es sei von Akesandros in seinem Werk über Libyen tradiert. ‚Dies freilich‘, sagte ich, ‚ist keine gängige Lektüre (...)‘“. Zu dieser Passage siehe Egelhaaf-Gaiser 2013, 309–313. 9 Auf 9 Bücher werden 95 Gespräche verteilt, die mit einer Überschrift meistens in Form einer Frage versehen werden. Zur Nähe der Q.C. zur Problemliteratur siehe Harrison 2000. Zur Frage nach der Einheit des Werkes siehe König 2007. 10 König 2007 sieht in der Rolle des Lesers die Antwort auf die Frage nach der Einheit des Werkes.
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Auf der programmatischen Ebene wird die Philosophie explizit als notwendiges Wissen für den gebildeten Mann auch im Symposion empfohlen,11 jegliche Art von speziellem Wissen solle aber in der Wahl der Themen vermieden werden, denn es bestehe die Gefahr, dass sie nicht im richtigen Maß eingesetzt werde und dadurch die Harmonie des Symposions gestört werde.12 Diese Warnung betrifft auch die Philologie: Sie ist in den Gesprächen als Thema stets präsent in Form von homerischer Exegese, Erklärung seltener Wörter oder Etymologien. Mit dieser wiederholten Präsentation von philologischen Ansätzen zeigt sie sich als gemeinsames Wissen im Kreis der Gebildeten. Aber es muss dabei auch das richtige Maß beachtet werden. So werden in der Frage VII 8, welche die geeignete musische Unterhaltung beim Wein behandelt, die Komödien von Aristophanes wie die von allen anderen Autoren der Alten Komödie wegen zu hohen speziellen Wissens verworfen, denn um ein vollkommenes Verständnis zu erreichen, benötige jeder Gast einen γραµµατικός an der Seite, sodass aus einem Symposion eine Schule (γραµµατοδιδασκαλεῖον) zu werden drohe.13 Ohne diese Hilfe drohten die Pointen der Komödien bei den meisten Teilnehmern verloren zu gehen, was gegen die Idee einer gemeinsamen Unterhaltung ginge. Bemerkenswert ist in dieser Aussage, dass sie impliziert, der Sprecher Diogenianos könne doch selber solche Anspielungen aufschlüsseln, denn er kennt ja die Figuren mit Namen und verweist auf die entsprechenden Autoren. Da es sich aber um spezielles und nicht allgemeines Wissen handelt, kann es nicht vorausgesetzt werden. Was die Etymologie konkret betrifft, wird sie in den Quaestiones Convivales immer wieder als Unterstützung eines gewissen Arguments benutzt14 und textkri11 Siehe gleich die erste Frage: Εἰ δεῖ φιλοσοφεῖν παρὰ πότον. 12 Die Rolle der Philosophie im Symposion wird gleich in der ersten Frage behandelt. Sie sei unverzichtbar im Symposion, solle aber so eingesetzt werden, dass alle daran teilhaben können. Dies meint die Vermeidung von speziellem Wissen in der zentralen Auslegung der Frage. (Q.C. I 1.5 614e–615A) δεῖ γὰρ ὡς τὸν οἶνον κοινὸν εἶναι καὶ τὸν λόγον, οὗ πάντες µεθέξουσιν. οἱ δὲ τοιαῦτα προβλήµατα καθιέντες οὐδὲν ἂν τῆς Αἰσωπείου γεράνου καὶ ἀλώπεκος ἐπιεικέστεροι πρὸς κοινωνίαν φανεῖεν. (...) οὕτω τοίνυν, ὅταν οἱ φιλόσοφοι παρὰ πότον εἰς λεπτὰ καὶ διαλεκτικὰ προβλήµατα καταδύντες ἐνοχλῶσι τοῖς πολλοῖς ἕπεσθαι µὴ δυναµένοις. „Denn wie der Wein, so muss auch die Unterhaltung etwas Gemeinsames sein, an dem alle teilhaben. Diejenigen aber, welche Fragen dieser Art (sc. schwerverständlich) aufwerfen, taugen ebenso wenig zur Tischgenossenschaft wie der Kranich und der Fuchs in der Fabel des Äsop. (...) Ebenso ist es, wenn die Philosophen sich beim Wein in kleinliche und dialektische Fragen vertiefen, und so der Mehrzahl der Gäste, die ihnen nicht folgen kann, zur Last fallen.“ Dass Gäste aber mit dem Abrufen punktuellen speziellen Wissens punkten können, zeigen die in der Fußnote 8 zitierten Passagen. 13 VII 8 (712A): (...) δεήσει γραµµατικὸν ἑκάστῳ τὸ καθ᾽ἕκαστον ἐξηγεῖσθαι, τίς ὁ Λαισποδίας παρ᾽ Εὐπόλιδι καὶ ὁ Κινησίας παρὰ Πλάτωνι καὶ ὁ Λάµπων παρὰ Κρατίνῳ, καὶ τῶν κοµῳδουµένων ἕκαστος, ὥστε γραµµατοδιδασκαλεῖον ἡµῖν γενέσθαι τὸ συµπόσιον ἢ κωφὰ καὶ ἄσηµα τὰ σκώµµατα διαφέρεσθαι. „Jeder bräuchte einen grammatikos an der Seite, um ihm zu erklären, wer Laispodias bei Eupolis oder Kinesias bei Platon oder Lampon bei Kratinos und jeder der Verspotteten sei, sodass unser Symposion sich zum Unterrichtsraum verwandeln würde, sonst würde jeder Spott ohne Pointe und ohne Sinn vorbeigehen.“ 14 Siehe II 4: Εἰ πρεσβύτατον ἡ πάλη τῶν ἀγωνισµάτων. Die Etymologie soll helfen, die Frage nach der ältesten Sportart zu beantworten: (638c) Τὸν οὖν τόπον, ἐν ᾧ γυµνάζονται πάντες οἱ
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tisch oder lexikographisch, aber selten im normativen Sinn betrieben. Dem entspricht die Beobachtung, die wir über die Präsenz der antiken Etymologie in den Scholien auch machen.15 Durch diese Einbindung der Etymologie in den Fluss des Gesprächs kann Plutarch das gefürchtete Bild eines γραµµατοδιδασκαλεῖον vermeiden und gleichzeitig die Beherrschung der einfachen Methoden der Etymologie bei den Teilnehmern belegen. Nimmt die Etymologie die zentrale Stellung in der Frage ein, wird diese organisch aus der Entwicklung des Gesprächs inszeniert, sodass Schritt für Schritt vom allgemeinen zum speziellen Wissen geführt wird. Die Beherrschung dieses speziellen Wissens ermöglicht dann auch eine Profilierung der Gesprächsgruppe und der einzelnen Teilnehmer innerhalb der allgemeinen Identifikationsgruppe der πεπαιδευµένοι. Dies möchte ich am Beispiel der Frage 6 aus dem achten Buch darlegen. 2. Q.C. VIII 6 UND DIE ANTIKE ETYMOLOGIE 2.1. Überschrift Die Überschrift wird von einer doppelten Formulierung gebildet, was für die wenigsten der Überschriften in der Quaestiones Convivales zutrifft: Περὶ τῶν ὀψὲ παραγινοµένων ἐπὶ τὸ δεῖπνον. ἐν ᾧ καὶ πόθεν ἀκράτισµα καὶ ἄριστον καὶ δεῖπνον ὠνοµάσθη, „Über die verspäteten Gäste beim Mahl. Und auch über die Herkunft der Wörter ἀκράτισµα, ἄριστον und δεῖπνον“. Im ersten Teil der Frage werden als Hauptthema die spät ankommenden Gäste genannt. Dies ist ein Thema, das situativ gut zum Kontext eines Symposions passt und auch gattungsgeschichtlich eine sehr lange Tradition hat.16 Die Erwartungen des Lesers werden aber schnell enttäuscht, denn das Thema wird im Laufe der Konversation nur flüchtig behandelt. Mehr Gewicht wird auf die im zweiten Teil der Überschrift angekündigte etymologische Untersuchung gelegt, deren unmittelbare Verbindung mit der ersten Frage durch ἐν ᾧ verdeutlich wird. Bereits die Überschrift signalisiert, dass die zu berichtende etymologische Untersuchung aus einem typischen symposiastischen Thema erfolgte.17 ἀθληταί, παλαίστραν καλοῦσιν, τῆς πάλης τοὔνοµα κτησαµένην τὸ πρῶτον, εἶτα καὶ τοῖς αὖθις ἐφευρεθεῖσιν ἐµπαρασχοῦσαν. „Und so wird der Ort, wo alle Athleten trainieren, Palästra genannt, weil sie den Namen am Anfang aus dem Kampf (πάλη) genommen hatte. Danach wurde sie für die gleich später entwickelten Disziplinen erweitert.“ 15 Dies trifft auch z. B. für Aristophanes von Byzanz zu (Ax 1991, 280). 16 Siehe dazu die Analyse der Figur des späten Gastes bei Martin (1931, 92–97). 17 Ich gehe davon aus, dass die Überschriften von Plutarch selbst stammen, auch wenn dies nicht von allen gleich gesehen wird (F. Fuhrmann in seiner Edition von 1972 schreibt in der Einleitung ohne weitere Argumentation (XXXIV): „j’ai conservé dans mon édition les titres qui dans les manuscrits précèdent les Questions et constituent les indices de chaque livre, bien qu'ils ne soient manifestement pas de Plutarque.“. Denn diese Art der Einführung durch eine Frage ist in der ζητήµατα- und προβλήµατα-Literatur der Zeit gut belegt, siehe die Q.G., Q.R. und Q.N. Für die Verbindung der Q.C. mit der Tradition der Problemliteratur siehe Oikonomopoulou 2011.
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Der mit der homerischen Exegese vertraute Leser erkennt hier die Variation eines bekannten Themas. Denn die Frage nach der Zahl und den Bedeutungen der Mahlzeiten bei Homer ist in den Scholien gut belegt. Lediglich lauten die Begriffe bei Homer, die in der Regel im Zentrum der Diskussion stehen, ἄριστον, δεῖπνον und δόρπον.18 Plutarch scheint hier eine Aktualisierung auf die zeitgenössischen Begriffe anzubieten: δόρπον, ein ausschließlich poetisches Wort, wird weggelassen, dafür tritt ἀκράτισµα vor, ein erst in der klassischen Zeit belegtes und in der Kaiserzeit mehr oder weniger häufig benutztes Wort.19 2.2. Einleitung (725F–726A) Das hier dargestellte Symposion fand wohl in Chaironeia, vermutlich im Hause Plutarchs, mit Freunden und Verwandten statt.20 Dass es sich hier um einen engen Kreis um Plutarch handelt, ist womöglich von Bedeutung bei der Frage, welche Funktion Etymologien in der Inszenierung von Bildung in den Q.C. übernehmen, denn der Bezug auf einen kleinen Kreis von auserwählten Teilnehmern in diesem Gespräch erlaubt eine Differenzierung des Kreises Plutarchs von der allgemeinen Gruppe der πεπαιδευµένοι.21 Das angekündigte Thema, nämlich die spät ankommenden Gäste, bildet den Kontext, in dem die etymologischen Fragen entstehen werden. Die Situation ist Folgende: Einige der jungen Gäste, die jüngsten Kinder Plutarchs, kommen verspätet zum Mahl, weil sie im Theater aufgehalten wurden, und werden von anderen jungen Gästen, den Kindern Theons, verspottet, indem sie als κωλυσιδείπνους „Mahlverhinderer“ und ζοφοδορπίδας „Düsterspeiser“ bezeichnet werden. Die Beleidigten kontern mit τρεχεδείπνους „Zum-Mahl-Renner“. Diese drei Komposita sind in der griechischen Literatur selten belegt, sodass zu vermuten ist, dass Plutarch und sein Leser sie nicht aus literarischen Lektüren, sondern aus Lexika kennen. Denn fast alle anderen erhaltenen Belege für diese Wörter finden sich im philologischen Kontext. Κωλυσίδειπνος wird laut Athenaios von Apollodor in seinen Etymologien erklärt als eine Bezeichnung für eine wahrscheinlich besonders gut schmeckende Schnecke.22 Ζοφοδορπίδας, wie später gesagt wird, findet sich in einem nicht überlieferten Gedicht von Alkaios, wie neben Plutarch hier auch Diogenes Laertius (1.81) belegt. Das entsprechende 18 Rundin 1996, 185 und Schmidt 1976, 191–196. Die drei Mahlzeiten ἄριστα, δεῖπνα, δόρπα werden auch bei Schol Il. II 381a mit Bezug auf Aischylos zitiert. 19 Siehe LSJ, s.v. 20 Nicht immer gibt es bei den Q.C. Verweise auf den Kontext des Gesprächs, oft startet die Diskussion einfach in medias res (z. B. im ersten Buch liefern 1.6 bis 1.8 gar keine Informationen zum Kontext, 1.1, 1.5, 1.9 nennen nur den Ort des Symposions, lediglich 1.2 bis 1.4 und 1.10 beschreiben etwas umfangreicher die Situation im Symposion). 21 Schmitz beschreibt das Symposion als einen Ort der internen Konkurrenz der Elite (1996, 127–133). 22 Ath. 2.63: Ἀπολλόδωρος δὲ ἐν β ἐτυµολογιῶν τῶν κοχλιῶν φησί τινας καλεῖσθαι κωλυσιδείπνους.
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Substantiv findet sich in den Lexika von Hesychios23 und Zonaras24 und im Traktat von Theognostos.25 Τρεχέδειπνος scheint der häufigste Begriff von allen dreien zu sein und wird von Athenaios26 bei einem Zitat eines Fragments des Komödiendichters Alexis als Bezeichnung für Parasiten wiedergegeben. In dieser Bedeutung ist es dann ebenso bei Juvenal27 und Alkyphron28 belegt. So zeigt die Anfangssituation eine agonale, aber freundliche Atmosphäre im intellektuellen Kreis der πεπαιδευµένοι: Junge Leute verspotten sich mit seltenen poetischen Wörtern und konkurrieren darum, den eigenen Bildungsstatus durch eine besondere Beherrschung der Sprache, die nicht aus Kenntnis der Literatur, sondern der lexikographischen Werke stammt, zu demonstrieren. Aber sie machen leider einiges falsch; die älteren Teilnehmer und die Etymologie sollen ihnen dabei helfen, zur richtigen Bedeutung zu kommen. 2.3. Erste Ebene der Etymologien – Transparente Komposita (726AB) Diese lexikographisch agonale Situation der Jungen wird durch einen der älteren Gesprächsteilnehmer korrigiert, was der Auslöser für die Beschäftigung mit Etymologien ist. Interessanterweise bleibt dieser Sprecher anonym, denn das Wichtigste hier ist, seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Älteren zu vermitteln und ihn damit als erfahrenen Symposiasten zu kennzeichnen. Dabei zeigt sich wieder die propädeutische Absicht in den Q.C., denn die Jungen nehmen neben den Älteren aktiv an den Symposien teil, sollen aber durch Ämulation der Älteren oder Korrektureingriffe wie hier das richtige Benehmen noch lernen.29 Die etymologische Untersuchung beginnt mit der einfachen Stufe: die Erklärung von transparenten Komposita, d. h. zusammengesetzten Wörtern, deren Einzelteile einfach zu bestimmen sind. Es geht darum, die Bedeutung des Konstrukts zu eruieren und die richtige Anwendung zu erklären. Denn die Söhne Plutarchs hatten τρεχεδείπνους falsch für diejenigen angewendet, die es nicht erwarten können, zum Mahl zu gehen und deswegen verfrüht erscheinen, es soll aber das Gegenteil bezeichnen, nämlich diejenigen, die zu spät kommen und deswegen rennen müssen. Durch eine Anekdote (χρεία) inklusive etymologischer Erklärung wird dann eine weitere mögliche Bezeichnung für solche spät ankommenden Gäste ins Spiel gebracht: ἐπιθυµοδείπνους, ein Wort, das nur hier belegt ist. Das Kompositum wird durch ein Synonym erklärt: φιλόδειπνον, wobei das Äquivalent der beiden ersten Teile (φιλο-, ἐπιθυµο-) die Bedeutung zweifellos klären soll. Dies ist 23 Hesych. s.v. ζοφοδορπίας. σκοτόδειπνος, λαθροφάγος, („Mahl im Dunkel, Essen im Verborgenen“). 24 Zonaras s.v. ζοφοδορπίας. ὁ σκοτεινὸς δεῖπνος („ein Mahl im Dunkel“). 25 Can. 20 ζοφοδορπίας, λαθροφάγος. 26 Ath. 6.242c: ἐν δὲ τῷ Παγκρατιαστῇ Ἄλεξις τρεχεδείπνους καταλέγων φήσιν (…) (Alexis PCG 173). Siehe dazu die Konstruktion ἕτεραι τρέχουσι ἐπὶ τὰ δεῖπνα bei Men. Sam. 393. 27 Juv. 3.67: rusticus ille tuus sumit trechedipna, Quirine, (…). 28 Alcphr. 3.4: Τρεχέδειπνος Λοπαδεκθάµβῳ. 29 Klotz 2011, 161–178.
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Etymologie in direkter Anwendung, denn es geht darum, die treffende Bezeichnung zu finden. Eine weitere Anekdote wird wohl zur Lockerung der Stimmung von Plutarch eingebracht worden sein, wobei sie nicht ganz unwichtig zu sein scheint, denn sie bildet die einzige Stelle, die die im Titel angekündigte Frage behandelt. In diesem ersten Teil ist zu sehen, wie beide Themen aus der Überschrift bereits verknüpft werden, denn um spät ankommende Gäste geht es nur insofern, als nach der richtigen Bezeichnung für sie gesucht wird. Die Frage richtet sich nicht direkt nach dem Umgang mit solchen Gästen, sondern sie wird als produktive lexikographische Frage behandelt. Dabei entsteht aus einer für diese Gäste möglichen unangenehmen Situation eine gemeinschaftsstiftende Diskussion, sehr im Sinne der angestrebten Harmonie30 im Symposion. 2.4. Übergang (726B) In einer Übergangsphase wird durch die erneute Korrektur in der Bedeutung eines der bereits erwähnten Komposita von einer einfachen und anwendungsorientierten zu einer komplexeren und kontextunabhängigen Etymologie geführt. In diesem Übergang erklärt Soklares das Kompositum ζοφοδορπίδας, das von den Jungen wieder falsch für spät ankommende Gäste angewendet wurde. Laut Soklares sei der erste Begriff ζόφος für „dunkel“ moralisch und nicht physikalisch zu verstehen. Als Beleg für diese moralische Interpretation von ζόφος liefert er eine Etymologie von ἀκράτισµα, die auch auf der Moral basiert und das Wort mit ἀκρασία „Maßlosigkeit“ in Verbindung bringt. Diese etymologische Erklärung ist nicht mehr so transparent wie die Erklärung von Komposita und wird sofort auf den Widerspruch eines Teilnehmers stoßen. Damit landet das Gespräch auf der zentralen Frage nach der Etymologie der Bezeichnungen für Mahlzeiten, ἀκράτισµα, ἄριστον und δεῖπνον. Diese werden nicht mehr anhand eines Kontexts behandelt, sondern etymologisch per se untersucht. Wichtig ist dieser Übergang, um zu zeigen, dass die Gesprächsteilnehmer die Regeln der Konversation im Symposion kennen und anwenden. Denn bereits in der ersten Frage des zweiten Buches wurde von Plutarch die Regel geäußert, Themen sollten nicht aus dem Nichts kommen, sondern sich organisch aus dem Gespräch entwickeln.31 Und genau nach dieser Regel wird die Beschäftigung mit Etymologien in dieser Frage von Plutarch inszeniert. Im Allgemeinen zeigt Plutarch, dass Wissensgewinn eine untergeordnete Rolle im Symposion spielt, während Gruppenbildung viel wichtiger ist;32 durch die Wahl von besonderen Themen habe ein Teilnehmer zudem die Möglichkeit, mit seinem speziellen Wis-
30 Siehe dazu die Beiträge bei Ribeiro/Leão/Tröster/Barata 2009 und insbesondere die Einleitung von C. Pelling. 31 630A–631C. 32 Siehe dazu insbesondere die Frage II 1 und den Prolog zum dritten Buch.
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sen zu glänzen und sich innerhalb der Gruppe zu profilieren, ohne dabei die Gemeinschaft zu gefährden. 2.5. Zweite Ebene der Etymologien – Komposition und Derivation bei Alltagswörtern (726C–D) In diesem zweiten Teil ist die angewendete etymologische Methode komplexer. So werden Wörter behandelt, die nicht mehr so transparent in der Form sind. Waren bei den ersten Komposita die Einzelteile sehr deutlich, liegt hier die Schwierigkeit genau darin, die Urelemente (στοιχεῖα) zu identifizieren, egal ob die Wörter als Folge einer Komposition oder einer Derivation entstanden sind.33 Zunächst wird eine alternative etymologische Erklärung von ἀκράτισµα von Theon wiedergegeben. War beim vorherigen Sprecher die Verbindung zu ἀκρασία behauptet worden, wird diesmal das Wort mit dem alten Brauch erklärt, in der Früh nur Brot mit ungemischtem Wein, ἄκρατον, zu sich zu nehmen. Gleichwohl wird weiter mit der gleichen Methode eine Erklärung für ὄψον wiedergegeben.34 Die anschließende Beschreibung Plutarchs über den Verlauf des Gesprächs, ἐκ τούτου καὶ τὸ δεῖπνον καὶ τὸ ἄριστον, ἀφ᾽ ὅτου λάβοι τοὔνοµα, ζήτησιν παρέσχε,35 zeigt erneut, wie sehr ihm daran gelegen ist, eine Verbindung zwischen den einzelnen Phasen des Gespräches zu ziehen. In den darauffolgenden Erklärungen spielt Homer eine zentrale Rolle. Durch ein Zitat aus der Odyssee werden die Wörter ἄριστον und ἀκράτισµα in ihrer Bedeutung gleichgesetzt;36 ein Zitat aus der Ilias begründet eine etymologische Erklärung für δεῖπνον. Es werden jeweils zwei Erklärungen angeboten; ἄριστον wird mit αὔρα „Morgenluft“ / αὔριον „Morgen“ oder ῥᾷστον „einfach“, δεῖπνον einerseits mit τῶν πόνων διαναπαύει „die Arbeiten beenden“,37 andererseits mit διαπεπονηµένον „aufwendig vorbereitet“, verknüpft. Einige interessante Beobachtungen sind in den vorgeschlagenen Etymologien hervorzuheben. 1. Der Bezug auf das frühere Leben (τὸν ἀρχαῖον βίον); die damaligen Männer (ἐκείνους) und Homer scheint eine gewisse diachrone Sprachbetrachtung erahnen zu lassen, auch wenn Homer natürlich immer als Autorität für alle Fragen
33 Ein Unterschied zwischen Derivation und Komposition wird in der antiken Etymologie nicht gemacht, siehe Herbermann 1991, 367–8. 34 Dieselbe etymologische Erklärung findet sich bei Athen. 11 C und Schol. Theocr. I 51. Zu ὄψον siehe auch Eust. Commentarii, 262.9–14 (Teodorsson 1989–1996, III, 220). 35 „Aus diesen Überlegungen heraus ging die Untersuchung weiter, woher die Bezeichnungen für δεῖπνον und ἄριστον kamen.“ 36 Eine Gleichsetzung, die auch bei Apollon. Lex. Hom. 44.9 und Athen. 1.19 zu finden ist. Ἄριστον kommt bei Homer aber sehr selten vor, in der Odyssee lediglich in dem hier zitierten Vers Od. 16.2: ἐντύνοντ᾽ ἄριστον ἃµ ἠοῖ φαινοµένῃφι (Teodorsson 1989–1996, III, 221). 37 Dieselbe Erklärung ist in Schol. Il. 2.381 (ἐστὶ κατὰ τὸ ἔτυµον δεῖπνον µεθ᾽ὃν δεῖ πονεῖν) zu lesen.
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in Betracht kommt.38 Denn um die Etymologie zu erklären, müsste man erst zur älteren Bedeutung gelangen. Dies erklärt, dass nur die homerische und nicht die zeitgenössische Bedeutung von ἄριστον in Betracht gezogen wird und dass homerische Belege die Hauptrolle dabei spielen.39 2. Wissen wird im Kollektiv erreicht. War die Anfangsdiskussion mit Soklaros und Theon noch personalisiert, so tritt in der späteren Diskussion ein neutrales ἐδόκει, das die Meinung des Kollektivs und nicht der einzelnen Personen wiedergibt, auf. 3. Mehrere Erklärungen werden nebeneinander ohne abschließende Bewertung gestellt, sodass die Frage in einer Aporie endet. Auch wenn die zwei Etymologien für ἀκράτισµα deutlich als gegensätzlich inszeniert werden, wird weder von der gesamten Gruppe noch von einer Autoritätsperson oder vom Autor die Gültigkeit der einen der anderen vorgezogen. Noch deutlicher ist dies bei den Alternativerklärungen für ἄριστον und δεῖπνον, denn die Varianten stehen unkommentiert nebeneinander. Damit zeigt sich, wie so oft in den Dialogen Plutarchs,40 dass es nicht um das Finden der richtigen Antwort, sondern um die Inszenierung der intellektuellen Fähigkeiten geht. 2.6. Dritte Ebene der Etymologien: Latein durch Griechisch erklären (726E–727A) Bis jetzt wurde die Unterhaltung über Etymologien ernsthaft geführt; damit es aber ein echtes symposiastisches Gespräch wird, fehlt noch der Spaß; denn Spaß und Ernst sind die beiden Eigenschaften, die zur Beschreibung der Gattung immer wieder herangezogen werden und für ein literarisches Symposion unverzichtbar sind.41 Für diese Aufgabe tritt Lamprias vor, der Bruder von Plutarch, der gleich bei seiner Vorstellung als „Spaßvogel“ präsentiert wird.42 Durch die zusätzliche 38 Zum Konzept der Sprachentwicklung bei Plutarch, siehe Van Der Stockt (1992, p. 59). Eine diachrone Sprachbetrachtung wird auch bereits bei Aristarch beobachtet (Nünlist 2012). 39 Anders bei Athenaios 11 E: καὶ ἄριστον µέν ἐστι τὸ ὑπὸ τὴν ἕω λαµβανόµενον, δεῖπνον δὲ τὸ µεσηµβρινόν, ὃ ἡµεῖς ἄριστον, δόρπον δὲ τὸ ἑσπερινόν. „Und Ariston ist die in der Früh genommene Mahlzeit, Deipnon mittags, was wir aber Ariston nennen, Dorpon abends“. 40 Besonders deutlich von Tobias Thum (2012) für De E apud Delphos gezeigt. 41 Siehe Martin 1931, 1–32 sowie den Anfang des xenophontischen Symposions (Xenoph. Symp. 1.1) und die Definition von Hermogenes (Meth. 36): Συµποσίου Σωκρατικοῦ πλοκὴ σπουδαῖα καὶ γελοῖα καὶ πρόσωπα καὶ πράγµατα „Ernstes und Lustiges, Charaktere und Szenen bilden die Mischung des sokratischen Symposions.“ Über die geeignete Mischung aus Spaß und Ernst wird oft in den Q.C. reflektiert, siehe z. B. 614A, 620D, 660A, 686D. 42 ὑβριστὴς δ᾽ ὢν καὶ φιλόγελως φύσει ὁ ἀδελφὸς ἡµῶν Λαµπρίας ἔφη µυρίῳ τὰ Ῥωµαϊκὰ δείξειν οἰκειότερα τῶν Ἑλληνικῶν ὀνόµατα, τοσαύτης ἀδείας τῷ φλυαρεῖν δεδοµένης. „Mein Bruder Lamprias, von Natur aus etwas großtuerisch und ein Spaßvogel, sagte, da die Hemmungen zum Schwätzen gefallen seien, dass die römischen Bezeichnungen tausendmal geeigneter als die griechischen seien.“ Die Bezeichnung Lamprias als ὑβριστής ist ein Verweis auf den Sokrates des platonischen Symposions; dort wird er einmal von Agathon (175E), einmal von Alkibiades (215b) als ὑβριστής in Bezug auf seine ironische Art der
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Bezeichnung der Situation als „Geschwätz“, φλυαρεῖν, gibt der Erzähler Plutarch dem Leser ein weiteres Signal, hier nicht auf ernsthafte Inhalte zu warten. Auch in anderen Gesprächen der Quaestiones Convivales ist Lamprias derjenige, der für gute Stimmung sorgt; er ist laut, unkonventionell, bricht gerne Erwartungen, gleichzeitig ist er in seiner Rede geistreich und voller Ironie.43 Zudem wird Lamprias im neunten Buch die Wortspiele Platons als Vorbild nennen.44 In diesem Fall hier wird Lamprias seinen Spaß auf die Theorien aufbauen, die die Herkunft des Lateinischen aus dem Griechischen erklären, und in seinem Beitrag eine Reihe von lateinischen Begriffen rund um das Essen aus dem Griechischen heraus erläutern. Die Theorien, das Lateinische hätte sich aus dem Griechischen entwickelt, sind besonders bei Grammatikern zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. bekannt; dabei wird das Latein als eine Entwicklung aus dem Äolischen erklärt.45 In zwei Viten wird diese Theorie auch von Plutarch angewendet; vermutet wird, dass Plutarch sie direkt oder indirekt von Varro oder einem der römischen Antiquare übernommen habe.46 Folgende Erklärungen für lateinische Wörter werden vorgetragen: cena prandium comissatum miscere mensa panis corona edere dentes labra
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< κοινωνία < ἔνδιον ἢ πρωινήν ἐδωδὴν ἢ πρὶν ἐνδεεῖς < κῶµον < κεράσαι (Hom. ἔµισγε) < ἐν µέσῳ < ἀνιέντα τὴν πεῖναν < κεφαλή / κράνος < ἔδειν < τοὺς ὀδόντας < λαµβάνειν τὴν βοράν
Unterhaltung bezeichnet. Damit wird eine Identifikation Lamprias mit dem ironisierenden Sokrates implizit gemacht. Siehe auch im Symposion 221e und Alc. I 114D. Für die Bedeutung ὑβριστἠς als „Spötter“ bei Platon siehe Ast 1836 s.v. Siehe z. B. seine Wortmeldungen in der Frage I 2 oder II 10 und Teodorsson 1989–1996, III, 223. Lamprias kann aber auch ernste anspruchsvolle Beiträge liefern, wie in den sogenannten pythischen Dialogen (Thum 2013). Als Kontrast zu dieser Szene siehe die Beschreibung des richtigen Humors in Q.C. I IV (622B): µὴ µώµου µηδ᾽ ὕβρεως, ἀλλὰ χάριτος καὶ φιλοφροσύνης ἑταῖρον, was signalisiert, dass Lamprias als ὑβριστὴς über die Grenzen gehen wird. Q.C. IX 5 (740B): πολλαχοῦ µὲν ἡµῖν τὸν Πλάτωνα προσπαίζειν διὰ τῶν ὀνοµάτων („Platon spielt oft mit uns durch seine Ausdrücke“). Diese Wortspiele sollen aber mit Vernunft betrieben werden: χρῆσθαι µάλιστα τῷ νῷ. Siehe dazu in der hier behandelten Frage die abschließende Mahnung des Lamprias, bei etymologischen Untersuchungen Vernunft einzusetzen (727A). Nesselrath 2013, 290–291. Göldi 1922, 26. Die Bezüge in den Viten finden sich in Romulus 15 bei der ätiologischen Erklärung eines Brauches und in Numa 7 als etymologische Erklärung von flamen.
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Auch wenn der Leser genug vorgewarnt wurde, den Beitrag von Lamprias nicht zu ernst zu nehmen, sind nicht alle vorgeschlagenen Etymologien ganz falsch, denn bei comissatum und miscere trifft die Erklärung mehr oder weniger sogar zu.47 Zudem scheint die erste etymologische Erklärung von cena aus ihrer Ähnlichkeit zum griechischen κοινός eine mehr oder weniger gängige Volksetymologie gewesen zu sein.48 Eine gute Performance von Lamprias ist auch die dreifache Erklärung in scholiastischer Manier von prandium. Die weiteren Etymologien sind allerdings recht abenteuerlich. Zu dieser Mischung von möglichen und einfach ausgedachten Etymologien passt das weitere Signal für den Leser gut dazu, die der Erzähler Plutarch in der implizierten Reaktion der Zuhörer einbaut, diese Erklärungen als nicht mehr als einen geistreichen Spaß aufzufassen. Denn bei der Mahnung des Lamprias, man solle dem Gesagten ohne Lachen zuhören,49 wird einem aufmerksamen Leser klar, dass die gesamte Gruppe auf Lamprias’ Ausführungen mit lautem Lachen reagiert haben muss. Der Leser soll sich als Teil dieser lachenden Gemeinschaft verstehen.50 Mit einer Mahnung, Etymologie nicht leichtsinnig zu betreiben, endet Lamprias’ Rede und gleichzeitig das inszenierte Gespräch. Der Beitrag von Lamprias zeigt genau die Art von Spaß, die im Symposion einen Platz haben soll: ein geistreicher Spaß, der die Aktivierung und Variierung der Wissensbestände zeigt.51 Lamprias zeigt dabei, dass er sowohl die Theorien der griechischen Herkunft des Lateinischen kennt als auch diese für seine etymologischen Pseudoerklärungen kreativ einsetzen kann. Zudem werden auch seine Lateinkenntnisse überhaupt in Szene gesetzt, denn nicht nur für die römische Elite, sondern auch für die griechische ist die Inszenierung von Zweisprachigkeit identitätsbildend.52 Als vorbildlicher Symposiast ist er außerdem in der Lage, etymologische Methoden nicht nur für die ernsthafte Erklärung von sprachlichen Phänomenen, sondern auch zur Unterhaltung aller anzuwenden.
47 Sowohl misceo wie µείγνυµι werden auf den gleichen indogermanischen Stamm *m(e)i[k] mit oder ohne Erweiterung *-skō zurückgeführt (siehe für das Lateinische Walde-Hofmann 19725 s.v. und Vaan 2008 s.v., für das Griechische Beekes 2010 s.v.). Comissatum wird aus dem griechischen κωµάζω erklärt (cf. Walde-Hofmann 19725 s.v. comissor). 48 In dieser Form findet sie sich auch bei Isidor von Sevilla (Isid. XX 2.14 coenam vocari a communione vescentium: κοινὸν quippe Graeci communi dicunt). Die spätlateinische Schreibweise coena könnte gerade aus dieser Volksetymologie entstanden sein (Teodorsson 1989–1996, I, 224). 49 ἢ καὶ τούτων οὖν ἀκουστέον ἀγελαστὶ λεγοµένων ἢ µηδ᾽ ἐκείνοις εὐκόπους οὕτως διὰ τῶν ὀνοµάτων ὥσπερ τριγχίων τὰ µὲν ἐκκόπτουσι µέρη τὰ δὲ καθαιροῦσιν παραδύσεις διδῶµεν. „Und man soll entweder dem Gesagten ohne Lachen zuhören, oder solchen nicht ein zu einfaches Eindringen in unseren Wortschatz gewähren wie in eine Steinwand, mal ein Stück hier wegbrechen, dort mal einen Stein entfernen.“ 50 Zur performativen Kraft des gemeinsamen Gelächters in der Bildung oder Aktualisierung von Gemeinschaft siehe z. B. Röcke/Velten 2005. 51 Thum 2013, 30. 52 Rochette 1998, 182.
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3. ZUSAMMENFASSUNG In den inszenierten Gesprächen der Quaestiones Convivales geht es nicht um das Finden der richtigen Antwort, sondern um die Suche. Dabei sollen die guten Symposiasten den eigenen Bildungsgrad präsentieren und zeigen, dass sie in der Lage sind, ihr Wissen in dieser Suche kreativ einzusetzen; philologisches Wissen und philologische Methoden gehören zweifellos dazu. Das bloße Prahlen mit Wissen ist aber nicht erwünscht, vielmehr soll der Symposiast darauf achten, dass das Gespräch sich organisch entwickelt und jedes neue Argument aus den vorausgegangenen Schritten gefordert wird. Es soll das Wissen abgerufen werden, das gerade das Fortschreiten der Diskussion nötig macht, und dies wird in der hier exemplarisch analysierten Inszenierung vom Erzähler penibel beachtet. Des Weiteren wird der Wissensgewinn als ein kollektives Vorgehen dargestellt, an dem alle teilhaben können, dürfen und müssen. So muss jeder Sprecher auf die Komposition der Gruppe achten und sich vergewissern, dass alle seinen Argumenten folgen können; im Zweifelsfall muss er sich der Mehrheit anpassen.53 Eine gewisse Symmetrie unter den Teilnehmern muss wenigstens vordergründig bewahrt werden, um die Harmonie im Symposion nicht zu stören. An diesen von Plutarch vermittelten symposiastischen Normenraum passt sich die Inszenierung von Etymologie in der Frage VIII 6 an. In der Regel werden etymologische Fragen in den Quaestiones Convivales lediglich als Unterstützung eines Arguments verwendet, selten stehen sie im Zentrum des Gesprächs wie hier. Der Grund mag darin liegen, das gefürchtete Bild einer Unterrichtsstunde vermeiden zu wollen.54 Im Gegenteil bilden in dieser Frage etymologische Erörterungen das zentrale Element des Gesprächs, und die Inszenierung zeichnet nach, wie diese erstens aus dem Kontext entstanden sind und zweitens aus dem Fortschreiten des Gespräches sich weiterentwickelt haben. Die Beschreibung der Situation des Symposions ermöglicht den Einstieg in eine lexikographische und etymologische Diskussion, die erst anwendungsorientiert ist und die vom allgemein gebildeten Publikum nachvollzogen werden kann. Von dieser ersten Stufe kommen die Teilnehmer zu einer komplexeren etymologischen Diskussion über Alltagswörter; dass in dieser Phase die Aussagen nicht mehr personalisiert, sondern als Leistung des Kollektivs beschrieben werden, beweist den einheitlichen hohen Bildungsgrad innerhalb der Gruppe, die aus dem engen Freundeskreis Plutarchs gebildet ist. Erst diese Symmetrie im Wissen der Teilnehmer erlaubt den bravourösen, ironischen Beitrag von Lamprias, in dem er angeblich aus dem Stegreif lateinische Wörter etymologisch aus dem Griechischen erklärt. Nur wer Kenntnisse von etymologischen Methoden besitzt, wird in der Lage sein am Humor von Lamprias’ Beitrag teilzuhaben. Zudem macht diese abschließende Rede die Konversation zu einer echten symposiastischen Konversation, indem der Spaß dem Ernst hinzugefügt wird. 53 Siehe die Reflexionen der Figur Plutarchs in der programmatischen Frage I 1 bezüglich der Präsenz der Philosophie in symposiastischen Gesprächen. 54 Siehe Seite 185, Fn. 13.
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In diesem Kontext ist die Schlusswarnung von Lamprias zu lesen, die sich meiner Meinung nach nicht gegen die Etymologie allgemein richtet, auch nicht gegen linguistische Theorien über die griechische Herkunft des Lateinischen, sondern gegen die Gefahren einer zu spekulativen Anwendung von Etymologien. Und als Vorwarnung für alle, die die etymologische Forschung nicht beherrschen. Damit erscheint die Etymologie nur für ganz bestimmte Symposienteilnehmer ein geeignetes Unterhaltungsthema. Und Plutarch und seine engen Freunde gehören natürlich zu diesem kleinen hochgebildeten Kreis.55 Durch Beherrschung komplexer etymologischer Methoden zeigen die Teilnehmer der Symposien Plutarchs nicht nur ihre Zugehörigkeit zur griechischen Elite, sondern auch die eigene Sonderstellung innerhalb dieser Gruppe. BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben / Kommentare Frazier, F./Sirinelli, J. 1996, Plutarque, Oeuvres morales IX, 3, Propos de Table VII–IX, Paris. Fuhrmann 1972, F., Plutarque, Oeuvres morales IX, 1–2, Propos de Table I–VI, Paris. Teodorsson 1989–1996, S.-T., A Commentary on Plutarch’s Table Talks I–III, Göteborg.
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55 Siehe neben dem Appell an die Gemeinsamkeit des Gesprächs auch die Freude über Argumente, die weiter als die gängigen gehen (III 7 656A) und die Findung ungewöhnlicher Zitate (V 2 675B: τῶν οὐκ ἐν µέσῳ ἐστίν). Dazu auch Frazier/Sirinelli 1996, 197–199.
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ANHANG: QUAESTIONES CONVIVALES VIII 6 TEXT UND ÜBERSETZUNG Περὶ τῶν ὀψὲ παραγιγνοµένων ἐπὶ τὸ δεῖπνον: ἐν ᾧ καὶ πόθεν ἀκράτισµα καὶ ἄριστον καὶ δεῖπνον ὠνοµάσθη (1.) τῶν υἱῶν µου τοὺς νεωτέρους ἐν θεάτρῳ προσδιατρίψαντας ἀκροάµασι καὶ βράδιον ἐπὶ τὸ δεῖπνον ἐλθόντας (726A) οἱ Θέωνος υἱοὶ ,κωλυσιδείπνους‘ καὶ ,ζοφοδορπίδας‘ καὶ τοιαῦτα µετὰ παιδιᾶς ἔσκωπτον. οἱ δ᾽ ἀµυνόµενοι πάλιν ἐκείνους ,τρεχεδείπνους‘ ἀπεκάλουν. Kαί τις εἶπε τῶν πρεσβυτέρων τρεχέδειπνον εἶναι τὸν ὑστερίζοντα τοῦ δείπνου. θᾶττον γὰρ ἢ βάδην ἐπειγόµενον, ὅταν βραδύνῃ, φαίνεσθαι. καὶ Γάββα τοῦ παρὰ Καίσαρι γελωτοποιοῦ χάριεν ἀπεµνηµόνευσεν. ἐκεῖνος γὰρ ,ἐπιθυµοδείπνους‘ ἐκάλει τοὺς ὀψὲ παραγιγνοµένους ἐπὶ δεῖπνον, ἀσχολουµένους γὰρ αὐτοὺς ὅµως διὰ τὸ φιλόδειπνον οὐκ ἀπολέγεσθαι τὰς κλήσεις. (2.) Ἐγὼ δ᾽ εἶπον ὅτι καὶ Πολύχαρµος ἐν Ἀθήναις δηµαγωγῶν καὶ τοῦ βίου διδοὺς ἀπολογισµὸν ἐν (726B) ἐκκλησίᾳ ,ταῦτ᾽‘ εἶπεν, ,ἄνδρες Ἀθηναῖοι, τἀµά. καὶ πρὸς τούτοις, οὐδέποτε κληθεὶς ἐπὶ δεῖπνον ὕστατος ἀφικόµην‘. Δηµοτικὸν γὰρ εὖ µάλα δοκεῖ τὸ τοιοῦτο, καὶ τοὐναντίον οἱ ἄνθρωποι τοὺς ὀψὲ παραγιγνοµένους ἀναγκαζόµενοι περιµένειν ὡς ἀηδεῖς καὶ ὀλιγαρχικοὺς βαρύνονται. (3.) ὁ δὲ Σώκλαρος ὑπερδικῶν τῶν νεανίσκων ,ἀλλ᾽ οὐδὲ τὸν Πιττακόν‘ ἔφη ,ζοφοδορπίδαν ὁ Ἀλκαῖος ὡς ὀψὲ δειπνοῦντα λέγεται προσειπεῖν, ἀλλ᾽ ὡς ἀδόξοις τὰ πολλὰ καὶ φαύλοις ἡδόµενον συµπόταις. τὸ µέντοι πρωίτερον δειπνεῖν ὄνειδος ἦν πάλαι, καὶ τὸ ἀκράτισµά φασιν οὕτως λέγεσθαι διὰ τὴν ἀκρασίαν.‘ (4.) ὑπολαβὼν δ᾽ ὁ Θέων (726C) ,ἥκιστ᾽‘ εἶπεν ,εἰ δεῖ τοῖς τὸν ἀρχαῖον βίον διαµνηµονεύουσι πιστεύειν. φασὶ γὰρ ἐκείνους, ἐργατικοὺς ἅµα καὶ σώφρονας ὄντας, ἕωθεν ἐσθίειν ἄρτον ἐν ἀκράτῳ, καὶ µηθὲν ἄλλο. διὸ τοῦτο µὲν ἀκράτισµα καλεῖν διὰ τὸν ἄκρατον, ὄψον δὲ τὸ παρασκευαζόµενον εἰς δεῖπνον αὐτοῖς: ὀψὲ γὰρ δειπνεῖν ἀπὸ τῶν πράξεων γενοµένους. ἐκ τούτου καὶ τὸ δεῖπνον καὶ τὸ ἄριστον, ἀφ᾽ ὅτου λάβοι τοὔνοµα, ζήτησιν παρέσχε. καὶ τὸ µὲν ἄριστον ἐδόκει τῷ ἀκρατίσµατι ταὐτὸν εἶναι, µάρτυρι τῷ Ὁµήρῳ ‹χρωµένοις› λέγοντι τοὺς περὶ τὸν Εὔµαιον ἐντύνοντ ᾽ἄριστον ἃµ ἠοῖ φαινοµένῃφι (726D) καὶ πιθανὸν ἐδόκει διὰ τὴν ἑωθινὴν αὔραν ἄριστον ὠνοµάσθαι, καθάπερ τὸ αὔριον. τὸ δὲ δεῖπνον, ὅτι τῶν πόνων διαναπαύει. πράξαντες γάρ τι δειπνοῦσιν ἢ µεταξὺ πράττοντες. ἔστι δὲ καὶ τοῦτο παρ᾽ Ὁµήρου λαβεῖν λέγοντος ἦµος δὲ δρυτόµος περ ἀνὴρ ὡπλίσσατο δεῖπνον. εἰ µὴ νὴ Δία τὸ ἄριστον αὐτόθεν ἀπραγµόνως προσφερόµενοι καὶ ῥᾳδίως ἀπὸ τῶν τυχόντων, τὸ δὲ δεῖπνον ἤδη παρεσκευασµένον, ἐκεῖνο µὲν ῥᾷστον, τοῦτο δ᾽ ὥσπερ διαπεπονηµένον ἐκάλεσαν.‘ (5.) ὑβριστὴς δ᾽ ὢν καὶ φιλόγελως φύσει ὁ ἀδελφὸς ἡµῶν (726E) Λαµπρίας ἔφη µυρίῳ τὰ Ῥωµαϊκὰ δείξειν οἰκειότερα τῶν Ἑλληνικῶν ὀνόµατα, τοσαύτης ἀδείας τῷ φλυαρεῖν δεδοµένης. τὸ µὲν γὰρ δεῖπνόν ,φασι ,κῆναν‘ διὰ τὴν κοινωνίαν καλεῖσθαι. καθ᾽ ἑαυτοὺς γὰρ ἠρίστων ἐπιεικῶς οἱ πάλαι Ῥωµαῖοι συνδειπνοῦντες τοῖς φίλοις. τὸ δ᾽ ἄριστον ἐκλήθη ,πράνδιον‘ ἀπὸ τῆς ὥρας.
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ἔνδιον γὰρ τὸ δειλινόν, καὶ τὴν µετ᾽ ἄριστον ἀνάπαυσιν ἐνδιάζειν. ἢ πρωινήν τινα σηµαίνοντες ἐδωδὴν, ἢ τροφήν, ᾖ χρῶνται πρὶν ἐνδεεῖς γενέσθαι. καὶ µὴν ἵν᾽ ἀφῶ τὰ στρώµατα‘ ἔφη ,τὸν οἶνον τὸ µέλι τοὔλαιον τὸ γεύσασθαι τὸ προπιεῖν ἕτερα πάµπολλα τοῖς αὐτοῖς ὀνόµασι καταφανῶς (726F) χρώµενα, τίς οὐκ ἂν εἴποι ἐπὶ κῶµον Ἑλληνικῶς ,κωµισσᾶτον‘ λέγεσθαι, καὶ τὸ κεράσαι ,µισκῆρε‘ καθ᾽ Ὅµηρον, ἡ δ᾽αὖτ᾽ ἐν κρητῆρι µελίφρονα οἶνον ἔµισγε καί ,µῆνσαν‘ µὲν τὴν τράπεζαν ‹ἀπὸ› τῆς ἐν µέσῳ θέσεως, ,πᾶνιν‘ δὲ τὸν ἄρτον ὡς ἀνιέντα τὴν πεῖναν, τὸν δὲ στέφανον ,κορῶναν‘ ἀπὸ τῆς κεφαλῆς ὡς Ὅµηρος τὸ κράνος εἴκασέ που στεφάνῃ, τὸ δ᾽ἔδειν ,ἔδερε‘ (727A) καί ,δέντης‘ τοὺς ὀδόντας καί ,λάβρα‘ τὰ χείλη ἀπὸ τοῦ λαµβάνειν τὴν βορὰν δι᾽ αὐτῶν; ἢ καὶ τούτων οὖν ἀκουστέον ἀγελαστὶ λεγοµένων ἢ µηδ᾽ ἐκείνοις εὐκόπους οὕτως διὰ τῶν ὀνοµάτων ὥσπερ τριγχίων τὰ µὲν ἐκκόπτουσι µέρη τὰ δὲ καθαιροῦσιν παραδύσεις διδῶµεν.‘ Über die verspäteten Gäste beim Mahl. Und auch über die Herkunft der Wörter ἀκράτισµα, ἄριστον und δεῖπνον (1.) Meine jüngsten Kinder wurden von einem Vortrag im Theater zurückgehalten und kamen etwas zu spät zum Mahl, (726A) sodass die Kinder des Theons sie mit ,Mahlverhinderer‘, ,Düsterspeiser‘ und ähnlichen Späßen verspotteten. Diese konterten und nannten sie ,Zum-Mahl-Renner‘. Daraufhin sagte einer der Älteren, ,Zum-Mahl-Renner‘ sei doch derjenige, der zu spät zum Essen komme. Denn, wenn er sich verzögere, müsse er in schnellerem Schritt erscheinen. Und er erinnerte sich an einen Witz von Gabba, dem Spaßmacher des Kaisers. Denn dieser nannte diejenigen, die zu spät zum Mahl kamen, ,Mahlbesessene‘, weil, egal wie beschäftigt sie auch seien, die Liebe zum Mahl sie keine Einladung ablehnen ließe. (2.) Ich erzählte, dass Polycharm, der Athener Demagoge, beim Rechenschaftsbericht vor der Versammlung sagte (726B): „Dies sind, Athener, meine Taten. Und zudem noch, dass ich nie zu einer Essenseinladung zu spät kam.“ Dies wird nämlich als sehr demokratisch verstanden, denn im Gegenteil dazu kritisieren Männer, die gezwungen werden auf zu spät Kommende zu warten, dies als unverschämt und oligarchisch. (3.) Soklaros übernahm die Verteidigung der Jungen und sagte: „Aber Pittakos wurde von Alkaios nicht ‚Düsterspeiser‘ genannt, weil er angeblich zu spät speiste, sondern weil er gerne mit äußerst unrühmlichen und düsteren Gästen zusammenkam. Denn früher galt zu zeitiges Essen als schändlich, und so heißt das Frühstück – ἀκράτισµα wegen seiner Maßlosigkeit – ἀκρασία.“ (4.) Da unterbrach ihn Theon und sagte (726C): „Keineswegs, wenn wir den Erinnerungen an das frühere Leben Glauben schenken wollen. Man sagt nämlich, dass die damaligen Männer, die fleißig und zugleich vernünftig waren, in der Früh nichts anders aßen als in ungemischten Wein getunktes Brot. Wegen des ungemischten Weins (ἄκρατον) nennen wir das Frühstück ἀκράτισµα. Und (ὄψον)
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nennen wir das, was sie als volle Mahlzeit zu sich nahmen, denn sie aßen spät (ὀψέ), nach Erledigung der Arbeiten.“ Aus diesen Überlegungen heraus ging die Untersuchung weiter, woher die Bezeichnungen für δεῖπνον und ἄριστον kamen. Uns schien ἄριστον dasselbe zu sein wie ἀκράτισµα, wenn man dem Zeugnis von Homer Beachtung schenkt, als er über Eumaios sagt: ,Sie bereiteten sich das Frühmal (ἄριστον) im Morgengrauen (726D)‘ (Od. 16.2, Ü: Schadewaldt). Und es erschien glaubwürdig, dass der Name ἄριστον von der Morgenluft (αὔρα) kommt, genauso wie das Wort für morgen – αὔριον. Δεῖπνον kommt vom Beenden der Arbeiten – τῶν πόνων διαναπαύει. Denn man isst nach der Arbeit oder zwischen den Arbeiten. Das findet sich auch bei Homer, als er sagt: ,Doch wenn ein Mann, holzhauend im Forst, sein Mahl sich bereitet‘ (Il. 11.86, Ü: Voss) Es sei denn, beim Zeus, dass das ἄριστον auf der Stelle und auf unkomplizierte und einfache Weise mit dem Vorhandenen zubereitet wird, das δεῖπνον aber schon richtig vorbereitet, so nannte man das eine ,einfach‘ –ῥᾶστον und das andere so etwas wie ,aufwändig vorbereitet‘ – διαπεπονηµένον. (5.) Mein Bruder Lamprias, von Natur aus etwas großtuerisch und ein Spaßvogel (726E), sagte, da die Hemmungen zum Schwätzen gefallen seien, dass die römischen Bezeichnungen tausendmal geeigneter als die griechischen seien. „Denn sie nennen das δεῖπνον cena wegen dem Zusammentreffen – κοινωνία. Denn die alten Römer frühstückten in der Regel alleine, aber speisten dann mit den Freunden. Das Mittagessen nennen sie prandium wegen des Zeitpunkts. Denn der Nachmittag ist ἔνδιον und die Pause nach dem Essen ἐνδιάζειν. Oder sie meinen ein früheres Mahl, πρωινήν ἐδωδήν, oder eine Nahrung, die man zu sich nimmt bevor man ‚Mangel leidet‘, πρὶν ἐνδεεῖς. Um nicht zu sprechen“, fuhr er fort, „von den Polstern, dem Wein, dem Honig, dem Öl, dem Geschmack, dem Trinkspruch und zahlreichen anderen Sachen, die sich offenbar in den Wörtern selbst ankündigen (726F). Wer würde denn verneinen, dass comissatum aus dem griechischen κῶµος kommt, und miscere von κεράσαι wie Homer belegt: ,und sie mischte (ἔµισγε) in einem Mischkrug honigsinnigen Wein‘ (Od. 10.356. Ü: Schadewaldt) Und sie nennen mensa den Tisch, weil er in der Mitte, ἐν µέσῳ, steht, und panis das Brot, weil es den Hunger stillt – ἀνιέντα τὴν πεῖναν, den Kranz corona aus der Bezeichung für Kopf, wie Homer den Helm, κράνος, wohl mit der Krone vergleicht (Il. 7.12). Essen heißt edere (727A) und die Zähne dentes, die Lippen labra wegen der Essensaufnahme durch sie, λαµβάνειν τὴν βορὰν. Und man soll entweder dem Gesagten ohne Lachen zuhören, oder solchen nicht ein zu einfaches Eindringen in unseren Wortschatz gewähren wie in eine Steinwand, mal ein Stück hier wegbrechen, dort mal einen Stein entfernen.
MARK AUREL, DER PHILOLOGENKAISER DIE LITERARISIERUNG DER PHILOLOGIE IN FRONTOS KORRESPONDENZ* Wytse Keulen 1. EINLEITUNG Im Briefwechsel zwischen dem Redner und Prinzenerzieher Marcus Cornelius Fronto und seinem Schüler, dem Prinzen und späteren Kaiser Mark Aurel, ist die ‚Philologie auf zweiter Stufe‘ ein zentraler Bestandteil der Bildungs- und Freundschaftsinszenierung beider Korrespondenten. Frontos und Mark Aurels Verwendung der Gattung ‚Brief‘ als Medium für die Inszenierung einer exklusiven Freundschaft zwischen zwei viri docti hat jedoch bisher wenig Beachtung gefunden.1 Dieser Briefwechsel gehört immer noch zu den am wenigsten beachteten Texten aus der Kaiserzeit: Seit Kardinal Mai im 19. Jahrhundert in Mailand und im Vatikan die Korrespondenz auf einem Palimpsest entdeckt hat, sind die Briefe vor allem auf ihre historischen Informationen sowie die rhetorische Lehre Frontos hin untersucht worden.2 Sieht man von der schwierigen Überlieferungsgeschichte ab, dann ist ein wichtiger Faktor für diese Vernachlässigung die Ansicht, dass es sich hier ausschließlich um private Briefe handle, die nie für die Veröffentlichung bestimmt waren.3 Überzeugende Argumente für eine intendierte Veröffentlichung *
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Für anregende Kritik und konstruktive Diskussion danke ich Ulrike Egelhaaf-Gaiser, Meike Rühl, Annette Harder, Christopher Bee, Jörg von Alvensleben und den Herausgebern dieses Bandes. Zur Freundschaftsinszenierung in Frontos Korrespondenz vgl. Freisenbruch 2007 und Wei 2013, die die Darstellung der Freundschaft in den Briefen vor allem unter ihrem rhetorischen Aspekt beleuchten. Creese 2007 erläutert antike Briefe (Cicero, Plinius, Fronto, Symmachus) unter Zuhilfenahme der modernen Brieftheorie (Altman 1982) als Dialoge mit einem Herrscher im Kontext der zeitgenössischen Machtverhältnisse. Vgl. Rosen 1994, der die Briefe als historische und biographische Quelle für eine real existierende Freundschaft zwischen Mark Aurel und Fronto betrachtet. Dass es auch in der außerliterarischen Welt eine Freundschaft zwischen Fronto und Mark Aurel gegeben hat, ist wahrscheinlich; die literarischen Briefe wären sonst für ihre Leserschaft nicht glaubwürdig gewesen (vgl. Wei 2013: „If friendship was regarded merely as rhetorical and had little impact on social and historical realities, it would actually fail even as a rhetorical device.“). Birley 1968 und Champlin 1980 verwenden die Briefe als historische Quelle für das Leben und Wirken von Mark Aurel und Fronto; vgl. auch Bowersock 1969. Für rhetorische und stilistische Aspekte vgl. Ronnick 1997 und Galimberti Biffino 2011; Gärtner 1983 betont vor allem pädagogische Aspekte der Korrespondenz. Diese Ansicht ist immer noch unter tonangebenden Fronto-Forschern verbreitet, vgl. van den
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wurden zuletzt von Freisenbruch 2007 vorgebracht; sie zeigt, wie Fronto die Briefgattung für die Konstruktion eines überzeugenden Selbstbildes als Koryphäe der lateinischen Sprache verwendet, und wie dieses Selbstbild konsequent mit einem Gruppenbild einer literarisch aktiven Elite verbunden wird. Wie auch in Plinius’ Briefen und anderen literarischen Texten der Kaiserzeit entwickelt sich gerade in der Konversationssituation zwischen Prinzenerzieher und Prinz eine Interaktion zwischen zwei Welten, in der sich private und öffentliche Perspektiven vermischen.4 Nicht nur findet im freundschaftlichen Austausch eine Vorbereitung auf öffentliche Auftritte als imperator und orator statt, sondern auch der freundschaftliche Austausch selbst wird publikumswirksam inszeniert. Bildungsinszenierung und Freundschaftsinszenierung gehen in diesen Briefen Hand in Hand und dienen zum einen der sozialen Distinktion. Denn durch Bildung stellen Fronto und Markus ihre Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe unter Beweis und grenzen sich somit von der restlichen Gesellschaft ab.5 Zum anderen dienen sie der Darstellung persönlicher und emotionaler Nähe, die zwischen zwei räumlich getrennten viri docti durch eine besonders innige Form der literarischen Kommunikation hergestellt wird. Somit entwirft die Korrespondenz ein Idealbild eines römischen Lebensstils, der von literarischen Studien und philologischem Austausch geprägt ist. Wie auch das Medium des literarischen philosophischen Dialogs stellen diese philologisch inspirierten Gespräche in Briefform eine literarische Praxis dar,6 die die zeitgenössische intellektuelle Gesprächskultur reflektiert. Im Hinblick auf das Thema dieses Bandes möchte ich auf gewisse Analogien zwischen der Literarisierung der Philologie in Frontos Korrespondenz und hellenistischen Inszenierungen der Gelehrsamkeit hinweisen. Ich werde das Augenmerk dabei mehr auf allgemeinere Entsprechungen zwischen der Bildungskultur des Hellenismus und der Bildungskultur des antoninischen Zeitalters als auf konkrete Rezeptionen hellenistischer Gelehrsamkeit richten.7 Sowohl die hellenistische Periode als auch das
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Hout 1988, LIX; van den Hout 1999, x: „it is certain that Fronto had not wanted to edit his letters himself“; Fleury 2006, 5–7. Vgl. dagegen Steinmetz 1982, 154: „die offenbar von Fronto selbst besorgte Edition“; auch Mommsen 1874 und Peter 1901, 129 sprachen sich bereits für die Wahrscheinlichkeit aus, dass Fronto die Veröffentlichung der Briefe nicht nur gewünscht, sondern auch selbst durchgeführt hat. Eine ähnliche Interaktion zwischen der privaten Welt und der Welt der Öffentlichkeit findet im Panegyricus statt, in dem Plinius ein Bild von Trajan als ‚zugänglichem Kaiser‘ malt, der sich von seiner Freundesschar umgeben lässt und den kaiserlichen Palast ut in publicis (Plin. Pan. 47.4) bewohnt; vgl. Roche 2011a, 61–64. Johnson 2000, 141–148 betont die Verbindungen zwischen Frontos Autorität und Deutungshoheit im Bereich der römischen Bildungskultur und machtpolitischen Überlegungen. Zum Thema der Bildungsinszenierung und ihrer politischen und gesellschaftlichen Funktion in der griechischen kaiserzeitlichen Literatur vgl. Schmitz 1997. Vgl. die literarische Inszenierung von Gelehrtengesprächen und Tischgesprächen bei Plutarch, Lukian und Athenaeus. Zum Kunstcharakter des literarischen philosophischen Dialogs, der „eine idealisierende Steigerung einer in der Realität geübten Gesprächskultur“ darstellt, vgl. Thum 2013, 46–47. Vgl. auch den Beitrag von Anna Ginesti Rosell in diesem Band. Manchmal wird die Wirkmacht des Hellenismus in der Korrespondenz auch durch eine
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zweite kaiserzeitliche Jahrhundert waren von einer intellektuellen Mentalität geprägt, die sich durch eine rege Bibliothekskultur und einen florierenden Büchermarkt auszeichnete.8 Ich werde in diesem Rahmen zwei Ebenen erläutern, auf denen Fronto und Mark Aurel die Briefgattung verwenden, um sowohl ihre Bildung als auch ihre exklusive Beziehung publikumswirksam zu inszenieren. Beide Ebenen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander, auch im Wechsel, je nach Situation. Auf beiden Ebenen lassen sich Analogien zwischen Koryphäen der hellenistischen Gelehrsamkeit wie Philetas und Aristarch und Fronto als führender Persönlichkeit der Bildungskultur des zweiten kaiserzeitlichen Jahrhunderts beobachten. Die erste Ebene betrifft die Verwendung des Briefs als Medium des ‚Selffashionings‘ (Abschnitt 1. Die Selbstdarstellung eines Prinzenerziehers und Wortforschers). Frontos Briefwechsel ist nicht weniger auf öffentliche Wirkung und Performanz ausgelegt als die Korrespondenz des jüngeren Plinius.9 Bei Fronto und Mark Aurel steht insbesondere die Selbstdarstellung als exemplum von Sprachgewandtheit im Mittelpunkt. Dies betrifft zum einen Frontos Selbstzeichnung als Prinzenerzieher und als sprachliche und stilistische Autorität par excellence und zum anderen Markus’ Selbstinszenierung als zugänglicher Prinz, der sich bemüht, ein summus orator zu werden. Hier werde ich ‚Philetas von Kos‘ als Analogie für Frontos führende Rolle für die Bildungskultur seiner Zeit verwenden. Die zweite Ebene betrifft die Dialogizität der Briefkommunikation (Abschnitt 2. Das philologische Gespräch zwischen gebildeten Freunden). Diese Ebene wird im intellektuellen Austausch zwischen zwei viri docti greifbar, die füreinander als philologische Kritiker und Rezensenten auftreten. Hier ist die hellenistische Entsprechung der Homerkritiker Aristarch, der nicht nur die textkritische Autorität schlechthin verkörpert, sondern auch als Urbild des strengen Kritikers im Bereich der Stil- und Literaturkritik gilt. Die Rolle des Kritikers illustriert sowohl symmetrische als auch asymmetrische Aspekte der literarischen Kommunikation in Briefform (vgl. 2.1.), in den verschiedenen Rollen, die in der römischen imperialen
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konkrete Bezugnahme auf griechische und römische Traditionen und Traditionsbestände greifbar, sowohl durch direkte Anspielungen auf Dichter wie Callimachus oder Apollonius Rhodius als auch über eine augusteische Zwischenstufe, etwa durch intertextuelle Bezüge zu Horaz oder Properz. Mark Aurel zitiert Callimachus (Aet. 1 frg. 2) in einem poetologischen Kontext in epist. ad M. Caes. 1.4.7; Fronto zitiert Apollonius Rhodius in De orationibus 7. Zu Horaz und Properz vgl. unten, Abschnitt 2. Vgl. Too 2000; Casson 2001; Hoepfner 2002; Neudecker 2004. Für Plinius’ Verwendung der Briefgattung als Medium der Selbstdarstellung vgl. Ludolph 1997; Henderson 2002. Plinius und Fronto haben sehr viel gemeinsam (vgl. Johnson 2000, 137; 144): Beide waren erfolgreiche Redner (von beiden sind die Reden leider verloren gegangen); sowohl Plinius als auch Fronto korrespondieren mit dem römischen Kaiser (vgl. Plin. Ep. Buch 10). Fronto unterscheidet sich insbesondere von Plinius, indem er in seiner Selbstdarstellung das Umfeld des Kaiserhofes viel stärker in den Fokus rückt. In antiken Testimonien (S. Anm. 18) wird Plinius völlig von Fronto in den Schatten gestellt, der seinen Vorgänger nicht mal erwähnt; vgl. Rees 2011. In der heutigen Wahrnehmung aber hat Plinius sich als Briefliterat besser durchgesetzt.
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Gesellschaft verankert sind, verhandelt und austariert werden (Caesar, magister, discipulus, amicus). Wie ich zeigen möchte, gestalten Fronto und Mark Aurel mit ihren philologischen Überlegungen, Anregungen und Sticheleien einen lebhaften literarischen Dialog, der ein neues Idealbild des Verhältnisses zwischen Aristokrat und Herrscher entwirft.10 2. DIE SELBSTDARSTELLUNG EINES PRINZENERZIEHERS UND WORTFORSCHERS 2.1. Akribische Philologie und literarische Raffinesse: Fronto als ein ‚Philetas‘ Frontos Ruf als erfolgreicher Redner und als sprachliche und stilistische Autorität par excellence war zu seiner Zeit so gut wie unanfechtbar – es kommt nicht von ungefähr, dass Kaiser Antoninus Pius gerade den aus Nordafrika stammenden Senator (vielleicht auf Empfehlung von Hadrian) als Lehrer der lateinischen Rhetorik für seine Adoptivsöhne Markus und Lucius Verus ausgewählt hat. Dass philologische Forschungen in Frontos Bildungsprogramm eine zentrale Rolle spielten, wird für uns insbesondere in dem Selbstbild greifbar, das Fronto im Briefwechsel mit Mark Aurel und Lucius Verus von und für sich entwirft. Diesem Selbstporträt entspricht weitgehend das Bild Frontos, das sein jüngerer Zeitgenosse Aulus Gellius in einigen dialogisch gestalteten Anekdoten aus seinen Attischen Nächten von ihm malt, ein Bild, das vor allem vom Intellektuellentypus des Wortforschers geprägt ist.11 Beide Porträts zeigen, wie Frontos Bildungsprogramm eine Literarisierung der Philologie verkörpert, die sich innerhalb der kommunikativen Räume der imperialen Bildungskultur entfaltet. Insbesondere in Frontos Selbstporträt in Briefform können wir beobachten, wie die zeitgenössische Gesprächskultur sich mit einem Rekurs auf griechische und römische Traditionen der Gelehrsamkeit verbindet. Als hellenistische Analogie für Frontos Identität als erfolgreicher Prinzenerzieher, fleißiger Wortforscher und Wegbereiter eines gelehrsamen Stilideals könn10 Vgl. Roller 2001 zum Thema der Alleinherrschaft und ihrer Gestaltung durch das Medium der lateinischen Literatur der frühen Kaiserzeit (‚the politics of literature‘); Roller beschreibt den Gestaltungsprozess als eine Interaktion zwischen Literatur und ihrem gesellschaftspolitischen Kontext, in dem verschiedene miteinander konkurrierende römische Aristokraten das Herrscherbild und die Beziehung zwischen Aristokrat und Herrscher neu überdenken, beinflussen und gestalten. 11 Gellius inszeniert Fronto in mehreren Kapiteln als einen Lehrer, der seine jungen römischen Anhänger zu philologischen Diskussionen und Wortforschungen in der Bibliothek inspiriert, zum Beispiel im Gelehrtengespräch, das in Noctes Atticae 19.8 dargestellt wird. Vgl. 19.8.16: Haec quidem Fronto requirere nos iussit vocabula non ea re, opinor, quod scripta esse in ullis veterum libris existumaret, sed ut nobis studium lectitandi in quaerendis rarioribus verbis exerceret. „Dergleichen Ausdrücke ließ Fronto uns nachforschen, ich glaube nicht deshalb, weil er wirklich der Meinung war, dass sich Beispiele davon in irgendwelchen Schriften der Alten finden könnten, sondern um in uns den Eifer und die Leidenschaft für das sorgfältige Lesen anzuregen beim Suchen seltener Wörter.“
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te man vor allem an Philetas von Kos denken, der, wie Fronto, Prinzenerzieher war – Philetas war der Hauslehrer des späteren Königs Ptolemaios II. Philetas’ Reputation in der Antike als „Dichter und Gelehrter“ (Strabo 14.2.19) und unermüdlicher Wortforscher verkörpert die hellenistische Kombination von akribischer Philologie und literarischer Raffinesse, die auch in der Bildungskultur des 2. kaiserzeitlichen Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt.12 Philetas übte mit seinen Listen besonderer Vokabeln (ataktoi glossai) einen großen Einfluss auf die hellenistischen Dichter aus, die ihrerseits eine Vorliebe für homerische Hapaxe und seltene Wörter zeigen.13 Indem Philetas akribische Gelehrsamkeit mit einem raffinierten, feinen, ausgefeilten Stil verbindet, gilt er als Wegbereiter für das hellenistische Stilideal, das nach ihm insbesondere von Callimachus verkörpert wurde – Callimachus selbst (Fr. 532) assoziiert seinen Vorgänger mit seinem eigenen Stilideal der leptotes, und der römische Dichter Properz (2.1.4–6) erwähnt Philetas in einem Atemzug mit Callimachus als Vorbilder für kunstvoll ausgefeilte Dichtung.14 Fronto tritt zwar nicht explizit,15 aber doch durch sein verwandtes Stilideal (elegantia) in die Fußstapfen des Philetas: So fordert er als Prinzenerzieher den jungen Markus auf, durch eine erlesene und angemessene Wortwahl stilistische Glanzpunkte zu setzen. 2.2. Frontos Stilideal der elegantia Das frontonianische Stildeal der elegantia16 wird durch diverse Wortschatzerweiterungsübungen angestrebt, wie Wortlisten erstellen und Exzerpte anfertigen; Markus soll durch die gründliche Beschäftigung mit den von Fronto vorgegebenen vorklassischen Autoren wie Cato dem Älteren, Plautus oder Ennius seinen 12 Auch im zweiten kaiserzeitlichen Jahrhundert stellt Philetas noch eine wichtige Kristallisationsfigur für den Intellektuellentypus des notorischen Wortforschers dar; vgl. Plut. an seni ger. sit resp. 15 (Mor. 791e); Aelian. var. hist. 9.14; 10.6; Athen. 9.383b; 9.401d–e; 12.552b; 13.598e–f. In der von der griechischen Komödie beeinflussten anekdotischen Tradition über Philetas wird er als typischer Professor und Wortklauber dargestellt, der durch seine übertriebene intellektuelle Genauigkeit völlig abgemagert und klapprig aussieht; vgl. Cameron 1991; Sbardella 2000, 14–16. 13 Insbesondere Callimachus wurde von Philetas’ Wortforschung beeinflusst, vgl. Spanoudakis 2002, 398; zu Philetas’ Einfluss auf die hellenistische Literatur vgl. auch Sbardella 2000, 67– 71. 14 Vgl. Spanoudakis 2002, 68–70. 15 In dem überlieferten Teil der Korrespondenz gibt es keine konkreten Anspielungen auf Philetas. Im 2. kaiserzeitlichen Jahrhundert war die Figur Philetas dennoch ein Label für den ‚Wortforscher‘ als intellektuellen Typus (vgl. oben, Anm. 12). 16 Krostenko 2001, 114–123 beleuchtet den Begriff elegantia vor dem Hintergrund der römischen rhetorischen Tradition als Konzept für den korrekten, klaren lateinischen Sprachgebrauch der römischen Elite, verbunden mit dem convivium als Ort für wirksame Performanz und erfolgreiche Selbstdarstellung. Frontos Konzept der elegantia konzentriert sich vor allem auf die sorgfältige Wortwahl und die genaue Wortfolge; vgl. Galimberti Biffino 2011. Vgl. Fronto, De eloquentia 1.4 cum labore ... et studio inuestigare uerba elegantia.
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Fundus von „unerwarteten und überraschenden Wörtern“ (verba insperata atque inopinata, epist. ad M. Caes. 4.3.3) immer weiter bereichern und diese in seinen literarischen Werken und Reden gezielt und mit Maß einsetzen. In seinem programmatischen Brief 4.3 betont Fronto, wie wichtig es für Markus ist, sich mit vollem Einsatz um den rechten Ausdruck zu bemühen und zu diesem Zweck seinen Wortschatz durch intensive Lektüre zu erweitern: Wer sich in der Redekunst nicht mit größter Sorgfalt und höchstem Eifer mit der akribischen Suche nach passenden, erlesenen Wörtern beschäftigt, stellt sich als „Halbgebildeter“ (semidoctus) bloß (4.3.1): In verbis vero eligendis conlocandisque ilico dilucet nec verba dare diutius potest, quin se indicet verborum ignarum esse eaque male probare et temere existimare et inscie contrectare neque modum neque pondus verbi internosse. Beim Aussuchen und Ordnen von Wörtern aber stellt er (= der semidoctus) sich sofort bloß und kann nicht für längere Zeit täuschen, ohne dass er sich preisgibt als jemanden, der ohne Kenntnis von Wörtern ist und diese schlecht prüft und unüberlegt beurteilt und unwissend betastet und nicht den Wert und das Gewicht des Wortes unterscheidet.
Fronto gibt eine Liste der mustergültigen römischen Autoren aus alten Zeiten, die sich mit viel Fleiß um den rechten Ausdruck bemüht haben (labor studiumque et periculum verba industriosius quaerendi), und die deswegen auf dem Lektüreprogramm des zukünftigen Kaisers stehen sollen (4.3.2): Quamobrem rari admodum veterum scriptorum in eum laborem studiumque et periculum verba industriosius quaerendi sese commisere, oratorum post homines natos unus omnium M. Porcius eiusque frequens sectator C. Sallustius, poetarum maxime Plautus, multo maxime Q. Ennius eumque studiose aemulatus L. Coelius necnon Naevius, Lucretius, Accius etiam, Caecilius, Laberius quoque. Nam praeter hos partim scriptorum animadvertas particulatim elegantis Novium et Pomponium ... Deswegen haben sich ganz wenige der alten Schriftsteller an diese Arbeit und dieses Bestreben und diese Probe gewagt, um sehr geschäftig Wörter zu suchen, und seit es Menschen auf Erden gibt, hat als einziger von allen Rednern M. Porcius dies getan und sein unablässiger Nachahmer, G. Sallustius; von den Dichtern vor allem Plautus, und am allermeisten Q. Ennius und L. Coelius, der ihm geflissentlich nachgeeifert hat, und auch Naevius, Lucretius, auch Accius, Caecilius, auch Laberius. Denn außer diesen Autoren könnte man einige erkennen, die in einer besonderen Art geschmackvoll (elegantis) sind, zum Beispiel Novius und Pomponius ...
Markus versucht seinerseits in seinen Briefen, den Sprachnormen seines Lehrers gerecht zu werden, und wird von ihm für seine elegantia gelobt.17 In epist. ad M. Caes. 2.11 zum Beispiel, wo er über das unbeständige Wetter in seinem Aufenthaltsort Neapel spricht, zeigt Markus seine Vertrautheit mit Frontos Bildungsprogramm, indem er eine eindrucksvolle Reihe von archaisch-juristischen Tageseinteilungsbegriffen verwendet, wie gallicinium, conticinium, matutinum und diluculum, mühelos aus Cato dem Älteren zitiert, und mit Humor Vokabular aus Laberius und Plautus einsetzt (2.11.3–4). 17 Vgl. epist. ad M. Caes. 1.5.3: elegantissime ,praevaricari‘ te ais („Du sagst in sehr geschmackvoller Weise ‚es mit dem Gegner halten‘“).
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2.3. Asymmetrie: Der beflissene Schüler und der akribische Wortforscher Die Ebene des Self-fashionings als Prinzenerzieher zeigt vor allem einen asymmetrischen Aspekt in der intellektuellen Beziehung zwischen Fronto und Mark Aurel: Fronto hat als Koryphäe der lateinischen Sprache eine stark bestimmende und urteilende Rolle, und Mark Aurel fügt sich in den früheren Briefen (epistulae ad Marcum Caesarem) offensichtlich bereitwillig seiner Rolle als emsiger Schüler, der dem Bildungsideal des berühmten Redners Fronto nacheifert.18 Diese Asymmetrie wird in Mark Aurels Bild als Kaiser, das wir in den späteren Briefen (u.a. epistulae ad Antoninum imperatorem; ad M. Antoninum de eloquentia liber) sehen können, gewahrt: Markus wird von Fronto zwar als begabter Redner, der Hervorragendes leistet, dargestellt,19 aber auch als jemand, der immer noch den Unterricht des großen Meisters braucht und annimmt.20 Der asymmetrische Charakter des Lehrer-Schüler-Verhältnisses wird vor allem sichtbar an Stellen, an denen der junge Markus sich über die Schwierigkeit der Wortschatzerweiterungsübungen beklagt. So sagt er seinem Lehrer in epist. ad M. Caes. 3.9.3: materiam cruentam misisti mihi. necdum legi Coelianum excerptum quod misisti nec legam priusquam sensus ipse venatus fuero. Einen blutrünstigen Stoff hast du mir geschickt. Ich habe noch nicht das Coelius-Exzerpt gelesen, welches du geschickt hast, und werde es nicht lesen, bevor ich nicht den Sinn selbst erjagt habe.
Mit materiam cruentam macht Markus einen Wortwitz: Frontos Hausaufgabe für Markus, eine Abhandlung über den zweiten Punischen Krieg zu schreiben, ist inhaltlich ‚blutrünstig‘ (cruentam), aber cruentam bedeutet auf einer anderen Ebene auch, dass Markus Frontos Aufgabe ‚grausam‘ findet.21 Zu diesem Thema hat Fronto ein Exzerpt des Coelius Antipater beigefügt, der auch auf Frontos Literaturliste im programmatischen Brief 4.3 als mustergültiger Autor empfohlen 18 Vgl. Mark Aurels Lob auf Fronto als „Zierde der römischen Beredsamkeit“ in epist. ad M. Caes. 2.6.2: decus eloquentiae Romanae. Wie wirksam dieses Lob für Frontos Nachruhm war, zeigt die Anspielung darauf in einem panegyrischen Text aus dem 3. Jahrhundert, wo Fronto als „zweiter Cicero“ gepriesen wird (Pan. Lat. 8.14.2–3 Romanae eloquentiae non secundum, sed alterum decus [Test. 19 van den Hout]). 19 Fronto, De eloquentia 4.9: scis verba quaerere, scis reperta recte collocare, scis colorem sincerem vetustatis appingere („Du weißt Wörter zu suchen, du weißt die gefundenen richtig anzuordnen, du weißt die natürliche Farbe des Altertums in deinen Schriften aufzutragen ...“). 20 Vgl. epist. ad M. Caes. 3.17.3: me vade, me praede, me sponsore celeriter te in cacumine eloquentiae sistam („Schnell werde ich dich zum Gipfel der Beredsamkeit bringen: ich werde dafür die vollständige Bürgschaft leisten, ich werde dein Gewährsmann sein); ad Ant. imp. 1.2.7: sed mihi crede amplissimum te iam tenere in eloquentia locum brevique summum eius cacumen aditurum locuturumque inde nobiscum de loco superiore („Aber glaube mir, dass du jetzt bereits eine sehr hohe Stellung in der Beredsamkeit einnimmst und in kurzer Zeit ihren Gipfel erreichen wirst und von dort aus mit mir sprechen wirst“). 21 Für cruentus = ‚grausam‘ (v. Aufgaben etc.): vgl. Asc. Tog. p. 83 cruentissimarum sententiarum.
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wird. Eigentlich soll Markus dieses Exzerpt zuerst gründlich lesen, bevor er sich selbst dem Thema widmet. Markus will aber erst selbständig die inhaltlichen Argumente herausarbeiten (sensus venari), bevor er Coelius’ Ausarbeitung des Themas liest – die Annotation der zweiten Hand sensus et verba venari deutet m. E. an, dass Markus hier auf den Gegensatz zwischen sensus venari (sich selbständig Gedanken über den Inhalt machen) und „verba venari“ anspielt. Er lässt auf diese Weise dezent durchblicken, dass er noch keine Zeit hatte für das verba venari, die frontonianische Wortschatzerweiterungsübung, mit dem Coelius-Exzerpt als Grundlage nach passenden Wörtern zum Thema des Zweiten Punischen Krieges zu suchen. Ob Markus generell die mühsame Suche nach Wörtern als ‚grausam‘ empfindet, bleibt offen. Auch wenn er sich manchmal auf subtile Weise zu sträuben scheint, zeigt Markus sich meistens als ein beflissener Musterschüler Frontos. 2.4. Die Sprachbeherrschung macht den guten Herrscher aus Nicht nur in seinen frühen, sondern auch in den späteren Briefen, als Mark Aurel bereits imperator ist, lobt Fronto ihn dafür, dass er als Redner Frontos Bildungsideal der lateinischen Sprachkultivierung entspricht. In einem späteren Brief schreibt Fronto an Markus, dass er sich freut, dass er in seinen Reden und denen seines Bruders Lucius Verus die Grundsätze seiner Lehre erkennt (epist. ad Anton. imp. 1.2.2): cum in orationibus vestris vestigia nostrae sectae animaduerto ... Wenn ich in den Reden von euch beiden die Kennzeichen meiner Schule beobachte.
In demselben Brief vergleicht Fronto Markus mit einem summus orator, weil er immer nach den besten Wörtern suche (1.2.7): praecipue autem gaudeo te verba non obvia arripere, sed optima quaerere. hoc enim distat summus orator a mediocribus, quod ceteri facile contenti sunt verbis bonis, summus orator non est bonis contentus, si sint ulla meliora … Besonders aber freue ich mich, dass du nicht die erstbesten Wörter aufgreifst, sondern nach den besten suchst. Denn darin unterscheidet sich der hervorragende Redner von den mittelmäßigen, dass die übrigen sich leicht mit guten Ausdrücken zufriedengeben, der hervorragende Redner aber mit guten Ausdrücken nicht zufrieden ist, wenn es irgendwelche besseren gibt.
Wenn wir Frontos akribische Tätigkeit im breiteren Zusammenhang seines universalen römischen Bildungsprogramms betrachten, wird deutlich, wie die Beherrschung der philologischen Feinheiten und Details eine viel weiter reichende Bedeutung hat: Das Ideal des wortgewandten Redners, das der römische Kaiser in seinem öffentlichen Auftreten anstreben muss, kennzeichnet sich gerade durch die perfekte Beherrschung der Sprache – der Philologenkaiser soll sich durch seine
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Wortwahl als doctus auszeichnen, und sich nicht als semidoctus entlarven lassen. Es ist die Sprachbeherrschung, die den guten Herrscher ausmacht.22 Auch in dieser Hinsicht sind die Analogien mit dem Hellenismus nicht zu übersehen. Wie Richard Hunter in seinem Buch The Shadow of Callimachus beobachtet, hat die römische Literatur der späten Republik und der frühen Kaiserzeit die hellenistische Vergangenheit auch durch eine politische Brille betrachtet: Der römische Rückblick auf Philetas, Callimachus und die anderen Dichter unter den ersten drei Ptolemäischen Herrschern ist ein Rückblick auf die Blütezeit von Alexandria als Zentrum der Macht und der Wissenschaft, das von guten Herrschern regiert wird.23 Somit symbolisierte das Alexandria des dritten vorchristlichen Jahrhunderts ein Goldenes Zeitalter, das erst im römischen Reich unter den Voraussetzungen der augusteischen Herrschaft wieder erreicht und sogar übertroffen werden konnte. Vor diesem Hintergrund bekommt Frontos Selbstinszenierung als Prinzenerzieher von Markus Aurelius Antoninus Augustus auch eine politische Dimension: Er motiviert mit seinem Bildungsprogramm seinen Schüler dazu, die Tradition der beredsamen und erfolgreichen Herrscher aus der Vergangenheit fortzuführen und die früheren römischen Kaiser sogar zu übertreffen.24 Fronto erwähnt dabei insbesondere Augustus als exemplum der Beredsamkeit, den er mit elegantia und lepos verbindet (epist. ad Ver. imp. 2.10) – zwei zentrale Begriffe aus Frontos Programm der kaiserlichen Sprachkultivierung.25 Somit zielt Fronto mit seinem Briefwechsel darauf ab, sich selbst in Rom, im Zentrum der Macht und der Wissenschaft, als Prinzenerzieher und als sprachliche und stilistische Autorität zu kanonisieren, ähnlich wie ein Philetas in Alexandria. Umgekehrt kann aber auch Mark Aurel einen Kanonisierungsprozess als exemplum der Sprachgewandtheit 22 Frontos aristokratisches Bildungsideal ist nur bedingt vergleichbar mit den strengen Forderungen, die in der griechischen Zweiten Sophistik mit dem Attizistischen Ideal der Sprachreinheit verbunden sind (vgl. Schmitz 1997, 74–75). Der Lexikograph Phrynichos, Zeitgenosse des Fronto, verurteilte scharf all diejenigen, die seinen Sprachnormen nicht genügten, zum Beispiel den Sophisten Favorin („das hat Favorin auf der Straße zusammengefegt“) – wer solche unklassischen Wörter benutzt, gibt sich als „ungebildet“ (amathes) zu erkennen. Diese Tendenz wird in Athenaeus’ Deipnosophistae in karikierter Weise von dem Sophisten Ulpian verkörpert (9.64. 401 d–e), der nicht einmal von den angebotenen Speisen essen möchte, wenn deren Name nicht bei den klassischen Autoren belegt ist. Im Gegensatz zu den Attizisten geht es Fronto nicht darum, eine Sprache aus der Vergangenheit als Kunstsprache wiederzubeleben, sondern darum, einzelne besondere Wörter aus den mustergültigen römischen Autoren wiederzubeleben und wirksam einzusetzen – wichtig ist, dass Fronto Markus vor einem Übermaß bei der Verwendung seltener Wörter warnt (vgl. Fronto, epist. ad M. Caes. 2.2.3). 23 Vgl. Hunter 2006, 143–144 „The turn to the poets of the first three Ptolemies was a turn to the ,glory days‘ of Alexandria, when the city was believed to have flourished politically, militarily, and artistically under powerful and virtuous rulers (...). (...) The Alexandria of the third century was a golden age which only now was being surpassed (...).“ 24 Vgl. epist. ad Ant. imp. 1.2.6; epist. ad Verum imp. 2.10. 25 Vgl. Aur., epist. ad M. Caes. 1.2.1: nam tu quidem me omni modo conisus es iocularibus istis tuis ac lepidissimis verbis a cura amovere; Fronto, epist. ad Ant. imp. 1.3.2: orationis tuae lepidum illum et liquidum sonum.
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durchlaufen, ähnlich wie die erfolgreichen Herrscher aus der Vergangenheit.26 Der erfolgreiche Philologenkaiser ist gleichzeitig Frontos wichtigster „claim-tofame“, weil er Frontos Programm so glänzend umsetzt.27 3. DER PHILOLOGISCHE AUSTAUSCH ZWISCHEN GEBILDETEN FREUNDEN 3.1. Die Rolle eines kaiserzeitlichen ‚Aristarch‘: Asymmetrie und Symmetrie Nicht nur auf der Ebene der Selbstdarstellung (der Brief als Selbstporträt), sondern auch auf der Ebene der Dialogizität (der Brief als Interaktion) verwenden Fronto und Mark Aurel die Briefgattung für die Inzenierung einer Gelehrsamkeit, die gewissermaßen hellenistischen Mustern entspricht. Insbesondere Fronto inszeniert sich in der Rolle des strengen Kritikers, der Texte liest, annotiert und emendiert, sowohl auf textkritischer als auch literarkritischer und stilistischer Ebene.28 Hier schlüpft Fronto in die Rolle eines ‚Aristarch‘, der im übertragenen Sinne als der strenge Kritiker par excellence galt: So nannte Cicero seinen Freund Atticus den „Aristarch“ seiner Reden (vgl. Cic. Att. 1.14.3 totum hunc locum, quem ego varie meis orationibus, quarum tu Aristarchus es, soleo pingere). Wir sehen im Briefaustausch zwischen Fronto und Mark Aurel, dass die Rolle des Kritikers auf zweierlei Weise verhandelt wird: Zum einen auf eine Weise, die die Asymmetrie verstärkt (Fronto tritt in der Rolle des kritisch beurteilenden Prinzenerziehers hervor), zum anderen auf eine Weise, die einen symmetrischen Austausch zwischen aufrichtigen Freunden als Kritikern ihrer literarischen Werke auf exemplarische Weise inszeniert – sie sind füreinander ein Aristarch. Markus schickte Fronto nicht nur Briefe und Reden zum Zweck der Korrektur (vgl. epist. ad M. Caes. 3.17–18; 4.2.5), sondern auch Verse (vgl. epist. ad M. Caes. 2.2.6; 2.8.2). Auch Fronto schickte Markus Reden, Briefe und andere literarische Werke zur kritischen Gegenlektüre.29 Der kritische, aufrichtige Austausch zwischen guten Freunden ist, wie Starr 1987 zeigt, ein Teil des Prozesses der Veröffentlichung literarischer Texte in der Antike, der sich in der ersten Phase auf den inneren 26 Zu den philologischen Vorlieben des Augustus vgl. Suet. Aug. 85–89; zu Tiberius vgl. Suet. Tib. 70. 27 Vgl. Freisenbruch 2007, 242. 28 Fronto beschäftigte sich mit Textkritik, insbesondere mit Texten von Cicero; in einem Brief an seinen Freund Volumnius Quadratus redet er von Ausgaben, die von ihm mit Anmerkungen versehen sind, aber noch nicht für die Veröffentlichung freigegeben werden können (ad amic. 2.2); vgl. Zetzel 1981. Fronto lobt Markus sogar als seinen eigenen „Tiro“ (epist. ad M. Caes. 1.7.4), und zwar als Herausgeber einer seiner eigenen Reden: Markus hatte nicht nur große Teile dieser Rede vor Kaiser Antoninus Pius als Publikum rezitiert, der anschließend als gebildeter Kritiker deren rhetorische und stilistische Qualitäten ausführlich würdigt, sondern er hatte auch, wie er selbst behauptet, mit eigener Hand ein Exemplar der ganzen Rede verfertigt (epist. ad M. Caes. 1.6.9). 29 Vgl. Aur. epist. ad Ant. imp. 3.6: nondum legere epistulam prolixiorem domino meo a te scriptam potui.
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Kreis der Autoren beschränkte. Die literarische Kommunikation zwischen Markus und Fronto über ‚work in progress‘ ist in dieser Hinsicht gut vergleichbar mit der Kommunikation zwischen Plinius und Tacitus (Plin. Ep. 7.20).30 3.2. Protreptik und Polemik in Frontos Erotikos logos Es soll jetzt anhand von drei Briefen gezeigt werden, wie Markus und Fronto einen tiefgründigen Austausch inszenieren, der über Philologie und Literaturkritik auf erster Stufe hinausgeht: Sowohl in epist. ad M. Caes. 3.9 als auch im chronologisch darauf folgenden Erotikos logos (addit. epist. 8) und in Markus’ unmittelbarer Antwort darauf (addit. epist. 7) wird der philologische Austausch bei näherer Betrachtung zum Spiegel ihrer mehrschichtigen Beziehung und zum literarischen Schauplatz für einen Schlagabtausch über kontroverse Themen. Frontos Erotikos logos (addit. epist. 8) ist eine griechische Abhandlung in Briefform, die von Lysias’ Rede über den Nicht-Liebenden am Anfang des Phaedrus inspiriert ist – eines platonischen Dialoges, der sich in der Literatur und Literaturkritik der Kaiserzeit besonderer Beliebtheit erfreute.31 Die Abhandlung in Briefform zeigt vor allem Frontos Anliegen, durch die Bezugnahme auf den platonischen Phaedrus seine allumfassende didaktische Autorität zu behaupten und die ideale Beziehung zwischen Prinzenerzieher und Prinz abzubilden. Markus’ Andeutung, dass er keine Ahnung hat, um was für ein Werk es bei dieser Abhandlung eigentlich geht (epist. ad M. Caes. 3.9.2: Graece nescio quid), ist nicht als bare Münze zu nehmen: Zu diesem Zeitpunkt hatte Fronto nämlich Markus bereits die Rede des Lysias aus dem Phaedrus in Form eines Briefes geschickt und ihn somit bereits für das einschlägige Thema des Nicht-Liebenden sensibilisiert, dessen Gesellschaft als Mentor für einen jungen Knaben viel gewinnbringender und sicherer ist als die Gesellschaft des Liebenden. Frontos angebliche Neuigkeit ist also schon der dritte Brief in einer Serie von drei thematisch zusammenhängenden Briefen.32 Die Lysias-Rede hatte Fronto möglicher30 Auch Plinius und Tacitus betonen die kritische Offenheit, die ihre innige Freundschaft ermöglicht; vgl. Plin. Ep., 7.20.1: Librum tuum legi et, quam diligentissime potui, adnotavi quae commutanda, quae eximenda arbitrarer. Nam et ego verum dicere assuevi, et tu libenter audire. Neque enim ulli patientius reprehenduntur, quam qui maxime laudari merentur. („Dein Buch habe ich gelesen und möglichst sorgfältig Anmerkungen gemacht, was meiner Meinung nach verändert, was gestrichen werden sollte. Denn ich bin ebenso gewohnt, die Wahrheit zu sagen, wie du, sie bereitwillig anzuhören. Denn niemand lässt sich geduldiger kritisieren, als wer am meisten Anerkennung verdient.“). Zu der literarischen Freundschaft zwischen Plinius und Tacitus vgl. Johnson 2000, 34–35; 63–64. Vgl. auch Anm. 43. 31 Vgl. Trapp 1990, der Fronto jedoch nicht berücksichtigt. 32 Der erste war der Brief von Lysias, der bei dieser Gelegenheit nicht Phaedrus, sondern Markus als Adressat hatte; der zweite war ein Brief von Platon, der vermutlich Teile aus Sokrates’ Gegenrede zum Thema des Nicht-Liebhabers aus dem Phaedrus enthielt (diese ersten beiden Briefe sind nicht erhalten). Vgl. den Anfang von Frontos Erotikos logos, addit. epist. 8.1 Ὦ φίλε παῖ, τρίτον δή σοι τοῦτο περὶ τῶν αὐτῶν ἐπιστέλλω, τὸ µὲν πρῶτον διὰ Λυσίου τοῦ Κεφάλου, δεύτερον δὲ διὰ Πλάτωνος τοῦ σοφοῦ, τὸ δὲ τρίτον διὰ τοῦδε τοῦ ξένου ἀνδρός,
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weise bereits als Brief in einer Anthologie vorgefunden,33 oder er war sogar selber damit beschäftigt, eine solche Brief-Anthologie zu veröffentlichen, in der auch seine eigene Neuschöpfung, der Erotikos logos, einen Platz haben könnte.34 Fronto verwendet den platonischen Diskurs über Liebe und Rhetorik als Allegorie, um die ideale Beziehung zwischen dem Lehrer und seinem jüngeren begabten Schüler programmatisch und protreptisch, im Sinne seiner eigenen didaktischen Prinzipien und Vorstellungen, abzubilden.35 Hinter der literarischen Fassade der Freundschafts- und Bildungsinszenierung werden in diesen Briefen unterschwellig wichtige Ambivalenzen und Reibungen zwischen Markus und Fronto thematisiert: Fronto ist die Autorität für Latein, aber Markus fühlt sich in der griechischen Sprache besser zu Hause;36 Fronto sieht die Philosophie als Teil der allumfassenden eloquentia, aber Markus bevorzugt die (griechische) Philosophie als Leitfaden; Fronto ist der Lehrer, aber Markus ist der vielbeschäftigte Caesar; Fronto steht für ausgefeilte rhetorische Perfektion, Markus für philosophisch inspirierte Beredsamkeit.
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τὴν µὲν φωνὴν ὀλίγου δεῖν βαρβάρου, τὴν δὲ γνώµην, ὡς ἐγῷµαι, οὐ πάνυ ἀξυνέτου. γράφω δὲ νῦν οὐδέν τι τῶν πρότερον γεγραµµένων ἐφαπτόµενος, µηδὲ ἀµελήσῃς τοῦ λόγου ὡς παλιλλογοῦντος („O geliebter Knabe, ich sende dir diesen Brief, den dritten über dasselbe Thema: der erste war von Lysias, dem Sohn des Kephalus geschrieben, der zweite von Plato, dem Philosophen und der dritte von diesem Mann aus der Fremde, der sich sprachlich kaum von einem Barbaren unterscheidet, aber was seinen Gedankengang betrifft, wie ich meine, nicht ganz unverständlich ist. Ich schreibe nun, ohne mich mit irgendetwas aus den vorgehenden Schriften zu befassen, damit du meine Rede nicht verachtest, weil sie das wiederhole, was schon gesagt wurde.“). Der Beginn der Lysias-Rede erzeugt, wie Hildegund Bernard beobachtet, tatsächlich den Eindruck, als ob es sich um einen Brief handelt, der direkt an Phaedrus gerichtet ist: „Wie es um mich steht, weißt du ...“ (Phdr. 229e6). Auch spätere antike Philologen wie Cassius Longinus und der Neuplatoniker Hermeias von Alexandrien (in Phdr. S. 35,19–21 Couvr.) betrachteten die von Fronto erwähnte Lysias-Rede als authentischen Bestandteil einer Briefsammlung. Vgl. Bernard 1997, 37; 120; Männlein-Robert 2001, 399f. (zu Longinus, frg. 43). Wie Vardi 2000 zeigt, gehört die Anfertigung von Exzerpten und Anthologien zu einer beliebten kaiserzeitlichen literarischen Praxis, die auch bei Fronto und Mark Aurel belegt ist (vgl. das Exzerpt von Coelius Antipater in epist. ad M. Caes. 3.9.3). Andere Beispiele für die philologische Praxis des Exzerpierens: Aur. epist. ad M. Caes. 2.8.3; 3.19.1; Fronto epist. ad M. Caes. 3.12.2; Aur. epist. ad Ant. imp. 3.3; 4.1.1; Fronto epist. ad Ant. imp. 3.4–5; 3.8 (vgl. Johnson 2000, 153–156: „Excerpting and the culture of sharing“). Van den Hout beobachtet in seinem Kommentar (1999, 560), dass das eigentliche Thema im Erotikos logos die richtige Erziehung eines Kronprinzen ist; Fleury 2006, 283–323 interpretiert die Rede als verstecktes Lob der Beredsamkeit über die Philosophie. Als Kaiser zeigt Mark Aurel viel Interesse und Wertschätzung für griechische Sophisten und ihre Auftritte; vgl. Champlin 1980, 121–122; König 2014, 254. Herodes Atticus, der zu den wichtigsten griechischen Sophisten gehörte, unterrichtete ihn in griechischer Beredsamkeit. Philostratus (VS 2.1 p. 562) berichtet, dass Markus und Herodes Atticus viele Jahrzehnte miteinander korrespondierten. Markus war in der Zweiten Sophistik für seine griechische Korrespondenz bekannt; diese Briefe sind leider nicht erhalten (vgl. Jones 2015). Später wurde Herodes Atticus von Markus beauftragt, die Philosophielehrstühle in Athen zu besetzen (Philostr. VS 2.1 p. 566).
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Darüber hinaus setzt Fronto sich im Erotikos logos in der Rolle des NichtLiebenden antagonistisch mit einem Konkurrenten in Beziehung: Der Knabe (Markus) soll sich nicht mit einem rivalisierenden Lehrer abgeben, dessen Lehre ihn entehren und verderben wird (vgl. addit. epist. 8.5). Fronto nennt diesen Rivalen den Liebhaber (ἐραστής) des Knaben. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass Fronto hier in verhüllter Form auf die didaktische und freundschaftliche Beziehung zwischen Markus und Frontos wichtigstem Konkurrenten anspielt, dem griechischen Sophisten Herodes Atticus, der Markus in der griechischen Beredsamkeit unterrichtete.37 Denn gerade in diesem früheren Teil der Korrespondenz ist die illustre Gestalt des Herodes Atticus wegen einer kontroversen Angelegenheit stets präsent: Fronto vertrat als Anwalt die Ankläger in einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren gegen Herodes.38 Frontos Polemik gegen seinen Widersacher findet im Erotikos logos in kodierter Form statt. Das sprachliche ‚Codeswitching‘ vom Lateinischen ins Griechische markiert oft, wie Simon Swain beobachtet, das Ansprechen eines heiklen Themas; so auch hier in Frontos Erotikos logos.39 Darüber hinaus stellt die literarische Form seiner Polemik Frontos Versuch dar, Markus mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: Er wählt Griechisch als Sprache und den philosophischen Dialog als Form.40 Somit stellt er unter Beweis, dass seine allumfassende Autorität das Beste aus zwei Welten vereint, die griechische Welt der Zweiten Sophistik und die römische Welt seines Universalprogramms. Am Anfang seines Briefes signalisiert Markus, dass er bereits aus Frontos letztem Brief (versteckte) Drohungen herausliest (epist. ad M. Caes. 3.9.1 minaris), und macht damit deutlich, dass er Frontos polemische Absichten sehr wohl durchschaut hat. Auch in seiner Antwort auf den Erotikos logos (addit. epist. 7) beschreibt Markus Frontos literarische Aussagen als Drohungen und Anschuldigungen.41 37 Die Möglichkeit, dass der Erotikos logos eine versteckte Polemik gegen Herodes Atticus enthält, wurde m. W. noch von niemandem erörtert. Dass Fronto im Erotikos logos mit der Figur des ἐραστής auf Herodes Atticus anspielt, wird m. E. von einem anderen griechischen Brief Frontos bestätigt (epist. ad M. Caes. 2.1). Wie im Erotikos logos verwendet Fronto auch in diesem Brief die Analogie zwischen einer didaktischen und einer erotischen Beziehung mit der Begrifflichkeit des erastes und eromenos und stellt damit sich selbst und Herodes in einer Konkurrenzrolle als Prinzenerzieher des jungen Prinzen dar (epist. ad M. Caes. 2.1.3 ἀντεραστὴς γὰρ εἶναι σοί φηµι, καὶ οὐκ ἀποκρύπτοµαι, „Denn ich verkünde, dass ich dein Nebenbuhler bin und ich mache keinen Hehl daraus“). Herodes Atticus war dafür bekannt, dass er Knaben liebte und in dieser Hinsicht Kaiser Hadrian imitierte (vgl. Hadrians Liebe zu Antinoos); vgl. Philostr. VS 1.2 p. 559 und Keulen 2009, 270f. 38 Zu den Hintergründen vgl. Davenport-Manley 2014, 47–56. 39 Swain 2004, 21, hat aber keine Vermutung, welche Person die Zielscheibe von Frontos polemischen Absichten sein könnte: „What or whom Fronto is really getting at in the erotic letter is unclear“ (vgl. van den Hout 1999, 561: „This trivial work should not be taken seriously.“). 40 Auch in seinem Brief De eloquentia (2) instrumentalisiert Fronto philosophische Argumente, um Markus von der absoluten Notwendigkeit der Beredsamkeit zu überzeugen; vgl. Fleury 2011, 67–68. 41 Addit. epist. 7.1: Age perge, quantum libet, comminare et argumentorum globis criminare.
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3.3. Markus als ebenbürtiger Kritiker Mit seinen schlagfertigen Briefen versucht Markus nicht nur die traditionelle Rollenverteilung magister – discipulus zu umgehen, sondern auch Frontos intellektuellen und didaktischen Ansprüchen souverän Kontra zu geben. So zeigt Markus sein Bestreben, seine Beziehung zu Fronto auf symmetrische Weise als eine ebenbürtige Beziehung zwischen zwei befreundeten Staatsmännern, die auch literarisch tätig sind, darzustellen. Auch die Rolle des Kritikers versucht Markus in symmetrischer Weise zu verhandeln und sowohl für sich selbst als auch für Fronto individuell zu gestalten. In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, welche Strategien Markus verwendet, um sich als ebenbürtiger Kritiker zu behaupten oder sogar den Spieß umzudrehen. 3.3.1. Philia und Philologia In epist. ad M. Caes. 3.9, die allgemein auf 139 n. Chr. datiert und zu den frühesten Briefen der Sammlung gerechnet wird, reagiert Markus auf Frontos Äußerung, dass er eine griechische Abhandlung ‚zusammengefügt‘ habe, und dass Fronto selbst dieses Werk sehr gelungen finde (3.9.2): Graece nescio quid ais te conpegisse, quod ut aeque pauca a te scripta placeat tibi. (...) Du sagst, Du habest irgendetwas in Griechisch zusammengebaut (‚verfertigt‘: compegisse), welches dir wie nur Weniges von dem, was du je geschrieben hast, gefällt. ...
Ohne Zweifel spielt Markus mit diesem (ihm angeblich noch unbekannten) Werk auf Frontos Erotikos logos an. Fronto hat dieses Werk ausnahmsweise auf Griechisch geschrieben; da Fronto auch in anderen Fällen Markus darum bittet, sein Griechisch zu korrigieren, ist es nicht abwegig davon auszugehen, dass Markus als guter Freund und aufrichtiger Kritiker das neue Werk lesen und stilistisch und inhaltlich beurteilen sollte.42 Der philologische Austausch ist in den Briefen Frontos und Mark Aurels, wie ihre häufigen überbordenden Liebesbekundungen, ein wesentlicher Bestandteil einer vielschichtigen Freundschaftsinszenierung, die einerseits von Annäherung und Identifikation, andererseits von Abgrenzung und Selbstbehauptung geprägt ist. Philia und philologia, Zuneigung und Bildungseifer, bedingen sich in diesem lebendigen schriftlichen Austausch gegenseitig, und gehören zur gemeinsamen „Komm schon, fahr fort, soviel es dir gefällt, bedrohe mich und beschuldige mich mit einer Menge von Argumenten.“ 42 Vgl. epist. ad M. Caes. 2.2.8: Tu prior lege et, si quis inerit barbarismus, tu, qui a Graecis litteris recentior es, corrige atque ita matri redde. Nolo enim me mater tua ut Opicum contemnat. („Lies ihn vorher; wenn ein Barbarismus darin vorkommt, korrigiere ihn, du, der du im Griechischen noch etwas frischer bist, und gib ihn so deiner Mutter. Ich möchte nämlich nicht, dass deine Mutter mich als einen Banausen verspottet.“). Vgl. Frontos programmatische Entschuldigung für seine barbarische (nicht-griechische) Herkunft in addit. epist. 7.1; für barbarus und opicus als Anspielungen auf römische Identität vgl. Keulen 2014, 134–137.
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Sprache, die Markus und Fronto in ihrer Korrespondenz als literarisches Abbild ihrer besonderen Beziehung entwickeln.43 Wie zwei Liebende, die räumlich voneinander getrennt sind, versuchen Mark Aurel und Fronto durch Briefe Nähe herzustellen und sich so weit wie möglich aneinander anzugleichen.44 Auch in unserem Brief inszeniert Markus den philologischen Austausch als eine Kommunikationsform zwischen Freunden, die sich wirklich lieben, und die sogar bei räumlicher Trennung Nähe bewirken kann. Er bedauert, dass Fronto seine griechische Neuigkeit (novicium) noch nicht mit ihm geteilt hat (epist. ad M. Caes. 3.9.2). Markus signalisiert mit seinem Brief, dass er von den Briefen seines Freundes zehrt und sehnsuchtsvoll auf den kommenden Brief wartet. Die Freundschaft bedingt den philologischen Austausch, aber der philologische Austausch bedingt auch die Freundschaft:45 Sed si me amares, misisses mihi istud novicium, quod placere ais. Ego vero te vel invitum istic lego; et quidem hac re una vivo et resto. Aber wenn du mich liebtest, hättest du mir diese Neuheit geschickt, von der du sagst, sie gefalle dir! Ich aber lese dich, was das angeht, auch gegen deinen Willen; und genau durch diese eine Sache lebe ich und bleibe lebendig.
Markus spielt den Benachteiligten: Er fühlt sich uninformiert, weil er über das neue Werk noch nichts weiß. Er will Fronto ein befreundeter und ebenbürtiger Kritiker sein, gewissermaßen ein Aristarch. Aber Markus geht noch weiter. Als Antwort auf Frontos Bezugnahme auf den Phaedrus stellt auch Markus seine Kompetenz als philologischer Leser des berühmten platonischen Dialogs unter Beweis, und verbindet seine Selbstbehauptung als Freund des Fronto mit einem literarisch inszenierten didaktischen sowie erotischen Rollentausch. Markus nimmt bereits in epist. ad M. Caes. 3.9 kokett auf das Thema ‚Lieben‘ versus ‚Nicht-Lieben‘ in der Lysias-Rede Bezug, indem 43 Wie Fronto und Mark Aurel, so inszenieren auch Plinius und Tacitus ihren philologischen Austausch und ihre literarischen Studien im Allgemeinen als einen zentralen Teil ihrer engen Verbundenheit und Zuneigung. Vgl. Plin. Ep. 7.20.7: Quae omnia huc spectant, ut invicem ardentius diligamus, cum tot vinculis nos studia mores fama, suprema denique hominum iudicia constringant. Vale. „Das alles zielt darauf hin, dass wir uns gegenseitig immer stärker lieben sollen, weil uns literarische Studien, Charakter, Ruhm und schließlich der letzte Wille der Menschen durch so viele Bande eng miteinander verbinden. Lebe wohl!“. Vgl. auch Anm. 30. 44 Zu der Analogie zwischen der Beziehung eines (räumlich getrennten) Liebespaares und dem Briefaustausch zweier Korrespondenten, die sich in den Briefen miteinander identifizieren, vgl. Altman 1982, 47–86; zu der Sprache von amor und amicitia bei Fronto im Kontext der römischen Brieftradition vgl. Williams 2012, 238–258. Taoka 2013 zeigt in überzeugender Weise, dass die Sprache der Liebe von Fronto und Mark Aurel als rhetorisches Mittel eingesetzt wird, um ihre Beziehung unter den literarischen Bedingungen der Briefgattung wirksam zu gestalten. Weniger überzeugend ist der biographische Deutungsversuch der erotischen Sprache in Frontos Korrespondenz von Richlin 2006, 17: „If there were to be a pederastic relationship between Fronto and his imperial charge, it would have to be careful and secret; letters would be extremely risky; they would have to follow a strict code of plausible deniability. Arguably, this is exactly what we have in the Marcus-Fronto letters.“ 45 Vgl. Einleitung, Seite 201ff.
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er Fronto mit einem Augenzwinkern unterstellt, dass er ihm verbiete, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen (3.9.4): Ego non ardeam tuo amore, qui mihi hoc scripseris? Quid faciam? Non possum insistere. Soll ich mich nicht an meiner Liebe zu dir verzehren, da du mir solches geschrieben hast? Was soll ich machen? Ich kann nicht darin innehalten.
In addit. epist. 7 führt der Prinz die programmatische Bezugnahme auf den Phaedrus sogar noch einen Schritt weiter und fühlt sich von Frontos Argumenten gegen den ‚Liebenden‘ und für den ‚Nicht-Liebenden‘ im Erotikos logos dazu herausgefordert, noch stärker eine aktive, überlegene Position als ‚Liebender‘ einzunehmen. Markus inszeniert sich selbst sogar überraschenderweise als Frontos ἐραστής in addit. epist. 7 und schlüpft damit in die Rolle des aktiven, älteren Liebhabers.46 Als Sokrates möchte er mit seinem eromenos Phaedrus (sprich: Fronto!) eine philosophische Unterhaltung führen (7.3) – der römische Briefaustausch wird zum Sokratischen Dialog. 3.3.2. Das Bild der philologischen Nachtarbeit Am Anfang seines Briefes (epist. ad M. Caes. 3.9.1) evoziert Markus mit einem Hinweis auf die schlaflosen Nächte, die Fronto mit seiner griechischen Abhandlung verbracht hat, das Bild des nächtlichen Studierens und philologischen Arbeitens: Si quid somni redit post vigilias, de quibus questus es, oro te, scribe mihi. Wenn du nach deiner Schlaflosigkeit, über die du geklagt hast, etwas Schlaf gehabt hast, schreib mir, ich bitte dich.
Hier evoziert Markus das Bild der philologischen Nachtarbeit. Dieses Bild ist nicht nur ein Intellektuellen-Topos aus dem 2. kaiserzeitlichen Jahrhundert – wir finden ihn auch in Gellius’ Vorrede zu den Noctes Atticae (10 vigiliarum) – sondern geht bereits auf die literarische Tradition der hellenistischen gelehrten Dichter zurück, die ihre anspruchsvollen Werke stilistisch und lexikalisch bis ins Letzte ausfeilen.47 Auch in anderen Briefen bedient Markus mit der Anspielung auf schlaflose Nächte das Bild des Philologen, der in mühevoller Arbeit abends und nachts an seinen literarischen Werken feilt. Biographische Deutungen der zahlreichen Briefe, in denen Markus seinen Schlafmangel thematisiert (z. B. epist. ad M. Caes. 46 Addit. epist. 7.1: Numquam tu tamen erasten tuum, me dico depuleris „Niemals dürftest du dennoch damit deinen Liebhaber – mich meine ich damit – verscheuchen!“ Mit me dico lenkt Markus die Aufmerksamkeit von dem rivalisierenden Lehrer, der Zielscheibe der Polemik Frontos, auf sich selbst. 47 So spricht Kallimachos in einem Epigramm folgendermaßen von seinem Zeitgenossen Arat, der gerade sein Lehrgedicht Phaenomena („Erscheinungen“) fertiggestellt hat (AP 9.506–7): χαίρετε, λεπταὶ / ῥήσιες, Ἀρήτου σύµβολον ἀγρυπνίης („O seid mir, ihr feinen Verse Arats, die Frucht nächtlicher Arbeit, gegrüßt!“).
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2.8.3; 3.22.2; 4.5.4; epist. ad Ant. imp. 3.6.2), kommen sogar zu der absurden Schlussfolgerung, dass Markus einen schlechten Schlaf hatte (sic!).48 In epist. ad M. Caes. 1.4 präsentiert Markus eine Verteidigung der Schlaflosigkeit gegen Frontos Lob des Schlafes – Markus nennt sein rhetorisches Übungsstück mit einem Augenzwinkern lucubratiuncula, „Nachtarbeit“ (1.4.1), ein Wort, das hier zum ersten Mal auftaucht (vgl. Gell. praef. 14) – möglicherweise eine Neuschöpfung mit der Absicht, den philologischen Wortkünstler Fronto zu beeindrucken.49 In epist. ad M. Caes. 3.9 passt Markus’ Hinweis auf Frontos schlaflose Nacht zu seinem Bestreben, seine Beziehung zu Letzterem als eine symmetrische Freundschaft zwischen zwei gebildeten Staatsmännern darzustellen. Denn wir sehen in einem anderen Brief, dass Fronto das Bild der schlaflosen Nacht eher auf asymmetrische Weise verhandelt und mit seiner Rolle als kritischer Beurteiler und Korrektor von Reden verbindet, die sein Schüler ihm zur Gegenlektüre vorlegt.50 Markus’ Wunsch, Fronto werde wieder bald gesund und sei dann in der Lage, sich seiner Anwaltspraxis (3.9.1) zu widmen, lässt sich als Hinweis auf Frontos Ruf als Redner in der Öffentlichkeit verstehen, der nicht durch die schlaflosen Nächte beeinträchtigt werden soll – auch hier strebt Markus eine Angleichung zwischen sich und Fronto an: Er sieht sich auf einer Ebene mit Fronto als zwei beschäftigte Staatsmänner (vgl. 3.9.3 Caesaris oratio), die sich nur in den Mußestunden, die ihnen übrigbleiben, den philologischen Aufgaben widmen können. 3.3.3. Markus als römischer und griechischer Stilkritiker Auch Markus’ Reaktion auf Frontos Entscheidung, ein Werk in attischer Sprache zu schreiben, zeigt sein Bestreben, die Symmetrie zwischen den beiden wieder herzustellen und sich schlagfertig als ebenbürtiger Kritiker zu positionieren. Mit einem Augenzwinkern gibt er zu, er würde selber am liebsten auch auf Griechisch schreiben, d. h. in einer Sprache, die er, im Gegensatz zum Lateinischen, nicht zu lernen brauche; aber Fronto verbiete ihm das (epist. ad M. Caes. 3.9.2). Einerseits ist das ein klarer Hinweis auf die traditionelle asymmetrische Rollenverteilung magister – discipulus, wie auch Markus’ Beichte, er habe noch nicht das Exzerpt 48 Vgl. van den Hout 1999, 15 und 24. 49 Für die römische Tradition der lucubratio und die programmatische Verwendung der lucubratiunculae als Konzept für die römische Bildungskultur in den Noctes Atticae vgl. Keulen 2009, 19–21; Krasser 1996, 179–192. 50 Vgl. Fronto, epist. ad M. Caes. 3.17.1: Quod tu me putes somnum cepisse, totam paene noctem pervigilavi mecum ipse reputans, num forte nimio amore tui remissius et clementius delictum aliquod tuum aestumarem; num tu ordinatior, perfectior iam in eloquentia esse debueris, sed ingenium tuum vel desidia vel indiligentia claudat. („Weil du glaubst, dass ich Schlaf bekommen habe: Ich habe fast die ganze Nacht durchwacht, während ich bei mir überlegt habe, ob ich vielleicht nicht durch eine zu große Liebe zu dir zu nachgiebig und mild einen Fehler von dir beurteilt habe; ich grübelte, ob du in der Beredsamkeit nicht bereits ordentlicher, vollkommener hättest sein sollen – dein Talent aber entweder durch Faulheit oder durch Mangel an Sorgfalt auf schwachen Füßen steht.“).
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von Coelius Antipater gelesen (3.9.3); andererseits spielt Markus hier auf den Kontrast zwischen seiner Vorliebe für Griechisch und Frontos Vorliebe für die lateinische Sprache an. Markus nutzt eine doppelte Strategie, um sich als Stilkritiker seines Lehrers zu behaupten und den Spieß umzudrehen. Zum einen positioniert sich Markus Fronto gegenüber als ein römischer Stilvirtuose, der frontonianischer redet als Fronto. Markus verwendet überraschende lateinische Ausdrücke und sogar Neuschöpfungen, die Frontos Programm der lateinischen Sprachkultivierung nicht nur umsetzen, sondern sogar parodieren. In epist. ad M. Caes. 3.9 finden wir folgende Beispiele: In 3.9.2 unterstreicht Markus seine gespielte Empörung über Frontos Zufriedenheit mit dessen griechischen Neuschöpfungen mit einer Anspielung auf Frontos lateinischen Stil: tune es qui me nuper concastigabas, quorsum Graece scriberem? („Hast du mich nicht neulich gezüchtigt, wozu ich Griechisch schreibe?“). Das Wort quorsum („in welcher Absicht“, „zu welchem Zwecke“) gehört zu Frontos Lieblingsausdrücken.51 Markus’ sprachliche Parodie ist hier kein Selbstzweck,52 sondern dient vor allem dazu, seine ambivalente Position gegenüber Frontos Selbstbehauptung (vgl. Abschnitt 2.2) mit einer witzigen Wortwahl zu markieren. Zum anderen schlüpft Markus in die Rolle eines Stilkritikers, der unter ähnlicher Bezugnahme auf den platonischen Phaedrus die griechischen Leistungen seines Freundes beurteilt. In addit. epist. 7.3 lobt er seinen Freund (auf lateinisch!) für seine erfolgreiche aemulatio von Lysias und würdigt ihn als ‚attischer als die attischen Redner‘. Sowohl in epist. ad M. Caes. 3.9 als auch in addit. epist. 7 zeigt Markus sich performativ als ‚philologischer Leser‘, der mit den gelehrten Auseinandersetzungen des platonischen Phaedrus nicht weniger vertraut ist als sein Bildungsfreund Fronto. Der platonische Phaedrus erfreute sich in der Zweiten Sophistik nicht zuletzt wegen seiner Eingangsreden und seiner Thematisierung von Philosophie und Rhetorik großer Beliebtheit. In antiken Rhetorikabhandlungen wird anhand des Phaedrus ein Kontrast zwischen dem schlichten Stil des Lysias und dem erhabenen Stil des Platon/Sokrates herausgestellt und kontrovers diskutiert. Aus polemischen Bemerkungen in den antiken neuplatonischen Kommentaren zum Phaedrus lässt sich eine Tendenz unter manchen antiken Literaturkritikern und rhetorischen Exegeten feststellen: Beim Vergleich zwischen der Lysias-Rede und den beiden Reden des Sokrates gegen Lysias haben diese philologischen und rhetorischen Exegeten Lysias, der als anerkannter Redner in diesen gelehrten Kreisen eine sehr hohe Reputation hatte, wegen seines schlichten, nüchternen und geschmackvollen Stils gelobt (auch sie betrachteten die Rede als seine authentischen Worte), und Platon bzw. Sokrates wegen seiner geschwollenen, geschmacklosen und allzu dichterischen Sprache getadelt.53 51 Vgl. epist. ad M. Caes. 1.3.9; 2.2.2; ad amic. 1.1.2. 52 Vgl. Richlin 2006, 34. 53 Hermeias von Alexandrien, in Phdr. 1.9 (S. 9,13–19 Couvr.): „... sodann sei sein Stil geschmacklos (apeirokaloi), überladen und bombastisch und allzu poetisch ...“ (Übers. Bernard 1997, 87–88); vgl. Männlein-Robert 2001, 399–406. Der Stilvergleich zwischen
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Durch den Verweis auf die handwerkliche Tätigkeit (epist. ad M. Caes. 3.9.1 compegisse, hier zum ersten Mal belegt für literarische Komposition: ein verbum insperatum et inopinatum!) nimmt Markus auf den bereits von Fronto erhaltenen Lysias-Brief Bezug und kommentiert den rhetorischen Prozess des Komponierens, wie Sokrates das im Phaedrus mit Hinsicht auf Lysias’ Rede tut. Denn, nachdem Phaedrus im platonischen Dialog die Rede des Lysias vorgetragen hatte, bewertet Sokrates den Erotikos logos des berühmten attischen Redenschreibers mit einer ähnlichen Wortwahl, indem er behauptet, dass das, was Lysias sagt, so selbstverständlich sei, dass er nicht für den Inhalt gelobt werden könne, sondern nur für die kunstvoll herausgearbeitete rhetorische Form (Plato, Phdr. 234e; 236a). Durch die programmatische Bezugnahme auf den Phaedrus, wo der Kontrast zwischen der formal ausgelegten, ausgefeilten Rhetorik des Lysias und der philosophischen Beredsamkeit des Sokrates im Mittelpunkt steht, reflektiert Markus über einen wichtigen Reibungspunkt zwischen ihm und Fronto. Hier wie in addit. epist. 7 identifiziert Markus Fronto mit Lysias, der, genauso wie Fronto, durch seine Reden eine hohe Berühmtheit erlangt hatte (Plat. Phdr. 228a). Markus unterstreicht diese Analogie zwischen Fronto und Lysias in addit. epist. 7.2: Nequeo reteiaclari, utra re magis caveam, quod de Lysia orator saeculi huius dogmam tulerit an quod magister meus de Platone. Ich kann keinen Wurf machen,54 in welchem der beiden Dinge ich vorsichtiger sein soll, in dem Lehrsatz, den der Redner dieses Jahrhunderts über Lysias vertritt oder in dem, den mein Lehrer über Platon vertritt.
Die kontrastierende Wahrnehmung von Sokrates und Lysias in der exegetischen Tradition im Hinblick auf ihren rhetorischen Stil scheint Markus in addit. epist. 7 performativ zum Ausdruck zu bringen und auf der stilistische Ebene auf seine Selbstdarstellung als ‚Sokrates‘ bzw. seine Darstellung von Fronto als ‚Lysias‘ zu übertragen. Mit Bravour verleiht er dieser Rolle Ausdruck mit einer klangreichen barocken Sprache, inklusive Alliterationen, Assonanzen, Wortwiederholungen (amabo; das Spiel mit magis – minus), Wortpaaren, Hendiadyoin, archaischen Nebenformen (sententieis, alieis) und einer auffallenden Wortwahl (erasten):55
Lysias und Platon/Sokrates anhand des Phaedrus steht vielleicht in einer von Hermogenes geprägten Tradition; vgl. Hermogenes, Id. 1 S. 297,9–24 und 1 S. 387,17–22 Rabe. Mark Aurel kannte und bewunderte Hermogenes; als Kaiser besuchte er seine Vorträge (vgl. Cassius Dio 71.1). 54 Auch mit dem Wort reteiaclari, einer Neuschöpfung, die an die lateinische Umgangssprache erinnert (vgl. van den Hout 1999, 559), und mit der plautinischen Konstruktion caveam mit Ablativ, zeigt Markus sich ‚frontonianischer als Fronto‘. 55 Die überlieferte Form erasten (die einzige Stelle in der lateinischen Literatur, wo die latinisierte Form erastes belegt ist, vgl. van den Hout 1999, 558) passt zu der Wahl der lateinischen Sprache in Markus’ Selbstpositionierung in Reaktion auf Frontos griechische Abhandlung (‚frontonianischer als Fronto‘). Mit dem ‚Code-switching‘ in „τῶν ἐρωµένων“ (addit. epist. 7.3) spielt er sowohl auf Frontos griechische Selbstdarstellung als auch an dessen kodierte Polemik gegen Herodes Atticus an.
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Wytse Keulen Age perge, quantum libet, comminare et argumentorum globis criminare: numquam tu tamen erasten tuum, me dico, depuleris; nec ego minus amare me Frontonem praedicabo minusque amabo, quo tu tam variis tamque vehementibus sententieis adprobaris minus amantibus magis opitulandum ac largiendum esse. Ego hercule te ita amore depereo neque deterreor isto tuo dogmate ac, si magis eris alieis non amantibus opportunus et promptus, ego tamen amabo atque usque amabo. Wohlan, fahre nur fort, soviel es dir gefällt, bedrohe mich und beschuldige mich mit einer Menge von Argumenten: niemals dürftest du dennoch damit deinen Liebhaber – mich meine ich damit – verscheuchen! Und nicht werde ich weniger verkündigen, dass ich Fronto liebhabe und nicht werde ich Fronto weniger lieben, nur weil du mit so verschiedenen und so starken Gedanken erwiesen hast, dass weniger Verliebten mehr beizustehen und zu gewähren sei. Ich, beim Herkules, gehe so aus Liebe zu dir zugrunde und ich werde keineswegs durch diesen, deinen Lehrsatz abgeschreckt und auch wenn du anderen, Nicht-Liebenden, mehr zugänglich und verfügbar bist, werde ich dich dennoch lieben und immer so fort lieben.
Markus zieht hier alle Register und stellt somit glänzend seine Vertrautheit mit Frontos Stilprogramm unter Beweis.56 Er setzt das rhetorische Prinzip der Angemessenheit (aptum) in die Praxis um, nach dem der sprachliche Stil dem einschlägigen Charakter des Sprechers, der Emotion und der Situation entsprechen soll:57 Dieses sprachliche Feuerwerk ist passend für die persona des Liebenden, der sein Gegenüber (hier: Fronto!) erstaunen und gewinnen will. In einem angemessenen Versuch, Frontos attische ‚Drohungen‘ zu parieren, versucht auch Markus, Fronto mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Er kontrastiert sein eigenes Sprachfeuerwerk, das die persona des Liebenden bzw. des Sokrates mit angemessener Unmäßigkeit abbildet, mit einem Lob auf Fronto als einen spitzfindigen attizistischen Redner, das entsprechend schlicht und knapp mit ausgewogenen Kola formuliert wird (addit. epist. 7.2): Ceterum quod ad sensuum densitatem, quod ad inventionis argutiam, quod ad aemulationis tuae felicitatem adtinet, nolo quicquam dicere te multo placentis illos sibi et provocantis Atticos antevenisse, ac tamen nequeo quin dicam. 56 Die Sprache erinnert mit ihren Anklängen an die Umgangssprache der Komödie (age, perge) auch an den Stil des Apuleius. Vgl. James Zetzel in seiner BMCR Rezension (26.07.2000) von van den Hout 1999: „... when he pulls out all the stops, he uses the Latin language as a gloriously baroque instrument and writes passages as astonishing as the best of his greater contemporary Apuleius“. 57 Aptum ist ein zentrales Prinzip in Frontos Stilprogramm, vgl. epist. ad M. Caes. 4.3.3; vgl. Keulen 2009, 59–62 mit Anm. 57 und 65.
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Im Übrigen, was die dichte Häufung der Ideen, was die Scharfsinnigkeit der Erfindung, was das glückliche Gelingen deiner Nachahmung betrifft, will ich eigentlich nichts darüber sagen, dass du jene selbstgefälligen und herausfordernden attischen Redner bei weitem übertroffen hast – und ich kann dennoch nicht umhin, es zu sagen.
Markus lobt Fronto in Hinsicht auf dessen dichte Reihung von spitzfindigen Argumenten, mit der er seine attizistischen Konkurrenten besiegen konnte, und stellt dieses Lob ebenso spitzfindig dar. Mit placentis illos sibi et provocantis Atticos spielt Markus insbesondere auf die griechischen Sophisten und Schauredner an, die in der Zeit der Zweiten Sophistik Erfolge feierten und den Ruf von Arroganz hatten (Markus beschreibt einen solchen Auftritt in epist. ad M. Caes. 2.11.2). Insbesondere der oben bereits erwähnte Sophist Herodes Atticus hatte als zentrale Figur der Zweiten Sophistik den Ruf, stolz und anmaßend zu sein.58 Markus evoziert hier ein Bild des Wettstreites, der als Kampf geistreicher Argumente zwischen Konkurrenten dargestellt wird – Markus bezieht aber auch selbst geistreich Position, indem er seine schlussendliche Überlegenheit unter Beweis stellt, weil er sich als Liebender über den Sieg und den rhetorischen Erfolg seiner Geliebten (τῶν ἐρωµένων: Plural!) freuen kann. Im Hinblick auf den bereits angedeuteten Konflikt zwischen Fronto und Herodes kann man den Verweis auf die „Geliebten“ durchaus als Anspielung auf seine beiden geliebten Rhetoriklehrer interpretieren. So behauptet Markus sich als unabhängige Autorität, die sich bemüht, seine rivalisierenden Freunde miteinander zu versöhnen.59 Markus’ Selbstzeichnung kann man mit einem Brief Frontos vergleichen (epist. ad M. Caes. 4.1), in dem dieser Markus als einen Orpheus lobt, der als verbindende, versöhnende Figur Konflikte in seinem Umfeld löst und seine Freunde nicht gegeneinander ausspielt. Wie wir in den Abschnitten 2.2. und 2.3. beobachten konnten, illustriert die Bezugnahme von Fronto und Mark Aurel auf den platonischen Phaedrus in ihrer Briefkette vor allem eine literarisierte Form der Philologie, die für eine besondere Form der Selbstinszenierung eingesetzt wird. In diesem Rahmen entwickelt sich die philologische und literaturkritische Auseinandersetzung mit dem Phaedrus in performativer Form zu einem literarischen Rollenspiel, in dem Fronto und Mark Aurel sich mit den Protagonisten Lysias und Sokrates identifizieren oder sogar ihre persona annehmen. Diese Rollenspiele schließen auch gelegentlich einen didaktischen, sprachlichen und erotischen Rollentausch ein: Sowohl Fronto als auch Markus versuchen sich gegenseitig mit den Waffen des anderen zu schlagen und thematisieren performativ zentrale Reibungspunkte in ihrem intellektuellen und freundschaftlichen Austausch.
58 Herodes ist der einzige, den Philostrat „Kaiser der Beredsamkeit“ nennt (βασιλέα τῶν λόγων, VS 2.10 p. 586; vgl. 2,17 p. 598). 59 Markus reagiert damit auf Frontos Verwendung der Begrifflichkeit des erastes und eromenos im Erotikos logos und in epist. ad M. Caes. 2.1, in denen Fronto seinen Konkurrenzkampf mit Herodes als Prinzenerzieher des jungen Prinzen austrägt (vgl. oben, Anm. 37 und 55).
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3.4. Markus’ Ehrung des Fronto: Der Freund als aufrichtiger Kritiker des Caesar Im letzten Abschnitt soll gezeigt werden, wie Markus mit einer Metapher, verbunden mit einer Anspielung auf Horaz, seine Freundschaft mit Fronto auf respektvolle Weise kommentiert und literarisch gestaltet: Er zeichnet eine ideale Freundschaft zwischen Herrscher und Intellektuellem. Markus verwendet im Brief 3.9 ein Bild, das das mühevolle Herausarbeiten eines literarischen Werkes beschreibt und indirekt den Kontext der beabsichtigten kritischen Gegenlektüre eines intellektuellen Freundes evoziert. Als Pendant zu Frontos Abhandlung, die ihn so beschäftigt, dass sein Schlaf und seine Gesundheit – und gleichzeitig auch seine rednerische Tätigkeit – darunter leiden, erwähnt Markus seine eigene Rede, die er demnächst als Caesar halten muss, und an der er schon tagelang so intensiv arbeitet, dass auch seine Hausaufgaben darunter leiden (3.9.3): Sed me Caesaris oratio unceis unguibus adtinet. Nunc denique sentio, quantum operis sit ternos vel quinos versus in die etornare et aliquid diu scribere. Aber mich hält meine Caesar-Rede mit kralligen Klauen fest. Nun erst merke ich, wie vieler Mühe es bedarf, je drei oder fünf Zeilen am Tag herauszudrechseln und etwas gründlicher zu schreiben.
Sicherlich spielt Markus hier auf die Gewohnheit an, seine Reden sehr gründlich auszuarbeiten, bevor er sie an Fronto schickt, der sie als sein ‚Aristarch‘ sprachlich und stilistisch überprüft. Markus, der Wortkünstler, prägt hier sogar ein neues Verb, extornare/etornare, ‚drechselnd abdrehen, herausdrechseln‘. Mit dem Bild der Drechselarbeit betont Markus erneut den handwerklichen Prozess der Entstehung eines literarischen Werkes, den er in diesem Brief bereits mit der innovativen Verwendung des Verbes compingere thematisiert hatte. Zum einen kommentiert er mit diesem Bild die mühevolle und intensive Arbeit, die die römische Beredsamkeit erfordert, ganz im Sinne von Frontos Programm (vgl. 3.9.3 quantum operis).60 Zum anderen stellt er damit wichtige intertextuelle Bezüge her, die das unterliegende Thema des philologischen und rhetorischen Kritikers beleuchten. Erstens verstärkt Markus mit der Drechsel-Metapher den im Brief bereits evozierten intertextuellen Bezug zum Anfang des platonischen Phaedrus, wo die Metapher zum ersten Mal auftaucht, und zwar dort, wo Sokrates einen Gegensatz herstellt zwischen den akribisch ausgefeilten einzelnen Wörtern von Lysias’ Rede, d. h. der rhetorischen Form der Rede einerseits und dem in Sokrates’ Augen nicht gerade weltbewegenden Inhalt andererseits: 60 Vgl. Fronto, epist. ad M. Caes. 2.2.3: Quicquid egregie umquam in eloquentia factum sit, te id perfecturum:Tanto ingenio es praeditus tantoque te studio exerces et labore, quom in aliis vel sine ingenio studium vel sine studio solum ingenium egregiam gloriam pepererit („Wenn jemals etwas Hervorragendes in der Beredsamkeit geleistet worden ist, dann wirst du das vollbringen: du bist mit so viel Talent begabt und du übst mit so viel Eifer und Mühe, während bei anderen entweder das Bemühen ohne Begabung oder allein Begabung ohne Fleiß vorzüglichen Ruhm hervorgebracht hat.“); 3.12.1 cum labore; 4.3.2 laborem studiumque et periculum verba industriosius quaerendi.
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Plato, Phdr. 234e: „Wieso? Soll auch insofern die Rede von mir und dir gelobt wird, als der Verfasser das Notwendige gesagt hat, und nicht nur in dem Sinne, dass die einzelnen Wörter deutlich und rund sind und peinlich genau abgedrechselt (σαφῆ καὶ στρογγύλα, καὶ ἀκριβῶς ἕκαστα τῶν ὀνοµάτων ἀποτετόρνευται)?“
Zweitens enthält das Bild des Drechselns (etornare) in Markus’ Brief programmatische Anspielungen auf das Ideal der ausgefeilten und ziselierten Sprache nach hellenistischem Muster – ein Ideal, das sowohl in der augusteischen als auch in der antoninischen Literatur seine Entsprechungen hatte.61 Durch das Bild wird zum einen die stilistische und rhetorische Vervollkommnung durch harte Arbeit und kritische Lektüre im Sinne des Aristarch evoziert und zum anderen ein kunstvoll geformter Stil angedeutet, der nicht bombastisch, gehoben oder erhaben sein soll. In diesem Zusammenhang finden wir die Drechsel-Metapher bei Properz, der sie in einem programmatischen Kontext verwendet, in dem auch Philetas und Callimachus erwähnt werden (Prop. 2.34.31–32 und 41–44).62 Den wichtigsten intertextuellen Bezug, den Markus mit der DrechselMetapher herstellt, ist der zu einem programmatischen Passus aus Horazens Ars Poetica, in dem thematisiert wird, dass ein Dichter ehrliche Kritik von einem aufrichtigen Kritiker braucht. Nur derjenige erweist sich als wahrer Freund, der in die Rolle des Homerkritikers Aristarch schlüpft und für den Freund ein aufrichtiger, strenger Kritiker ist (Horaz, Ars Poetica, 438–441; 445–452): Quintilio si quid recitares, „corrige sodes hoc“ aiebat „et hoc“; melius te posse negares, bis terque expertum frustra, delere iubebat et male tornatos incudi reddere versus. ... vir bonus et prudens versus reprendet inertis, culpabit duros, incomptis adlinet atrum transverso calamo signum, ambitiosa recidet ornamenta, parum claris lucem dare coget, arguet ambigue dictum, mutanda notabit, fiet Aristarchus: non dicet: „cur ego amicum offendam in nugis?“ hae nugae seria ducent in mala derisum semel exceptumque sinistre. Wenn Du Quintilius etwas vortrugst, so pflegte er zu sagen: „Bitte verbessere dieses und jenes!“ Und sprachst du, vergeblich habest du’s zwei- oder dreimal versucht, so riet er, die schlecht gedrechselten Verse zu streichen und nochmal auf den Amboss zu legen. ... Kluge und richtige Kritiker werden misslungene Verse tadeln, dich auf Härten hinweisen und flüchtige Stellen deutlich mit einem schwarzen Querstrich bezeichnen, den üppigen Zierrat beschneiden, auf Klarheit dringen, wenn irgendwo Zweifel bestehen, auf Schärfe doppeldeutiger Stellen und zeigen, wo Änderung nottut. Solche Kritik ist im Geist Aristarchs; der Kriti-
61 Vgl. Gellius, Noctes Atticae 9.8.4: sententiam ... detornatam inclusamque verbis his paucissimis. 62 Vgl. auch das stilistische Urteil über Callimachus’ Hecale in einem Epigramm des Dichters Crinagoras, der Zeitgenosse des Properz war: Anth. Pal. 9.545.1 Καλλιµάχου τὸ τορευτὸν ἔπος τόδε „Nimm hier das feinziselierte Gedicht, Kallimachos’ Schöpfung.“
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Wytse Keulen ker wird nicht sagen: „Soll ich den Freund mir verstimmen um nichts?“ Denn das Nichts bringt dem Freunde ernstlichen Schaden, wenn alle ihn plötzlich belächeln und abtun.
Die intertextuelle Anspielung auf Horaz und das Bild der Drechselarbeit beleuchten und gestalten in Markus’ Brief das Bild der idealen Freundschaft zwischen Prinz und Prinzenerzieher. Er würdigt damit Frontos besondere Stellung als eines authentischen und zuverlässigen Freundes, der dem Prinzen ganz nah steht. Die Selbstpositionierung als aufrichtiger Freund, der die Wahrheit spricht und nicht zur Schar der unzuverlässigen Schmeichler gehört, ist ein wiederkehrendes Thema in Frontos Korrespondenz mit Mark Aurel.63 Insbesondere thematisiert Fronto diesen Gegensatz in seinem Erotikos logos, wo er sich mit dem Nicht-Liebenden identifiziert. Er positioniert sich damit demonstrativ seinem Schüler gegenüber als eine objektive, unabhängige Autorität, die, im Gegensatz zu von Ehrgeiz getriebenen Hofschmeichlern, dem jungen Prinzen Vorteil, Ruhm und Erfolg bringen und in die richtige Richtung führen wird. Mit der Anspielung auf Aristarch als philologischen Kritiker erweist Markus Fronto besonderen Respekt als seinem zuverlässigen Lehrer, der ihm die eloquentia Caesaris beibringt:64 Fronto setzt mit seinen Sprachkunstwerken neue Maßstäbe, die die berühmtesten Maler, Bildhauer und Redner verblassen lassen.65 Nur im Dialog mit Fronto kann Markus in seiner öffentlichen Rolle als Caesar ein summus orator werden. In seinem Unterricht lässt Fronto aber auch Verhaltenslehre und Herrschaftsethik mit einfließen: In seinen lateinischen Briefen dankt Mark Aurel (der wegen seiner Wahrheitsliebe den Spitznamen Verissimus hatte) Fronto mehrmals dafür, dass dieser ihn lehrt, die Wahrheit zu sprechen;66 in seinen griechischen Selbstbetrachtungen dafür, dass dieser ihn gelehrt habe, die Angehörigen
63 Vgl. z. B. Fronto, epist. ad M. Caes. 1.3; 3.16; Aur. epist. ad M. Caes. 2.8.1. 64 Vgl. epist. ad M. Caes. 3.1 und dazu Keulen 2014. 65 Vgl. epist. ad M. Caes. 2.6: Facilius quis Phidian, facilius Apellen, facilius denique ipsum Demosthenen imitatus fuerit aut ipsum Catonem quam hoc tam effectum et elaboratum opus. Nihil ego umquam cultius, nihil antiquius, nihil conditius, nihil Latinius legi. O te hominem beatum hac eloquentia praeditum! O me hominem beatum huic magistro traditum! „Man könnte leichter Phidias, leichter Apelles, sogar leichter Demosthenes selbst oder Cato selbst nachahmen als dieses so vollkommene und herausgeputzte Werk. Ich habe noch nie etwas gelesen, das so gepflegt, so altehrwürdig, so gewürzt, so lateinisch ist. Oh du glücklicher Mensch, der du mit dieser Redegewandtheit begabt bist! Oh ich glücklicher Mensch, der ich in den Händen dieses Lehrers bin!“. 66 Epist. ad M. Caes. 3.13.1: quod verum dicere ex te disco („dass ich von dir lerne, wahrhaftig zu sprechen“); 3.19: non sum tam ingratus, ut non intellegam, quid mihi praestiteris, quom ... non desinis in viam me veram inducere et oculos aperire („Ich bin nicht so undankbar, dass ich nicht erkenne, was du für mich getan hast, wenn [...] du nicht damit aufhörst, mich auf den wahren Weg zu führen und mir die Augen zu öffnen [...].“). Vgl. auch Lucius Verus, epist. ad Ver. Imp. 1.1.2: simulare Lucium quicquam adversum Frontonem, a quo ego prius multo simplicitatem verumque amorem quam loquendi polite disciplinam didicisse me praedico („schon die Idee, dass Lucius sich in irgendetwas gegenüber Fronto verstelle, von dem ich behaupten kann, dass ich von ihm vielmehr Aufrichtigkeit und wahrhaftige Liebe als die Kunst des schönen Redens gelernt habe“).
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der römischen Oberschicht richtig einzuschätzen und die Verstellungskunst der Tyrannen von der Aufrichtigkeit eines guten Herrschers zu unterscheiden.67 4. FAZIT In ihrem Briefwechsel setzen Fronto und Mark Aurel die Philologie in literarisierter Form performativ für eine mehrschichtige Freundschaftsinzenierung und Bildungsinszenierung ein, die dem Zeitgeist des 2. Jahrhunderts entsprechen. Als Analogien für die Inszenierung ihrer Bildung habe ich zwei hellenistische Gelehrte vorgestellt, den Wortforscher und Prinzenerzieher Philetas und den philologischen Kritiker Aristarch. Diese Gelehrte entsprechen jeweils zwei Ebenen, auf denen Fronto und Markus die Gattung ‚Brief‘ verwenden, um ihre Bildung und ihre Freundschaft publikumswirksam zu inszenieren: eine Selbstdarstellungsebene und eine Interaktionsebene. Die erste Ebene (Abschnitt 1) betrifft den Brief als Medium der Selbstdarstellung als exemplum von Sprachgewandtheit. Auf dieser Ebene erfolgt eine überwiegend asymmetrische Darstellung der Beziehung zwischen Fronto und Markus als Prinzenerzieher und Prinzen. Zum einen setzt die Korrespondenz Fronto als Koryphäe der lateinischen Sprache (wie etwa ein ‚Philetas‘ als Typus des Sprachforschers und Prinzenerziehers) ein einmaliges literarisches Denkmal. Zum anderen kreiert und bedient der Briefwechsel ein neues Herrscherbild: das Bild des zugänglichen, hochgebildeten Prinzen, der mit dem berühmtesten Redner seiner Zeit nicht nur vertrauten Umgang pflegt, sondern auch von ihm zum summus orator et imperator ausgebildet wird. Markus stellt sich als Frontos wichtigster ‚claim-to-fame‘ heraus, weil er Frontos Stilideal der elegantia so glänzend umsetzt. Die zweite Ebene (Abschnitt 2) betrifft die Verwendung des Briefes als Interaktion, als lebhaften Dialog. Für ihre Leserschaft versuchen der Senator und der Prinz ihr Verhältnis zwar als eine ebenbürtige Beziehung zwischen gebildeten Freunden darzustellen, die sich bei ihren literarischen Tätigkeiten als aufrichtige, offene Kritiker (‚Aristarchi‘) gegenseitig unterstützen und herausfordern. Bei näherer Betrachtung wird der philologische Austausch über ‚work in progress‘ jedoch zum Spiegel der komplexen Beziehung der Korrespondenten, wobei auch Reibungen und Konflikte thematisiert werden. Fronto und Mark Aurel spielen häufig zwischen den Zeilen oder auch auf explizitere Weise auf ihre gegensätzlichen intellektuellen Interessen an. Fronto vermittelt ein römisches Universalprogramm, in dem die eloquentia eine alles übergreifende Bildung darstellt, die auch die Philosophie umfasst. Mark Aurel dagegen zeichnet sich durch seine ausgesprochene Vorliebe für die griechische Sprache und die (stoische) Philosophie aus (vgl. seine späteren Selbstbetrachtungen). Es würde zu weit gehen, dabei von ei67 Mark Aurel, Selbstbetrachtungen I 11: „Durch Fronto wurde ich belehrt, dass mit der Willkürherrschaft Neid, Ränkesucht und Verstellungskunst verknüpft sind und wie wenig Menschenliebe diejenigen im Herzen tragen, die wir Patrizier nennen.“
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nem Konflikt oder einem Bruch auszugehen, wie frühere Gelehrte das gemacht haben.68 Vielmehr verwenden Fronto und Mark Aurel ihre Briefe als literarisches Medium, um einen intellektuellen Austausch publikumswirksam zu inszenieren und somit ein Idealbild eines römischen intellektuellen Lebensstils zu zeichnen.69 Als Teil ihres intellektuellen Austausches bringen die Korrespondenten auch ihre unterschiedlichen Positionen zu brisanten politischen Themen und kontroversen Personen zum Ausdruck, wie das Beispiel von Herodes Atticus gezeigt hat. In den hier untersuchten Briefen kann man beobachten, wie bei Fronto und Mark Aurel die Philologie in literarisierter Form in einem Austarieren und Verhandeln verschiedener Formen der Macht und Autorität eingesetzt wird, zum Beispiel durch ihre Bezugnahme auf den platonischen Phaedrus. Die philologische und literarkritische Auseinandersetzung mit griechischen und lateinischen Texten kann sich sogar performativ mit einem inszenierten Rollenspiel verknüpfen, in dem die Korrespondenten sich mit dem Charakter und sprachlichen Stil literarischer personae (etwa Lysias und Sokrates) identifizieren und diese Rollen in einem vor Energie sprühenden und provokanten Schlagabtausch einsetzen. In diesem Schlagabtausch kann auch Mark Aurel sich mit Witz, Humor und Esprit behaupten, indem er den Spieß umdreht und die Sprachkoryphäe Fronto mit dessen eigenen Waffen schlägt. In Markus’ Bemerkung über seine Anstrengungen, eine ausgefeilte Rede zu produzieren, die Frontos Stilprogramm entsprechen würde (epist. ad M. Caes. 3.9.3), finden wir eine programmatische Anspielung auf Horazens Ars poetica, wo Aristarch als Urbild des strengen wie aufrichtigen Kritikers erwähnt wird. Hier gestalten die literarische Freundschaft und der philologische Austausch ein Idealbild der Beziehung zwischen Prinz und Prinzenerzieher. Die Bedeutung des philologischen Austausches geht über die bloße Vorbereitung einer Veröffentlichung hinaus: wie Gurd 2012 zeigt, ist das Teilen von ‚work in progress‘ und die literarische Überarbeitung von Reden, Briefen und Versen eine Praxis des gesellschaftlichen Austausches, mit der die römische Elite auf ihren sozialen und politischen Kontext reagiert und damit interagiert. Gerade die Briefgattung ist für römische Autoren der literarische Ort par excellence für solche Überlegungen über den Prozess des Schreibens.70 Auch der philologische Austausch zwischen dem Senator Fronto und dem Prinzen Markus entpuppt sich als literarischer Schauplatz, an dem die in der politischen Ordnung festgelegten Rollen und Autoritätsansprüche neu überdacht und gestaltet werden. Somit stellt
68 Kasulke 2005 widerlegt überzeugend die traditionelle Sichtweise, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt eine Bekehrung Mark Aurels zur Philosophie gegeben habe (wie Görgemanns 1991 behauptet), die zu einem Bruch in der Beziehung zwischen Fronto und Mark Aurel geführt habe. 69 In seiner Analyse der Widmung zu Plutarchs De E apud Delphos beobachtet Thum 2013, 42– 47 auf ähnliche Weise eine literarische Darstellung eines intellektuellen Austausches zwischen Plutarch und Sarapion, während sich lange die Interpretation gehalten hat, Plutarch wolle Sarapion zur wahren Lehre bekehren. 70 Vgl. Gurd 2012, 127–128.
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dieser Dialog in Briefform die politische Beziehung zwischen Herrscher und Aristokrat in der antoninischen Zeit auf eine neue Basis.71 BIBLIOGRAPHIE Altman 1982, J.G., Epistolarity: Approaches to a Genre, Columbus. Bernard 1997, H., Hermeias von Alexandrien, Kommentar zu Platons „Phaidros“. Übersetzt und eingeleitet von Hildegund Bernard, Tübingen (Philosophische Untersuchungen, 1). Birley 1968, A., Mark Aurel. Kaiser und Philosoph, München. Borg 2004, B. (Hg.), Paideia: The World of the Second Sophistic, Berlin. Bowersock 1969, G., Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford. Cameron 1991, A., How thin was Philitas?, CQ 85, 534–538. Casson 2001, L., Libraries in the ancient world, New Haven. Champlin 1980, E., Fronto and Antonine Rome, Cambridge Mass./London. Creese 2007, M., Letters to the Emperor: Epistolarity and Power Relations from Cicero to Symmachus, PhD Diss. University of St. Andrews (unveröffentlicht). Davenport, C./Manley, J. 2014, Fronto. Selected Letters, London/New York. Dominik 1997, W.J. (Hrsg.), Roman eloquence. Rhetoric in society and literature, London/ New York. Fleury 2006, P., Lectures de Fronton. Un rhéteur latin à l’époque de la Seconde Sophistique, Paris (Collection d’études anciennes, Série latine, 64). Fleury 2011, P., L’orateur oracle: une image sophistique, in: T. Schmidt/P. Fleury (Hg.), Perceptions of the Second Sophistic and its Times. Regards sur la Seconde Sophistique et son époque, Toronto (Phoenix Supplementary Series, 49), 65–75. Freisenbruch 2007, A., Back to Fronto: Doctor and Patient in his Correspondence with an Emperor, in: Morello/Morrison 2007, 235–255. Gärtner 1983, H., Ein Kronprinz und sein Lehrer: Marc Aurel in seiner Korrespondenz mit Fronto, in: P. Neukam (Hg.), Struktur und Gehalt, München, 25–49. Galimberti Biffino 2011, G., L’elegantia chez Fronton: raffinement de l’architecture de la phrase et du choix des mots, in: M. Baratin (Hg.), Stylus: La parole dans ses formes. Mélanges en l’honneur du professeur Jacqueline Dangel, Paris, 215–226. Görgemanns 1991, H., ‚Der Bekehrungsbrief Marc Aurels’, RhM 134, 96–109. Gurd 2012, S.A., Work in progress: literary revision as social performance in ancient Rome, Oxford. Henderson 2002, J., Pliny’s Statue. The Letters, Self-Portraiture and Classical Art, Exeter. Hoepfner 2002, W. (Hg.), Antike Bibliotheken, Mainz. Holford-Strevens, L./Vardi, A. 2004 (Hgg.), The Worlds of Aulus Gellius, Oxford. Hunter 2006, R., The Shadow of Callimachus, Cambridge. Johnson 2000, W.A., Readers and Reading in the High Roman Empire, Oxford. Jones 2015, C.P., Five Letters attributed to Dio of Prusa, CPh 110.2, 124–131. Kasulke 2005, Chr. T., Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jh. n. Chr., München/Leipzig. Keulen 2009, W.H., Gellius the Satirist. Roman Cultural Authority in Attic Nights, Leiden/Boston (Mnemosyne Supplements, 297). Keulen 2014, W.H., Fronto and Apuleius. Two African Careers in the Roman Empire, in: B.T. Lee/E. Finkelpearl/L. Graverini (Hgg.), Apuleius and Africa, New York (Routledge Monographs in Classical Studies, 18), 129–153.
71 Vgl. Roller 2001; oben, Anm. 10.
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DER SOPHIST ALS PHILOLOGE. INSZENIERUNG UND INSTRUMENTALISIERUNG DER GRAMMATICA IN APULEIUSʼ REDE PRO SE DE MAGIA Ute Tischer Die Verteidigungsrede des Apuleius gegen den Vorwurf der Magie gilt als die einzige erhaltene kaiserzeitliche Gerichtsrede und stellt in vielerlei Hinsicht einen singulären Text dar. Auch die folgenden Überlegungen sind einem Thema gewidmet, das für eine forensische Rede ungewöhnlich erscheinen mag, nämlich der Rolle der Philologie (grammatica) als Teil der rhetorischen Strategie und Mittel der Selbstinszenierung des Redners. Dafür ist zunächst kurz etwas zur Bedeutung der Philologie im 2. Jahrhundert und zu den möglichen Kommunikationszielen der Rede zu sagen. Danach werde ich an einigen Beispielen zu zeigen versuchen, wie und mit welcher Wirkung Apuleius bei seiner Verteidigung „philologisch“ argumentiert. Ein wichtiger Effekt, den er dabei erzielt, ist die Herabsetzung der Anklagepartei als philologische Ignoranten. Ein abschließender Vergleich mit den Noctes Atticae des Aulus Gellius soll verdeutlichen, dass es dabei um mehr geht als um eine raffinierte Verteidigungsstrategie und Polemik gegen den juristischen Gegner. 1. GRAMMATICA: PHILOLOGIE UND BILDUNG IM 2. JAHRHUNDERT Apuleius aus Madauros, der Verfasser der Rede, gilt als römisch-lateinischer Vertreter einer intellektuellen Strömung des 2. Jahrhunderts n. Chr., die unter dem Label „Zweite Sophistik“ bekannt ist. Deren hervorstechendstes Merkmal ist der Rekurs auf Bildung, durch den ihre Exponenten ihren Anspruch auf Zugehörigkeit zur kulturellen und sozialen Elite formulieren.1 Es handelt sich dabei um eine dezidiert sprachliche, literarische und rhetorische Bildung,2 die ihre Grundlage im System der „Grammatik“ (grammatica) hatte, durch die sich insbesondere im lateinischsprachigen Westen das philologische Erbe der Alexandriner und Pergamener fortsetzte. Weit über das hinausgehend, was man heute unter „Grammatik“ versteht, definierte man die grammatica als recte loquendi scientia et poetarum enarratio, so beispielsweise Quintilian (Inst. 1.4.2). „Grammatik“ in diesem Sinne 1 2
Riess 2008a, IX–XI; Schmitz 1997; Helm 1995; und bes. Sandy 1997 und Harrison 2000, bes. 86–88. Vgl. Whitmarsh 2004, bes. 90–130; Johnson 2010, 200–207.
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bedeutete also nicht nur die Beschäftigung mit linguistischen Fragen, sondern ebenso Realienerklärung, Interpretation und Literaturkritik. Beide Gebiete, das deskriptive und präskriptive Sprachstudium und die Dichtererklärung, machten einen großen Teil des schulischen Curriculums aus, das der Römer im 2. Jahrhundert durchlief.3 Als grammatica oder einfach litterae gehörten philologisches Wissen, philologische Methoden und gewissermaßen auch philologisches Denken nicht nur zum Repertoire des Sophisten, sondern zum kulturellen Wissensbestand des gebildeten Römers. Zwischen diesen Polen von Elementarbildung und Spezialistentum sind auch die Figurationen des „Philologen“ zu lokalisieren: Man begegnet ihm als Lehrer für ein bestimmtes, umgrenztes Schulfach, der in den Umgang mit Sprache und Literatur einführt, als verehrtem Experten für lexikalische Fragen und Realien der Dichtererklärung und schließlich als virtuosem Allrounder, dem seine umfassende Sprachbeherrschung Zugang zu allen Wissensgebieten verschafft hat und der sich deshalb lieber als philosophus bezeichnet. Durch die Verquickung von Bildung mit sozialer Distinktion ist das zweite Jahrhundert jedoch auch eine Zeit der Bildungsostentation und Bildungskonkurrenz. Die Frage, wer als Gebildeter gelten kann und wer nicht, wird in den erhaltenen Texten in den verschiedensten Situationen von Invektive und Verteidigung thematisiert und verhandelt. Häufige Argumente in diesen Auseinandersetzungen bilden Sprache und Literatur und damit verbunden auch philologische Methoden und die Ergebnisse philologischer Forschungen. Prägnante Beispiele für solche literarische Inszenierungen der Philologie sind die Karikaturen, die Lukian von Bildungsaufsteigern zeichnet,4 oder, auf römischem Gebiet, die Noctes Atticae des Aulus Gellius, eine Sammlung von Kurzessays, in denen grammatischphilologische Bildung gleichsam als Lebensform des Intellektuellen präsentiert wird.5 Auch die Verteidigungsrede des Apuleius gegen den Vorwurf der Magie greift Elemente aus diesem Diskurs auf. Da sie sich jedoch als echte Rede und damit als quasi „faktualer“ Text präsentiert, erscheinen die philologischen Argumente hier in einem unmittelbar praktischen Zusammenhang, der ihnen eine ganz originelle und eigene Aktualität verleiht. 2. DE MAGIA ALS GERICHTSREDE UND LITERARISCHES KUNSTWERK Über die Streitfrage und die Umstände, unter denen die Rede Pro se de magia gehalten wurde, informiert uns allein der Text. Nach dessen Angaben bezieht sie 3
4 5
Zur Definition der grammatica und den Eigenarten der römischen Grammatik vgl. Irvine 1994, 39–55; Ax 2011, 94–96 und Seppänen 2014, 104–205; zum grammatischen Teil des römischen Curriculums Bonner 1977, 163–249. So beispielsweise in den Schriften Adversus indoctum lectorem, Pseudosophistes und Pseudologistes. Zu den von Lukian kritisierten Gestalten vgl. Jones 1986, 101–116. Auf die Nähe zwischen der Figur des Apuleius in der Apologia und Gelliusʼ Noctes Atticae macht u. a. Bradley 1997, 213 aufmerksam. Zur „philologischen Lebensform“ in den Noctes Atticae vgl. bes. Johnson 2010, 98–136 sowie allgemein Holford-Strevens 2003.
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sich auf einen Prozess, der im Jahr 158/159 im nordafrikanischen Sabratha stattgefunden haben soll. Der Sprecher, der sich Apuleius nennt, verteidigt sich damit gegen den Vorwurf, er habe eine lange verwitwete reiche ältere Dame namens Pudentilla durch magische Praktiken zur Ehe bewegt, um sich in den Besitz der Mitgift zu bringen. Ankläger sind einige Familienmitglieder der Pudentilla, und ihre Taktik scheint nach der Darstellung des Sprechers darin bestanden zu haben, ihn als Scharlatan und Zauberer hinzustellen, der sich zum Schein als Philosoph ausgebe. Ob dieser Prozess tatsächlich stattgefunden hat und wenn ja, inwiefern die uns erhaltene publizierte Rede das wiedergibt, was Apuleius in dieser Situation tatsächlich gesagt hat, wurde sehr verschieden beurteilt.6 Im Unterschied zu anderen sophistischen Verteidigungsreden weist seine Apologia keinen Rahmen auf, durch den die zahlreichen real anmutenden Namen und Angaben fiktionalisiert würden,7 und gerade in jüngster Zeit betonen mehrere Untersuchungen, dass sie äußerst effektiv auf tatsächlich bedrohliche Vorwürfe reagiere und es gerade ihre scheinbar rein literarischen und gelehrten Züge seien, die im Rahmen der Verteidigungsstrategie eingesetzt würden.8 Andererseits hat man vieles an ihr als Indizien für Fiktionalität gedeutet, so vor allem die große Dichte an Zitaten und gelehrten Exkursen, ihren allusiven Charakter und intertextuelle Verweise, die, wenn man sie verfolgt, subtile Ironie erkennen lassen.9 Mit Blick auf die für Cicero und Plinius bezeugte Praxis nimmt man daher heute zumeist an, dass Apuleius die Rede zwar gehalten, aber nachträglich für die Publikation überarbeitet hat.10 Ist dies richtig, würde es bedeuten, dass er an ein bestimmtes faktisches Grundgerüst gebunden gewesen wäre, etwa was die von den Gegnern erhobenen Anklagepunkte, die Prozessbeteiligten und die geschilderte Familiensituation angeht. Bei der Präsentation und Ausgestaltung der Argumentation ist dann jedoch auch in Anschlag zu bringen, dass sich mit der VerDie Historizität der Apologie, mindestens aber ihre starke Verankerung in konkreten soziohistorischen Kontexten setzen u. a. Abt 1908, 1–14; Hijmans 1994, bes. 1719; Bradley 1997; Deremetz 2004, 210; Pelecchi 2012; Noreña 2014, 42–4 und Kehoe/Vervaet 2015 voraus. Große Widersprüche und Probleme, u. a. im Hinblick auf die implizierte Rechtsfrage, sehen aber Riemer 2006 und Taylor 2011. 7 So wird die in vielen Punkten, u. a. dem Magievorwurf, ähnliche Rede des Sophisten Apollonius bei Philostrat (VA 8.7) durch einen Erzähler berichtet und ausdrücklich als eine nicht gehaltene Rede bezeichnet (VA 8.6), vgl. Schirren 2005, 38–50; in Lukians Apologie imaginiert der Sprecher die Anklagerede eines Freundes, auf die er antwortet (Luc. Apol. 2; 8). Augustinus, der einzige uns bekannte antike Leser der Apologia des Apuleius, hat sie als echte Gerichtsrede verstanden, vgl. August. C.D. 8.19.35; ep. 138.9 sowie Schenk 2002, 42. 8 Zu nennen sind hier insbesondere Schenk 2002, bes. 29–30; Rives 2008; Fletcher 2009 und Noreña 2014. 9 Die wichtigsten Indizien für Fiktionalität listet Schindel 1996 auf; zusammenfassend zur Fiktionalitätsfrage Binternagel 2008, 9–16; zur Ironie vgl. bes. Keulen 2004. Befürworter einer Deutung der Apologie als primär literarischen Texts sind daneben auch Sallmann 1995; McCreight 1990 und Hunink 1997, 1, 24–27. 10 Von einer mehr oder weniger starken Überarbeitung oder der Irrelevanz dieser Fragestellung gehen Schindel 1996, 13–15; Harrison 2000, 42; Schenk 2002, 39–43 und May 2006 aus. 6
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öffentlichung das Publikum und die Kommunikationsziele geändert haben, auf die sich der Text ausrichtet. Der innere Kommunikationsrahmen spiegelt dann noch immer die ursprüngliche Redesituation wider, in der ein bestimmter Richter in einer möglicherweise für den Angeklagten äußerst gefährlichen Situation überzeugt und mit rhetorischen Mitteln überrumpelt werden musste. Hinzu kommt jetzt aber eine äußere, literarische Kommunikation mit einem gelehrten, rhetorisch geschulten Lesepublikum als Adressaten.11 In einer solchen Situation besteht das Kommunikationsziel nicht mehr darin, von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen, sondern dem Leser, der die raffinierte Textur der Argumentation verfolgt, Belehrung und Vergnügen auf höchstem Niveau zu verschaffen und sich damit als „Autor“ zu präsentieren. Dazu gehört einerseits natürlich, dass diese Argumentation im Hinblick auf den Erfolg des Prozesses effektiv erscheint, andererseits aber auch ihre Literarisierung, die Anbindung an das geistige und literarische Universum des gebildeten Lesers. Mehrere neuere Untersuchungen beschäftigen sich mit literarischen Stilisierungen der Apologie und ihren Funktionen im Rahmen der „inneren“ Kommunikation des Textes. Dazu gehört beispielsweise die Art, wie die Beteiligten als Komödienpersonal12 und der Sprecher selbst als zweiter Sokrates gezeichnet sind,13 deutliche Bezüge zu Cicero (besonders auf Pro Caelio, Pro Cluentio und Pro Archia)14 und eine „Platonisierung“ im Dienste philosophischer Protreptik.15 Auch die in der Rede zu beobachtende „Philologisierung“, der Einsatz von Argumentationstechniken, die aus dem Repertoire der grammatica stammen, wurde einleuchtend als eine solche Stilisierung im Interesse der Verteidigung interpretiert.16 Die „äußere“ Kommunikation, die sich an ein lesendes Publikum richtet und über den ursprünglichen Anlass der Rede weit hinausreicht, sollte dabei jedoch nicht aus dem Blick geraten. Liest man die Apologie nämlich als literarischen Text, rückt sie in die Nähe zu anderen zeitgenössischen Werken, die nicht so dezidiert die Anbindung an eine konkrete Situation behaupten. Für den „grammatischen“ Diskurs, um den es hier gehen soll, ist es vor allem der ebenfalls lateinisch schreibende Zeitgenosse Aulus Gellius, der instruktive Parallelen eröffnet und mit 11 Zu den unterschiedlichen Adressaten und Kommunikationszielen, die ein Redner im Auge hat, wenn er eine gehaltene Rede veröffentlicht, vgl. die instruktive Darstellung von Eich 2000, 159–240, bes. 194. 12 May 2006, 73–108; Hunink 1998a, 102–112. Hunink 2006, 33–37 hebt dagegen auch die „tragischen“ Elemente der Apologie hervor. 13 Schindel 2000; Harrison 2000, 43; Schenk 2002, 54–56; Deremetz 2004, 221–222; Riess 2008b. 14 Sallmann 1995, 148. Zu Apuleiusʼ Selbststilisierung als „afrikanischer Cicero“ vgl. auch Keulen 2014. 15 Fletcher 2009; May 2010. 16 Rives 2008, der die Zurschaustellung philologischer Methoden als Strategie ansieht, um suspekte philosophische Beschäftigungen als harmlos und sozial akzeptabel darzustellen, sowie Noreña 2014, der zeigt, wie der Sprecher Apuleius im Lauf der Rede für sich eine „philologische“ Identität als kompetenter Textausleger konstruiert, um so dem gefährlichen Zeugnis der Briefe im letzten Teil der Rede begegnen zu können.
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dessen Hilfe sich die Motive und Aussageabsichten beleuchten lassen, die Apuleius auf dieser Ebene verfolgt. 3. DER AUFBAU DER REDE Apuleius organisiert seine Argumentation in De magia in drei großen Beweisgängen (refutationes).17 Im ersten Teil (Apol. 4–25.4) bespricht er Punkte, die angeblich nicht zur Sache selbst gehören, sondern nur als Schmähungen gegen ihn vorgebracht worden seien (Apol. 3.6). Hierzu gehört unter anderem der Vorwurf, schön, redekundig und ein Philosoph zu sein und erotische Gedichte verfasst zu haben. In einem zweiten Beweisgang (Apol. 25.5–65) wendet er sich dann den Magievorwürfen zu, allerdings, wie er behauptet, ebenfalls zunächst nur solchen, die nicht die Sache selbst, die Verzauberung der Pudentilla, beträfen, sondern lediglich aus Missgunst erregt worden seien (Apol. 25.5). Einer der hier genannten Anklagepunkte ist unter anderem die Suche, der Kauf und das Sezieren seltener Fische mit obszönen Namen. Erst im letzten Drittel der langen Rede (Apol. 66– 101) geht es um die Sache selbst, die angebliche Verzauberung der Pudentilla mit dem Ziel, durch eine Heirat an eine üppige Mitgift zu kommen (Apol. 66.1; 90.1). Als Hauptbeweis der Anklage behandelt der Sprecher hier ein Briefzitat seiner Gattin, in dem sie selbst behaupte, Apuleius sei ein Magier und habe sie verzaubert. 4. EXORDIUM: PHILOSOPHIE UND PHILOLOGIE (APOL. 3) Bevor der Sprecher mit seiner Argumentation beginnt, kündigt er an, er werde in seiner Person die Philosophie selbst verteidigen müssen, denn die Ankläger hätten ihn, mit den üblichen Argumenten ungebildeter Laien, als Philosophen angegriffen: sustineo enim non modo meam, uerum etiam philosophiae defensionem, (...) propter quod paulo prius patroni Aemiliani multa in me proprie conficta et alia communiter in philosophos sueta ab imperitis mercennaria loquacitate effutierunt. (Apol. 3.5–7) Ich unternehme ja nicht nur meine eigene Verteidigung, sondern auch die der Philosophie, (...) weil die Anwälte des Aemilianus hier eben vieles gegen mich selbst, anderes auch gegen die Philosophen im Allgemeinen Ersonnene, wie man es von Ungebildeten gewohnt ist, mit käuflicher Plapperzunge dahergeschwatzt haben.18
Damit zeichnen sich bereits hier, im exordium der Rede, zwei wiederkehrende Strategien des Sprechers ab. Die eine besteht in der Diffamierung der Gegenpartei
17 Zum Aufbau der Rede vgl. Schenk 2002, 26–30. 18 Der Text folgt hier und im Folgenden der Edition von Helm 21959, wobei für die Stellenangaben die feinere Unterteilung von Hunink 1997 verwendet wird; die Übersetzungen stammen von der Verf., mit Anlehnung an Hammerstaedt 2002.
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als Lügner, Ungebildete und Schwätzer.19 Die andere beruht auf der Behauptung, die eigene Person und die eigenen Tätigkeiten seien durch ein „höheres Ziel“, eben die „Philosophie“, motiviert. In der Tat wird das Thema Philosophie beständig ventiliert – in der ersten Hälfte der Rede kommen die Wörter philosophia und philosophus statistisch fast auf jeder Seite einmal vor.20 Schon bald aber offenbart sich, dass die Beschäftigung, der sich der Sprecher widmet, nicht (nur) die Philosophie ist, sondern der labor litteratus (Apol. 4.5) und die studia litterarum (Apol. 5.1). Ihnen hat er nach eigenem Bekenntnis seit seiner Jugend Gesundheit und Schönheit geopfert, unter Verzicht auf alle sonstigen Freuden.21 Der Lohn der studia ist eloquentia, virtuose Redekunst, und diese versetzt ihn in die Lage, auch durchaus gefährliche Vorwürfe mit überlegener Pose zu entschärfen. Die Apologie wird somit auch zu einem Testfall für den praktischen Nutzen der litterae, wie der Sprecher an einer späteren Stelle bemerkt: cedo enim experiamur, an et mihi possint in iudicio litterae meae prodesse. (Apol. 37.4) Probieren wir also aus, ob nicht auch mir meine Studien vor Gericht nützlich sein können!
Litterae, „literarische Bildung“, lernt man beim grammaticus. Auch Quintilian, der der grammatica in seiner Institutio oratoria mehrere Kapitel widmet, sieht in ihr nicht nur das Fundament der rhetorischen Bildung, sondern betont ihre Verbindung zu anderen Studienfächern, besonders auch zur Philosophie (Quint. Inst. 1.4.4–5). Mehr stecke in ihr, als man glaubt, und keiner möge sie als nebensächlich verachten (Inst. 1.4.2; 6). Richtiges Schreiben, richtiges Sprechen, fehlerfreies Lesen, die Kunst der Interpretation und kritisches Urteilsvermögen sind die Fähigkeiten, die sie vermittelt und deren Erwerb Quintilian ganz an den Anfang des Bildungsgangs setzt.22
19 Zur Invektive als literarisch-rhetorischer Strategie in der Apologie vgl. McCreight 1990 und Hertz 2010. Kehoe/Vervaet 2015 halten die Erniedrigung der Gegner sogar für das eigentliche Ziel der Apologia. 20 Gerechnet auf die 114 Textseiten der Teubneriana von Helm 21959. Insgesamt gibt es 56 Vorkommen von philosophus/philosophia, davon erscheinen 51 bis Kap. 53 = p. 60 Helm. Ab Kap. 54, also etwa mit dem Beginn der Behandlung von Leinentuch und nächtlichem Ritual, treten diese Begriffe zurück; im Zusammenhang mit der Merkurstatue tritt dafür der Name Platons ein; in der dritten Refutatio (79–101) dagegen fehlt dieses Wortfeld fast ganz, und erst in der abschließenden Peroratio (102–3) kommt es noch einmal zur Geltung. 21 Apol. 5.1: De eloquentia uero, si qua mihi fuisset, neque mirum neque inuidiosum deberet uideri, si ab ineunte aeuo unis studiis litterarum ex summis uiribus deditus omnibus aliis spretis uoluptatibus ad hoc aeui haud sciam anne super omnis homines impenso labore diuque noctuque cum despectu et dispendio bonae ualetudinis eam quaesissem. 22 Quint. Inst. 1.4.1–3: Primus in eo qui scribendi legendique adeptus erit facultatem grammaticis est locus. (...) Haec igitur professio, cum breuissime in duas partis diuidatur, recte loquendi scientiam et poetarum enarrationem, plus habet in recessu quam fronte promittit. Nam et scribendi ratio coniuncta cum loquendo est et enarrationem praecedit emendata lectio et mixtum his omnibus iudicium est.
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5. ERSTE REFUTATIO: DIE GEDICHTE (APOL. 5–13) Zu welchem Nutzen man die früh erworbenen grammatischen Techniken in einer Rede praktisch einsetzen kann, demonstriert Apuleius gleich beim ersten Punkt, mit dem er sich auseinandersetzt. Dieser Vorwurf lautet, er habe schamerregende Verse (versus quasi pudendos, Apol. 5.6) gedichtet. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um ein Begleitgedicht auf die Sendung eines Zahnreinigungspulvers sowie um zwei erotische Epigramme auf Knaben. Mit dem Inhalt der Gedichte könnten die Ankläger versucht haben, dem Sprecher magische Praktiken nachzuweisen (vielleicht die Herstellung von Drogen und Inkantationen).23 5.1. Etymologie Zur Besprechung dieses Punktes gelangt der Redner zwanglos und elegant über eine Kette verwegener Etymologien: Er könne alles, was er denke, „aus-sprechen“ (e-loqui); er tue und sage nichts „Un-Aussprechliches“ (ne-fas) und es gebe nichts, was er als „Be-redter“ nicht öffentlich „be-reden“ könnte (disertus vs. disserere). Zu „bereden“ seien nun also eben jene Verse – Verse, welche die Ankläger nicht einmal aussprechen könnten (Apol. 5.4): quis enim me hoc quidem pacto eloquentior uiuat, quippe qui nihil unquam cogitaui quod eloqui non auderem? eundem me aio facundissimum esse, nam omne peccatum semper nefas habui; eundem disertissimum, quod nullum meum factum uel dictum extet, de quo diserere publice non possim ita, ut iam de uorsibus disertabo quos a me factos quasi pudendos protulerunt, cum quidem me animaduertisti cum risu illis suscensentem, quod eos absone et indocte pronuntiarent. (Apol. 5.4–6) Denn wer wird, unter dieser Vorgabe, beredsamer sein als ich, der ich doch niemals etwas gedacht habe, was ich nicht auszusprechen gewagt hätte? Von mir selbst sage ich also, dass ich äußerst sprechgewandt bin, denn jedes Vergehen habe ich stets als etwas Unsägliches erachtet, von mir selbst, dass ich äußerst disputierstark bin, wo es doch von meinen Taten oder Aussagen keine gibt, über die ich nicht öffentlich disputieren könnte – so wie ich jetzt über die Verse disputieren werde, die sie, als von mir gedichtet, so vorgetragen haben, als ob man sich dafür schämen müsse, während du freilich an mir bemerkt hast, wie ich ihnen mit einem Lachen grollte, weil sie sie so misstönend und ungelehrt aussprachen.
Die Etymologie, quae verborum originem inquirit (Inst. 1.6.28), ist nach Quintilian eine grammatische Spezialität, die zu „abgeschmackten Albernheiten“ (ad foedissima usque ludibria, Inst. 1.6.32) führen kann, aber dann nützlich ist, wenn die Argumentation von der Ausdeutung eines Wortbegriffs abhängt. Das Beispiel, das er anführt, die etymologische Umdeutung von frugi zu utilis multis durch den 23 Mit bezeugten magischen Praktiken korrespondiert dieser Vorwurf nicht, vgl. Abt 1908, 20– 24. Möglicherweise zielen die Ankläger nicht auf eine konkrete Handlung ab, sondern wollen nur mittels Anspielungen ein sinistres Bild des Angeklagten entwerfen; Inkantation und Drogenherstellung wurden vermutet, vgl. Hunink 1997, 2, 29–30; Hunink 1998b, bes. 458– 461 und Deremetz 2004, 213; gegen die Idee, dass schon hier Magievorwürfe behandelt werden, wendet sich jedoch Pellecchi 2012, 137–143.
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bekannten Filou Marcus Caelius, kann als gute Anleitung für die von Apuleius vorgenommene Wortverdreherei durchgehen.24 Dieser jedenfalls setzt das philologische Verfahren nicht weniger gekonnt ein, um sprechend anhand von „Sprechwörtern“ zu zeigen, dass sein Sprechen schon vom Wesen her harmlos und unschuldig sei. 5.2. lectio Im krassen Gegensatz zu dieser höchst gelehrten und raffinierten Sprachverwendung stehen die Ankläger, welche die Verse, die der Sprecher verfasst habe, nicht einmal erträglich zu artikulieren vermöchten (pronuntiare). Eine ähnliche Beschuldigung, nämlich diejenige, grauenhaft zu lesen (legere), bringt der Sprecher wenig später vor, wenn er ein weiteres Gedicht bespricht: uenio ad ceteros uorsus ut illi uocant amatorios, quos tamen tam dure et rustice legere, ut odium mouerent. (Apol. 9.1) Ich komme nun zu den übrigen Versen, den „erotischen“, wie jene sagen, Verse, die sie jedoch so hart und bäuerisch vorgelesen haben, dass sie eher Abneigung hervorrufen konnten.
Mit dieser hämischen Kritik am Vortrag der Prozessgegner leitet der Sprecher eine Behandlung des – durchaus heiklen25 – Gedichtvorwurfs ein, die er als Schulstunde inszeniert. Pronuntiatio, die korrekte Aussprache, ist laut Quintilian in der Schule des grammaticus die erste Aufgabe, die der Schüler meistern muss, bevor er sich der Erschließung eines Dichtertextes stellen darf.26 Zahlreiche Fehler sind hier möglich, darunter die falsche Abteilung oder Zusammenfassung von Silben zu Wörtern beim Lesen der in scriptio continua verfassten Texte, falsche Quantitäten oder fehlerhafte Artikulation.27 Als heimtückisch erweisen sich Besonderheiten, die sich am Schriftbild nicht erkennen lassen, so etwa die Verschleifungen, welche beim Aussprechen von Versen zu beachten sind, die Akzentsetzung im Vers oder die Artikulation bestimmter Buchstabenverbindungen.28 Das hier als Anfang 24 Quint. Inst. 1.6.29: Haec habet aliquando usum necessarium, quotiens interpretatione res de qua quaeritur eget, ut cum M. Caelius se esse hominem frugi uult probare, non quia abstinens sit (nam id ne mentiri quidem poterat), sed quia utilis multis, id est fructuosus, unde sit ducta frugalitas. Ideoque in definitionibus adsignatur etymologiae locus. Zu dem von Quintilian gebrachten Beispiel vgl. Ax 2011, 275–278; zur Behandlung der etymologia insgesamt Quint. Inst. 1.6.28–38; Cic. Top. 35–37 sowie Sluiter 2015, bes. 916–919. 25 Zur Art der damit möglicherweise verbundenen Vorwürfe vgl. Hunink 1997, 2, 37–8. 26 Quint. Inst. 1.5.1: emendate loquendi regulam, quae grammatices prior pars est. Zur pronuntiatio im Rahmen der officia grammatici insgesamt vgl. Quint. Inst. 1.5 sowie Bonner 1977, 198–211 und Ax 2011, 350–357. 27 Quint. Inst. 1.5.6: aut quis hoc nescit, alios barbarismos scribendo fieri, alios loquendo (...), illud prius adiectione detractione inmutatione transmutatione, hoc secundum diuisione complexione spatio (spatio: Claussen; adspiratione: codd.) sono contineri? 28 Quint. Inst. 1.5.17: Plus exigunt subtilitatis quae accidunt in dicendo uitia, quia exempla eorum tradi scripto non possunt, nisi cum in uersus inciderunt (...); vgl. Inst. 5.1.19; 32.
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der grammatischen Ausbildung beschriebene Aussprechen und Vortragen geht weit über ein Lesen für den Alltagsgebrauch hinaus. Es erfordert Anleitung, Studium und Übung und ist selbst schon eine philologische Tätigkeit.29 Dies gilt noch mehr für das Kapitel, das Quintilian der lectio widmet (Inst. 1.8), d. h. dem ausdrucksvollen Vortrag von Dichtung.30 Ziel der Ausbildung ist hier eine sinnentsprechende Prosodie, die auch den Affektgehalt des Vorgetragenen berücksichtigt. Dies setzt voraus, dass der Schüler den Text verstanden hat; überdies muss er den speziellen Tonfall treffen, in dem sich Dichtung von Prosa unterscheidet. Auch wer etwas unverschämt, drohend oder grausam spricht, begeht einen Barbarismus.31 Die Ankläger beherrschen diese Grundfertigkeiten ganz und gar nicht, behauptet der Sprecher Apuleius. Ihre Aussprache sei misstönend (absone, d. h. sie sprechen falsche Vokalquantitäten und Vokalfärbungen) und unausgebildet (indocte), ihr Vortrag sei ungefällig (dure) und unkultiviert (rustice).32 Zu diesen peinlichen Schnitzern gehört die Zurschaustellung unpassender Affekte, die beweist, dass sie den Charakter der Gedichte nicht verstanden haben: uidi ego dudum uix risum quosdam tenentis, cum munditias oris uidelicet orator ille aspere accusaret et dentifricium tanta indignatione pronuntiaret, quanta nemo quisquam uenenum. (Apol. 7.1) Ich sah längst, wie einige kaum das Lachen zurückhielten, als jener sogenannte Redner die Reinheit des Mundes bitter anklagte und „Zahnpasta“ mit solcher Empörung aussprach, wie kaum jemand „Gift“.
So werde aus dem launigen Zahnpulvergedicht eine gereizte Anklage, und die angeblich erotisch gemeinten Epigramme machten nicht lüstern, sondern aggressiv (ut odium moverent). Zum ersten Mal geraten die Ankläger in der Darstellung des Sprechers auf diese Weise in die Rolle von Schülern, und in dieser – durchaus nicht selbst ge29 Zum Lesen als philologischer Tätigkeit mit sozial distinktiver Funktion vgl. Johnson 2000 sowie Johnson 2010, bes. 26–31 u. 98–136. 30 Quint. Inst. 1.8.1–2: Superest lectio: in qua puer ut sciat ubi suspendere spiritum debeat, quo loco uersum distinguere, ubi cludatur sensus, unde incipiat, quando attollenda uel summittenda sit uox, quid quoque flexu, quid lentius celerius concitatius lenius dicendum, demonstrari nisi in opere ipso non potest. Unum est igitur quod in hac parte praecipiam, ut omnia ista facere possit: intellegat. Sit autem in primis lectio uirilis et cum sanctitate quadam grauis, et non quidem prorsae similis, quia et carmen est et se poetae canere testantur (...). Zur pronuntiatio im Sinne des adäquaten Vortrags vgl. auch Cic. De Orat. 3.216–9 (mit zahlreichen Beispielen aus dem Bereich der Dichtung); Rhet. Her. 3.19–27 sowie Marrou 1977, 317–318 und Bonner 1977, 223–226. 31 Quint. Inst. 1.5.9: Alterum genus barbari accipimus quod fit animi natura, ut is a quo insolenter quid aut minaciter aut crudeliter dictum sit barbare locutus existimatur. 32 Vgl. Apol. 5.6 (absone et indocte pronuntiarent); 9.1 (dure et rustice legere). Zu Barbarismen in Bezug auf den sonus vgl. Quint. Inst. 1.5.19–21 sowie Gell. NA 7.15 und 13.21; durus bezeichnet einen Fehler in der Kombination von Wörtern und im Wohlklang; hier dürfte das verstypische Verschleifen der Hiate gemeint sein, vgl. Quint. Inst. 1.5.67; 8.6.33; 9.4.58; Gell. NA 13.21.12; 19.9.7, sowie Schindel 1996, 19 und Hunink 1997, 2, 38; zur Thematisierung stimmlicher und gestischer Aspekte in der Apologie allgemein vgl. Bianco 2008, bes. 99–105.
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wählten – Position schneiden sie kläglich ab. Als Antwort erhalten sie erst Gelächter und dann Groll, von Seiten des Sprechers, der sich als grammaticus geriert, aber auch vom Publikum, auf dessen übereinstimmende Reaktion der Sprecher hinweist. Er selbst zeigt ohne Umstände, wie es richtig geht, indem er die inkriminierten Gedichte noch einmal vorträgt. Anders als die Ankläger liest er sie aber nicht einfach schülerhaft vor (legere), sondern rezitiert kunstgerecht (recitem)33 und präsentiert die zwielichtigen Stücke damit zugleich wie seriöse dokumentarische Beweismaterialien.34 5.3. enarratio und allegoriae Während der Sprecher durch seine sprachgewandte Etymologie der Redewörter den Eindruck virtuoser Sprachbeherrschung vermitteln konnte, verweist sein Insistieren auf lectio und pronuntiatio die sprachliche Bildung der Gegner auf ein grammatisches Anfängerniveau. Das bereitet die nun folgende Behandlung der Gedichte vor. Als Antwort auf den Vorwurf des Zahnpulvergedichts muss sich der Ankläger zunächst ein mit Zitaten garniertes Lob der Oralhygiene anhören, das in schlimme Verdächtigungen seiner eigenen Mund- und Körperpflege mündet (Apol. 7–8). Anschließend wird der mit den erotischen Epigrammen verbundene Vorwurf mala carmina amatoria fecit Schritt für Schritt in harmlose philologische, nämlich literaturkritische und literarhistorische Fragestellungen umformuliert (Apol. 9–12).35 So werden aus dem „Schadenzauber“ (mala carmina) unversehens einfach „schlechte Gedichte“ (Apol. 9.4)36 und der „Liebeszauber“ (carmina amatoria) verwandelt sich zu „Liebesspielen“ (ludicra) und damit in eine seit den Neoterikern etablierte Gattung,37 für die der Sprecher auch noch bedeutende griechische Vorgänger nennen kann (Apol. 9.5–11). Den Verdacht der Magie erklärt er unter diesen Umständen kurzerhand zu einem lexikalischen Irrtum, der aus der allgemeinen Unbildung der Ankläger resultiere: num ergo haec sunt crimina mea et nomine erratis, qui me magiae detulistis? fecere tamen et alii talia, etsi uos ignoratis. (Apol. 9.5–6)
33 Apol. 9.13: recitem nunc et alios, quos illi quasi intemperantissimos postremum legere; vgl. 9.11. Auch sonst „artikulieren“ die Ankläger nur (pronuntiarent, 5.6; 7.1) oder sie „lesen vor“ (legerunt, 6.1; 9.1), der Sprecher dagegen „rezitiert“ (recitem, 9.11; 9.13). 34 „Rezitiert“ werden auch die übrigen Schriften und Schriftstücke, die der Sprecher als Beweisstücke anführt; vgl. Apol. 38.9; 55.12; 69.8; 70.8; 85.2; 96.6. 35 Zum „Zerpflücken“ der gegnerischen Vorwürfe vgl. bes. Binternagel 2008, 50–52 sowie Rives 2008, bes. 45. 36 Dieses Wortspiel hat ein Vorbild bei Hor. S. 2.1.78–86; vgl. Hunink 1997, 2, 39. 37 Ludicra verfassten u. a. Cinna, Calvus und Cornificius; vgl. Hor. ep. 1.1.10. Auch die Gedichtsammlung des Apuleius scheint diesen Titel getragen zu haben, vgl. Apol. 6.1: Primo igitur legerunt e ludicris meis (...); vgl. HA Vita Clod. Alb. 12.12 sowie Hunink 1997, 2, 29 u. 38.
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Sind das also meine Verbrechen und ihr irrt euch in der Bezeichnung, wenn ihr mich wegen Magie verklagtet? Doch haben auch andere solches gedichtet, auch wenn ihr davon keine Ahnung habt.
In denselben philological turn wird als nächstes die Behauptung der Ankläger einbezogen, dass der Sprecher in den Gedichten Decknamen für die angesprochenen Knaben verwende. Auch dieser Vorwurf, der entweder auf magische Praktiken oder allgemein auf die damit verbundene Heimlichtuerei abzielte,38 erfährt eine philologisch-grammatische Behandlung. Der Sprecher kontert mit einer Liste literarisch prominenter Codenamenbenutzer, darunter Catull, Ticidas, Properz, Tibull und Vergil: Habes crimen meum, Maxime, quasi improbi comisatoris de sertis et canticis compositum. hic illud etiam reprehendi animaduertisti, quod, cum aliis nominibus pueri uocentur, ego eos Charinum et Critian appellitarim. eadem igitur opera accusent C. Catulum, quod Lesbiam pro Clodia nominarit, et Ticidam similiter, quod quae Metella erat Perillam scripserit, et Propertium, qui Cunthiam dicat, Hostiam dissimulet, et Tibullum, quod ei sit Plania in animo, Delia in uersu. e[t]quidem C. Lucilium, quanquam sit iambicus, tamen improbarim, quod Gentium et Macedonem pueros directis nominibus carmine suo prostituerit. quanto modestius tandem Mantuanus poeta, qui itidem ut ego puerum amici sui Pollionis bucolico ludicro laudans et abstinens nominum sese quidem Corydonem, puerum uero Alexin uocat. (Apol. 10.1–6) Da hast du mein Vergehen, Maximus, als sei es das Machwerk eines schlimmen Zechers über Girlanden und Gesänge. Du hast gehört, dass mir auch dies vorgeworfen wurde, dass ich die Knaben Charinus und Critias nannte, obwohl sie anders heißen. Da könnten sie also auch Catull anklagen, weil er „Lesbia“ statt „Clodia“ sagte, und gleichfalls den Ticidas, weil er „Perilla“ statt „Metella“ schrieb, und Properz, der „Cynthia“ sagte und „Hostia“ dahinter verbarg, und Tibull, weil er „Plania“ im Sinn und „Delia“ im Gedicht hatte. Ich persönlich möchte den C. Lucilius tadeln, obwohl er ein Iambiker ist, weil er die Knaben Gentius und Macedo mit echten Namen in seinem Gedicht bloßstellte. Wieviel zurückhaltender schließlich ist der Dichter aus Mantua, wenn er, genau wie ich, einen Knaben seines Freundes Pollio im bukolischen Liebeslied preist, dabei aber von Namensnennung absieht und sich selbst Corydon und den Knaben Alexis ruft.
Diese für den heutigen Interpreten höchst interessante (und singuläre, weil frühe) Liste enthält geballtes grammatisches Fachwissen. Gleichungen dieser Art, von denen Catulls Lesbia = Clodia die bekannteste ist, gehören in das Gebiet der enarratio poetarum und sind eine Spezialität der antiken exegetischen und biographischen Tradition.39 Sie resultieren aus einer allegorischen Lektüremethode, die das sprechende Ich der Gedichte oder eine Figur mit deren Autor identifizierte und deshalb hinter den auftretenden Gestalten seine Zeitgenossen und Bekannten vermutete. Solche Identifizierungen sind eng mit der Absicht (intentio) verbunden, die der Dichter nach Meinung der Exegeten verfolgt. Am deutlichsten ist dies für uns noch in der Vergilkommentierung zu fassen, so etwa im Eklogenkommentar des Servius, der Vergils allegorische Verschlüsselung explizit aus 38 Hunink 1997, 2, 45; Abt 1908, 23–24. 39 Vgl. z. B. Porph. Hor. epod. 3.7–8 (Canidia = Gratidia); Ps.-Acro Hor. serm. 1.2.64–66 (Lycimnia = Terentia); Serv. Ecl. 10.1 (Cytheris = Lycoris).
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dem Wunsch nach Panegyrik ableitet.40 Wie solch biographische Allegorese anzuwenden ist, unterliegt der autoritären Kontrolle des grammaticus.41 Geleitet von seiner ratio kommt es ausgehend von der Person Vergils dann unter anderem zu der von Apuleius angeführten allegorischen Identifizierung des Knaben Alexis mit einem puer Pollionis.42 Da die Ergebnisse dieser Methode sich nicht allein aus der Lektüre des Textes heraus erschließen, sondern auf ein Wissen rekurrieren, welches erst vom Kommentator bereitgestellt wird, sind sie variabel und bilden ein weites Feld für Kontroverse und Abgrenzung, auf dem sich die philologischen Hüter des Textes gegeneinander profilieren können.43 Bei Apuleiusʼ Informationen über die Identität der in den Gedichten auftretenden Personen handelt es sich also um ein institutionalisiertes Wissen, das sich nur durch grammatisch gelenkte Lektüre erwerben lässt und einem „außenstehenden“ Leser verschlossen bleiben muss. Derjenige aber, der es besitzt, der die intentio poetae kennt und weiß, worüber der Dichter „wirklich“ spricht, besitzt auch den Schlüssel zur korrekten Interpretation des Dichtertextes. Der Ankläger, den Apuleius in seiner Apologie vorführt, tut das nicht, ihm geht jenes früh eingeübte Lesevermögen ab. Der Sprecher konstatiert dies genüsslich und rät dem betagten Gegner zum Nachsitzen in der Grundschule. Dann nämlich werde er erfahren, dass selbst Platon erotische Gedichte verfasst habe: disce igitur uersus Platonis philosophi in puerum Astera, si tamen tantus natu potes litteras discere. (Apol. 10.8)
40 Serv. praef. Ecl. p. 2,14–19 Thilo: intentio poetae haec est, ut imitetur Theocritum Syracusanum (...) et aliquibus locis per allegoriam agat gratias Augusto uel aliis nobilibus, quorum fauore amissum agrum recepit. Vgl. auch Serv. praef. Aen. p. 4,10 Thilo; Don. Vita Verg. 64–66 Brugnoli/Stok. Zur allegorischen Verschlüsselung vgl. Monno 2006 und Tischer 2015. 41 Serv. Verg. Ecl. 1.1: et hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere; non tamen ubique, sed tantum ubi exigit ratio. quod autem eum sub fago dicit iacere, allegoria est honestissima (...). 42 Serv. Verg. Ecl. 2.15: tres dicitur amasse Vergilius, Alexandrum, quem donauit ei Pollio, et Cebetem puerum cum Leria puella, quos a Maecenate dicitur accepisse: unde uolunt quidam, per Amaryllida Leriam, per Menalcam Cebetem intellegi. Dieses Beispiel lässt gut erkennen, wie sich eine solche Codenamendeutung in der exegetischen Tradition entwickelt. Hier beruht sie auf der Identifizierung des Sprechers Corydon mit dem Autor Vergil; da Corydon im Gedicht unglücklich in den schönen Alexis verliebt ist, wird auch dieser als Pendant einer historischen Figur gedeutet, zunächst unter seinem „literarischen“ Namen Alexis (vgl. Mart. 8.55.6–20; 5.16.11–12; 6.68.6; 7.29.7; 8.63; 8.73.9–10), dann mit dem „echten“ Namen Alexander, den Apuleius noch nicht zu kennen scheint (Don. Vita Verg. 9 Brugnoli/Stok; Serv. Ecl. 2.1 u. 2.15). Das schloss konkurrierende Interpretationen nicht aus, vgl. die folgende Anm. Zur Entwicklung dieser und anderer Decknamendeutungen vgl. Tischer 2006, bes. 118–123. 43 Vgl. z. B. Serv. Ecl. 2.73: et uolunt quidam, hoc loco allegoriam esse antiquam in Augustum, ut intellegamus, inuenies alium imperatorem, si te Augustus contemnit pro agris rogantem. sed melius simpliciter accipimus hunc locum: nam nihil habet, quod possit ad Caesarem trahi. Weitere Beispiele für abgelehnte allegoriae im Eklogenkommentar des Servius sind Serv. Ecl. 1.5; 3.20; 3.71; 5.54; vgl. auch Don. Vita Verg. 66 Brugnoli/Stok.
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Lerne nun also das Gedicht des Philosophen Platon auf den Knaben Aster, falls du in deinem Alter überhaupt noch lesen lernen kannst!44
Bei alldem gerät fast in Vergessenheit, dass der Sprecher auf eine wichtige Frage gar nicht eingeht: die Klarnamen für Charinus und Critias, die beiden Adressaten seiner eigenen Gedichte, enthüllt er nämlich nicht. Stattdessen leugnet er im Folgenden den Zusammenhang zwischen mores und versus mit Verweis auf Catull und den Kaiser Hadrian und beendet dann seinen weiterhin in der autoritativen Pose des Lehrers gehaltenen „Grundkurs in Liebeslyrik“45 in philosophischer Überhöhung mit dem Bekenntnis zum reinen platonischen Eros (Apol. 11–12). 6. ZWEITE REFUTATIO: MAGIE UND FISCHE (APOL. 25.5–27.4; 33–34) 6.1. quaestio Die Besprechung der mit den Gedichten verbundenen Vorwürfe in der ersten Refutatio konnte die „literarische“ Behandlung dieses Anklagepunktes immerhin thematisch rechtfertigen. Seine Taktik der strategischen Instrumentalisierung der Philologie wendet der Sprecher jedoch auch dann an, wenn kein so offensichtlicher Bezug zu literarischen Themen besteht. Ein Pendant zur philologischen Zerlegung der gegnerischen Vorwürfe findet sich gleich zu Beginn der zweiten Refutatio, wenn sich der Sprecher daran macht, das ipsum crimen magiae zu widerlegen. Seine erste Maßnahme besteht darin, die Frage, ob er Magier sei, umzuwandeln in eine Diskussion darüber, was ein Magier sei (Apol. 25.8–27.4): quae [scil. accusatio] quidem omnis Aemiliano fuit in isto uno destinata, me magum esse, et ideo mihi libet quaerere ab eruditissimis eius aduocatis, quid sit magus? (Apol. 25.8) Diese Anklage ist nun von Aemilianus ganz auf diesen einen Punkt ausgerichtet worden, dass ich ein Magier sei, und deshalb sei es mir erlaubt, mit seinen hochgelehrten Anwälten die Untersuchung zu führen, was denn eigentlich ein Magier sei?
Ganz explizit bedient er sich hier der quaestio, der Methode also, mit welcher der grammaticus den zu kommentierenden Text in skrupulöser Mikroanalyse auf Widersprüche, Inkonsistenzen und Probleme abklopft.46 Diese „löst“ der antike Phi44 Wie Fletcher 2009, 52–53 bemerkt, zielt litteras discere hier nicht nur auf die Ambivalenz von „Lesen lernen/Literatur kennenlernen“ ab, sondern spielt auch auf eine ähnlich witzige „Schulsituation“ bei Plautus (Bac. 121–124) an. 45 Schenk 2002, 54. 46 Die quaestio meint hier juristisch die Voruntersuchung über den status des zu verhandelnden Falles, vgl. Pellecchi 2012, 140; daneben bezeichnet sie aber auch ein Kerngebiet der grammatisch-philologischen Tätigkeit (vgl. Quint. Inst. 1.2.14), das jedoch gern mit der Akkumulation von unnützem Wissen in Verbindung gebracht wird, vgl. etwa Sen. Ep. 88.37; Quint. Inst. 1.8.18–20. Beispiele finden sich zahlreich in der Dichterkommentierung, vgl. exemplarisch Serv. Aen. 8.84; G. 2.475; Ecl. 5.66; DS Aen. 1.42; 1.653, aber auch in der antiquarischen Literatur, vgl. z. B. die bei Gell. NA 4.9 pr. angekündigte Diskussion quid
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lologe, indem er die Meinungen von Autoritäten zusammenstellt, auch ohne sich unbedingt zwischen gegensätzlichen Auffassungen entscheiden zu müssen. Inhärent ist dieser Methode ein Frage-Antwort-Schema, bei dem der grammaticus als Lehrer fragt und der Schüler antwortet.47 Auch der Sprecher Apuleius nimmt damit wieder die Rolle des Lehrers ein, der die Angeklagten mit ihnen unverständlichen griechischen Zitaten traktiert und sie so ein weiteres Mal als Ignoranten überführt.48 Am Ende dieser Runde ist das gefährliche Thema der Zauberei erneut auf unverfängliche literarische exempla umgeleitet – ohne dass nun tatsächlich geklärt wäre, was denn ein Magier ist und ob der Angeklagte in diese Kategorie gehört. 6.2. Semantik Ein Punkt, dem der Sprecher sich in seiner zweiten Refutatio sehr ausführlich widmet, betrifft den Vorwurf, er habe sich Fische mit „unzüchtigen Namen“ zu beschaffen gesucht, die eine magisch gedachte Entsprechung zu den männlichen und weiblichen Genitalien bildeten:49 mentiti autem sunt callidissimi accusatores mei, ut sibi uidentur, cum me ad finem calumniae confinxerunt duas res marinas impudicis uocabulis quaesisse, quas Tannonius ille cum utriusque sexus genitalia intellegi uellet, sed eloqui propter infantiam causidicus summus nequiret, multum ac diu haesitato tandem uirile marinum nescio qua circumlocutione male ac sordide nominauit, sed enim feminal nullo pacto repperiens munditer dicere ad mea scripta confugit et quodam libro meo legit: ‚interfeminium tegat et femoris obiectu et palmae uelamento.‘ (Apol. 33.5–7) Gelogen aber haben diese meine Ankläger, die sich für oberschlau halten, als sie zum Zwecke der Verleumdung zusammenreimten, ich hätte zwei Meeresdinge mit unflätigen Benennungen gesucht. Da nun dieser Tannonius hier sie als die Fortpflanzungsorgane beider Geschlechter verstanden wissen wollte, derselbe Superredner sie aber wegen seiner infantilen Sprachlosigkeit nicht aussprechen konnte, da druckste er viel herum und bezeichnete schließlich den „Seehoden“ ganz falsch und vulgär mit irgendeiner Umschreibung; aber weil er nicht herausfand, wie er die „Seescheide“ anständig benennen könnte, nahm er seine Zuflucht zu
significet proprie ‚religiosus’ oder Sueton Cal. 8 über den Geburtsort des Kaisers Caligula. Eine ähnliche Struktur liegt auch Senecas Quaestiones Naturales zugrunde, die ihre Methode bereits im Titel tragen. 47 Für ein Beispiel aus dem Unterricht vgl. Arr. Epict. 2.19.6–8 sowie Marrou 1977, 513–517. 48 Zur Umdeutung und Verdrehung der zitierten Platonstellen vgl. ausführlich Binternagel 2008, 225–231; sowie Hammerstaedt 2002, 248; Hunink 1997, 90 und Fletcher 2009, 59. 49 Vgl. die Formulierung accomodari possunt similiter ex uocabulo suspiciones, die wenig später fällt (Apol. 35.3); wie der mit den Fischen verbundene Vorwurf eigentlich lautet, erwähnt der Sprecher noch später (Apol. 41.4): aiunt mulierem magicis artibus, marinis illecebris a me petitam (...). Zur Art des vermuteten Zaubers und zu den zeitgenössischen magischen Vorstellungen vgl. Abt 1908, 135–138 und Bradley 1997, 209–212. Mit der Argumentation in Bezug auf den Fischevorwurf setzt sich Binternagel 2008, 49–72 ausführlich auseinander; zur Verbindung dieses Vorwurfs mit der angeblichen Verzauberung der Pudentilla vgl. Pellecchi 2012, 153–162.
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meinen Werken und las aus einem meiner Bücher vor: ‚den Schenkelzwischenraum bedecke sie teils durch Vorhalten des Beines, teils durch Verhüllung mit der Handfläche‘.50
Zugrunde liegt die gängige antike Vorstellung des Sympathiezaubers, und die echte oder gespielte Furcht davor hat den Ankläger offenbar zu großer verbaler Vorsicht beim Aussprechen dieser Fischnamen veranlasst.51 Der Sprecher jedoch leitet daraus erst die verbale und dann auch die intellektuelle Unfähigkeit des Anklageredners ab – diesem hätten die Worte gefehlt, so sehr, dass er sich sogar auf eine Formulierung habe zurückziehen müssen, die er nirgendwo anders als in einem Werk des Apuleius gefunden habe. „Wortarmut“ ist in den lexikbegeisterten intellektuellen Kreisen des 2. Jahrhunderts ein demütigender Vorwurf,52 doch es kommt noch schlimmer, denn nachdem der Sprecher das Zögern des Anklägers in einen Sprachfehler umgedeutet hat, reinterpretiert er den Vorwurf selbst als Denkfehler und versetzt die Ankläger zur Strafe wiederum in die Schule: an quicquam stultius quam ex nominum propinquitate uim similem rerum coniectam? et fortasse an peracute repperisse uobis uidebamini, ut quaesisse me fingeretis ad illecebras magicas duo haec marina, ueretillam et uirginal; disce enim nomina rerum Latina, quae propterea uarie nominaui, ut denuo instructus accuses. memento tamen tam ridiculum argumentum fore desiderata ad res uenerias marina obscena, quam si dicas marinum pectinem comendo capillo quaesitum (...) (Apol. 34.4–6) Was ist denn noch dümmer, als aus der Nachbarschaft von Wörtern auf ähnliche Bedeutung in der Sache zu schließen? Und vielleicht habt ihr euch eingebildet, es sehr scharfsinnig angestellt zu haben, als ihr euch ausdachtet, ich hätte zu meinen magischen Anlockungen diese beiden Meeresdinge gesucht, das „Schamgliedlein“ und das „Mädchenteil“. Lerne nämlich hiermit die lateinischen Wortformen für diese Objekte, die ich deshalb auf verschiedene Weise benannt habe, damit du mich beim nächsten Mal informiert anklagen kannst. Denk aber daran, dass es eine genauso lächerliche Behauptung wäre, Meeresferkeleien für Liebesdinge zu besorgen, wie wenn du sagen würdest, ich hätte eine Kammmuschel zum Haarekämmen besorgt (...).
Lernen wie Vokabeln soll der Gegner die lateinischen Bezeichnungen der Fischnamen, die der Sprecher hier nicht nur demonstrativ ausspricht, sondern auch selbst gebildet und vergeben hat.53 Mit dem Hinweis auf die arbiträre Verga-
50 In der Schrift, die die Ankläger hier zitieren, hatte Apuleius offenbar über eine Venusstatue gesprochen, vielleicht vom Typ der „knidischen“ Aphrodite des Praxiteles; vgl. Hunink 1997, 2, 109–110. 51 Zur Verbindung von Euphemismus und der magischen Beziehung zwischen Wort und Sache vgl. Masselli 2004. Hunink 1997, 2, 108 hält dagegen den Wunsch, Obszönität zu vermeiden, für ausschlaggebend. 52 Vgl. z. B. Gellius, der als Motiv für die Sammlung seiner annotationes angibt, einem plötzlichen Mangel an Inhalten oder Worten schnell abhelfen zu können; NA praef. 2: quasi quoddam litterarum penus recondebam, ut, quando usus uenisset aut rei aut uerbi (...) facile inde nobis inuentu atque depromptu foret. Vgl. auch die Zusammenstellung sophistischer Invektiven wegen Lexikverstößen bei Schmitz 1997, 83–91. 53 Nämlich durch Übersetzung aus dem Griechischen, vgl. Apol. 38.5–8 sowie Hunink 1997, 2, 110–111; Abt 1908, 136–8. Apol. 35.6 demonstriert der Sprecher dann sogar noch jeweils eine
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be der Namen (varie nominavi) ist zugleich die Annahme negiert, dass Wortzeichen und Wortinhalt etwas miteinander zu tun haben, und die folgende reductio ad absurdum führt die lächerlichen Fehlschlüsse vor, zu denen diese Annahme führen würde. Wieder besteht die Taktik des Redners darin, den Vorwurf zu „philologisieren“: Die Unterstellung des Sympathiezaubers, dessen Prinzip die Analogie von Name (nomen) und Wirkung (vis) bildet,54 behandelt er als semantischsprachphilosophische Aussage, gerade so, als hätten die Ankläger behauptet, zwischen Wortzeichen und Wortbedeutung bzw. Wortinhalt existiere ein Zusammenhang, der zu Analogieschlüssen berechtige. Zwei kontrovers geführte querelles der gelehrten Literatur klingen hier an, die sich ebenfalls um die similitudo nominum und mögliche suspiciones ex vocabulo55 drehen: zum einen die Diskussion um analogia und anomalia, bei der es darum ging, ob ähnliche Wörter ähnliche morphologische Eigenschaften haben sollten,56 zum anderen die Frage, ob ein Wort und der bezeichnete Gegenstand in „natürlicher“, d. h. notwendiger und sinnhafter Beziehung stehen oder nicht (φύσει vs. θέσει).57 Zu Apuleiusʼ Zeit sind diese bereits etwas überlebten Streitfragen in eine communis opinio gemündet, die die Extrempole vermeidet, sich gegen zu strikte Analogieforderungen wendet und die große Bandbreite semantischer Beziehungen zur Kenntnis nimmt.58 Indem er den Magievorwurf unter diese Fragestellung subsumiert, fällt es dem Sprecher leicht, in einer autoritären Geste grammatische und magische Analogie gemeinsam als längst widerlegte Theorie zu verwerfen. Die Ankläger aber sind erneut als philologische Ignoranten und zugleich als Vertreter einer obsoleten wissenschaftlichen Position bloßgestellt – ohne, dass ihr Vorwurf des Sympathiezaubers wirklich beantwortet wäre.
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alternative Übersetzung (spurium statt ueretilla; fascinum statt uirginal); vgl. Hunink 1997, 2, 113 und Hammerstaedt 2002, 254. Hunink 1997, 2, 110. Nach antiker magischer Vorstellung macht „der Name einen Teil des Wesens“ aus, vgl. Abt 1908, 139. Vgl. Apol. 35.5–6: neque enim minus istis quae commemoraui accommodari possunt similiter ex uocabulo suspiciones. posse dicitis ad res uenerias sumpta de mari spuria et fascina propter nominum similitudinem (...). Zur Geschichte der analogia-Frage vgl. Ax 1991, 289–95 und Holford-Strevens 2003, 126– 127. Die Frage nach notwendiger oder arbiträrer Beziehung zwischen Wort und Sache thematisiert bereits Platon im Kratylos, vgl. Dahlmann 1964, 3–5; Meier-Oeser 2003, 1122–1123 und Sluiter 2015; die Stoiker entschieden sie durch die Trennung zwischen λέξις und λόγος und beeinflussten damit auch die römische Grammatik, vgl. Sluiter 1990, 18–26 und Irvine 1994, 34–39. Zum angemessenen und unangemessenen Gebrauch der Analogiemethode vgl. z. B. Quint. Inst. 1.6.16–17; Gell. NA 2.25; 15.9. Das Plädoyer für die innere Beziehung zwischen Wort und Sache durch Ciceros Zeitgenossen Nigidius Figulus führt Gellius in NA 10.4 als Kuriosität vor; vgl. auch NA 4.9.1–4. Semantische Phänomene, die der Auffassung einer „natürlichen“ Verbindung von verbum und vis widersprechen, sind neben der Möglichkeit der Übersetzung auch ambiguitas (Mehrdeutigkeit), vgl. z. B. Gell. NA 11.12, und translatio (Metapher), vgl. Gell. NA 7.6.7 u. Quint. Inst. 1.5.71 u. 8.2.6.
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7. DRITTE REFUTATIO: DER BRIEF DER PUDENTILLA (APOL. 79–86) Beiden bisher beschriebenen Strategien, der „Philologisierung“ von Argumenten und der Herabsetzung der Ankläger als klägliche philologische Laien, begegnet man in der Rede auf Schritt und Tritt. Sie konzentrieren sich deutlich auf die ersten beiden Beweisgänge, in denen es, nach Aussage des Sprechers, angeblich gar nicht um die Verzauberung der Pudentilla geht. Der dritte Teil, der sich nun endlich mit diesem zentralen Punkt befasst, erweist sich jedoch als das geheime Ziel jener Demonstrationen.59 Hier nämlich ist der Hauptbeweis der Anklage zu entkräften (Apol. 78–86), ein Brief Pudentillas, in welchem diese tatsächlich schwarz auf weiß geschrieben hat: uerba ipsa ad hunc modum se habebant: ᾿Απολέϊος µάγος, καὶ ἐγὼ ὑπʼ αὐτοῦ µεµάγευµαι καὶ ἐρῶ. ἐλθὲ τοίνυν πρὸς ἐµέ, ἕως ἔτι σωφρονῶ. (Apol. 82.2) Die Worte selbst lauteten folgendermaßen: „Apuleius ist ein Zauberer, und ich bin von ihm verzaubert und von Liebe ergriffen. Komm also zu mir, solange ich noch bei Verstand bin.“
Dieses Testimonium ist äußerst gefährlich. Dennoch kann ihm der Angeklagte mit den Mitteln der Philologie begegnen, als deren Experte er sich bis dahin erwiesen hat. Bevor er nämlich das Briefdokument verlesen lässt, gibt er einige Prämissen der adäquaten Textinterpretation zu bedenken. Beachten müsse man, dass der Wortsinn einer Rede nicht immer die wahre und eigentliche Intention des Verfassers wiedergebe (Apol. 79.1), weiterhin, dass Aussagen nicht notwendig auf Fakten referieren, dass also zwischen Worten und der Realität keine notwendige Verbindung bestehe (Apol. 79.2–5), und schließlich, dass die Person des Verfassers in Betracht zu ziehen sei, wenn man die Intention und Glaubwürdigkeit seiner Worte beurteilen wolle (Apol. 80.1–4). Für denjenigen, der die eigentliche Absicht und Aussage eines Textes ermitteln will, ist historische und situative Kontextualisierung das Mittel der Wahl, nach Aristarchs Prinzip des Homerum ex Homero,60 das bereits Cicero für die Interpretation schriftlicher Beweisstücke empfiehlt:61 deinde ex superiore et ex inferiore scriptura docendum id, quod quaeratur, fieri perspicuum. quare si ipsa separatim ex se uerba considerentur, omnia aut pleraque ambigua uisum iri; quae autem ex omni considerata scriptura perspicua fiant, haec ambigua non oportere existimare. (...) nam facile, quid ueri simile sit eum uoluisse, qui scripsit, ex omni scriptura et ex persona scriptoris atque iis rebus, quae personis attributae sunt, considerabitur. (Cic. De inv. 2.117)
59 Vgl. Schenk 2002, 37–38; Deremetz 2004, 216; Fletcher 2009, 61–64 und Noreña 2014, bes. 40–41. 60 Welche Interpretationspraktiken sich aus dem Prinzip Homerum ex Homero ableiten, arbeitet Nünlist 2015 heraus; ebd. 401 auch ein Beispiel aus den Homerscholien (Schol. A Il. 14.84a), in dem der Kommentator auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung aus dem umgebenden Text verweist, um die Intention einer verblümten Rede zu ermitteln. 61 Zur Verbindung dieser rhetorischen Empfehlungen mit der Interpretationspraxis der Alexandriner vgl. Mansfeld 1994, 177–179 und Schäublin 1977, 225. Zur Behandlung der Briefstelle als testimonium vgl. auch Bianco 2015, 408–413.
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Ute Tischer Sodann muss man zeigen, dass aus dem vorangehenden und dem folgenden Text die gesuchte Bedeutung klar wird. Denn wenn man bestimmte Worte einzeln für sich betrachtet, scheint alles oder doch das meiste mehrdeutig; was jedoch aus der vollständigen Lektüre des Textes klar wird, muss man nicht für mehrdeutig halten. (...) Die wahrscheinliche Intention dessen, der den Text verfasst hat, wird ja leicht aus dem vollständigen Text, aus der Person des Verfassers und aus den Eigenschaften, die man den Personen zuschreibt, ermittelt.
Die Ankläger aber, so zeigt der Sprecher nach der Verlesung des Briefes, haben mit ihrer Interpretation der Briefstelle als Magiebehauptung gegen jegliche Regeln der seriösen Textbehandlung verstoßen. Vor allem haben sie dekontextualisiert: So verhindern sie die Interpretation ex persona, denn der Rest des Briefes zeigt Pudentilla in vollkommen rationaler Verfassung (Apol. 80.5), sie ignorieren, dass die zitierte Äußerung im Kontext einer an den Sohn gerichteten Tadelrede steht (Apol. 82.1: obiurgatio erat matris ad filium) und Pudentilla damit die Rede der Gegenpartei wiedergibt, ohne sie zu billigen. Zwischen diesen Worten, dem, was Pudentilla wirklich denkt, und dem Fakt der Magie besteht also ebenso wenig eine naturgegebene Beziehung wie zwischen Fischnamen und homonymem Körperteil. Schließlich unterschlagen die Kläger durch unangemessene pronuntiatio, dass Pudentilla hier ironisch spricht (Apol. 87.6: Pudentillam, quae scribserat dissimulamenti causa et deridiculi), dass Wortlaut und Sinn der Rede also voneinander abweichen, ein Phänomen, dessen sich der an den allegoriae der Dichtung trainierte Philologe bewusst sein sollte, wie Apuleius im ersten Drittel seiner Rede nachgewiesen hatte.62 Durch diese böswillige Fehlinterpretation verwandelt sich die Briefstelle aus einer simulatio in eine confessio und von der Verteidigung zur Anklage (Apol. 81.5). Der philologisch versierte Angeklagte stellt dies als ein geradezu grammatisches Verbrechen hin: o mirum commentum! o subtilitas digna carcere et robore! quis credat effici potuisse, ut quae defensio fuerat, eadem manentibus eisdem litteris in accusationem transuerteretur? (...) nemo erat qui pro me ferret ac sic responderet: ‚totam sodes epistulam cedo: sine omnia inspiciam, principio ad finem perlegam. multa sunt, quae sola prolata calumniae possint uideri obnoxia. cuiauis oratio insimulari potest, si ea quae ex prioribus nexa sunt principio sui defrudentur, si quaedam ex ordine scriptorum ad lubidinem supprimantur, si quae simulationis causa dicta sunt adseuerantis pronuntiatione quam exprobrantis legantur‘. (Apol. 81.5 u. 82.7–8) Welch wundersamer Lügenkommentar! Welch Scharfsinn, des Kerkers und des Holzes würdig!63 Wer würde glauben, dass es gelingt, das, was eine Verteidigung war, in eine Anklage zu verwandeln und dabei genau dieselben Buchstaben beizubehalten? (...)
62 Auch die poetischen Decknamen in Apol. 10 sind dissimulationes, vgl. Apol. 10.3: Propertium, qui Cunthiam dicat, Hostiam dissimulet. Quintilian bringt die allegorische Namensverschlüsselung der Dichter und den Tropus der Ironie ebenfalls in enge Verbindung, vgl. Quint. Inst. 8.6.44–47; 54, wie Apuleius in Apol. 10.5 mit einem Codenamenbeispiel aus Vergils Eklogen (Verg. Ecl. 9.7–10). 63 Commenta sind nicht nur „Lügen“, sondern auch die Einzelbestandteile des commentarius, im philologischen Sinne also „Anmerkungen“ oder „Interpretamente“; vgl. Quint. Inst. 5.10.1 sowie Bömer 1953, 212. subtilitas, auch überflüssige, wird gern Philologen nachgesagt, vgl.
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Da war keiner, der für mich Partei ergriffen und so geantwortet hätte: „Her mit dem vollständigen Brief, wennʼs recht ist! Lass mich alles anschauen, von Anfang bis Ende will ich lesen! Es gibt doch vieles, was ohne Kontext vorgetragen der böswilligen Auslegung preisgegeben scheinen kann. Jedermanns Rede kann man verdächtigen, wenn das mit dem Vorangehenden Verknüpfte seines Anfangs beraubt wird, wenn man Dinge aus dem Zusammenhang beliebig unterschlägt, wenn man ironisch Gesagtes im Ton der Aussage und nicht des Vorwurfs liest“.
Dann widerlegt er die gegnerische Deutung, indem er selbst Schritt für Schritt quasi Pudentillam ex Pudentilla explicat. Anders als in allen zuvor vorgestellten Beweisgängen ist der Zeugniswert des Briefes damit tatsächlich hinfällig und der Vorwurf glaubwürdig abgewiesen. Der Sprecher darf sich daraufhin zu Recht gewaltige Empörung gestatten und schlägt seinen Gegnern das Ergebnis noch mehrere Seiten lang um die Ohren (Apol. 83–86). 8. GEBILDETE UND UNGEBILDETE IN DE MAGIA Die bisherigen Betrachtungen zeigen, dass die hier als „grammatisch“ oder „philologisch“ beschriebenen Argumente und Argumentationstaktiken im Hinblick auf das praktische Ziel der Verteidigung höchst effektiv sind. Zugleich aber verquicken sie sich mit Stilisierungen des Gebildeten und des Ungebildeten, die sich weit mehr noch als an das gerichtliche Auditorium an ein Lesepublikum gerichtet haben dürften. Eine scharfe Dichotomie wird dabei aufgemacht: Auf der einen Seite stehen der angeklagte Sprecher und das Publikum, als dessen hervorgehobener Repräsentant der Richter Claudius Maximus erscheint, auf der anderen Seite befindet sich die Klägerpartei, bestehend aus dem Anwalt und dem jungen Stiefsohn des Angeklagten sowie dessen Onkel und dem Vater seiner Schwägerin, zwei schon älteren Herren. Der Kontrast zwischen beiden Parteien könnte nicht größer sein. Die ungebildeten Kläger sind illitterati in jeder Hinsicht, sie verstehen nicht zu lesen und haben nichts gelesen.64 Sie können nicht sprechen und haben keine Sprachkenntnisse,65 sie wissen nichts oder erinnern sich nicht und begehen daher jede Menge Fehler.66 Seinen jungen Stiefsohn Sicinius Pudens zeichnet der Redner als schamlosen Faulpelz und Schulschwänzer, dessen Onkel Aemilianus dagegen als jemanden, der die Grundschulbildung verpasst hat und nun im Alter belehrt werden muss.67
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Plin. Nat. 2.147; 35.13: ut peruersa grammaticorum suptilitas uoluit. Vgl. Gell. NA 19.14.3: Nigidianae autem commentationes non proinde in uolgus exeunt, et obscuritas subtilitasque earum tamquam parum utilis derelicta est; sowie NA 3.14.4; 13.10.4; 13.21.10; 13.29.6; 17.1.3. Fehlendes Lesevermögen: Apol. 9.1; 28.5; Lektürelücken: Apol. 16.7; 17.7; 36.3. Mangelndes Sprachvermögen: Apol. 34.1; 98.9: der Anwalt Tannonius Pudens und der Stiefsohn Sicinius Pudens „krächzen“ (fringultiat); fehlende Sprachkenntnisse: Apol. 98.8 (Latein); 30.11; 87.4–5 (Griechisch). Lückenhaftes Wissen: Apol. 9.6; 30.5; Fehler aufgrund mangelnder Lektüre: Apol. 10.6–7; 17.11; 30.3; 30.6; fehlende Erinnerung: Apol. 46.4–6. Pudens: Apol. 86.2–3; 98.6–8; Aemilianus: Apol. 10.8; 36.2; 66.5–8.
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Das genaue Gegenteil davon verkörpern Richter, Publikum und ganz besonders der gebildete Sprecher. Sein Bildungsgang begann in frühester Kindheit,68 ein Gebildeter wie er hat alles gelesen und erinnert sich daran,69 auch wenn auf das Gelesene nur angespielt wird.70 Ein Mann von Bildung ist wie ein Buch ohne Fehler (emendatus),71 stets stehen ihm die passenden Wörter zur Verfügung, er wechselt zwanglos zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen und betätigt sich im Falle des Sprechers sogar selbst auf philologischem Gebiet, wobei er auch in entlegenen Dingen das Nützliche erkennt.72 Vor allem aber kann er reden und ist niemals um eine Antwort verlegen.73 9. (UN-)BILDUNG, KONKURRENZ UND GRAMMATICI IN DEN NOCTES ATTICAE DES AULUS GELLIUS Die Konfrontation zwischen docti und indocti, die Apuleius im Interesse seiner Auseinandersetzung mit den Prozessgegnern aufmacht, findet erstaunliche Parallelen in einigen commentarii der Noctes Atticae des Aulus Gellius.74 Dort aber sind es nicht einfach ungebildete Provinzler, mit denen sich der Gebildete herumschlagen muss, sondern namenlose grammatici, Schulphilologen also.75 Mit Apuleiusʼ Gegnern teilen sie Geisteshaltung und Interessen: Sie greifen ihr gebildetes Gegenüber direkt an, bringen es durch ihr Auftreten in Rage oder reagieren gereizt auf Fragen,76 sie sind arrogant und angeberisch und behaupten eine Expertise in philologischen Fragen, die sie nicht besitzen.77 Auch für sie umschreibt Bildung ein sehr enges Gebiet, und alles, was darüber hinausgeht, Philosophie bei68 Apol. 5.1. 69 Lektürekenntnisse: Apol. 41.6–7; 43.1; 45.4; 91.2 (der Redner selbst); Apol. 38.1; 64.4 (der Richter Claudius Maximus); Apol. 41.4 (beide); Erinnerung an Gelesenes: Apol. 36.5; 39.2; 42.6; 91.2 (der Redner selbst); Apol. 48.13 (der Richter); Apol. 25.10–11 (beide); Apol. 30.12; 55.12 (das Publikum); Apol. 31.5 (der gelehrte Pythagoras). 70 Besonders demonstrativ in Apol. 64.5–7. 71 Apol. 103.5 (über den Richter); vgl. Gell. NA 18.5.11. 72 Er erstellt zweisprachige Kompendien (Apol. 36.6); er interessiert sich auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet vor allem für Lexik (Apol. 5–8); er hat offenbar einen Aristoteleskommentar verfasst (Apol. 40.5). Zu entlegenem, aber nützlichem Wissen vgl. bes. Apol. 38.4–5; 39.4. 73 Der Inbegriff dieser gelehrten Beredsamkeit ist der gewesene Prokonsul Lollianus Avitus, dessen Brief der Redner als rettendes Testimonium vorlegt (Apol. 94.6–95.6). 74 Gell. NA 4.1; 5.21; 6.17; 13.31; 15.9; 16.6; 18.4; 19.10; 20.10. 75 Hinweise auf die Tätigkeit als Lehrer oder auf Schulstoff finden sich in NA 4.1.1; 5.21.4; 13.31.11; 15.9.7; 16.6.1; 18.4.1; 19.10.7; 20.10.3. 76 Gell. NA 6.17.2: atque ille aspicit me inludens levitatem quaestionis pravitatemque: (...) inquit (...); 16.6.11: tum ille permotus mihi et inritatus: (...) inquit (...); vgl. 4.1.2; 5.21.5; 19.10.8. 77 Gell. NA 5.21.4: Aderat (...) reprehensor audaculus uerborum, qui perpauca eademque a uolgo protrita legerat habebatque nonnullas disciplinae grammaticae inauditiunculas partim rudes inchoatasque partim non probas easque quasi puluerem ob oculos, cum adortus quemque fuerat, adspergebat; vgl. 4.1.1; 5.21.7; 6.17.2; 13.31.1; 16.6.5; 16.6.9; 18.4.1; 18.4.6; 19.10.2.
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spielsweise, kann ihrer Meinung nach ignoriert werden.78 Schwatzend und schreiend posaunen sie Falsches heraus und gerieren sich als Leser, Erklärer und Interpreten; zwei von ihnen sind dabei nicht einmal in der Lage, den fraglichen Text zu lesen und auszusprechen.79 In der Folge kommt es in diesen Szenen zwischen solchen Feindfiguren und der persona des Ich-Erzählers Gellius (oder auch anderen Exponenten der „wahren“ Bildung wie Fronto, Sulpicius Apollinaris oder Favorinus) zur Konfrontation, in der wie bei Apuleius mit Zitaten, Definitionen, Etymologien und lexikalischen Ableitungen gekämpft und argumentiert wird. Stets enden solche Auseinandersetzungen mit einem überlegenen Sieg des Gebildeten. Dieser nimmt die verächtlich als magistri titulierten Gegner nun selbst schulmäßig ins Verhör, belehrt sie und entlässt sie sprachlos wie Schüler, die versagt haben.80 Sie werden vom Publikum, das auf der Seite des siegreichen Intellektuellen steht, verlacht und verlassen das Feld fluchtartig.81 Zwar keine grammatici, aber ebenso verlacht und ebenfalls der Karikatur ähnlich, die Apuleius von seinen Prozessgegnern zeichnet, werden bei Gellius schließlich die „Spätgelehrten“ (οἱ ὀψιµαθεῖς), die erst in höherem Alter und aus pragmatischen Gründen eine „ad hoc und im Sturm erraffte Bildung“ (repentina et quasi tumultuaria doctrina) erworben haben und sich bevorzugt der Fehler in der Wortwahl schuldig machen.82 Wie Apuleius bemüht sich Gellius nach Kräften, die von ihm verachteten grammatici als Halb- oder Ungebildete zu zeichnen.83 Sehr deutlich wird aber, dass es sich bei ihnen keineswegs um Leute ohne Schulbildung handelt, sondern viel eher um Konkurrenten um cultural authority,84 d. h. um die Deutungsmacht darüber, was als Bildung gelten soll und wer zum elitären Kreis der Gebildeten dazugehören darf. Was Gellius als Angeberei und hohle Aufgeblasenheit abwehrt, ist der Anspruch auf Gültigkeit ihrer Lehrmeinungen und Interpretationen auf 78 Gell. NA 4.1.13: ‚philosophias’ inquit ‚ego non didici neque discere adpetiui (...)’; 16.6.11; 7– 8; 19.10.2–5; vgl. die Ignoranz in philosophischen und naturwissenschaftlichen Fragen, die Apuleius seinen Anklägern immer wieder vorhält. 79 Gell. NA 4.1.1 (interpres); 13.31.1 (enarrator); 16.6.1 (litterator); 18.4.2 (lector enarratorque). Zu fehlerhafter lectio vgl. Gell. NA 13.31.3–11; 16.6.3. 80 Vgl. Gell. NA 13.31.9: Pueri in ludo rudes, si eum librum accepissent, non hi magis in legendo deridiculi fuissent; ita et sententias intercidebat et uerba corrupte pronuntiabat; ähnlich Gell. NA 4.1.12; 5.21.12–13; 15.9.7; 18.4.7–9; 19.10.13; für sprachlose und aus der Fassung gebrachte Gegner vgl. Gell. NA 4.1.13; 6.17.11; 13.31.13; 15.9.10. 81 Zu Gelächter über den gegnerischen grammaticus vgl. Gell. NA 4.1.14; 5.21.5; 6.17.5; 13.31.10; 16.6.12; 18.4.1; 19.10.14; fluchtartige Abgänge sind in Gell. NA 6.17.11; 13.31.4–5; 13.31.10; 16.6.11; 19.10.14 zu beobachten, darunter besonders bedauernswert der vom Publikum noch spöttisch aufgehaltene Vertreter in NA 18.4.7–9, den Sulpicius Apollinaris mit der Frage nach der semantischen Unterscheidung von „dämlich“ (stolidus) und „hohlköpfig“ (vanus) auf die Schippe genommen hatte. 82 Gell. NA 11.7, hier: 3; 15.30. 83 Vgl. Gell. NA 6.17.4 (cum homine stulto); 6 (admirans insolentis hominis inscitiam); 13.31.1 (homo inepte gloriosus); 100; 15.9.6 (ille semidoctus grammaticus); 11; 16.6.5 (indocti hominis confidentiam demiratus). 84 Keulen 2009, 28–32, hier: 30; vgl. Vardi 2001.
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genau demselben grammatisch-philologischen Gebiet, auf dem auch er selbst und die von ihm akzeptierten Experten sich hervortun. 10. APULEIUS, DE MAGIA: GRAMMATICA, VERTEIDIGUNG UND SOPHISTISCHE INSZENIERUNG Wie es scheint, gilt ähnliches für die Prozessgegner des Apuleius.85 Auch sie werden immer wieder dafür kritisiert, dass sie sich – angeblich ohne Expertise – in ein philologisches Revier gewagt haben. So elementar ungebildet, wie in der Rede dargestellt, waren sie aber offenbar nicht. Immerhin haben sie ja die eher nicht zum Schulstoff gehörenden Gedichte des Apuleius zur Kenntnis nehmen können, der gegnerische Anwalt hat die Reden des Angeklagten nach auffälligen Wörtern durchforscht, er argumentiert mit griechischen und übersetzten Fischnamen, und offensichtlich hat die Gegenpartei so viel Griechischkenntnisse, dass sie Pudentillas Griechisch lesen kann und sogar einen griechischen Brief zu fälschen vermag.86 Insbesondere aber treten die Gegner als konkurrierende Interpreten von Pudentillas Brief auf, wobei sie, aus naheliegenden Gründen, eine am platten Wortlaut des Gesagten orientierte Interpretationsmethode verfolgen, ebenso, wie sie auch bei den Gedichten den Angeklagten beim Wort nehmen und Werk und Leben des Dichters in eins setzen. An dieser Stelle verquicken sich die beiden Kommunikationsebenen der Verteidigung und der literarischen Selbstdarstellung so sehr, dass die Bestimmung des Kommunikationsziels eine Frage der Perspektive ist. Einerseits erscheinen die Grammatik und ihre Methoden als effektive Strategien in einer Anklagesituation, die nicht deutlich als fiktiv gekennzeichnet ist und deren faktischen Ursprung der Leser daher annehmen muss. Andererseits bildet ein solch realer Hintergrund aber auch einen besonders originellen Rahmen für ein Motiv, die Verteidigung des Intellektuellen gegen ignorante Anfeindungen, das auch sonst in der zeitgenössischen Literatur variiert wird. Damit wird der Topos existenziell: Die Gegner präsentieren sich als besonders heimtückisch und gefährlich, für den Angeklagten geht es um Kopf und Kragen, und die Philologie, in ihrer Erscheinungsform als grammatische Bildung, avanciert zur lebensrettenden Maßnahme von unmittelbarem praktischen Nutzen. Umso glänzender ist so aber auch der Sieg, mit dem dieses Duell wie stets in einem solchen Fall endet: Der ungebührlich angegriffene Sophist schlägt seine Gegner und Konkurrenten virtuos und beweist damit seinen Anspruch auf Zugehörigkeit zur kulturellen Elite Roms. Die Philologie aber, mit deren Waffen der Sieg errungen wird, trägt auf beiden Ebenen zum Erfolg der Rede bei (und beweist so weder Faktualität noch Fiktionalität): Bei dieser Insze85 So erstmals Graverini/Keulen 2009, 212, Anm. 43. 86 Diesen angeblichen Brief des Angeklagten an Pudentilla, den die Ankläger als Belastungszeugnis angeführt hatten, tut der Sprecher in Apol. 87.2–5 mit knappen Worten als Fälschung ab, darunter mit dem Hinweis, das Schreiben sei derart voller Wort- und Sprachfehler, dass er nicht der Verfasser sein könne (Apol. 87.4).
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nierung hat sie, nur scheinbar verborgen unter dem großen Mantel der „Philosophie“, sowohl einen forensischen als auch einen unverkennbar literarischen Auftritt. BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben / Kommentare Helm 21959, R., Apulei Platonici Madaurensis opera quae supersunt. Vol. 2, Fasc. 1: Pro se de magia liber (apologia), Stuttgart u. a. 1959. Hammerstaedt (Hg.) 2002, J., Apuleius: De Magia. Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen, Darmstadt 2002. Hunink 1997, V. (Hg.), Apuleius of Madauros: Pro se de magia (Apologia). Edited with a commentary. Vol. 1: Introduction, text, bibliography, indexes. Vol. 2: Commentary, Amsterdam 1997.
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Der Sophist als Philologe
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SUB IUDICE PHILOLOGIA. ZUR VERARBEITUNG PHILOLOGISCHER THEMEN IM WERK LUKIANS Peter v. Möllendorff Auch wenn die Philologie sich als deskriptive Wissenschaft auf den ersten Blick von den sprachtechnischen Disziplinen der Rhetorik und der Poetik zu sondern scheint, ist sie mit ihnen doch hinreichend eng verwandt. Denn wie diese bemüht sie sich um die tiefreichende Erfassung und Systematisierung ihres Gegenstandes. Während die Poetik an Sprache als Medium von Weltdarstellung, die Rhetorik an Sprache als Vergesellschaftungsmittel interessiert ist, richtet die Philologie ihr Augenmerk auf die non-medialen und nicht-instrumentellen Aspekte der Sprache. Sie produziert Wissen auf den Ebenen der Sprachgeschichte und allgemeinen Linguistik (Lexik, Register, Dialekte etc.), der Grammatik (Formenbestand und Syntax) sowie auf der Ebene der Pragmatik (Sacherklärung, biographisches und werkbezogenes Wissen, Literaturgeschichte). Der allumfassende Anspruch dieses Wissens ermöglicht keine Ausnahmen. Während die Rhetorik stets konzedieren muss, dass das begabte Individuum letztlich sein technisches Wissen in den Dienst des καιρός stellen muss, dessen Erfordernisse selbst elementare Regeln außer Kraft setzen können, während die Poetik die unkalkulierbare Macht der Inspiration oder der genialischen Idee als wesentlichen Faktor von Dichtung zu akzeptieren hat, erkennt die Philologie Ausnahmen nur dann an, wenn sie sie als solche bereits erfasst und kategorisiert hat. Die Anforderungen des Augenblicks existieren in rebus philologicis nicht. Daher kann die Philologie den Anspruch erheben, ihren Adepten den richtigen, und zwar einzig richtigen, Sprachgebrauch zu lehren. Was nicht richtig ist, ist letztlich falsch, und so ist es unumgänglich, dass innerhalb der Philologie die Wahrheitsbehauptungen seltener affirmativ, häufiger polemisch aufeinanderstoßen. Die Philologie ist mithin eine zutiefst agonale Disziplin. Dass sie sich von daher aufs Beste in die imperiale Bildungskultur einfügte, liegt auf der Hand. Denn auch diese ließ ihre Vertreter ja im permanenten Wettstreit gegeneinander antreten, wer der beste πεπαιδευµένος sei, wer also über die klassische Tradition am umfänglichsten, sichersten und spontansten verfüge. Für deren mimetische Aneignung war nun die Philologie – sie tritt in der Außenwahrnehmung jener Kultur oft stark zurück und wird gern auf ihre attizistische Observanz reduziert – besonders hilfreich, da sie auf mehreren Ebenen zu einem eindringlichen und tiefschürfenden Verständnis jener Texte befähigte, deren Entstehungszeit sechshundert bis siebenhundert Jahre zurücklag und die sich daher dem
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Peter v. Möllendorff
rechten Verständnis nicht von selbst erschlossen. Die Beschäftigung mit der Wissenschaft der Philologie, die Lektüre ihrer wichtigen Vertreter, kann daher für den Gebildeten kein abseitiges Geschäft gewesen sein. Vielmehr muss diese Lektüre sich derjenigen der Klassiker selbst geradezu beigesellt haben, und es wird diese ‚Primärlektüre‘ verändert und gestaltet haben. Die Kenntnis der Klassiker dürfte für den wirklich Gebildeten mit philologischen Erkenntnissen durchsetzt gewesen sein. Naiver Sprachgebrauch war wie naive Literaturkenntnis ein Ding der Unmöglichkeit. Sachkenntnis war daher das Gebot der Stunde. Philologisches Wissen stärkte die Qualität der Bildungsperformance und erhöhte die eigene Unangreifbarkeit ebenso sehr wie es die gegen die Gegner im Agon gerichteten argumentativen Waffen schärfte. Im Corpus Lucianeum führen Texte wie De lapsu inter salutandum und Pseudologista die angespannte, ja hassvolle Stimmung vor, das permanente Achten auf attizistische Sprachrichtigkeit der eigenen Äußerungen, die Verzweiflung über eigene, den frohlockenden Triumph über fremde Fehler.1 Zugleich versetzte die philologische Beschäftigung mit den Objekten der Mimesis den Gebildeten in die Lage, nicht nur admirativ-affirmativ mit den Klassikern umzugehen, sondern auch kritisch. Auch das war im Bildungsagon verlangt. So wirft der Sprecher von Lukians Adversus indoctum seinem Feind gehässig vor: πῶς δὲ οὐ κἀκεῖνο αἰσχρόν, εἴ τις ἐν τῇ χειρὶ ἔχοντά σε βιβλίον ἰδών – ἀεὶ δέ τι πάντως ἔχεις – ἔροιτο οὗτινος ἢ ῥήτορος ἢ συγγραφέως ἢ ποιητοῦ ἐστι, σὺ δὲ ἐκ τῆς ἐπιγραφῆς εἰδὼς πράως εἴποις τοῦτό γε. εἶτα, ὡς φιλεῖ τὰ τοιαῦτα ἐν συνουσίᾳ προχωρεῖν εἰς µῆκος λόγων, ὁ µὲν ἐπαινοῖ τι ἢ αἰτιῷτο τῶν ἐγγεγραµµένων, σὺ δὲ ἀποροίης καὶ µηδὲν ἔχοις εἰπεῖν. οὐκ εὔξῃ τότε χανεῖν σοι τὴν γῆν, κατὰ σεαυτοῦ ὁ Βελλεροφόντης περιφέρων τὸ βιβλίον; (Adv. ind. 18) Und wie wäre auch das folgende nicht abstoßend: Wenn dich einer mit einem Buch in der Hand sehen – immer und überall hast du eins dabei – und dich fragen sollte, von welchem Redner, Historiker oder Dichter es ist, dann wüsstest du das natürlich vom Titel her und könntest problemlos antworten; aber dann – denn solche Gespräche ziehen sich ja gern in die Länge, wenn man gerade so nett beisammen ist – könnte der andere seine Zustimmung zu dem Geschriebenen äußern oder es kritisieren, du aber hättest in deiner Hilflosigkeit nichts beizusteuern. Wirst du dir dann nicht wünschen, der Erdboden würde dich verschlucken, du Bellerophontes, der sein Buch zu seinem eigenen Unheil herumträgt?
Philologische Kompetenz verhindert, dass die Klassiker zu bestaunten musealen Reliquien werden, indem sie den produktiven Umgang mit ihnen ermöglicht. Denn es gibt keinen Königsweg zur Beherrschung der Klassiker: Λέγεται δὲ καὶ Διονύσιον τραγῳδίαν ποιεῖν φαύλως πάνυ καὶ γελοίως, ὥστε τὸν Φιλόξενον πολλάκις δι᾽ αὐτὴν εἰς τὰς λατοµίας ἐµπεσεῖν οὐ δυνάµενον κατέχειν τὸν γέλωτα. οὗτος τοίνυν πυθόµενος ὡς ἐγγελᾶται, τὸ Αἰσχύλου πυξίον εἰς ὃ ἐκεῖνος ἔγραψε σὺν πολλῇ σπουδῇ κτησάµενος, αὐτὸς ᾤετο ἔνθεος ἔσεσθαι καὶ κάτοχος ἐκ τοῦ πυξίου· ἀλλ᾽ ὅµως ἐν αὐτῷ ἐκείνῳ µακρῷ γελοιότερα ἔγραψεν ... (Adv. ind. 15)
1
Vgl. zum Attizismus jetzt auch Probert 2011, 269–292, die darlegt, dass in diesem Kampf um Richtig und Falsch allein schon das Signet ‚attisch’ als Vorentscheidung dienen konnte, selbst wenn die attische Form als solche inkorrekt war.
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Auch von Dionysios erzählt man, er habe mehr schlecht als recht eine ziemlich erheiternde Tragödie verfasst, mit dem Erfolg, dass Philoxenos ihretwegen mehrmals in die Steinbrüche geschickt wurde, weil er sich das Lachen einfach nicht verbeißen konnte. Als Dionysios nun erfuhr, dass man über ihn lachte, da kaufte er voller Eifer das Täfelchen des Aischylos, auf dem jener eigenhändig geschrieben hatte, und glaubte, jetzt werde auch ihn die Muse küssen und göttliche Inspiration werde von ihm Besitz ergreifen, nur wegen des Täfelchens: Stattdessen schrieb er darauf noch viel größeren Unsinn ...
Nur der ,Umweg‘ über die Philologie führt zu klassizistischem Knowhow, während die Leier des Orpheus ihrem neuen Besitzer nur Unglück bringt.2 Die Philologie lehrt die Gebildeten die Regeln der Kunst, wie der Sprecher von Adv. ind. es auf den Punkt bringt. Aller Bücherbesitz wird nicht reichen, ... ἢν µὴ εἰδῇς τὴν ἀρετὴν καὶ κακίαν ἑκάστου τῶν ἐγγεγραµµένων καὶ συνίῃς ὅστις µὲν ὁ νοῦς σύµπασιν, τίς δὲ ἡ τάξις τῶν ὀνοµάτων, ὅσα τε πρὸς τὸν ὀρθὸν κανόνα τῷ συγγραφεῖ ἀπηκρίβωται καὶ ὅσα κίβδηλα καὶ νόθα καὶ παρακεκοµµένα. (Adv. ind. 2) ... wenn du nicht auch die Stärken und die Schwächen von jedem Detail des Geschriebenen erkennst und verstehst, was alles bedeutet, wie die Wörter gefügt sind, was vom Verfasser nach den Regeln der Kunst ausgearbeitet, was falsch, was unecht und was schlecht gemacht ist.
Agonaler Einsatz von und agonale epistemische Beschaffenheit der Philologie korrespondieren also. Bildungsbewährung ist nur über mühsames Studium zu erlangen, auch wenn man sich, wie oben gesehen, den leichtesten Weg wünschen würde. Orpheus’ Leier und Aischylos’ Täfelchen sind zwar keine tauglichen Inspirationsquellen. Aber wie wäre es, wenn man das Glück hätte, Homer selbst zu begegnen und mit ihm ein philologisches Interview über seine Dichtung zu führen? Dieses unglaubliche Glück widerfährt dem Erzähler der Wahren Geschichten Lukians, als ihn seine Reise auf die Insel der Seligen führt. Οὔπω δὲ δύο ἢ τρεῖς ἡµέραι διεληλύθεσαν, καὶ προσελθὼν ἐγὼ Ὁµήρῳ τῷ ποιητῇ, σχολῆς οὔσης ἀµφοῖν, τά τε ἄλλα ἐπυνθανόµην καὶ ὅθεν εἴη, λέγων τοῦτο µάλιστα παρ’ ἡµῖν εἰσέτι νῦν ζητεῖσθαι. ὁ δὲ οὐδ’ αὐτὸς µὲν ἀγνοεῖν ἔφασκεν ὡς οἱ µὲν Χῖον, οἱ δὲ Σµυρναῖον, πολλοὶ δὲ Κολοφώνιον αὐτὸν νοµίζουσιν· εἶναι µέντοι γε ἔλεγεν Βαβυλώνιος, καὶ παρά γε τοῖς πολίταις οὐχ Ὅµηρος, ἀλλὰ Τιγράνης καλεῖσθαι· ὕστερον δὲ ὁµηρεύσας παρὰ τοῖς Ἕλλησιν ἀλλάξαι τὴν προσηγορίαν. ἔτι δὲ καὶ περὶ τῶν ἀθετουµένων στίχων ἐπηρώτων, εἰ ὑπ’ ἐκείνου εἰσὶ γεγραµµένοι. καὶ ὃς ἔφασκε πάντας αὑτοῦ εἶναι. κατεγίνωσκον οὖν τῶν ἀµφὶ τὸν Ζηνόδοτον καὶ Ἀρίσταρχον γραµµατικῶν πολλὴν τὴν ψυχρολογίαν. ἐπεὶ δὲ ταῦτα ἱκανῶς ἀπεκέκριτο, πάλιν αὐτὸν ἠρώτων τί δή ποτε ἀπὸ τῆς µήνιδος τὴν ἀρχὴν ἐποιήσατο· καὶ ὃς εἶπεν οὕτως ἐπελθεῖν αὑτῷ µηδὲν ἐπιτηδεύσαντι. καὶ µὴν κἀκεῖνο ἐπεθύµουν εἰδέναι, εἰ προτέραν ἔγραψεν τὴν Ὀδύσσειαν τῆς Ἰλιάδος, ὡς οἱ πολλοί φασιν· ὁ δὲ ἠρνεῖτο. ὅτι µὲν γὰρ οὐδὲ τυφλὸς ἦν, ὃ καὶ αὐτὸ περὶ αὐτοῦ λέγουσιν, αὐτίκα ἠπιστάµην· ἑώρα γάρ, ὥστε οὐδὲ πυνθάνεσθαι ἐδεόµην. πολλάκις δὲ καὶ ἄλλοτε τοῦτο ἐποίουν, εἴ ποτε αὐτὸν σχολὴν ἄγοντα ἑώρων· προσιὼν γὰρ ἄν τι ἐπυνθανόµην αὐτοῦ, καὶ ὃς προθύµως πάντα ἀπεκρίνετο, καὶ µάλιστα µετὰ τὴν δίκην, ἐπειδὴ ἐκράτησεν· ἦν γάρ τις γραφὴ κατ’ αὐτοῦ ἀπενηνεγµένη ὕβρεως ὑπὸ Θερσίτου ἐφ’ οἷς αὐτὸν ἐν τῇ ποιήσει ἔσκωψεν, καὶ ἐνίκησεν ὁ Ὅµηρος Ὀδυσσέως συναγορεύοντος. (Ver. hist. 2.20)
2
Vgl. Adv. ind. 11f.
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Peter v. Möllendorff Nachdem noch nicht einmal zwei oder drei Tage vergangen waren, ging ich zum Dichter Homer. Wir hatten beide Muße, und ich fragte ihn unter anderem, woher er stamme, wobei ich erwähnte, dass dieser Punkt bei uns bis heute am umstrittensten sei. Er antwortete, dass er selbst wisse, dass einige ihn für einen Chier hielten, andere für einen Smyrnäer und viele für einen Kolophonier. Er sei jedoch Babylonier und werde von den Bürgern nicht Homer, sondern Tigranes genannt. Den Namen habe er später, als er eine Geisel bei den Griechen war, geändert. Weiter stellte ich ihm Fragen über die als unecht geltenden Verse, ob sie von ihm geschrieben worden seien. Er sagte, dass alle von ihm stammten. Da wurde mir die Verächtlichkeit des frostigen Geschwätzes der Grammatiker um Zenodot und Aristarch klar. Als er all dieses hinreichend beantwortet hatte, fragte ich ihn, warum er sein Werk mit dem Zorn begonnen habe. Er antwortete, das sei ihm einfach so eingefallen ohne tiefere Absicht. Ich wollte auch wissen, ob er die Odyssee vor der Ilias geschrieben habe, wie viele behaupteten. Das verneinte er. Dass er nicht blind war, was man ebenfalls über ihn sagte, hatte ich sofort bemerkt. Ich sah es nämlich, sodass ich nicht fragen musste. Auch sonst redete ich oft mit ihm, wenn ich merkte, dass er Zeit hatte. Ich ging zu ihm hin und fragte ihn etwas. Er beantwortete alles bereitwillig, vor allem nachdem er seinen Prozess gewonnen hatte. Thersites hatte nämlich gegen ihn eine Klage wegen Beleidigung erhoben, weil er ihn in seiner Dichtung verspottet hatte, und Homer gewann mit Odysseus als Verteidiger.
Die generelle Bedeutung des Themas ,Homer‘ als eines elementaren und ursächlichen Arbeitsgebiets der antiken Philologie zeigt sich bereits in den ersten Worten: ‚Lukian‘ ist gerade erst einmal zwei bis drei Tage auf der Insel, da macht er sich schon an Homer heran, um ihm die offensichtlich drängenden Fragen zu stellen. Auffällig scheint mir darüber hinaus, dass gleich zu Beginn – wie auch noch einmal am Ende – betont wird, dass die Diskussion solcher Probleme eine Sache der Muße sei. Damit greift Lukian ein erstes zentrales Motiv der Wahren Geschichten insgesamt auf, heißt es doch schon im ersten Satz des Proöms, Zweck der vorliegenden Schrift sei es, ... µετὰ τὴν πολλὴν τῶν σπουδαιοτέρων ἀνάγνωσιν ἀνιέναι τε τὴν διάνοιαν καὶ πρὸς τὸν ἔπειτα κάµατον ἀκµαιοτέραν παρασκευάζειν. (Ver. hist. 1.1) ... nach der Lektüre der seriöseren Texte den Verstand zu entspannen und für die folgenden Mühen reifer zu machen.
Die Beschäftigung des Gebildeten mit Philologie ist also, genau wie die Beschäftigung mit den Wahren Geschichten selbst, eine Angelegenheit der Mußezeit, mithin ein Akt weniger der Produktion als vielmehr der Rezeption, eine Tätigkeit, die selbst nichts Nützliches hervorbringt, zugleich aber doch unentbehrlich ist für die Schärfung und kreative Entspannung des Geistes, der daraus wiederum besser gerüstet für die eigentlichen Anforderungen des Gebildeten hervorgehen soll.3 Eine solche Festlegung philologischer Beschäftigung auf die Muße impliziert ihre Ablehnung als eigentliche Profession, wie Lukian ausweislich seines Œuvres ja überhaupt in geradezu sokratischer Manier ein Misstrauen gegenüber (vermeintlichen) Professionellen hegt. Sie sind seiner Auffassung nach entweder prätentiöse Scharlatane, wie beispielsweise der Rhetorum praeceptor oder die zeitgenössischen Philosophen im Piscator, fehlgeleitete Amateure wie der ältliche Möchtegernphilosoph Hermotimus, oder, auf der gegenüberliegenden Seite der Skala, 3
Zu dieser Bedeutung des Motivs in den Wahren Geschichten vgl. Möllendorff 2000, 34–37.
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spitzfindig und vernagelt wie seine Gegner im Soloecista und im Pseudologista. Wie soll Philologie Lukians Ansicht nach also aussehen, wenn sie richtig und erfolgreich betrieben wird?4 Eine Antwort hierauf hat verschiedene Stoßrichtungen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das philologische Frage-Antwort-Spiel zwischen Homer und ‚Lukian‘ auf der gleichen Fiktionalitätsebene steht wie der Rest des Reiseberichts der Wahren Geschichten. Die philologische Metaliteratur ist damit Teil derjenigen Literatur geworden, über die sie zu sprechen pflegt. Dies dokumentiert die oben erwähnte Überlegung, dass das philologische Wissen zum integrativen Bestandteil und zu einem operativen Faktor der Rezeption der Klassiker geworden ist. Wenn ‚Lukian‘ im Proöm behauptet, jedes Detail seines Reiseberichts stelle eine Anspielung auf die ältere Literatur dar,5 dann gehören die Metatexte der Philologie nunmehr zu jenen Primärobjekten der kaiserzeitlichen Mimesis dazu; und das heißt, sie werden zu Gegenständen all jener ästhetischen Verarbeitungsverfahren, derer sich die kaiserzeitlichen Gebildeten im Umgang mit den Klassikern bedienen. Zweitens ist natürlich von großem Interesse, was für Antworten Homer auf die großen Fragen der Homerphilologie gibt. Sie seien hier nur stichwortartig resümiert: a. Biographie: Babylon, Tigranes, ‚Homeros‘. b. Athetierte Verse: alle von Homer; Verachtung für Zenodot, Aristarch & Co c. d. e. f. g.
wegen ψυχρολογία. Ilias 1,1: Zufall. Chronologie Ilias – Odyssee: Ilias früher. Homers Nicht-Blindheit: evident. Allgemeiner Verweis auf weitere Klärungen Prozess Homer – Thersites (γραφὴ ὕβρεως): Sieg Homers
Die Antworten (a) und (e) betreffen Homers Vita, (b) und (d) globale Fragen zu Ilias und Odyssee, (c) betrifft eine Einzelfrage zu Vers 1 der Ilias. Es folgt mit (f) ein unbestimmter Hinweis auf weitere Fragen und Antworten. Durch ihn wird der kurze Bericht von Homers Prozess gegen Thersites (g), der das Kapitel als Höhepunkt abschließt, von den ersten fünf Themen abgetrennt. Diese sind also, wie ihre punktsymmetrische Disposition zeigt, als Ensemble konzipiert, von dem sich das letzte Thema absetzt. Die Richtigkeit dieser Beobachtung erweist sich auch am Stil der Erzählung. Das Ensemble der fünf Themen weist einen einheitlichen, repetitiven, stark reihenden Stil auf:
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Dass sich Lukian derartige Fragen durchaus gestellt hat, zeigen seine Reflexionen über das Enkomion im Dialogpaar Imagines / Pro Imaginibus, über die Ekphrasis in De domo und über die Historiographie in Quomodo Historia conscribenda sit. τῶν ἱστορουµένων ἕκαστον οὐκ ἀκωµῳδήτως ᾔνικται πρός τινας τῶν παλαιῶν ποιητῶν τε καὶ συγγραφέων καὶ φιλοσόφων ... („jedes einzelne Stück meiner Geschichte [enthält] nicht unwitzige Anspielungen auf alte Dichter, Geschichtsschreiber und Philosophen“: Ver. hist. 1.2).
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a. b. c. d. e. f. g.
ἐπυνθανόµην / ὁ δὲ … ἔφασκεν, ἔλεγεν ἔτι δὲ ἐπηρώτων / καὶ ὃς ἔφασκε …: κατεγίνωσκον πάλιν ἠρώτων / καὶ ὃς εἶπεν καὶ µὴν … ἐπεθύµουν εἰδέναι / ὁ δὲ ἠρνεῖτο αὐτίκα ἠπιστάµην … οὐδὲ πυνθάνεσθαι ἐδεόµην πολλάκις … ἐπυνθανόµην / καὶ ὃς … ἀπεκρίνετο ἦν γάρ τις γραφὴ κατ᾽ αὐτοῦ ἀπενηνεγµένη ὕβρεως ὑπὸ Θερσίτου ἐφ᾽ οἷς αὐτὸν ἐν τῇ ποιήσει ἔσκωψεν, καὶ ἐνίκησεν ὁ Ὅµηρος Ὀδυσσέως συναγορεύοντος.
Einer jeweils nur leicht variierten, nie partizipialen Frageformulierung folgt eine parataktisch angeschlossene, ebenfalls im Ausdruck nur wenig variierte Antwort; allein (e) weicht von diesem Schema in Form einer – geradezu wie eine Schlussmarkierung wirkenden – Inversion ab, indem das Frage-Antwort-Prinzip negiert wird. Der Lakonismus des Stils, die geradezu gelangweilte Abarbeitung6 eines Fragenkatalogs passt nun vorzüglich zum Inhalt der Ausführungen. Tatsächlich nämlich gibt Homer Antworten, die zwar ultimativer Natur sind, jedoch letztlich nichts entscheiden. Auf die Frage nach seinem Namen zieht Homer einen in der jahrhundertelangen philologischen Debatte über seine Vita7 noch nie genannten ‚Tigranes‘ aus der Tasche, bringt damit aber ja nur einen weiteren Namen ins Spiel. Die homerische Textkritik und Echtheitsdebatte wird unter (b) mit einem Streich vom Tisch gewischt und faktisch für obsolet erklärt. Überlegt man sich, wieviel hermeneutischer Scharfsinn allein in unserer Zeit in die Deutung des ersten Ilias-Verses gesteckt worden ist und welches Renommee dieser Vers als erstes Dokument der abendländischen Literatur besitzt, wird man unter (c) mit einem homerischen Achselzucken bitter enttäuscht,8 und dass die Ilias vor der Odyssee gedichtet worden sei (d), ist selbst in der Antike selten bestritten worden;9 ihre Priorität ist ungefähr so evident wie (e) Homers Nicht-Blindheit.
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Variiert werden allerdings die (partiell adverbialen) Konnektoren – (a) unmarkiert, (b) ἔτι δὲ, (c) πάλιν, (d) καὶ µὴν, (e) πολλάκις –, was die Eintönigkeit ein wenig aufbricht. Vgl. hierzu und zur Forschungsgeschichte Vogt 1991, 365–377. Quasi nebenbei wird auch jeder Inspirationspoetik das Wasser abgedreht. Behauptet Homer in V. 1 der Ilias die Unterstützung seines Dichtens durch die Muse, so gibt er hier eine rationalere Antwort, die jedoch nicht nur auch aus philologischer Perspektive höchst unbefriedigend ist, sondern auch Homer als Schaumschläger entlarvt, der seine nahezu gottgleiche Verehrung keineswegs verdient hat. Das hohe Interesse der Homerphilologie gerade am ersten Wort der Ilias zeigt sich beispielsweise in den Scholia vetera ad Iliadem, die mit der Abwägung unterschiedlicher Gründe für den Beginn mit einem „so übel beleumundeten Wort“ (οὕτω δυσφήµου ὀνόµατος: Schol.vet.Il. D 1a1–13, hier 1a2) einsetzen und schlichte sachliche Gebotenheit, proömiale Spannungserzeugung und Vorbereitung der Rezipienten auf die Schrecken der folgenden Erzählung oder gar – subtiler – eine Art dahinterliegender kathartischer Tragödienpoetik vermuten. Spuren der Behauptung einer Priorität der Odyssee finden sich immerhin indirekt in Longins Diskussion der Erhabenheit der beiden homerischen Epen (Subl. 9.11–14), wo sie eigens zurückgewiesen wird: δῆλος γὰρ ἐκ πολλῶν τε ἄλλων συντεθεικὼς ταύτην δευτέραν τὴν ὑπόθεσιν (es ergibt sich auch aus vielen anderen Gründen schlagend, dass er diese Handlung [sc. die Odyssee] als zweite zusammengestellt hat: Subl. 9.12).
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In wenigen Zeilen lässt Lukian also aus jahrhundertealten Debatten gewissermaßen die Luft heraus. Wodurch entsteht dieser Eindruck? Die Fragen weisen zwar zurück auf alte philologische Dispute. Diese Dispute lebten jedoch gerade davon, dass man darüber streiten konnte, welcher Vers Homers echt sei und welcher nicht, oder woher sein Name stamme. Der Philologe benötigte, um sich in diesen Debatten durchzusetzen und Entscheidungsautorität in den Fragen nach Richtig und Falsch zu gewinnen, Scharfsinn, Gelehrsamkeit und Kreativität. Nur mit ihrer Hilfe konnte er seinen Antworten so viel Wahrscheinlichkeit verleihen, dass sie im Bildungsdiskurs zu Wahrheiten wurden. Alle diese Qualitäten, und damit die Philologie selbst, werden jedoch durch Homers Anwesenheit und Befragbarkeit unwichtig, ja obsolet. Seine Antworten sind unhinterfragbar, sie ersticken jede Auseinandersetzung im Keim; keine philologische Frage kann hiernach in sinnvoller Weise noch einmal gestellt werden, an den Platz der überzeugenden, brillanten und interessanten, weil umstrittenen Wahrscheinlichkeit tritt die (langweilige) Wahrheit.10 Philologie lebt also davon, dass in ihren Disputen Antworten nur agonal gegeben werden können; auf der Insel der Seligen gäbe es hingegen autoritative Entscheidungen, womit jede Frage ein für allemal erledigt wäre: Sie würde sich gewissermaßen schon im Augenblick ihres Stellens beantworten oder jedenfalls in einer Mußestunde beantworten lassen, mithin bräuchte man sie eigentlich auch nicht mehr zu stellen. Es ist ohnehin klar, dass Homer immer die einzig richtige Antwort kennt, und wissen wir erst einmal, dass Homer sich bei µῆνιν ἄειδε θεά nichts Besonderes gedacht hat, ist es müßig, wenn uns eine kluge und espritreiche Alternative einfiele. Kann Homer alle Antworten geben, ist dem Philologen nichts mehr zu verdanken. Die Philologie lebt vom Potentialis, davon, dass jeder Philologe recht haben könnte. Liest man diesen Passus der Wahren Geschichten als reine Philologie-Satire, so erweist sich die Philologie hier als eine Wissenschaft der Selbstbespiegelung, in der es zudem (außerhalb reiner Systematisierungsbemühungen) Richtig und Falsch letztlich nicht geben kann, in der also eigentliche ἐπιστήµη im Sinne eines So- oder Nicht-so-Seins nicht gewonnen werden kann. Philologie wäre damit überflüssig und, wie Lukian treffend formuliert, reine ψυχρολογία. Hinter jeder Satire steckt aber auch ein positives Gegenbild, und das ist im vorliegenden Fall eine Philologie, die ihre Agonalität als eine Grundbefindlichkeit akzeptiert, in deren Folge Philologie die menschliche διάνοια bereichert und schult. Anders gesagt: Zu wissen, dass der erste Vers der Ilias wirklich von Homer stammt und ihm ,einfach so‘ eingefallen ist, klingt nicht nur gelangweilt, sondern erweist sich auch als banal gegenüber dem philologischen Nachdenken darüber, ob der Vers 10 Dabei lässt sich aus der Tatsache, dass der Erzähler der Wahren Geschichten am Ende des Proöms (Ver. hist. 1.4) auf der vollständigen Erlogenheit des gesamten Berichts insistiert, natürlich auch ableiten, dass es mit der ‚absoluten‘ Wahrhaftigkeit dieser Aussagen Homers nicht weit her ist. Ein Leser hätte hier sicher auch keine authentische Enthüllung erwartet. Für meine Überlegungen ist stattdessen der hier imaginierte Autoritätsgestus des ‚Autors Homer‘ als solcher wichtig: Was würde sich aus der Möglichkeit einer Befragung Homers für die Arbeit der Philologen ergeben?
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gut, schlecht, angemessen, verbesserbar ist. Genauso wenig könnten die Überlegungen Zenodots und Aristarchs zur Echtheit von Versen tatsächlich dadurch verächtlich werden, dass wir wüssten, dass Athetesen nicht erforderlich sind, weil sie auch dann immer noch ein hohes Maß an axiologischem Wissen, nämlich über die Qualität von Dichtung und ihre Bewertung produzieren würden. Philologie bringt genau dann ein axiologisches Wissen über Literatur hervor, wenn sie die Philologen in die Auseinandersetzung zwingt, wenn sie sie nötigt, ihre Urteile zu begründen, gegen andere Urteile zu verteidigen, die Auffassungen anderer zu widerlegen. Zumindest ein Bildungsbeitrag der Philologie besteht also in ihrer agonalen Polyphonie und in der Ausbildung metasprachlicher Kompetenz. Dass dem so ist, zeigt sich am letzten Thema der Homerbefragung auf der Insel der Seligen, Homers Prozess gegen Thersites. Während Homer die übrigen Fragen in seinen Mußestunden erledigt, findet dieses Verfahren sein wirkliches Interesse, so sehr, dass er währenddessen offensichtlich gar keine Zeit für Quisquilien hat. Wir müssen uns fragen, ob die Fiktion eines solchen Prozesses eigentlich noch Gegenstand von Philologie ist oder bereits die Abwendung von einer philologischen Auseinandersetzung mit einem Autor und seinem Werk darstellt. Eine Entscheidungshilfe bietet uns hier möglicherweise ein scholiastischer Passus, der fast wortgleich in Eusthatios’ Ilias-Kommentar (zu B 212ff.) übernommen worden ist, aus dem ich hier zitiere: Ἄλλοι µέντοι ἐπίτροπόν τινα τοῦ ποιητοῦ γενέσθαι Θερσίτην φασίν, ὃν κακῶς διαθέµενον τὴν οὐσίαν ἄλλως µὲν ὁ ποιητὴς βλάψαι οὐκ ἔσχεν οἷα δωροδοκοῦντα καὶ τὰς δικαστικὰς ψήφους ὑφελκόµενον, κέκρικε δὲ ἀµύνασθαι αὐτὸν διὰ τοῦ παραρρῖψαι τῇ ποιήσει κλῆσιν Θερσίτου, ἀχρείου καὶ αἰσχίστου ανδρός, καὶ οὗ τὸ ἐναντίον ἐπί τινων αὐτῷ φιλουµένων ποιεῖ. (Eusth. ad Hom. Il. 204,13–18) Andere indes behaupten, Thersites sei ein Vormund des Dichters gewesen, der sein Vermögen schlecht verwaltet habe. Der Dichter hatte keine Möglichkeit, ihm auf andere Weise zu schaden, weil Thersites die Richter bestochen und ihre Stimmen auf seine Seite gezogen hatte, und so hielt er es für richtig, ihn dadurch abzuwehren, dass er seiner Dichtung den Namen Thersites hinzufügte, eines nutzlosen und überaus hässlichen Mannes. Im Falle anderer Personen, die ihm lieb und wert sind, tut Homer auch das Gegenteil.
Was wir bei Lukian lesen, ist letztlich nichts anderes als das, was in den Scholien vorgeführt wird. Dort wird ein literarischer Befund – die Ereignisse um Thersites – mithilfe eines Biographismus des Dichters erklärt, der als aitiologische Tatsache eingeführt wird, faktisch aber aus dem Befund pseudoplausibel abgeleitet ist. Ganz vergleichbar imaginiert Lukian in den Wahren Geschichten, jener ,historische Thersites‘ (den die Scholien doch erst konstruiert haben) befinde sich nach seinem Tode als Trojakämpfer auf der Insel der Seligen und nehme nun den literarischen Text (der in der philologischen Konstruktion als Attacke gegen ihn entworfen wurde) zum Anlass für weiteres Agitieren, und zwar erneut in einem Prozess, den er hier jedoch verliert; denn die Richter der Unterwelt sind, so dürfen wir ergänzen, anders als ihre irdischen Pendants, unbestechlich. Während die aitiologischen Überlegungen zu Thersites durchaus noch Ergebnis philologischen Interesses sind, ist Lukians Weiterverarbeitung dieser Überlegungen als Literari-
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sierung von Philologie einzustufen, als Integration der Metadisziplin Philologie in das Korpus der mimetisch zu verarbeitenden Klassiker. Vertrackt wird der Fall allerdings nun dadurch, dass Odysseus als Anwalt Homers ins Spiel kommt. Mit den letzten Worten des Satzes und des Kapitels rückt der Text auf eine Ebene der Phantastik, indem er sich des heterometaleptischen Motives bedient,11 eine Figur mit ihrem Autor kommunizieren zu lassen. Entweder müssen wir annehmen, Lukian spiele hier auf eine philologische Erklärungsversion an, in der, wie Thersites, auch Odysseus eine historische Gestalt und Zeitgenosse Homers war,12 oder aber, dass hier eine Intensivierung der schon konstatierten Fiktionalisierung philologischen Fragens vorliege: Ließ sich Odysseus’ Verhalten gegenüber Thersites in der Ilias und damit also Homers Erfindung als eine faktische Hybris ansehen? Eine Verankerung im homerischen Umfeld wäre insofern gegeben gewesen, als ja Thersites wahrscheinlich in den Kypria und anderen Epen des trojanischen Kreises deutlich positiver dargestellt war als in der Ilias13 (was auch wieder zu den zitierten Spekulationen der Scholiasten beigetragen haben mag). Wir befinden uns offensichtlich hier genau an der Grenze, wo philologische Erforschung des Textes und seiner Hintergründe in seine Bewertung und seine kreative Weiterschreibung übergeht, und dieser Übergang ist fließend. Kommen wir aber zurück auf das schon konstatierte Eigeninteresse Homers an diesem Prozess. Denn anders als bei den vorangehenden Fragen ist ja der Ausgang der Verhandlung auch für Homer im Vorhinein ungewiss. Hier fällt nun auf, dass Lukian erstaunlich schweigsam ist. Wir wüssten doch gern, was Odysseus zur Verteidigung Homers vorbrachte und wie die Richter ihren Freispruch begründeten. Es scheint aber unsere Sache, ja womöglich unsere Aufgabe zu sein, Antworten auf diese Fragen zu formulieren, und es ist evident, dass hierfür eine gute Kenntnis sowohl des homerischen Textes als auch der Homerphilologie von großem Nutzen wäre. Als analoges Beispiel sei Dion von Prusas elfte Rede Τρωικὸς περὶ τοῦ Ἴλιον µὴ ἁλῶναι angeführt, die das homerische Epos in ganz vergleichbarer Weise auf den Kopf stellt, indem der Sprecher aus dem Werk heraus zu zeigen versucht, dass Troja tatsächlich nie eingenommen wurde. Ein solches Weiterdenken im Sinne einer kreativen Fortschreibung philologischer Texterklärung, wie wir sie aus den Scholien im Falle des Thersites kennengelernt ha11 Vgl. hierzu Möllendorff 2013, 346–386, hier: 371f., und zum Begriff der Heterometalepse Rabau, 2005, 59–72. 12 Das Certamen Homeri et Hesiodi 7–53, wo übrigens auch die in der Tradition gegebenen Antworten auf die Frage nach Homers Abstammung und Heimat gelistet sind, fingiert selbst wiederum eine in Hexametern von Homer selbst verfasste Herkunftsangabe (Cert. 37–40), in der er sich als Ithakesier und Sohn des Telemachos und der Epikaste, der Tochter des Nestor, bezeichnet. Odysseus wäre dann als Großvater Homers natürlich für die Verteidigung seines Enkels prädestiniert. Hier zeigt sich in jedem Fall der gleiche Modus des Umgangs mit philologischen Themen wie in den hier behandelten Passagen aus Lukians Werk. Zur schwierigen Textkonstitution des Certamen und den damit verbundenen Datierungsfragen – insbesondere der Schlussteil der Schrift könnte womöglich erst in Lukians Zeit entstanden sein – vgl. Heldmann 1982; die ältere These, dass das Certamen dem Alkidamas und damit ins 5. Jh. v. Chr. gehört, gilt allerdings ebenfalls als noch nicht zur Gänze widerlegt. 13 Vgl. Ebert 1969, 159–175.
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ben, würde zur Abfassung einer Deklamation (µελέτη) führen und damit ins Zentrum kaiserzeitlicher gebildeter Epideixis. Die Möglichkeiten wären hier vielfältig, und sie wären alle entschieden agonal, da man nicht nur Odysseus’ Verteidigungsrede, sondern auch Thersites’ Anklagerede entwerfen könnte. Dies wäre selbst definitiv keine Philologie sui generis mehr, doch wäre vorstellbar, dass stattdessen hier der Punkt erreicht ist, an dem Philologie aus kaiserzeitlicher oder jedenfalls lukianischer Perspektive relevant wird (wie dieses Verfahren ja auch Homer viel mehr interessiert als die ihm von ‚Lukian‘ vorgelegten Fragen der Homerphilologie) und wo sie ihren Zweck findet. Die Beschäftigung mit griechischer Sprache und Literatur, also die Philologie, erweist sich damit als genuiner Gegenstand der Bildungskultur, und Lukian führt uns vor Augen, dass die Sinnhaftigkeit philologischen Tuns als der Tätigkeit eines πεπαιδευµένος nicht allein in der Textanalyse besteht – im Gegenteil: Hierauf beschränkt gerät Philologie zur Psychrologie. Sinnhaftigkeit ist vielmehr nur dann gegeben, wenn philologisches Tun zu einer so intensiven und soliden Anverwandlung von Sprache und Literatur durch den Gebildeten führt, dass er sie und sich in der agonalen Konfrontation mit anderen Gebildeten auch bewähren kann, und zwar zum einen im Disput über Texte, zum anderen im Verfassen von Texten. Wie nicht anders zu erwarten, finden sich in Lukians umfangreichem Œuvre weitere Beispiele für die Literarisierung agonaler Philologie: Neben vollwertigen Dialogen wie Lexiphanes oder Soloecista stehen implizit dialogische Texte wie De lapsu inter salutandum, Pseudologista, Adversus indoctum, die sich entweder auf vorherige Attacken beziehen oder vergleichbar scharfe Repliken herausfordern. Ein plakatives Beispiel für die implizite Variante ist die Anklagerede des Konsonanten Sigma im Iudicium vocalium. Hier wird eine genuin linguistische Frage nach dem Geltungsbereich von -σσ- und -ττ- im attischen Dialekt in Form eines Gerichtsverfahrens verhandelt; uns wird jedoch nur Sigmas Anklagerede präsentiert. Sigma gibt in einem längeren Teil in einer narrativierten Darstellung eine ganze Reihe von Beispielen, in denen die attische Ersetzung des Σ durch Τ an Beispielen vorgeführt und als ‚nachbarschaftliche Übergriffigkeiten‘, letztlich also ὕβρεις, des Tau desavouiert wird; dass die Ersetzung von Sigma durch Tau auch im böotischen Dialekt üblich ist, wird mittels einer kleinen Geschichte als erste Spur jener Übergriffe dargestellt (Iud.Voc. 7). Die spezifische kaiserzeitliche Aktualität des Textes besteht nun darin, dass faktisch die τ-Varianten eine ältere Stufe des Attischen repräsentieren, während die σ-Varianten sich erst seit dem 4. Jh. v. Chr. in der attischen Koine allmählich durchsetzten. Taus angeblich usurpatorisches Tun ist also in Wirklichkeit ein attizistischer Rückgriff, der sich letztlich nur zurückholt, was Sigma ihm früher einmal genommen hat.14 Der Witz besteht nun darin, dass in einem genuin philologischen Traktat diese beiden Sprachzustände unpolemisch nebeneinander und nicht einmal unbedingt in eine historische Abfolge gestellt worden wären;15 indem Lukian aber den Darstellungsmodus einer An14 Vgl. Hopkinson 2008, 151. 15 Zum Desinteresse antiker griechischer Philologie an Fragestellungen zur Diachronie sprachlicher Phänomene vgl. Lallot 2011, 241–250.
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klagerede wählt, kann er den Sprecher so agieren lassen, wie ein Prozessbeteiligter handeln würde, der natürlich ein starkes Interesse daran hätte, für sein Anliegen schädliche Argumente zu kaschieren. So aber entsteht hier im Grunde der Bedarf der Ausarbeitung einer Verteidigungsrede für Tau, die wiederum niemandem anderen als dem Rezipienten auferlegt sein kann. Und erst aus einem solchen agonalen Miteinander würde dann ein einigermaßen vollständiges Bild der linguistischen Vorgänge hervorgehen. Auch in diesem Text geht der Sprecher gegen Ende zu einer intensiveren Form der Fiktionalisierung philologischer Fragen über: καὶ ὁ µέν τι καλὸν ἰδὼν καλὸν εἰπεῖν αὐτὸ βούλεται, τὸ δὲ παρεισπεσὸν ταλὸν εἰπεῖν αὐτοὺς ἀναγκάζει ... πάλιν ἕτερος περὶ κλήµατος διαλέγεται, τὸ δὲ – τλῆµον γάρ ἐστιν ἀληθῶς – τλῆµα πεποίηκε τὸ κλῆµα. καὶ οὐ µόνον γε τοὺς τυχόντας ἀδικεῖ, ἀλλ᾽ ἤδη καὶ τῷ µεγάλῳ βασιλεῖ, ᾧ καὶ γῆν καὶ θάλασσαν εἶξαί φασι καὶ τῆς αὑτῶν φύσεως ἐκστῆναι, τὸ δὲ καὶ τούτῳ ἐπιβουλεύει καὶ Κῦρον αὐτὸν ὄντα Τῦρόν τινα ἀπέφηνεν. (Iud. Voc. 11) Einer, der etwas Schönes sieht, will es auch schön (καλόν) nennen: Da fällt das Tau über ihn her und zwingt ihn, ‚ταλόν‘ zu sagen ... Dann wieder spricht ein anderer über einen Zweig (κλῆµα), Tau aber – wahrhaftig dreist! – macht aus dem Zweig eine Dreistigkeit (τλῆµα). Und nicht nur einfache Leute attackiert es, sondern sogar dem Großkönig, dem, wie man sagt, Erde und Meer gehorchen und auf dessen Befehl sie ihre eigene Natur aufgeben, stellt es nach und macht ihn, der doch Kyros (Κῦρος) höchstpersönlich ist, zu einem Herrn Tyros (Τῦρος).
Hier wird aus einer an sich sterilen Beobachtung dialektalen Lautwechsels plötzlich ein kreatives Spiel mit der Sprache, das – genau wie das Weiterdenken der Homerphilologie in den Wahren Geschichten ein neues Motiv generierte – sogar neue Wörter hervorbringt. Offensichtlich versucht Sigma ja nun, Taus Übergriffigkeit auch anderen Konsonanten, hier dem Kappa, gegenüber zu zeigen und es so als Sozialschädling zu erweisen. Während die Ersetzungen κλῆµα/τλῆµα und Κῦρος/Τῦρος zwar linguistischer Unfug sind, aber im Rahmen eines Prozesses doch als eindrucksvolle Irreführung der Richter fungieren, erscheint das von Tau an die Stelle von καλόν gesetzte ταλόν, zunächst einmal unverständlich und obskur.16 Als Überleitung zu den Übergriffen gegen Kappa könnte es aber im Rahmen dieser Anklagerede dann noch einen Sinn ergeben, wenn in Anknüpfung an das Vorangehende noch ein Sigma-Tau-Konflikt im Hintergrund stände. Es würde Tau dann hier offensichtlich vorgeworfen, dass es sich im Zuge seiner allgemeinen Übergriffigkeiten sogar zur hemmungslosen Erfindung eines Nonsensewortes versteige, das nur dann das Etikett der Sprachrichtigkeit erlangen würde, wenn man auch in diesem Fall das Sigma wieder in sein vermeintliches Recht einsetzte: Hieraus ergäbe sich anstelle des inexistenten Pseudo-Attizismus ταλόν ein σαλόν – und dieses nun tatsächlich existierende und mit einiger Wahrscheinlichkeit attische Wort bedeutet nicht gerade nicht ‚schön‘, sondern ‚dumm, verrückt‘: Man versteht Sigmas Zorn über eine solche provokante Unterstellung.17
16 Vgl. Harmon 1961, 407; Hopkinson 2008, 160. 17 Das seltene Wort ist nur belegt bei Hesych. s. v. ὑσθλός (= ὕθλος) und Schol. vet. Ar. Nub. 1070g als Synonym für λῆρος und φλυαρός. Gerade in seiner Rarität liegt durchaus ein
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Die der Gerichtsfiktion inhärente Verleumdung des Gegners krönt Sigma zuletzt mit der Forderung, Tau ans Kreuz zu schlagen. Denn dies entspreche nicht nur seiner graphischen Buchstabenform (T), sondern ἀπὸ δὲ τούτου καὶ τῷ τεχνήµατι τῷ πονηρῷ τὴν πονηρὰν ἐπωνυµίαν (sc. ταῦ > σταυρός) συνελθεῖν (Iud. Voc. 12) ... von ihm, dem Tau, komme dem schlimmen Verfahren auch die schlimme Bezeichnung (sc. Kreuz) zu.
Dass im Wort σταυρός (Kreuz) das Tau auf beiden Seiten von Sigmata gleichsam umzingelt ist,18 bleibt dabei eine unausgesprochene, dennoch gehässige Pointe. Werfen wir zuletzt einen Blick auf einen voll ausgeführten ‚philologischen‘ Dialog, den – Lukian in der älteren Forschung oft abgesprochenen – Soloecista.19 Inhalt dieses Textes ist die Belehrung eines „Sophist“ genannten Unterredungspartners, der behauptet, Solözismen jeder Art bei anderen sogleich entlarven zu können. Loukianos als sein Gesprächspartner stellt ihn auf die Probe.20 Im ersten Teil des Dialogs produziert er gewissermaßen mit Ansage Solözismen, die der Sophist, obwohl gewarnt, allesamt nicht bemerkt (1–4); diese Solözismen werden allerdings auch dem Leser des Dialogs nicht explizit aufgedeckt. Dem nunmehr stark verunsicherten Sophisten (und womöglich auch dem gleichfalls verunsicherten Leser) präsentiert Loukianos im zweiten Teil einen für uns nicht greifbaren Sokrates, Sohn des Mopsos,21 der in einer langen Serie von nach dem nie variierten Muster „A sagte x, daraufhin S y“ gestalteten Bonmots Solözismen enttarnt (5–7). Im Schlussteil (8–12) produziert Loukianos zunächst, dem aus dem ersten Teil bekannten Modell folgend, wiederum beiläufig im Gespräch Solözismen, allerdings erklärt er sie dem immer noch verständnislosen Sophisten diesmal (8– 9); zu guter Letzt folgt eine genuine Unterweisungsserie, in der Loukianos dem Sophisten auf dessen Bitte hin mehrere Beispiele von solözistischen Verwechslungsmöglichkeiten quasi im Lehrvortrag serviert (10–12). Offensichtlich findet hier eine didaktische Intensivierung vom ‚Kompetenztest‘ über die ‚Beispielhäufung mit indirekten Erklärungen‘ bis hin schließlich zur ‚unmittelbaren Explikation‘ statt und nimmt auf die sich erst zunehmend erweisende Unwissenheit des Gesprächspartners Rücksicht. Der Dialog kopiert dabei auf den ersten Blick das platonisch-sokratische Modell der elenktischen Entlarvung nur scheinbar professioneller Fachleute. Anders als bei Sokrates und Platon
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attizistischer Witz; zudem zeigt sich darin auch Sigmas Hass auf Tau, das ihm selbst an solchen für den attizistisch Gebildeten so wertvollen Stellen zuvorkommt. So im Ansatz schon Hopkinson 2008, 160. Kommentar zur Schrift: A. Baar 1883. Zur Frage der Echtheit ebd. 9–11, mit einem klaren Votum für Lukian als Verfasser. Frühere Editoren des Lukiantextes bezeichneten die Gesprächspartner mit ‚Λυκῖνος‘ (so auch Baar 1883) und ‚Σολοικιστής‘. Die Haupthandschriftengruppen der Lukian-Überlieferung haben jedoch ‚Λουκιανός‘ und ‚Σοφιστής‘; so zu Recht auch die Benennung in M.D. Macleods OCT. Baar 1883, 7 hält ihn, wohl zu Recht, für fingiert und vergleicht seinen persönlichen Stil mit dem des Demonax, dessen Historizität ebenfalls nicht außerhalb jedes Zweifels steht.
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führt die Spirale der Elenxis hier aber nicht aufwärts zu immer höheren Stufen des Verständnisses, sondern abwärts zu immer allfälligeren Erklärungen: Der ‚Sophist‘ versteht zu keinem Zeitpunkt des Textes mehr als vorher, und auch die Art seines Nichtwissens bleibt immer gleich. Entsprechend endet der Dialog auch ganz unplatonisch nicht in einer Aporie. Das mag daran liegen, dass es gar nicht darum geht, dem Rezipienten ein grundlegendes definitorisches Verständnis des ‚Solözismus‘ zu vermitteln. Daher wird das Phänomen auch weniger qualitativ als vielmehr quantitativ entfaltet. Das ist jedoch nicht unbedingt ein didaktischer Makel. Der Solözismus stellt ja den Verstoß gegen eine Norm dar, die selbst keineswegs in allen Fällen, die hier zur Sprache kommen, übereinstimmend feststeht; vielmehr sind oft mehrere Gebrauchsweisen denkbar und dem Muttersprachler ohnehin erlaubt, ist er doch selbst eine normsetzende Institution in seiner Sprache. Die Norm der Sprachrichtigkeit ist außerdem Konsequenz einer bestimmten und stets bestreitbaren Kanonisierung. Damit ist der Solözismus zwar nicht in jedem Einzelfall, aber in seiner Gesamtheit ein Phänomen, das der agonalen Festlegung stets aufs Neue bedarf, und mithin ein Resultat philologischen Disputs. Die Rolle des Mitdisputanten nun vermag aber in diesem Text nicht der Sophist zu übernehmen, der von vornherein überfordert ist. Seine vollständige Unfähigkeit, das Spiel mitzuspielen – ein plakatives Defizit, das ihn von allen sokratischen Gesprächspartnern bei Platon deutlich absetzt –, macht seine Dialogposition daher zu einer Leerstelle, die auch hier wieder offensichtlich der gebildete Leser auszufüllen gehalten ist, der je nach Kompetenz durchaus an einigen Stellen ganz anderer Meinung sein könnte als Loukianos, und erst recht, wenn er wüsste, dass Lukian in seinem Œuvre oft genug die Wendungen, die er hier als Schnitzer anprangert, selbst verwendet hat.22 Der Soloecista macht also den Leser zum Agonteilnehmer. Gerade der Mittelteil zeigt ihm dabei, dass es nicht nur um das schiere Erkennen und den Nachweis von Solözismen geht, sondern dass die Enttarnung des Solözisten auf eine witzige 22 Vgl. hierzu insbesondere Weißenberger 1996, 59–67. Die entsprechenden Stellen sind im Apparat von D.M. Macleods OCT dokumentiert. Weißenberger diskutiert 59–61 in diesem Zusammenhang auch die Echtheitsfrage. Das Problem, ob mit einer Figur, die einen auktorial konnotierten Namen trägt – oder gar, wie hier, den Namen des Autors selbst –, auch autobiographistisch eben dieser Autor gemeint ist, lässt sich nicht leicht lösen. Die Vielzahl solcher Figurennamen macht es aber wahrscheinlich, dass diese Namen ebenso wenig Chiffren für ganz andere historische Personen (so richtig Weißenberger a. a. O. Anm. 147) wie einfach transparente Bezeichnungen des historischen Autors sind. Vielmehr transportieren sie auktoriale Identitätsfacetten, sind Masken eines bunten und reichen Rollenspiels, hinter dem die historische Identität ihres Verfassers verschwindet und verschwinden soll; vgl. hierzu Baumbach/v. Möllendorff 2017, 11–55. Verschiebt man den Stoßpunkt der Kritik vom Fehler des Solözismus auf das prätentiöse Auftreten des falschen Sophisten, löst sich der scheinbare Widerspruch auf: Λουκιανός ist kein Vertreter eines Attizismus reinsten Wassers, sondern eines pragmatischen Attizismus, der auch Fehler begehen und tolerieren kann; (ethisch) inakzeptabel ist allein die Pose des fehlerfreien Alleswissers, der andere bloßstellt, so m. E. völlig richtig Weißenberger 65–67; nicht ohne Grund wird mit Blick auf jenen Sokrates aus Mopsos hervorgehoben, dass er andere eher mit freundlichem Witz als herabsetzend kritisierte (Sol. 5).
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und mithin selbst wieder sprachkreative Weise geschehen muss. Erst darin erweist sich wahre Bildung, dass sie den Gebildeten zu diskursiver Überlegenheit befähigt, und damit erst wird Philologie von totem zu relevantem Wissen, nämlich zu einem Teil des gebildeten Lebensvollzugs. Damit das geschehen kann, muss sie als in ihrem Wesen agonal verstanden werden, die philologische Erkenntnis muss den jeweiligen Adressaten in die argumentative Entwicklung einbeziehen, und schließlich muss der Gebildete in der Lage sein, der philologischen Erkenntnis die existentielle Relevanz des Lebensvollzuges zu verleihen und sie mit seiner Bildungsperformance zu verknüpfen, indem er sie situativ bindet und formal und generisch kreativ gestaltet und weiterdenkt. BIBLIOGRAPHIE 1. Ausgaben/Übersetzungen Harmon 1961, A. M., Lucian (with an English translation), Bd. 1, Cambridge/Mass. Hopkinson 2008, N., Lucian. A selection, Cambridge. Baar 1883, A., Lukians Dialog „Der Pseudosophist“, Schulprogramm K.K. Staatsgymnasium Görz, 5–22.
2. Sekundärliteratur Baumbach, M./v. Möllendorff, P. 2017, Ein literarischer Prometheus. Lukian aus Samosata und die Zweite Sophistik, Heidelberg. Ebert 1969, J., Die Gestalt der Thersites in der Ilias, Philologus 113, 159–175. Heldmann 1982, K., Die Niederlage Homers im Dichterwettstreit mit Hesiod, Göttingen (Hypomnemata 75). Lallot 2011, J., Did the Alexandrian Grammarians have a Sense of History?, in: Stephanos Matthaios/Franco Montanari/Antonios Rengakos (Hgg.), Ancient Scholarship and Grammar. Archetypes, Concepts and Contexts, Berlin u. a., 241–250. Probert 2011, Ph., Attic Irregularities: Their Reinterpretation in the Light of Atticism, in: Stephanos Matthaios/Franco Montanari/Antonios Rengakos (Hgg.), Ancient Scholarship and Grammar. Archetypes, Concepts and Contexts, Berlin u. a., 269–292. Rabau 2005, S., Ulysse à côté d’Homère. Interprétation et transgression des frontières énonciatives, in: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hgg.), Métalepses. Entorses au pacte de la représentation, Paris, 59–72. Möllendorff 2000, P.v., Auf der Suche nach der verlogenen Wahrheit. Lukians Wahre Geschichten, Tübingen. Möllendorff 2013, P.v., „Sie hielt ein aufgerolltes Buch in den Händen ...“ – Metalepse als mediales Phänomen in der Literatur der Kaiserzeit, in: Ute E. Eisen/Peter v. Möllendorff (Hgg.), Über die Grenze. Metalepse in Text- und Bildmedien des Altertums, Berlin u. a., 346–386. Vogt 1991, E., Homer – ein großer Schatten? Die Forschungen zur Person Homers, in: Joachim Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart und Leipzig, 365–377. Weißenberger 1996, M., Literaturtheorie bei Lukian. Untersuchungen zum Dialog Lexiphanes, Stuttgart/Leipzig.
ABSTRACTS 1. Nunzia Ciano Wenn der exegetische Auxiliartext zum dichterischen Text wird. Über Ciceros Benutzung der Scholien zu Arat The Phainomena of Aratus, masterpiece of poetic astronomy in antiquity, aroused soon a great interest, above all in linguistic terms. This interest led to the production of exegetical material such as commentaries and scholia. On the one hand, the examples selected here show that Cicero, the first Latin translator of Aratus, used a Greek edition with scholia; on the other hand, they connect this usage to the typically Latin practice of employing Greek exegetical material for poetic production. In this way we can see the passage from the Greek philological paratext (commentaries and scholia) to the Latin poetic text (Cicero’s Aratea). 2. Jean-Christophe Jolivet «Pourquoi Cyréné n’a pas plongé?» l’embuscade de Protée et la philologie homérique (Virgile, Géorgiques, 4, 387–530 et les scholies à l’Odyssée). The purpose of this paper is to highlight the influence of homeric scholarship on Odyssey 4, especially Proteus’ ambush in Vergil’s Georgic 4. The study doesn’t focus on the marvellous aspects of the narrative, whose allegorical signification has yet been studied, for instance by Farrell and Morgan. Indeed, not only the metamorphoses of Proteus but also some other details were subject to learned questionning, as may be deduced from Heraclitus’ Homeric Problems 64. A close examination of the homeric scholia and some mentions in Eustathius commentary to the Odyssey suggest that Virgil, as a poiètès hama kai kritikos, reshaped the whole episod and modified some problematic details of the model, in particular those details which were subject to zetemata. It may be supposed that Virgil did so, first in order to give priority to the marvellous and allegorical dimension of the narrative, second in order to adapt his Kontrastimitation to new aesthetics.
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3. Joan Pagès Perseus: The Mythographic Tradition and its Reception in Ovid’s Metamorphoses The story of Perseus by Ovid is built upon four main episodes: Atlas, Andromeda, Medusa and Phineus. The two central episodes are based on the classical literary tradition. Andromeda is a usual subject in dramatic plays, from Sophocles’ times onwards, while the theme of Medusa comes more from the oldest epic traditions. In the episode of Phineus, Ovid offers an extension of classic passages from epics. As regards Atlas, the poet appears to be more innovative, since there are no direct antecedents either in preserved literature or in iconography. However, this episode can be analysed in light of a scholion to verse 879 of Lycophron’s Alexandra, in which two rationalizing versions of the Atlas myth are recorded. The scholion features a mythographic summary of the encounter between Perseus and Atlas. Polyidus of Selimbria, author of dithyrambs, is quoted as a source for this specific topic. Polyidus seems to have recreated the story of Perseus and Atlas’ meeting by means of an ironic and critical remythification process originating from rationalizing versions. Ovid takes not only the literary motif from Polyidus, but the conceptual device of remythification. 4. Chiara Battistella Seneca tragicus and the scholia to Euripides. Some case studies from the Medea This paper argues that, in penning his tragedies, Seneca may have drawn not only on his Greek models, but also on ancient commentaries to those texts, that is the exegetical material found in the scholia. This approach to Seneca’s plays, which entails aspects of both literary criticism and dramaturgy, does not seem, however, to have received scholarly attention thus far. The analysis focuses on a few passages from Seneca’s Medea, which will be interpreted against the model of Euripides’ Medea, as well as against the relevant Euripidean scholia. Such a combined reading may help shed further light on Seneca’s composition of his tragedies by bringing to the fore his erudite interest in ancient commentaries, an interest mirrored in his peculiar rewriting of his source-texts. 5. Gregor Bitto Sed plura vacant. Statius’ Achilleis und die Homerphilologie In the proem to his second epic poem Statius announces to present the whole hero Achilles because Homer is supposed to have left out significant parts (1.3–5: quamquam acta viri multum inclita cantu/Maeonio (sed plura vacant), nos ire per omnem/ – sic amor est – heroa). In order to do so Statius resorts to alternative traditions concerning story lines that are not only to be found in epic and he han-
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dles Homeric patterns and motives in a very free manner. Furthermore, he makes use of the Hellenistic commentaries on Homer in order to develop a new paradigm of the epic hero Achilles on the basis of the established way of interpreting Homer – a method that Virgil already employed in a creative manner in his Aeneid, as previous scholarship has shown. In contrast to Virgil, though, in the Achilleid the Homeric commentaries are themselves subject to aemulative procedures: out of their aesthetic judgments Statius draws inspiration in order to, at least, partially transcend their aesthetic ideals, so that sed plura vacant (1.4) becomes something of a leitmotif of the Achilleid also in respect to the reception of Homeric philology. 6. Philipp Weiß Tod eines Kritikers: Zur Zoilosanekdote bei Vitruv. 7 praef. 8–9 und ihrem Nachleben in den Saturnalia des Macrobius The Greek sophist Zoilos of Amphipolis (4th cent. BC; the so-called Ὁµηροµάστιξ) is up to now known for his criticism of Homer. His contentious attitude towards the divine “father of poetry” is often traced back to a presumably Cynic point of view, that influenced his work as a grammarian. The article reexamines the evidence for that opinion and comes to the conclusion, that the cliché of Zoilos, the Cynic critic of Homer, is a later, probably solely Roman idea, that came up not before Augustan times (cf. Vitruv. 7 praef. 8–9). Later on, the snappy mocker Zoilos developed into a kind of stereotype for carping criticism of canonical authorities (cf. Ael. poik. 11.10). That can be seen from Macrobius’ Saturnalia, a late antique dialogue, that deals extensively with questions of literary criticism: Euangelus, a harsh critic of Virgil, is painted in clearly Cynic colours and can therefore be interpreted as a Virgilian equivalent to the Ὁµηροµάστιξ Zoilos. 7. Bardo Maria Gauly Seneca: Von Philologie zu Philosophie Even though Seneca blames the school philosophy of his time for having degenerated into philology (Ep. 108.23), he nevertheless incorporates elements of grammatical, i.e. philological, education into his philosophical curriculum. Proceeding in three steps, the paper seeks to establish which aspects of grammatical teaching Seneca regards to be potentially useful for philosophy. First, the criticism of philology in his Epistulae morales will be analyzed; then, we will ask in which way philological skills and procedures are used to read and interpret the great poets, especially Virgil, in order to support moral improvement; finally, we will discuss how the philosopher falls back on pre-philosophical standards of behaviour (like gender awareness or nationalism) deep-seated in traditional education. Notwithstanding the demonstrative refusal of Greek erudition Seneca embraces hellenistic
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philology and theoretical philosophy as well as Roman tradition and integrates them into his philosophical teaching. 8. Thomas Schirren philologia ancilla rhetoricae. Leseübungen für die rhetorische Brillanz? Quintilians philologische Empfehlungen The most famous book of Quintilian’s Institutio oratoria contains a so-called literary history (10.1). Quintilian thinks of an intimate knowledge of excellent literature as an indispensible prerequisite for developing one’s rhetorical proficiency which he calls facilitas or respectively hexis. In order to gain such experience from literature analytical tools from philology are necessary: for proper digestion the texts have to be ‘minced’ properly so that the future orator is able to make use of them as copia verborum. To this end a trained iudicium is needed. Such a concept of aesthetic judgment has sociological implications that expand the notion of rhetorical hexis to a sociological habitus (Bourdieu). Thus, the idea of criticism turns out to be fundamental to a literary canon. It is exactly this relevance that the young Friedrich Schlegel had discovered already in his notes on the literary history of Greeks and Romans. 9. Anna Ginestí Rosell Etymologie beim Wein. Philologie in der Gruppenidentitätsbildung der Quaestiones Convivales von Plutarch The mise en scene of culture is a central aspect in the Quaestiones Convivales of Plutarch. The participants in a symposium should be able to activate their wide knowledge and apply it accordingly. In addition, the symposium is a suitable place to present communion and agonality as complementary identity-forming elements of the cultural elite. A dialogue from the 8th book shows how Plutarch uses the staging of etymology for such group identity formation. For etymology seems to be a suitable entertainment theme in the symposium only if certain conditions are fulfilled. It serves the participants of the symposium not only to position themselves as members of the educated Greek elite, but also to mark their own special position within this group. 10. Wytse Keulen Mark Aurel, der Philologenkaiser. Die Literarisierung der Philologie in Frontos Korrespondenz Marcus Cornelius Fronto (c. 100 to 170 A.D.) remains until today one of the most neglected Roman authors of the Imperial period. Fronto was tutor to the future Emperor Marcus Aurelius and the most renowned Roman orator of his era. Fron-
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tos correspondence contains unique and first-hand evidence for the role of philological studies in the education of a prince. Focusing on epistolary writing as portrayal, the article demonstrates how Fronto connects his self-image as the leading philological authority on Latin with a compelling assertion of his central position within an elite community. As a Hellenistic analogy for Fronto’s epistolary selfimage, the contribution proposes Philetas of Kos, who was both a scholar studying rare literary words and the educator of a prince. Focusing on the letters as a form of dialogue, the article elucidates the correspondence as a learned and witty conversation between a warm-hearted aristocrat and an accessible prince. As an analogy for their mutual roles of honest philological critics and friends, the contribution proposes Aristarchus, the famous Homeric scholar who became the judgmental critic par excellence. Investigating their epistolary dialogue as a negotiation and redistribution of power and authority, the article analyses the philo-logical discussions and allusions (e.g. to the Platonic Phaedrus) as a means to (re)shape the relation between the two correspondents. In this way, it offers a new contribution to the question, as to how Latin epistolary discourse participates in reinventing the role of the aristocrat in relation to the ruler. 11. Ute Tischer Der Sophist als Philologe. Inszenierung und Instrumentalisierung der grammatica in Apuleiusʼ Rede Pro se de magia Apuleiusʼ Apology against the accusation of magic is the only transmitted court speech from imperial times we still possess and is a text that is singular in many respects. Compared to Cicero’s speeches, distinguishing features include the large number of literary devices and the self-staging of the speaker as a philosopher. Scholars have also identified other role-playing scenes connected with intertextual allusions, for example, to Plato’s Socrates, Cicero and Roman comedy. This paper examines the role of philology (grammatica) as part of the speaker’s rhetorical strategy. The introduction outlines the importance of philology in the 2nd century A.D. and possible communicative goals pursued by Apuleius. In the main section, some examples will be discussed that can show in which ways and to what effect he displays “philological” learning and argumentation. An important result of this strategy is to mock his prosecutors as uneducated ignoramuses. A comparison with the Attic Nights of Aulus Gellius at the end of the paper supports the hypothesis that one goal of the Apology is the sophistic self-presentation by means of philology.
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12. Peter v. Möllendorff Sub iudice philologia. Zur Verarbeitung philologischer Themen im Werk Lukians This essay considers philology to be an agonistic discipline. Semantic, syntactic and pragmatic knowledge is generated by philologists disputing among themselves and about texts. Imperial πεπαιδευµένοι use this knowledge in order to support their own atticizing as well as produce mimetic works by transforming philological metatexts; it is by creating proper fictions that these metatexts gain real relevance. Readers often have to complete essential tasks, because these new texts leave both gaps in content and figural gaps apparently to be filled by them. Elaborations of these dealings with philological knowledge are analysed within Lucian’s True Stories, Court of the Vowels, and Soloecist.
INDEX LOCORUM NOTABILIORUM 1. Griechisch Ailian, poik. hist. 11.10...124f. Apollonios Rhodios 4.1513–7...66 Arat, Phaen. 43...34 71–73...32 161–2...34 167–8...35 359–60...33 Diodorus Siculus 14.26...73 Dionysios Hal., comp. verb. 14.80...81 Dionysios Thrax, Gramm. 1...11 Etymologicum Genuinum α 1357...74 Euripides, Med. 476–7....80 480–1...84 1122–3...85 1321–2...89 Eustathios Comm. Il. ad 2.212 (204,13–18)...264 Comm. Od. ad 4.411 (1502, 32)...49 ad 4.437 (1503, 61)...59 ad 4.462 (1505, 6)...55
4.403–6...48/51 4.411–3...49 4.425...42 4.435–43...58f. 4.444–6...60 4.462–5...54 4.465–9...57 4.570...42 5.81–4...109 23.295–6...1160. Lukian Adv. ind. 2...259 15...258 18...258 Iud. Voc. 11...267 12...268 Peregr. 10...123 21...124 Symp. 12...128 16...129 Ver. hist. 1.1...260 2.20...259–266 Neophron, Medea = Schol. in Eur. Med. 1386
Herakleitos, Alleg. 64...40
Nonnos, Dion. 1.37–8...61
Homer Il. 2.408...128 4.392–3...47 9.189...105 9.666–8...102 17.401–9...112 Od. 4.354–5...43 4.400–1...45
Pausanias 1.22.6...102 Pherekydes frg. 10–12 Fowler...68 Platon Phdr....229f./232f. 234e...219 Plato com. 29 K.-A...80
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Index locorum notabiliorum
Plutarch, Q.C. VII 8 (712A)...185 VIII 6 (725F–727A)...186–195/197–199 Porphyrios, Quaest. Hom. ad Il. 9.186 (p. 134f. Schrader)...105 Scholia in Arat. S. 90,2–3 M...34 S. 91,1–2 M...34 S. 107,6–10 M...32 S. 160,10–14 M...34 S. 160,17–161,1 M...34 S. 162,11 M...35 S. 254,5–9 M...33 Scholia in Eur. Med. 1122...86 1320...89 1386....87f. Scholia in Hom. Il. bT 1.349...103 A 1.365a....58 bT 3.54b...107 A 9.188a...105 A 9.188b...105 T 9.668b...102 bT 17.401–2...112 bT 24.804a...199f. bT 24.85a...100 A 24.130–2a...104 Scholia in Hom. Od. 4.449e...57 4.400c... 47 4.404c/e...50 4.404g...52 4.453a...54 4.463a...54 4.484e1...48 5.81...109 23.296...110f. Scholia in Lyc. Alex. 879...73 Strabo, geogr. 14.1.39...122 14.2.19...205 Suda δ 99 (s. v. Δαφίδας)...122
Theophilos, ad Autol. 3.5 (= SSR V B 134)...123 Zoilos (ed. Friedländer) frg. 1...120 frg. 3...125 frg. 7...125 frg. 9...125 frg. 13...123 frg. 19...123f.
2. Lateinisch Apuleius, Apol. 3.5–7...235 4.5...236 5.1...236 5.4–6...237 5.6...237 7.1...239 9.1...238 9.4...240 9.5–6...240f. 10.1–6...241 10.8...242f. 25.8...243 33.5–7...244 34.4–6...245 37.4...236 80.5...248 81.5...248f. 82.1...248 82.2...247 82.7–8...248f. Cicero Att. 1.14.3...210 Aratea (ed. Soub.) frg. 7.5...34 frg. 25.2...35 frg. 13...32 frg. 27...35 frg. 34.145–48...33 de inv. 2.117...247 fam. 9.10...13 de nat. deor. 1.8...30 2.104...30
Index locorum notabiliorum Ennius, Med. 107 Jocelyn...83 274–5 Vahlen...84 Fronto addit. epist. 7...211–213/216–219 8...211–213 de eloqu. 4.9...207 epist. ad Anton. imp. 1.2...208 epist. ad M. Caes. 3.9...211–218 3.9.3...207/226 4.3...206 epist. ad Ver. imp. 2.10...209 Gellius, N.A. 4.1.13...251 5.21.4...250 6.17.2...250 13.31.9...251 16.6.11...250 19.8...204 Horaz, Ars 438–441/445–452...223f. Lucan 10.508–10...43 Macrobius, Sat. 1.7.10...127f. 1.11.1...130 1.24.7...126 2.8.4...130 Ovid Her. 12.127/203...83 Med. frg. 1 Ribbeck...83 Met. 4.610–5.249...65–76 4.617–9...66 7.93–4...83 Quintilian, Inst. 1 praef 10...171 1.1.14–5...172f. 1.1.35...173 1.4...174 1.4.2...231f. 1.5.9...239
1.6.28...237 1.6.32...237 1.8...173–175 1.8.1–2...239 2.5.1–17...176–177 2.15.34...152 9.4.1...149 10.1.1–2...150 10.1.5–7...153f. 10.1.8...154 10.1.15...156 10.1.16–18...156f. 10.1.19...157 10.1.20–21...157 10.1.24...158 10.1.27...159 10.1.46–50/85–90...160–163 10.1.85–87...161f. 10.1.76–80...163 10.1.79...164–166 10.1.125–131...170–176 12.10.1–10...179 Rhet. ad Her. 1.3...152 Seneca Dial. 2.2.1–2...137/144 10.13.1–3...136 Epist. Mor. 12.9...139 18.12...140 58.1–7...137f. 59.7...144 59.5...169 67.7–9...140 88.1...136 88.3...135 95.61...140 95.64...141 95.65...138 95.66–9...141 95.72...141 100...169f. 106.2...134 106.11–2...133 108.9–10...138f. 108.22...143 108.23...133 108.24...139 108.23–35...135 114...169f.
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280 120.4...138 Med. 225–9...82 891–2...85 973–5...89f. 1022–7...85f. 1024–6...90 1026–7...87f. Nat. 3.27.13–14...142 Seneca rhet., contr. 2 praef 2...169 Servius, in Verg. Ecl. praef.... 242 ad 1.1...242 ad 2.73...242 Statius Ach. 1.1–7...99 1.4...95 1.19...94 1.126–58...109 1.187–8...105 1.570–6...107 1.925–6...111
Index locorum notabiliorum Silv. 4.4.32–34/53–55...93 4.4.35–6...108 4.4.87–100...93f. 5.3.146–58...96 Sueton, gramm. 1...13 Tacitus, Ann.13,3...169 Vergil, Georg. 4.378–8...44 4.390–1...44 4.392–5...47 4.395...45 4.401–4...45f. 4.414–7...60 4.423–4...60 4.427–9...46 4.429–31....51 4.433–6...49 4.445–50...56f. 4.528–30...42 Vitruv 7 praef. 8–9...120f.
Die hellenistische und posthellenistische Literatur zeichnet sich durch eine intensive Wechselwirkung zwischen Philologie und „schöner“ Literatur aus. Literaturwissenschaftliche Erkenntnisse und Techniken verbleiben nicht im engen Kreis philologischer Spezialgelehrsamkeit, sondern werden u. a. über den Schulunterricht zum Grundbestand intellektueller Auseinandersetzung mit und durch Literatur. Ein römischer Dichter rechnet mit einem Leser, der nicht nur seine griechischen Vorläufer, sondern auch die philologische Literatur zu diesen kennt. Im öffentlichen Diskurs gehört das Vorführen
philologischer Kenntnisse zum allgemeinen Bildungsideal. Und beim Symposion zeichnet die Fähigkeit, in philologischer Manier über literarische Werke zu diskutieren, den idealen Teilnehmer aus. Dieser, mit G. Genette, als Philologie „auf zweiter Stufe“ zu bezeichnenden Rezeption hellenistischer Gelehrsamkeit sind die in diesem Band versammelten Fallstudien gewidmet, deren chronologisches Spektrum von der spätrepublikanischen lateinischen Literatur bis zur kaiserzeitlichen griechischen und lateinischen Literatur reicht.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12357-0
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7835 1 5 1 23570