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German Pages 264 Year 2017
Philologie und Grammatik
Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie
Herausgegeben von Claudia Polzin-Haumann und Wolfgang Schweickard
Band 415
Philologie und Grammatik Herausgegeben von Georg A. Kaiser und Harald Völker
ISBN 978-3-11-052463-5 e-ISBN [PDF] 978-3-11-052776-6 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-052549-6 ISSN 0084-5396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Harald Völker/Georg A. Kaiser Philologie und Grammatik. Unerwartete und naheliegende Schnittstellen | 1 Guido Mensching Morphologie und Syntax als Entscheidungskriterien für editionsphilologische Konjekturen und Interpretationen | 15 Aurélia Robert-Tissot Modernes Korpus ― alte Fragen. Was man aus der Analyse medial schriftlicher Korpora (nicht) schließen kann | 39 Gerda Haßler Philologie und Grammatik bei der Analyse von metasprachlichen Manuskripten des 18. Jahrhunderts | 59 Teresa Gruber Textualisierungsverfahren und grammatische Kategorien in kontrastiven Lerngrammatiken (Spanisch-Toskanisch) des 16. Jahrhunderts | 75 Tina Ambrosch-Baroua/Jochen Hafner Die Nvova Grammatica Francese, et Italiana (1675) des Roberto Paris | 93 Imme Kuchenbrandt Phonologie zwischen den Zeilen: Was altspanische Schriften über die Prosodie verraten | 121 Albert Wall «Porém jacaré acreditou?» Eine kritische Macunaíma-Ausgabe als Glücksfall für die Beschreibung der brasilianischen Nominalphrase | 143 Michael Zimmermann Zu französischen Konstruktionen des Typs je … -ons | 163 Malte Rosemeyer Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen | 187
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Benjamin Meisnitzer Das periphrastische Perfekt im Spanischen und im Portugiesischen an der Schnittstelle von Grammatik und Philologie | 205 Sarah Dessì Schmid Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel: zwischen Korpusanalyse und philologischer Arbeit | 225 Index | 253
Harald Völker/Georg A. Kaiser
Philologie und Grammatik. Unerwartete und naheliegende Schnittstellen 1 Philologie und Grammatik. Zwei Begriffe mit Geschichte Dieser Band ist das Ergebnis einer Idee, die erstmals bei einem gemeinsamen Pausengespräch an der Universität Konstanz entstanden ist. Die beiden Herausgeber sprachen darüber, wie hinderlich es für die Forschungsarbeit ist, dass die romanistische Sprachwissenschaft von einem ideologischen Graben durchzogen wird zwischen einer eher formal ausgerichteten Arbeitsweise und den sogenannten «traditionellen» Ansätzen. Wollte man zwei Antipoden auf diesem Spannungsbogen ausmachen, so sind Philologie und Grammatik naheliegende Kandidaten. Denn die unterschiedliche Zielsetzung dieser beiden Ansätze manifestiert sich insbesondere im Umgang mit dem konkreten Text: Während das Hauptaugenmerk einer philologischen Herangehensweise auf dem Text selbst liegt – auf der Rekontextualisierung, Analyse, Kommentierung und letztlich der Edition von Texten und Textfragmenten (cf. etwa Gumbrecht 2003, Schmitzer 2013, Duval 2015, 215s.) und somit primär auf Produkten der Ebene der Performanz –, kommt der Text im Rahmen einer formalgrammatischen Analyse im Vergleich zu den Grammatikalitätsurteilen erst an zweiter Stelle und hat den Status eines Hilfsmittels, das insbesondere dazu dient, grammatiktheoretisch motivierte Hypothesen zur Kompetenz zu überprüfen (cf. Kaiser 2005, 6, und Gabriel/Meisenburg 2017, 34–37). Aktuell werden die beiden Herangehensweisen in der Regel separat voneinander angewendet und die Ergebnisse der daraus resultierenden Arbeiten gegenseitig kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen (cf. hierzu etwa Meisel/ Schwarze 2002, Kaiser 2005, Völker 2009). Dieses gegenseitige Ignorieren wird durch die soziale Dynamik der Fachtraditionen und ihrer institutionellen Verortungen noch verstärkt. Problematisch wird es unserer Ansicht nach insbesondere dann, wenn Vertreterinnen und Vertretern einer Forschungsausrichtung der jeweils anderen den Charakter als (Sprach-)Wissenschaft absprechen. Dies geschieht insbesondere im nichtpublizierten Diskurs: in Flurgesprächen, in Diskussionen nach Vorträgen, in Berufungskommissionen und bei der Begutachtung wissenschaftlicher Einrichtungen und Publikationen.
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Wohl wissend um die existierenden und theoretisch durchaus relevanten Unterschiede im Bereich der (engeren oder weiteren) Delimitierung des legitimen Untersuchungsgegenstands einer Sprachwissenschaft haben wir uns die Frage gestellt, ob dieser Graben im taktischen Kalkül um die Verteilung der knappen Ressourcen nicht gerne bewusst größer gemacht wird, als er von der Sache her in Wirklichkeit ist. Denn die Schnittstellen, die in den Gemeinsamkeiten im sprachlichen Untersuchungsgegenstand begründet sind, sind bei allen Unterschieden manifest. Und so verwundert es auch nicht, dass sich Philologie und Grammatik im Laufe der Fachgeschichte sehr wohl immer wieder begegnet sind. Das mag auch daran liegen, dass die beiden Begriffe Philologie und Grammatik in unterschiedlichen Epochen und Kontexten mit divergierenden und zum Teil recht weit reichenden semantischen Extensionen gebraucht wurden und werden. Dabei ist sicherlich Philologie derjenige Begriff, der im Laufe seiner Geschichte eine besonders große und recht uneinheitliche Menge an Entitäten umfasst hat. So weist etwa Gumbrecht (2003) zu Beginn seiner Macht der Philologie auf den im Volksgebrauch ungewöhnlich weit gefassten Einsatz des Lexems hin: «Aus Gründen, die ich wahrscheinlich nie völlig begreifen werde, hat meine Mutter (die ihrerseits Medizin studiert hatte) das Wort ‹Philologe› – mit erheblicher Konsequenz und einem noch höheren Maß an Unbeirrbarkeit – immer zur Bezeichnung von Grundschullehrern verwendet. Aber eigentlich war die exzentrische semantische Kreation meiner Mutter nicht abwegiger als der Gebrauch, den einige meiner fähigsten amerikanische Kollegen auch heute noch von diesem Wort machen, wenn sie einige ihrer großen Vorgänger aus der deutschen Tradition – etwa Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer oder Erich Auerbach – ‹philologists› nennen. [...] Keiner der drei [...] hat sich als Textherausgeber oder als Verfasser eines historischen Kommentars besonders hervorgetan» (Gumbrecht 2003, 9s.).1
Wenn man bedenkt, dass der Berufsverband der Lehrpersonen an deutschen (zwar nicht Grundschulen, aber immerhin) Gymnasien noch heute Deutscher Philologenverband heißt, wird deutlich, dass Gumbrechts Mutter gar nicht so weit daneben liegt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat sich das akademisch ausgebildete Lehrpersonal mit dieser Bezeichnung vom nichtakademisch ausgebildeten Lehrpersonen abgrenzen können, wie etwa im Titel der Mitgliederzeitung
|| 1 Diese Einschätzung des philologischen Leistungsausweises durch Gumbrecht trifft zumindest im Fall des jungen Ernst Robert Curtius nicht zu, denn Curtius veröffentlichte 1911 seine in Umfang und Qualität weit über dem damaligen Standard liegende Dissertation Li quatre livre des reis, Edition und – nicht nur philologisch, sondern auch sprachwissenschaftlich überzeugende – Kommentierung einer altfranzösischen Übersetzung aus dem 12. Jahrhundert der beiden alttestamentlichen Samuelbücher und der beiden Bücher der Könige.
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Korrespondenz-Blatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand und im Bericht zum Philologentag des westfälischen Philologenvereins 1905 in Münster deutlich wird.2 Wir müssen freilich gar nicht bis ins Populärsprachliche gehen, um auf semantische Divergenzen zu stoßen. Während noch heute eine Reihe von Organisationseinheiten, die sich mit Sprach- und Literaturwissenschaft befassen, Seminar/Institut für (...) Philologie heißen,3 definiert Ferdinand de Saussure die Philologie als Wissenschaft der Texte, die er von der Sprachwissenschaft abgrenzt: «Ensuite parut la philologie. [...] La langue n’est pas l’unique objet de la philologie, qui veut avant tout fixer, interpréter, commenter les textes ; cette première étude l’amène à s’occuper aussi de l’histoire littéraire, des mœurs, des institutions, etc. ; partout elle use de sa méthode propre, qui est la critique. Si elle aborde les questions linguistiques, c’est surtout pour comparer des textes de différentes époques, déterminer la langue particulière à chaque auteur, déchiffrer et expliquer des inscriptions rédigées dans une langue archaïque ou obscure» (Saussure 1960, 13s.).
Auch der zweite programmatische Begriff dieses Bandes, Grammatik, ist in seinem Gebrauch durchaus nicht ganz eindeutig. Zur Zeit des Dionysius Thrax hatte die Τέχνη γραμματική (technê grámmatikê) einen engen und zentralen Bezug zur Literatur und Schriftsprache, was sich nicht zuletzt in der Etymologie des Wortes widerspiegelt (gr. grammata ‘Buchstaben’, cf. Kluge 2011, s.v. Grammatik). Von der Antike herrührend und bis ins Mittelalter hinein wurde die Bezeichnung ars grammatica als Teil des Triviums primär mit Bezug zur lateinischen Schrift- und Literatursprache (cf. Ueding 2005, 19 und 112), ja sogar synonym mit «Latein» (cf. Kintzinger 2008, 374) verwendet. Eine große Zahl von Sprechern versteht unter Grammatik ein «Gebrauchsbuch», das «Auskunft darüber geben [soll], was rich-
|| 2 Cf. https://www.dphv.de/organisation/portrait.html (abgerufen zul. am 11.4.2017): «Der Deutsche Philologenverband (DPhV) ist die Bundes- und Dachorganisation der Philologenverbände in den Bundesländern. Mitglieder sind die Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien, Gesamtschulen, Hochschulen sowie an anderen Bildungseinrichtungen, die auf das Abitur vorbereiten.» – Zum Münsteraner Philologentag von 1905 cf. http://www.uni-muenster.de/Anglistik /Structure/history/philologentag1905.html (7.5.2017). 3 So etwa das Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin (http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we05/institut/vorstellung/index.html), das Institut für Klassische und Romanische Philologie der Universität Bonn (https://www.ikurp.uni-bonn.de/), das Seminar für Romanische Philologie der Georg-August-Universität Göttingen (https://www.unigoettingen.de/de/19839.html) oder das Fachgebiet Romanische Philologie und Rätoromanisch der Zentralbibliothek Zürich (https://www.zb.uzh.ch/recherche/fachgebiete/romanische-philologie/index.html.de; alle Links zuletzt aufgerufen am 7.5.2017).
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tig oder was falsch ist» (Eisenberg 2013, 1) und denkt dabei primär an Schriftliches, kaum an Mündliches (cf. Renzi 1994, 30s.). In der generativen Grammatik wiederum ist mit Grammatik die individuelle und mentale sprachliche Kompetenz eines Hörersprechers gemeint (cf. z.B. Grewendorf 2006, 33). Dennoch können wir feststellen, dass der Begriff Grammatik im Gegensatz zur Philologie zumindest einen vergleichsweise greifbaren und nachvollziehbaren semantischen Kern umfasst, nämlich die Summe der Regelhaftigkeiten eines sprachlichen Systems. Aufgrund der relativ weit gefassten signifiés der Lexeme Grammatik und Philologie ist es kaum überraschend, dass sich die beiden in der Forschungsarbeit immer wieder begegnet sind. In Entre linguistique et littérature (Verna/Gardes Tamine 2013) hält etwa eine der beiden Herausgeberinnen bereits zu Beginn fest: «Je voudrais ici présenter brièvement la façon dont je conçois la philologie, qui demeure à mes yeux une discipline essentielle, un pont entre la grammaire et la littérature qui représentent à la fois les deux piliers de ma formation et mes centres fondamentaux d’intérêt» (Gardes Tamine 2013, 17).
Am Ende des zitierten Bandes wird der Zusammenhang von Grammatik, Philologie und Literatur in einer Studie zu Saint-John Perse herausgearbeitet. In der nachfolgend zitierten Passage wird deutlich, wie zentral – zumindest in einigen literaturwissenschaftlichen Ansätzen – eine solide grammatikalisch-sprachliche Analyse des Texts für den Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Textdeutung ist: «La prégnance des discours rapportés et plus généralement le jeu complexe de leur délégation, l’énonciation souvent gigogne qui en résulte mais aussi la labilité déictique à l’intérieur de laquelle s’inscrit le poème placent naturellement l’étude du logos à l’épicentre du dispositif herméneutique. Le triple geste interprétatif qu’induit l’étude grammaticale puis stylistique – repérage des faits textuels, analyse des stylèmes puis de leur incidence pragmatique – trouve ici son prolongement dans une perspective philologique qui fonctionne comme un ouvroir de possibles herméneutiques ; il s’agit donc d’originer l’étude dans les micro-unités du texte, d’y fonder un appui solide avant d’envisager un cotexte élargi, et de multiplier les allers et retours […] entre la littéralité du verset et l’environnement qui le détermine […]» (Dournel 2013, 157s.).
Diese enge Rückbindung der Interpretation an den konkreten Text war auch für die ersten Generationen von Sprachwissenschaftlern der Standard, nicht zuletzt aufgrund ihrer Ausbildung. Stellvertretend für viele sei hier Léon Clédat genannt. Er ist nach Ansicht von Rousseau (2010, 143) «[...] avant tout un philologue, au meilleur sens du terme, c’est-à-dire habitué à travailler sur les manuscrits, comme l’École des Chartes, puis l’École de Rome ont pu l’y préparer» und seine
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philologischen Reflexionen haben ihn nicht nur in vielen kleineren Artikeln zu grammatikalischen Fragestellungen und Analysen geführt, sondern er hat diese auch in drei – gerade für die Forschung zur Syntax des modernen Französisch bedeutenden (cf. Rousseau 2010, 158) – Grammatiken zusammengeführt.4
2 Schnittstellen In diesem Band legen wir einen vergleichsweise eng gefassten Begriff von Philologie zugrunde, also im Sinne der – allerdings nicht ausschließlich historischen – Textpflege, wie Gumbrecht es in seinen Überlegungen zur Philologie tut. Wir werden sehen, dass diese Nuancierung neue Perspektiven auf wichtige Schnittstellen eröffnet. Welche Schnittstellen tun sich auf, wenn wir versuchen die Philologie (im engeren Sinne) und die Grammatik (hier durchaus im weiteren Sinne, da der gemeinsame semantische Kern konsistenter ist) in wichtigen Feldern der aktuellen Forschungsarbeit konkret zusammenzudenken? Naheliegend ist hier zunächst der Bereich der Konjektur und der Emendation. Auch wenn es philologische Schulen gibt, die weit über den sprachlichen Bereich hinausgehende Eingriffe in den Manuskripttext als legitim ansehen (cf. Lardet 2010), so ist doch unbestritten, dass die grammatikalische Analyse eine wichtige Entscheidungshilfe bei der Konstituierung problematischer Textstellen ist. Repräsentiert wird dieser Aspekt im vorliegenden Band insbesondere durch den Beitrag von Guido Mensching.5 Texteditionen werden heute in der Regel so aufbereitet, dass sie sowohl in gedruckter als auch in elektronischer Form zugänglich gemacht werden können. Um die plurimediale Weiterverarbeitung möglich zu machen, werden die Rohtranskriptionen heute meist direkt schon mit morphosyntaktischen Explizierungen angereichert – der Text wird so zu einer Art informatisch ansteuerbarer Datenbank ausgebaut. Michael Sperberg-McQueen, der Initiator der Text Encoding Initiative (TEI), beschreibt dies so: «Der vertikale Text hat den Vorteil, gleichzeitig die lineare Natur des Texts konkret zu machen, und dazu auch die implizit nebenhergehenden Strukturen [...] als Querachse dazu noch explizit zu machen, und beide Achsen miteinander zu verbinden. [...] Die Einzelzeile
|| 4 Cf. Clédat (1894, 1896) sowie Clédat (1932) (hier handelt es sich um die posthume Veröffentlichung zuvor erschienener Aufsätze zu grammatikalischen Einzelproblemen). 5 Die Beiträge werden weiter unten im Einzelnen vorgestellt.
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eines reich annotierten Vertikaltexts nähern sich den Rekords einer Datenbank an. Jedes Wort ist in der Datenbank ein Rekord, und jeder Rekord unterteilt sich in Felder, die die Informationen wiedergeben, die man für wichtig hält. Das heißt, es ist durchaus möglich, die Textanalyse nur mit Hilfe eines ganz normalen Datenbanksystems zu betreiben» (Sperberg-McQueen 2001, 8).
Dabei liegt auf der Hand, dass der Auswahl und Implementierung grammatischer Kategorien beim Tagging alter und moderner Texte in elektronischen und datenbankbasierten Editionen und Korpora eine solide grammatikalische Analyse des Textes vorangehen muss. Aurélia Robert-Tissot zeigt uns dies anhand von Beispielen einer Datenbank mit SMS-Texten. Umgekehrt hängt freilich nicht nur die Philologie von der Grammatik ab, sondern auch die grammatikalische Analyse von der Textphilologie. Malte Rosemeyer und Albert Wall zeigen in ihren Beiträgen, welche Auswirkungen texteditorische Entscheidungen auf die Analyse von morphosyntaktischen Strukturen haben können. In der diachronischen Sprachwissenschaft ist es wiederum gang und gäbe, dass philologische «Detektivarbeit» und grammatikalische Analyse Hand in Hand gehen, dass die Abhängigkeit also gegenseitig ist. Thematisiert wird dies u.a. in den Beiträgen von Sarah Dessì Schmid, Imme Kuchenbrandt, Benjamin Meisnitzer und Michael Zimmermann. Nicht zuletzt eröffnet sich noch eine Schnittstelle, der man den Titel «Philologie der Grammatik» geben könnte: Um antike und alte Grammatiken (hier im bibliographischen Sinne) zugänglich zu machen, bedürfen sie heute einer philologischen toilette du texte. Hinzu kommt, dass der Nachweis diskursiver Filiationen, wie er in der mittelalterbezogenen Philologie üblich ist, auch mit Erfolg auf neuzeitliche und sogar moderne Texte angewendet werden kann. Hierdurch können zum Beispiel strukturelle und argumentative Traditionen in Grammatiken identifiziert werden.6 Diesem Aspekt der Philologie der Grammatiken sind die Beiträge von Tina Ambrosch-Baroua/Jochen Hafner, Teresa Gruber und Gerda Haßler gewidmet.
3 Die Beiträge im Einzelnen Die fünf aufgeführten Schnittstellen lassen sich mit Blick auf die hier publizierten Beiträge in drei Schwerpunkten zusammenführen:
|| 6 Cf. etwa die Analyse der Lateingrammatik von Touratier (2008) durch Liebermann (2013).
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A. Probleme der Korpus- und Editionserstellung im Licht philologisch-grammatischer Fragen und Erkenntnisse («Grammatik für Philologie») B. Grammatikographie als Diskurstradition im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse («Philologie der Grammatik») C. Diskussion grammatischer Phänomene im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse («Philologie für Grammatik») Im Folgenden werden die Beiträge diesen Schwerpunkten zugeordnet und einzeln kurz präsentiert.
3.1 Probleme der Korpus- und Editionserstellung im Licht philologisch-grammatischer Fragen und Erkenntnisse Guido Mensching stellt in seinem Beitrag Morphologie und Syntax als Entscheidungskriterien für editionsphilologische Konjekturen und Interpretationen die Notwendigkeit grammatiktheoretischer Expertise bei der philologischen Edition von Texten heraus. Er illustriert dies auf der Grundlage zweier grammatischer Phänomene, nämlich der Wortbildung im Altokzitanischen sowie der Verwendung von Subjekten in altitalienischen Infinitivsätzen. Im ersten Fall zeigt er am Beispiel der Edition mittelalterlicher medizinisch-botanischer Synonymlisten aus Südfrankreich, dass hier Kenntnisse über die Wortbildungsprozesse im Altokzitanischen erforderlich sind, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Im zweiten Fall geht er beim Vergleich zweier Editionen der altitalienischen Istoria Fiorentina der Frage nach, ob die in einer dieser Editionen zu beobachtende präverbale Stellung eines nominativischen Subjektpronomens in infinitiven Sätzen korrekt sein kann. Hier kann er nicht nur zeigen, dass diese Stellung im Altromanischen belegt ist, sondern mit Hilfe einer generativen Analyse dieser Strukturen als kompatible optionale Linksbewegung analysiert werden und ihre Seltenheit auf Diskurstraditionen zurückgeführt werden kann, wonach präverbale Subjekte in der Regel akkusativisch markiert wurden. Aurélia Robert-Tissot wendet in Modernes Korpus ― alte Fragen. Was man aus der Analyse medial schriftlicher Korpora (nicht) schließen kann philologische Methoden und Fragestellungen auf ein modernes Korpus, bestehend aus SMSDaten, an und kann dabei viele Gemeinsamkeiten mit der Untersuchung von altphilologischen Texten aufzeigen. Die Parallelen beginnen bei den Fragen zur editorial-technischen Aufbereitung der Daten im Hinblick auf die anvisierten Analysen. Jede technische Aufbereitung stellt notwendiger Weise eine Informationsreduktion gegenüber der authentischen Sprachäußerung dar und in diesem Arbeitsschritt muss vor der Analyse entschieden werden, welche Informationen für
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die spätere Analyse relevant sein werden und welche voraussichtlich nicht – eine Debatte, die zwischen einer eher sprach- und einer eher literaturwissenschaftlich ausgerichteten Philologie bereits vor einigen Jahren unter dem Titel New Philology geführt worden ist (cf. hierzu etwa Cerquiglini 1989, Gleßgen/Lebsanft 1997, Holtus/Völker 1999 sowie die der New Philology gewidmete Nummer 65:1 der Zeitschrift Speculum, die dieser Debatte 1990 eine breite Bühne eröffnet hat). Die Gemeinsamkeiten setzen sich mit der Tatsache fort, dass Sprachsysteme nicht, sondern nur über den indirekten Weg der – in diesem wie im historischen Fall – schriftlichen Sprachäußerungen direkt beobachtet werden können, die der philologischen Aufbereitung bedürfen, bevor sie sprachwissenschaftlich analysiert und interpretiert werden können. Unterschiede zwischen modernem und historischem Sprachmaterial macht die Autorin darin aus, dass die Rekontextualisierung der von modernen Sprachäußerungen in vielen Fällen weniger Aufwand verursacht als dies bei historischen Sprachäußerungen der Fall ist.7
3.2 Grammatikographie als Diskurstradition im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse Im zweiten Bereich Grammatikographie als Diskurstradition im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse richtet sich das Erkenntnisinteresse auf historische Grammatikbeschreibungen in ihrer Eigenschaft als Texte, die wie andere historische Texte auch der philologischen Bearbeitung bedürfen. Gerda Haßlers Beitrag Philologie und Grammatik bei der Analyse von grammatikographischen Manuskripten des 18. Jahrhunderts zeigt zunächst auf, in welchem Maße historische grammatikographische Texte für die Aufarbeitung der Entwicklung des sprachtheoretischen Denkens und auch als Zustandsbeschreibungen historischer Sprachzustände von Interesse sind und deshalb einer sorgfältigen Edition wert sind bzw. wären. Leitlinien und Prinzipien für die Edition sprachtheoretischer Preisbewerbungen und akademischer Schriften lassen sich aus den diskutierten philologischen Problemen ableiten. So geben etwa Abweichungen von der orthographischen und grammatischen Norm der Zeit Hinweise auf die geographische und soziale Verankerung von Autoren und sollten daher in einer Edition nicht stillschweigend korrigiert werden. Da dadurch jedoch in einigen Fällen zum Teil schwer lesbare Texte entstehen würden, scheint ein dem jeweiligen Text gerecht werdender Kompromiss zwischen einer kritischen und einer diplomatisch ausgerichteten Editionsarbeit unumgänglich. Diese Frage || 7 Zu den Verlusten bei historischen Kontextdaten cf. auch Schrott/Völker (2005, 4–7).
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knüpft an eine Debatte an, die die Edition linguistisch auswertbarer historischer Gebrauchstexte schon seit einigen Jahren prägt.8 Teresa Gruber arbeitet in Textualisierungsverfahren und grammatische Kategorien in kontrastiven Lerngrammatiken (Spanisch-Toskanisch) des 16. Jahrhunderts heraus, dass im 16. Jahrhundert insbesondere im Bereich der volkssprachlichen Lerngrammatik Umstrukturierungen bei den grammatikalischen Beschreibungsgegenständen stattfanden, die sich philologisch in den Textualisierungsstrategien insbesondere an konkreten Beschreibungsobjekten wie z.B. dem dem Lateinischen unbekannten Artikel nachweisen lassen. Tina Ambrosch-Baroua und Jochen Hafner demonstrieren in ihrem Beitrag Die Nvova Grammatica Francese et italiana (1675) des Roberto Paris, welcher Nutzen aus der philologischen Rekontextualisierung einer Grammatik gezogen werden kann. Im Fall der Grammatik von Roberto Paris erhellt sich dadurch deren mehrsprachiger Hintergrund sowie insbesondere deren Sizilienbezug bei der Entstehung und der Rezeption. In diesem Rahmen zeigen die Autoren auf, dass die Grammatik von Roberto Paris ihren spezifischen mehrsprachigen Entstehungs- und Rezeptionshorizont und damit auch ihren sprachlichen Sitz im Leben widerspiegelt. Ein philologisches Forschungsdesiderat identifiziert der Beitrag im Hinblick auf die Digitalisierung (digitale Edition plus Aufbereitung) von Gebrauchsgrammatiken, die mit vergleichsweise geringem technischem Aufwand zu leisten wäre. Auf diese Weise würden kontrastive Analysen und Vergleiche mit anderen, bereits digitalisierten Grammatiken erheblich erleichtert.
3.3 Diskussion grammatischer Phänomene im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse Das dritte Themenfeld kommt von konkreten Einzelbereichen der Grammatik her und beleuchtet diese im Licht philologischer Fragen und Erkenntnisse. Imme Kuchenbrandt geht in ihrem Beitrag Phonologie zwischen den Zeilen: Was altspanische Schriften über die Prosodie verraten auf Schwankungen in mittelalterlichen Texten des Spanischen ein, die die Zusammen- und Getrenntschreibung von Wörtern betreffen. Dabei zeigt sie, dass die unterschiedliche Schreibweise Rückschlüsse auf die prosodischen Eigenschaften von Funktionswörtern, insbesondere der von ihr untersuchten Artikel und klitischen Pronomina erlaubt und Hinweise für die phonologische Phrasierung liefert. Bei einer Auswertung von drei Texten aus der Schreibstube Alfonsos X. ‘des Weisen’, weist sie nach, || 8 Aus romanistischer Sicht cf. etwa Gleßgen/Lebsanft (1997) und Holtus/Völker (1999).
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dass die Zusammenschreibung in der Regel nur innerhalb einer phonologischen Phrase geschieht und dass es sich bei den gefundenen Ausnahmen dieser Regel fast ausschließlich um Restrukturierungen handelt, die in der Literatur belegt sind. Albert Wall befasst sich in «Porém jacaré acreditou?» Eine kritische Macunaíma-Ausgabe als Glücksfall für die Beschreibung der brasilianischen Nominalphrase mit der Auslassung von Determinierern in Nominalphrasen im brasilianischen Portugiesisch. In dem von ihm untersuchten Roman von Mario de Andrade beobachtet er, dass diese Auslassungen nicht nur relativ häufig sind, sondern auch in Kontexten vorkommen, in denen die Auslassung bislang meist als ungrammatisch beschrieben wurde. Er geht daher ausführlich auf die Glaubwürdigkeit dieser Belege ein und kommt zu dem Schluss, dass der untersuchte Roman als zuverlässige Quelle für das gesprochene brasilianische Portugiesisch dienen kann und die gefundenen Daten als älteste Belege für umgangssprachlichen Gebrauch determinierloser Nominalphrasen im brasilianischen Portugiesisch anzusehen sind. Michael Zimmermann erörtert in seinem Beitrag Zu französischen Konstruktionen des Typs «je ...–ons» die Frage nach dem Ursprung und dem Verlust von Konstruktionen, in denen das Subjektpronomen der 1. Person Singular je mit der Verbalform der 1. Person Plural kongruiert. Er zeigt anhand von umfangreichen literarischen und philologischen Quellen, dass dieser Konstruktionstyp in vielen Varietäten Nordfrankreichs sowie im Acadien in Nordamerika sehr verbreitet ist und vor allem verbreitet war. Ihren zunehmenden Verlust in den nordfranzösischen Varietäten erklärt er mit dem Verlust des Prestiges dieser nicht-standardfranzösischen Varietäten und dem damit verbundenen Rückgang der Sprecherzahlen. Malte Rosemeyer beleuchtet in Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen die Bedeutung der philologischen Arbeit für die Etablierung tragfähiger Chronologien in Sprachwandelprozessen. Konkret widmet sich seine Untersuchung der Selektion der Hilfsverben ser und haber im Spanischen. Seine Studie zeigt, dass eine Annäherung an eine absolute Chronologie auf der Basis von historischen Korpusdaten möglich ist, wenn sie auf einer strengen Kontrolle der historisch-sozialen Parameter der Textproduktion (insbesondere Datierungsgenauigkeit, sprachlicher Kontext sowie konzeptionelle Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit) fußt. Benjamin Meisnitzer vergleicht in seinem Beitrag Das periphrastische Perfekt im Spanischen und im Portugiesischen an der Schnittstelle von Grammatik und Philologie die diachrone Entwicklung des periphrastischen Perfekts im Spanischen
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und Portugiesischen. Dabei weist er nach, dass der Gebrauch des periphrastischen Perfekts (und dessen Entwicklung) kontextabhängig ist und – anders als es in den entsprechenden Grammatiken in der Regel versucht wird – nicht ausschließlich über eine eindeutig festlegbare Semantik erfasst werden kann. Er plädiert daher für eine gründliche(re) philologische Arbeit zur adäquateren Erfassung grammatischer Eigenschaften. Sarah Dessì Schmid befasst sich im letzten Beitrag des Sammelbandes «Qu’est-ce que ‹le néant›?» Grammatikalische Kategorien im Wandel: zwischen Korpusanalyse und philologischer Arbeit mit der Frage der Unidirektionalität der Grammatikalisierung lexikalischer Elemente. Hierzu untersucht sie im Rahmen einer umfangreichen Korpusanalyse die Entwicklung von frz. néant ‘Nichtigkeit, Nichts’ aus dem altfranzösischen Indefinitpronomen neant (aus *ne(c) + gens) und zeigt, dass es sich hier um einen Prozess der Lexikalisierung handelt. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass dieses Ergebnis nicht bedeutet, dass Degrammatikalisierungsprozesse grundsätzlich ausgeschlossen sind. Mit ihrem Beitrag zeigt sie, dass hierüber adäquate Aussagen nur auf der Grundlage einer umfangreichen quantitativen Analyse in Verbindung mit einer qualitativen philologischen Analyse der untersuchten Texte gemacht werden können.
4 Ausblick Eine übergreifende wie umfassende Theoretisierung der Schnittstellen zwischen Philologie und Grammatik ist auf der Grundlage des vorliegenden Sammelbandes sicherlich nicht möglich. Dies war weder beabsichtigt noch naheliegend. Gleichwohl haben sich während der Vorbereitung dieser Publikation Aspekte gezeigt, die zur theoretischen Fundierung sowohl der Philologie als auch der Grammatiktheorie einen Beitrag leisten können. Für eine zukünftige Vertiefung könnte sich unserer Ansicht nach insbesondere die Frage nach den Interdependenzen zwischen Fehlern in konkreten Sprachäußerung und der zugrundeliegenden Grammatik eignen. Die im Rahmen der weiter oben erwähnten New-Philology-Debatte (mit ihrer vertieften Reflexion der Text-Kontext-Beziehungen und deren Abbildung in Korpora bzw. Text-Kontext-Datenbanken) kann dadurch eine Bereicherung sein für die bereits innerhalb eines formalen Kontexts in jüngerer Zeit um neue Aspekte erweiterte Diskussion um das Zusammenspiel von Kompetenz und Performanz. So zwingt uns beispielsweise der philologische Umgang mit historischen Sprachäußerungen dazu, Kontext- und Performanzeinflüsse jeglicher Art explizit zu rekonstruieren und offenzulegen. Ein willkommener Nebeneffekt ist, dass
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durch die Rekonstruktionsarbeit unser Verständnis dieser Einflüsse geschärft wird. Wie es etwa im Bereich der Semiose diskutiert wurde (cf. Völker 2013), könnte eine vertiefte Interpretation im Rahmen der Rekonstruktions- und Rekontextualisierungsarbeit unter Umständen dazu führen, die Wirkung von Performanzeinflüssen auch im Bereich der Syntax besser zu verstehen und vor allen Dingen konkreter beschreiben zu können. Und auch auf der anderen Seite ist Bewegung in die Debatte gekommen: Während Chomsky (cf. 1965) bekanntermaßen zunächst darum bemüht war, Performanzeinflüsse wie Zerstreutheit oder die Begrenztheit des Gedächtnisses vom Bereich der Kompetenz eines idealen Hörer-Sprechers strikt zu trennen, skizziert Rizzi (2005), in welcher Weise Performanzrestriktionen beim Spracherwerb mit universalgrammatischen Prinzipien interagieren könnten; ein Vorschlag, der von Chomsky (2005) zustimmend kommentiert wird. Auf dieser Basis und vor dem Hintergrund unseres durch die New-Philology-Debatte geschärften Blicks auf die Qualitätsfaktoren und die Relevanz der philologischen Rekontextualisierung für die linguistische Arbeit erscheint es denkbar, dass es uns alsbald gelingen könnte, zumindest einen Teil der Performanzrestriktionen in eine übergeordnete Sprachtheorie zu integrieren.
5 Abschließende Bemerkungen Dieser Sammelband geht zurück auf eine gleichnamige Sektion auf dem XXIII. Deutschen Romanistentag 2013 in Würzburg, die von den beiden Herausgebern dort organisiert wurde. Bei den hier publizierten Aufsätzen handelt es sich um ausgewählte Beiträge dieser Sektionsarbeit. Für die notwendige Qualitätssicherung haben sich die Herausgeber nicht zuletzt aufgrund der jüngsten kritischen Anmerkungen zum anonymen Peer Review von Titz (2015) umfangreiche Gedanken gemacht. Sie haben sich schließlich vor dem Hintergrund dessen, dass alle Beteiligten ein großes Interesse an einer qualitativ hochstehenden Publikation teilen, für ein doppelstufiges transparentes Verfahren entschieden, mit sowohl einer gegenseitigen Begutachtung durch die Beiträgerinnen und Beiträger («cross review») als auch einer Begutachtung durch die beiden Herausgeber. Aus diesem Grund gebührt ein erster Dank allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die nicht nur ihre eigenen Artikel geschrieben haben, sondern auch je einen anderen Beitrag intensiv gegengelesen und kommentiert haben und in der Folge dann bereit waren, ihrerseits entsprechende Kommentare in ihren Text einzuarbeiten. Für die Aufnahme in die Reihe Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie und viele nützliche Hinweise danken die Herausgeber Claudia Polzin-Haumann
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und Wolfgang Schweickard, für die verlagsseitige Betreuung Frau Gabrielle Cornefert und Frau Nancy Christ. Unser ganz besonderer und herzlicher Dank gilt Svenja Schmid (Konstanz). Sie hat die gesamte, teilweise sehr komplexe Formatierung der Beiträge sowie deren Anpassung an die Stilvorgaben vorgenommen, das Register erstellt und trotz Staatsexamensvorbereitungen auch die abschließenden Endkorrekturen vorgenommen. Bei der Endkorrektur wurde sie tatkräftig von Carmen Padula (Konstanz) unterstützt, der wir ebenfalls sehr herzlich danken möchten.
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Guido Mensching
Morphologie und Syntax als Entscheidungskriterien für editionsphilologische Konjekturen und Interpretationen 1 Einleitung Dass die Einbeziehung der Sprachwissenschaft in die Editionsphilologie sinnvoll, ja sogar notwendig ist, bedarf wohl kaum eines Kommentars. Im vorliegenden Artikel1 soll jedoch gezeigt werden, dass die Berücksichtigung auch moderner, insbesondere theoriegeleiteter Formen der Linguistik für die Edition von Texten sinnvoll oder gar erforderlich sein kann.2 Gegenstand der folgenden Darstellung sind einige Textstellen aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen romanischen Texten sowie romanische Elemente in mittelalterlichen hebräischen Texten. Genauer wird es um Wortbildung im Altokzitanischen sowie um Syntax im Altitalienischen gehen. Die übergeordnete Fragestellung ist, wie linguistische Arbeit dem Editor bei der Entscheidung über Konjekturen bezüglich möglicher Lesarten helfen kann. Zunächst sei hier eine kleine Reflexion darüber vorangestellt, in welchen Fällen überhaupt sprachwissenschaftliche Kenntnisse bei der Edition älterer Texte gebraucht werden. Hierbei geht es insbesondere um die schwierige Aufgabe der Entscheidung über Konjekturen oder mögliche Emendationen, falls die gewählte Editionstechnik solche vorsieht. Bei Texten mit vielen Textzeugen ist es freilich so, dass allein der Vergleich der einzelnen Textzeugen die Beurteilung über «korrekte» oder sogar ursprüngliche Lesarten ermöglicht oder zumindest erleichtert. Bei wenigen oder gar bei nur einem Textzeugen ist es hingegen weitaus schwieriger, Korruptelen zu identifizieren, insbesondere dann, wenn es sich in der betreffenden Sprache um selten oder u.U. überhaupt nicht belegte Formen handelt. || 1 Dieser Artikel entstand im Rahmen meiner Tätigkeit im Courant Forschungszentrum «Textstrukturen» der Georg-August-Universität Göttingen. Die in Abschnitt 2 genannten Projekte wurden von der DFG gefördert, die auch z.Z. ein ebenfalls hiermit verbundenes Projekt eines elektronischen Wissenssystems zur altokzitanischen Medizinterminologie finanziert (in Kooperation mit Gerrit Bos, Maria Sofia Corradini und Andrea Bozzi). 2 Andere Arbeiten, die das Verhältnis zwischen neueren Formen der Linguistik und der Editionsphilologie aufzeigen, können hier aus Platzgründen nicht referiert werden. Beispielhaft seien Oesterreicher (1997), Neumann-Holzschuh (1997) und Selig (2005) genannt.
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In letzterem Falle gilt es zu entscheiden, ob eine bestimmte Form als ein hapax legomenon betrachtet werden soll (was i.d.R. die Vermutung impliziert, die Form habe wirklich existiert), oder ob es eben als Fehler eines Kopisten eingeordnet werden soll. Hier ist eine Entscheidung kaum ohne linguistische Expertise möglich. Beispielsweise wäre ein Indiz für die Existenz eines Lexems, dass es sich möglichst den bekannten Regeln der historischen Lautlehre der betreffenden Sprache/Varietät folgend ableiten lässt. Ist das Etymon nicht bekannt, sollte das Wort zumindest den für die Sprache/Varietät bekannten (ortho)graphischen Konventionen, Schreibgewohnheiten, Scriptae usw. entsprechen. Es sollte aber auch das Sprachsystem selbst mit einbezogen werden, d.h. das Wort muss dem Phoneminventar und allgemeinen sowie für die in Frage stehende Sprache bekannten Silbenstrukturen (soweit aus der Graphie ersichtlich) entsprechen. Die Betrachtung des Sprachsystems ist bei den in den folgenden Abschnitten im Vordergrund stehenden Bereichen der Wortbildung und der Syntax besonders relevant, da es sich um produktive sprachliche Teilsysteme handelt. D.h., die Fragestellung, ob eine sprachliche Form wirklich existiert hat, ist hier nicht besonders sinnvoll, sondern es muss gefragt werden, ob sie den Wortbildungsregeln bzw. den syntaktischen Regeln der Sprache des Manuskripts konform gebildet ist. In der Wortbildung wäre ein hapax legomenon, wenn er wohlgeformt ist, technisch ein okkasionelles Wort. In der Syntax macht es hingegen eigentlich keinen Sinn, von einem hapax legomenon zu reden, da ja – mit Ausnahme von stark konventionalisierten Sätzen (z.B. Sprichwörter o.ä.) – im Prinzip jeder Satz neu ist. Es stellt sich bei älteren (für die Romania insbesondere mittelalterlichen) Sprachstufen nun noch das Problem, dass die entsprechenden Grammatiken nicht oder nur sehr unzulänglich explizit überliefert sind, sondern von der Linguistik rekonstruiert werden, ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Es wird im Laufe dieses Artikels die Hypothese vertreten werden, dass – angesichts der Tatsache, dass nicht alle Regeln der mittelalterlichen romanischen Varietäten bekannt sind – bei der editionsphilologischen Entscheidung über valide Lesarten verstärkt auf linguistische Theorien zurückgegriffen werden sollte. Dies beinhaltet insbesondere in der Syntax auch die Frage, ob die in Frage stehenden Bildungen universalgrammatisch überhaupt möglich sind.3 Die in den folgenden zwei Abschnitten besprochenen Beispiele entstammen zwei konkreten Forschungsarbeiten des Verfassers und spiegeln zwei verschiedene Sichtweisen (nämlich die des Editors und die des Linguisten) wider. Der
|| 3 Mensching (2015b) verfolgt dieselbe Zielsetzung, richtet sich aber an ein editionsphilologisches Publikum außerhalb der Romanistik. Der Artikel thematisiert das in Abschnitt 3 gegebene Beispiel sowie einen anderen Bereich der altromanischen Syntax.
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erste Bereich («Wortbildung im Altokzitanischen», Abschnitt 2) entstand aus der Arbeit an der Edition diverser im mittelalterlichen Südfrankreich entstandener hebräischer Glossare, die altokzitanisches Wortgut in hebräischer Schrift enthalten. Abschnitt 3 («Infinitivsubjekte im Altflorentinischen») behandelt ein Beispiel aus einer syntaktischen Forschungsarbeit zu älteren Texten, bei denen in Bezug auf sehr selten belegte Strukturen natürlich auch die Frage besteht, ob sie als Beleg überhaupt gültig sind. Während sich Abschnitt 2 im Rahmen von Hypothesen zu einzelsprachlichen Grammatiken bewegt und sich daher nicht sehr stark vom traditionellen editionsphilologischen Arbeiten unterscheidet, wird in Abschnitt 3 die erweiterte Fragestellung verfolgt, inwieweit Hypothesen über die Universalgrammatik in die editorische Arbeit miteinbezogen werden können oder sogar sollten. Im Fazit (Abschnitt 4) erfolgt eine kurze Einordnung der Ergebnisse in die aktuelle Forschungslandschaft der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Editionsphilologie.
2 Wortbildung im Altokzitanischen In diesem Abschnitt werden zwei derivative Wortbildungen im Altokzitanischen behandelt, die die besondere Schwierigkeit aufweisen, dass sie in hebräischer Schrift überliefert sind und – zumindest nach der heutigen Dokumentation – hapax legomena darstellen. Bei den zahlreichen von Juden im mittelalterlichen Südfrankreich überlieferten Zeugnissen des Altokzitanischen handelt es sich fast ausschließlich um Glossen und isolierte Wörter, die zur Erklärung von hebräischen oder arabischen Fachtermini, insbesondere in religiösen und medizinisch-botanischen Texten und Glossaren auftreten (cf. Mensching 2015a). Medizinisch-botanische Glossare bzw. sog. Synonymenlisten weisen das Problem auf, dass die romanischen Lexeme dort ohne syntaktischen Kontext erscheinen, haben jedoch den Vorteil, dass Entsprechungen in mindestens einer anderen Sprache, meistens aber in mehreren (dann spricht man von Synonymenlisten), gegeben werden.4 Die beiden Beispiele, mit denen wir uns hier beschäftigen werden, stammen aus der ersten von zwei Synonymenlisten, die von Schem Tov Ben Isaak aus Tortosa dem 29. Buch seines Sefer ha-Šimmuš (‘Buch der medizinischen Anwendungen’, cf. Bos et
|| 4 Zu den vielfach vorhandenen Glossaren und Synonymenlisten in hebräischer Graphie, die romanische Elemente enthalten, cf. u.a. Bos/Mensching (2005, 2014, 2015); Mensching (2009); Mensching/Bos (2011); Köhler/Mensching (2013).
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al. 2011, im Folgenden abgekürzt als ShŠ)5 hinzugefügt wurden. Der Autor (*1198) stammte aus Tortosa in Katalonien, lebte und arbeitete später aber in Montpellier und Marseille. Die in den Synonymenlisten systematisch auftretenden romanischen Lexeme sind, wie wir nachweisen konnten, fast ausschließlich altokzitanisch. Das Sefer ha-Šimmuš ist in drei Manuskripten aus dem 14. Jahrhundert überliefert6 und alphabetisch nach hebräischen Lemmata geordnet, auf die jeweils Äquivalente in Arabisch und Okzitanisch und/oder Lateinisch folgen. Die Liste zeigt an einigen Stellen Korruptelen, die durch falsche Segmentierungen, falsche Übertragung von hebräischen Buchstaben und Ähnliches entstanden sind. Hierzu gehören auch nicht mehr interpretierbare, mitkopierte Wortfragmente, die manchmal als Teil eines anderen Wortes erscheinen. Wegen der Mehrdeutigkeit vieler hebräischer Buchstaben ergeben sich darüber hinaus oft mehrere mögliche Lesarten, und es schleichen sich beim Editionsprozess schnell Fehlinterpretationen ein. Wörter, die in den altokzitanischen Quellen bisher nicht belegt sind und auch nicht oder nur unzulänglich rekonstruiert werden können (z.B. aus dem Lateinischen oder mit Hilfe der modernen okzitanischen Varietäten), sind oft ohne eine genaue linguistische Analyse nicht zuverlässig dechiffrierbar, wie die folgenden Beispiele aus dem Bereich der vornehmlich (auf das Altokzitanische bezogen) synchronen Wortbildung zeigen. Das erste Beispiel ist in folgendem Eintrag zu finden: (1)
ב״ה טחלב וב״ל לינטיליאסה1עדש המים
(ShŠ 377)
[Hebr.] ʿDŠ HMYM Arab. ṬḤLB Rom. LYNṬYLYʾSH
(Transliteration)
2
Kritischer Apparat: 1
עדש: עדשיV (ʿDŠ : ʿDŠY V)
2
לינטיליאסהP: לינטילאסאO לינטילאשאV (LYNṬYLYʾSH P: LYNṬYLʾSʾ O LYNṬYLʾŠʾ V)
Der Mikrostruktur der Gattung Synonymenliste folgend handelt es sich um ein Lemma (hier Hebräisch), das mit Entsprechungen in anderen Sprachen (hier Arabisch und Romanisch) gleichgesetzt wird. Das Lemma, hebr. ( עדש המיםʿDŠ ُ HMYM, zu lesen als ʻadas ha-majim) sowie die arabische Entsprechung ﻁﺤْ ُﻠﺐ || 5 Das Sefer ha-Šimmuš selbst ist eine Übersetzung des Kitāb at-taṣrīf li-man ‘ajiza ‘an at-ta’līf von Abulcasis. 6 Paris, BN héb. 1163 (Ms.P), Vatikan, Ebr. 550 (Ms.V), Oxford, Hunt Donat 2 (Ms.O).
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ṭuḥlub bedeuten beide ‘Wasserlinse’ (botanische Bezeichnung Lemna L.); im Arabischen ist die spezifische Bedeutung ‘kleine Wasserlinse’ (Lemna minor L. u. Var. ) belegt (cf. ShŠ 377–378). Bei der Entschlüsselung des romanischen Wortes ist zunächst einiges zur Graphie zu sagen. Der Buchstabe ( יYod, translit. Y) steht neben konsonantischen Werten für die Vokale [e]/[ɛ] oder [i]. Bei der Repräsentation romanischer Sprachen tritt er auch in Kombination mit ( לLamed, L) zur Darstellung von [ʎ] auf, wobei ein oder zwei Yods vor oder nach dem Lamed erscheinen können. Die Buchstaben ( אAlef, ʾ) und – am Wortende – ( הHe, H) stehen im Okzitanischen und den meisten anderen romanischen Sprachen meistens für [a].7 Somit ist es – vor dem Hintergrund der aus der arabischen und der hebräischen Entsprechung erschließbaren Bedeutung – wahrscheinlich, dass die Form LYNṬYLYʾSH und deren Varianten altokz. lentil(h)a (DAO 6, 435s.; LR 3, 47b) ‘Linse’/‘Wasserlinse’ enthält, also den Bestandteil LYNṬYL(Y)ʾ des Wortes. Aufgrund der Tatsache, dass nun noch einige wenige Buchstaben folgen, liegt es nahe, dass es sich um eine Derivationsbildung handelt. Da Derivationen von Stämmen und nicht von flektierten Wörtern gebildet werden, ergibt sich, ausgehend von dem Stamm lentil(h)- eine neue Segmentierung, nämlich für Ms. P LYNṬYLY-ʾSH, für Ms. O LYNṬYL-ʾSʾ und für Ms.V LYNṬYL-ʾŠʾ. Das vermeintliche Suffix tritt hier in drei Varianten auf, nämlich -ʾSH, - ʾSʾ und –ʾŠʾ. Sowohl der Buchstabe Samech ( ס, S) als auch Schin (ש, Š) stehen i.d.R. im Altokzitanischen für [s] (Silberstein 1973, 84–85), wobei ersterer vorzugsweise in Wörtern auftritt, bei denen [s] von lat. C vor e/i abstammt und die in lateinischer Schrift oft (aber nicht immer) mit / (neben oder ) geschrieben wurden (cf. Aslanov 2001, 67).8 Somit ergäbe sich dann ein Suffix *{[-asa]}, das nicht hypothetisch zu bleiben braucht, weil es sich in der okzitanistischen linguistischen Literatur einfach finden lässt, wo es als {} (< -ACEA) 9 mit einem maskulinem Allomorph {} (< -ACEUS) geführt wird (Adams 1913, 140–143; Gamillscheg 1921, 39–40). Es handelt sich um ein Suffix, das hauptsächlich N → N-Bildungen hervorbrachte. Über die Bedeutung schreibt Adams (1913, 140):
|| 7 Zur altokzitanischen Graphie in hebräischer Schrift cf. Silberstein (1973, 75–105); Aslanov (2001, 47–73); Bos et al. (2011, 47–52); Mensching (2015, 239–243). 8 Cf. Aslanov (2001, 65–67) zu weiteren archaischen Graphien. 9 Die Schreibweise mit Samech deutet auf eine ältere Aussprache *{[-atsa]} hin bzw. stützt die Herkunft des Suffixes aus -ACEA, s.o.
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«The Provençal endings -AS and -ASA are generally derived from the Latin suffixes -ACEUS, -ACEA [...] The suffix gave an idea of quantity to the simple word, or greatness in size, and then depreciative force».
Das Problem ist, dass die Augmentativbedeutung hier nur schwerlich in Frage kommt, denn fast alle Arten von Wasserlinsen sind nicht größer als normale Linsen.10 Auch die pejorative Bedeutung erscheint angesichts der seit alters bekannten Heilkräfte der Wasserlinse als zweifelhaft. Was mit der allgemeineren Bedeutung «idea of quantity» gemeint ist, wird aus folgenden Beispielen nach Adams (1913, 141–143) für {} und {} deutlich: (2) a. fed-a
‘Schaf’
fed-as
‘Herde’
b. nert-a
‘Myrte’
nert-as
‘Ort, an dem Myrten häufig vorkommen’
c. palh-a
‘Stroh’
palh-as
‘Kehricht’
(3) a. b. c. d.
carn-Ø carr-e (?) fil-Ø espin-a
e. palh-a
‘Fleisch’ ‘Wagen’ ‘Faden’ ‘Dorn’
carn-asa carr-asa fil-asa espin-asa
‘Strohhalm’
palh-asa
‘viel Fleisch’ ‘(Holz-)Stapel’ ‘Flachs zum Spinnen’ ‘mit Dornbüschen bewachsener Ort’, ‘Brombeerbusch’ ‘Stoppeln’, ‘Stroh’, ‘Streu’ (?) (cf. PSW 6, 28)
Bei den Derivaten in (2a,c), (3a,b,c,e) handelt es sich um Kollektivbildungen bzw. in (2b) und (3d) um Ortsbezeichnungen, die davon abgeleitet werden können. Gamillscheg (1921, 39) spricht von «Kollektivbildungen von Stoffnamen» und nennt noch seda ‘Seide’ → sedas ‘Seidenstoff’ sowie – außerhalb der Stoffnamen – grava ‘Kies’ → gravas ‘sandiges Erdland’. Bei diesen Derivaten handelt es sich aus heutiger linguistischer Sicht um verschiedene Typen nicht-zählbarer Nomina, z.B. Gruppenkollektiva wie in (2a), die von typischen Massennomina wie den Derivaten in (2c) und (3a,c,e) zu unterscheiden sind. Letztere sind mit Stoffnomina (cf. die Derivationsbasis carn ‘Fleisch’ in (3a)) verwandt:
|| 10 In anderen Sprachen werden übrigens zur Bezeichnung von Wasserlinsen Diminutiva verwendet (cf. etwa mittellat. lenticula aquae, altspan. lantejuela del agua (Mensching 1994, 261)).
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«Sind die Elemente perzeptuell homogen und schwach individualisiert, so nimmt die semantische Nähe zu Stoffnomina zu (siehe auch Langacker 1990: 70). ‹Schwach individualisiert› bedeutet, dass die Elemente eher unbelebt und klein oder unwichtig sind. So verschwimmen die Außengrenzen der Individuen leicht, sie ‹agglutinieren› (vgl. Curat 1999: 126), und das Lexem bekommt starke Ähnlichkeit mit einem Stoffnomen, auch bezüglich des syntaktischen Verhaltens. Als Stoffnomina bezeichne ich konkrete Kontinuativa, die als homogene Masse wahrgenommen und konzeptualisiert werden, [...]» (Mihatsch 2000, 58).
Besonders interessant sind aber für die Interpretation unseres Falles Beispiele wie (3c) sowie (3e) (in der Bedeutung ‘Stoppeln’). Sie entsprechen dem oben beschriebenen Typ, in deren Extension eine größere Ansammlung der von dem Basisnomen bezeichneten Objekte (hier Strohhalme, Flachsfasern) enthalten ist.11 Nehmen wir eine provisorische semantische Beschreibung des Suffixes als [ANSAMMLUNG VON N] an, so ergäbe sich hier für *lentilhasa ‘(perzeptuell) homogene Ansammlung von Wasserlinsen’, was ja im Übrigen der natürlichen Wahrnehmung dieser Pflanze entspricht. Wahrscheinlich handelt es sich übrigens bei der arabischen Entsprechung (wie bei arabischen Pflanzennamen üblich) ebenfalls um ein Kollektivum, ggf. auch bei der hebräischen Entsprechung; das Manuskript V setzt sogar eine Pluralform (עדשי המים, ʿDŠY HMYM ‘Wasserlinsen’). Alles in allem scheint die Interpretation der hier vorliegenden Zeichenkette ( לינטיליאסהLYNṬYLYʾSH) als eine im Altokzitanischen wohlgeformte Derivationsbildung [N lentilh [Naf asa]] mit der genannten Bedeutung als überaus wahrscheinlich. Wenden wir uns nun dem zweiten Beispiel zu, das in (4) dargestellt ist: (4)
2פליסיירש
ב״ה פראין וב״ל1דמלטיקיון
(ShŠ 171)
[Hebr.] DMLṬYQYWN, Arab. PRʾYN, Rom. PLYSYYRŠ Kritischer Apparat: 1
: דמלטיקיוןP: דמלטיקוןO דלומטיקוןV (DMLṬYQYWN P: DMLṬYQWN O DLWMṬYQWN V)
2
פליסייראש פליסיירשO פלציראשV (PLYSYYRŠ P: PLYSYYRʾŠ O PLYṢYRʾŠ V)
|| 11 Hierzu können ggf. auch die als Ortsangaben interpretierten Bildungen (2b) und (3d) gerechnet werden.
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Die Interpretation der als romanisch angegebenen, zunächst als rätselhaft anmutenden Form PLYSYYR(ʾ)Š wird hier dadurch erschwert, dass sowohl das hebräische Lemma als auch das arabische Äquivalent korrupt zu sein scheinen. Ersteres (DMLṬYQYWN mit den Varianten DMLYṬQWN und DLWMṬYQWN) ist wohl verschrieben für mittelhebräisch ( דלמטיקוןDLMṬYQWN, aus griech. δαλματική oder δαλματικόν, mit Bedeutungen wie ‘Tunika’, ‘eine Art v. Tunika, die anstelle einer Stola verwendet wurde’, ‘langes Unterkleid aus dalmatischer Wolle’, ‘wollene Priestergewänder’ , ShŠ 171–172). Von derartigen Bedeutungen ausgehend ist die als Arabisch ausgezeichnete Form ( פראיןPRʾYN) wahrscheinlich korrupt für arab. ( ﻓﺮﻭfarw) oder dessen Pluralform ( ﻓﺮﺍءfirāʾ) (cf. ShŠ 172). Für ( ﻓﺮﻭfarw) gibt Lane (1863, 2390) die Bedeutung «a furred garment» an. Es könne auch ‘Tierhaut’ bedeuten, «but not unless having upon it […] fur […] or wool». Als allgemeinere Bedeutung ermittelt Lane (1863, 2390) aus verschiedenen Quellen «a kind of garment, [...] lined with the skins of various species of animals, [...] tanned and sewed together; this garment being worn for preservation from the cold [...]».
Es scheint sich also, wie in ShŠ 172 angenommen, um ein Kleidungsstück aus Fell oder Wolle zu handeln. Zu der graphischen Repräsentation PLYSYYR(ʾ)Š ist zu sagen, dass ( פPe, P) sowohl [p] als auch [f] repräsentieren konnte und doppeltes ( יYod, Y) im Altokzitanischen für einen Diphthong [je] oder [ej] stand (Silberstein 1973, 95; ShŠ 48). Im Rahmen unserer Edition (ShŠ 172) haben wir angenommen, dass es sich um eine von altokz. pelis(s)a (LR 4,484; FEW 8,162) ‘Pelz(mantel)’12 per Derivation abgeleitete Form handelt. Freilich ist die Identifizierung unserer Form als pelisiera ‘Pelzhändlerin’ (Adams 1913, 216, 234 und FEW 8, 163a) wegen der anhand des hebräischen und arabischen Wortes vermuteten Bedeutung sehr unwahrscheinlich. Dieses Wort ist eine feminine Bildung zu dem Nomen agentis pelisier (Suffix -ier aus -ARIUS). Daneben existierte auch ein intrinsisch feminines Suffix -iera ( Italienisch > Französisch) funktionierende, am Benutzer orientierte Gebrauchsgrammatik. Sie ist nicht so sehr an Definitionen – geschweige denn an zeitgenössischen grammatischen oder sprachphilosophischen Theorien – interessiert, sondern sie will als Sprachführer zum Nachschlagen (Konjugationslisten) bzw. zur aktiven Sprachverwendung (kontrastive Wortbildungsliste Italienisch – Französisch)35 || 33 Die Übersetzung lautet: ‘Substantive sind entweder maskulin oder feminin, ihr Genus erkennt man am Artikel; die maskulinen wie le feu das Feuer: le liure das Buch: le pain das Brot: die femininen wie la bouche der Mund: la main die Hand: l’oreille das Ohr: in der Deklination variieren die Nomen nicht, sondern nur die Artikel, wie wir es an entsprechender Stelle gesehen haben: der Plural der Nomen wird durch den Singular mit Anhängen von s gebildet, cf. le Maistre der Meister, les Maistres die Meister: la porte die Tür, les portes die Türen etc.’. 34 So benutzt er zwar durchgängig den (wohl allgemein verständlichen) Begriff monosillabi, jedoch fehlen in seinen Erklärungen die Termini Monophthong, Diphthong, Triphthong. Stattdessen umschreibt er das Phänomen wie folgt: «au In vna stessa sillaba, si pronuncia come, o, v.g. allons au palais, au senat, andiamo al Palazzo, al Senato» (P, I, 1). Paris ist jedoch insofern inkonsequent, als er das entsprechende Kapitel seines Werkes wie folgt betitelt: Della Pronvnciatione Delle Lettere Francese Ditto[n]ghi, e Tritonghi (P, I, 1). Allerdings liefert er keine Definition dieser Fachbegriffe, die er nur in dieser Überschrift erwähnt und im Fließtext eben nicht mehr verwendet. Dies entspricht nicht dem pädagogischen Anspruch der Grammatik und lässt eine womöglich plagiatorische Übernahme der Kapitelüberschrift aus einem anderen Lehrwerk stark vermuten. 35 Die Regole per traducere i nomi Italiani nella Lingua Francese sind nicht etwa wie der Titel dieses Abschnitts vermuten ließe, ein Glossar, sondern es handelt sich hierbei um eine Liste, die
106 | Tina Ambrosch-Baroua/Jochen Hafner
dienen. Insofern bleibt auch der zweite Teil des Werkes – die Dialoge – diesem pragmatischen Prinzip treu und versucht, dem Benutzer ein Vademecum für den fremdsprachlichen Alltag an die Hand zu geben.
3.1.2 Zweiter Teil: Dialoge Während der erste Teil dem Sprachlerner grammatisches Basiswissen lieferte, konnte er sich, darauf aufbauend, mit dem dialogischen Konversationsführer situationsangemessene Kommunikationskompetenz im Französischen – oder im Italienischen, obgleich dies nicht vom Autor expliziert wird – antrainieren. Diese im 16. und 17. Jahrhundert als so genannte Gesprächsbücher selbständig oder in Grammatiken/Kompendien unselbständig veröffentlichten «Anleitungen zum mündlichen Kommunzieren» waren «oft pragmatisch nach Sprechanlässen und Sprechhandlungszielen gegliedert» (Glück/Häberlein/Schröder 2013, 280).36 Im vorliegenden Fall lässt sich Paris’ bewusst gesetzte Dialogauswahl einerseits zu allgemeinen standesgemäßen Unterhaltungen (Small Talk; Morgen- und Abendtoilette) und andererseits zu Mustergesprächen bei gesellschaftlichen Anlässen (Bankettgespräche), auf Reisen und beim Handeln (Verkaufsgespräche) zwischen elitären Sprechern und den Bediensteten bzw. Verkäufer(inne)n und Kunden bündeln. Die angedachten Benutzer sind hierbei jeweils für jeden Dialog asymmetrisch (Franzosen und Sizilianer) verteilt. Es handelt sich jedoch immer um eine adressatenspezifische Sprachvermittlung für die Eliten. Bei der ersten dialogischen Rede begegnet man einer «beiläufigen» und nicht durchgängig stringenten Konversation in den Straßen Messinas. Thematisiert
|| die Wörter (Nomen, Verben, Adverbien, Partizipien) nach ihren Wortbildungsverfahren bzw. Suffixen klassifiziert und Entsprechungen bzw. Divergenzen zwischen dem Italienischen und Französischen aufzeigt, cf. beispielsweise: «Qvelli [nomi] che si terminano in Italiano in agio, fanno in Francese ge, v.g. personagio, personnage: auantagio àuantage: paggio page» (P, I, 7). Auch in diesem Zusammenhang verweist Paris wiederum auf die Ausnahmen der Regel (die er allerdings im Einzelnen nicht aufzählt) und rät deshalb, diese im Eigenstudium zu vertiefen: «Osserua che sono molte Eccettioni in queste Regole, di formare i nomi Francesi dall’Italiano, le quali s’imparano con la prattica» (P, I, 9). 36 Zur Geschichte der französischen Gesprächsbücher cf. Radtke (1994).
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werden hierbei Wetter, Essgewohnheiten und -vorlieben, Neuigkeiten, Stadt, Tagesablauf.37 Nach dem Besuch der Messe in der Karmeliterkirche und der Verabschiedung äußern die Dialogteilnehmer Körperempfindungen (Müdigkeit, Hunger, Durst), denen eine Einladung zum Essen, deren Ablehnung und eine Wegbeschreibung folgen. Während dieser erste Dialog bidirektional genutzt werden kann, scheint das zweite Gespräch, welches in den situativen Kontext der morgendlichen Toilette eingebettet ist, eher auf Franzosen hin ausgerichtet zu sein, die mit sizilianischem Dienstpersonal zu tun haben: Dialogpartner sind ein Herr, ein unverhoffter morgendlicher Besucher, scherzhaft Antoine de Belhumeur/Antonio di Bell’humore (P, II, 9) genannt, und ein Diener, der geringschätzig als coquin/scioccho (P, II, 14) und estourdy/balordo (P, II, 15) bezeichnet wird und am Dialogende seinen padrone ermahnt, zum Tagesgeschäft überzugehen.38 In dieser Lektion geht es offensichtlich um die pragmatische Einübung im umgangssprachlichen Befehlston mit der Dienerschaft und um den Wortschatzerwerb in den Bereichen Kleidung und häuslicher Alltag. Die Kommunikanten bleiben im dritten Gespräch, das sich nun auf den Abend bzw. die Nacht verlagert und anfänglich sprunghaft ist, zunächst die gleichen. Ein Herr spricht mit seinem Diener und erteilt ihm Aufträge, ein Reitknecht eines anderen signore spricht eine Einladung zum Abendessen aus, der Herr spielt mit einem Freund Karten, bekommt unerwarteten späten Besuch eines Freundes «[à] trois heures de nuit/tre hore di notte» (P, II, 22) mit der Bitte, zusammen mit anderen Freunden und diversen Instrumenten eine «serenade a ma maitresse/serenada alla mia innamorata» (P, II, 23) zu veranstalten. Als Musikstücke ausgewählt werden die «nouueaux airs de Mons. Baptiste […] le maistre de la musicque du Roy/nuoue arie del Signore Battista […] il maestro della musica del Rè» (P, II, 25). Zusammenfassend liegt der Fokus auf dem Memorieren von «Freizeit»vokabular (Spiele, Musikgenres, Instrumente), eingebunden in die übliche hierarchische Dialogführung mit den Bediensteten. Das vierte Gespräch kreist um den Komplex der Verkaufsgespräche von Stoffen zwischen Kunden und einer Ladenbesitzerin sowie deren Angestellten. Je-
|| 37 «[…] i’ employe une partie a la lecture, & l’autre a la chasse, au ieu, & a la conversation de mes amys/io […] spendo vna parte alla lettura, e l’altra alla caccia, al giogo, e alla conversatione di miei amici» (P, II, 6). 38 «[…] uous m’auez commendè de nous faire resouuenir d’ècrire ce mattin en France/m’ha comandato di farlo ricordare di scrivere sta mattina in Francia» (P, II, 15s.).
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doch ist das Angebot keineswegs auf italienische Tuche begrenzt, sondern gerade die international gehandelten Waren französischer Herkunft39 sind Gegenstand des Dialogs – dies spricht wiederum für eine bidirektionale Ausrichtung des Mustergesprächs. Der Erwerb der richtigen sprachlichen Strategien beim Feilschen um den Preis steht im Fokus des Dialogs. Offensichtlich geht die Perspektive weniger von einem Sizilianer aus, der sich mit den französischen Handelsgepflogenheiten nicht auskennt, sondern umgekehrt soll hier eher einem Franzosen sprachlich vermittelt werden, wie man auf Sizilien Verkaufsgespräche führt. Der fünfte Dialog führt ein in das Vokabular und die Usancen der sprachlichen Höflichkeit: Aussprechen, Akzeptieren, Ablehnen einer Einladung. Hierauf folgen Anweisungen an die Bediensteten für die Vorbereitung eines Essens, nämlich: das Decken des Tisches,40 das Öffnen der Tür, die Begrüßung der Gäste. Bei Tisch werden erlesene Speisen und Getränke gereicht, deren Vokabular ebenso eingeübt werden kann wie die für das höfliche Bewirten der Gäste notwendigen Floskeln, Trinksprüche und Dankesformeln.41 Der sechste Gesprächskontext führt den Lerner in die Welt des Reisevokabulars: Eine Reise von Sizilien nach Frankreich wird von den Gesprächspartnern geplant, das für Reisen (zu Wasser und zu Land) notwendige Vokabular hierbei vermittelt.42 Die gedachte Reiseroute führt von Messina über Marseille und Lyon nach Paris. In Frankreich können die sizilianischen Sprachlerner nicht allein ihre bereits erworbenen Sprachkenntnisse unter Beweis stellen, sondern auch zeigen,
|| 39 «[…] toille d’hollande, […] de Rouen, de troye, de bretagne, de Cambray, de quintin, de battiste, de senegal […] de soye/tela d’Hollanda, tela di Roane, di troia, di Britagna, di Cambret, di Quintin, di batista, di Senegal […], di seta» (P, II, 28). 40 «Apportez deux douzaines de uers car il sen cassera quelquun/Portate due dozane da becchieri, perche se ne rompera[n]no qualched’vni» (P, II, 61). 41 In diesem Kontext bemerkenswert ist die Erklärung der im Französischen gebräuchlichen metaphorischen Begriffe für besonders exquisite Speisen bzw. die exzellente Qualität des Fleisches (cf. z.B. perdrix d’Angleterre). Diese für das italienische Zielpublikum nur schwer verständlichen lexikalischen Herausforderungen werden wiederum dialogisch gelöst: «Voicy la perdrix d’Angleterre. Pourquoy appellez vous du beuf la perdrix d’Angleterre? Parce qu’il n’y a pas de pays ou l’on mange de mellieur beuf qu’en Angleterre, & que tous les estrangers qui y vont quittent la perdrix pour le beuf./Ecco la pernice d’Inghilterra. Perche chiamate il boue la pernice d’Inghilterra? Perche non c’è paese che si mangi megliore carne di boue ch’in Inghilterra, e tutti i forestieri che ci vanno lasciano la pernice per il boue» (P, II, 64). Cf. hierzu auch die Aussagen eines zeitgenössischen Englandreisenden: «C’est là que paissent ces bœufs, dont la chair est si tendre & si délicate, qu’on les apèle la perdrix d’Angleterre […]» (Beeverell 1707/1727, 985, vol. 5). 42 «Vomissez si uous pouvez, uous uous en porterez mieux par apres./Vomitate se potete, voi sarete meglio appresso» (P, II, 74).
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was sie über Land und Leute gelernt haben.43 Der anwendungsbezogene Gehalt der Nvova Grammatica ist hier unmittelbar greifbar. Die sich diesem letzten Dialog anschließende Nachrede an den Leser nutzt Roberto Paris, um für die Stadt Paris ebenso zu werben wie für die in Vorbereitung befindliche erweiterte Zweitauflage seiner Grammatik. Jedoch wurde dieses geplante Buch nie gedruckt. Das «a Dieu/a Dio» (P, II, 85), das Paris seinem amy lecteur am Ende der Dialoge zuruft, sollte ein definitiver Abschied sein. Die Entscheidung der Messinesen für Frankreich und gegen Spanien war – zumindest für das Werk von Paris – historisch unglücklich.
3.2 Zur sicilianità des Werkes 3.2.1 Messina-Bezüge Dass die Grammatik klar auf das messinesische Milieu zugeschnitten ist, lässt sich neben den Angaben im Paratext anhand mehrerer Beispiele aus dem Grammatik- und Dialogteil belegen: So werden die Herkunftsbezeichnungen «Messinese Messinois» (P, I, 7), «Siciliano Sicilien» (P, I, 8) und die Qualitätsadjektive «a la Messinoise, alla Messinese» (P, I, 78) aufgeführt. Hinsichtlich der das Lachen wiedergebenden Interjektionen führt Paris aus: «[…] si ride in Francia come si fa à Messina […]. Io ho parlato di questo effetto dell’affetto dell’animo, solamente perche io ho visto due, ò tre Grammatice, le quale danno regole per ridere secondo il modo Francese, come s’era differente da quello di Messina, ò d’Italia, dicono che si ride in Francese, ha ha ha, ed io dico che si ride hi hi hi, ho ho ho, he he he, hu hu hu, & c. secondo la terminatione dell’vltima sillaba, che si proferisce quando si ride»44 (Paris 1675, I, 72).
Darüberhinaus werden im oben vorgestellten ersten Konversationsdialog, der während eines Stadtspaziergangs spielt, die Chiesa della R.P. Carmelitani (P, II, 7 || 43 «Monsieur le capitaine, uous ne uous en irez pas comme cela. Et puis que nous sommes en france, nous ferons a la mode de France, ie l’ay appris en apprenant le Francois. Madame faitte couurir une table prontement./Signore capitano, V.S. non partirà cosi. E poi che noi siamo in Francia faremo all’vsanza di Francia, io l’hò appreso imparando la lingua francese» (P, II, 77). 44 Die Übersetzung lautet: ‘[…] Man lacht in Frankreich genauso wie in Messina […]. Ich sprach über diesen Effekt des Gemütszustands nur deshalb, weil ich zwei oder drei Grammatiken gesehen habe, die Regeln für das Lachen nach französischer Art gaben, so als ob es anders wäre als [das Lachen] in Messina oder in Italien, sie sagen dass man auf Französisch ha ha ha lache und ich sage, dass man hi hi hi, ho ho ho, he he he, hu hu hu, & c. lache, je nach der Endung der letzten Silbe, die man beim Lachen ausspricht’.
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und bereits I, 67), die Hitze und die inseltypische Limonata thematisiert: «Allons boire un ver de lemonade a la glace/Andiamo a bere vn bicchiero di limonata agghiacciata.» (P, II, 6). In den dritten discorsi di sera erfolgt die Aufforderung: «Touchons un air a la Francoise, a la Sicilienne, a la Messinoise/Tochiamo vn’aria alla Francesa, alla Siciliana, alla Messinese» (P, II, 25); im vierten Handelsgespräch wird einem (französischen) Kundenpaar ein gutes Angebot in der lokalen Währung für holländisches Tuch unterbreitet: «m’endonnerez huit frans (ou liures) qui font trente deux tarins de Messine/me ne darete otto franchi (o lire) che fanno trenta due tarini di Messina» (P, II, 31). Danach erfolgt eine Qualifizierung Messinas als Standort der Seidenproduktion: «Allons apresent dans la rue des marchants de soye/Andiamo adesso nella strada di mercanti di seta» (P, II, 43). Durch diese expliziten Bezugnahmen dokumentiert Paris also ein Orientierungswissen für die città dello Stretto – und im sechsten Reisedialog bzw. als Ausblick der Grammatik ebenso eine «Landeskunde» für Frankreich/Paris.45 Auf sprachlicher Ebene zeichnet sich die Mehrsprachigkeitskonstellation aber auch implizit durch die etlichen sprachlichen Irrtümer ab, die der Lehrbuchverfasser «kreiert».
3.2.2 Gallizismen und Meridionalismen Die Grammatik verkörpert einen der seltenen mehrsprachigen Drucke im Sizilien des 17. Jahrhunderts, da sich darin nicht nur Französisch und Toskanisch, sondern auch Sizilianisch und weitere süditalienische Idiome widerspiegeln. Mit den zahlreichen Interferenzerscheinungen gibt der Autor seine individuelle Mehrsprachigkeit bzw. seine defektive Kompetenz im Italienischen preis, wobei auch umgekehrt der des Französischen nicht mächtige Drucker Bisagni für manche
|| 45 Paris nennt neben der «incomparable uille de Paris, qui ueritablement est un autre petit monde/incomparabile Città di Parigi, la quale veramente è vn’altro piccolo mondo» (P, II, 84) u.a. die königlichen Schlösser der Île-de-France: den Louvre, Versailles, St. Germain-en-Laye, «fontaine, belle eau» (interessant die quasi etymologische Schreibung von Fontainebleau), Saint Clou, Rue[i]l, Chantilly – die von Trabant (2002, 31) festgestellte «Versaillifizierung der Sprache» und ihr Export zeichnen sich hier indirekt ab.
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Abweichungen (z.B. für den problematische typographische Umgang mit Diakritika oder Hyperkorrektismen)46 verantwortlich gemacht werden kann.47 Der Autor offenbart sich als muttersprachlicher Franzose anhand – wörtlicher, teils agrammatischer Lehnübertragungen aus dem Französischen wie z.B. non ci è che (vii); è ci vino? (P, I, 17); è il camino il più corte (P, II, 2); e io anche (P, II, 2); voi correte come uno bascho (P, II, 6); dite lui (P, II, 14); il giusto prezzo (P, II, 31); – im Italienischen unüblicher Partitivkonstruktionen, z.B. con del pane, del biscotto (P, II, 73); – fehlender Diphthongierungen, z.B. bon giorno (P, II; 77); boni allogiamenti (P, II, 76); – zahlreicher, beinahe systematisch erscheinender Kongruenzfehler, z.B. le discorsi (P, II, 1), le lege (P, I, 3) tre sorte (P, I, 49); troppo acqua (P, II, 66); Le mie stivale (P, II, 81); Le Stagione (P, II, 87); Le mese (P, II, 87). – Systematisiert ist ferner die auffällige Realisierung des Subjektpronomens im Italienischen aufgrund französischer Interferenz, z.B. Io credo che voi burlate (P, II, 4); Quanto pagaremo noi (P, II, 79). Dem Autor unterlaufen ferner einige Übersetzungsfehler wie z.B. amy vs. amici (P, II, 22); bonne chere vs. buona sera (P, II, 57); Suisse vs. Suessia (P, II, 85); per mia fè vs. ma foy (P, II, 24). Ebenso sind grammatische Inkongruenzen festzustellen: comment vous nommeon vs. come vi chiamano (P, II, 9); donnez moi vs. dammi (P, II, 65). Neben den muttersprachlich bedingten interferenziellen Spuren, die der Autor im italienischen Teil hinterlässt, lassen sich auch viele «meridionalisierte» Sprachformen im Italienischen selbst ausfindig machen: – Auf der lautlich-lexikalischen Ebene sind z.B. pigliare (P, I, 11, 16, 18, 21; P, II, 73; aber auch Toskanisch) siz. ‛piggiari’ (‘ergreifen’); cucchiari (P, II, 65) ‛cucchiai’ (‘Esslöffel’); curuatta (P, II, 14) ‛cravatta’ (‘Halstuch’); zinne (P, II,
|| 46 Dies betrifft die Akzentsetzung (cf. «L’accento acuto si nota cossi à […]»; P, I, 6), den Zirkumflex und das Trema, welches an den entsprechenden Stellen eben gerade nicht gesetzt wurde: «Quelli due ponti che si mettono sopra vna vocale sono per denotare che quella vocale si pronuncia à parte v.g. I’auoue io confesso: poeme poema: naiueté sincerità» (P, I, 6). Als (typo)graphische Hyperkorrekturen sind bicchiero (P, II, 4); stomacho (P, II, 8); riccho (P, II, 4); bisognierebbe (P, II, 57); cingna ‛cinghia’ (P, II, 82) zu werten. 47 Ein ähnlicher Fall liegt mit der Gramaticá española (1689, Neapel) von Josef Faustino Perles y Campos vor; darin bündelt sich die Mehrsprachigkeit im Regno di Napoli wie in einem Brennspiegel (cf. Ambrosch-Baroua 2013).
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86) ‘tette’ (‘Brüste’) als Sizilianismen zu deklarieren. Auf lexikalische Einflüsse aus der Basilikata, Neapel und Kampanien zurückzuführen sind questa noua/che nuoue (P, I, 16) ‛novità’ (‘Nachricht’); paro ‛paio’ (‘Paar’) (P, II, 81); persiche (P, II, 69) ‛pesche’ (‘Pfirsiche’) ; cerase (P, II, 69) ‛ciliegie’ (‘Kirschen’); zitella (P, II, 86) ‛ragazza’ (‘Mädchen’). Bei den Sonorisierungen der Plosive in giogo (P, II, 6); imperadore (P, I, 10), serenade/a (P, II, 2; 22: eventuell auch Kontamination aus dem Französischen) und beim Erhalt des zwischentonigen -ar- (z.B. io andarò (P, I, 6); si parlarebbe (P, I, 61); chiacchiara (P, II, 28); cappari (P, II, 68); si parlarà (P, II, 83) handelt es sich um lautliche süditalienische Interferenzen. Vom grammatischen System auf florentinischer Basis ebenfalls abweichend ist der für Sizilien typische Gebrauch des passato remoto im konzeptionell mündlichen Bereich (P, II, 6). In den Verbkonjugationen scheint Paris Alternanzen zwischen den regulär toskanischen und den süditalienischen Flexionsformen hochfrequenter Verben bewusst anzugeben, etwa noi habiàmo, ò hauemo (P, I, 22); noi eramo, ò erauamo (P, I, 26); quello uuole, ò uole (P, I, 41); tu sài, ò sape (P, I, 41).
Nicht nur nutzt Paris, wie oben beschrieben, gezielt die Kenntnis von Strukturelementen der italienischen Ausgangssprache des Fremdsprachenlerners für die Ziel- und Fremdsprache Französisch, sondern er überträgt nolens volens sprachliche Muster seiner Muttersprache auf seine Zweitsprache Italienisch und ist zudem selbst den Einflüssen der insulären mehrsprachigen Kontaktsituation ausgesetzt. Mit seiner «sizilianisierten» Grammatik leistet Paris daher einen aus sprachhistorischer Sicht bedeutenden Beitrag zum interlingualen wie kulturellen Transfer.
4 Grammatik und (digitale) Philologie Mit der exemplarischen Rekontextualisierung, diskurspragmatischen Einordnung, ersten Beschreibung und Kurzanalyse der insulären und isolierten Grammatik von 1675 ist eine Grundlage für weiterführende philologische und grammatikographische Studien geschaffen. Der Fokus dieses Beitrags lag auf der Aufdeckung und Dokumentation einer historischen – individuellen wie gesell-
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schaftlichen – Mehrsprachigkeitskonstellation quasi à rebours und auf der Aufarbeitung einer «verkannten Textsorte» (Radtke 1991, 95).48 Insofern sind die Ergebnisse der Untersuchung eines weitgehend «verschütteten» Zeugnisses in mindestens zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen zeigen sie, dass die MessinaGrammatik von Paris nicht losgelöst von ihrem mehrsprachigen spezifischen Entstehungs- und Rezeptionshorizont, der den sprachlichen Alltag widerspiegelt, verstanden werden kann. Zum anderen wird ein grammatikographischer Vergleich mit – den hier zunächst weniger fokussierten – Metakategorien anderer frühneuzeitlicher Grammatiken und die philologische Rekonstruktion der «Machart» dieses Werkes49 Aufschluss geben können über den «Gehalt» von Paris’ Werk und so auch seine differenzierte Würdigung erlauben. Ein weiteres Forschungs-desiderat betrifft die Digitalisierung und digitale Aufbereitung der Gebrauchsgrammatik, die (mit geringem technischem Aufwand) zu leisten ist: Wünschenswert ist ein elektronischer, suchbarer Voll- und Hypertext in Begleitung einer digitalen, offenen Edition, die kontrastive Analysen zu anderen, bereits digitalisierten (und idealiter edierten) Grammatiken50 erheblich erleichtern würde. Einhergehend mit einer digitalen Editionsarbeit könnte dann eine vergleichende systematische Analyse der Grammatiken des Französischen untereinander als «Ensemble» in einem synchronen und diachronen Sinn durchgeführt werden. Mit Mandich (2000) zu Fabre, der ersten dreisprachigen (frz.-it.-sp.) Grammatik (1626), Lillo (2000) zu Lonchamps (ab 1638) und Mormile (2000) zu Du Bois de Gomicourt (ab 1678) sind bereits drei Grammatiker mit ihren Werken bestens erforscht. Ebenso könnte ein Vergleich zwischen digitalisierten Lehrmaterialien des Spanischen und Englischen ergiebig sein. Gerade im Hinblick auf die weltweit in Bibliotheken und Archiven verstreuten Drucke und Manuskripte
|| 48 Auch Glück/Häberlein/Schröder (2013, 346) kritisieren die stiefmütterliche Behandlung «der Genres des Gesprächsbuchs und des Lehrbuchs in der sprachgeschichlichten Forschung», obwohl diese «vorzügliche Quellen für das Studium des sprachlichen Alltags» darstellen. 49 Dies betrifft die Suche nach verwandten bzw. den Vorläufertexten sowie die schwierige Suche nach Paris’ Verfahren der Kompilation im europäischen Netz der grammatikographischen Abhängigkeiten und Weiterübersetzungen. Denkbar sind weiterhin grammatische und diskursanalytische Rekonstruktionen auf der Makro- und Mikroebene (z.B. die Verwendung von Pronomina, Artikel, Adjektiven, Partikeln; Anredeformen und Interjektionen im Rahmen von expressivem Sprechen). 50 Es seien hier nur zwei Beispiele herausgegriffen: die bereits genannte (cf. Anm. 31) Compendiosa Grammatica francese (1667) des I. M. Lelong sowie die Nuoua gramatica francese spiegata in italiano des Jacques Du Bois de Gomicourt (1683), die beide als Digitalisate vorliegen und als Volltexte suchbar sind.
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als sprachwissenschaftlich relevante Quellen ist die Öffnung des wissenschaftlichen Raums ein dringendes Desiderat, um im Verbund von Bibliothekaren, Sprach- und (Buch)Historikern philologische Forschungs- und Detektivarbeit zu leisten, virtuelle Forschungsdaten bzw. Korpora zu erstellen und diese gewinnbringend nutz- und vergleichbar zu machen, anstatt isolierte Individualforschung zu betreiben.51
5 Bibliographie Quellen Anonym, Bando e comandamento, Messina, La Rocca, 1678. Ambrogio Marini, Giovanni, Le Gare de disperati, opera famosissima rappresentata nel Regio Palazzo di questa Nobile, e Esemplare Città di Messina. In presenza dell’Eccellentiss. Sig. Marescial Duca di Viuona […], Messina, La Rocca, 1677. Beeverell, James, Les delices de la Grand’Bretagne & de l’Irlande […]; vol. 5: […] Nouvelle Édition, retranchée, corrigée & augmentée, Leide, Pierre Vander, 11707. Du Bois de Gomicourt, Jacques, Nuoua gramatica francese spiegata in italiano nella quale s’insegna con facilità à leggere i libri antichi, e moderni, & à scrivere secondo l’uso d’oggidì, Roma, Crozier, 21683 (11678), URL: http://hdl.handle.net/2027/ucm.5323612629 [letzter Zugriff: 01.03.2017]. Lelong, I. M., Compendiosa grammatica francese composta dal reverendo I. M. Lelong, Milano, Monza, 21667 (11654), URL: http://hdl.handle.net/2027/ucm.5326811390 [letzter Zugriff: 01.03.2017]. Paris, Robert[o], Nvova Grammatica Francese, et Italiana, nella qvale Sono contenute tutte le Regole per imparare a ben leggere, pronunciare, intendere, parlare e scriuere la lingua Francese con molta faciltà, e in breue. Con varii Dialoghi Francesi, e Italiani nelli quali vi è contenuta la maggior parte de discorsi che si adoprano nella conuersatione, Messina, Stamperia del Bisagni, 1675. Romano Colonna, Giovanni Battista, vol 1: Prima parte della congiura dei ministri del re di Spagna contro la fedelissima, ed esemplare città di Messina racconto istorico […]: Nella quale
|| 51 Genau dies ist eines der von der DRV-Arbeitsgruppe ‘Digitale Romanistik’ verfolgten Ziele, cf. http://www.deutscher-romanistenverband.de/der-drv/agdr/ sowie Schöch (2014, insb. 25s). Der Katalog Digital Scholarly Editions, der derzeit zu 353 weltweiten digitalen Editionen bzw. Projekten verlinkt, bietet hierfür zahlreiche Beispiele und Anregungen, cf. URL: http://www.digitaleedition.de/ [letzter Zugriff: 01.03.2017]. Ferner hat das Institut für Dokumentologie und Editorik einen Kriterienkatalog als Richtlinie zur Besprechung und Evaluation digitaler wissenschaftlicher Editionen erarbeitet, der dazu dienen soll, «Editionen im akademischen Diskurs zu verhandeln, eine best practice zu etablieren und die Methodendiskussion voranzutreiben», cf. http://www.i-d-e.de/publikationen/weitereschriften/kriterien-version-1-1/ [letzter Zugriff: 01.03.2017].
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si contengono le Gloriose Imprese sotto la Protettione di Maria a favore di Messina, le disaventure, e rovine degli Spagnuoli, e Cittadini chiamati Merli, Messina, La Rocca, 1676, vol. 2: Nella quale Si contengono le Gloriose Imprese della Città di Messina sotto la Protettione di Maria […], le Vergognose fughe degli Spagnuoli, la Penuria, e la Fame sofferta de i Cittadini, Bisagni, 1676, vol. 3: Nella quale Si Contengono le Vittorie, e gli acquisti fatti in Sicilia dall’Armi Francesi. Le perdite degli Spagnuoli. E gli auanzi della Città di Messina, sotto la Protettione di Maria […], La Rocca, 1677.
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Die Nvova Grammatica Francese, et Italiana (1675) des Roberto Paris | 117
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Anhang Tab. 1: Aufbau und Inhalt der Nvova Grammatica Francese, et Italiana (Paris 1675).
Inhalt
Paginierung
Titelblatt Allegorie «Messina gallica» Widmung an den Messineser Senat
[iii–vi]
Vorrede an den Leser «Al lettore»
[vii–viii]
Regeln für Aussprache, Graphie und Diakritika Analogien Französisch-Italienisch
1–6 7–9
Artikel
9–11
Nomen, Adjektive, Steigerungsformen
11–13
Pronomen (Personal-, Relativ-, Demonstrativ-, Possessivpronomen)
13–22
Verben (Hilfs-, Vollverben nach Konjugationsklassen)
22–64
Partizipien
65–66
Gerundien
66
Präpositionen und y/en
66–70
Interjektionen
71–72
Konjunktionen
73
Adverbien
74–80
Numeralia
80
Primo dialogo, il quale contiene le discorsi più comune della Conuersatione
1–8
Secondo dialogo, il quale contiene le discorsi di levarsi la mattina, e li nomi delle vesti
9–16
Terzo dialogo, il quale contiene le discorsi della sera
16–26
Quarto dialogo, il quale contiene varij discorsi di comprare, e di vendere diverse mercantie
26–56
Quinto dialogo, il quale contiene discorsi tra diuersi amici inuitati a vn Banchetto
56–70
Sesto Dialogo, Il quale contiene varij discorsi per viaggiare
70–84
Paratext
Nachrede an den Leser
84–85
Glossar
Nomenklatur
86
Paratext
Teil 1: Grammatik
Teil 2: Dialoge/ Glossar
Die Nvova Grammatica Francese, et Italiana (1675) des Roberto Paris | 119
Abb. 1: Frontispiz der Nvova Grammatica Francese, et Italiana (Paris 1675).
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Abb. 2: Messina Gallica, Allegorie aus der Nvova Grammatica Francese, et Italiana (Paris 1675).
Imme Kuchenbrandt
Phonologie zwischen den Zeilen: Was altspanische Schriften über die Prosodie verraten 1 Einleitung Mittelalterliche spanische Texte weisen Schwankungen auf, die nicht nur die Schreibung einzelner Wörter betreffen (z.B. asi / assi ‘so’), sondern auch die Zusammen- und Getrenntschreibung von Wortgruppen (z.B. menguala / mengua la ‘vermindere sie’). Wanner (1996, 565) äußert sich hierzu sehr pessimistisch: «[...] medieval scribal practice [...] does not respect word separation to any degree of regularity». Meisenburg (1996, 67) schränkt dagegen ein, dies betreffe vor allem «Klitika oder, weiter gefasst, grammatische Morpheme, deren Status als ‹Wörter› generell weniger klar ist». Dieser unklare Wortstatus entsteht dadurch, dass die grammatischen Morpheme zwar aufgrund ihrer morphosyntaktischen Distribution als freie Morpheme einzuordnen sind, jedoch oft keine unabhängigen prosodischen Wörter bilden. In Abwesenheit von verbindlichen Normen ließen sich die mittelalterlichen Schreiber offenbar überwiegend von der morphologischen Analyse leiten, gelegentlich jedoch auch von der phonologischen Gruppierung. In diesem Beitrag werde ich zeigen, dass die Schwankungen in der Getrenntund Zusammenschreibung nicht nur Rückschlüsse auf die prosodischen Eigenschaften der grammatischen Morpheme – oder allgemein der Funktionswörter – zulassen, sondern auch indirekte Indizien für die phonologische Phrasierung sind. Funktionswörter bilden i.d.R. keine eigenständigen prosodischen Wörter (PWds), die als Köpfe höherer prosodischer Einheiten auftreten könnten. Dadurch benötigen sie ein phonologisches Stützwort, mit dem sie entweder bereits in ein gemeinsames prosodisches Wort, aber spätestens in eine gemeinsame phonologische Phrase (PPh) integriert werden (cf. Nespor/Vogel 2007; Hayes 1989; Selkirk 1996 u.a.). Wenn die Zusammenschreibung in den altspanischen Texten durch die Prosodifizierung motiviert ist, bedeutet dies, dass es keine graphischen Einheiten über die Grenzen der phonologischen Phrase hinweg geben
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darf.1 Nun werden die Grenzen der phonologischen Phrase nicht nur durch die Grenzen der entsprechenden syntaktischen Projektion bedingt, sondern unterliegen auch Euphonie-Bedingungen. Hierdurch ergibt sich eine verhältnismäßig große Variabilität (cf. Selkirk 2000 zum Englischen, Delais-Roussarie 2000 zum Französischen und Prieto 2006 zum Spanischen). Die Schwierigkeit bei der Analyse der altspanischen Daten ist, dass sich die phonologischen Phrasengrenzen nicht mit den üblichen phonetischen Hinweisen wie Grundfrequenzverlauf, Final lengthening oder Pausen direkt nachweisen lassen.2 Die tatsächliche Phrasierung lässt sich also nicht direkt aus unabhängiger Evidenz ablesen. Die Analyse der altspanischen Texte wird jedoch zeigen, dass es selbst unter Annahme der restriktivsten Phrasierung nur wenige Fälle gibt, an denen eine Zusammenschreibung über eine angenommene PPh-Grenze hinaus geschieht. Diese Abweichungen lassen sich fast ausschließlich durch Restrukturierungen motivieren, die in der einschlägigen Literatur belegt sind. Die Tatsache, dass an manchen Stellen Wörter zusammen oder getrennt geschrieben werden können, an anderen jedoch nur getrennt, lässt sich also so interpretieren, dass die phonologische Phrasierung durch die Graphie durchschimmert, auch wenn sie die Schreibung nicht vollständig bestimmt. Die spektakulären Fälle sind dabei weniger diejenigen, in denen Schwankungen auftreten. Diese deuten lediglich darauf hin, dass die betroffenen Wörter ein geeignetes Stützwort innerhalb derselben phonologischen Phrase haben und sich die Schreiber meistens von der Morphosyntax, gelegentlich aber von der Phonologie leiten lassen. Interessanter ist die Tatsache, dass über die anzunehmenden Grenzen phonologischer Phrasen hinweg keine Schwankungen auftreten, sondern – mit einer Ausnahme – die Schreiber an der Phrasengrenze stets ein Leerzeichen setzen. Grundlage der Untersuchung sind die Artikel und die klitischen Objektpronomina des Altspanischen. Diese bieten sich an, weil sie hinreichend frequent und klar identifizierbar sowie in den modernen romanischen Sprachen recht gut erforscht sind (cf. Demuth et al. 2012 zu prosodischen Faktoren im Artikelerwerb sowie Monachesi 1996 und Cardinaletti/Repetti 2009 zur Prosodifizierung von klitischen Pronomina). Auch zu den altspanischen Objektklitika, deren Stellung dem sog. Tobler-Mussafia-Gesetz unterliegt (cf. Tobler 1875; Mussafia 1886) oder
|| 1 Da die Grenzen der phonologischen Phrasen mit morphologischen Wortgrenzen zusammenfallen, wäre eine Zusammenschreibung in diesen Fällen weder mit den phonologischen noch mit den morphosyntaktischen Strukturen kompatibel. 2 Es wäre eine Untersuchung wert, ob die Länge der Spatien in den Manuskripten mit phonetischen Pausen korrelieren oder lediglich dem Bestreben nach Einsparung teuren Pergaments geschuldet ist. Dies ist mit den hier verwendeten Editionen natürlich nicht zu leisten.
Phonologie zwischen den Zeilen | 123
zur Frage, was Klitika sind, gibt es zahlreiche Arbeiten. Interessierte Leser seien diesbezüglich auf Kuchenbrandt (2009) zu den hier verwendeten Texten sowie z.B. auf Gessner (1893), Ramsden (1963), Wanner (1991), Fontana (1993) und Mallén (1999) zum Spanischen sowie Kaiser (1992), Hinzelin (2007) und die Beiträge in Meklenborg Salvesen (2013) bzw. auf Zwicky (1977) und die folgende Diskussion, Everett (1996), Miller/Monachesi (2003) und Bermúdez-Otero/Payne (2011) verwiesen.
1.1 Theoretischer Hintergrund Ebenso, wie syntaktische Einheiten zu größeren Konstituenten zusammengesetzt werden, bilden phonologische Segmente größere Strukturen. Diese prosodischen Konstituenten bilden die sog. prosodische Hierarchie (cf. Selkirk 1984; Nespor/Vogel 2007; Hayes 1989 u.a.). Über die genaue Anzahl prosodischer Konstituenten herrscht keine Einigkeit; weitestgehend als Konsens betrachtet werden jedoch die Silbe, der Fuß, das phonologische oder prosodische Wort, die phonologische Phrase, die Intonationsphrase und die phonologische Äußerung (cf. Hall 2011, 307). Für die vorliegende Untersuchung sind vor allem das prosodische Wort (PWd) und die phonologische Phrase (PPh)3 wichtig. Diese beiden Konstituenten orientieren sich an morphologischen bzw. syntaktischen Einheiten, ohne mit ihnen zwingend isomorph zu sein (cf. Nespor/Vogel 2007).
1.1.1 Prosodisches Wort (PWd) Das prosodische Wort ist die kleinste prosodische Konstituente, die wesentlich von nicht-phonologischen Faktoren bestimmt wird (cf. Nespor/Vogel 2007, 109). Als Anker für das prosodische Wort dienen grammatische Wörter. Der nichtphonologische Faktor besteht darin, dass das grammatische Wort einer lexikalischen Kategorie angehören muss (Nomen, Verb, Adjektiv; cf. Chomsky 1970; Selkirk 1974; 1996; Aronoff 1976) oder die Fähigkeit besitzen muss, auf eine nichtsprachliche Entität referieren zu können. Deshalb bilden neben regulären Nomina, Verben und Adjektiven auch Demonstrativa und starke Pronomina
|| 3 Ich verwende etwas andere Abkürzungen als diejenigen, die Nespor/Vogel (2007) vorschlagen und Hall (2011, 307) verwendet, um eine leichtere Lesbarkeit zu ermöglichen und gleichzeitig die Verwechslungsgefahr mit den Bezeichnungen der syntaktischen Einheiten zu vermeiden.
124 | Imme Kuchenbrandt
selbstständige prosodische Wörter, selbst wenn sie phonologisch gesehen eigentlich zu leicht wären. Prosodische Wörter sind oft, aber nicht zwingend mit grammatischen Wörtern oder syntaktischen terminalen Knoten deckungsgleich (cf. Nespor/Vogel 2007, 110; Hall 2011, 310). In (1a) sind die beiden terminalen Knoten jeweils monomorphemische lexikalische Kategorien, deshalb stimmen hier morphosyntaktische und phonologische Konstituenten überein. Für Hayes (1989, 207) muss ein PWd mindestens so groß wie ein grammatisches Wort sein. Für das Ungarische (1b) oder das Französische (1c) ließe sich jedoch argumentieren, dass linke Wortstämme von Komposita bzw. Präfixe ein eigenes PWd darstellen, da sie sich typischen PWd-internen Prozessen wie Vokalharmonie oder Halbvokalbildung entziehen (cf. Nespor/Vogel 2007, 122–124; Hannahs 1995). In diesem Fall wäre das PWd kleiner als ein terminaler Knoten. (1)
a. dt.
lies Bücher [V°] [N°] ( )PWd ( )PWd b. ung. arc kép -ek (*-ok) ‘Portraits’ [[N° N° ]N° AffPL]N° ( )PWd( )PWd c. frz. anti alcoolique ([ɑ̃ ti] / *[ɑ̃ tj]) ‘antialkoholisch’ [Aff A° ]A° ( )PWd ( )PWd
Ob ein prosodisches Wort größer als ein terminaler Knoten sein darf, ist umstritten. Nespor/Vogel (2007, 110) schließen diese Möglichkeit für ihren Ansatz aus, Booij (1983, 267ss.) nimmt sie an, und auch für Selkirk (1996) muss diese Option grundsätzlich offen stehen (cf. 1.1.3.). Gute Kandidaten für diesen Fall sind Verbindungen aus klitischem Objektpronomen und Verb wie in (2). Da das klitische Pronomen als Funktionswort i.d.R. kein eigenes prosodisches Wort bildet, wird es gemeinsam mit dem lexikalischen Kopf seiner Phrase prosodifiziert. Dabei bilden sie möglicherweise ein gemeinsames prosodisches Wort. (2)
sp.
lo [X° (
veo ‘ich sehe es/ihn’ V° ]XP ? )PWd
Phonologie zwischen den Zeilen | 125
1.1.2 Phonologische Phrase (PPh) Prosodische Wörter werden in phonologische Phrasen zusammengefasst. Diese umfassen lexikalische Köpfe und ihre Projektionen (cf. Nespor/Vogel 2007; Post 2000) bzw. lexikalische Köpfe und ihre erweiterten Projektionen (cf. Werle 2009). Das bedeutet, dass Adjektive (A), Nomina (N) und Verben (V) zunächst einmal prosodische Wörter bilden. Diese PWds sind dann die Köpfe der phonologischen Phrasen, die durch die Grenzen der AP, NP/DP bzw. PP4 und VP/TP/CP eingeschränkt werden. Nespor/Vogel (2007, 168) schlagen einen Algorithmus vor, der von Post (2000, 34) aufgenommen wird und sich wie folgt paraphrasieren lässt: Die phonologische Phrase beinhaltet das prosodische Wort, das durch den lexikalischen Kopf der maximalen Projektion gebildet wird, sowie alle weiteren Elemente innerhalb der maximalen Projektion auf der nicht-rekursiven Seite (links im Spanischen) und alle weiteren funktionalen Elemente auf derselben Seite. PWds auf der rekursiven Seite (rechts im Spanischen) bilden eine neue PPh. Bereits Nespor/Vogel (2007, 173) sehen vor, dass die phonologischen Phrasengrenzen verschoben werden können. In ihrem Ansatz ist es möglich, dass ein unverzweigtes erstes Komplement «restrukturiert», d.h. mit der PPh des lexikalischen Kopfes gemeinsam prosodifiziert wird, statt eine eigene PPh zu bilden.5 Auch auf der nicht-rekursiven Seite gibt es eine Besonderheit zu beachten. Eigentlich ist davon auszugehen, dass lexikalische XPn innerhalb einer größeren XP eigene phonologische Phrasen bilden, z.B. sollten Subjekt-XPn innerhalb der erweiterten verbalen Projektion eigene PPhs bilden. Pränominale Adjektive bilden eine Ausnahme, denn sie bilden keine eigenständigen PPhs innerhalb der (erweiterten) Nominalphrase (cf. Post 2000, 35; siehe auch Verluyten 1982 und Nespor/Vogel 2007). Für eine Phrase wie sp. un gran elefante gris ‘ein großer grauer Elefant’ ergäben sich demnach folgende Phrasierungsmöglichkeiten: elefante ist der Kopf der Nominalphrase und begrenzt die phonologische Phrase nach rechts. Das pränominale Adjektiv und der Artikel werden in die durch elefante projizierte PPh integriert, das postnominale Adjektiv gris bildet als XP auf der rekursiven Seite eine || 4 Inwiefern Präpositionen als lexikalisch oder funktional angesehen werden sollten, ist besonders für die romanischen Sprachen umstritten (cf. Gabriel 2002). Prosodisch gesehen verhalten sich Präpositionen in vielen Sprachen nicht wie lexikalische Kategorien (cf. Nespor/Vogel 2007, 168; Selkirk 1996, 187), weshalb sie hier ebenfalls als nicht-lexikalisch angesehen werden. 5 Wir können davon ausgehen, dass funktionale Kategorien auf der rekursiven Seite (z.B. Artikel und klitische Objektpronomina, die dem Nomen/Verb nachgestellt werden) ebenfalls mit dem lexikalischen Kopf phrasiert werden, wenn sie nicht einmal ein eigenes PWd bilden.
126 | Imme Kuchenbrandt
eigene PPh (cf. (3a)). Gris ist jedoch ein unverzweigtes «erstes Komplement» und ermöglicht dadurch eine Restrukturierung. Die Phrasengrenze zwischen dem Kopf elefante und dem Komplement gris darf daher gelöscht werden, so dass die gesamte Nominalphrase in eine einzige phonologische Phrase integriert wird (cf. (3b)). (3) a. (un granPWd elefantePWd)PPh b. (un granPWd elefantePWd
(grisPWd)PPh grisPWd)PPh
Die Restrukturierung ist optional, und phonologische Phrasen scheinen generell flexibler zu sein, als es der Algorithmus und die Restrukturierungsregel von Nespor/Vogel (2007) erfassen können. Ghini (1993, 48ss.) weist darauf hin, dass Verzweigung allein keine hinreichende Erklärung für die beobachtbare Variabilität im Italienischen ist. Phonologisches Gewicht spielt eine wichtige Rolle, und insgesamt tendiert die Sprache dazu, phonologische Wörter möglichst gleichmäßig oder in größer werdende Einheiten zu verteilen (cf. Ghini 1993, 68).6 DelaisRoussarie (2000) schlägt für das Französische ebenfalls Gewichtsbeschränkungen und präferierte Phrasenlängen von 3-6 Silben vor. Im Rahmen der Optimalitätstheorie (cf. Prince/Smolensky 2002) wird diese Variabilität durch die Interaktion verschiedener Beschränkungen erfasst. ALIGN(XP, PPh) (cf. Truckenbrodt 1999; Selkirk 2000) verankert phonologische Phrasen an den Grenzen syntaktischer Phrasen. WRAP-XP (Truckenbrodt 1999) verhindert, dass PPh-Grenzen durch syntaktische Phrasen hindurch verlaufen. Euphonie-Beschränkungen wie MAX-BIN oder MIN-BIN (cf. Selkirk 2000; Sandalo/Truckenbrodt 2002; Prieto 2006) präferieren PPhs, die maximal bzw. minimal zwei prosodische Wörter enthalten. Da diese Beschränkungen sprachspezifisch hierarchisiert sind und weitere Faktoren wie das Sprechtempo einen Einfluss auf die präferierte Phrasenlänge haben, ergeben sich je nach Sprache und Stil unterschiedliche bevorzugte Phrasierungsmuster. Dies kann man schön beobachten, wenn man mündliche Sprachdaten untersucht, wie es z.B. DelaisRoussarie (2000) und Prieto (2006) tun. In diesem Fall stehen phonetische Indizien zur Verfügung, mit deren Hilfe sich die Grenzen der phonologischen Phrasen unabhängig von morphosyntaktischen Strukturen ermitteln lassen. Hieraus lässt sich wiederum abschätzen, wie zuverlässig die tatsächlichen Phrasengrenzen
|| 6 Dies erinnert an Behaghel (1932, 234): «Es wirkt das Gesetz der wachsenden Glieder: ein notwendiges Glied verliert seine Stelle am Ende der Reihe zugunsten eines nicht notwendigen längeren Gliedes, oder von zwei gleich wichtigen oder gleich unwichtigen steht das längere an zweiter Stelle [...]».
Phonologie zwischen den Zeilen | 127
mit den durch einen Algorithmus wie dem von Nespor/Vogel (2007) vorhergesagten Grenzen zusammenfallen, und wie die verschiedenen Beschränkungen zur Phrasierung interagieren. Wenn man die sprachspezifische Hierarchisierung nicht kennt, ist es jedoch schwierig, potenzielle phonologische Phrasengrenzen für ein schriftliches Korpus vorherzusagen. In diesem Fall ist der simplere Algorithmus mit seinen überschaubaren Ausnahmen geeigneter. Da er zunächst kürzere phonologische Phrasen zugrunde legt, die gegebenenfalls erweitert werden können, vermindert er zudem das Risiko, Kontexte zu übersehen, in denen eine Zusammenschreibung unwahrscheinlich wäre.
1.1.3 Prosodifizierung von Funktionswörtern Nespor/Vogel (1986) und Hayes (1989) setzen eine «Clitic Group» («Composite Group» in Nespor/Vogel 2007, xvii–xix) zwischen phonologischen Wörtern und phonologischen Phrasen an, da sich Sequenzen aus Funktions- und Inhaltswörtern oft weder wie PWds noch wie PPhs verhalten. Selkirk (1996) verzichtet auf klitische Gruppen und lässt stattdessen Rekursionen und Adjunktionen innerhalb der prosodischen Hierarchie zu. In ihrem Modell bestehen verschiedene Optionen, Klitika zu prosodifizieren. Dies erscheint realistischer als eine einheitliche klitische Gruppe, da sich selbst innerhalb einer Sprache die Funktionswörter prosodisch unterschiedlich verhalten. Manche Funktionswörter bilden unabhängige prosodische Wörter. Dies trifft auf Demonstrativa und auf starke Pronomina zu, aber auch auf Funktionswörter, die so «schwer» sind, dass sie mindestens einen metrischen Fuß bilden können (Prosodic Minimality, McCarthy/Prince 1990; cf. Monachesi 1996 und die dort zitierten Quellen). Mehrsilbige Hilfsverben tragen im Spanischen einen eigenen Wortakzent, was ein Indiz für ihren Status als PWd ist. Auch für klitische Sequenzen ist vorgeschlagen worden, dass sie unabhängige PWds bilden können, denen mindestens ein sekundärer Wortakzent zugewiesen wird (cf. Alcina Franch/Blecua Teijeiro 1979, 444 für das Spanische und Monachesi 1996 für das Italienische). Die entstehende prosodische Struktur ist (4i) bzw. das Spiegelbild hierzu (cf. Selkirk 1996, 188; fnc steht für den phonologischen Gehalt funktionaler, lex für den lexikalischer Kategorien).7
|| 7 Werle (2009, 25) entwirft sechs Möglichkeiten, ein Funktionswort, das zwischen zwei Inhaltswörtern steht (… lex fnc lex …), zu prosodifizieren. In seinem Ansatz kann auch der Kontext erzwingen, dass ein Funktionswort als eigenes prosodisches Wort realisiert wird ((lex) (fnc) (lex)), was er als function word promotion bezeichnet.
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Als prosodic clitics bezeichnet Selkirk (1996, 188) diejenigen Funktionswörter, die keine PWds bilden. Für ihre Prosodifizierungen gibt es drei Möglichkeiten, nämlich als free clitic,8 außerhalb des PWds des Stützwortes direkt in die PPh integriert (4ii), als internal clitic innerhalb des PWds des Stützwortes (4iii), oder als affixal clitic, d.h. außerhalb des PWds des Stützwortes, aber mit ihm gemeinsam in einem zweiten, rekursiven PWd (4iv). (4) i. ii. iii. iv.
Prosodic Word free clitic internal clitic affixal clitic
( ( fnc )PWd ( lex )PWd )PPh ( fnc ( lex )PWd )PPh ( ( fnc lex )PWd )PPh ( ( fnc ( lex )PWd )PWd )PPh
Die Getrennt- und Zusammenschreibungen in den altspanischen Texten lassen vermuten, dass auch dort die Klitika bzw. Klitiksequenzen je nach Kontext unterschiedlich prosodifiziert werden. Sequenzen aus Funktionswörtern wie pronominale Klitika, Negationspartikeln und einsilbigen Hilfsverben bilden oft eine graphische Einheit. Dies lässt sich in (5) beobachten, wo die beiden Klitika te und lo gemeinsam mit dem Hilfsverb e zusammengeschrieben werden und mutmaßlich ein gemeinsames prosodisches Wort bilden (cf. (4i)).9 (5)
commo ((teloe ) (dicho )) wie CLI=CLI=AUX gesagt ‘wie ich es dir gesagt habe’ (alb 03r-21, cf. Kasten/Nitti 1978)
In (6) bildet ein einsilbiges Klitikon gemeinsam mit dem finiten Verb eine graphische Einheit. Die naheliegenden Prosodifizierungen wären entweder als free clitic, also außerhalb des vom Verb gebildeten PWd, aber in einer gemeinsamen PPh (cf. (4ii)); oder als affixal clitic, d. h. mit dem verbalen PWd in einem gemeinsamen rekursiven PWd (cf. (4iv)). Diese rekursive Struktur ist die Analyse, die Monachesi (1996) für das Italienische annimmt.10 || 8 Der Klarheit halber behalte ich die von Selkirk (1996) geprägten Termini bei. Der Begriff free clitic mag widersprüchlich erscheinen, aber er erschließt sich, wenn man bedenkt, dass dieser Typ kein eigenes PWd bildet (clitic), aber außerhalb des PWds des Stützwortes steht (free). 9 Monachesi (1996) nimmt an, dass die beiden durch Verb und klitische Sequenz gebildeten prosodischen Wörter ein gemeinsames PWd und keine PPh bilden, also ((teloe)PWd (dicho)PWd )PWd. 10 Die Prosodifizierung als internes Klitikon (4iii) wäre auch möglich, wenn man eine sehr enge phonologische Bindung zwischen Klitikon und Stützwort, vergleichbar mit der zwischen Affixen und ihren Stämmen, annehmen möchte.
Phonologie zwischen den Zeilen | 129
(6)
((dexo)sse) prender ließ=CLI fassen ‘ließ sich gefangennehmen’ (ley 3r-87, cf. Kasten/Nitti 1978)
Ich gehe davon aus, dass die phonologische Bindung zwischen Klitikon und Stützwort unterschiedlich stark sein kann. Allen Prosodifizierungsmöglichkeiten ist jedoch gemein, dass funktionale und lexikalische Kategorien in dieselbe phonologische Phrase integriert werden, wenn sie derselben (erweiterten) syntaktischen Projektion angehören.
1.2 Annahmen und Hypothesen Morphosyntaktische Einheiten und prosodische Einheiten sind nicht zwingend deckungsgleich (cf. Nespor/Vogel 2007). Ich nehme daher an, dass Schwankungen in den Wortgrenzenmarkierungen altspanischer Texte vor allem dort entstehen, wo Grenzen morphosyntaktischer und prosodischer Konstituenten nicht miteinander übereinstimmen (cf. Meisenburg 1996). Eine Schreibung wie dexosse in (6) deutet darauf hin, dass das Klitikon sse mit seinem Stützwort dexo in einer gemeinsamen phonologischen Phrase steht, so wie es die prosodischen Theorien vorhersagen. Eine Getrenntschreibung (dexo se) deutet dagegen nicht notwendigerweise auf prosodische Unabhängigkeit des Klitikons hin, sondern ist ein Reflex dessen, dass sich der Schreiber in diesem Fall an der morphosyntaktischen Segmentierung orientiert hat. Diese sieht eine Wortgrenze zwischen Verb und Pronomen vor, unabhängig von der Prosodifizierung des Funktionswortes, die in beiden Schreibvarianten gleich ist, sofern auch die sonstigen phonologischen Gegebenheiten identisch sind. Schwankungen in der Schreibung sind auf die Kontexte beschränkt, in denen ein Funktionswort in die phonologische Phrase eines phonologischen Stützwortes integriert wird. Innerhalb dieser phonologischen Phrase sollten wir sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung beobachten können, über PPh-Grenzen hinaus jedoch nur Getrenntschreibung. Da die tatsächliche phonologische Phrasierung anhand schriftlicher Daten mangels phonetischer Hinweise schwierig zu ermitteln ist, werde ich zunächst vom in 1.1.2 skizzierten restriktiveren Modell ausgehen. Das Spanische hat sich prosodisch nicht so tiefgreifend gewandelt, wie es z.B. im Französischen der Fall war (cf. Lapesa/Menéndez Pidal 2005; Zink 1991). Daher gehe ich davon aus, dass sich die Erkenntnisse zur modernen spanischen Phrasierung weitestgehend auf die altspanischen Daten übertragen lassen. Aus den Vorüberlegungen lassen sich folgende Hypothesen ableiten:
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H1 Innerhalb angenommener phonologischer Phrasen sind sowohl Zusammenschreibung als auch Getrenntschreibung zu beobachten; über die Grenzen phonologischer Phrasen hinaus findet sich nur Getrenntschreibung. H2 Abweichungen sind nur begrenzt möglich und lassen sich durch in der Literatur belegte Restrukturierungen erklären. Mit der Zusammenschreibung von Klitikon und Stützwort geht oft auch eine Schwankung in der Schreibung der klitischen Form selbst einher. So tritt das Reflexivpronomen in Isolation als se auf, bei graphischer Klise neben se auch als sse oder s. Besonders die auf e auslautenden Formen neigen dazu, den Vokal zu verlieren (cf. Kuchenbrandt 2009). Dass der Vokalausfall nur bei graphischen Klitika auftritt, nicht aber bei isoliert geschriebenen Formen, verdeutlicht, dass der prosodische Kontext die Voraussetzung für den Vokalausfall schafft, aber keinesfalls der ausgelassene Vokal die Klise erzwingt.
1.3 Daten und Methode Die Daten stammen aus drei Texten der königlichen Schreibstube von Alfons X. «dem Weisen», nämlich den Canones de Albateni (alb), der Estoria de Espanna (est) und dem Libro de las Leyes (ley). Ich habe die Ausgabe von Kasten/Nitti (1978) verwendet, weil sie einerseits den Anspruch erhebt, die Originalmanuskripte zeichengetreu wiederzugeben, und andererseits technisch notwendige Änderungen in der Darstellung präzise dokumentiert. Grundlage der Analyse bilden je 1.000 Artikel (definit und indefinit) und klitische Objektpronomina, die gleichmäßig verteilt aus den drei Texten extrahiert wurden.11 Kodiert wurde ihre Schreibung (isoliert = als eigenständige graphische Einheit, proklitisch = zusammen mit einem folgenden Wort, mesoklitisch = zusammen mit einem vorangehenden und einem folgenden Wort, enklitisch = zusammen mit einem vorangehenden Wort) sowie ihre Position innerhalb der phonologischen Phrase (isoliert = außerhalb der angenommenen PPh, initial = am linken Rand der PPh, medial = innerhalb der PPh, final = am rechten Rand der
|| 11 Es sind pro Text jeweils die ersten 333 (334) auftretenden Formen erfasst worden, wodurch manche Formen häufiger und andere seltener vertreten sind. Für eine detaillierte Analyse der Häufigkeit, mit der individuellen Klitikformen in verschiedenen phonoprosodischen Kontexten mit adjazenten Wörtern zusammengeschrieben werden, sei an Kuchenbrandt (2009) verwiesen. Für die Argumentation der vorliegenden Untersuchung ist dieser Punkt nicht ausschlaggebend.
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PPh).12 Für die Ermittlung der phonologischen Phrasengrenzen wurde die restriktivste Version (cf. Nespor/Vogel 2007; Post 2000) verwendet, d.h. die PPh umfasst alle funktionalen Elemente auf der nicht-rekursiven Seite und den lexikalischen Kopf. Ebenfalls eingeschlossen sind postverbale klitische Pronomina, da sie kein prosodisches Wort bilden. In die PPh einer folgenden lexikalischen Kategorie lassen sie sich nicht integrieren, weil sie dafür in deren erweiterter Projektion stehen müssten. Für Komplemente nehme ich die Bildung eigener PPhs an; mögliche Restrukturierungen werden zunächst nicht berücksichtigt. Pränominale Adjektive bilden keine eigene PPh, sonstige lexikalische Phrasen schon. Bei der Kodierung habe ich nicht zwischen lexikalischen und pronominalen DPn unterschieden oder zwischen syntaktisch produktiven PPn und lexikalisierten Ausdrücken, um die Kodierungen möglichst simpel und automatisierbar zu halten. Die genaue Betrachtung möglicher Abweichungen wird auf diese Unterschiede eingehen.
2 Ergebnisse 2.1 Artikel Artikel (abgekürzt als DET für determiner) können isoliert stehen wie in (7), aber auch initial in der phonologische Phrase (PPh) wie in (8), PPh-medial wie in (9) oder PPh-final wie in (10). (7) a. . las (que amuestran) . DET die zeigen ‘die, die zeigen’ (alb 02r-89) b. & las (de los pueblos) & DET von DET Völker ‘und die der Völker’ (est 02r-80)
|| 12 Die Begriffe proklitisch/enklitisch beziehen sich hier allein auf die Schreibung bzw. mutmaßliche Prosodifizierung, nicht aber auf die syntaktische Position (cf. Fischer 2002, Hinzelin 2007). Die syntaktische Position der klitischen Objektpronomina (präverbal/postverbal) bzw. der Artikel (pränominal) wurde nicht gesondert berücksichtigt, da sie zur möglichen Korrelation zwischen Schreibung und phonologischer Phrasierung keine zusätzlichen Erkenntnisse beiträgt.
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(8) a. (Los sabios antigos) DET Weisen früher ‘Die früheren Weisen’ (est 02r-08) b. ueyendo) (los grandes males) sehend DET große Übel ‘die großen Übel sehend’ (ley 1r-46) (9) a. & a danno ) (delos pueblos) & zum Schaden von=DET Völker ‘und zum Schaden der Völker’ (ley 1r-55) b. entonçe) (sobrell orizon) dann über=DET Horizont ‘dann über den Horizont’ (alb 02r-04) (10) a. (a los) (que auien de uenir zu DET die hätten zu kommen ‘denen, die nach ihnen kommen müssten’ (alb 02v-04) b. (ala ) (que llaman agora theuthonia zu=DET die nennen jetzt Theuthonia ‘dem,13 das sie jetzt Teutonien nennen’ (est 03v-46) Prosodisch isoliert stehende Artikel sollten auch graphisch isoliert stehen.14 Für Artikel, die initial in der phonologischen Phrase stehen, ist allenfalls eine proklitische Schreibung, also die Zusammenschreibung mit einem folgenden Wort, zu erwarten, für finale nur eine enklitische Schreibung (gemeinsam mit dem vorangehenden Wort). Mediale Artikel könnten proklitisch, enklitisch oder eventuell sogar mesoklitisch (gemeinsam mit einem vorangehenden und einem folgenden Wort) geschrieben werden, da sie inmitten der phonologischen Phrase stehen und dadurch zu beiden Seiten potentielle phonologische Stützwörter haben. In den untersuchten Daten treten ausschließlich isoliert geschriebene (0, cf. (7), (8), (10a)) und enklitisch geschriebene Artikel (X=Det, cf. (9), (10b))
|| 13 Der Referent ist das feminine Nomen tierra ‘Land’. 14 Wie die tatsächliche Prosodifizierung erfolgt, ist eine andere Frage, die ich hier offen lasse. In Ermangelung eines Stützwortes in derselben PPh wären (7) und (10) Kandidaten für function word promotion (Werle 2009), die Prosodifizierung als PWd aufgrund des prosodischen Kontexts.
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auf. Die graphischen Enklitika sind bis auf eine Ausnahme nur medial und final in der phonologischen Phrase zu finden (cf. Abb. 1).
0
1
100% 4 80%
252
60% 47
X=Det 0
394 19
40% 283 20%
0% isoliert
PPh-initial
PPh-medial
PPh-final
Abb. 1: Graphische Klise bei Artikeln
Bei den Artikeln treten Zusammenschreibungen fast ausschließlich innerhalb der vorhergesagten phonologischen Phrasen auf. Graphische Klise ist vor allem mit den Präpositionen a ‘nach, an’, contra ‘gegen’, de ‘von’, desde ‘seit’, en ‘in’, entre ‘zwischen’, fasta ‘bis’, por ‘für’, sobre ‘über’ und definitem Artikel zu beobachten. Amalgame aus a bzw. de und maskulinem definiten Artikel sind im modernen Spanischen als al und del grammatikalisiert. Präpositionen treten auch mit Demonstrativa (11a) und Nomina (11b) als graphische Einheit auf, was die Vermutung nahelegt, dass sie ebenfalls – wie von Selkirk (1996) angenommen – Funktionswörter sind und daher denselben Prosodifizierungsbedingungen unterliegen wie auch Artikel und klitische Pronomina.15 Für die grundlegende Argumentation ist dies jedoch nicht entscheidend. (11) a. […] del prologo deste libro von=DET Prolog von=diesem Buch ‘[erstes Kapitel] vom Prolog dieses Buches’ (alb 01r-11)
|| 15 Graphische Einheiten aus Präposition und Artikel wie in (9) sind demnach weniger als Einheit aus Stützwort und klitischem Element zu sehen, sondern als Sequenz von Funktionswörtern.
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b. […]
contasse de los fechos despanna erzählt von den Ereignissen von=Spanien ‘[…] berichtet von den Geschicken Spaniens’ (est 02v-35)
2.2 Klitische Objektpronomina Klitische Pronomina (abgekürzt als CLI für clitic) treten entweder initial in der phonologischen Phrase (PPh) (12), PPh-medial (13) oder PPh-final (14) auf.16 Auch hier ist zu erwarten, dass initiale Klitika nur proklitisch und finale nur enklitisch geschrieben auftreten, während für mediale Klitika die Bindung in beide Richtungen möglich ist. (12) a. (& dios) (nos meta) (en la cierta carrera) & Gott CLI setze in DET sichere Bahn ‘und Gott setze uns auf die rechte Bahn’ (alb 02v-28) b. (que yo) (ental punto) (mayuntasse ) (contigo)17 dass ich in=solchem Punkt CLI=anschließe mit=dir ‘dass ich mich dir in solchen Dingen anschlösse’ (est 27v-23) (13) a. (& quel preciaron) & dass=CLI schätzten ‘und dass sie es wertschätzten’ (est 02r-34) b. (Et reboluersan ) (las sombras) Und drehen=CLI=AUX DET Schatten ‘Und die Schatten werden sich drehen’ (alb 07v-23)
|| 16 Es sei daran erinnert, dass es hier um die Position innerhalb der prosodischen Konstituente geht und nicht um die syntaktische Stellung (präverbal/postverbal). 17 Man beachte, dass das klitische Objektpronomen hier proklitisch zum Vollverb geschrieben wird. Dies ist eine seltene, aber mehrfach auftretende Schreibung. Die Zusammenschreibung von Objektklitikon und folgendem Hilfsverb ist dagegen oft zu beobachten. Dies schwächt die These, präverbale Klitika seien stets enklitisch gebunden (cf. die Enklisetheorie von MeyerLübke 1897).
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(14) a. (guardando se ) (de nol fazer) hütend CLI von NEG=CLI machen ‘sich hütend, es nicht zu tun’ (ley 2r-18) b. (& dizenles ) (los sobimientos) & sagen=CLI DET Aufgänge ‘und sie nennen sie Aufgänge’ (alb 01r-65) Wie Abb. 2 zeigt, lassen sich neben graphischer Selbständigkeit (0, cf. 12a, 14a) auch enklitische (X=Cli, cf. (13a), (14b)), proklitische (Cli=Y, cf. (12b)) und mesoklitische Schreibungen (X=Cli=Y, cf. (13b)) beobachten. Die große Mehrheit der Klitika zeigt Zusammenschreibung nur innerhalb der angenommenen phonologischen Phrasen. Lediglich unter den initialen Klitika finden sich zwölf Fälle, in denen die Funktionswörter über die Phrasengrenze hinaus mit einem vorangehenden Wort zusammengeschrieben werden. 100%
0 1 12
3 12
0 0
96 139
80%
60%
X=Cli=Y Cli=Y X=Cli 0
109 40%
381 247
20%
0% PPh-initial
PPh-medial
PPh-final
Abb. 2: Graphische Klise bei klitischen Pronomina
Klitische Pronomina werden überwiegend mit Konjunktionen, Negationspartikeln, Auxiliaren und – besonders bei postverbaler Stellung – mit Vollverben zusammengeschrieben.
2.3 Abweichungen Die tatsächliche Phrasierung dürfte auch im Altspanischen variabler gewesen sein, als es das zugrunde gelegte Modell ansetzt. Deshalb soll nun untersucht
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werden, ob sich die abweichenden Fälle durch in der Literatur berichtete Restrukturierungs- und Euphonie-Beschränkungen begründen lassen und somit lediglich scheinbare Abweichungen darstellen. Unter den Artikeln findet sich ein Fall, in dem eine Schreibung über die angenommene PPh-Grenze hinaus geschieht, und zwar zwischen dem Verb und seinem direkten Objekt in (15). (15)
E fizieron le leuarla cruz a cuestas Und machten CLI tragen=DET Kreuz auf Rücken ‘Und sie ließen ihn das Kreuz auf dem Rücken tragen’ (ley 3r-89)
Sowohl die Verbform leuar als auch die Objekt-DP la cruz sind syntaktisch und phonologisch nicht komplex oder besonders schwer. Beide sind nur zwei Silben lang, während die vorangehende und die folgende phonologische Phrase fünf bzw. drei Silben lang sind. Eine Restrukturierung von Verb und direktem Objekt ist grundsätzlich möglich und in einem solchen Fall im modernen Spanischen durchaus üblich (cf. Prieto 2006). Man könnte sich fragen, welche Rolle Binarität in diesem Fall spielt. Alle Konstituenten bestehen aus nur einem prosodischen Wort; die Phrasierung (E fizieron le leuar) (la cruz a cuestas) würde zwei Phrasen mit je zwei PWds erzeugen. Allerdings bildet das direkte Objekt la cruz mit dem Adjunkt a cuestas keine syntaktische Konstituente, daher erzwingen die ALIGNMENT-Beschränkungen eine Phrasengrenze zwischen diesen beiden XPn. Wenn die beiden Verben gemeinsam phrasiert werden, wird vermutlich aus Gründen der Ausgewogenheit das direkte Objekt nicht als isolierte PPh stehen bleiben, womit sich wiederum eine gemeinsame Phrasierung mit dem vorausgehenden Verb ergibt. Diese Abweichung lässt sich also durch eine Restrukturierung der phonologischen Phrasen motivieren. Unter den Klitika finden sich zwölf Fälle von Schreibungen über angenommene PPh-Grenzen hinweg, die in verschiedene Untergruppen fallen. Die erste Gruppe betrifft die Zusammenschreibung mit einem vorangehenden Pronomen (ein Indefinitpronomen in (16a), jeweils ein Personalpronomen in (16b) und (16c). (16) a. & despues desto algunol Bateasse & nach von.diesem jemand=CLI taufe ‘und danach taufe ihn jemand’ (ley 5v-79) b. aquello que ellal mandasse jener den sie=CLI schickte ‘der, den sie ihm schickte’ (est 4v-51)
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c. ca ella allimpia & la tuelle denn er=CLI reinigt & CLI läutert ‘denn er reinigt und läutert sie’ (ley 4r-81) Diese Pronomina sind zwar «starke» Formen, d. h. sie bilden anders als klitische Pronomina stets eigene prosodische Wörter. Als funktionale Elemente sind sie jedoch nicht automatisch Kopf einer eigenen phonologischen Phrase. Wir dürfen annehmen, dass sie gemeinsam mit dem Verb prosodifiziert werden und die Zusammenschreibung mit dem Klitikon tatsächlich innerhalb der gemeinsamen PPh geschieht (cf. 1.1.2 und die dort zitierten Quellen). Diese Abweichung ist nicht einer Diskrepanz zwischen Theorie und Daten geschuldet, sondern den einfach gehaltenen Kodierungen. In einem Fall liegt eine Zusammenschreibung zwischen präverbalem Klitikon und lexikalischer Subjekt-DP vor: (17)
segund su sentidol abonda wie sein Sinn=cli eingibt ‘wie es sein Sinn ihm eingibt’ (ley 2r-87)
Eine gemeinsame Phrasierung von Subjekt und Verb berichtet Prieto (2006) für «leichte» Subjekte und Verben im modernen Spanischen. Beide Konstituenten sind in unserem Beispiel abgesehen vom Possessivum su nicht modifiziert und bestehen jeweils aus nur einem PWd. Eine Restrukturierung ist in diesem Fall möglich und würde eine binäre PPh aus Subjekt, Klitikon und Verb erzeugen. Die größte abweichende Gruppe betrifft die Zusammenschreibung von Klitika mit vorangehenden PPn. Ein Fall betrifft en que guisa (18a), weitere sechs sind Zusammenschreibungen mit por esso wie in (18b). (18) a. en que guisal deuen seer obedientes in welch Weise=CLI müssen sein gehorsam ‘in welcher Weise sie ihm gehorchen müssen’ (ley 2r-14) b. e por essol pusieron nombre francia und wegen das=CLI setzten Name Frankreich ‘und deshalb gaben sie ihm den Namen Frankreich’ (est 3v-61) Por esso beinhaltet eindeutig keinen lexikalischen Kopf. Inwiefern guisa noch wie eine lexikalische Kategorie zu interpretieren wäre, müsste eine sorgfältige semantische Analyse klären. Beide Ausdrücke lassen sich in diesem Kontext jedoch als Adverbien interpretieren. Ich nehme daher an, dass sie tatsächlich funktional
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sind und keine eigenen phonologischen Phrasen bilden. Damit liegen auch diese Fälle im erwarteten Rahmen. Ein letzter Fall bleibt, der tatsächlich problematisch ist. In (19) liegt eine graphische Einheit zwischen Klitikon und dem vorangehendem Kopf-Nomen einer rekursiven PP vor. (19)
E la de somo de la cabeçal fazen por que Und DET von Scheitel von DET Kopf=CLI machen damit sea apareiado de dar razon dela fe a todo sei gerüstet zu geben Auskunft von=DET Glauben zu jedem omne que gela demande Mensch der CLI=CLI verlange ‘Und das [= das Kreuz] auf der Stirn machen sie, damit er gerüstet ist, jedem Menschen, der es von ihm verlangt, ein Zeugnis des Glaubens abzulegen’ (ley 6v-84)
Ungewöhnlich ist nicht nur, dass das Klitikon mit einer lexikalischen PP zusammengeschrieben wird, sondern dass diese PP zudem noch disloziert ist. Dislozierte Konstituenten werden im modernen Spanischen von den folgenden Satzkonstituenten stets durch Phrasengrenzen abgesetzt (cf. Feldhausen, 2016); an dieser Stelle sollte auch im Altspanischen keine Restrukturierung möglich sein. Dieses Beispiel stellt damit den einzigen Fall dar, in dem eine graphische Einheit über die angenommene phonologische Phrasengrenze hinaus gebildet wird. Dieser Fall könnte auf einem Schreib- oder Wiedergabefehler beruhen, er eröffnet jedoch auch eine Forschungsfrage. Auch wenn die bisherigen Untersuchungen zur Linksdislokation in den romanischen Sprachen eine Restrukturierung zwischen Dislokation und folgendem Satz ausschließen, ist meines Wissens noch nicht systematisch untersucht worden, was im Fall extrem unausgewogener Längenverhältnisse zwischen dislozierter Konstituente und Satz geschieht, wie er hier vorliegt. Hinzu kommt, dass in (19) der eigentliche Satz aus einem einzigen Wort (fazen) besteht, dem ein ebenfalls sehr komplexer Nebensatz folgt (por que sea apareiado de dar razon … ). Wir dürften zunächst zwei lange phonologische Phrasen erwarten, die eine extrem kurze PPh umschließen. Ob dieses eklatante Ungleichgewicht eventuell doch zu einer Restrukturierung führen kann, und wie diese im konkreten Fall aussieht, muss für das moderne Spanische experimentell geklärt werden. Hieraus ließe sich mit aller gebotener Vorsicht ableiten, ob die Zusammenschreibung im abweichenden altspanischen Beispiel (19) ein phonologisches Indiz oder ein Fehler ist. Bis zur empirischen Klärung der Frage muss dieser Punkt offen bleiben. Festzuhalten bleibt, dass die übrigen 999
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Klitika sich wie vorhergesagt verhalten, und dass sich auch unter den 1.000 Artikeln allenfalls motivierbare Abweichungen finden. Damit sind Schwankungen in der Getrennt- und Zusammenschreibung klar auf bestimmte Kontexte beschränkt. Sie betreffen funktionale Kategorien und benachbarte Wörter (cf. Meisenburg 1996) und treten nur innerhalb der phonologischen Phrase auf, aber nicht über ihre Grenzen hinweg. Der Standpunkt von Wanner (1996), nach dem die Setzung von Wortgrenzen keinerlei Regelmäßigkeit gehorcht, kann für die hier untersuchten Texte als zu pessimistisch zurückgewiesen werden.
3 Schluss In dieser Untersuchung bin ich von der Hypothese ausgegangen, dass die schwankenden Wortgrenzenmarkierungen durch die Prosodifizierung von Funktionswörtern und die phonologischen Phrasierungsmöglichkeiten im Altspanischen entstehen. Eine Zusammenschreibung von Artikeln bzw. klitischen Objektpronomina und adjazenten Wörtern geschieht nur innerhalb der phonologischen Phrase, aber nicht über ihre Grenzen hinweg. Die Analyse bestätigt die Hypothese, denn die überwältigende Mehrheit der Zusammenschreibungen geschieht tatsächlich nur innerhalb der angenommenen phonologischen Phrasen. Von den verbleibenden Fällen sind mit einer Ausnahme alle plausibel zu motivieren. Damit sind scheinbare Inkonsistenzen in der Schreibung ein Indiz dafür, dass die Graphie zuweilen stärker den prosodischen statt den morphosyntaktischen Einheiten folgt. Aber auch dies geschieht keinesfalls willkürlich, sondern genau dort, wo die prosodischen Einheiten nicht mit den morphosyntaktischen Einheiten übereinstimmen. Grenzen phonologischer Phrasen fallen dabei systematisch mit graphischen Wortgrenzen zusammen.
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Albert Wall
«Porém jacaré acreditou?» Eine kritische Macunaíma-Ausgabe als Glücksfall für die Beschreibung der brasilianischen Nominalphrase 1 Einleitung: Philologie und Grammatik Ziel dieses Beitrags ist es, die Verwertbarkeit eines sehr bekannten, aus linguistischer Perspektive jedoch eher weniger beachteten Romans für die Dokumentation und Rekonstruktion nicht-zeitgenössischer sprachlicher Zustände, vor allem im Bereich der Mündlichkeit, vorzustellen und auszuleuchten. Dies geschieht anhand einer Fallstudie zur Verwendung von determiniererlosen Nominalphrasen (sog. bare nouns) im Brasilianischen in der vom Autor Mário de Andrade selbst als «Rhapsodie» klassifizierten Erzählung Macunaíma aus dem Jahr 1928 (Andrade 1978 = M). Einerseits soll dafür argumentiert werden, dass sich der Text bezüglich vieler Phänomene sehr gut als linguistische Datenquelle für den damaligen Sprachgebrauch verwenden lässt, und andererseits sollen einige Kontroversen in der Literatur zu brasilianischen bare nouns im Lichte der neu gewonnenen Daten diskutiert werden. Die über den konkreten Text und die diskutierten Phänomene und Fragen hinausgehenden Implikationen betreffen den unschätzbaren Wert sorgfältiger philologischer Arbeit für die diachrone Erforschung einzelsprachlicher Grammatiken und wie diese Arbeit im Einzelfall nutzbar gemacht werden kann – selbst wenn sie zur untersuchten Problematik direkt nichts sagt. Die wichtigsten Ergebnisse sind: (i) Macunaíma ist ein sehr zuverlässiger Text und zur Dokumentation von Phänomenen der gesprochenen Sprache geeignet, (ii) der Text bietet eine Vielzahl von Belegen für die Verwendungen determiniererloser Nomen im Brasilianischen, deren Existenz teilweise in der Literatur für den aktuellen Sprachzustand abgestritten wird, (iii) diese Belege fügen sich sehr gut in das aktuelle Bild, was sowohl die diachrone als auch die synchrone empirische Grundlage entscheidend verbessert, und (iv) die Macunaíma-Beispiele sind (im Moment) die ältesten zuverlässigen Beispiele für den «unmittelbar-situativen Gebrauch» (Kabatek 2002) von determiniererlosen Nominalphrasen im Brasilianischen und zeigen, dass das Phänomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits gut belegt ist, wenn auch ähnlich marginal in der Frequenz wie heute.
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In den verbliebenen Abschnitten des ersten Kapitels wird der grammatikalische Phänomenkomplex, um den es hier gehen soll, kurz umrissen sowie die hier relevanten Kontroversen in der Literatur dargestellt (1.1). Daraufhin wird der zu untersuchende Text in seinen Eigenarten vorgestellt und seine Eignung für die vorliegenden Fragestellungen erörtert (1.2). Das zweite Kapitel präsentiert und diskutiert die aus dem Text gewonnenen Daten nach Phänomenen gegliedert. Im dritten Kapitel werden die Kontroversen in der Literatur bezüglich der Existenz und Frequenz der Phänomene (3.1) und ihres Alters (3.2) diskutiert. Eine Zusammenfassung (Kapitel 4) schließt die Diskussion ab.
1.1 Zwei Kontroversen bezüglich determiniererloser NPs im brasilianischen Portugiesisch Während die dem Brasilianischen eigene Variation von An- bzw. Abwesenheit von Artikeln in der (streng semantisch) «redundanten» Verwendung vor Eigennamen oder Possessivpronomen bereits auf eine lange Forschungs- und Beschreibungstradition zurückblicken kann,1 ist dies für eine Reihe von Phänomenen, die insbesondere in jüngerer Vergangenheit stärker im Zentrum des Forschungsinteresses standen, nicht der Fall. Dabei handelt es sich in erster Linie um Verwendungen, wie sie in anderen romanischen Sprachen nicht möglich sind, etwa als präverbale Subjekte im Singular mit generischer, jedoch auch (spezifisch-definiter) referentieller Lesart (Beispiele 1–3). (1)
Bicicleta não polui. Fahrrad-SG nicht verschmutzen-PRS.3SG ‘Fahrräder verschmutzen (die Umwelt) nicht’ (Kabatek 2002, 67).
(2)
Até o século XX, mulher vestiu saia. Bis DEF.ART.SG Jahrhundert-SG XX Frau.SG tragen-PRF.3SG Rock-SG ‘Bis zum 20. Jahrhundert trugen Frauen Röcke’ (Pires de Oliveira/Mariano 2013, 3748).
|| 1 Grundsätzlich gilt, dass in beiden Fällen beides möglich ist. In der soziolinguistischen Literatur wurden darüber hinaus eine Reihe von einflussnehmenden Faktoren identifiziert, als da wären: Einbettung in eine Präpositionalphrase, syntaktische Funktion, Bekanntheitsgrad/Art der Possession, Herkunft des Sprechers, Prosodie (siehe z.B. Callou/Silva 1997 und die darin aufgeführte Literatur).
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(3)
Barracão pegou fogo nois fiquemos sem Schuppen-SG fangen-PRF.3SG Feuer-SG wir bleiben-PRF.1PL ohne lar. Heim-SG ‘Der (unser) Schuppen hat Feuer gefangen / (nun) haben wir kein zu Hause mehr’ (erste Zeile eines Lieds der Demônios da Garoa).
Vor allem Beispiele analog zu (1) und (2) wurden in der jüngeren Literatur zum Ausdruck von Generizität in natürlichen Sprachen, insbesondere aus dem Blickwinkel der formalen Semantik und der generativen Syntax, kontrovers diskutiert, weil sie für universalistische Grammatiktheorien jeglicher Couleur eine Herausforderung darstellen: Determiniererlose Singulare als Argumente werden dort nämlich in Artikelsprachen normalerweise (bis auf ein paar marginale Ausnahmen) ausgeschlossen. Dabei ging es (und geht es immer noch) nicht nur um die adäquate grammatikalische Analyse bzw. Erklärung des Zusammenspiels zwischen Syntax und Semantik, sondern auch schlicht darum, was überhaupt im Brasilianischen möglich ist und was nicht: Welche Konstruktionen sollten als grammatikalisch gelten und Teil der Analyse werden und welche Interpretationen lassen sie zu? Restriktionen dieser Art haben natürlich auch direkte Auswirkungen auf die theoretische Modellierung. Geht man etwa davon aus, dass determiniererlose Singularsubjekte nur analog zu (1) möglich sind, also in generischen Sätzen mit nicht-perfektiven Verbformen, würde das für Analysen sprechen, in denen solche Subjekte (ausschließlich) als Indefinita behandelt werden, welche zudem im Skopus eines generischen Operators stehen. Diese Art von Analyse muss ausgeschlossen werden, wenn man Beispiele analog zu (2) betrachtet, also Singularsubjekte in Sätzen mit sogenannten «episodischen Prädikaten», die nicht Zustände, sondern Ereignisse beschreiben. Die Bedeutung dieser Sätze wird mit einer auf Indefinitheit der Subjekt-NP basierenden Semantik und des Generizität induzierenden Operators nicht adäquat erfasst. Eine alternative Analyse wäre z.B., dass solche NPs Arten, Klassen oder Typen denotieren, was sich ohne größere Probleme auf (1) ausweiten ließe. Fälle wie (3) verlangen schließlich eine über Generizität im weitesten Sinne hinausgehende Analyse, da sich das Subjekt hier auf einen konkreten, definit zu interpretierenden Referenten bezieht. Die beschriebenen drei Szenarien kann man tatsächlich so in der jüngeren Literatur finden (siehe Wall 2013 und 2014 für eine kritische Bestandsaufnahme). Die Uneinigkeit bezüglich der Datenlage dort ist darauf zurückzuführen, dass in der Literatur meist außer der Betrachtung von intuitionsbasierten Urteilen keinerlei empirische Datenerhebungen stattfanden. Dieses Bild beginnt sich nun langsam zu wandeln. So werden Fälle wie (3) immer noch geleugnet (etwa in
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Cyrino/Espinal 2015), obwohl sie mittlerweile solide dokumentiert sind (Wall 2013). Es gibt allerdings auch die ins andere Extrem gekehrte Behauptung, nämlich, dass solche Verwendungen im aktuellen Sprachgebrauch «recht häufig» seien (Barme 2011, 163), ebenfalls ohne dies empirisch zu belegen. Orthogonal zur Kontroverse über grammatikalische Restriktionen und die adäquate Analyse steht die Diskussion um die historische Entwicklung von Fällen analog zu (3). Seit Kabatek (2002) steht die (vorläufige) Hypothese im Raum, dass es sich dabei um ein junges Phänomen handelt und darüber hinaus um eine Innovation des Brasilianischen. Barme (2011) akzeptiert den innovativen Charakter, jedoch nicht die Annahme, dass es sich um ein junges Phänomen handelt, und versucht durch eine Handvoll Belege das Phänomen möglichst weit zurückzudatieren, und zwar in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie ich im dritten Kapitel zeigen werde, haben wir es hier nur mit einem scheinbaren Widerspruch zu tun (und darüber hinaus mit einem Missverständnis seitens Barme 2011 in seiner Kritik an Kabatek 2002). Es handelt sich jedoch wieder im Kern um eine Frage auf der Ebene der Empirie, die deshalb auch empirisch angegangen werden sollte. Der hier diskutierte Text von Mário de Andrade ist für alle diese Fragen relevant, weil er zum einen alle Beispieltypen (1–3) enthält, und zum anderen ein relativ früher und zuverlässiger «brasilianischer» Text ist, wie ich im Folgenden zeigen werde.
1.2 Die kritische Macunaíma-Edition als Glücksfall Ein möglicher Grund, weshalb Macunaíma bisher als linguistische Datenquelle nicht ausreichend gewürdigt wurde, kann in seinem sprachlich (sowie auch literarisch) stark experimentellen Charakter gesehen werden. So schreibt der Herausgeber der kritischen Ausgabe: «Macunaíma, considerando a construção sintática, o vocabulario e mesmo a ortografia dentro do anseio de Mário de Andrade de sistematizar o emprego da ‹fala brasileira›, não é um livro fácil para a compreensão do tipógrafo ou do revisor acostumados com o convencional»2 (M, XXIV).
|| 2 Die Übersetzung lautet: ‘Macunaíma ist im Hinblick auf die syntaktische Konstruktion, die Lexik und sogar die Orthographie, begründet durch das Bestreben Mário de Andrades, den ‹brasilianischen Sprachgebrauch› zu systematisieren, kein einfaches Buch für den mit dem Konventionellen vertrauten Typographen oder Lektor’ (Übersetzung AW).
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Dass dieser Verdacht nicht grundsätzlich gilt, wurde allerdings schon von Woll (1982) festgestellt, und zwar bezüglich seiner Auswertung von Artikelauslassungen vor Possessiva: «Überraschen aufs Ganze gesehen naturgemäß die Extremwerte im brasilianischen Teil der Tabelle, so möchte man für Mário de Andrade […] mit seinen[…] 55% und 54% eher die Frage aufwerfen, warum hier nicht höhere Zahlen auftreten. Von der Annahme ausgehend, daß die Verhältnisse in der Sprechsprache seiner Zeit bereits grosso modo den heutigen entsprachen, würde man bei ihm, der die Sprechsprache geradezu mutwillig gegen die traditionelle Literatursprache ausspielte und dabei karikiert überzeichnete, eigentlich erwarten, daß er spätestens in seinem bilderstürmerischen Macunaíma […] einen deutlicheren Pendelausschlag zeigte […]» (Woll 1982, 81).
Verglichen mit späteren Studien zur Variation von Artikeln vor Possessiva (z.B. Callou/Silva 1997) lässt sich sagen, dass die Variation in Macunaíma nicht nennenswert von der in der aktuellen Schriftsprache abweicht. Auf die von Woll gestellte Frage wird später noch einzugehen sein. Der wichtigste Punkt hier ist, dass es a priori eigentlich keinen Grund gibt, die Nominalsyntax in Macunaíma als völlig realitätsfern und «erfunden» abzutun. Dahingegen bietet der Text uns gerade wegen seiner herausragenden Stellung in der brasilianischen Literatur den Vorteil, dass uns sehr viel über ihn und seine Entstehungsgeschichte bekannt ist, was für eine Beurteilung der Beispiele ein entscheidender Vorteil gegenüber Belegen weniger klarer oder gar zweifelhafter Herkunft ist. Es handelt sich bei Macunaíma um einen Prosatext, der in gedruckter Form ca. 150 Seiten umfasst und in 17 Kapitel gegliedert ist. Die endgültige Klassifikation des Werks durch den Autor erfolgte in der zweiten Ausgabe, wo es eingangs als rapsódia bezeichnet wird, also als eine für den mündlichen Vortrag gedachte Erzählung volkstümlichen Charakters. Was die Entstehungsgeschichte betrifft, so ist bekannt, dass der Verfassung eine jahrelange Recherche und Dokumentation auf Karteikarten vorausging. Die erste Fassung wurde laut Angaben des Autors zwischen dem 16.12.1926 und dem 23.12.1926 niedergeschrieben (M, XV), an der jedoch über Jahre, auch nach der ersten Publikation 1928, noch gefeilt wurde. Zu Lebzeiten des Autors erschienen acht Editionen (bis 1944), außerdem sind zwei Manuskripte des Autors erhalten (M, XXIV), die alle in der kritischen Ausgabe ausführlich diskutiert werden, wie auch eine große Zahl an Äußerungen des Autors zum Werk in Briefen, Interviews, Zeitungsartikeln, Randnotizen, etc. So
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beschreibt M. de Andrade den sprachlichen Stil so: «[...] essa fala simples tão sonorizada música, mesmo por causa das repetições, como é costume dos livros religiosos ou dos contos estagnados no rapsodismo popular»3 (M: XVI). Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es M. de Andrade darum geht, das von ihm wahrgenommene gesprochene Brasilianisch wiederzugeben und sogar zu systematisieren, wobei ihm vom Herausgeber der kritischen Ausgaben ein «ausgeprägtes stilistisches Bewusstsein» attestiert wird. Bezüglich des uns interessierenden Aspekts der Nominalsyntax besteht der wichtigste Punkt darin, dass er in der gesamten Diskussion um den innovativen und unkonventionellen Charakter Macunaímas und seiner kritischen Edition keine Erwähnung findet. Das bedeutet, dass es seitens des Autors in diesem Bereich keine nennenswerten Korrekturen oder Anpassungen gab und dass seitens der Sekundärliteratur die Artikelverwendung nicht als ausgesprochen auffällig erschien (was sich gut mit Wolls Befund deckt). Im Gegensatz dazu stehen unter Anderem etwa die ausführlichen Dokumentationen und Diskussionen zur Variation in der an die Aussprache angepasste und vereinfachte Orthographie, der Interpunktion und der durchaus als eigenwillig zu bezeichnenden Lexik (cf. z.B. M, LIIss.). Gäbe es Variation in der Artikelsetzung bzw. –auslassung (seitens des Autors oder rein typographischer Natur), wäre das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dokumentiert worden. Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Text bei einer derart gründlichen Aufarbeitung sehr zuverlässig ist und die Verwendung der Artikel genauso wie vom Autor vorgesehen wiedergegeben. Höchstwahrscheinlich hat sich dieser etwas dabei gedacht oder sich zumindest von seinem Sprachgefühl für die gesprochene Sprache leiten lassen.
2 Macunaíma als Datenquelle Eine exhaustive Untersuchung der Nominalphrasen in Macunaíma mit statistischer Auswertung wäre also sicherlich sehr erhellend, ist jedoch mit einer Vielzahl von Problemen verbunden und selbst mit den aktuellen Möglichkeiten der Korpuslinguistik nicht auf die Schnelle durchführbar (cf. Wall et al. 2014 für erste Schritte in diese Richtung). Deshalb beschränke ich mich hier auf die Extraktion
|| 3 Die Übersetzung lautet: ‘Diese einfache, klangvolle Sprache, gerade wegen der Wiederholungen, wie es in religiösen Schriften üblich ist, oder in den fest überlieferten volkstümlichen Rhapsodien’ (Übersetzung AW).
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und Diskussion von Beispielen, die für die in 1.1 genannten Kontroversen relevant sind, was in diesem Fall völlig ausreichend ist. Es kann jedoch festgehalten werden, nur um einen groben Überblick über die Relationen und die nun folgenden Zahlen zu geben, dass der aus 132.235 Wörtern bestehende Text etwa 19.800 Nominalsyntagmen beinhaltet, von denen wiederum ungefähr 7800 keinen Artikel haben (cf. Wall et al. 2014).4 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch Okkurrenzen von determiniererlosen generischen Singularen in Redewendungen und Sprichwörtern gibt, siehe (4), allerdings ist dies aus diachroner gesamtromanischer Sicht keine außergewöhnliche Erscheinung (siehe 3.2) und wird deshalb im Folgenden nicht weiter dokumentiert. (4)
jacaré não tem pescoço, formiga não Kaiman-SG nicht haben-PRS.3SG Hals-SG Ameise-SG nicht tem caroço! haben-PRS.3SG Kern-SG ‘Kaiman hat keinen Hals, Ameise hat kein Schmalz!’5 (M, 40)
Die folgenden beiden Abschnitte gehen nun auf die Frage nach der Kombinierbarkeit von determiniererlosen Singularen mit episodischen Prädikaten und dem unmittelbar-situativen Gebrauch ein.
2.1 Determiniererlose Subjekte und episodische Prädikate: jacaré acreditou? Eine nicht allzu häufige, wegen ihres wiederholten Auftretens jedoch trotzdem äußerst auffällige Konstruktion wird von M. de Andrade selbst in seinen Anmerkungen für eine Übersetzung des Werks ins Englische folgendermaßen beschrieben: «Jacaré abriu? nem eles! = Expressão popular cômica para indicar uma impossibilidade. É um dos refrains do livro»6 (M, 313). Es handelt sich um die
|| 4 Dabei muss beachtet werden, dass nicht immer eindeutig klar ist, was als eigenständige Nominalphrase zählt, und dass bei den artikellosen NPs solche mit anderen Determinierern eingeschlossen sind. 5 Nach der deutschen Übersetzung des Romans von Curt von Meyer-Clason (= Andrade 1992: 39). 6 Die Übersetzung lautet: ‘Volkstümlicher Ausdruck von etwas Unmöglichem, mit komischer Konnotation. Einer der Refrains des Buchs’ (Übersetzung AW).
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unterstrichenen Fälle in (5) und (6), für die nur die Gesamtübersetzung angegeben wird. Die genauere Analyse findet sich dann in (7). (5)
Dispôs os manos nas esperas, botou fogo no bosque e ficou também amoitado esperando que saisse algum viado mateiro pra ele caçar. Porém não tinha nenhum viado lá e quando queimada acabou, jacaré saiu? pois nem viado mateiro nem viado catingueiro, saíram só dois ratos chamuscados. (M, 89) ‘Die beiden [Brüder von Macunaíma] mussten sich auf den Anstand stellen, und er [Macunaíma] steckte den Wald in Brand und legte sich gleichfalls auf die Lauer in Erwartung eines Rehbocks, den er erlegen konnte. Aber da war kein Rehbock, und als er mit dem Brand am Ziel, kam da etwa ein Krokodil? Kein Waldhirsch kam, kein Steppenhirsch, nur zwei versengte Mäuse kamen heraus’ (Andrade 1992, 87).
(6)
Jiguê andou légua e meia, foi até no fim das ruas, campeou a fruteira uns pares de vezes, muito tempo, jacaré achou? nem ele! Não tinha fruteira nenhuma e Jiguê voltou campeando sempre por todos os fins das ruas. (M, 111) ‘Jiguê lief eineinhalb Léguas, ging ans Ende der Straße, sucht den Buschwald mehrere Male, lange Zeit, hat der Kaiman ihn gefunden? Auch er nicht! Da war kein Gebüsch, und Jiguê machte kehrt und suchte an allen Straßenenden’ (Andrade 1992, 116).
(7) a. jacaré saiu? pois Kaiman-SG hinausgehen-PRF.3SG also b. jacaré achou? nem Kaiman-SG finden-PRF.3SG NEG c. [jacaré VPERF?] [(x) nem NP ...]
nem NEG
viado... Hirsch-SG
ele! er
Für einen «Refrain» tritt diese Struktur nicht besonders häufig auf, immerhin lassen sich jedoch sieben Okkurrenzen zählen, und zwar mit den folgenden Verben: abrir (öffnen), acreditar (glauben), sair (hinausgehen, 2x), achar (finden, 2x), (a)fastar (entfernen). Der Verwendung nach zu urteilen soll damit weniger die Unmöglichkeit des Sachverhalts angegeben werden, vielmehr ist die Konstruktion noch am ehesten als expressiver Sprechakt zu beschreiben, in dem eine bestimmte Einstellung des Sprechers zum Sachverhalt kommuniziert wird, nämlich dass er ihn für plausibel oder offensichtlich hält. Über die heutige Verbreitung der Konstruktion ist mir nichts bekannt, nach den Beispielen in Macunaíma
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scheint es sich um eine Art recht flexiblen idiomatischen Ausdruck zu handeln, in dem jacaré eine Art «Platzhalter»-Subjekt darstellt, das sich mit einem beliebigen Verb im pretérito perfeito kombinieren lässt. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Konstruktion weder generisch ist noch Sprichwortcharakter hat, denn sie trifft keine allgemeingültigen Aussagen und für den der Negation folgenden Teil gibt es kein festes Schema. Der Variation in den beobachteten Verbformen nach zu urteilen, scheint die Konstruktion durchaus produktiv zu sein. Natürlich entspricht sie nicht exakt den in der theoretischen Literatur diskutierten Fällen (z.B. in (3)), in denen es auch um die Frage geht, ob das Subjektnomen in solchen Sätzen auf die Art/den Typ/die Klasse referieren kann. Das Beispiel zeigt aber durchaus, dass ein nichtspezifisches determiniererloses Subjekt mit einem episodischen Prädikat kombiniert werden kann.
2.2 «Unmittelbar-situativer Gebrauch» von definitspezifischen determiniererlosen NPs Noch eindrücklicher als episodische Prädikate ist das Auftreten von determiniererlosen Subjekten mit definit-spezifischer Referenz in Macunaíma. Dabei wird durch den Kontext klar, wer oder was gemeint ist, weshalb in der Literatur auch vom «unmittelbar-situativen Gebrauch» gesprochen wird. Es ist offensichtlich, dass solche Sätze ohne Kontextverankerung nicht interpretiert werden können, und im Allgemeinen wird in der theoretischen Literatur davon ausgegangen, dass normalerweise bei spezifisch-definiten Subjekten der definite Artikel obligatorisch ist, abgesehen von einigen wenigen sehr stark eingeschränkten Ausnahmen.7 Die Verwendungen in Macunaíma gehen weit darüber hinaus, wie die Beispiele (8) bis (11) zeigen. Insgesamt lassen sich 37 solcher definit-spezifischer NPs dokumentieren. Davon sind 20 zählbar, 12 belebt, alle werden anaphorisch verwendet und 19 davon beinhalten keinen potentiellen Assimilationskontext. Im Folgenden wird nun auf die Bedeutung dieses Befunds eingegangen und es werden einige repräsentative Beispiele vorgestellt.
|| 7 Dies wären vor allem Listen, Überschriften (v.a. von Zeitungsartikeln) und koordinierte Nomina.
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(8)
O dente de sucuri entrou na pele e despejou todo o veneno lá. [...] Veneno virou numa ferida leprosa e principiou comendo Jiguê. (M, 133) ‘Der Zahn der Sucuri-Schlange fuhr ihm in die Hand und verspritzte all sein Gift. [...] Das Gift verwandelte sich in eine lepröse Wunde und begann Jiguê aufzufressen’ (Andrade 1992, 144).
In (8) haben wir zwar ein Massennomen, jedoch eines, das auf eine ganz bestimmte Menge referiert. Das determiniererlose Subjekt des zweiten Satzes, veneno, greift die zuvor eingeführte Menge anaphorisch auf und wird deshalb folgerichtig in der deutschen Übersetzung auch mit «Das Gift» wiedergegeben. (9)
E Venceslau Pietro Pietra era o gigante Piaimã comedor de gente. [...] Então gigante veio. (M, 39) ‘Und Venceslaw Pietri [sic!] Pietra war der Riese Piaimã, der Menschenfresser. [...] Nun kam der Riese’ (Andrade 1992, 38).
Wie bereits in (8), haben wir es hier mit einer anaphorischen Aufnahme zu tun. Dieser Fall unterscheidet sich vom vorausgehenden dadurch, dass im zweiten Satz das Wort vor gigante auf den hinteren Semivokal endet, dessen Qualität der des definiten Artikels sehr nahe kommt. In eigenen Transkriptionsarbeiten (Wall 2013) wurde gezeigt, dass in solchen Fällen der Artikel oft mit dem vorausgehenden Wort kontrahiert und ihm deshalb in gesprochener Sprache in solchen und ähnlichen Kontexten kein eindeutiges Segment im akustischen Signal zugeordnet werden kann. Diese Tatsache sollte in eine allgemeinere Erklärung des Artikelgebrauchs im Brasilianischen mit einfließen. Sie wird hier jedoch nur erwähnt, um zu zeigen, dass diese Fälle berücksichtigt werden, das Phänomen sich jedoch nicht ganz darauf reduzieren lässt, wie die folgenden Beispiele (und das vorausgehende) zeigen. Dies festzuhalten ist umso wichtiger, da der Text ja gesprochene Sprache imitieren soll. Anders herum muss jedoch auch gesagt werden, dass normalerweise in Macunaíma die Artikel in Assimilationskontexten ausgeschrieben werden.
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(10)
Depois retesou os músculos, se erguendo num trapézio de cipó e aos pulos atingiu num átimo o galho mais alto da piranheira. [...] O ramo fininho vergou oscilando com o peso do príncipe. [...] Dobrou o corpo todo na violência dum puxão mas não pôde continuar, galho quebrou e ambos despencaram aos emboléus até se esborracharem no chão. (M, 11) ‘Dann spannte er seine Muskeln, schwang sich auf ein Lianentrapez und erreichte in Sekundenschnelle springend den nächsten Ast der Piranheira. [...] Der zarte Ast bog sich schwankend unter dem Gewicht des Prinzen. [...] Mit einem heftigen Ruck bog er seinen ganzen Leib, konnte sich aber nicht halten, der Ast brach und beide stürzten holterdiepolter hinunter, bis sie zerschunden am Boden liegenblieben’ (Andrade 1992, 10).
(11)
Fui andando por um caminho, vai, topei rasto dum... Catingeiro não era não mas era materio. Me agachei e fui no rasto. Olhando, olhando, sabe, dei uma cabeçada numa coisa mole, que engraçado! sabem o que era! pois a bunda do viado, gente! (Macunaíma deu uma grande gargalhada). Viado perguntou pra mim: - Que está fazendo aí parente!- (M, 131) ‘Ging auf einem Weg, verstehst du, stieß auf die Fährte von einem... Feldhirsch, nein, nicht doch, von einem Waldhirsch. Duckte mich und spürte ihm nach. Schaute und schaute, weißt du, stieß mit dem Kopf gegen etwas Weiches, zu komisch! und wißt ihr, was das war! Es war der Hintern des Hirsches, Leute! (Macunaíma lachte schallend heraus). Der Hirsch fragte mich: ‹Was tust du da, Gevatter!›’ (Andrade 1992, 142).
Aus dem Kontext von (10) und (11) geht klar hervor, dass das unterstrichene galho ‘Ast’ wie auch viado ‘Hirsch’ sich auf bereits im Diskurs eingeführte Individuen beziehen, kein Assimilationskonstext vorliegt, und es sich um ein belebtes als auch ein unbelebtes Nomen handelt. Man kann also zusammenfassend sagen, dass die immerhin 37 Belege definit-spezifischer Subjekte mit großer Wahrscheinlichkeit gute Beispiele für die mündliche Verwendung der besagten Konstruktion im gesprochenen Brasilianisch vom Anfang des 19. Jahrhunderts sind, da (i) ihre Entstehungsgeschichte gut dokumentiert ist und eine solche Interpretation stützt, (ii) sie nicht auf phonetisch-phonologische Prozesse reduzierbar sind, und (iii) in allen genannten Kategorien eine robuste Anzahl an Belegen vorliegt. Auf der Grundlage der im zweiten Kapitel vorgestellten Daten werden nun die eingangs skizzierten Kontroversen in der Literatur diskutiert.
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3 Macunaíma und die Kontroversen in der wissenschaftlichen Literatur 3.1 Die Nicht-Existenz bzw. Frequenz der Phänomene Wie eingangs beschrieben, reichen die Behauptungen bezüglich definit/spezifischer determiniererloser Subjekte im Brasilianischen von «recht häufig» (Barme 2011) bis «gibt es nicht (wirklich)» (generative Literatur). Wie kann es dazu kommen? Es handelt sich dabei schlicht und ergreifend um subjektive Einschätzungen ohne empirische Grundlage. Die Behauptung in Barme (2011) stützt sich auf nicht mehr als eine Handvoll aus der Literatur zusammengetragener Beispiele, die überhaupt keine Aussage über Frequenz zulassen. Die Leugnung des Phänomens in der formal/generativen Literatur wiederum stützt sich ausschließlich auf introspektive Urteile. Ohne diese Methode kategorisch ablehnen zu wollen, sind ihre gravierenden Nachteile im Einzelfall jedoch hinlänglich bekannt.8 Es ist offensichtlich, dass bei derart radikalen Positionen die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen muss. Eine Korpusstudie zur gesprochenen Sprache (Wall 2013) hat ergeben, dass das Phänomen sich in der Tat robust belegen lässt, wenn auch seine absolute Häufigkeit eher gering ist (≈2% aller relevanter NPs). Mit objektiveren Methoden erhobene Sprecherurteile (Wall 2014) legen ebenfalls nahe, dass die Ablehnung des Phänomens erstens gar nicht so stark ist wie in der generativen Literatur suggeriert und dass deshalb die Ablehnung bei der direkten Konfrontation mit solchen Beispielen mit der geringen Frequenz und dem nicht-normativen Status zusammenhängt. Bei von Linguisten stammenden Urteilen kann darüber hinaus auch eine gewisse Theoriegesteuertheit nicht ausgeschlossen werden. Dies wird insbesondere im Fall der Kombinierbarkeit von determiniererlosen Singularsubjekten mit episodischen Prädikaten deutlich, wo die Urteile zur (Un)möglichkeit dieser mit der eigenen theoretischen Sicht erstaunlich genau korrelieren: Wenn man die determiniererlosen generischen Subjekte im Brasilianischen mithilfe eines generischen Satzoperators modellieren möchte (wie Müller 2002), muss man episodische Prädikate ausschließen. Möchte man die Sicht vertreten, dass solche NPs auf Arten referieren (Generizität auf NP-Ebene, siehe Pires de Oliveira/Rothstein 2011), dann ist es wichtig, dass solche Kombinationen möglich
|| 8 Anekdotisches (aber sehr gut auf den Punkt gebracht) zu dem Thema findet man z.B. in Bart Geurts Vorwort zu Hemforth/Mertins/Fabricius-Hansen (2014). Für Substantielleres ist Schütze (1996) immer noch sehr empfehlenswert.
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sind. In beiden Fällen passen die introspektiv gewonnenen Urteile perfekt ins jeweilige Argumentationsschema. Die in Macunaíma gefundenen Beispiele sind für beide Punkte relevant: zum einen sprechen die 37 klaren Belege von definit-spezifischen determiniererlosen Subjekten eine deutliche Sprache gegen die Leugnung des Phänomens, auf der anderen Seite aber auch gegen übertriebene Behauptungen zu seiner Häufigkeit. Am ehesten spiegeln die Verhältnisse in Macunaíma den in Wall (2013) festgestellten Befund wider. Wie bereits erwähnt, sind die Beispiele vom Typ jacaré acreditou? nicht mit den in der Literatur diskutierten Beispielen zu episodischen Prädikaten identisch, sie belegen jedoch klar die grundsätzliche Kombinierbarkeit. Sie zeigen auch ausreichend Flexibilität, um nicht als fossilisierte Ausdrücke abgetan zu werden: es besteht kein Grund zur Annahme, dass es bezüglich der Verwendung von Vollverben in dieser Konstruktion Beschränkungen geben könnte. Darüber hinaus sei noch angemerkt, dass unter den definit-spezifischen Beispielen natürlich viele mit episodischem Prädikat konstruiert sind, wie z.B. (8)–(11). Wenn man bedenkt, dass sich die Diskussion in der generativen Literatur primär um generische Verwendungen gedreht hat, wird etwas klarer, warum episodische Prädikate dort teilweise merkwürdig erscheinen: Es ist einfach viel ungewöhnlicher, einen episodischen Sachverhalt über eine Art oder eine Klasse zu prädizieren, als charakterisierende oder gnomische Aussagen zu treffen. Sobald die definit-spezifischen Beispiele ins Blickfeld kommen, erübrigt sich die Frage nach der grundsätzlichen Kombinierbarkeit weitgehend. Dass man in einem bald hundertjährigen, nähesprachlich konzipierten Text Beispiele findet, die sich mit dem aktuellen Gebrauch in Verbindung bringen lassen, verstärkt die Zuverlässigkeit beider Beobachtungen zusätzlich.
3.2 Wie alt sind die Phänomene? Im ersten Teil dieses Abschnitts gehe ich auf Barmes (2011) Kritik an Kabatek (2002) ein, um zu zeigen, dass sie gar keine wirkliche Kritik ist und ein grobes Missverständnis einschließt, während der zweite Abschnitt sich mit Barmes Vordatierung des unmittelbar-situativen Gebrauchs beschäftigt und die Aussagekraft seiner Beispiele mit denen in Macunaíma verglichen wird. Barme (2011, 165) behauptet, dass alle bisher hier diskutierten Typen von determiniererlosen Nominalphrasen von Kabatek (2002) als ein relativ junges und vor allem innovatives Phänomen des Brasilianischen betrachtet werden. Es ist jedoch völlig unverständlich, wie er zu einer solchen Auffassung kommen kann, denn es widerspricht so ziemlich allem, was man in Kabatek (2002) lesen kann,
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insbesondere den Passagen, auf die Barme (2011) sich bezieht. Er verweist auf Kabatek (2002, 71). Dort ist tatsächlich von einer Innovation im Brasilianischen die Rede, die Kabatek an drei Beispielen exemplifiziert. Keines dieser Beispiele ist generisch, bei allen handelt es sich ausschließlich um den unmittelbar-situativen Gebrauch. Im gesamten Abschnitt findet sich kein generisches Beispiel, vielmehr wird auf die Herkunft von spezifischen (in)definiten Beispielen in Zeitungsüberschriften und –texten eingegangen. Nur zwei Seiten nach der von Barme zitierten Stelle beschreibt Kabatek (2002, 73) die generische Verwendung wie folgt: «In der Neutralisation bei ‹Allsätzen› […] zeigt sich die im brasilianischen Portugiesisch noch produktive Möglichkeit, auf die die Sprichwörter zurückgehen, die in den anderen romanischen Sprachen als Reste früherer Sprachformen anzusehen sind. Hier geht das brasilianische Portugiesisch also hinter das peninsuläre zurück und nähert sich den romanischen Sprachen des Mittelalters» (Kabatek 2002, 73).
Wenn Barme (2011, 166) also in dem Glauben, Kabatek (2002) zu widersprechen, feststellt, dass nur die definit-spezifischen Fälle als Innovationen des Brasilianischen gelten können, so wiederholt er nur das bereits von Kabatek Gesagte. Bezüglich des Alters des unmittelbar-situativen Gebrauchs gibt es nicht einmal einen wirklichen Widerspruch, sondern nur einen scheinbaren. Barme (2011, 166) behauptet, Belege aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorweisen zu können, was Kabateks Feststellung, dass es sich dabei um ein junges Phänomen handle, widerlege, da dies für Brasilianische Verhältnisse doch «relativ alt» sei. Dabei unterstellt Barme, dass Kabatek sich auf die gleiche Zeitskala bezieht wie er selbst. Tatsache ist aber, dass die besagte Stelle (Kabatek 2002, 68) keinerlei Angaben über die zugrundeliegende Zeitskala macht. Da es in Kabatek (2002) um den gesamten romanischen Grammatikalisierungszyklus des Artikels geht, steht diese alternative Skala zumindest im Raume und würde auch das Adjektiv «jung» rechtfertigen. Noch wichtiger als das erscheint mir jedoch die Frage, ob Barmes Beispiele in der Tat eine Vordatierung des Phänomens erlauben. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet Barme (2011, 165) folgende Beispiele an: (12)
Profunda vibração nervosa exaltava-o. tief Vibration-SG nervös aufregen-IMPRF.3SG-ihn ‘Ein starkes Kribbeln versetzte ihn in einen aufgeregten Zustand’.
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(13)
Logo, idéia dolorosa o obrigava a levar bald Idee.SG schmerzhaft ihn Zwingen-IMPRF.3SG zu führen.INF a mão à carteira. DEF.ART.SG Hand-SG zu+DEF.ART.SG Börse-SG ‘Bald zwang ihn ein schmerzhafter Gedanke dazu, seine Hand an die Geldbörse zu führen’.
(14)
Pouco depois, porém, surgiu no molhe wenig später jedoch erscheinen-PRF.3SG in+DEF.ART.SG Mole-SG jovem mulata, meneando as ancas. jung Mulattin-SG schwingend DEF.ART.PL Hüfte-PL ‘Kurz darauf erschien am Hafendamm eine junge Mulattin mit schwingenden Hüften’.
(15)
porque, perto de ali, voz forte gritava. weil nahe von dort Stimme-SG stark schreien-IMPRF.3SG ‘weil in der Nähe eine laute Stimme schrie’.
Alle diese Beispiele sind einem Werk Ferreira de Castros entnommen, der zwar in Portugal publiziert, einen Großteil seiner Jugend jedoch in Brasilien verbracht hat (siehe Barme 2011, 164s. und Verweise an der Stelle). Wenn man sich diese Beispiele jedoch genauer anschaut, dann fällt sofort auf, dass es sich bei den entsprechenden determiniererlosen Beispielen um modifizierte Nomen handelt und dass sie eher indefinit zu interpretieren sind. Bei drei von vieren handelt es sich außerdem um modifizierte Abstrakta. An sich mögen die Beispiele interessant sein, spiegeln jedoch nicht den unmittelbar-situativen Gebrauch wider, den wir in (3) und (8)–(11) finden, und sind deshalb nur bedingt zur Vordatierung des uns interessierenden Phänomens brauchbar. Bei den von Barme präsentierten Beispielen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Datenlage noch ein ganzes Stück prekärer: (16)
Sinhô comeu alguma coisa que fez mal. Herr-SG essen-PRF.3SG irgendeine Sache-SG die tun-PRF.3SG schlecht ‘Der Herr hat etwas unverträgliches gegessen’.
(17)
Sinhá velha hoje deita tarde como diabo. Frau-SG alt heute legen-PRS.3SG spät wie Teufel-SG ‘Die Dame geht heute aber verdammt spät ins Bett’.
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(18)
Na rua encontrei uma companhia in+DEF.ART.SG Straße-SG treffen-PRF.1SG IND.ART.SG Kompanie-SG do batalhão de fuzileiros, tambor von+DEF.ART.SG Battalion-SG von Infanterist-PL Tambor-SG à frente, rufando. an+DEF.ART.SG Spitze-SG wirbelnd ‘Auf der Straße traf ich ein Battalion Infanteristen, angeführt vom Tambor, der einen Trommelwirbel spielte’.
(19)
Cuverno [sic] compra canhao [sic] Regierung-SG kaufen-PRS.3SG Kanone-SG ‘Eine Regierung/Die Regierung/Regierungen kauft/kaufen eine Kanone/ die Kanone/Kanonen’.
Bei (16) handelt es sich laut Barme selbst um eine Anredeform, die als solche interessant, jedoch kein Beleg für das gesuchte Phänomen ist. (17) ist keine direkte Anrede, jedoch wie pai oder mãe als eine Bezeichnung für eine Person zu der eine enge Beziehung besteht zu interpretieren (eine «Verwandtschaftsbezeichnung» im weiteren Sinne), oder gar als eine Art Eigenname (falls das in diesem Fall zutrifft). Eigennamen führen aber, wie in Fußnote 1 dargelegt, oftmals ein Eigenleben. Bei (18) handelt es sich nicht um das Subjekt eines finiten Verbs, sondern eher um ein Adjunkt, welches auch kein guter Vertreter des gesuchten Phänomens ist. Beispiel (19) schließlich ist, so wie es bei Barme präsentiert wird, überhaupt nicht interpretierbar. Handelt es sich um einen generischen Satz («Regierungen pflegen Kanonen zu kaufen») oder geht es um eine bestimmte Regierung? Ohne Kontext kann über die Interpretation dieses Beispiels nur spekuliert werden. Barme zitiert dieses Beispiel nach Gärtner (2007), wo ebenfalls kein Kontext angegeben wird, sondern nur der Verweis, dass es der afrobrasilianischen Cordel-Literatur entnommen ist. Dies wirft die zusätzliche Frage auf, was hier eigentlich wiedergegeben wird: Kann man bei dem Beispiel von «brasilianischem Portugiesisch» sprechen oder wird nur unvollständiger Spracherwerb bzw. starker Sprachkontakt imitiert? Zusammenfassend kann man sagen, dass keines der von Barme präsentierten Beispiele ein determiniererloses, zählbares und konkretes Nomen enthält, welches als Argument des Verbs fungiert, dessen Gebrauch nicht über andere Muster der Artikelverwendung (Anrede, Verwandtschaftsbezeichnungen, etc.) erklärt werden kann, und das klar referentiell verwendet wird. Dies sind jedoch die Mindestvoraussetzungen, um den «unmittelbar-situativen» Gebrauch im Sinne von Kabatek (2002) zu belegen. Damit soll nicht gesagt werden, dass ich
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Barmes Behauptung, dass das Phänomen bereits im 19. Jahrhundert auftrat, für völlig unplausibel halte. Die Art und Weise, wie sich das Phänomen in Macunaíma präsentiert, lässt vermuten, dass die Innovation bereits einige Zeit früher erfolgte und deshalb wohl schon im 19. Jahrhundert auftrat. Bevor man es jedoch behauptet, muss man es belegen können, was für ein eher mündliches und dazu noch äußerst seltenes Phänomen aus der Zeit natürlich mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist. Es bleibt nur die Suche nach Glückstreffern wie denen in Macunaíma. Soweit ich sehen kann, sind damit die in Macunaíma vorgefundenen Belege die ältesten sicheren Nachweise des Phänomens, und ihre Aussagekraft speist sich primär aus der akribischen philologischen Aufarbeitung dieses Werks und der Dokumentation seines Entstehungskontexts. Abschließend möchte ich in diesem Zusammenhang noch kurz auf die eingangs zitierten Aussagen von Woll (1982) eingehen. Es steht außer Frage, dass M. de Andrade die «Sprechsprache» «mutwillig» gegen die «traditionelle Literatursprache» «ausspielt». Was die Nominalphrase angeht, kann jedoch nach Wolls eigenen Ergebnissen und den hier mit dem aktuellen Sprachgebrauch verglichenen vorgelegten Belegen des unmittelbar-situativen Gebrauchs nicht von einer «karikiert überzeichneten» Mündlichkeit die Rede sein. Dieses pauschale Urteil muss also ebenfalls revidiert, und falls es sich im konkreten Einzelfall empirisch erhärten lässt, präzisiert werden. Es wäre aus meiner Sicht allerdings nicht sehr verwunderlich, wenn sich herausstellte, dass das «karikiert Überzeichnete» in den meisten Fällen eher auf die Wirkung der unüblicherweise medial schriftlich realisierten Mündlichkeit zurückzuführen ist. Dies würde sich auch eher mit der sprachpolitischen Agenda des Autors decken: Obwohl der Autor nicht mit Witzen spart, geht es ihm, wie eingangs erwähnt, nicht darum, sich über den «brasilianischen» Sprachgebrauch lustig zu machen, ganz im Gegenteil. M. de Andrade verfolgt hier eine durchaus eigenwillige, aber sehr ernst gemeinte sprachpolitische Agenda, der es jedoch überhaupt nicht dienlich wäre, wenn er sie selbst unterhöhlen würde, indem er ihren primären Gegenstand lächerlich macht.
4 Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde an einem konkreten Beispiel ein Aspekt des Zusammenspiels von Philologie und Grammatikforschung verdeutlicht. Grammatikforschung braucht eine solide empirische Basis und dies bedeutet für diachrone Fragestellungen eine sorgfältige Aufarbeitung der Quellen. Dies mag zwar unmittelbar einleuchtend oder sogar selbstverständlich sein. Die Diskussion hat
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jedoch gezeigt, dass dies in der Praxis bei Weitem nicht immer gewährleistet ist. Bei prekärer Datenlage kann zudem auch die Trennung zwischen einer soliden Interpretation dieser Daten und reiner Spekulation unscharf werden. Konkret wurde gezeigt, dass sich im Moment die Verwendung von determiniererlosen Singularsubjekten im brasilianischen Portugiesisch sicher bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt und dass die Hypothese der Innovation weiterhin im Raum steht. Dies hat Implikationen für einen Großteil der zeitgenössischen und einflussreichen Theorien zur Syntax und Semantik der brasilianischen Nominalphrase, in denen im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass hier der definite Artikel obligatorisch ist. Schließlich wurde dafür plädiert, den Wert von sprachlich vermeintlich «experimentellen» oder «exotischen» Werken wie Macunaíma für die diachrone Grammatikforschung – falls die philologische Grundlage dies gewährleistet – neu zu bestimmen.
5 Bibliographie Primärtext Andrade, Mário de, Macunaíma: o herói sem nenhum caráter, ed. Lopez, Ancona, Telê Porto, Rio de Janeiro, LTC Editora, 1978. Andrade, Mário de, Macunaima: Der Held ohne jeden Charakter, ed. Meyer-Clason, Curt, Frankfurt, Suhrkamp, 1992.
Sekundärliteratur Barme, Stefan, «Sertanejo não sabe chorar»: Zum Nullartikel bei Nominalphrasen mit Subjektfunktion im Brasilianischen, Zeitschrift für romanische Philologie 127 (2011), 162–171. Callou, Dinah/Silva, Giselle Machline de Oliveira, O uso do artigo definido em contextos específicos, in: Hora, Dermeval da (ed.), Diversidade Linguistica no Brasil, João Pessoa, Idéia, 1997, 11–27. Cyrino, Sonia/Espinal, Maria Teresa, Bare Nominals in Brazilian Portuguese: More on the DP/NP analysis, Natural Language & Linguistic Theory 33 (2015), 471–521. Gärtner, Eberhard, O papel dos falantes afro-brasileiros na formação do diassistema do português brasileiro, in: Schrader-Kniffki, Martina/Morgenthaler García, Laura (edd.), La Romania en interacción: entre historia, contacto y política. Ensayos en homenaje a Klaus Zimmermann, Frankfurt, Vervuert, 2007, 365–389. Hemforth, Barbara/Mertins, Barbara/Fabricius-Hansen, Cathrine (edd.), Psycholinguistic Approaches to Meaning and Understanding across Languages, Cham, Springer, 2014. Kabatek, Johannes, Gibt es einen Grammatikalisierungszyklus des Artikels in der Romania?, Romanistisches Jahrbuch 53 (2002), 56–80.
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Michael Zimmermann
Zu französischen Konstruktionen des Typs je … -ons «O grammaire, en formant tes temps Si tu veux réformer les hommes, Tu perdras ta peine et ton temps, JE resterons ce que JE sommes» (Le Vavasseur 1878, 60).
1 Einleitung Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist ein sich typologisch als rar erweisendes (cf. von Heusinger/Kaiser 2011, 97, 106) «mystère philologique» (Genty 1863, LXIII, fn. 1) des Französischen, das sowohl aus philologischer als auch aus grammatischer Perspektive beleuchtet und damit eingehend ergründet werden soll.1 Konkret geht es um verbale Konstruktionstypen der 1. Person in diatopischen französischen Varietäten wie in (1), das weithin bekannte, der Varietät der Ile-deFrance des 17. Jahrhunderts zuzuordnende (Dauzat 1946, 36–39) Beispiele aufführt. (1) a. [...] et je parlons tout droit comme on und ich-NOM.1SG sprechen-PRS.1PL ganz Recht wie man parle cheux nous. spricht bei uns ‘[...] und ich spreche frei heraus, so wie man bei uns spricht’ (Molière, Les femmes savantes, 26).
|| 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des binationalen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Agence Nationale de Recherche finanzierten Forschungsprojekts «Dialectal, acquisitional, and diachronic data and investigations on subject pronouns in Gallo-Romance» (DADDIPRO). Für hilfreiche Kommentare zu einer Vorversion dieses Beitrags danke ich herzlich den Herausgebern dieses Sammelbands sowie Guido Mensching.
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b. [...] j’ estions sur le bord de la mar, ich-NOM.1SG sein-IPFV.1PL auf der Ufer von die Meer moy et le gros Lucas, [...]. ich-OBL.1SG und der große Lukas ‘[...] wir waren am Meer, ich und der große Lukas, [...]’ (Molière, Dom Juan, 148). Die betreffenden Varietäten weisen hierbei gegenüber dem französischen Standard grundlegende grammatische Eigenheiten auf. Anders als im Standard, in dem das verbundene Subjektpronomen je ausschließlich singularische Verwendung erfährt – das entsprechend pluralisch gebrauchte verbundene Subjektpronomen ist nous –, kann je in den betreffenden Varietäten auf eine den Sprechenden mit einschließende pluralische Entität referieren (Konstruktionstyp mit pluralischer Bedeutung (1b), nachstehend mit je … -ons-PL abgekürzt). Zudem kann das verbale Person-Numerus-Suffix -ons, das im Standard durchweg pluralisch verwendet wird, singularisch gebraucht werden (Konstruktionstyp mit singularischer Bedeutung (1a), nachstehend mit je … -ons-SG abgekürzt). Aus Sicht des Standards zeichnen sich die beiden in relevanten Varietäten anzutreffenden Konstruktionstypen somit jeweils durch eine semantisch-morphologische «Numerusinkongruenz» (Dulorens 1646 zitiert in Jouaust 1869, 226; Brunot 1922, 233; von Heusinger/Kaiser 2011, 95s.) zwischen Subjektpronomen und Person-Numerus-Suffix aus: Während diese bei je … -ons-SG durch -ons bedingt ist, liegt sie im Fall von je … -ons-PL in je begründet. Da sich die Datenlage zu je … -ons-PL im Vergleich zu je … -ons-SG sowohl diachronisch als auch modern synchronisch durch hinreichende Belege als ungleich günstiger erweist, widmet sich die weitere Diskussion ersterem Konstruktionstyp, der sich als Resultat der Unterspezifizierung des Subjektpronomens hinsichtlich des Merkmals [NUMERUS] analysieren lässt (cf. auch Boucherie 1865, 108s.; Meyer-Lübke 1894, 99; Meunier 1912, 14). Dabei soll zunächst die Distribution von je … -ons-PL in diachronischer, diatopischer sowie diastratischer Hinsicht eruiert werden (Kapitel 2). Im Anschluss wird die Genese dieses Konstruktionstyps erörtert (Kapitel 3), bevor abschließend der Frage nach den Gründen für dessen weitgehenden Verlust nachgegangen werden soll (Kapitel 4).
Zu französischen Konstruktionen des Typs je . . . -ons | 165
2 Distribution von je … -ons-PL In der Literatur setzt die Diskussion von je … -ons-PL im Allgemeinen mit dem 16. Jahrhundert an, ohne dass jedoch explizit ausgeführt wird, ob dieser Konstruktionstyp auch im betreffenden Jahrhundert entstanden ist. Dennoch wurde vereinzelt angenommen, bei je … -ons-PL handele es sich um eine «Neuerung» (Eckert 1986, 254) des 15. (Talbert 1874, 288; Grevisse/Goosse 2011, 883) bzw. 16. Jahrhunderts (Sainéan 1920, 125). Dieser Annahme scheinen indes Belege altfranzösischer Varietäten wie etwa des Anglonormannischen in (2) zu widersprechen, legen diese doch «une origine fort ancienne» (de Beaucoudrey 1912, 8) nahe (s. auch Pohlisch 1881, 27; Fleury 1886, 61; Albert 1922, 57s.; Remacle 1952, 217). (2)
K’ en dironjo plus ? was davon sagen-FUT.1PL ich-NOM.1SG2 mehr ‘Was sollen wir/soll ich noch mehr davon berichten?’ (Roman de Rou, v. 815).
Auch wenn keiner dieser insgesamt raren Belege eindeutig als relevanter Konstruktionstyp zu bestimmen ist – es könnte sich bei diesen ebenso um je … -ons-SG handeln –,3 ist gleichwohl davon auszugehen, dass je … -ons-PL bereits in der frühesten Epoche des Französischen existierte. Hierfür spricht zum einen die folgende Anmerkung Fleurys (1886, 61) (cf. auch Remacle 1952, 217): «On trouve je au lieu de nous dans nombre d’anciennes chartes de la Hague et des îles anglo-normandes, séparées de la France depuis le XIe siècle». Zum anderen legt dies die weithin angenommene generelle Konservativität häufig als
|| 2 In den Glossierungen wird aus deskriptiven Gründen bei je neben dem Person-Merkmal [1. Person] konsistent das Numerus-Merkmal [Singular] notiert. 3 Die geringe Anzahl eruierter altfranzösischer Belege ist vermutlich dem «caractère extrêmement populaire» (Nyrop 1925, 81) von je . . . -ons-PL bzw. je . . . -ons-SG geschuldet sowie der insbesondere der Epoche des Altfranzösischen gemeinen «paucity of literary texts that systematically represent morphosyntactic variation typical of the vernacular» (King/Martineau/Mougeon 2011, 478). Die folgende Auslassung Palsgraves (1530, f. 100) scheint – zumindest mit Blick auf je . . . -ons-PL – solche Vermutungen zu bestätigen: «[I]n comune ſpeche they vse to ſaye/ Ie allons bien [...] and ſuche lyke [...]/ ſuche kynde of ſpekyng is vsed of none auctor approued».
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patois4 bezeichneter lokaler5 französischer Varietäten nahe (Vérel 1893, 66; de Beaucoudrey 1912, 2; Hausmann 1979b, 443; Chaurand 1995, 170; Lodge 2004, 147; Weinhold 2008, 89). So bemerkt Pohlisch (1881, 27) diesbezüglich: «Wir halten sie [= Konstruktionen des Typs je … -ons-PL, MZ] für einen alten, der populären Sprache [= diaphasisch niedriger markierte nähesprachliche Varietät, MZ] eigentümlichen Zug, wofür auch ihr in den heutigen Patois noch sehr häufiges Vorkommen spricht».
In diatopischer Hinsicht scheint sich der Gebrauch von je … -ons-PL – zumindest seit dem frühen 16. Jahrhundert – auf das gesamte Gebiet der langue d’oïl (mit namentlicher Ausnahme der Pikardie) und damit Nordfrankreich zu erstrecken. Dieser Schluss folgt zum einen aus entsprechenden Kommentaren in Wörterbüchern (Jaubert 1864, XI; de Beaucoudrey 1912, 8; Berthier 1996, 49), grammatikalischen Abhandlungen zum Französischen (Braconnier 1835, 199; Brunot 1922, 233; Nyrop 1925, 81s.; Zink 1997, 54), zu dessen regionalen Varietäten (français régionaux) (Agnel 1855, 48, fn. 1; Boucherie 1865, 105; Fleury 1886, 61; Dauzat 1946, 140) und zu den romanischen Sprachen im Allgemeinen (Fuchs 1844, 1159; Diez 1876, 111, fn. 1; Meyer-Lübke 1894, 99; Körting 1896, 515). Ferner lässt sich dies aus entsprechenden Anmerkungen in zeitgenössischen französischen Grammatiken wie etwa der von Estienne (1582, 211) unmittelbar ableiten (cf. auch Palsgrave 1530, f. 100; Cauchie 1586 sowie für das 21. Jahrhundert Grevisse/ Goosse 2011, 883):
|| 4 Zur Bestimmung des Begriffs patois, der in Frankreich auch in der sprachwissenschaftlichen Literatur vielfach synonym zu lokaler Varietät verwendet wird, cf. Koch/Oesterreicher (2011, 147): «Dieser fü r die Sprachsituation in Frankreich so typische, sich aus einem unhistorischen Sprachverständnis ergebende Begriff vereinigt [...] folgende Bestimmungsstü cke in sich: 1. die betreffende Sprachform wird allein dem Nähebereich zugewiesen; 2. sie weicht von der präskriptiven Norm ab; 3. sie stellt ipso facto eine korrumpierte Sprachform dar». 5 Zur eng begrenzten Lokalität der fraglichen Varietäten cf. Chaurand (1995, 170): «Contrairement à la langue [= französischer Standard] qui se prévaut de son caractère national, des patois très morcelés légués par le XIXe siècle étaient propres à un espace limité qui pouvait n’être qu’un hameau ou un simple quartier».
Zu französischen Konstruktionen des Typs je . . . -ons | 167
«Neque verò debuit ille grammaticus [= Antoine Cauchie (Caucius)] Locharingicum potius quàm Pariſinum, abuſum hunc eſſe dicere,Ie ferons cela [...] pro Nous ferons cela [...]. Quid dico,potius quàm Pariſinum? Imò verò potius quàm & Pariſinum & Auroliēſem & Ambaſiacēſem &Bleſēſem (ſiue Bleſiēſem & Turonenſem,quàm denique παντοδαπϖς Gallicum: ſi quidé ea quæ in aliqua Galliæ ciuitate à plebecula dicuntur , au tab aliquot qui illi συυαμαρτάνει, Gallica eſſe ſunt dicenda».6
Zum anderen belegen diverse Karten des Atlas linguistique de la France (ALF) die umfassende Verbreitung von je … -ons-PL im ausgehenden 19. Jahrhundert (cf. auch Dauzat 1946, 40; Remacle 1952, 217; Hausmann 1979b, 442; Hull 1988, 244; King 2005, 207): «L’emploi de la forme ‹je … -ons› est largement attesté dans les parlers d’oïl du Nord, notamment par l’ALF (27 ‹nous allons›, 91 ‹nous avons› et 506 ‹nous sommes›). Ces trois cartes qui convergent presque point par point, témoignent […] [que] la forme pronominale ‹je› ou ses variantes […] couvrent la plus grande partie du domaine d’oïl […]» (Flikeid/Péronnet 1989, 224).
Das Auftreten in traditionellen Volksliedern wie etwa Le Moine et les trois Filles lässt ebenfalls auf einen weitverbreiteten Gebrauch von je … -ons-PL schließen (cf. auch Krafft 1904, 2; Kaiser/Freitag 2012, 52): (3)
Comme j’ étions chez mon père als ich-NOM.1SG sein-PST.1PL bei mein Vater Trois jeunes filles à marier, drei junge Mädchen zu heiraten Il nous envoyait à l’ herbe [...]. er uns schickte zu die Wiese ‘Als wir, drei junge, zu verheiratende Mädchen, bei meinem Vater waren, schickte er uns auf die Wiese [...]’ (Rolland 1883, 163).
Schließlich weisen zahlreiche Arbeiten sprachwissenschaftlicher Laien – sogenannter «travailleurs» (Dauzat 1908, 198; 1946, 7) – zu deren lokalen Varietäten die weitreichende Verwendung von je … -ons-PL auf dem Gebiet der langue d’oïl im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach. || 6 Chomarat (1999, 456) gibt für diesen Auszug die folgende französische Übersetzung: ‘Mais notre grammairien n’aurait pas dû appeler lorrain plutôt que parisien le mauvais usage que voici Ie ferons cela [...] pour Nous ferons cela [...]. Que dis-je, plutôt que parisien? mais non, plutôt que parisien et orléanais et amboisien et blésois (ou blésois et tourangeau) plutôt enfin que français de toutes les façons, si du moins il faut appeler français tout ce qui est dit dans n’importe quelle cité de France par le petit peuple ou par quelqu’un qui partage avec lui ses fautes’.
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Zumindest für die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts belegen dialektologische Untersuchungen den Gebrauch von je … -ons-PL des Weiteren in einem Teil des frankophonen Belgiens, und zwar «dans la plus grande partie du Luxembourg [= belgische Provinz] et dans quelques communes des arrondissements de Verviers et de Dinant» (Remacle 1952, 217s.). Im Rahmen der im 17. und 18. Jahrhundert erfolgenden Immigration aus Zentral-Westfrankreich findet sich je … -ons-PL ferner im frankophonen Kanada, genauer: in dessen Maritimen Provinzen (Neubraunschweig, Neuschottland und Prinz-Edward-Insel) sowie in Neufundland, und zwar in der regionalen Varietät acadien (Poirier 1928, 56, 59, 64; Flikeid/Péronnet 1989, 223, 240; King 1989, 232; 2005, 207; King/Nadasdi/Butler 2004). Zudem wurde je … -ons-PL bis ins frühe 20. Jahrhundert in der regionalen französischen Varietät cadien, die maßgeblich auf das acadien zurückgeht, im US-amerikanischen Bundestaat Louisiana verwendet (Hull 1988, 246, fn. 2; Rottet 2006, 180). In diastratischer Hinsicht wird vor dem Hintergrund entsprechender Kommentare in französischen Sprachbüchern und Grammatiken des 16. und 17. Jahrhunderts (Palsgrave 1530, f. 100; La Ramée 1572, 164–166; Estienne 1579, 147s.; 1582, 211; Hindret 1687, 210) mit Blick auf (Nord)Frankreich allgemein angenommen, dass je … -ons-PL ursprünglich der Nähesprache der Unterschichten entstammt, im 16. Jahrhundert jedoch Eingang in die Nähesprache der höfischen Gesellschaft und damit der (Pariser) Oberschichten fand (Génin 1846, 221; Agnel 1855, 47, fn. 1; Nyrop 1925, 81; Hausmann 1979a, 260; 1979b, 438). Als einschlägig erweist sich in diesem Zusammenhang der folgende, Estienne (1579, 147s.) entnommene Replikenwechsel. (4) Celtophile :
Mais encore ne puisie aber noch.immer nicht können-PRS.1SG ich-NOM.1SG croire qu’ autres que les ſoiullars de glauben-INF dass andere als die Schmutzfinken von cuiſine ou autre racaille de la cour Küche oder anderer Abschaum von die Hof vſent de ces mots, I’ allion [...]. verwenden von diese Wörter ich-NOM.1SG gehen-IPFV.1PL Philavsone : [...] [ A]u contraire on oit ce langage de la in.der Gegenteil man hört dieser Sprache von die bouche auſi d’ aucuns des plus grands. [...] Mund auch von jemand von.die mehr Große
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Celtophile :
Vous m’ eſtonnez merueilleiſement, de me dire Sie mich erstaunen sehr zu mir sagen que vn ſi vilain langage ſoit ordinaire dass ein so hässlicher Sprache sei normal aux gentils hommes courtiſans. zu.die edlen Männer Höflinge Philavsone : [...] [ I]l y a bien d’ auantage, car pluſieurs es dort hat gut von Vorteil denn mehrere qui parlent ainſi, [...] ſont [...] bien qualifiez. wer sprechen derart sind gut qualifiziert ‘Celtophile : Aber noch immer kann ich nicht glauben, dass andere als Schmutzfinken aus der Küche oder der Abschaum am Königshof Wendungen wie J’allions verwenden [...]. Philavsone: Im Gegenteil, man hört so etwas auch aus dem Mund von einigen der bedeutendsten Personen. [...] Celtophile: Ihr erstaunt mich sehr, wenn Ihr mir sagt, dass solch hässliche Wendungen bei Edelmännern am Königshof alltäglich sind. Philavsone: [...] Es ist noch schlimmer, denn einige, die derart sprechen, [...] sind [...] sehr gebildet’.
Weitere Evidenz für den Eingang von je … -ons-PL in die Nähesprache der (Pariser) Oberschichten liefern entsprechende Belege in privaten Briefen «from the highest in the land» (Lodge 2004, 146). So verfasste etwa Herzog François de Lorraine im Jahr 1548 den folgenden Satz: (5) J’ en attandons la rezolution dedans viij ich-NOM.1SG davon erwarten-PRS.1PL die Beschluss in acht jours dont je ne fauldray vous Tage dessen ich-NOM.1SG nicht versäumen-FUT.1SG Sie advertir de tout [...]. in.Kenntnis.setzen von alles ‘Wir erwarten den Beschluss hiervon in den nächsten acht Tagen, und ich werde es nicht versäumen, Sie von allem in Kenntnis zu setzen [...]’ (Wood 1923, 207). Für die Folgezeit, d.h. vom 17. Jahrhundert an, wird indes allgemein angenommen, dass je … -ons-PL nur mehr wieder ein Charakteristikum der Näheprache der – insbesondere provinziell-ruralen – Unterschichten darstellt (Nyrop 1925, 8;
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Brunot 1947, 335; Hausmann 1979b, 439; 1992, 359; Lodge 1991, 495; 1995, 439s.,463; Chaurand 1995, 178; Le Dû 2000, 668). Dies legen zum einen in zahlreichen literarischen Texten anzutreffende Ridikulisierungen der je … -ons-PL aufweisenden Näheprache von durchweg Unterschichten angehörigen Figuren nahe. Eine eindrückliche Illustration solcher Ridikulisierungen, die exemplarisch «the gulf separating their speech-forms from those of the cultivated élite» (Lodge 1991, 485) widerspiegeln (cf. auch Pohlisch 1881, 5; Rosset 1911, 5; Hull 1988, 244, 246; Coveney 2000, 454), gibt der folgende Replikenwechsel einfacher Soldaten in Vadés (1756, 23s.) Les racoleurs: (6) Sansregret :
J’ avons pourtant été ich-NOM.1SG haben-PRS.1PL dennoch sein-PST.PTCP dedans d’ la compagnie. in von die Kompanie Jolibois : On n’ dit pas : j’ avons. man nicht sagt nicht ich-NOM.1SG haben-PRS.1PL Sansregret : Bon ! On n’ dit pas : j’ gut man nicht sagt nicht ich-NOM.1SG avons ? haben-PRS.1PL Jolibois : Non. nein [...] Sansregret : Hé ben donc ! Comment ? dis- moi [...] Dit- on ? na gut dann wie sag mir sagt man [...] Jolibois : On dit : j’ ons été là man sagt ich-NOM.1SG PRS.1PL sein-PST.PTCP dort & là. und dort Sansregret enchanté : [...]; n’ eſt- y pas vrai qu’ il faut hocherfreut nicht ist es nicht wahr dass es muss dire : j’ avons été sagen ich-NOM.1SG haben-PRS.1PL sein-PST.PTCP dans du monde ? in von.der Welt
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La Ramée :
J’ avons. Tu gn’ es ich-NOM.1SG haben-PRS.1PL du nicht weißt pas non plus ? Toi, avec ton j’ nicht nicht mehr du mit dein ich-NOM.1SG avons. On dit : nous ont haben-PRS.1PL man sagt wir. 1PL haben-PRS.3PL été queuqu’ part. sein-PST.PTCP irgendein Teil ‘Sansregret: Ich sind dennoch in der Kompanie gewesen. Jolibois: Man sagt nicht: Ich sind. Sansregret: Schön! Man sagt nicht: Ich sind? Jolibois: Nein. [...] Sansregret: Also gut! Wie, sag mir, sagt man? [...] Jolibois: Man sagt: Ich’nd da und da gewesen. Sansregret hocherfreut: [...]; ist es nicht so, dass man sagen muss: Ich sind unter Leuten gewesen? La Ramée: Ich sind. Weißt Du das auch nicht? Du, mit deinem ich sind. Man sagt: Wir’nd irgendwo gewesen’. Zum anderen lassen entsprechende stigmatisierende Kommentare in Grammatiken zum Französischen (Cotgrave 1611), grammatikalischen Abhandlungen zum Romanischen (Körting 1896, 515), Sprachbüchern (Hindret 1687, 210; 1696, 781; de Callières 1693, 135s.; de La Touche 1696, 273; Agnel 1855, 47s.) sowie Wörterbüchern (Boucherie 1865, 106, 109; Robin Le Prévost/Passy/Blosseville 1882, 241) darauf schließen, dass – im Unterschied zum «gemeinen Volk» (Boucherie 1865, 105) – zumindest die (Pariser) Oberschichten sich in der Folgezeit nicht länger je … -ons-PL bedienten. So merkt etwa Hindret (1687, 210) diesbezüglich an: «Cette maniere de prononcer , & de parler [...] irreguliere [...] j’avons [...] pour, nous avons [...] qui eſtoit ſi commune au ſiecle paſſé, que les gens de la premiere qualité ne parloient pas autrement […] n’a plus de cours aujourd’huy».
Schließlich weist eine umfangreiche diachronische Korpusstudie nach, dass sich der Gebrauch von je … -ons-PL bereits im 17. Jahrhundert ausschließlich in «lowerclass speech» (King/Martineau/Mougeon 2011, 484) findet, ein Umstand, der als «an early tradition of avoidance of this variant on the part of the higher classes» gewertet wird. In der kanadischen Varietät acadien stellte und stellt sich die Situation gänzlich anders dar. Hier ist der Gebrauch von je … -ons-PL – analog zur Verwendung
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zahlreicher weiterer Archaismen und Dialektalismen – diastratisch unmarkiert und damit in allen sozialen Schichten anzutreffen.7
3 Genese von je … -ons-PL In der Literatur finden sich diverse Ansätze, die die Herausbildung von je … -onsPL zu erklären suchen. Als Ausgangspunkt ist nahezu allen gemein, dass dieser Konstruktionstyp das Resultat einer zu einem bestimmten Zeitpunkt aus spezifischen Gründen erfolgenden «Substitution» (Moisy 1887, 372; Butler 1962, 41; Hausmann 1979b, 438) des Subjektpronomens der 1. Person Plural des Standards, nous, durch das der 1. Person Singular, je, darstellt. Braconnier (1835, 199–201), Chesneau (1976, 711s.) sowie Deguillaume (1998, XXX) zufolge hat sich je … -ons-PL als sprachliches Abbild der sozialen Natur des insbesondere der ungebildeten, verarmten Unterschichten angehörigen, sich mit seinem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld identifizierenden Menschen herausgebildet (cf. auch Schuchardt 1886, 272; Vérel 1893, 84; Poirier 1928, 56; Flikeid/Péronnet 1989, 237): «[C]es expressions [...] offrent [...] l’union intime, indissoluble de la société et de l’individu [...] qui agit au nom de toute la société [...]. [L]’homme du peuple [...] [q]uand il agit, il croit toujours prendre part à une action générale [...]» (Braconnier 1835, 200).
Le Vavasseur (1878, 60s.) und Poirier (1928, 56) hingegen nehmen an, dass der Ursprung von je … -ons-PL in der vorgeblich egoistischen Natur des vornehmlich provinziell-ruralen Menschen begründet liegt (cf. auch Boucherie 1865, 106s., fn. 1): «J’avons est psychologique. Le paysan [= prototypischer Sprecher einer lokalen französischen Varietät] prodigue le moi […]. Moi, d’abord, […] jamais nous» (Poirier 1928, 56). Boucherie (1865, 108–110), Meyer-Lübke (1894, 99) und Meunier (1912, 46) schließlich argumentieren rein grammatikimmanent (cf. auch Nisard 1872, 219; Brunot 1922, 233; Hull 1988, 244; Posner 1997, 305). In den je … -ons-PL aufweisenden Varietäten sei das Flexionssuffix -ons des finiten Verbs lediglich für das Merkmal [NUMERUS] spezifiziert; um eine Redundanz hinsichtlich der Markierung dieses Merkmals zu vermeiden bzw. gar nicht erst aufkommen zu lassen,
|| 7 Für die relevanten lokalen Varietäten Belgiens liegen keine diastratischen Erkenntnisse vor, so dass an dieser Stelle auf eine entsprechende Diskussion verzichtet werden muss.
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erfolge die exklusive Verwendung des entsprechend ausschließlich für das Merkmal [PERSON] spezifizierten je: «Dans je disions, je annonce la première personne, la terminaison ions indique le pluriel. [...] [L]’on a cet avantage de n’avoir pas recours à un nouveau mot pour marquer la première personne du pluriel» (Boucherie 1865, 108s.). Insgesamt betrachtet, erscheint die Annahme einer Unterspezifizierung bestimmter morphologischer Merkmale, wie sie im Rahmen des rein grammatikimmanent ausgerichteten Ansatzes vertreten wird, am überzeugendsten. So erlaubt ein solcher Ansatz zum einen, Abstand zu nehmen von philosophisch-psychologisch orientierten Ansätzen, deren Plausibilität durch die typologische Rarität des zu ergründenden Phänomens unmittelbar unterminiert wird. Zum anderen ermöglicht ein rein grammatikimmanent ausgerichteter Ansatz, ein ähnlich geartetes Phänomen in modern synchronischen sowie diachronischen Varietäten des Französischen in die Erklärung miteinzubeziehen. Neben je … -ons-PL zeichnen sich die betreffenden modern synchronischen lokalen Varietäten gegenüber dem gesprochenen Standard dadurch aus, dass auch in der 3. Person die Markierung des Numerus durch die Absenz bzw. Präsenz des Flexionssuffixes /õ/ erfolgt, während die Markierung der Person dem entsprechenden verbundenen Subjektpronomen – /i(l)/ für Maskulinum und /a(l)/ für Femininum – obliegt: «[L]es pronoms je et il [/ al] sont destinés à marquer la personne sans acception de nombre» (Boucherie 1865, 109).8 Damit ist in diesen Varietäten die Anzahl von Kombinationen von verbundenem Subjektpronomen und Person-Numerus-Suffix reduziert (cf. Tabelle (1)), wobei /õ/ als unmarkierter verbaler Pluralmarker zu werten ist.
|| 8 Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass in diversen Kontexten – und zwar in Fällen unmittelbar nachfolgender, konsonantisch anlautender weiterer verbundener Elemente sowie finiter Verben – auch im gesprochenen Standard die verbundenen maskulinen und femininen Subjektpronomina der 3. Person ausschließlich die Person markieren, z.B. [ilpaʁl]: , (Meunier 1912, 57; Poirier 1928, 58). Uneingeschränkt gilt dies neben dem gesprochenen auch im geschriebenen Standard für das verbundene Reflexivpronomen der 3. Person, se, z.B. [ilsəpaʁl] bzw. / (Boucherie 1865, 107).
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Tab. 1: Kombinationen von Subjektpronomen und Person-Numerus-Suffix (infinitivisch auf /e/ auslautender Verben im Indikativ Präsens) in lokalen Varietäten der Region Nivernais (Meunier 1912)
Subjektpronomen
Person-Numerus-Suffix
/ʒ/
–
/t(y)/
–
/i(l)/ /a(l)/ /i(l)/
–
1P.PL
/ʒ/
/õ/
2P.PL
/vu/
/e/
/i(l)/ /a(l)/
/õ/
1P.SG 2P.SG MASK
3P.SG
FEM EXPL
3P.PL
MASK FEM
In diachronischer Hinsicht – genauer: bis in das Mittelfranzösische hinein – erweist sich schließlich die Beobachtung als bedeutsam, dass im Falle der 3. Person Maskulinum das verbundene Subjektpronomen für Singular und Plural nur eine Form kannte, und zwar i(l) bzw. /i(l)/ (Boucherie 1865, 109; Poirier 1928, 58, fn. 2; Foulet 1935, 444s.; Remacle 1952, 218; Dufresne/Dupuis 2007). Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass ungeachtet dieses Umstands insbesondere im Altfranzösischen die Verwendung des betreffenden Subjektpronomens häufig erfolgte, und zwar sowohl singularisch als auch pluralisch (Zimmermann 2014, 86). Angesichts der Existenz diverser sprachinhärenter Strategien zur Vermeidung von Redundanzen hinsichtlich der Markierung des Merkmals [NUMERUS] insbesondere in je … -ons-PL aufweisenden modern synchronischen lokalen Varietäten erlaubt ein rein grammatikimmanent ausgerichteter Ansatz schließlich die Einordnung dieses Konstruktionstyps als unmittelbares Produkt der Sprachökonomie: «Il y a [...] économie d’un mot, d’un pronom atone, le même, ego, servant à la fois pour le singulier et le pluriel, et cela non au détriment de la clarté» (Meunier 1912, 21).
4 Verlust von je … -ons-PL Hinsichtlich des für das 20. Jahrhundert allgemein konstatierten weitgehenden Verlusts von je … -ons-PL im nordfranzösischen Verbreitungsgebiet (Thelen 1999,
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119; von Heusinger/Kaiser 2011, 107s.; Kaiser/Freitag 2012, 52) sind in der Literatur diverse Ansätze vorgebracht worden. So schlägt Hausmann (1979b, 443), ausschließlich auf die Varietät der Ile-deFrance bezugnehmend, vor, je … -ons-PL sei im 19. Jahrhundert infolge zunehmender Stigmatisierung vom «ökonomischen» – zunächst in der diaphasisch niedriger markierten nähesprachlichen Varietät français populaire und in der Folge dann in der diasystematisch unmarkierten nähesprachlichen Varietät français parlé verwendeten – Konstruktionstyp on + finites Verb in der 3. Person Singular abgelöst worden (cf. auch Hull 1988, 244; Coveney 2000, 454). King/Martineau/Mougeon (2011, 486), deren Ansatz sich ebenfalls auf die Varietät der Ile-de-France beschränkt, verweisen im Zusammenhang mit dem Verlust von je … -ons-PL im nordfranzösischen Verbreitungsgebiet auf extragrammatische Faktoren: «immigration from different regions to urban settings […] [,] an increase in social mobility and a rise in compulsory education». Diese Faktoren bedingten eine Ablösung von je … -ons-PL durch den dem französischen Standard eigenen Konstruktionstyp nous … -ons, der schließlich durch den dem français populaire bzw. parlé zugehörigen Typ on + finites Verb in der 3. Person Singular abgelöst worden sei. Von Heusinger/Kaiser (2011, 108) schließlich argumentieren grammatikimmanent. Sie rekurrieren hierbei zum einen auf die diachronisch erfolgende phonetische Erosion und analogische Reorganisation der Person-Numerus-Markierung des finiten Verbs, die im français populaire bzw. parlé in den meisten Tempora ursächlich sind für die Homophonie von fünf der sechs fraglichen Markierungen. Zum anderen knüpfen sie an die im Hinblick auf diese nähesprachlichen Register häufig angestellte These an, bei den verbundenen Subjektpronomina handele es sich um Person-Numerus-Präfixe. Konkret nehmen sie an, «the mismatch construction […] is no longer interpretable as a first person plural construction and would evoke a misunderstanding». Wie die folgende Diskussion zeigt, scheint keiner der dargelegten Ansätze gänzlich geeignet für eine umfassende Erklärung des Verlusts von je … -ons-PL im nordfranzösischen Verbreitungsgebiet. Neben der Beschränkung auf die Varietät der Ile-de-France, die eine Übertragung auf weitere lokale Varietäten nicht unmittelbar erlaubt, erweisen sich die Ansätze von Hausmann und King/ Martineau/Mougeon insbesondere angesichts metasprachlicher Kommentare aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts als problematisch, denen zufolge der Gebrauch von je … -ons-PL in der Varietät der Ile-de-France weiterhin die Regel darstellte (Agnel 1855, 47; Nisard 1876, 8). Der Ansatz von von Heusinger/Kaiser indes erscheint zum einen aufgrund der generellen Konservativität lokaler Varietäten im Allgemeinen und der je … -ons-PL auszeichnenden «resistance to
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morphophonological erosion» im Besonderen (King/Martineau/Mougeon 2011, 496), wie sie sich in der Kontinuität dieses Konstruktionstyps in der kanadischen Varietät acadien unmittelbar widerspiegelt (cf. Kapitel 2), zweifelhaft. Zum anderen widersprechen einem solchen Ansatz die fortwährende redundante PersonNumerus-Markierung des finiten Verbs in der 2. Person Plural in sämtlichen modern synchronischen nähesprachlichen Varietäten des Französischen sowie die nicht konsistent erfolgende Numerusdifferenzierung im Falle der verbundenen Subjektpronomina der 3. Person in entsprechenden nähesprachlichen Varietäten (cf. Fußnote 8). Damit stellt sich weiterhin grundsätzlich die Frage nach den Ursachen für den im 20. Jahrhundert erfolgenden weitgehenden Verlust von je … -ons-PL im nordfranzösischen Verbreitungsgebiet. Als grundlegend für die Adäquatheit eines entsprechenden Ansatzes erscheint hierbei die Berücksichtigung des ebenfalls allgemein konstatierten, sich simultan vollziehenden weit fortgeschrittenen Verlusts aller – und damit auch je … -ons-PL aufweisender – lokaler französischer Varietäten im 20. Jahrhundert.9 || 9 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Zahl der verbliebenen Sprecher der betreffenden Varietäten je nach Region stark variiert. So zeichnen sich insbesondere die zu den folgenden regionalen zählenden lokalen Varietäten durch eine – relativ betrachtet – größere Anzahl von Sprechern aus (jeweils mehrere tausend): gallo, normand, lorrain, champenois, poitevin, saintongeais, franc-comtois, morvandiau (Simoni-Aurembou 2003, 152–163; Abalain 2007, 155, 161–172; Kremnitz 2015, 80). Hinsichtlich dieser Varietäten ist in den letzten Jahrzehnten aus Sorge um deren vollständigen Verlust und/oder nostalgischem Interesse ein verstärktes Engagement für deren Erhalt zu beobachten, das vornehmlich durch Vereine und Organisationen, aber auch universitätsseitig erfolgt und unterschiedlich stark ausgeprägt ist (Simoni-Aurembou 2003, 152–163; Abalain 2007, 161–172; Kremnitz 2015, 82s.). Dieses Engagement manifestiert sich zumeist in Form unterschiedlichster Publikationen, kulturellen Veranstaltungen diverser Art, lokalen und regionalen Rundfunksendungen privater und/oder öffentlich-rechtlicher Sender sowie lokalem, aber zuweilen auch regionalem freiwilligen schulischem, vereinzelt auch universitärem Sprachunterricht. Angesichts ihrer insgesamt jeweils relativ geringen Zahl spielen die noch existierenden Sprechergruppen sprachenpolitisch jedoch keine bedeutende Rolle. Eine Sonderstellung erfährt in diesem Zusammenhang lediglich das gallo, das seit den späten 1970er Jahren von der Region Bretagne aktiv unterstützt wird. Es ist somit mit Ausnahme dieser Varietät in absehbarer Zukunft nicht mit einer entgegenkommenden Sprachpolitik zu rechnen (Abalain 2007, 172s.). Ungeachtet des zu beobachtenden Engagements sowie der sich im aktuellen Kontext als prinzipiell zuträglich erweisenden Existenz moderner Kommunikationsformen (Erfurt 2008, 29) stellt sich für die betreffenden Varietäten jedoch nach wie vor die Frage nach deren weiterem Fortbestehen, das insgesamt wohl als stark gefährdet anzusehen ist (SimoniAurembou 2003, 145; Kremnitz 2015, 82s.). Als ein zu den im weiteren Textverlauf angeführten, den vollständigen Verlust bedingenden Faktoren weiterer Grund dürfte sich insbesondere der folgende Umstand erweisen (cf. auch Chaurand 1995, 186s.): «[O]n se tourne vers la préservation des langues pour elles-mêmes. L’intérêt ne vient pas de leurs locuteurs, qui se contentent de les parler par rémanence, sans y penser, même s’ils ne les transmettent pas à leurs enfants. Ce sont
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Es wird daher vorgeschlagen, den Verlust von je … -ons-PL als Komponente dieses weiter ausgreifenden Verlusts anzusehen. Die Ursachen für ersteren wären einem solchen Ansatz zufolge somit identisch mit denen für letzteren.10 Hausmann (1979b) und King/Martineau/Mougeon (2011) in Teilen folgend, wird hier somit die These vertreten, dass intensiver Kontakt mit dem französischen Standard sowie dem français populaire bzw. parlé und mit solchem Kontakt einhergehender, ausgeprägter normativer Einfluss ursächlich sind für den im 20. Jahrhundert weitgehend erfolgenden Verlust von je … -ons-PL im nordfranzösischen Verbreitungsgebiet. Als maßgebliche Ursache erweist sich hierbei der vornehmlich dem politischökonomisch-administrativen «Ausstrahlen» (Dauzat 1946, 6; Weinhold 2008, 89) der Ile-de-France-Region geschuldete Kontakt mit dem Standard sowie dem français populaire bzw. parlé und damit der Verlust der sprachlichen Isoliertheit der sich in einem vorwiegend provinziell-ruralen Milieu situierenden Sprecher lokaler Varietäten (Génin 1845, 289; Dauzat 1908, 191, 195; 1946, 46s., 56, 138). Das «Eindringen» (Dauzat 1946, 48; Berschin/Felixberger/Goebl 2008, 294) der betreffenden Varietäten, das nicht zuletzt einer «rigorosen sprachlichen Assimilationspolitik» (Lodge 1998, 123) (cf. auch Dauzat 1946, 37; Weinhold 2008, 84) zuzuschreiben ist und mit der Herausbildung einer diglossischen Situation (Le Dû 2000, 670, 684; Simoni-Aurembou 2003, 139, 145; Erfurt 2008, 19, 24) einhergeht, manifestiert sich neben konkreten Begegnungen mit entsprechenden Sprechern insbesondere in Form folgender Faktoren: – große Popularität der chansons (Le Dû 2000, 670); – konsequente Einrichtung institutionellen Schul- und, damit unmittelbar einhergehend, strikt normativ ausgerichteten Unterrichts des französischen Standards im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Rahmen der 1881/1882
|| des intellectuels, en général issus des couches moyennes et dont le français est la langue maternelle, qui militent en leur faveur» (Le Dû 2000, 677). 10 Aus Platzgründen muss auf eine gesonderte Diskussion der für die weitgehende Kontinuität von je . . . -ons-PL in der kanadischen Varietät acadien ursächlichen Bedingungen verzichtet und stattdessen auf relevante Literatur verwiesen werden: Flikeid/Péronnet 1989; King 1989; 2005; King/Nadasdi/Butler 2004; King/Martineau/Mougeon 2011. Es sei in diesem Zusammenhang lediglich erwähnt, dass diese Bedingungen maßgeblich auf der sprachlichen Isoliertheit dieser Varietät infolge des zur Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Entzugs des sprachlichen Einflusses durch das französische Mutterland beruhen (Hausmann 1979b, 442; Bollée 1990, 750). In Ermangelung von aktuelleren Kenntnissen hinsichtlich der Frage nach der Kontinuität von je . . . -ons-PL sowie die diesen Konstruktionstyp aufweisenden Varietäten Südbelgiens muss eine entsprechende Diskussion hier ebenfalls unterbleiben.
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etablierten siebenjährigen Schulpflicht, die 1959 bis zum sechzehnten Lebensjahr ausgedehnt wurde (de Beaucoudrey 1912, 2; Chaurand 1995, 182; Petitjean 1995, 637s.; Lodge 1998, 122; Coveney 2000, 452, 462; Le Dû 2000, 667s., 673; Erfurt 2008, 15, 20s.; Koch/Oesterreicher 2011, 150; Kremnitz 2015, 16s.); mit der Schulpflicht einhergehende Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile (Erfurt 2008, 23; Koch/Oesterreicher 2011, 150); Gründung von Bibliotheken zur Förderung der Lektüre im Standard verfasster Bücher (Marmier 1901, 14); im Standard verfasste Presseerzeugnisse (de Beaucoudrey 1912, 2); die sich herausbildenden, sich ausschließlich zunächst des Standards und in der Folge auch des français populaire bzw. parlé bedienenden Medien Film und Rundfunk (beide 1930er Jahre), Fernsehen (1950er Jahre) sowie Internet (1990er Jahre) (Chaurand 1995, 182; Le Dû 2000, 671; Erfurt 2008, 15, 20s.; Koch/Oesterreicher 2011, 151; Kremnitz 2015, 82); infrastrukturelle Erschließung und damit einhergehende sozio-ökonomische Anbindung des provinziell-ruralen Frankreichs (de Beaucoudrey 1912, 5; Le Dû 2000, 671s.); der 1958 erfolgende Beschluss zur Etablierung zumeist Internate beinhaltender collèges d’enseignement général (Le Dû 2000, 673); Herausbildung einer industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, die einhergeht mit «une plus grande homogénéité dans la langue» (Lodge 1998, 117) (cf. auch Chaurand 1995, 182; Erfurt 2008, 22; Koch/Oesterreicher 2011, 151); durch Landflucht in beträchtlichem Maße fortschreitende Urbanisierung speziell der Ile-de-France-Region (de Beaucoudrey 1912, 2; Berthier 1996, 9; Deguillaume 1998, XVI; Le Dû 2000, 671; Erfurt 2008, 15, 22; Koch/ Oesterreicher 2011, 151); zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführte allgemeine Wehrpflicht (de Beaucoudrey 1912, 2; Chaurand 1995, 182; Koch/Oesterreicher 2011, 151); sich dem 2. Weltkrieg anschließende «changements sociaux rapides» (Lodge 1998, 122; cf. auch Erfurt 2008, 26); in den 1980er Jahren beginnender massiver Ausbau der Dienstleistungsbranche (Le Dû 2000, 671; Erfurt 2008, 15, 22).
Als weiterer Faktor, der in seiner Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist schließlich die im 16. Jahrhundert einsetzende zunehmende Geringschätzung lokaler nordfranzösischer Varietäten anzusehen. Diese Geringschätzung, die maßgeblich dem Umstand geschuldet ist, dass es sich bei den betreffenden Varietäten um mit der sich herausbildenden Norm bzw. dem Standard
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genetisch nahestehende Idiome handelt, mündete zunehmend in eine offene Abneigung um Sprachnormierung bemühter Kräfte und, in deren Folge, einer wachsenden Zahl des Standards anhängiger Sprecher. Insbesondere die offensiv vertretene und weitverbreitete Ansicht, bei lokalen nordfranzösischen Varietäten handele es sich um « français corrompu» (Dauzat 1908, 200; cf. auch Fußnote 4 sowie de Beaucoudrey 1912, 5; Chaurand 1995, 171–174, 179; Le Dû 2000, 669; Simoni-Aurembou 2003, 138; Abalain 2007, 154; Berschin/ Felixberger/Goebl 2008, 246s., 296), scheint ursächlich zu sein für das sich bei den Sprechern dieser Varietäten herausbildende Bewusstsein nicht nur für die Nicht-Normkonformität ihrer jeweiligen Varietäten, sondern, grundlegender, für deren Minderwertigkeit: «Loin d’être attaché à son patois, le paysan [= prototypischer Sprecher einer lokalen französischen Varietät] le considère comme une langue inférieure dont il a plus ou moins honte : ce sentiment est surtout vif chez les jeunes gens» (Dauzat 1946, 30).
In diesem Zusammenhang steht, gerade auch vor dem Hintergrund der bereits für den weit fortgeschrittenen Verlust lokaler nordfranzösischer Varietäten angeführten Faktoren, zu vermuten, dass die extreme «sprachliche Verunsicherung» (King 1989, 231) von Sprechern dieser Varietäten, die diese zunehmend nur mehr im Umgang mit Vertrauten in traditionellen Gesprächsdomänen gebrauchen (Chaurand 1995, 175s., 178; Le Dû 2000, 670, 673, 684; Berschin/ Felixberger/Goebl 2008, 257; Weinhold 2008, 83), letztlich zum Heranwachsen einer bilingualen Sprechergeneration (Charaund 1995, 176, 179; Berschin/ Felixberger/Goebl 2008, 248; Weinhold 2008, 88; Kremnitz 2015, 33) und damit zu einer für die Kontinuität der Varietäten kritischen Situation führt: «[C]’est la période critique, car il y a toute chance pour que la génération suivante préfère le français au patois, et n’emploie plus celui-ci qu’en conversant avec les vieillards. Le patois touche alors à sa fin» (Dauzat 1946, 31).
Angesichts des Umstands, dass der Verlust lokaler nordfranzösischer Varietäten im 20. Jahrhundert weit fortgeschritten ist, muss von einer solchen sprecherseitigen Präferenz und, damit einhergehend, von einem weitgehenden Ausbleiben der Weitergabe dieser Varietäten an nachfolgende Generationen ausgegangen werden (cf. auch de Beaucoudrey 1912, 2; Dauzat 1946, 56; Chaurand 1995, 176– 180; Deguillaume 1998, XVII; Le Dû 2000, 666, 673, 677; Simoni-Aurembou 2003, 138): «Dans les patois de langue d’oïl plus ou moins voisins du français, le bilinguisme ne dure pas» (Dauzat 1946, 56). Es sei in diesem Zusammenhang abschließend angemerkt, dass dieses Ausbleiben zu einem nicht unerheblichen Teil in der elterlichen Sorge um den schulischen Erfolg und – damit verbunden – um
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die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ihrer Kinder infolge ungenügender Beherrschung des Standards begründet liegt (Le Dû 2000, 667, 682; Abalain 2007, 169; Erfurt 2008, 31). Je … -ons-PL betreffend kommt es im Rahmen des Verlusts relevanter lokaler nordfranzösischer Varietäten in ursprünglich diesen anhängigen Sprechergemeinschaften zu einer Ablösung ohne «Informationsverlust» (Flikeid/Péronnet 1989, 237) durch die bzw. einen der beiden Konstruktionstypen nous … -ons und on + finites Verb in der 3. Person Singular (cf. auch Chaurand 1995, 185; Kaiser/Freitag 2012, 53). Diese Ablösung scheint neben den allgemein den Verlust lokaler französischer Varietäten bedingenden Faktoren insbesondere durch die seit dem 16. Jahrhundert hinreichend belegte (Vérel 1893, 83s., fn. 1; Brunot 1947, 335s.; Hausmann 1979b, 439s., fn. 26; Lodge 2004, 135) Stigmatisierung des gemeinhin als «Konfusion» (Pohlisch 1881, 26; Krafft 1904, 3; Brunot 1922, 233; Dauzat 1946, 40, 140) erachteten Konstruktionstyps bedingt.11 Angesichts des sich intensivierenden Sprecher- und Sprachkontakts ist in diesem Zusammenhang bei den Sprechern betreffender lokaler nordfranzösischer Varietäten von der spezifischen Herausbildung eines die Ablösung von je … -ons-PL beschleunigenden Bewusstseins für die Nicht-Normkonformität dieses Konstruktionstyps auszugehen. Eindrücklich illustriert dies die folgende, sich in Annie Ernaux’ La honte (1997, 54s.) findende Anekdote (von Heusinger/Kaiser 2011, 107; Kaiser/Freitag 2012, 53):
|| 11 Es steht zu vermuten, dass besagte Stigmatisierung direkt verantwortlich zeichnet für den im 17. Jahrhundert erfolgenden Wechsel der diastratischen Markierung von je . . . -ons-PL und damit für einen in der – insbesondere gesprochenen – Sprache der (Pariser) Oberschichten stattfindenden Normwechsel (cf. auch Hausmann 1979b, 433; Hull 1988, 244).
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(7)
Mon père dit souvent « j’ avions » ou mein Vater sagt oft ich-NOM.1SG haben-IPFV.1PL oder «j’ étions », lorsque je le reprends, il ich-NOM.1SG sein-IPFV.1PL wenn ich ihn verbessere er prononce « nous avions » avec affection, en ausspricht wir-1PL haben-IPFV.1PL mit Zuneigung in détachant les syllabes, ajoutant sur un voneinander.absetzend die Silben hinzufügend auf ein ton habituel « si tu veux », signifiant par cette Ton gewohnt wenn du willst bedeutend durch diese concession le peu d’ importance qu’ a le beau Zugeständnis der wenig von Bedeutung was hat der schöne parler pour lui. Sprechweise für ihn ‘Mein Vater sagt oft ‹ich hatten› oder ‹ich waren›, und wenn ich ihn verbessere, sagt er mit Zuneigung, die Silben voneinander absetzend, ‹wir hatten›, wobei er mit dem gewohnten Unterton ‹wenn du es so möchtest› insinuiert, um durch ein solches Zugeständnis die geringe Bedeutung, die die schöne Sprechweise für ihn hat, zu verstehen zu geben’.
Anders als das dem Aufsatz vorangestellte Zitat suggeriert, hat die Grammatikographie nach einer jahrhundertelang erbittert geführten Kampagne damit letztlich den Sieg über je … -ons-PL davongetragen.
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Malte Rosemeyer
Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen 1 Einleitung Die Etablierung einer Chronologie ist ein grundlegender Arbeitsschritt für diachrone Analysen von Sprachwandelprozessen, und es ist ein Arbeitsschritt, der eine quantitative Methodologie voraussetzt. Der Grund hierfür liegt in dem Verhältnis zwischen funktionaler Innovation und Diffusion: Die innovative Verwendung von Sprachmaterial ist zunächst ein kognitiver Prozess, der notwendigerweise in einer einzelnen SprecherIn stattfindet. Erst dann werden diese Innovationen in der größeren Sprachgemeinschaft verallgemeinert (cf. Croft 2000, 25–36). In historischen Texten entsprechen solche Diffusionsprozesse vielmals Prozessen der sukzessiven Verschriftlichung von Sprachen (cf. Oesterreicher 1998, 13–21): Wenn eine ursprünglich mündliche Diskurstradition verschriftlicht wird, ist davon auszugehen, dass Innovationen aus dem Sprachgebrauch in die neuen Texte gelangen. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Einzelbeispiele keine ausreichende Evidenz für die Existenz von Sprachwandelprozessen darstellen. So wird das folgende Beispiel (1) häufig als Beleg der Grammatikalisierung von lat. habere + PtcP zur heutigen temporalen Funktion angeführt: (1)
ecce episcopum cum duce et civibus invita-tum sieh Bischof mit Anführer und Bürger einladen-PTCP hab-es haben-2SG ‘Sieh an, Du hast den Bischof mit dem Anführer und den Bürgern als Eingeladenen’ (Gregor v. Tours, De vita patrum, 3.1).
Auch wenn (1) zweifelsfrei belegt, dass die SprecherInnen des Vulgärlateins die Möglichkeit hatten, habere + PtcP innovativ zu verwenden, kann es doch noch kein Beleg für die Produktivität der Konstruktion im Vulgärlatein sein. Vielmehr kann erst eine quantitative Herangehensweise zweifelsfreie Evidenz für den genannten Wandelprozess liefern. Obwohl die Verwendung von quantitativer Methodologie die Datierung von Wandelprozessen ermöglicht, bringt sie doch viele eigene Probleme mit sich.
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Dies liegt daran, dass die historische Sprachwissenschaft in der Datierung von Sprachwandelprozessen stark von philologischen Studien abhängig ist. So haben philologische Aspekte wie die Verlässlichkeit der Datierung oder die historische Pragmatik von Quelltexten einen gewichtigen Einfluss auf die Chronologie von Wandelphänomenen, die sich aus der quantitativen Analyse dieser Texte ergibt. Aus diesem Grund beschränken sich diachrone Studien häufig auf die relative Datierung der Chronologie dieser Wandelphänomene: ein Wandelphänomen wird nicht wie bei der absoluten Datierung in Bezug auf eine zeitliche Einheit (insbes. Jahre) datiert, sondern in Bezug auf andere bereits stattgefundene Sprachwandelprozesse. So kann z.B. der Wandel im Vokalismus im Schwedischen in Wörtern wie gäst ‘Gast’ als Abfolge zweier Wandelphänomene beschrieben werden, die logisch voneinander abhängig sind: erstens den durch das /i/ in der letzten Silbe bedingten Wandel von /a/ > /e/ (protogermanisch gastiz > gestir) und zweitens den Verlust von /i/ in der letzten Silbe (gestir > altnorwegisch gestr > schwedisch gäst) (Campbell 1999, 43). Wenn der Verlust des /i/ vor der Umlautbildung stattgefunden hätte, würden wir die nichtexistente Form *gastr als Resultat des Wandels erwarten. Laut Campbell gilt diese relative Chronologie somit als gesichert. Allerdings ist eine relative Datierung von Sprachwandelphänomenen für empirische Fragestellungen nicht geeignet, die die Geschwindigkeit von Wandelprozessen betreffen. So ist beispielsweise die Geschwindigkeit von Wandelprozessen von großer Relevanz für die Diskussion über die Abruptheit oder Gradualität von Sprachwandel. Nativistisch orientierte Ansätze zum Sprachwandel wie beispielsweise Lightfoot (1979) nehmen an, dass ein Wandel in der Parametrisierung der Grammatik einer Sprache erst durch den Erstsprachenerwerb der Folgegeneration den Weg in die Kompetenz der SprecherInnen findet. Hingegen schlagen viele funktionale Ansätze zum Sprachwandel wie beispielsweise Croft (2000) vor, dass Wandelprozesse graduell sind und oftmals über einen langen Zeitraum vonstattengehen. Als ein weiteres Beispiel ist die Verbindung zwischen der diachronen Stabilität einer grammatischen Opposition in Bezug auf die Gebrauchsfrequenz einerseits und der Schärfe des funktionalen Unterschieds zwischen den Mitgliedern dieser Opposition andererseits zu nennen. So zeigen McFadden/ Alexiadou (2010) in ihrer Studie zur Diachronie der Hilfsverbselektion im Englischen auf, dass der klare funktionale Unterschied zwischen have + PtcP und be + PtcP im frühen Englischen mit einer diachronen Stabilität der Opposition zusammenfällt: Erst ab Beginn des 18. Jahrhunderts begann have + PtcP, tatsächlich in
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die Gebrauchskontexte der be + PtcP- Konstruktion einzudringen.1 Die empirische Bearbeitung solcher Fragen setzt eine absolute Chronologie des betreffenden Wandels voraus. Der vorliegende Artikel lotet Möglichkeiten der Erstellung solcher absoluten Chronologien für Sprachwandelphänomene aus. Ich vertrete die These, dass eine verlässliche Annäherung an eine absolute Chronologie für ein Sprachwandelphänomen in historischen Texten nur möglich ist, wenn eine komparative Sichtweise eingenommen wird: Es ist notwendig, die diachronen Frequenzverläufe des betrachteten sprachlichen Phänomens parallel in verschiedenen Diskurstraditionen zu analysieren. Ich diskutiere anhand des Beispiels der Entwicklung der spanischen Hilfsverbselektion (eingeführt in Abschnitt 2) drei Methoden, die zur Erstellung einer absoluten Chronologie hilfreich sind: die kontrastive Analyse von Texten, die sich in Bezug auf die Genauigkeit der Datierung unterscheiden (Abschnitt 3), Übersetzungsstudien (Abschnitt 4) und die kontrastive Analyse von Texten, die sich in Bezug auf den Grad konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheiden (Abschnitt 5). Der Artikel schließt mit einer kurzen Diskussion der Ergebnisse (Abschnitt 6).
2 Hilfsverbselektion im Spanischen Im Altspanischen konnten sowohl haber (2) als auch ser (3) als Hilfsverben in Partizipialkonstruktionen verwendet werden, welche in bestimmten Kontexten eine temporale Funktion hatten: (2)
Los que av-ían finca-do en las tiendas levantaron die die haben-PST.IPFV.3PL bleiben-PTCP in den Zelten erhoben sus pendones ihre Banner ‘Diejenigen, die in den Zelten geblieben waren, erhoben ihre Banner’ (c. 1400, Décadas de Tito Livio, p. 274, apud CORDE).
|| 1 Ich verwende in der Folge «PtcP» als Abkürzung für «Partizip». Sprachspezifische Wörter sind kursiv gesetzt, während Lemmata, die in verschiedenen Sprachen verschieden ausgedrückt werden, in Majuskeln gesetzt sind (so steht «SEIN» für alle Ausprägungen des Lemmas SEIN, wie z.B. sp. ser, it. essere, nl. zijn).
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(3)
des que fue passa-do aquel día & uino la nachdem sein-PST.PFV.3SG vergehen-PTCP jener Tag und kam die noche Nacht ‘Nachdem jener Tag vergangen war und die Nacht kam’ (c. 1270, Estoria de Espanna, Fol. 113R, apud CORDE).
Eine ganze Reihe diachroner Studien, darunter Benzing (1931), Keniston (1937), García Martín (2001), Aranovich (2003), Mateu (2009), Rodríguez Molina (2010) und Rosemeyer (2014), beschreiben den historischen Prozess, durch den die haber + PtcP-Konstruktion in die Gebrauchskontexte der ser + PtcP-Konstruktion eindrang und sie letztlich verdrängte. Nur zwei dieser Studien (Rodríguez Molina 2010 und Rosemeyer 2014) verwenden explizit quantitative Methodologie. Der Fokus praktisch aller genannten Studien liegt auf der relativen Chronologie des grammatischen Wandels. Insbesondere ist seit Benzing (1931) bekannt, dass der Ersetzungsprozess bestimmte Prädikate früher betraf als andere. So betraf der Wandel von ser zu haber Zustandsprädikate wie quedar deutlich früher als Prädikate, die einen Zustandswandel ausdrücken. Innerhalb der letzten Gruppe scheint Telizität eine Rolle zu spielen: Atelische Prädikate der Zustands- oder Ortsveränderung wie beispielsweise crecer sind früher vom Ersetzungsprozess betroffen als telische Zustands- oder Ortsveränderungsprädikate wie morir. In Rosemeyer (2014) wird der Versuch einer Datierung des Wandels innerhalb einer einzigen Diskurstradition – historiographischen Texten – unternommen. Es wurden Daten zur Hilfsverbselektion von 43 Verben zwischen 1270 und 1699 im Corpus diacrónico del español (Real Academia Española 2014, abgekürzt CORDE) gesammelt. Hierbei wurden Fälle ausgeschlossen, in denen der Kontext entweder keine Ereignislesart ermöglicht (v.a. Zustandspassive) oder in denen die Konstruktion eine diathetische Funktion hat (v.a. Passive). Abb. 1 zeigt die historische Entwicklung der Hilfsverbselektion im Spanischen anhand der derart gesammelten 4135 Tokens.
Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen | 191
100 % 90 % Proportion ser + PtcP
80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 %
16 00 -1 69 9
15 00 -1 59 9
14 00 -1 49 9
13 00 -1 39 9
12 70 -1 29 9
0%
Abb. 1: Entwicklung der Hilfsverbselektion in historiographischen Texten im CORDE
Der Wandel von ser zu haber in den historiographischen Texten lässt sich wie die meisten Diffusionsprozesse als eine s-Kurve beschreiben: In einer ersten Phase zwischen 1270 und 1425 scheint noch keine Expansion von haber zu Lasten von ser vorzuliegen. Tatsächlich zeigt eine multifaktoriale Regressionsanalyse, dass zwischen 1270 und 1425 kein statistisch signifikanter Wandel von haber zu ser stattfindet (Rosemeyer 2014, 161). Erst in einer zweiten Phase zwischen 1425 und 1525 setzt ein massiver Ersetzungsprozess ein, der sich in der dritten Phase zwischen 1525 und 1699 schließlich wieder verlangsamt. Es muss betont werden, dass die Relevanz dieses Ergebnisses allein auf die Diskurstradition der historiographischen Texte beschränkt ist. In anderen Worten beschreibt Abb. 1 nicht den Wandel der Hilfsverbselektion im Spanischen, sondern in spanischen historiographischen Texten. Es ist somit sehr wahrscheinlich, dass der beobachtete Wandel den Wandel in der gesprochenen Sprache nicht direkt widerspiegelt, sondern dass die beobachtete Diffusion vielmehr auf Wandelphänomene im Bereich der Verschriftlichung historiographischer Texte im 15. Jahrhundert zurückgeht. Während die relative Chronologie des Wandels ser > haber von diesem Problem relativ unberührt bleibt, ist es für die absolute Chronologie des Wandels zentral.
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3 Genauigkeit der Datierung von Manuskripten Wie Rodríguez Molina (2006) zeigt, verwenden die meisten der im vorherigen Abschnitt genannten Studien Texteditionen, deren Datierung unzuverlässig ist.2 Insbesondere basieren viele dieser Texteditionen auf nicht-ursprünglichen Manuskripten. Beispielsweise stammen die beiden Manuskripte, auf denen unsere Kenntnis des Textes Calila y Dimna aus dem 13. Jahrhundert beruht, vom Anfang des 15. Jahrhunderts. Rodríguez Molina (2006, 29–45) zeigt überzeugend auf, wie die späteren Kopisten altspanischer Manuskripte die Texte auf der Basis ihrer zeitgenössischen Sprache modernisierten. Diese Konstellation stellt ein erhebliches Problem für die Frage der Datierung des überlieferten Textes dar, zumal diese Modernisierungstendenzen gerade diejenigen sprachlichen Phänomene betreffen, welche sich im Wandel befinden. Rodríguez Molina (2006, 43) attestiert 32 Modernisierungen von ser > haber zwischen älteren und neueren Manuskripten gegenüber allein vier Änderungen von haber > ser. Die später kopierten Manuskripte repräsentieren somit nicht den ursprünglichen altspanischen Sprachzustand. Eine genauere Untersuchung der Quellen der genannten Studien ergibt, dass «El 50% de los ejemplos resulta poco o nada fiable, y el otro 50% restante proviene de fuentes no originales, por lo que también podemos cuestionarnos su fiabilidad y representatividad»3 (Rodríguez Molina 2006, 45). Obwohl dieser Sachverhalt möglicherweise kein größeres Problem für eine qualitative Analyse der erhobenen Daten darstellt, beeinträchtigt er mit Sicherheit quantitative Analysen der Entwicklung der Hilfsverbselektion. Rodríguez Molinas Studie wirft somit das Problem der Masse und Klasse auf. Für das Altspanische sind relativ viele Quelltexte erhalten, die entweder auf Originalmanuskripten oder Kopien der Manuskripte, die maximal 50 Jahre nach dem Originalmanuskript angefertigt wurden, basieren. Fernández-Ordóñez (2006) und Rodríguez Molina (2006) schlagen vor, sich in historischen sprachwissenschaftlichen Studien auf diese Texte zu beschränken. Die in Rosemeyer
|| 2 Rodríguez Molina (2006, 22, Fußnote 7) nennt Benzing (1931), Larochette (1939), Yllera (1980, 220–246), Company Company (1983), Aleza Izquierdo (1987), Andres-Suárez (1994, 36–84), Lapesa (2000/1970), Elvira González (2001), García Martín (2001), Aranovich (2003) und Romani (2006). Da Mateu (2009) genau wie Aranovich (2003) auf den von Benzing (1931) erhobenen Daten basiert, ist auch diese Studie von dem Problem betroffen. 3 Die Übersetzung lautet: ‘50 Prozent der Beispiele sind wenig oder nicht verlässlich und die anderen 50 Prozent der Beispiele stammen aus nicht-originalen Quelltexten, weshalb ihre Verlässlichkeit und Repräsentativität ebenfalls fragwürdig ist’.
Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen | 193
(2014) verwendeten Daten, auf denen die im vorherigen Abschnitt vorgestellte Analyse beruht, wurden im Sinne eines solchen Mittelwegs zwischen Masse und Klasse ausgewählt: Indem der Spielraum bei der Datierung der Manuskripte auf 50 Jahre gesetzt wurde, konnte eine ausreichende Anzahl von Manuskripten für die quantitative Analyse in Betracht bereitgestellt werden. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern die auf Basis dieser methodischen Entscheidung etablierte Chronologie den Vergleich mit den beiden Extremen zwischen Masse und Klasse standhält: einer Chronologie, die auf sehr vielen, aber dafür ungenau datierten Manuskripten beruht und einer Chronologie, die auf sehr wenigen, dafür aber genau datierten Manuskripten beruht. Aus diesem Grund wurden für diese Studie alle haber + PtcP und ser + PtcPTokens, die aus den in Rosemeyer (2014) untersuchten 43 Verben gebildet sind, in zwei weiteren Korpora erhoben: dem Corpus del español (Davies 2002, abgekürzt CdE) und dem Corpus de documentos españoles anteriores a 1700 (Grupo de Investigación de Textos para la Historia del Español 2012, abgekürzt CODEA). Hierbei repräsentiert die Erhebung der Daten aus dem CdE das Prinzip der Masse, CODEA hingegen das Prinzip der Klasse. Durch seine Größe (etwa 100 Millionen Wörter) und ein Lemmatisierungsverfahren erlaubt es das CdE, sehr schnell eine große Menge an Tokens zu erheben. Es wurde nach den Partizipien der Verben gesucht, mit einer Ausprägung der Lemmata haber oder ser in einem Abstand von 1 Wort. Diese Suchanfragen ergaben insgesamt 28.816 Treffer. Allerdings weist das CdE weder eine genauere Unterscheidung der Quelltexte nach Diskurstradition/Genre auf, noch ist die Datierung der Texte verlässlich: In vielen Fällen handelt es sich um Editionen, die auf bis zu 200 Jahre später kopierten Manuskripten beruhen. Das CODEA repräsentiert einen völlig anderen Typ diachroner Korpora. Es handelt sich um ein deutlich kleineres Korpus als das CdE und ist darüber hinaus thematisch auf administrative Texte beschränkt. Aus diesem Grunde ergaben dieselben Suchanfragen wie für das CORDE nur 100 Fälle von haber/ser + PtcP. Aufgrund der thematischen Beschränkung der Texte und der philologischen Exaktheit ihrer Bearbeitung ist hingegen die Datierung dieser Beispiele meistens bis auf den Tag genau: Durch ihren Gebrauch im Alltag ist eine genaue Datierung von großer Relevanz für administrative Dokumente.
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100 % CODEA CORDE CdE
90 % Proportion ser + PtcP
80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 %
16 00 -1 69 9
15 00 -1 59 9
14 00 -1 49 9
13 00 -1 39 9
12 70 -1 29 9
0%
Abb. 2: Entwicklung der Hilfsverbselektion im CODEA, CORDE (nur historiographische Texte) und CDE
Abb. 2 vergleicht die Entwicklung der Hilfsverbselektion in den drei Korpora. Eine visuelle Inspektion der Trends zeigt zunächst auf, dass die Daten aus dem CdE einen am wenigsten konservativen Sprachzustand widerspiegeln zu scheinen, während die Daten aus dem CODEA deutlich konservativer sind. Hier spielt sicherlich die Tatsache, dass das CODEA auf administrative Texte, und somit eher konservative Muster der Textproduktion, beschränkt ist, eine gewichtige Rolle. Die in Rosemeyer (2014) gesammelten Daten aus dem CORDE nehmen eine Mittelposition ein. Diese Unterschiede scheinen jedoch größtenteils auf das Altspanische, insbesondere auf das 13. und 14. Jahrhundert, beschränkt zu sein. Bezüglich der historischen Entwicklung der Hilfsverbselektion hingegen zeigen die drei Kurven eine starke Übereinstimmung. So zeigen die Daten aus allen drei Korpora ein relativ stabiles Verhältnis der Distribution von haber und ser bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts, gefolgt von einem schnellen Abbau der serSelektion und letztlich einer Verlangsamung des Wandels zwischen dem Ende des 16. und 17. Jahrhunderts. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert zeigen die drei Kurven eine starke Übereinstimmung nicht allein in Bezug auf die Kurvenform, sondern auch die absoluten Unterschiede in den Frequenzwerten: Die maximale Abweichung zwischen den Kurven ist 9 Prozent (im 17. Jahrhundert). Im Lichte des erheblichen Unterschieds in der Größe der drei Korpora (nCdE = 28.816, nCORDE = 4135, nCODEA = 100) ist dieses Ergebnis sehr überraschend. Es scheint, dass auch die «extremen» Strategien der Datenerhebung der Masse und Klasse zu durchaus repräsentativen Ergebnissen führen können. So validieren die zusätzlichen Daten aus dem CdE und CODEA zumindest teilweise die in
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Rosemeyer (2014) vorgeschlagene Datierung des Wandelphänomens. Darüber hinaus ist aber zu bemerken, dass der in Rosemeyer (2014) gewählte Mittelweg zwischen Masse und Klasse auch tatsächlich zu mittleren Werten in der resultierenden Datierung führt. Ich nehme dieses Ergebnis als Beleg dafür, dass die von Fernández-Ordoñez (2006) und Rodríguez Molina (2006) vorgeschlagene Forschungsstrategie zu guten Ergebnissen führt.
4 Gebrauch paralleler Korpora Eine zweite Methode der Verifizierung der beobachteten Chronologie ist die Verwendung eines parallelen Korpus wie das Corpus Biblia Medieval (Enrique-Arias 2008, hier abgekürzt als CBM). Das CBM, ein Korpus spanischer Übersetzungen der hebräischen und lateinischen Bibeln zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert, erlaubt die Analyse der Übersetzung ein und derselben Textpassage zu verschiedenen Zeitpunkten. Dies bedeutet, dass der Kontext des Tokens maximal stabil gehalten wird (cf. Kaiser 2005, 80), wodurch eine sehr verlässliche relative Chronologie etabliert werden kann: Wenn ein Übersetzer im 15. Jahrhundert statt einer ser + PtcP-Konstruktion wie im 13. Jahrhundert eine haber + PtcP- Konstruktion verwendet, kann diese Entscheidung zumeist nicht auf kontextuell bedingte Unterschiede zurückgeführt werden.4 In Rosemeyer (2012) wurden 356 haber und ser + PtcP-Tokens aus den Bibelübersetzungen des 13. Jahrhunderts, sowie alle Übersetzungen derselben Passagen aus dem 15. Jahrhundert erhoben. Das so entstandene Korpus wurde mit Hilfe quantitativer Methodologie analysiert. Tab. 1 illustriert das Verhältnis zwischen konstantem Gebrauch und Paraphrasierung in den Texten aus dem 13. und 15. Jahrhundert für haber + PtcP und ser + PtcP.
|| 4 Es soll an dieser Stelle nicht argumentiert werden, dass Bibelübersetzungen völlig frei von kontextuellen Unterschieden sind. Beispielsweise können sich Interferenzen aus dem Originaltext ergeben. Da die spanischen Bibelübersetzungen teils auf hebräischen, teils auf lateinischen Originaltexten basieren, können sich an dieser Stelle kontextuelle Unterschiede ergeben. Auch kann die Herkunft der Übersetzer durchaus einen Einfluss auf die Übersetzungen haben. Letztlich sind diese Probleme jedoch weniger schwerwiegend als die kontextuelle Variation in konventionellen Quellen (cf. die Diskussion in Enrique-Arias 2013).
196 | Malte Rosemeyer
Tab. 1: Konstanter Gebrauch vs. Paraphrase von haber + PtcP und ser + PtcP zwischen Bibeltexten des 13. und 15. Jahrhunderts. (nach Rosemeyer 2012, 158)
Hilfsverb in E8/E6 (13. Jahrhundert)
haber
ser
Fälle, in denen im 15. Jahrhundert dasselbe Hilfsverb verwendet wird
66
89
Fälle, in denen im 15. Jahrhundert eine andere Konstruktion verwendet wird
556
374
Verhältnis konstanter Gebrauch vs. Paraphrase
1/8,4
1/4,2
Das Verhältnis zwischen konstantem Gebrauch und Paraphrase liegt für ser + PtcP deutlich niedriger als für haber + PtcP. Dieses Ergebnis legt somit nahe, dass die Bibelübersetzer im 15. Jahrhundert häufiger ser + PtcP in Passagen verwenden, bei denen in den Übersetzungen des 13. Jahrhunderts ebenfalls ser + PtcP verwendet wird, als bei haber + PtcP. Somit scheint der Gebrauch von ser + PtcP zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert sogar stabiler zu sein als der Gebrauch von haber + PtcP. Der in Tab.1 dargestellte Sachverhalt wurde mit Hilfe einer Regressionsanalyse überprüft. Diese Analyse ergab keinen signifikanten Trend der Ersetzung von ser + PtcP durch haber + PtcP (Rosemeyer 2012, 159). Die Ergebnisse aus der Studie von Rosemeyer (2012) validieren somit zum Teil die in den Abschnitten 2 und 3 geschilderte Chronologie: Zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert findet in den untersuchten Texten offensichtlich noch kein nennenswerter Ersetzungsprozess ser > haber statt. Allerdings sind selbst die Ergebnisse aus den vier Korpora, die in den letzten Abschnitten aufgezeigt wurden, nicht hinreichend, um nicht nur eine relative Chronologie, sondern auch eine absolute Chronologie der Entwicklung der Hilfsverbselektion im Spanischen zu rechtfertigen. Dies liegt auch daran, dass Bibeltexte und historiographische Texte zwei eng verwobene Diskurstraditionen darstellen: Die beiden Diskurstraditionen machen zusammen einen Großteil der überlieferten narrativen Texte aus dem mittelalterlichen Spanischen aus. Weiterhin berufen sich manche historiographischen Texte wie die General estoria (c. 1275) ganz explizit auf die Bibel als Textmodell. Letztlich gilt für Bibeltexte das gleiche Prinzip wie für historiographische Texte: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der (Nicht-)Wandel in den Übersetzungsmustern zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert auf Modalitäten der Textproduktion in diesem Zeitraum zurückgeführt werden kann.
Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen | 197
5 Konzeptuelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Um tatsächlich ausschließen zu können, dass ein beobachteter Wandel in einem Korpus auf Wandelphänomene in einer Diskurstradition zurückgeht, ist es notwendig, die erhobenen Daten systematisch in Hinsicht auf die historischen Modalitäten der Textproduktion zu unterscheiden. Hierbei ist insbesondere die von Peter Koch und Wulf Oesterreicher etablierte Unterscheidung zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit nützlich (Koch/Oesterreicher 1985; Koch/Oesterreicher 2001; Koch/Oesterreicher 2011). Die Dimension der Konzeption sprachlicher Äußerungen betrifft den sprachlichen «Duktus» (Koch/ Oesterreicher 2011, 3) von Äußerungen: Konzeptionell mündliche Äußerungen zeichnen sich unter anderem durch eine geringere syntaktische Planung, Textkohärenz sowie durch eine größere Nähe zu sprachlichen Varietäten aus. Daher kann angenommen werden, dass Wandelphänomene früher in Diskurstraditionen auftreten, die einem konzeptionell mündlichen Duktus entsprechen, als in Diskurstraditionen, die einem konzeptionell geschriebenen Duktus entsprechen. Wenn wir die Prämisse akzeptieren, dass die überwiegende Mehrheit von Sprachwandelprozessen in der gesprochenen Sprache entsteht, sollten konzeptionell mündliche Texte insgesamt einen moderneren Sprachzustand repräsentieren als konzeptionell geschriebene Texte. Dieser Unterschied kann zur Datierung sprachlicher Wandelphänomene nutzbar gemacht werden. In Rosemeyer (2015) wurden alle haber + PtcP und ser + PtcP- Tokens, die aus den in Rosemeyer (2014) untersuchten 43 Verben gebildet sind, in dem Korpus BRIEFE erhoben. BRIEFE entspricht Fernández Alcaides (2009) Edition der Originalmanuskripte einer großen Zahl an privaten Briefen von spanischen Emigranten in den amerikanischen Kolonien an ihre Verwandten und Freunde in der spanischen Heimat. Diese Briefe wurden zwischen 1500 und 1600 verfasst. Wie im CODEA, ist auch im BRIEFE-Korpus die Datierung der Dokumente häufig bis auf den Tag genau. Die Extraktion aller relevanten Tokens führte zur Erhebung von 422 Fällen von haber/ser + PtcP. Die im Korpus BRIEFE versammelten Texte können als konzeptionell mündliche Texte charakterisiert werden, da der Briefwechsel zwischen vertrauten Personen stattfindet, häufig alltägliche Themen betrifft und eine sehr emotionale Qualität annimmt (Fernández Alcaide 2009, 313–314). Ich gebe einen Auszug aus einem dieser Briefe in (4):
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(4)
señora / abra tres años escreu-i a vm con Herrin wird.sein drei Jahre schreiben-PST.IPFV.1SG zu Ihnen mit juan diaz palomo y enbie a vm/1 çiento y diez Juan Diaz Palomo und sendete zu Ihnen Hundert und Zehn pesos de buena moneda bien creo los aya rdo Pesos von guter Währung gut glaube sie hat empfangen quest-oy/2 espanta-do no av[er] bisto carta dass.sein-PRS.1SG erschrecken-PTCP nicht haben sehen-PTCP Brief vra ny se σy son bib-o-s ny muert-o-s/3σupcoos Ihren weder ob heute sind lebend-M.PL noch tot-M.PL bitte.Euch me escriuays [...] porque yo estoy muy arraygado mir schreibt weil ich bin sehr verwurzelt en esta probinçia de/8 los charcas donde al presente in dieser Provinz von den Charcas wo derzeit resido / y lo que me deuen no lo puedo cobrar/9 y wohne und was mir schulden nicht es kann nehmen und por esto os ruego no agays otra cosa σyno wegen das Euch bitte nicht tut andere Sache außer veniros porque esta es my/10 boluntad… kommen-REFL weil dies ist mein Wille ‘Herrin, es wird drei Jahre her sein, dass ich Ihnen und Juan Diaz Palomo schrieb und Ihnen hundertzehn gute Pesos sendete. Ich glaube, dass Sie [?] sie empfangen haben. Ich bin erschrocken darüber, dass ich keinen Brief von Ihnen erhalten habe und nicht sicher bin, ob sie leben oder tot sind. Ich bitte Euch, mir zu schreiben [...], weil ich sehr verwurzelt in dieser Provinz Los Charcas bin, wo ich derzeit wohne, und nicht eintreiben kann, was man mir schulde, bitte ich Euch: kommt bald, denn dies ist mein Wille...’ (8. März 1556, Carta de Juan Sánchez a su mujer, Olalla García, en Mirandilla (Cáceres), apud BRIEFE).
Das Textfragment zeichnet sich durch eine stark mündliche Konzeption aus. Erstens spricht Juan Sánchez seine Frau direkt an (esreui a vm). Zweitens drückt er seine Emotionen sehr direkt aus (cf. questoy/2 espantado no av[er] bisto carta vra ny se σy son bibos ny muertos). Drittens ist der Text stark parataktisch und insbesondere durch den Gebrauch der Konjunktion y geprägt. Tab. 2 vergleicht die Distribution der Hilfsverbselektion in den Korpora CORDE, CODEA und BRIEFE im 16. Jahrhundert Im Sinne der oben erläuterten Voraussage wäre zu erwarten, dass die Daten aus dem BRIEFE-Korpus, welches
Masse und Klasse. Zur Datierung von grammatischen Sprachwandelprozessen | 199
sich durch eine mündliche Konzeption auszeichnet, einen moderneren Sprachzustand widerspiegeln als die Daten aus dem CORDE und dem CODEA. Stattdessen zeigt ein χ2-Test keinen signifikanten Unterschied zwischen der Verteilung der Hilfsverbselektion in den drei Korpora im 16. Jahrhundert (χ2 = 4,216 (2), p = 0,121). Tab. 2: Hilfsverbselektion in den Korpora CORDE, CODEA und BRIEFE im 16. Jahrhundert
Korpus
haber
ser
% ser
CORDE
743
238
24,3
CODEA
42
18
30.0
BRIEFE
299
123
29,2 χ2 = 4,216 (2), p = 0,121
Wie ist dieses Ergebnis zu erklären? Die genauere Analyse der Daten in Rosemeyer (2015) zeigt, dass das BRIEFE-Korpus tatsächlich einen moderneren Sprachzustand repräsentiert als CORDE und CODEA. Die neuere Forschung zur Hilfsverbselektion in den europäischen Sprachen nimmt an, dass ein historischer Trend der SEIN-Selektion hin zu Kontexten der Verben der Ortsveränderung besteht. Es gibt Indizien für diesen Trend zumindest für das Spanische (Rosemeyer 2014), Französische (Heidinger 2015) und Deutsche (Gillmann 2015). In Rosemeyer (2014) erkläre ich diesen Effekt durch systematische Unterschiede in der Gebrauchsfrequenz der Partizipien in den Auxiliar + Partizip-Konstruktionen: In dem untersuchten Sample der 43 spanischen Verben weisen die Lemmata der Verben der Ortsveränderung eine insgesamt höhere Gebrauchsfrequenz auf als Lemmata anderer Verbtypen. In anderen Worten scheinen in den betrachteten narrativen Texten Ereignisse der Ortsveränderung häufiger zu sein als andere Ereignisse. Ich argumentiere im Sinne der gebrauchsbasierten Grammatik, dass diese höhere Frequenz einen Konservierungseffekt (cf. z.B. Bybee 2006) auslöst: Prozesse der mentalen Routinisierung bzw. entrenchment der Syntagmen führen dazu, dass diese hochfrequenten Syntagmen länger in der Sprache erhalten bleiben als weniger häufige Syntagmen. Dies führt in den letzten untersuchten Stadien des Wandels – dem 17. Jahrhundert – zu einer weitgehenden Restriktion der ser + PtcP-Konstruktion auf Verben der Ortsveränderung. Es ist daher von Relevanz zu zeigen, dass Verben der Ortsveränderung im BRIEFE-Korpus häufiger zu sein scheinen als Verben, die andere Prädikate ausdrücken. In Tabelle 3 wird die Gebrauchsfrequenz von Verben der Orts- und Zustandsveränderung verglichen. Während der Unterschied zwischen CORDE und CODEA keine statistische Signifikanz erreicht (χ2 = 2,028 (1), p = 0,155), ist der
200 | Malte Rosemeyer
Unterschied zwischen CORDE und BRIEFE statistisch signifikant (χ2 = 4,264 (1), p le néant). Diese funktionale Entwicklung werde ich anhand verschiedener Korpora genauer nachzeichnen – insbesondere des Nouveau Corpus d’Amsterdam und des Frantext. Der Form néant haben sich bisher vor allem Völker (2009) in seiner Analyse der chartes luxembourgeoises und Larrivée/Ingham (2012) für die anglonormannische und wallonische Varietät gewidmet. Eine bisher noch fehlende umfassendere Korpusanalyse soll dazu beitragen, nicht nur zu einem besseren Überblick über die verschiedenen grammatikalischen Funktionen der Form néant zu gelangen, sondern auch zum Verständnis der Dynamiken, die sich hinter den verschiedenen Prozessen des Wandels dieser Funktionen verbergen. So möchte ich mich auch der umstrittenen Frage der Existenz von Gegenbeispielen
226 | Sarah Dessì Schmid
zur Unidirektionalität in der Transformation von lexikalischen zu grammatikalischen Einheiten im Sprachwandel widmen, denn hierfür bietet sich die Analyse der Form néant beispielhaft an.
2 Zur Entstehung von néant Für die Etymologie von néant wurden unterschiedliche Erklärungen vorgeschlagen. Diez (1861–1862) spricht sich für die Zusammensetzung der alten lateinischen Negation ne und des Stamms des Partizips von esse ‘sein’ *ent aus. Ascoli (1890) geht von einer Verbindung von ne und inde aus (das seiner Meinung nach schon im Vulgärlatein die adverbiale Bedeutung des späteren nfrz. en und it. ne ‘davon’ hatte; als dann ne in negativen Ausdrücken als Verstärkung hinzugefügt worden sei (non ho ne-ende), sei neinde zu einem ‘idealen Neutrum’ verwachsen). Körting (1896) schlägt dagegen eine dritte Hypothese vor, die nach aktuellem Forschungsstand aus lautlichen, semantischen und varietätenlinguistischen Gründen die wahrscheinlichste zu sein scheint, auf die ich mich hier daher stütze:1 Néant stammt demzufolge aus der Zusammensetzung und Verschmelzung der alten lateinischen Negation ne und des (substantivischen) Wortstammes gent[e].2 Dies scheint unter anderem deshalb plausibel, da sich im Lateinischen weitere Beispiele dieser Art finden lassen (cf. lat. ne-fas oder lat. neg-otium). Die Transformation von *negent[e] > in das nfrz. néant – wie im Übrigen in das it. niente – lässt sich einerseits lautlich gut erklären: Die Abschwächung (oder auch der Schwund) des intervokalischen [g] vor betonten Silben zu [j] ist lautgesetzlich, so wie es auch bei der Transformation von lat. negare > afrz. neiier, noiier, ... (> nfrz. nier) oder lat. regale > afrz. roial, roiel, regiel, ... (nfrz. royal) zu sehen ist. Aber auch unter semantischem Gesichtspunkt ist Körtings Vorschlag nachvollziehbar: Gens bedeutete ursprünglich ‘Geburt’, aber auch (wohl per Metonymie) ‘das Ergebnis der Geburt’, und zwar sowohl in individueller (‘der (einzelne) Geborene’),
|| 1 Cf. Körting (1896) sowie GDEHF und FEW; cf. auch für das italienische Äquivalent niente DELI sowie Iliescu (2011). Auch Völker (2009, 56) entscheidet sich für diese etymologische Erklärung. 2 Auch die Geschichte von naught und nichts ist wohl sehr ähnlich verlaufen (< aeng. nāwiht, nōwiht (= Neg. + Wiht ‘Wesen’), cf. OED online (am 07.01.2013); mhdt. niht, ahdt. niowiht, niwiht (*ne aiwin wihtes = Neg. + je + Wicht ‘nicht eines Wesens’), cf. Kluge 2011). Dabei ist aber zwischen zwei logisch voneinander unabhängigen Parallelen zwischen (Vulgär-)Latein und den zitierten germanischen Sprachen zu unterscheiden: Schritt I: Bildung eines Pronomens für ‘nichts’ aus Negation + (kleines) Wesen/Ding. Schritt II: Bildung eines verstärkenden Negationselements (neben der einfachen Negation) durch Verwendung des Wortes für ‘nichts’ (= Resultat von I).
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 227
als auch – und dies war üblicher – in kollektiver Bedeutung (‘Geschlecht’, ‘Volk’).3 Die Bedeutung wurde dann weiter verallgemeinert, so dass mit gens ‘das Geborene’ per antonomasiam, also ‘das Wesen’ und später noch ‘das Ding überhaupt’ gemeint war. Die Form hat sich so der Funktion eines (neutralen) Indefinitpronomens im Sinne von ‘etwas’ angenähert. Auch varietätenlinguistische Gründe scheinen schließlich für diese Etymologie zu sprechen: Die Verwendung als (neutrales) Indefinitpronomen ist in einigen Ausdrücken klar zu sehen, in denen gens im Genitiv Plural erscheint: ubinam gentium (‘wo in aller Welt’) oder minime gentium (‘keineswegs’); allerdings ist in der Schriftsprache diese pronominale Verwendung nur in solchen Ausdrücken zu finden, denn höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um volkstümliche Redewendungen, so dass es legitim scheint anzunehmen, dass in der Volkssprache das pronominale gens noch verbreiteter war. Parallel dazu kann man für *negent[e] also die Bedeutung ‘kein Mensch > kein Ding > nichts’ ableiten.4 Will man zu beschreiben versuchen, um welchen Typ des Sprachwandels es sich bei der Entstehung und später auch bei der weiteren funktionellen Entwicklung von néant handelt, ist Folgendes anzumerken: Im Entstehungsprozess von néant (bzw. afrz. neant5 und seinen zahlreichen Varianten nient, nïent, niant, nïant, nent, neent, nëent, neant, nëant, neient, neiant, noient, noiant)6 kann man auf verschiedenen Ebenen einen Verlust an Autonomie beobachten, also an Lexikalität, wenn wir mit der Forschung zur Grammatikalisierung7 davon ausgehen, dass lexikalische und grammatikalische sprachliche Elemente als zwischen zwei Polen eines Kontinuums stehend dargestellt werden können.8
|| 3 Cf. GCB. 4 Diese Erklärung würde dann auch it. niente betreffen, wie schon in der historischen Grammatik von Rohlfs (1949–1954) zu lesen ist, auch wenn sich in den italienischen etymologischen Wörterbüchern noch immer auch weniger plausible Erklärungen finden lassen (cf. z.B. DELI) – dies merkt auch Iliescu (2011; 2012) kritisch an. 5 In diesem Aufsatz verwende ich jeweils die Schreibweise neant für die altfranzösische Form, néant für die neufranzösische. 6 Für eine Liste mit Varianten von néant cf. auch TL. 7 Cf. u.a. Haspelmath (1998; 2004); Hopper (1991); Hopper/Traugott (2003); Lehmann (1995 (1982); 2002) und für die Romanistik Detges/Waltereit (2002); Lang/Neumann-Holzschuh (1999) und Marchello-Nizia (2009). Dagegen gehen die Vertreter der sogenannten «split-morphologyHypothese» von einer strikten Trennung zwischen Grammatik und Lexikon aus: cf. u.a. Anderson (1988) und Scalise (1988; 1994). Zum Vergleich zwischen diesen zwei Ansätzen cf. Haspelmath (2010). 8 Cf. Langacker (2006); cf. auch Bybee (1985); Bybee/Dahl (1989); Bybee/Perkins/Pagliuca (1994) und Dahl (1985; 2000).
228 | Sarah Dessì Schmid
Auf inhaltlicher oder semantischer Ebene verliert das Substantiv gens, also ein Mitglied einer Wortart, die prototypisch lexikalische Eigenschaften aufweist, seine ursprüngliche konkrete Bedeutung (‘Volk’) und nimmt eine viel allgemeinere und abstraktere an (‘etwas’); es handelt sich um einen Prozess, der auch als «Desemantisierung» bezeichnet wird (Lehmann 1995 (1982); Heine 1993). Auf formaler oder syntaktischer Ebene bedingt die Verschmelzung zweier sprachlicher Einheiten, die vorher unabhängig waren (ne oder nec und gens), einen Verlust an Autonomie. Die Entstehung von néant aus *ne + gent[e] stellt also ein Beispiel dafür dar, was seit Meillet (1948 (1912)) als «Grammatikalisierung» bezeichnet wird:9 «[...] le passage d’un mot autonome au rôle d’élément grammatical […] l’attribution du caractère grammatical à un mot jadis autonome [...]» (Meillet 1948 (1912), 131).
Grammatikalisierung wird damit als besondere Form des Übergangs von lexikalischen zu grammatikalischen Einheiten (Lexikon > Grammatik) und als ein Typ des Sprachwandels auf der diachronen Achse beschrieben.10 Synchronisch können wir Grammatikalisierung auch in den Produkten, in den Resultaten eines solchen Prozesses der Transformation einer Form oder einer Struktur in eine andere (grammatikalischer Natur) identifizieren, hier eben im altfranzösischen neant (in der folgenden Abb. 1 dargestellt):
Lexikon
Grammatik lat. *ne + gent[e] > afrz. neant (‘nicht Volk’ >) ‘nicht etwas’ > ‘nichts’, ‘(überhaupt) nicht’
Abb. 1: Grammatikalisierung von neant
Der Großteil der Grammatikalisierungsforschung hat inzwischen eine von Kuryłowicz (1975 (11965)) eingeführte definitorische und theoretische Ergänzung
|| 9 Schon Condillac im 18. Jahrhundert und Schlegel, Humboldt, Bopp und von der Gabelenz im 19. Jahrhundert hatten sich mit dem Konzept beschäftigt. 10 Grammatikalisierung spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab: «With the term ‹grammaticalization› we refer essentially to an evolution whereby linguistic units lose in semantic complexity, pragmatic significance, syntactic freedom, and phonetic substance, respectively» (Heine/Reh 1984, 15). Dies ist nicht der einzige Prozess, durch den grammatikalische Einheiten entstehen können, ein weiterer Typ ist etwa die Analogie.
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 229
übernommen: Unter dem Begriff der Grammatikalisierung wird damit ein gradueller Sprachwandelprozess identifiziert, in dessen Verlauf sprachliche Einheiten grammatikalischer werden (also unter verschiedenen Aspekten an Autonomie verlieren) – unabhängig davon, ob und in welchem Grade sie vorher lexikalisch oder grammatikalisch waren (L > G, G1 > G2). Auch Mechanismen,11 Regelmäßigkeiten und Charakteristiken12 der Grammatikalisierungsprozesse wurden noch genauer untersucht – aus semasiologischer wie auch aus onomasiologischer Perspektive (cf. u.v.a. Lehmann 1995 (1982); Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; Hopper/Traugott 2003; Detges 2001; Heine/Kuteva 2002; Marchello-Nizia 2009). Unter diesen wurde eine Eigenschaft ganz besonders diskutiert, nämlich die Unidirektionalität der Grammatikalisierungsprozesse: Der graduelle Autonomieverlust sprachlicher Einheiten stellt – zumindest für viele – einen unidirektionalen und unumkehrbaren Prozess dar. Der Verlauf dieses Prozesses kann wie im bekannten cline of grammaticality von Hopper und Traugott graphisch dargestellt werden. Dieser zeigt den Übergang von einem lexikalischen Wort über ein grammatikalisches Wort, weiter über ein Klitikon bis zu einem Affix: «[...] most linguists would agree that there is a ‹cline of grammaticality› of the following type: content item > grammatical word > clitic > inflectional affix» (Hopper/Traugott 2003, 7).
Die Resultate vieler typologisch orientierter Untersuchungen zeigen, dass im Sprachwandel tatsächlich eine Bewegung nur in einer einzigen Richtung auf dieser Skala vorhanden zu sein scheint, und zwar von links nach rechts – von der Lexikalität zur Grammatikalität. Nun wurde aber in der Forschung wiederholt die Frage gestellt: Sind Grammatikalisierungsprozesse tatsächlich unidirektional und unumkehrbar? Kann eine grammatikalisierte Form nicht zum Lexikon zurückkehren, an Grammatikalität verlieren und sich gewissermaßen «entgegen dem cline», also von rechts nach links bewegen?
|| 11 «[...] il convient de rappeler certains des pré-requis nécessaires au déclenchement d’un processus de grammaticalisation: pour qu’une forme puisse se grammaticaliser, elle doit être d’un sémantisme assez général (par exemple, ‹ avoir › s’est grammaticalisé en auxiliaire, mais pas ‹ posséder ›), assez fréquente, et apte à susciter des inférences pragmatiques, les trois critères étant d’ailleurs partiellement liés» (Prévost 2006, 123). 12 Gradualität ‒ Marchello-Nizia (2009, 30ss.) spricht von «progression» versus «catastrophe» ‒ und Obligatorietät sind zwei weitere viel diskutierte Charakteristiken der Grammatikalisierung.
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Auf diesen Punkt werde ich im vierten und letzten Abschnitt des Beitrags noch einmal genauer zurückkommen; zunächst einmal sollen jedoch die Funktionen von néant im Detail dargestellt werden.
3 Form und Funktionen von néant in der Geschichte: Polyfunktionalität Analysiert man néant aus systemlinguistischer Perspektive, tritt zunächst einmal seine ausgeprägte Polyfunktionalität hervor: Es handelt sich dabei um eine heikle Eigenschaft, denn – das betonen auch Larrivée/Ingham (2012, 102) – die Polyfunktionalität von néant bringt die schwierige Frage seiner Einheit und Identität mit sich, die hier jedoch nicht vertieft werden soll. Betrachtet werden vielmehr die Funktionen von néant jeweils synchron in zwei Sprachzuständen des Französischen, nämlich im Altfranzösischen und im heutigen Französisch: Zur Illustration werden Beispiele aus der folgenden Korpusanalyse verwendet, ihre qualitative Interpretation folgt in §4.
3.1 Form und Funktionen von neant im Altfranzösischen Im Altfranzösischen erfüllte neant drei verschiedene Hauptfunktionen: als Indefinitpronomen, als Negation und als Adverbiale.
3.1.1 Indefinitpronomen Neant wurde als Indefinitpronomen mit eigenem inhärentem negativem Wert (im Sinne von ‘nichts’) verwendet, wie in Beispiel (1), konnte also als Objekt und wahrscheinlich auch als Subjekt fungieren: (1)
c’ est cele la gent atise qui de prendre et de dies ist diese die Leute antreibt die zu nehmen und zu noiant doner et les granz avoirs auner nichts-PRON.INDEF geben und die große Güter ansammeln ‘jene ist es, die die Leute antreibt, zu nehmen und nichts zu geben und große Güter anzusammeln’ (Le roman de la Rose de Guillaume de Lorris, vv. 170–172).
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 231
Hier besteht ein großer Unterschied zu seinem Konkurrenten rien, das von lat. rem ‘Sache’ stammt, und den negativen Wert ursprünglich nur in Kombination mit ne annahm.13 In dieser – dem Substantiv nächsten – Verwendung als negatives Indefinitpronomen erscheint neant in verschiedenen Kontexten und Kombinationen; es wird zum Beispiel von den vorangestellten Präpositionen por und de begleitet, wie in (2) und (3): (2)
et de ce ne douter mie que cil qui de und an dies nicht zweifeln gar dass derjenige der aus neant fist le cors le porrai14 bien nichts-PRON.INDEF machte der Körper ihn können-wird gut refere. wiedermachen ‘und zweifle gar nicht daran (und daran ist gar nicht zu zweifeln), dass derjenige, der aus nichts den Körper schuf, diesen auch wieder wird erschaffen können’ (L’histoire de Barlaam et Josaphat, 29,1–102, 43).
(3)
mult est dolanz et corrocié que s est por sehr ist betrübt und verdrossen dass sich ist für nient travaillé tot a perdue sa poison. nichts-PRON.INDEF bemüht alles hat verloren sein Gift ‘(er) ist sehr betrübt und verdrossen, da er sich für nichts bemüht hat, er hat seinen ganzen Trank/sein ganzes Gift verloren’ (Le bestiaire de Gervaise, vv. 965–967).
In seinem Erstbeleg, der aus dem Alexiuslied stammt, tritt neant außerdem in Verstärkungsfunktion zusammen mit ne auf, wie Beispiel (4) darstellt:
|| 13 Cf. dazu u.a. Völker (2003), Holtus/Overbeck/Völker (2003) und Larrivée/Ingham (2012). 14 Es handelt sich bei porrai nicht, wie die Endung -i zunächst vermuten lässt, um die 1. Pers. Sg. Fut., sondern um eine orthographische Besonderheit des Champagnischen, in der die hier verwendete Version verfasst ist und in der auch bei der 3. Pers. Sg. Fut. ein finales -i erscheint (cf. L’histoire de Barlaam et Josaphat. Version champenoise d’après le ms. Reg. lat. 660 de la Bibliothèque Apostolique Vaticane, 1973, 19).
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(4)
mais ço’ st tels plaiz dont ne volsist aber dies ist solch Vertrag von dem NEG wollte neient: de tot en tot a Deu at son talent. nichts-PRON.INDEF von alles in alles auf Gott hat sein Sinn ‘aber dies ist ein solcher Vertrag, wie er ihn keinesfalls wollte: Ganz und gar auf Gott hat er seinen Sinn (gerichtet)’ (La vie de Saint Alexis, vv. 49– 50).
3.1.2 Negation Neant wurde aber auch als Negationsträger verwendet, der in Verstärkungsfunktion zusammen mit ne ... auftrat, und zwar als echte zweigliedrige Negation (resumptive doppelte Negation) wie im Beispiel (5), wo nient kein Objekt sein kann und zusammen mit ne emphatisch verwendet wird; es handelt sich hier um einen Fall, in dem sich die Negation auf den ganzen Satz bezieht: (5)
e dit al cunte ‹jo ne vus aim nient sur und sagt zu der Graf ich NEG euch liebe nicht-NEG über mei avez turnét fals jugement›. mich habt gebracht falsches Urteil ‘und er sagt/-e dem Grafen: ‹Ich liebe Euch überhaupt nicht, Ihr habt ein falsches Urteil über mich gebracht›’ (La chanson de Roland, ms. O., vv. 306–307).
Wir finden neant aber auch ohne ne15 und als kontrastive Negation (mit Adjektiven zum Beispiel wie in (6)); hier wird sichtbar, wie neant sich nicht nur auf ganze Sätze, sondern auch auf Satzglieder bzw. Konstituenten beziehen kann:16
|| 15 Hierin unterscheidet sich néant von weiteren negationsausdrückenden Formen wie rien, aucun, personne, die keine inhärente negative Bedeutung hatten und zunächst durch ne begleitet wurden (cf. zu positiver versus negativer Polarität Larrivée/Ingham 2012, 100s.). 16 Für viele weitere (aus lat. Übersetzungen stammende) Beispiele cf. Queffélec (2000, 21ss.). Auch im Alexis (d.h. im ältesten Dokument, in dem néant belegt ist) finden wir ein solches Beispiel: «Soventes feiz les veit grant duel mener e de lour uelz molt tendrement plorer, trestot por lui, onques neient por el» (La vie de Saint Alexis, vv. 241–243, p. 21 der Chrestomathie von Bartsch).
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(6)
et balaam li conmenca a parler de deu et de und Barlaam ihm fing an zu sprechen von Gott und von sa creance […] et conmant il fist totes choses veaubles sein Glaube und wie er machte alle Dinge sichtbare et neant veaubles. und nicht-NEG sichtbare ‘und Barlaam fing an, zu ihm von Gott und seinem Glauben zu sprechen […] und wie dieser alle sichtbaren und nicht-sichtbaren Dinge schuf’ (L’histoire de Barlaam et Josaphat, 29,1–102, 43).
3.1.3 Adverbiale Weiter findet man neant in adverbialem (und seltener adjektivischem) Gebrauch in besonderen präpositionalen Ausdrücken (insb. mit à), die den Phraseologismen nahe stehen, wie in (7): (7)
mes or voi ge bien que tote m esperance est aber nun sehe ich gut dass alle meine Hoffnung ist tornee a neant. gewendet zu nichts-ADV ‘aber nun sehe ich gut, dass meine ganze Hoffnung zu nichts geworden ist’ (L’histoire de Barlaam et Josaphat, 29,1–102, 43).
3.2 Form und Funktionen von néant im Neufranzösischen Im Neufranzösischen ist die für das Altfranzösische beschriebene Polyfunktionalität der Form néant so nicht mehr gegeben; wie radikal sich die funktionalen Distributionsverhältnisse geändert haben, zeigen die folgenden Abschnitte.
3.2.1 Substantiv Néant wird im Neufranzösischen hauptsächlich als Substantiv gebraucht, wie in Beispiel (8) zu sehen ist, in dem es von einem Artikel und einem Adjektiv begleitet wird, die als seine Determinanten fungieren:
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(8)
J’ étais d’autant plus irritée que, au fond de ich war umso mehr irritiert dass im Grunde von moi-même, à cet instant, je sentais aussi le mir-selbst in dieser Augenblick ich verspürte auch das suprême néant de toutes ces disputes, en höchste nichts-SUBST.DEF von alle diese Dispute in face de la beauté. Angesicht von die Schönheit ‘Ich war umso mehr irritiert, als ich in diesem Augenblick – tief in mir drinnen – auch das höchste Nichts all dieser Dispute verspürte, angesichts der Schönheit’ (Hélène Berr, Journal 1942–1944, 2008, 31, 1942).
In Beispiel (9) erscheint néant sogar – seiner Semantik zum Trotz – im Plural: (9)
Toujours, écrira-t-il dans Le Roman d’un enfant, j’ ai immer schrieb-er in Le Roman d’un enfant ich habe eu horriblement conscience du néant gehabt fürchterlich Bewusstsein von das nichts-SUBST.DEF.SG des néants, de la poussière des poussières. von die nichts-SUBST.DEF.PL von der Staub von die Stäube ‘Immer – wird er in Le Roman d’un enfant schreiben – ist mir das Nichts der Nichtse, der Staub der Stäube fürchterlich bewusst gewesen’ (Twic, Le monde, 2000).
3.2.2 Adverbiale Néant erscheint außerdem noch in adverbialem Gebrauch, insbesondere in Phraseologismen (hauptsächlich in réduire à néant ‘zunichte machen’ und chose de néant ‘nichtiges Ding’) wie im Beispiel (10) sowie in einigen seltenen Formulierungen der Beamtensprache, die Relikte aus seiner indefinit-pronominalen Vergangenheit darstellen, wie in (11): (10)
La vente à la porte, si active der Verkauf an die Tür so lebendig est réduite à néant. ist reduziert zu nichts
en cette saison, in diese Jahreszeit
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 235
(11)
‘Die Hausiererei, die in dieser Jahreszeit so lebendig ist, ist auf nichts reduziert’ (Auroy Berthe, Jours de guerre: Ma vie sous l’Occupation, 2008, 303). Signes particuliers: néant. Merkmale besondere nichts-ADV ‘Besondere Merkmale: Keine’.
3.3 Néant in der Geschichte: ein erster Vergleich Die folgende Tab. 1 bietet eine synoptische Darstellung der Funktionen von néant im Alt- und Neufranzösischen: Tab. 1: Funktionen von néant im Alt- und Neufranzösischen
Funktionen
Altfranzösisch
Neufranzösisch
pronominal
neant
rien
Negation
(ne) neant
pas du tout, non, pas, non … pas
Adverbial
neant
néant (phraseol.)
substantivisch
Ø (ab 1363)
(le) néant
Zwei Aspekte sind hier auffällig: Der erste ist das späte Entstehen von néant als Substantiv. Denn obwohl neant in historischen Grammatiken und Wörterbüchern gewöhnlich auch als Substantiv aufgeführt wird, konnte in meinen Daten der altfranzösischen Epoche keine eindeutige – d.h. syntaktische – Evidenz einer Okkurrenz von neant als echtes Substantiv identifiziert werden.17 Bis auf diese Beispiele, in denen neant als Indefinitpronomen tatsächlich eine dem Substantiv nahe Verwendung zugeschrieben werden kann, konnte die Form nicht im Zusammenhang mit einem der möglichen Determinanten eines Substantivs nachgewiesen werden: weder mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel, noch mit Possessiva oder mit Demonstrativa, noch im Plural (was aber natürlich auch schon semantisch schwierig ist, wenngleich wir für das Neufranzösische einen Beleg gesehen haben). In historischen Grammatiken und Wörterbüchern wird nicht
|| 17 Auch Völkers (2009) Analyse bestätigt meine Daten, wie auch die von Larrivée/Ingham (2012), die bei Belegen, welche eine pronominale Verwendung zeigen, von «determinerless nouns» (Larrivée/Ingham 2012, 101) sprechen; diese entsprechen den oben genannten Beispielen (1)–(4).
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eindeutig beschrieben, dass neant weder alle ihm dort zugeschriebenen Funktionen gleich häufig, noch alle gleichzeitig erfüllte. Der zweite auffällige Aspekt ist das Verschwinden von néant als Pronomen und als Negationsträger. Denn in den für das Altfranzösische prototypischen Funktionen als Indefinitpronomen und Negationsträger (Satz- und Konstituentennegation) existiert néant im Neufranzösischen nicht mehr. Dort werden solche Funktionen durch rien und (ne ...) pas, (ne ...) pas du tout und non, pas, non pas ausgedrückt, wie die Beispiele (12)–(16) zeigen: (12)
Non, je ne regrette rien. nein ich NEG bereue nichts-PRON.INDEF ‘Nein, ich bereue nichts’.
(13)
Je ne le regrette pas. ich NEG es bereue nicht-NEG ‘Ich bereue es nicht’.
(14)
Je ne le regrette pas du tout. ich NEG es bereue überhaupt nicht-NEG ‘Ich bereue es überhaupt nicht’.
(15)
Les amis visibles et non/pas/non pas visibles. die Freunde sichtbare und nicht-NEG sichtbare ‘Die sichtbaren und nicht sichtbaren Freunde [in facebook]’.
(16)
C’ est pour toi, pas/non pas pour les autres. dies ist für dich nicht-NEG für die anderen ‘Es ist für Dich, nicht für die anderen’.
Betrachtet man diese einander entgegen gerichteten Entwicklungen, entsteht beim ersten Hinsehen der Eindruck, dass eine grammatikalisierte Einheit (eine Lexie, ein ehemaliges Substantiv wie gens, das an Autonomie und Lexikalität verloren hatte und grammatikalischer geworden war) wieder an Lexikalität gewinnt (aus néant entsteht le néant, also wieder ein Substantiv) und an Grammatikalität verliert (néant ist kein Negationsträger mehr). Es entsteht also der Eindruck unterschiedlicher Richtungen der Bewegung auf dem Kontinuum zwischen Lexikon und Grammatik. Bei näherer Betrachtung drängen sich jedoch einige weitere Fragen auf: Wann hat dieser Wandel stattgefunden – und wie genau? Handelt es sich dabei
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 237
um eine (oder um mehrere) funktionale Verschiebungen? Sind das Entstehen von néant als Substantiv und sein Verschwinden als Pronomen und Negationsträger miteinander verbunden? Und wie sind diese Prozesse schließlich verbunden, wenn dies der Fall ist? Das heißt: Welche Dynamiken, welche Typen des Sprachwandels sind dahinter verborgen? Diese Fragen stellen unweigerlich auch die Unidirektionalität von Grammatikalisierungsprozessen in Frage. Um diesen nachzugehen, scheint gerade eine qualitative Interpretation des Materials, das die neuen elektronischen Datensammlungen zur Verfügung stellen, besonders hilfreich.
4 Néant in den Korpora Für die durchgeführte Recherche der altfranzösischen Daten dienten das Nouveau Corpus d’Amsterdam als Basis, das die größte elektronische Sammlung seiner Art für das Französische darstellt, sowie das noch nicht frei zugängliche von Sophie Prévost und Achim Stein annotierte Korpus Syntactic Reference Corpus of Medieval French (SRCMF).18 Die mittelfranzösischen Daten stammen aus dem Frantext Moyen Français und die Daten für die späteren Epochen aus dem Frantext.19 Die Analyse stellt vermutlich die bislang ausführlichste korpusbasierte Recherche zu néant dar; es ist jedoch hervorzuheben, dass es sich in erster Linie um eine qualitative Recherche handelt, die durch quantitative Erkenntnisse ergänzt wird. Angestrebt ist hier die Rekonstruktion der funktionalen Entwicklungstendenz von néant und es können statistisch nur bedingt aussagekräftige Resultate erreicht werden, da für eine höhere Präzision noch größere Mengen von Daten notwendig wären. Die Daten wurden einzeln manuell ausgewertet, in der Überzeugung, dass nur dann eine vollständige und korrekte Interpretation möglich
|| 18 Sehr interessant wäre ein Vergleich dieser Daten mit denjenigen von Völker (2009) und Larrivée/Ingham (2012), die sich mit Texten aus anderen Diskurstraditionen beschäftigen. 19 Auf eine genauere Vorstellung der verwendeten Korpora wird hier verzichtet. Hier seien nur folgende Daten hinzugefügt [Stand: 07.01.2013]: Nouveau Corpus d’Amsterdam (NCA): über 3 Millionen Wörter aus ca. 300 Manuskripten von etwa Mitte des 11. bis Ende des 14. Jahrhunderts (v.a. literarische Texte zu religiösen und epischen Themen); Syntactic Reference Corpus of Medieval French (SRCMF): u.a. ältere Dokumente, ca. 10 Texte zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert; Frantext Moyen Français: fast 7 Millionen Wörter, 242 Texte zwischen 1350 und 1500 (indirekt über Frantext zugänglich); Frantext: über 250 Millionen Wörter aus mehr als 4000 literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen und technischen Texten zwischen 1180 und 2009.
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ist, wenn neben einer Analyse des sprachlichen Kontextes auch Entstehungskontext, Textsorte und Diskurstradition berücksichtigt werden.20 Es galt nun herauszufinden, welche grammatikalischen Funktionen néant im Laufe seiner Geschichte übernommen hat, in welchem Maße und wann dies passiert ist, immer in Hinblick auf die oben angedeuteten problematischen Fragen. Tab. 2 enthält eine differenzierte Darstellung der Daten, der absoluten Zahlen aller Suchergebnisse für die Form néant (und ihre Varianten) vom Altfranzösischen bis heute: Die erste Suchanfrage betraf zunächst einmal die absoluten Okkurrenzen der Form und ihrer Varianten: Die zwei Hauptgruppen fassen die von néant übernommenen Funktionen im Begriffspaar substantivisch versus nicht-substantivisch vereinfachend zusammen (letzteres schließt alle drei Funktionen als negatives Indefinitpronomen, Negation verschiedener Art und als Adverbiale in einigen Phraseologismen ein). Da in der großen Mehrheit der Fälle Substantive durch ihre Determinanten begleitet werden, war eine der ersten Restriktionen, néant in Begleitung von Determinanten zu suchen: von bestimmten und unbestimmten Artikeln le (bzw. li und le im Altfranzösischen, da in diesem Sprachzustand noch zwei Kasus – rectus und obliquus – unterschieden werden können) und un, Possessiva und Demonstrativa (insbesondere de, à und pour bzw. del und später du sowie al und später au) sowie einigen Adverbialen. Der nicht-substantivischen Verwendung wurden folglich die Treffer zugeordnet, die ohne Determinanten erscheinen, und dabei wurde selbstverständlich der Kombination mit ne besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
|| 20 Zu den Diskurstraditionen im Allgemeinen und ihrer Unterscheidung von ähnlichen Konzepten cf. u.v.a. Aschenberg/Wilhelm (2003); Kabatek (2007; 2011); Koch (1987; 1997); Oesterreicher (1988; 1997); Schlieben-Lange (1983) und Wilhelm (2001).
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 239
Tab. 2: Néant in den Korpora Korpus21
NCA/FTX
Epoche
Afrz.
Anzahl
MFTX
FTX
FTX
FTX
FTX
FTX
FTX ab 2000
1330–
1501–
1600–
1700–
1800–
1900–
1500
1599
1699
1799
1899
1999
3.345.686
6.903.993
5.897.220
21.840.540
35.396.617
71.306.804
106.723.759
6.640.662
1329
684
219
671
799
2282
3199
155
Wörter des Korpus Anzahl Treffer der Form substantivische Verwendung li/le
0
0
8
96
258
767
955
43
uns/un/
0
10
2
55
42
64
150
7
ce
0
0
2
16
13
66
108
4
son
0
0
0
19
20
47
97
1
leur
0
0
0
9
7
18
21
0
al/au
0
83
3
41
54
194
274
7
del/du
0
0
0
89
214
423
633
41
pour/por/ 0
0
0
0
0
7
5
0
0
0
6
3
3
8
1
ung
pur le comme le 0
nicht-substantivische Verwendung à/a
55
43
52
15
7
76
109
10
de
87
64
27
63
38
79
183
5
177
74
55
0
1
2
0
pour/por/ 191 pur comme
0
3
0
0
0
2
7
0
ne/n’…
369
99
9
0
0
0
0
0
|| 21 NCA: Nouveau Corpus d’Amsterdam; MFTX: Frantext Moyen Français; FTX: Frantext.
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In den folgenden Diagrammen ist die Entwicklung des funktionalen Bereichs von néant im zeitlichen Verlauf dargestellt:
Trefferzahl néant/Million Wörter 250 200 150 100 50
subst. nicht-subst.
0
Abb. 2: Absolute Häufigkeit von néant in den Korpora
Zunächst einmal wird offensichtlich, wie sich die absolute Häufigkeit der Verwendung im Laufe der Zeit geändert hat: In Abb. 2 ist die Okkurrenz von néant in Relation zur Gesamtwortzahl in der jeweiligen Epoche im Korpus gesetzt (in Okkurrenzen pro eine Million Wörter). Hier zeigt sich deutlich, dass die Okkurrenz von néant insgesamt ganz erheblich abgenommen hat, aber auch, dass die Rolle, die das nicht-substantivische néant im Altfranzösischen gespielt hat, weitaus größer war als diejenige in substantivischer Verwendung heute. Néant – das wurde angedeutet – wird heute hauptsächlich als Substantiv verwendet (le néant), insgesamt aber nur in wenigen, vorwiegend theologischen und philosophischen Kontexten. In Abb. 3 werden zur Verdeutlichung die Okkurrenzen von néant in substantivischen und nicht-substantivischen Funktionen jeweils zur absoluten Trefferzahl der Form in Beziehung gesetzt (zusammen ergibt sich daher jeweils die Summe von 100%). Hier wird noch deutlicher, dass die nicht-substantivische Verwendung von néant in der altfranzösischen Epoche die einzige war:
Qu’est-ce que «le néant»? Grammatikalische Kategorien im Wandel | 241
Verteilung néant subst. vs. nicht subst. 100% 80% 60%
subst.
40% 20%
nicht-subst.
0%
Abb. 3: Verteilung von néant (substantivisch/nicht-substantivisch)
Wenn wir in eine detailliertere Analyse der Daten einsteigen, können wir die Chronologie der langsamen Entstehung von néant als Substantiv im Mittelfranzösischen nachzeichnen, also von le néant.22 Dabei ist eine eingehendere Analyse der altfranzösischen Belege sehr wichtig, denn gerade diese legen einen wahrscheinlichen Kontext seiner Entstehung nahe: die vielen der Schöpfung gewidmeten Passagen (religiöser Texte), wie diejenigen im hier nochmals aufgeführten Beispiel (2), in denen wir eben néant in einer – dem Substantiv sehr nahen – Verwendung als negatives Indefinitpronomen vorfinden:23 (17)
«et de ce ne douter mie que cil qui de neant fist le cors le porrai bien refere» (L’histoire de Barlaam et Josaphat, 29,1–102, 43).
In der mittelfranzösischen Epoche (ca. 1350–1500) ist auch der gleichzeitige Rückgang der Funktion von néant als negatives Indefinitpronomen und als Negationsträger zu sehen, der aber nicht mit dem Entstehen der (dann sehr begrenzt einsetzbaren und eingesetzten) substantivischen Verwendung zusammenzuhängen scheint, sondern eher durch die Konkurrenz von rien24 begünstigt, wenn nicht sogar verursacht wurde.
|| 22 Der erste nominale Beleg von néant stammt aus einem 1363 datierten anonymen Text: «En moy ay touz jours se remors / Que vivre ne puis sans viellesce, / Dont je suis moult esbahiz qu’est ce / De vie d’omme: c’est un nient, / Car com plus vit plus viex devient, / Plus vit et plus pert senz et force / Et plus la mort sur lui s’efforce» (Miracle de Barlaam et Josaphat, ca. 1363, 262). 23 Wie oben angedeutet stützen auch Daten aus dem Italienischen diese Hypothese. 24 Zu rien cf. Marchello-Nizia (2009, 113).
242 | Sarah Dessì Schmid
Schließlich ist der fast vollständige Schwund dieser nicht substantivischen Verwendung ab dem 17.–18. Jahrhundert zu beobachten: Ab dieser Epoche beschränkt sich diese nämlich auf Phraseologismen wie réduire à néant und chose de néant.25 Auch hier zeigt eine genauere Betrachtung der Belege interessante Resultate: Gerade diese Verwendung von néant in adverbialem Gebrauch bei Phraseologismen scheint die einzige zu sein, die in den Jahrhunderten mehr oder weniger konstant bleibt.26 Die Daten erlauben auch aus der Perspektive der Sprachgeschichte noch eine interessante Anmerkung: Auch hier spiegelt sich wider, dass das Mittelfranzösische eine Epoche der Umstrukturierung war. Eine Frage bleibt hier jedoch noch offen: Wenn es bei der Entstehung von néant aus *negent[e] möglich und sinnvoll ist, von einem Grammatikalisierungsprozess zu sprechen, wie sollen der bei néant beobachtete Gewinn an Lexikalität – denn néant ist wieder ein Substantiv – und sein Verlust an Grammatikalität – néant ist kein Pronomen und auch keine (verstärkte) Negation mehr – interpretiert werden? Dieser Frage wird nun im fünften und letzten Teil des Beitrags nachgegangen: Widerspricht die Entwicklung von néant dem Prinzip der Unidirektionalität?
5 Zur Unidirektionalität der Grammatikalisierung: Was ist «le néant»? Oben wurde Grammatikalisierung als ein unidirektionaler und unumkehrbarer Sprachwandelprozess beschrieben, der den graduellen Autonomieverlust sprachlicher Einheiten umfasst. Bei einigen Autoren stellt diese eine definitorische, bei anderen eine empirisch gewonnene Eigenschaft dar, wobei die empirischen Ergebnisse natürlich wiederum von den gewählten Kriterien abhängen.27 Wenn man sich hier fragt, ob eine grammatikalisierte Form wieder an Grammatikalität verlieren kann, ist es also wichtig zu betonen, dass es sich dabei ebenso wie bei der Grammatikalisierung um Teilschritte auf dem beschriebenen
|| 25 Die genauen Zahlen sind aus der Tab. 2 ersichtlich. 26 Das ungewöhnlich hohe Auftreten von al/au in der Zeit von 1335 bis 1550 ist dadurch zu erklären, dass der Ausdruck mettre au neant in zwei Texten ganz besonders häufig verwendet wird, im Journal von Nicolas de Baye (1400–1410) und im Journal von Clement de Fauquembergue (1417–1420). 27 Cf. dazu Prévost (2003).
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cline of grammaticality handeln kann. Es geht hier nicht um die Frage, ob komplexere Grammatikalisierungsprozesse vollständig reversibel sind, ob grammatikalisierte Einheiten alle Schritte des Prozesses, den sie – auf jeder sprachlichen Ebene – durchlaufen haben, wieder rückwärts durchlaufen können, denn dies wäre höchst unwahrscheinlich (cf. Norde 2009, 112 gegenüber Lehmann 1995 (1982); 2002). Die Umkehrung der Grammatikalisierung wird unter anderem mit dem Begriff der Degrammatikalisierung bezeichnet. Diese wird unterschiedlich definiert und mit unterschiedlichen Eigenschaften versehen, was ihre Diskussion sehr erschwert.28 Verdeutlicht wird dies durch die Gegenüberstellung der Positionen von Lehmann, Ramat und Norde: Nach Lehmann (1995 (1982), 16) ist es unmöglich,29 dass Grammatikalisierung ein reversibler Prozess ist, dass also Phänomene existieren, die eine Umkehrung des cline of grammaticality darstellen:30 «No cogent examples of degrammaticalization have been found» (Lehmann 1995 (1982), 19). Dem widersetzt sich vehement Ramat (1992) und nennt zahlreiche Beispiele als Beweis einer Umkehrung dieser unidirektional angenommenen Bewegung des Wandels. Dass er diese Beispiele – wie nfrz. bus (< lat. omnibus), nfrz. les ismes (< -isme) – gegen die These der Unidirektionalität anführen kann – und auch néant wäre in diesem Bild sicherlich ein guter Kandidat –, hängt jedoch mit der Tatsache zusammen, dass für ihn Degrammatikalisierung auch Lexikalisierung umfasst: «[...] or more exactly: degrammaticalization processes may lead to new lexemes» (Ramat 1992, 550). Es handelt sich hier um Beispiele, die andere Gegner der Unidirektionalität des Übergangs zwischen Lexikon und Grammatik nicht akzeptieren (z.B. Newmeyer 1998; van der Auwera 2002 und Norde 2009), da diese Degrammatikalisierung strenger von Lexikalisierung unterscheiden. Unter Lexikalisierung werden nämlich im Allgemeinen alle Prozesse des Sprachwandels aufgefasst, die zur Entstehung von neuen lexikalischen Einheiten führen, auch solche Prozesse, die keine Direktionalität aufweisen. Norde (2009) legt – als engagierte Verteidigerin des Begriffs der Degrammatikalisierung – großen Wert darauf, eine scharfe Grenze zwischen Lexikalisierung und Degrammatikalisierung zu ziehen: Sie definiert letztere als einen Prozess,
|| 28 Die Relevanz von Degrammatikalisierungsphänomenen wurde in Anbetracht der geringen Zahl von Fällen angezweifelt (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991). 29 Allerdings ist seine Position dazu in den letzten Jahren weniger radikal geworden, cf. Lehmann (2002). 30 Zum Problem der «lateral shifts» cf. Norde (2009, 61s.).
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der einer gegenläufigen Bewegung auf diesem cline of grammaticality folgt – sei es auch nur einen einzigen Schritt – und zwar unter den Bedingungen der Kontext-Gebundenheit und der Gradualität. Ramats Fälle seien Resultat eines Wandels, dem diese zwei für sie wichtigen Charakteristiken fehlen.31 Wie eng man die Degrammatikalisierung auch immer definiert, es ist erkennbar, dass aus sprachlichem Material auf allen Stufen des cline of grammaticality ein neues Lexem gebildet werden kann, dass also Abzweigungen von Stadien des cline in Richtung Lexikon möglich sind. Diese Art der Entstehung von Lexemen stellt aber auch meiner Meinung nach orthogonale und nicht gegenläufige Bewegungen auf dem cline selbst dar. Wichtiger als über die Frage zu debattieren, ob es Gegenbeispiele gegen die Unidirektionalität der Grammatikalisierung gibt, wäre es meines Erachtens daher, das Augenmerk auf die sehr verschiedenen Prozesse und Phänomene zu legen, die unter dem Etikett «Degrammatikalisierung» gefasst werden. Ich möchte daher versuchen, die hier betrachteten Prozesse als unterschiedliche Typen zu beschreiben und einige in der Literatur dargestellte Beispiele und natürlich auch die hier untersuchte Form néant in dieses Raster einzuordnen: a) L > L: Aus lexikalischen Einheiten können weitere lexikalische Einheiten entstehen, die damit keine Veränderung in ihrem Grad an Lexikalität aufweisen: Beispiele dafür sind die Komposition (z.B. tire-bouchon) und die Konversion von einer major class in eine andere major class des Typs: pouvoir > le pouvoir. Es handelt sich um Wortbildungsverfahren, die die Sprecher gewöhnlich zur Verfügung haben, um das Lexikon zu bereichern. Es sind hier jedoch auch Fälle wie omnibus > bus einzuordnen, denn als die Verkürzung (Aphärese) bus gebildet wurde, war omnibus sicherlich schon lexikalisiert (die Grammatik war für die Sprecher nicht mehr erkennbar).32 b) G > L: Aus einer grammatikalischen Einheit, die auch Resultat einer Grammatikalisierung sein kann, können lexikalische Einheiten stammen. Diese
|| 31 «This kind of change is clearly different from degrammaticalization for two reasons: (i) the suffix is taken out of its context to serve as a noun, whereas degrammaticalization is a contextinternal change, and (ii) it is not the reverse of a grammaticalization change, because there is no evidence of nouns becoming a suffix ‹in one bang›» (Norde 2009, 113). Beide (cf. Haspelmath 2004), eines (cf. Prévost 2006) oder keines dieser Argumente Nordes können akzeptiert oder zurückgewiesen werden – abhängig von der Konzeption von Lexikon und Grammatik sowie der weiteren für die Definition von Grammatikalisierung gewählten Eigenschaften. 32 Der – erschlichene – Überraschungseffekt in der Degrammatikalisierungsdiskussion zu diesem Beispiel lag darin, dass das Substantiv nfrz. bus mit dem lateinischen Kasus-Numerus-Suffix -bus in Beziehung gesetzt wurde. Dazwischen liegen aber natürlich viele weitere Schritte.
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erhalten daher einen höheren Grad an Lexikalität, müssen aber nicht notwendigerweise eine Umkehrung des cline darstellen (sie können z.B. plötzlich, punktuell entstehen und aus ihrem Kontext herausgenommen werden). Hier gehört auch néant dazu: Gerade die Entstehung des Substantivs le néant aus dem altfranzösischen Indefinitpronomen neant ist diesem Typ zuzuordnen. Der Sprecher bildet aus dem Fundus seiner Sprache ein neues Wort (er nimmt es aber aus seinem Kontext und verwendet es als Substantiv). Diesem Typ wären auch weitere Konversionen von einer minor class zu einer major class zuzuordnen, wie le plus und le moins.33 c) G > L: Auch aus einem Klitikon können prinzipiell lexikalische Einheiten entstehen, wie es bei der Substantivierung des klitischen Personalpronomens je zu beobachten ist.34 d) G > L: Schließlich kann auch aus einem Affix ein Lexem entstehen: Beispiel dafür ist Ramats -isme. Der Sprecher verwendet in metasprachlichem Gebrauch ein Suffix, das, weil es in einem besonderen Paradigma erscheint, eine lexikalische Bedeutung annimmt, und gebraucht es als Substantiv. Graphisch kann man diese unterschiedlichen Typen zusammenfassend wie in der folgenden Abb. 4 darstellen:
|| 33 Hieran sieht man übrigens auch, dass die Zielkategorie «Substantiv» grundsätzlich immer möglich ist. Man kann im Prinzip alles in substantivischer Form lexikalisieren (sogar z.B. Buchstabennamen: das A!). Auch wenn das Substantiv immer als Zielkategorie möglich ist, ist es nicht die einzige Möglichkeit der Lexikalisierung an dieser Schnittstelle (cf. z.B. anéantir, dessen Verwendungen hier nicht dargestellt werden können). 34 Wenn auch nicht als vollständig konventionalisierte Formen, kann man häufig Beispiele dieser Art finden: «Posséder le Je dans sa représentation: ce pouvoir élève l’homme infiniment audessus de tous les autres êtres vivants sur la terre» (http://www.devoir-de-philosophie.com/ commentaire-kant-je-representation-conscience-3810.html) [letzter Zugriff: 07.01.2013].
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lexikalisches Wort
> grammatikalisches Wort
>
Klitikon
>
Affix
lexikal. Wort
lexikal. Wort
lexikal. Wort
lexikal. Wort
a) L > L
b) G > L
c) G > L
d) G > L
nfrz. tire-bouchon
nfrz. le néant
nfrz. le je
nfrz. les ismes
(< nfrz. tirer, bouchon)
(< afrz. neant)
(< nfrz. je)
(< nfrz. -isme)
nfrz. le pouvoir
nfrz. le plus, le moins
(< nfrz. pouvoir)
(< nfrz. plus, moins)
nfrz. bus (< lat. omnibus) Abb. 4: Typen der Entstehung grammatikalischer Einheiten
Die Entstehung des Substantivs le néant aus dem Indefinitpronomen neant kann also nicht als Gegenbeispiel der Unidirektionalität angesehen werden, sie stellt vielmehr ein Beispiel der Lexikalisierung dar. Dass dann neant als Pronomen und Negationsträger – durch die Konkurrenz von rien – gleichzeitig ausstirbt, ist ein anderer Prozess, der daher auch mit einer Umkehrung des cline nichts zu tun hat, dies zeigt die Datenanalyse deutlich.35 Dass es sich bei néant nicht um ein Beispiel von Degrammatikalisierung handelt, bedeutet jedoch noch nicht, dass es im Französischen unmöglich wäre, Beispiele für einen Wandel zu finden, der das Resultat einer Bewegung von rechts nach links auf dem cline of grammaticality darstellt.36 Die Analyse von néant und der weiteren hier herangezogenen Beispiele hat vielmehr gezeigt, wie komplex sich das Panorama der Wege und Typen
|| 35 Dies bestätigt auch der Vergleich mit dem Italienischen, in dem niente in pronominaler Funktion weiter erhalten bleibt, da es einen entsprechenden Konkurrenten nicht gibt. 36 Bei der Beobachtung der von Marchello-Nizia (2009, 166s.) beschriebenen Entwicklung der lateinischen Präposition trans, aus der im Altfranzösischen tres wurde, ist Vorsicht geboten: Im Altfranzösischen war tres eine Präposition und gebundenes Präfix zum Ausdruck von lokaler Befreiung (lokal ‘über ... hinaus’) und dann – wohl per metaphorischer Verschiebung – von Intensivierung (logisch ‘über ... hinaus’). Diese zweite Bedeutung nahm es nur als Präfix an: tres-
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des Sprachwandels in diesem Bereich gestaltet: Denn einerseits lassen sich tatsächlich – wenn auch in geringer Zahl – Fälle finden,37 die erfordern, mit dem Prinzip der Unidirektionalität vorsichtig umzugehen, andererseits sind auch nicht alle Beispiele von Grammatikalisierung so prototypisch und unumstritten, wie es beispielsweise dasjenige des französischen Futurs ist. Postuliert man das Prinzip der Unidirektionalität – wie es eben zum Teil getan wird – als absolutes Universal, bringt die Existenz von Beispielen der Umkehrung der Richtung des cline of grammaticality für das Prinzip grundsätzliche Probleme mit sich. Sicherlich bedeutet dies aber nicht, dass die Grammatikalisierungstheorie damit samt ihrem Prinzip der Unidirektionalität nicht mehr brauchbar wäre; man könnte und müsste es jedoch einem langsam an Akzeptanz gewinnenden Vorschlag entsprechend – wie dies bei Typologen sehr beliebt ist – als statistisches und nicht als absolutes Universal auffassen (cf. z.B. Hopper/Traugott 2003; Haspelmath 2004; Norde 2009). Bei dieser Untersuchung ist einerseits deutlich geworden, dass es legitim ist und darüber hinaus sehr fruchtbar sein kann, sich mit der Degrammatikalisierungsfrage zu beschäftigen und einen neuen Zugang in der Beschreibung und Typisierung der Prozesse des Übergangs zwischen Lexikon und Grammatik zu verfolgen. Andererseits ist auch evident geworden, wie eine in quantitativer Hinsicht repräsentative Analyse empirischer Daten zu einer adäquaten Beschreibung und Erklärung von untereinander sehr verschiedenen Phänomenen des Wandels in den Sprachen dienen kann. Dies kann sie allerdings nur tun, wenn sie gleichzeitig auch mit einer qualitativen, philologisch orientierten Analyse der Belege einhergeht, die der Beschaffenheit der Texte, aus denen sie stammen, sowie deren Angehörigkeit zu verschiedenen Textsorten und Diskurstraditionen Rechnung trägt: Die verschiedenen Typen des Wandels (der Grammatikalisierung, Lexikalisierung, Degrammatikalisierung, Transkategorisierung usw.) sind eben nur innerhalb der Kontexte zu verstehen, in denen sie entstanden sind.
|| tot, tresbien, tresbatre. Graduell und in Kontextgebundenheit (daraus ist kein Substantiv entstanden) wurde tres ab dem 13. Jahrhundert wieder eine freie Lexie, nämlich ein Adverb zur Steigerung von Adjektiven und Adverbien (dafür bietet Marchello-Nizia 2009, 170s. ein wichtiges morphosyntaktisches Argument, das die Position von tres betrifft: plus très Adj. > très plus Adj.). Damit scheint dieses Beispiel das Resultat eines Wandels up and down the cline zu sein (Fischer/Norde/Perridon 2004). Marchello-Nizia erkennt auch selbst sehr vorsichtig an, dass es sich um einen Degrammatikalisierungsprozess auf Basis der Reanalyse und Rekategorisierung handelt: très (trans > tres- > très) – G > + G > L. 37 Dass solche Typen des Wandels sehr viel weniger häufig vorkommen als andere, reicht nicht aus, um ihre Relevanz anzuzweifeln.
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Index Abstrakta 157 Acadien, Akadisches Französisch 10, 168, 171, 176s. AcI 26, 33 Akademie 59, 62s., 72 Akkusativ 7, 26, 29, 33, 47, 86 Akkusativsubjekt 7, 26 Alemannisch, Dialekte 39 Alfons X., «der Weise» 10 Allomorph 19 Altflorentinisch 17, 25s., 29 ,32 Altfranzösisch 2, 11, 17, 40, 52, 65, 174, 227s., 230, 233, 235–238, 240s., 245s. Altitalienisch 7, 15, 24, 29, 33 Altokzitanisch 7, 15, 17–19, 21s. Altromanisch 7, 16, 31 Altspanisch 10, 33, 121s., 128s., 135, 138s., 189, 192, 194, 208–212, 218 anaphorisch 151s. Analyse 1, 4–9, 11, 18, 25s., 31s., 39s., 43, 51–54, 56, 59–61, 63–65, 67, 69, 71, 88, 93, 104, 112s., 121s., 128, 130, 137, 139, 145s., 150, 188s., 191–193, 195s., 199, 201s., 225s., 235, 237s., 241, 246s. Andrade, Mario de 10, 143, 146, 147 Anglonormannisch 165, 225 Anredeform 113, 158 Appendix Probi 52 Arabisch 17–19, 21s., 24 Arten, Klassen oder Typen 145 Artikel 5, 9s., 13, 15s., 28, 49, 51, 66, 71, 75s., 81s., 85–88, 104s., 113, 118, 122, 125, 130–133, 136, 139, 144s., 147–149, 151s., 156, 158, 160, 189, 201, 233, 235, 238 Aspekt 207, 209–211, 215, 217s., 220s. Assimilation 54, 151–153, 177 Aufbereitung der Daten 8, 40 Augmentativ 20 bare noun 143 Bédier (Editionsmethode) 41 belebt, unbelebt 21, 151, 153, 211s. Belgien 168, 172, 177
Berti, Michele 95 Bewegung 7, 27, 29–31, 65, 99s., 229, 236, 243s., 246 Bibel 195s., 201 Brasilianisches Portugiesisch 10, 143, 144– 148, 152–160 bridging context 210 cadien 168 Chronologie, absolute 10, 189, 191, 196, 201, 202 Cordel–Literatur 158 Datenbank 5s., 12 Datierung, absolute 188 Degrammatikalisierung 11, 243s., 246s. definit 130, 133, 144s., 151–156, 160 Derivat 20, 23s. Derivationsbasis 20 Derivationsbildung 19, 21 Determinierer 10, 149 determiniererlos 143–145, 149, 151s., 154s., 157s., 160 diachron 6, 11, 34, 54, 100, 113, 143, 149, 159s., 163s., 171, 173s., 187–190, 193, 205s., 208, 213, 221s., 228 diastratisch 42, 164, 168, 172, 180, 220 Diasystem 48, 56, 175 diatopisch 48, 163, 164, 166, 207 Diffusion 187, 191 Diglossie 177 diplomatisch 9, 41 Digitalisierung 9, 113 Diskurs 1, 6, 31s., 62, 112–114, 153 Diskurstradition 7s., 29, 33s., 187, 189–191, 193, 196s., 201, 206, 213, 222, 237s., 247 Distanzsprachlichkeit 44s., 213 Dolce, Lodovico 82 Du Bois de Gomicourt 104, 113 Durantes, Pietro 94 E–Language 53 École de Rome 5
254 | Index École nationale des Chartes 41 Edition 1s., 5–9, 17s., 22, 24, 28s., 33s., 41– 43, 59, 71s., 80, 95, 97s., 101, 113s., 122, 146–148, 192s., 197 Editionsphilologie 7, 16s., 33s. Eigenname 144, 158 Emendation, emendatio 5, 15 empirische Grundlage 143, 154 entrenchment 199 episodisches Prädikat 145, 149, 151, 154, 155 Etymologie 3, 76, 79, 88, 226s. Etymon 16 expressiver Sprechakt 150 Fachgeschichte 2 Fachtradition 1 falloir 55 Fabre 113 Fokus 31 Forclusif 42 français parlé 175 français populaire 175, 177s. frz. néant 11, 225–247 französisch 5, 7, 10, 17, 39, 42, 46, 49, 50– 55, 60, 62–64, 68–70, 78, 93–113, 118, 122, 124, 126, 129, 163–168, 171–180, 199, 206, 213, 218, 225, 227, 230, 233, 235–237, 246s. Fremdsprachenunterricht 78, 95 Frequenz 122, 143, 154, 188s., 194, 199–201 Funktionswörter 10, 66, 121, 127s., 133, 135, 139 Galicisch 24, 27 Gebrauchsgrammatik 9, 93s., 96, 105, 113 Gebrauchstext 9, 33, 96 Generizität 145, 154 Gesprächsbuch 106, 113 Giuffredi, Argisto 97 Glossar 17, 83, 104, 106, 118 Grammaires des Dames 94 Gramática castellana 75, 78 Gramática de la lengua castellana 75, 77, 218 Gramática de la lengua vulgar de España 78 Grammatik 1–11, 17, 26, 29, 32, 34, 39, 45, 59, 65, 78–84, 86–89, 93–99, 101–106,
109s., 112s., 118, 133, 143–146, 166, 168, 171, 188, 199, 205s., 208, 215, 217, 219, 221s., 227, 228, 235s., 243s., 247 Grammatikalisierung 11, 156, 187, 205, 207, 210s., 215, 217, 219, 227–229, 237, 242– 244, 247 Grammatikalitätsurteil 1, 56 Grammatikographie 7s., 76, 87, 93s., 181 Graphie 16s., 19, 40, 42, 48s., 54, 56, 118, 122, 139 haber 10, 187, 189–197, 199–202, 206, 208s., 211s., 217 Handschrift 34, 41, 50, 62, 98 hapax legomenon 16 Hebräisch 15, 17–19, 21s., 86, 195 Hilfsverb 127s., 134, 188–192, 194, 196, 198–202, 210s., 213 historiographische Texte 190, 191, 194, 196 idiomatischer Ausdruck 151 Ile–de–France 110, 163, 175, 177s. Indefinitpronomen 11, 136, 145, 227, 230s., 235s. 238, 241, 245s. Infinitiv 7, 26–28, 31s., 49s., 52, 174 Infinitivsubjekt 17, 24s., 27, 29–31, 33 Informationsstruktur 29, 31s., 34, 67 Innovation 75, 146, 156, 159s., 187, 213, 218 Interferenzeffekte 55 intransitive Verben 212 Introducciones latinas contrapuesto el romance al latín 77 introspektiv 154s. Istoria Fiorentina 7, 24s., 27 Italia Spagnola 76, 80s., 87, 89 Italienisch 25s., 39, 70, 78, 80–82, 93–97, 101s., 105s., 108–112, 118, 126–128, 206, 226s., 241, 246 Iterativ 214–217, 220 Journal d’Héroard 45 Kanada 6, 168 kartographisch 31 Kasus 27, 30, 33, 75s., 86–88, 238, 244 Kategorie 9, 11, 24, 66, 75, 84–88, 98, 104, 113, 123–125, 127, 129, 131, 137, 139,
Index | 255
153, 205, 208, 212, 217–219, 221, 225, 245 Klitikum, Klitikon, Klitika 31, 49, 50, 55, 121– 123, 127–130, 133–139, 229, 245s. klitisch 10, 53, 55, 122, 124s., 127s., 130– 135, 137, 139, 245 Kollektiva 20, 24 Kollektivbildung 20 Kompetenz 1, 4, 12, 43, 48, 51, 54, 56, 63– 65, 87, 94, 106, 110, 188 Konservierungseffekt 199 Kontext 1s., 8–12, 17, 31, 45, 47–49, 67, 93s., 96, 107s., 112, 127–130, 132, 137, 139, 151–153, 158, 169, 173, 176, 189s., 195, 199, 201s., 205, 207, 210s., 213, 215, 221s., 231, 238, 240s., 244s., 247 Konjektur 5, 7, 15 Konzeptualisierung 61, 65, 67 konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit 11, 56, 189, 197, 202, 212 Kopist 16, 46, 53, 56, 192 Korpus 7, 11, 39–41, 50, 53–56, 96, 127, 148, 154, 171, 193, 195, 197–202, 225, 230, 237, 239, 240 Korruptele 15, 18 kritischer Apparat 18, 21, 41s. La Queste del Saint Graal 52s. Lachmannsche Methode 41 Langue d’oil 166s., 179 Lateinisch 3, 9, 18s., 33, 65, 75, 77s., 84– 88, 96–98, 102, 195, 205s., 210–212, 217–221, 225s., 244, 246 Lelong, I. M. 104, 113 Lerngrammatik 9, 75s., 78–82, 87–89 Lexikalisierung 11, 217, 220, 222, 243, 245s. Linksbewegung 7 Linksversetzung 31 Literaturwissenschaft 3s., 8, 17, 33s. Lonchamps, Giovanni Alessandro 95, 113 Longo, Giacomo 98s. Louisiana 168 Löwener Grammatik 76, 79, 81 Ludwig XIV. 100
Manuskript 5, 8, 16, 18, 21, 23, 28s., 41s., 46, 53, 59–65, 67, 71s., 113, 122, 130, 147, 192s., 197, 201, 237 Massennomina 20 Medizinterminologie 15 medizinisch–botanisch 7, 17 Messina 93, 95, 97–101, 103, 106, 108–110, 113, 118, 120 metakommunikativ 47 Mittelalter 3, 6s., 10, 15–17, 24, 27, 29, 33s., 40, 42s., 45s., 49, 51, 55, 75, 77, 80, 121, 156, 196, 211 Mittelfranzösisch 46, 174, 225, 237, 241s. minimalistisch 27 Miranda, Giovani 76, 79, 81–88 Modell 31, 46, 49, 77–79, 88, 96, 127, 129, 135, 145, 154, 196, 217 Modernisierung 192 modifiziertes Nomen 157 Modus 210, 221 Morphologie 7, 15, 24, 75, 79, 81, 96 morphosyntaktische Wandelprozesse 75 Mündlichkeit 11, 43s., 49, 65, 143, 159, 189, 197, 202, 212 multilingual 48 Nähesprachlichkeit 44s., 56, 155, 166, 168s., 175s. Nebrija, Antonio de 75–79, 82, 85–88, 218s. Negation 42, 128, 135, 151, 225s., 230, 232, 235–238, 241s., 246 Negationspartikel ne 42 Neutrum 75s., 85–87, 226 Neutrum–Schwund 75 New Philology 8, 11s., 34 Nominalphrase 10, 125s., 143, 148s., 155, 159s. Nominativ 24–26, 28, 33, 47, 86 Nominativsubjekt 7, 25, 29, 33 Norm 9, 42, 46, 49, 54, 56, 62–64, 71, 77, 122, 166, 179s., 213 Nullsubjektsprache 52 Numerus 84, 104, 164s., 172–176, 244 Nvova Grammatica Francese et Italiana 93, 118–120
256 | Index Objekt 21, 23, 29, 31, 49s., 55, 67, 69, 75s., 95, 122, 124s., 130s., 134, 136. 139, 215, 230, 232 okkasionelles Wort 16 Okzitanisch 7, 15, 17–19, 21s., 24 optionale Bewegung 7, 29s. Optionalität 30 Orthographie 40s., 47, 49, 54, 63s., 79–81, 83, 88, 146, 148 Osservationi della lingua castigliana 76, 82 Osservationi nella volgar lingua 82 Palsgrave, John 94 Paragone della lingua Toscana et Castigliana 76, 79, 81 Paris, Roberto 9, 93–95, 99, 101, 109 Part–of–Speech–Tagging 42 patois 166, 179 perfecto compuesto (PC) 206, 219 Perles y Campos, Josef Faustino 111 present perfect 214 pretérito perfeito composto (PPC) 213 Perfekt 11, 145, 205–215, 217–222 Perfektivität 209 Performanz 1, 12, 43, 51, 53, 56 periphrastischen Perfekt (PP) 11, 205, 211, 213, 217–221 Person 10, 54, 163–165, 169, 172–176, 180, 211 Perzeptionsverb 210 Philologie 1–8, 11, 13, 33, 40s., 56, 59, 112, 143, 159, 202, 205s., 208, 221s. Philologentag 3 Philologenverband 2s. phonetisch–phonologischer Prozess 153 phonologische Phrasierung 10, 121s., 129, 131, 139 Phoneminventar 16 Phonologie 10, 121s. Pikardie 166 Portugiesisch 10s., 25, 27, 205s., 211, 213, 215, 217, 219–222 Pragmatik 34, 188 Präsensperfekt 212, 220 Produktionsumstände 40 produktiv 16, 39, 131, 151, 156, 187, 201
Pronomen 7, 10s., 49, 53, 55, 68, 81s., 104, 111, 113, 118, 122–125, 127–131, 133–137, 139, 144, 164, 167, 172–176, 225–227, 230s., 234–238, 241s., 245s. Prosodie 10, 76, 79, 81, 83, 88, 121s., 127– 129, 131–133, 139, 144 prosodisches Wort 121, 123s., 127s., 131, 136s. Qualität 2, 12, 40, 71, 76, 97, 99, 108s., 152, 197 quantitative Analyse 11, 49, 53, 56, 70, 187s., 190, 192s., 195, 201, 209, 237, 247 Rätoromanisch 3, 39, 206 Reanalyse 210, 222, 247 Reduktion der Kasusmorphologie 75 referentiell 144, 158 Rekonstruktion 12, 34, 67, 113, 143, 237 Rekontextualisierung 1, 8s., 12, 112 Rekursion 32, 127 Relative Chronologie 188, 190s., 195s. Relevanzhypothese 211 Restrukturierung 10, 122, 126, 130s., 136– 138 resultativ 207, 209–213, 215, 220 Resultativum 209 Rezeption 9, 33, 113 Schnittstelle 1s., 5–7, 11, 205, 208, 245 Schreibung 49, 110, 121s., 129–132, 134– 136, 139 Schriftlichkeit 11, 43s., 49, 189, 197, 202, 212s. scriptae 16, 49 Segmentierung 18s., 129 Semantik 11, 23, 34, 145, 160, 205s., 212s., 215, 217–219, 221, 234 ser 10, 189–197, 199, 202, 208s., 212 Sizlianisch 9, 93s., 96, 98, 100s., 108, 110, 112 SMS 6s., 39–43, 45–50, 53–56 Sms4science.ch 39, 41 Sonden–und–Phasenansatz 27 Sotomayor, Baltasar 94 soziodemographisch 39, 55s.
Index | 257
Spanisch 9–11, 24, 33, 60, 62, 65, 69–71, 75–88, 94s., 97, 99s., 113, 121, 125, 127, 129, 133, 136–138, 189–191, 195, 197, 199, 201, 205s., 208, 211, 214s., 217– 219, 221s. Speicherung 42 Sprachkontakt 64, 70, 80s., 97, 101, 112, 158, 177, 180, 222 Sprachlehrer 101s. Sprachlehrwerk 93, 95 Sprachmeister 95s., 104 sprachpolitisch, sprachenpolitisch 159, 176 Sprachregister 45 Sprachwandel 10, 40, 49, 56, 69, 187–189, 197, 202, 213, 217, 225–229, 237, 242s., 247 Sprachwissenschaft 1–4, 6, 8, 15, 33s., 114, 166s., 188, 192, 202 Sprechereinstellung 150 Sprichwort 16, 96, 149, 151, 156 Standard, Standardisierung 2, 4, 10, 42, 45, 48–51, 54, 56, 94, 164, 166, 172s., 175, 177–178, 180, 206 statistisch 52, 148, 191, 199s., 237, 247 stativisches Verb 215s. stilistisch 33, 148 Stoffname 20 Störfaktor 53 Strukturalismus 33 Subjekt 7, 24–28, 30s., 50, 52–55, 69, 125, 137, 144s., 149, 151–155, 158, 160, 208, 211s., 230 Subjektpronomen 7, 10, 68, 111, 151, 164, 172–176 Suffix 19–24, 106, 164, 172–174, 244s. Schwa–Elision 49 synchron 18, 34, 44, 51, 113, 143, 164, 173s., 176, 206, 213, 228, 230 Synonymenliste 17s. Syntax 5, 7, 12, 15s., 29, 31, 34, 56, 66, 79, 81, 88, 122, 145, 147s., 160 Tagebuch 50 Tagging 6, 42 Temporaladverb 207s. Temporaler Anker 208
Tempus 26, 187, 189, 205, 207s., 210–213, 215, 217–222 terminatives Verb 220 Text 1–11, 15, 17, 23–25, 28s., 31, 33s., 39– 46, 48–51, 53, 56, 59–63, 65s., 70–72, 75s., 81s., 88, 98, 105, 113, 121–123, 128–130, 139, 143s., 146–149, 152, 155s., 165, 170, 176, 187–202, 209, 211– 213, 215, 218s., 221s., 237s., 241–243, 247 Text Encoding Initiative (TEI) 5 Text–Kontext–Datenbanken 12 Textanalyse 6 Textedition, texteditorisch 5s., 42, 192 Textserien 59, 61, 72 Textsorte 43, 45, 113, 211, 238, 247 Texttradition 44–46, 56 Textualisierungsverfahren 9, 75s., 80, 87 Topik 31s. transitiv 209, 212, 220 Übergeneralisierung 49 Unidirektionalität 11, 225s., 229, 237, 242– 244, 246s. Universalgrammatik 17, 34 Universalien 34 unmittelbar–situativer Gebrauch 143, 149, 151, 155–159 Unterspezifizierung 164, 173 unvollständiger Spracherwerb 158 Urbino, Giovanni Mario Alessandri de 76, 81 Urtext 34 Variante 19, 22, 29, 34, 41s., 48, 62, 65, 86, 129, 167, 227, 238 Variation 48, 63–65, 79, 81, 144, 147s., 151, 165, 195, 207 Varietät 10, 16, 18, 25–27, 34, 39, 42, 46– 48, 52s., 163–168, 171–180, 197, 206, 225–227 Verschriftlichung 48, 187, 191 Verwandtschaftsbezeichnung 158 Villalón, Cristobal de 75s., 78s., 82, 84s., 87s., 218 Vtil y breve institución para aprender los principios y fundamentos de la lengua hespañola 78
258 | Index volkssprachliche Grammatik 9, 75–77, 80, 87s. Vulgärlatein 49, 187, 226 Wortbildung 7, 15–18, 23s., 105s., 244 Wortstellung 29, 49, 54, 66–69 y avoir 54