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German Pages 219 [220] Year 1998
Linguistische Arbeiten
390
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter BlumenthaI, Herbert E. Brekle, Gerhard Helbig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese
Zwischen Grammatik und Lexikon Herausgegeben von Irmhild Barz und Günther Öhlschläger
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Zwischen Grammatik und Lexikon / hrsg. von Irrnhild Barz und Günther Öhlschläger. - Tübingen Niemeyer, 1998 (Linguistische Arbeiten ; 390) ISBN 3-484-30390-5
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................................................... VII
Gerhard Helbig Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon ........................................................................... 1
Grammatikalisierung Irma Hyvärinen "Der Text blieb ungedruckt" - Die Konstruktion bleiben + Negativpartizip als eine negativ-intransformative Passivparaphrase ....................... 11 Frank Liedtke Grammatikalisierung und Imperativ - eine historisch vergleichende Skizze ........................... 27 Heide Wegener Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln ......................................................................... 37
Lexikalisierung Irmhild Barz Zur Lexikalisierungspotenz nominalisierter Infinitive ............................................................. 57 Helmuth Feilke Idiomatische Prägung ............................................................................................................... 69 Jörg Meibauer kunst vertrücker und kolengreber: Zum Wortbildungswandel der N+ V +er-Bildungen im Frühneuhochdeutschen ....................................................................... 81 Karin Pittner Radfahren vs. mit dem Rad fahren: Trennbare Verben und parallele syntaktische Strukturen ............................................................................................................................... 103 Lauri Seppänen Satz und Wort ......................................................................................................................... 113
Idiomatik und Idiomatisierung Jarmo Korhonen Zur kontrastiven Phraseologie unter Berücksichtigung der deutschen Sprache. Geschichte, Entwicklung, Ergebnisse ..................................................................... 117
VI Marja-Leena Piitulainen Die "Nichtselbstgenügsamkeit" der Verbidiome als lexikalisch-semantisches und grammatisches Problem .................................................................................................. 133 Olli Salminen Zur kognitiv basierten Kontrastierung bildhafter Ausdrücke am Beispiel des Deutschen und des Finnischen ............................................................................................... 145
Grammatik und Lexikon und das Verständnis literarischer Texte Ulrich Breuer Selbstthematisierende Kommunikation. Zum Wortfeld Bekennen ........ ....... ....... ....... ........... 155 UUa Fix
Die Wörter auf dem Papier und die Grammatik in den Köpfen. Zur Textualität und zu Lesarten von "grammatikarmen" Texten ................................................. 165 Matti Luukkainen Wortbildung und Grammatik im literarischen Text.. ............................................................. 179 Henrik Nikula Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie .............................................................. 197
Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge eines deutsch-finnischen Kolloquiums zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon, das vom 5. bis 7.3.1997 an der Universität Leipzig stattgefunden hat. Mit diesem nunmehr 7. bilateralen Germanistentreffen in Folge wurde eine langjährige Tradition gemeinsamer Veranstaltungen von Sprachwissenschaftlern aus den neuen Bundesländern und aus Finnland wiederbelebt und fortgeführt, deren letzte im Dezember 1990 am ZISW der Akademie der Wissenschaften in Berlin durchgeführt wurde; die Ergebnisse liegen in dem von Jarmo Korhonen 1992 in der gleichen Reihe herausgegebenen Band "Phraseologie und Wortbildung - Aspekte der Lexikonerweiterung" vor (LA Bd. 284). Mit dem Thema "Grammatik und Lexikon" wird ein Problemkomplex aufgegriffen, der in den letzten Jahren in unterschiedlichen theoretischen Zusammenhängen zu einem zentralen Forschungsgegenstand geworden ist - in der grammatiktheoretischen Diskussion der generativen Grammatik, in den in erster Linie typologisch orientierten Untersuchungen zur Grammatikalisierung und Lexikalisierung, aber auch in neueren Überlegungen zur Nominationstheorie und zum Wortschatzwandel, um nur einige zu nennen. In der germanistischen Linguistik hat dieser Problemkomplex in seiner Vielschichtigkeit nicht immer die Beachtung gefunden, die ihm gebührt; dies gilt insbesondere für Grammatikalisierungsphänomene, aber auch für bestimmte Aspekte von Lexikalisierungsprozessen. Deshalb hatte es sich das Kolloquium zum Ziel gesetzt, einige der Erscheinungen des Deutschen genauer zu beleuchten, die sich nicht eindeutig der Grammatik oder dem Lexikon zuordnen lassen bzw. sich zwischen diesen Bereichen "bewegen". Dabei ergaben sich insgesamt vier Schwerpunkte: Grammatikalisierungsvorgänge, Lexikalisierungsprozesse, Probleme der Idiomatik und Idiomatisierung bzw. Demotivation sowie die Rolle und das Verhältnis von Grammatik und Lexikon beim Erschließen literarischer Texte. Auf diese Weise sollte zum einen ein Beitrag zum besseren Verständnis entsprechender Phänomene im Deutschen geleistet werden, zum andern sollte aber auch das Verhältnis von Grammatik und Lexikon generell- aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven - genauer in den Blick genommen werden. Gerade angesichts der Tatsache, daß es sich um ein Treffen deutscher und finnischer Germanisten handelte, schien uns diese Zielstellung wegen der unterschiedlichen Kodierung von Kategorien in verschiedenen - in diesem Fall sogar weit voneinander entfernten - Sprachen besonders lohnend zu sein. Den vier genannten Schwerpunkten folgen wir auch bei der Anordnung der Beiträge, wobei die interne Reihenfolge alphabetisch bestimmt ist. Vorangestellt ist der Beitrag von G. Helbig, der in die Thematik des Kolloquiums generell einführt und wichtige Aspekte und Probleme behandelt, die in den anderen Aufsätzen von je spezifischen Fragestellungen aus immer wieder aufgegriffen werden. Grammatikalisierungsprozesse sind Gegenstand der Beiträge von 1. Hyvärinen, die die Konstruktion bleiben + negatives Partizip 11 schon weit fortgeschritten auf dem Weg zu einer negativ intransformativen Passivperiphrase sieht, F. Liedtke, der in Anlehnung an Bybeel Perkins/Pagliuca die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten für Direktiva einschließlich des Imperativs untersucht und H. Wegener, die Grammatikalisierungsvorgängen bei Modalpartikeln, insbesondere bei denn, nachgeht.
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Mit Fragen der Lexikalisierung beschäftigen sich I. Barz, die am Beispiel der Infinitivkonversion nach Bedingungen und Prinzipien für Lexikalisierungsprozesse fragt, H Feilke, der die Bedeutung konventioneller Präferenzen bei der Bildung und beim Verstehen komplexer Ausdrücke herausarbeitet - ein bisher weitgehend vernachlässigtes Phänomen, das er als "idiomatische Prägung" bezeichnet, J Meibauer, dem es um Tendenzen des Wortbildungswandels von N +V + er-Bildungen im Frühneuhochdeutschen geht, insbesondere um Univerbierung und Lexikalisierung bei den sog. Zusammenbildungen, K. Pittner, die an Verbindungen wie Auto fahren und Klavier spielen nachweist, daß die Substantive in diesen Fällen keine selbständigen Argumente mehr darstellen, daß solche Verbindungen also schon einem morphologischen Prozeß unterliegen, durch den letztlich neue lexikalische Einheiten gebildet werden, und L. Seppänen, der am Beispiel von Komposita das semantische Verhältnis von Wort und Satz betrachtet. Um Idiomatik und Idiomatisierung als drittem Schwerpunkt geht es in den Aufsätzen von J Korhonen, der die Entwicklung der kontrastiven Phraseologie seit den sechziger Jahren Revue passieren läßt, wobei das Hauptgewicht auf den letzten fünfzehn Jahren liegt, M-L. Piitulainen, die an zahlreichen Beispielen grammatische und semantische Aspekte der Kontextgebundenheit von Idiomen herausarbeitet, und 0. Salminen, der unter Bezug auf Dobrovol'skij für eine kognitiv basierte Idiom-Semantik plädiert. Die Rolle und das Verhältnis von Grammatik und Lexikon beim Verständnis literarischer Texte bilden das Thema einer vierten Gruppe von Beiträgen: U Fix wirft die Frage auf, wie Texte, denen die morphologisch-syntaktischen Elemente der Kohäsion fehlen, verstanden werden können, welche Rolle die Wörter bzw. die Wortbedeutungen dabei spielen, H Nikula thematisiert den Grenzbereich zwischen Grammatik und Lexikon von experimenteller Literatur aus, M Luukkainen widmet sich Wortbildungserscheinungen in literarischen Texten, die aufgrund ihres Kreativitätspotentials besonders interessante Aufschlüsse über den prozessualen Aspekt der Wortbildung versprechen. U Breuers Überlegungen zum Wortfeld Bekennen unter lexikologischen und syntaktischen Aspekten gehören insofern in diese Gruppe, als sie im größeren Kontext einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur Textsorte und zum Genre Bekenntnisliteratur stehen. Wie jede Einteilung ist auch die von uns vorgenommene Zuordnung der einzelnen Beiträge nach thematischen Schwerpunkten nicht die einzig mögliche, da die Schwerpunkte eng miteinander verwandt sind und in vielen Beiträgen entsprechende Zusammenhänge thematisiert bzw. auch Erscheinungen aus anderen Bereichen aufgegriffen werden. So werden beispielsweise in Beiträgen zur Grammatikalisierung auch Aspekte der Lexikalisierung behandelt und umgekehrt. In der Gliederung nicht zum Ausdruck kommen zudem weitere übergreifende Gesichtspunkte und Forschungsperspektiven, die in einer Reihe von Beiträgen angesprochen werden, wie z. B. die - bei einem bilateralen Germanistentreffen eigentlich auch selbstverständliche - kontrastive Fragestellung, die insbesondere bei Hyvärinen, Korhonen, Piitulainen und Salminen eine wichtige Rolle spielt. Daneben werden auch lexikographische Interessen artikuliert - bei Breuer, Korhonen und Salminen -, kognitive Aspekte näher beleuchtet - vor allem bei Feilke, Fix, Salminen und Wegener - sowie die Bedeutung der historischen Dimension bei der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Grammatik und Lexikon hervorgehoben so bei Luukkainen, Meibauer und Wegener.
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Abschließend sei allen gedankt, die zur Entstehung dieses Sammelbandes beigetragen haben der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Finnland-Institut (FIND) in Berlin für die finanzielle Unterstützung, Jarrno Korhonen für die organisatorische Vorbereitung und Koordination in Finnland, Armin Krause und Jochen Sternkopf für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Planung und Durchführung des Kolloquiums sowie Annett Lutschin und Carolin Hoyer für die mustergültige Erstellung der Druckvorlage.
Leipzig, im Januar 1998
Irmhild Barz Günther Öhlschläger
Gerhard He/big . Leipzig
Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon*
1. Die Unterscheidung zwischen Grammatik und Lexikon - über die einige Überlegungen angestellt werden sollen - hat eine lange, bis ins Altertum zurückreichende Tradition. Sie hat zu der Vorstellung geführt, daß es sich um die zwei grundlegenden Komponenten der Sprache (als Zeichensystem) handelt, die sich einerseits notwendig ergänzen, die andererseits aber auch nebeneinander stehen oder sich gar gegenüberstehen. Nach dieser Vorstellung umfaßt das Lexikon die Gesamtheit der Wörter als die für die Äußerung bereitstehenden "Elemente", die mit Hilfe der Grammatik durch bestimmte Regeln zusammengefügt werden. Eine solche Vorstellung wird gewiß auch intuitiv von den meisten Menschen geteilt, besonders von denen, die sich nicht berufsmäßig mit Sprache befassen. Genährt wird diese Sicht u. a. durch Erfahrungen aus dem schulischen Lernen von Fremdsprachen: Gewöhnlich wurde im Lehrbuch die Grammatik als isoliertes Regelwerk (oft sogar mit starker Betonung von Konjugations- und Deklinationsparadigmen) vermittelt, an späterer Stelle folgte dann das Vokabular, dem ein Bezug zur Grammatik meist fehlte. Die Vorstellung von Grammatik und Lexikon als zwei sich ergänzenden, aber sich zugleich gegenüberstehenden Komponenten der Sprache finden wir auch bestätigt in sprachwissenschaftlichen Wörterbüchern, wo die Grammatik verstanden wird als der "Teil der Sprachwissenschaft, der die Bildung verschiedener Formen gleicher Wörter und ihre Verknüpfung zu Wortgruppen und Sätzen beschreibt", vor allem also die Morphologie ("die Bildung verschiedener Formen gleicher Wörter") und die Syntax ("ihre Verknüpfung zu Wortgruppen und Sätzen") umfaßt, sie insgesamt aber "der Lexik und der Semantik gegenübergestellt" wird (Conrad 1985: 86). 2. Dieses herkömmliche Bild von Grammatik und Lexikon hat sich jedoch als zu einfach erwiesen, hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Veränderung erfahren, vor allem dadurch, daß sich der Umfang dessen, was als "Grammatik" bezeichnet wird, wesentlich erweitert hat. Mindestens seit de Saussure (1931: 160f.) wird der Begriff der "Grammatik" nicht mehr nur auf Morphologie und Syntax, sondern auf die inneren Regularitäten des gesamten Sprachsystems bezogen, so daß die Gegenüberstellung sowohl zum Lexikon als auch zur Semantik in ein anderes Licht getreten ist. Mindestens lassen sich heute zwei unterschiedliche Konzepte von "Grammatik" erkennen - auch in neueren terminologischen Wörterbüchern (vgl. z. B. Conrad 1985: 86; Bußmann 1983: 174f.): 1)
Grammatik im engeren Sinne als Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten einer natürlichen Sprache (wie im traditionellen Sinne, also unter Ausschluß des Lexikons und der Semantik) und
• Bei diesem Beitrag handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Vortrages, der zuerst 1997 in Stuttgart und Leipzig erschienen ist (= Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Sitzungsberichte der Philologisch-historischen Klasse, Band 135, Heft 5). Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
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Gerhard Helbig
Grammatik im weiteren Sinne als Abbildung des gesamten Sprachsystems, als Regelsystem, das die Zuordnung von Laut- und Bedeutungsseite der Sprache generell betrifft und folglich die Menge der möglichen Sätze einer Sprache definiert und allen sprachlichen Produktions- und Rezeptionsprozessen zugrunde liegt. Es umfaßt - so verstanden - nicht nur Morphologie und Syntax, sondern auch Phonetik/Phonologie, das Lexikon und die Semantik.
Vereinfacht ausgedrückt: Semantik und Lexikon stehen beim engeren Konzept außerhalb der Grammatik (so daß die genannte Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon einerseits, von Grammatik und Semantik andererseits entstehen konnte); sie stehen beim weiteren Konzept jedoch innerhalb der Grammatik (so daß ihr Verhältnis zueinander neu durchdacht werden mußte). Das jüngere und weitere Konzept von Grammatik setzte sich zunehmend durch, weil das engere Konzept mit bestimmten Unzulänglichkeiten behaftet war, die das Verhältnis von Grammatik und Lexikon betreffen - dies mindestens unter zwei Aspekten: Einerseits entstand vielerorts die Vorstellung - da die Grammatik im engeren Sinne sowohl dem Lexikon als auch der Semantik gegenübergestellt wurde -, daß der Unterschied zwischen Grammatik und Lexik etwas zu tun habe mit dem Unterschied zwischen Grammatik und Semantik, daß er - im Extremfalle - sogar durch den Unterschied zwischen Grammatik und Semantik begründet werden könne. Eine solche Gleichsetzung ist schon deshalb nicht adäquat, weil sie die Voraussetzung impliziert, daß nur die Lexik, nicht aber die Grammatik über Bedeutung verfUge. In Wirklichkeit darf die Semantik keineswegs auf die lexikalischen Elemente beschränkt werden, sondern muß auch vielen Einheiten zugeschrieben werden, die im herkömmlichen (und engeren) Sinne als grammatisch bezeichnet werden. Das bedeutet wiederum nicht, daß alle morphosyntaktischen Erscheinungen über Bedeutung verfUgen: Im Deutschen kann man z. B. dem grammatischen Genus oder den Deklinationsklassen der Substantive, der Rahmenbildung - d. h. der Trennung von finiten und infiniten Verbformen im Hauptsatz und der Endstellung des finiten Verbs im eingeleiteten Nebensatz - oder auch der Infinitivpartikel zu kaum eine semantische Funktion zuweisen (vgl. Kaznelson 1974: 25ff., 113ff.). Es handelt sich dabei um solche Kategorien, die manchmal, wenn auch nicht sehr glücklich (z. B. bei Admoni 1966: 10ff.) als "strukturell-grammatische Kategorien" - im Unterschied zu logisch-grammatischen und kommunikativ-grammatischen Kategorienbezeichnet worden sind. Daß es solche Kategorien gibt, ist ein Indikator dafUr, daß die morphosyntaktische und die semantische Struktur einer natürlichen Sprache nicht bzw. nur teilweise parallel organisiert sind; es spricht dafUr, daß nicht alle morphosyntaktischen Erscheinungen semantisch motiviert sind (vgl. auch Steinitz 1984: 45ff.). Die Einsicht, daß die meisten morphosyntaktischen Erscheinungen über Bedeutung verfUgen, bedeutet auch nicht, daß ihnen in direkter Weise eine Bedeutung zugeschrieben werden müßte, daß Form- und Bedeutungsseite in isomorpher Weise (in 1: I-Entsprechung) einander zugeordnet werden könnten. Das gilt sowohl für die Lexik (sonst wären Synonymie, Homonymie und Polysemie ausgeschlossen) als auch für die Morphosyntax: Es ist leicht zu zeigen, daß z. B. die einzelnen Tempora (genauer: Tempusformen) im Deutschen unterschiedliche Zeitbedeutungen haben können - das Präsens kann sich auf Gegenwärtiges, auf Zukünftiges und auf Vergangenes, das Perfekt auf Vergangenes und auf Zukünftiges beziehen. Das Reflexivpronomen sich verweist nicht nur auf semantische Reflexivität (z. B. Er wäscht sich.), sondern kann auch (wenn es Teil der Lexikoneinheit des Verbs ist) semantisch funktionslos sein (z. B. Er schämt sich.), kann auch Reziprozität bezeichnen (z. B. Sie balgten sich.) oder als Signal für Passivität ste-
Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon
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hen (z. B. Das Buchfindet sich.). Ein (Oberflächen-) Kasus wie z. B. der Genitiv vermag recht Unterschiedliches auszudrücken, etwa im Falle der Besuch des Arztes einerseits das Agens des Besuchens (f- Der Arzt besucht X.), andererseits das Patiens des Besuchens (f- X besucht den Arzt.) (vgl. Helbig 1983: 9ff., 24ff.). Es ist gerade die spezifische Aufgabe der Grammatik, die komplizierte und vermittelte, aber reguläre Zuordnung zwischen der Form und der Bedeutungsseite der Sprache zu beschreiben. Diese bei den Einschränkungen - daß nicht alle morphosyntaktischen Erscheinungen eine semantische Funktion ausüben und daß die Beziehungen zwischen Form und Bedeutung durchaus nicht immer direkt und unvermittelt sind -stellen jedoch nicht die grundsätzliche Feststellung in Frage, daß die Semantik nicht auf die Wortbedeutung reduziert werden darf, daß zwischen Grammatik und Semantik weder eine scharfe Trennungslinie gezogen noch ein Gleichheitszeichen gesetzt werden kann. Es ist auffällig, daß bereits die meisten älteren Grammatiken durchaus nicht nur bloße Verknüpfungsregeln enthalten (wie man dies auf Grund der theoretischen Bestimmung erwarten könnte), sondern auch eine Fülle von Bedeutungsangaben - wenn auch oft verstreut und unsystematisch. In der Tat trennt die Semantik nicht Grammatik und Lexikon, sondern verbindet sie (vgl. Kertesz 1980: 103ff.). Dann gibt es noch (das ist ein zweiter Aspekt der Beziehungen) die weit verbreitete Annahme, daß die Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon funktional begründet sei, auch wenn der eben genannte Gegensatz von Grammatik und Semantik als unberechtigt zurückgewiesen wird. Auf Grund eines solchen funktionalen Unterschieds bleibt es bei einer Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon, sie wird aber nicht mehr durch den anderen Unterschied (nämlich den zwischen Grammatik und Semantik) motiviert (vgl. etwa Kertesz 1980: 97f.). Grob zugespitzt und vereinfacht formuliert, wird dieser funktionale Unterschied darin gesehen, daß die Lexik die Funktion habe, die Erscheinungen (im weitesten Sinne) zu bezeichnen, die Grammatik aber dazu diene, lexikalische Elemente zu Wortgruppen und Sätzen zu verknüpfen. Auch diese funktionale Begründung ist in mehrfacher Hinsicht anfechtbar: Eine Bezeichnungsfunktion kommt zwar den Substantiven zu, aber nicht in gleicher Weise allen anderen Wortklassen, erst recht nicht den "Funktionswörtern"; bei Konjunktion und Präposition z. B. dominiert umgekehrt die Verknüpfungsfunktion. Vor allem aber ist offenkundig, daß mitunter dieselben Bedeutungen in einer Sprache grammatisch (d. h. morphosyntaktisch), in einer anderen Sprache aber lexikalisch ausgedrückt werden können (oder sogar müssen) - darauf ist in konfrontativen Untersuchungen immer wieder mit Recht hingewiesen worden -: Für den Artikel fehlt z. B. in slawischen Sprachen ein Äquivalent als grammatische Kategorie, umgekehrt haben die Aktionsarten keine direkte grammatische Entsprechung im Deutschen, zu ihrem Ausdruck müssen vielfältige andere (zumeist lexikalische) Mittel benutzt werden. Aber nicht nur mit Blick auf verschiedene Sprachen, sondern oft auch innerhalb einer Sprache können bestimmte Bedeutungen grammatisch und/oder lexikalisch signalisiert werden: Die Zukunftsbedeutung kann im Deutschen z. B. grammatisch ausgedrückt werden (durch die Tempusform des Futur I: Ich werde nach München fahren.) oder aber lexikalisch (durch eine Adverbialangabe - neben einer Präsens form -: Ichfahre morgen nach München.). Grammatische und lexikalische Bedeutungen sind offensichtlich nicht so verschieden, daß auf diese Weise ein prinzipieller und funktionaler Unterschied (oder gar Gegensatz) zwischen Grammatik und Lexik legitimiert werden könnte (vgl. Helbig 1988b: 160ff.). 3. Obwohl sich die herkömmliche Trennung und Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon in der Praxis bis heute vielfach erhalten hat, gab es längst skeptische Stimmen, so-
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Gerhard Helbig
wohl von seiten der Grammatik als auch von seiten der Lexikologie und Lexikographie. Oft wird auf das Diktum von Schuchardt (1922: 127) verwiesen, daß "das Wörterbuch keinen anderen Stoff als die Grammatik" darstelle, vielmehr nur "die alphabetische Inhaltsangabe zu ihr" liefere. Auch für Jespersen (1924: 32) überlappen sich Grammatik und Lexikon und stellen teilweise dieselben Fakten dar. In ähnlicher Weise ist für Mel'Cuk (1981: 57) die Grammatik kaum mehr als eine Menge von Verallgemeinerungen über einem guten Wörterbuch (vgl. zusammenfassend Wiegand 1985: 14f.). Was die germanistische Linguistik anlangt (auf die wir uns konzentrieren wollen), hat vor allem H. Glinz (1961: 40) (bei seinem ersten großen Versuch, die deutsche Gegenwartssprache mit einer "empirisch-strukturalistischen Methode" zu beschreiben) darauf hingewiesen, daß auf Grund der "Schichthaftigkeit" der Sprache - so nannte er es nicht einem klaren System von grammatischen Kategorien eine im übrigen völlig freie Reihe von Einzelzeichen gegenübersteht, sondern daß die Systematisierung stufenweise abnimmt, oft nur wenige Einzelzeichen wieder besonders zusammenfaßt und entsprechende Unterschiede hier berücksichtigt und dort vernachlässigt. Die übliche Unterscheidung in 'Grammatik' ... gegenüber 'Lexikon' oder 'Wörterbuch' ist ein praktischer Behelf, der die Grenzen aber in gewissem Maße willkürlich setzt. An anderer Stelle seiner "Inneren Form des Deutschen" (das ist der Titel des Glinz'schen Werkes aus den 50er Jahren) (1961: 393f.) spricht er von einer Überschneidung der zwei Aspekte 'Grammatik' und 'Wortkunde' und fragt, ob es zwischen ihnen überhaupt eine sichere Grenze gibt oder ob nur der 'Grad der Einmaligkeit eines Gefüges' verschieden ist, und ob als Grammatik einfach diejenigen Gebiete zu bestimmen sind, in denen dieser 'Einmaligkeitsgrad' am geringsten und damit die Deutbarkeit aus den Einzelteilen und den Verbindungsgesetzen am größten ist. Schließlich führt die angenommene Offenheit des Systems Glinz (1961: 477) zu der Annahme, daß es im strengen Sinne gar keine 'Grammatik' gibt, welches ein abgeschlossenes Ganzes für sich wäre, sondern daß die so geheißene Grammatik nur die praktische Zusammenfassung dessen bedeutet, was sich in der Sprache an allgemeiner - verhältnismäßig allgemeiner! - Struktur gegenüber den jeweiligen Einzelfällen abheben und zusammenfassen läßt. Wir haben diese drei Stellen von Glinz absichtlich so ausführlich zitiert, weil sie für die Entwicklung der germanistischen Grammatikforschung für die damalige Zeit charakteristisch zu sein scheinen und überdies zu ihrer Zeit zu den wenigen expliziten Äußerungen zu dem Verhältnis von Grammatik und Lexikon gehören. In ihnen ist die Einsicht dokumentiert, daß es sich nicht um einen funktionalen Unterschied zwischen beiden Komponenten handelt, vielmehr um einen Unterschied im Aspekt (Allgemeines vs. Besonderes) und im Grad der Verallgemeinerung. Es ist teilweise derselbe Stoff, es sind teilweise dieselben Fakten, die unter unterschiedlichen Aspekten dargestellt werden, die sich ihrerseits aus dem Grad der Verallgemeinerung ergeben. Gewiß wirkt es - aus heutiger Sicht - noch unbefriedigend, die Unterscheidung von Grammatik und Lexikon einfach als "praktischen Behelf' anzusehen oder die Existenz von "Grammatik" gegenüber den "Einzelfällen" gar in Frage zu stellen.
Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon
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Auf jeden Fall ist die Tendenz, die Grenze zwischen Grammatik und Lexikon zu relativieren oder schließlich sogar aufzuheben, nicht nur seitens der Grammatik erkennbar, sondernvor allem in jüngerer Zeit - auch seitens der Lexikologen und besonders der Lexikographen: Es wird nicht nur die Forderung nach "mehr Grammatik im Wörterbuch" erhoben (Herbst 1985: 308f.), sondern auch für eine in das Wörterbuch integrierte "Wörterbuch-Grammatik" plädiert (Wiegand 1985: 96), die Grammatik als integraler Bestandteil des Wörterbuchs aufgefaßt (vgl. Schumacher 1986: 19ff.). Ihre gleichennaßen programmatische wie salomonische Fonnulierung findet diese Tendenz etwa in dem Postulat von Schaeder (1981: 69): Die Beschreibung der grammatischen Regularitäten in einer Grammatik kann nicht ohne lexikalische Informationen, die Beschreibung der Lexik nicht ohne grammatische Informationen gelingen.
4. Mit genau diesem Postulat treffen sich grammatikographische Erfahrungen, d.h. Erfahrungen aus der Praxis bei der Erarbeitung von Grammatiken. Als Illustrationsbeispiel wählen wir dafür unser Handbuch der deutschen Grammatik (vgl. Helbig/Buscha 1972) - Ende der 60er Jahre entstanden und vor allem für Zwecke des Fremdsprachenunterrichts gedacht - und versuchen damit zugleich, einen bescheidenen Einblick in die "Werkstatt" der Arbeit zu geben. Da dieses Handbuch von Anfang an auf praxisorientierte Zwecke des Spracherwerbs und auf den Infonnationsbedarf im Lernprozeß sowie bei Lehrbuchautoren, Lehrern und Lernern ausgerichtet war, bestand die Notwendigkeit, in solch eine Grammatik auch Infonnationen aufzunehmen, die die Grenzen einer herkömmlichen Grammatik sprengen - vor allen Dingen in Richtung auf das Lexikon hin. Motiviert waren solche "Grenzüberschreitungen" damals für uns noch weniger von theoretischen Überlegungen als vielmehr vom praktischen Informationsbedarf im Lernprozeß, der für eine Fremdsprache andere (und mehr) Informationen erfordert als für die Muttersprache, da ein entsprechendes Sprachgefühl als Kompetenz - und damit mögliches Regulativ - nicht vorausgesetzt werden kann, sondern erst aufgebaut werden muß. Die dazu nötige "Außen-" oder "Fremdperspektive" (vgl. Weinrich 1979: 1f.; Valentin 1992: VIIf.) - im Unterschied zur "Binnengennanistik" - erforderte solche "Grenzüberschreitungen" von der Grammatik (im engeren Sinne) zum Lexikon, und zwar von mehrfacher Art: 1)
In vielen Fällen genügte es nicht, allgemeine Regeln anzugeben. Diese Regeln mußten vielmehr spezifiziert werden in Richtung auf einzelne Subklassen von Wörtern oderim Extremfall- sogar auf einzelne Wörter (auf die sie nur zutreffen). Das führte vielfach zur Angabe von ziemlich umfangreichen Listen (die z. T. unvollständig, z. T. aber auch vollständig sind), die in jedem Falle aber die Zutreffensmöglichkeiten von allgemeinen (d. h. grammatischen) Regeln exemplifizieren sollten. Das betrifft z. B. Listen zur Rektion der Verben und Adjektive, zu den Funktionsverben, zu den Verbindungen von Verben mit Infinitiven u. a. Je detaillierter und genauer die grammatische Regelangabe wurde, desto mehr war es nötig, die allgemeinen grammatischen Regeln zu spezifizieren (und zu illustrieren) in Richtung auf das Lexikon. Die Morphosyntax (als Grammatik im engeren Sinne) stieß an ihre Grenze und bedurfte der Spezifizierung durch lexikalische Einheiten (besonders dann, wenn die Regel nur auf wenige und aufzählbare Einheiten zutrifft). Das entspricht dem schon angesprochenen Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem: Wenn sich Grammatik und Lexikon wie das Allgemeine zum Besonderen zueinander verhalten, steht das Lexikon in diesem Sinne nicht
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Gerhard He/big
schlechthin der Grammatik gegenüber, sondern die Grammatik (als eine Art Verallgemeinerung über dem Lexikon) setzt das Lexikon bereits voraus bzw. enthält es in sich. Wie die Grammatik eine Art Verallgemeinerung über dem Lexikon ist, so ist andererseits das Lexikon die (notwendige) Spezifizierung der Grammatik (und ihrer allgemeinen Regeln und Klassenbildungen). 2)
In anderen Fällen erwies es sich vom Informationswert her als nützlich oder sogar notwendig, neben dem eigentlich grammatischen Befund (einer Klassenbildung nach morphologischen, syntaktischen und/oder semantischen Merkmalen) dieselben Informationen zusätzlich noch einmal- bezogen auf die jeweiligen Wörter - zu geben (in Gestalt von alphabetischen Listen). Das trifft z. B. zu für die unregelmäßigen bzw. starken Verben (vom Typ finden -fand -gefunden), die sich auf Grund ihres Vokalwechsels (Ablaut) in bestimmte Klassen differenzieren lassen, bei denen vom Präsensvokal und seiner Umgebung der Vokalwechsel vorhersagbar sein sollte. In unserem GrammatikHandbuch haben wir zunächst (grammatisch im engeren Sinne) die entsprechenden Ablautklassen dargestellt und diese durch die entsprechenden Verben exemplifiziert, die zu der jeweiligen Klasse gehören (das ist - in diesem Falle - vollständig möglich, da es sich um eine geschlossene Klasse handelt). Zusätzlich haben wir - auf Grund des Informations- und Lernwertes - dieselben Information dann noch einmal gegeben in einer alphabetischen Liste der unregelmäßigen Verben (in der die Informationen über Vokalwechsel und Klassenzugehörigkeit dem einzelnen Verb beigegeben werden). Das Verb erscheint dann nicht mehr als Exempel für die grammatische Klasse, sondern als (lexikalischer) Ausgangspunkt, dem die grammatischen Informationen sekundär zugeordnet werden (vgl. Helbig/Buscha 1994: 37ff., 41ff.). In ähnlicher Weise steht neben (und nach) einer allgemeinen syntaktischen und semantischen Beschreibung der Präpositionen (ausgehend von den entsprechenden Klassen, denen nur als Illustrationsbeispiele einzelne Präpositionen beigefügt sind) eine alphabetische Liste der Präpositionen (die von den einzelnen Lexemen selbst ausgeht und ihnen die Merkmale aus verschiedenen Ebenen unter integrativem Aspekt zuordnet) - ähnlich auch bei den Konjunktionen und bei den Partikeln (vgl. Helbig/Buscha 1994: 402ff., 445ff., 475ff.). Auf diese Weise werden die gleichen Sachverhalte unter unterschiedlichem Aspekt dargestelltauf der einen Seite unter dem Aspekt des Allgemeinen (der grammatischen Klassenbildung), auf der anderen Seite unter dem Aspekt des Besonderen (von Einträgen zu Wörtern als Lexikoneinheiten). Während im ersten Falle die Informationen je nach der Ebene differenziert erscheinen (z. B. syntaktische und semantische Beschreibung), werden sie im zweiten Falle nicht nur an die konkrete Lexikoneinheit gebunden, sondern damit zugleich gebündelt und integriert.
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Durch solche "Grenzüberschreitungen" wuchs das Grammatik-Handbuch an, dehnte sich auf Bereiche aus, die herkömmlicherweise nicht in einer Grammatik, sondern eher in einem Lexikon zu erwarten wären. Solche "Lexikonfragmente" in der Grammatik finden sich inzwischen auch in anderen deutschen Grammatiken, am umfangreichsten wohl in der von U. Engel (1988). Diese Lexikonfragmente ließen es geraten erscheinen, den grammatischen Gesichtspunkt grundsätzlich für bestimmte Wortklassen umzukehren und unserem Grammatik-Handbuch kleine Lexika zu einzelnen Funktionswörtern an die Seite zu stellen - z. B. zu den Präpositionen (Schröder 1986) und zu den Konjunktionen (Buscha 1989), aber auch zu den Partikeln (Helbig 1988a) und zu den
Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon
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Modalwörtern (Helbig/Helbig 1990). In diesen Lexika werden die Informationen aus den verschiedenen Ebenen den Lexikoneinheiten (den Wörtern) in integrativer Weise zugeordnet. Auf diese Weise kann nicht nur die Grammatik (im engeren Sinne) "entlastet" werden, sondern wird auch das, was dort notwendigerweise als "Appendix" erscheint, unter anderem Aspekt verselbständigt. Der Zusammenhang bleibt jedoch offenkundig: Es kann weder eine Grammatik ohne Lexikon geben noch ein Lexikon ohne Grammatik. 5. Die ursprünglich starr erscheinende Grenzziehung zwischen Grammatik und Lexikon wurde jedoch nicht nur von praktisch-grammatikographischer und praktisch-lexikographischer Seite in Frage gestellt, sondern zunehmend auch in der grammatiktheoretischen Diskussion (vor allem im Rahmen der generativen Grammatik) um die Art der Komponenten (Ebenen) des Sprachsystems und ihres Zusammenspiels. In den frühen Arbeiten Chomskys (vgl. 1957) gab es noch keine Lexikon-Komponente in der Grammatik. Auch in der Standardtheorie (Chomsky 1969) wird das Lexikon im Zusammenspiel der Komponenten noch unterschätzt: Da die Syntax als generative Komponente vorausgesetzt war, der Semantik nur interpretativer Charakter zugesprochen wurde, verblieb dem Lexikon im Prinzip nur die Aufgabe, Irregularitäten und Ausnahmen zu vermerken. Es wurde zu einer Art Auffangbecken für irreguläre und ideosynkratische Eigenschaften lexikalischer Einheiten degradiert (vgl. Steinitz 1984: 12, 18). Diese Auffassung änderte sich erst in Weiterentwicklungen der Standardtheorie, bei denen das Lexikon zunehmend aus der Peripherie in das Zentrum der linguistischen Aufmerksamkeit rückte (was den mehr oder weniger intuitiven Einsichten von Grammatikographen und Lexikographen durchaus entspricht). Das Lexikon wurde nicht nur zur selbständigen, sondern sogar zu einer zentralen Komponente der Grammatik. Diese Entwicklung war nicht ganz unabhängig von den Auseinandersetzungen zwischen interpretativer und generativer Semantik (vgl. dazu Pasch/Zimmermann 1983: 246ff.; HuckiGoldsmith 1995) und erwuchs aus der Erkenntnis, daß beide Erklärungsmodelle ihre Grenzen haben, daß weder die Semantik mit syntaktischen noch die Morphosyntax mit semantischen Beschreibungsinventarien voll und adäquat erfaßt werden kann. Es entstand ein modulares Konzept (vgl. z. B. Chomsky 1984), in dem die beiden (nicht-isomorphen) Komponenten in relativer Autonomie und Eigenständigkeit, aber zugleich in ihrer wechselseitigen Interaktion gesehen werden. Das Lexikon rückte deshalb stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, weil sich der kompositionelle Aufbau der Grammatik in spezifischer Weise im Aufbau des Lexikons (d. h. in den Lexikon-Einträgen) reflektiert, weil auch das Lexikon (als eine Komponente der Grammatik) die Zuordnung von Form und Bedeutung regelt, weil sich im Lexikon die an eine Lexikoneinheit gebundene Information in anteiliger Weise auf die übrigen Repräsentationsebenen verteilt (vgl. Steinitz 1984: 1; 1985: If.). Die Interaktion der verschiedenen Komponenten der Grammatik (vor allem: die Zuordnung von morphosyntaktischen und semantischen Strukturen) erfolgt in entscheidendem Maße mit Hilfe des Lexikons, drückt sich in der Struktur jedes Lexikon-Eintrags aus. Auf diese Weise ist das Lexikon von den anderen Komponenten der Grammatik nicht so sehr abgesetzt durch die Spezifik seiner Einheiten und Regeln, sondern vor allem durch das spezifische Zusammenspiel von Informationen aus allen übrigen Repräsentationsebenen und die daraus resultierende spezifische Weise ihrer Integration im LexikonEintrag. Anders gesagt: Auch wenn das Lexikon zu einer wesentlichen Komponente der Grammatik wird, unterscheidet es sich von den anderen Komponenten (ohne zu ihnen in einen funktionalen Gegensatz zu treten). Seine Spezifik besteht nicht nur in dem anderen Aspekt und dem Grad der Verallgemeinerung, sondern auch in der Bindung an die einzelnen lexikali-
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schen Einheiten und aus der genannten integrativen Sicht (der Bündelung von Informationen aus der semantischen, syntaktischen, morphologischen und phonologischen Repräsentationsebene). 6. Unsere Bemerkungen sowohl zu praktisch-grammatikographischen als auch zu grammatiktheoretischen Problemen und Entwicklungen haben uns zu der Schlußfolgerung geführt, daß es - trotz aller Unterschiede - keine "heile" Gegenüberstellung von Grammatik und Lexikon gibt (wie sie vielfach suggeriert wird). Vielmehr setzt die Grammatik das Lexikon voraus und schließt es ein, wie auch umgekehrt das Lexikon die Grammatik voraussetzt und einschießt. Insofern kann von einer lexikonfreien Grammatik ebensowenig die Rede sein wie von einem grammatikfreien Lexikon. Damit soll natürlich nicht der Anspruch erhoben werden, daß alle Fragen des Verhältnisses von Grammatik und Lexikon bereits endgültig geklärt seien. Ebensowenig soll der Eindruck hervorgerufen werden, daß sich Grammatik und Lexikon restlos aufeinander reduzieren lassen. Das ist schon deshalb vom Gegenstand her ausgeschlossen, weil es innerhalb der Syntax zahlreiche Bereiche gibt (wie z. B. die Satzglieder, die SatzgliedsteIlung oder die Satzarten), die sich nicht an das Wort und an das Lexikon binden lassen. Aber schon weit weniger klar ist die Frage, ob die Erscheinungen, die in deutschen Grammatiken zumeist unter Stichwörtern wie "Satzmodelle", "Satztypen", "Satzbaupläne", "Grundstrukturen deutscher Sätze" o. ä. behandelt werden (vgl. Helbig 1971a), tatsächlich legitimerweise in den Rahmen der Grammatik oder nicht vielmehr in das Lexikon gehören. Gemeint sind die Versuche, eine begrenzte Menge von Grundmustern zu ermitteln, aus denen alle Sätze einer Sprache abgeleitet werden können, sei es auf morphosyntaktischer Ebene (etwa: Sn V Sa, Sn V Sd, Sn V pS) oder auf semantischer Ebene im Sinne von "Kasusrahmen" in der Nachfolge von Fillmore (1968; 1971) (etwa: Prädikat Agens Patiens, Prädikat Agens Patiens Lokativ). In der Tat haben sie im Lexikon ein Pendant im Komplex der als "Valenz" bezeichneten Erscheinungen: Nachdem der Begriff und Terminus "Valenz" als Metapher aus der Chemie in die Linguistik übertragen worden ist (Verben eröffnen z. B. bestimmte Leerstellen, die durch Ergänzungen im Satz besetzt werden müssen oder können, die ihrerseits wieder bestimmten semantischen und morphosyntaktischen Beschränkungen unterliegen - schwimmen verlangt nur 1 Ergänzung, besuchen verlangt 2, angewöhnen 3 Ergänzungen), hat er sehr rasch zu einer reichhaltigen Valenzlexikographie geführt, beginnend mit den ersten Valenzwörterbüchern für deutsche Verben (vgl. Helbig/Schenkel 1969; Engel/Schumacher 1976). Von Anfang an war klar, daß es sich bei der Valenz um eine Erscheinung handelt, die "im Schnittpunkt von Grammatik und Lexikologie, von Syntax und Semantik liegt" (Helbig 1971 b: 7; Stepanowa/Helbig 1978: 13, 203). Da sich das Schwergewicht bei Untersuchungen zur Valenz auf Valenzeigenschaften von Lexikoneinheiten (von Verben, aber auch von Adjektiven und Substantiven) verlagert hat - dies u. E. völlig zu Recht -, da auf der anderen Seite entscheidende Impulse für die Satzmodellierung (mindestens in der Germanistik) von Weisgerbers inhaltbezogener Grammatik ausgegangen sind (mit bestimmten Voraussetzungen, die heute kaum noch akzeptiert werden: daß nämlich hinter den morphosyntaktischen Satzmodellen bestimmte "Auffassungen des Lebens" stünden; vgl. Helbig 1992: 13 Off.), ist neuerdings die Frage gestellt worden (vgl. Sitta 1995: 225ff.), ob es überhaupt noch gerechtfertigt sei, solche Satzmodelle in der Grammatik zu behandeln oder sie nicht vielmehr ins Lexikon zu verweisen. Auch diese Frage kann nicht mit einem ausschließlichen Entweder-Oder beantwortet werden. Bei den Satzmodellen handelt es sich um grammatische Verallgemeinerungen über bestimmten Subklassen von Lexikoneinheiten auf Grund gemeinsamer Merkmale - dies sowohl bei den morphosyntaktischen Satz-
Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon
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modellen (bezogen auf die syntaktische Valenz) als auch bei den semantischen Satzrnodellen oder Kasusrahmen (bezogen auf die semantische Valenz in Termini der semantischen Kasus) (vgl. Helbig 1992ff.). Wir werden also zu einer ähnlichen Schlußfolgerung geführt wie in anderen Bereichen der Grammatik: Dieselben Sachverhalte erscheinen unter unterschiedlichen Aspekten. Den Valenzeigenschaften von Lexikoneinheiten entsprechen die Satzrnodelle (als grammatische Verallgemeinerungen, als Klassenbildungen), diesen Satzmodellen sind jeweils bestimmte Lexikoneinheiten bzw. Subklassen von Lexikoneinheiten zuzuordnen, diese - und nur diese - können solche Satzstrukturen konstituieren. Auch hier wird also deutlich, daß Grammatik und Lexikon - als interagierende Teilsysteme - sich nicht "gegenüberstehen", sondern teilweise dieselben Sachverhalte, aber unter unterschiedlichen Aspekten abbilden.
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Gerhard Helbig
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Irma Hyvärinen . Jyväskylä
"Der Text blieb ungedruckt"Die Konstruktion bleiben + Negativpartizip als eine negativintransformative Passivparaphrase
1. Einleitung (1a) Ohne den Narzißmus wäre ein großer Teil der Weltliteratur ungeschrieben geblieben (Reich-Ranicki 193)1 (1 b) Dieser Artikel wäre besser ungeschrieben geblieben. (DUW 1996:1604 s. v. ungeschrieben) Der Beispielsatz (1 a) ist ein authentischer Korpusbeleg; der Satz (1 b) entstammt dem Duden Universalwörterbuch (= DUW 1996), wo das Lemma ungeschrieben als Adjektiv kodifiziert ist und die Konstruktion bleiben + Negativpartizip somit als Kopula-Prädikativ-Konstruktion zu gelten hat. Weiter finden sich u. a. folgende Beispiele im DUW beim Stichwort bleiben 1b), dessen Bedeutung paraphrasiert wird als 'in seinem augenblicklichen Zustand verharren, eine bestimmte Eigenschaft bewahren': (2a) Er bleibt gelassen, konsequent. (2b) Seine Taten werden unvergessen bleiben. (2c) ledig bleiben (sich nicht verheiraten) (2d) Das Museum bleibt geschlossen. (2e) Sein Brief blieb unbeantwortet. (2f) jmdm. treu, zugetan bleiben (DUW 1996:266 s. v. bleiben Ib» Für die Beispiele der obigen Reihe, von denen (2b) und (2e) den hier interessierenden Konstruktionstyp vertreten, stimmt die obige Bedeutungsparaphrase insoweit, als die Bezugsgrößen der Adjektive, die syntaktisch als Subjekte fungieren (bzw. bei den infinitivischen Suchforrnen als Subjekte hinzugedacht werden können), mit einer Existenzpräsupposition verbunden sind und die Referenten somit in einem Zustand verharren oder Eigenschaften bewahren können. Dagegen kann man bei (la,b) feststellen, daß erst die Irrealität bzw. Kontrafaktizität des Konjunktiv Plusquamperfekt die sonst durch ungeschrieben bleiben ausgedrückte Nichtexistenz der Subjektgröße aufhebt. (Dazu vgl. die Ausführungen zu (3b) weiter unten.) Wird die präsupponierte Bedeutung von etwa (lb) nämlich indikativisch paraphrasiert,
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Zu den Belegquellen siehe Kap. 2 sowie Punkt (A) der Literaturliste.
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so wird das Negationswort nicht hinzugefügt2, so daß eine explizite duale Negation (Satzbzw. äußere Negation durch nicht und Sub- bzw. innere Negation durch un-) entsteht (3a). Beide Negationselemente verschwinden, wenn die bleiben-Konstruktion durch das werdenPassiv ersetzt wird (3a'): (3a) Dieser Artikel ist nicht ungeschrieben geblieben. (3a') Dieser Artikel ist geschrieben worden. Bei werden und bleiben handelt es sich nämlich um sog. duale Operatoren mit umgekehrter Phasenbedeutung. In Dualitätsgruppen mit maximal vier Ausdrücken bestehen "ÄquivalenzRelationen zwischen sprachlichen Ausdrücken unter Einbeziehung von Negation (und zwar 'äußerer Negation', 'Subnegation' und 'dualer Negation')", wobei "die Anwendung je zwei verschiedener Operationen äquivalent zu der Anwendung der dritten ist" (Lenz 1996:171). Von den vier Möglichkeiten im Dualitätsfeld, die lexikalisch nicht verwandt sein müssen, sind in diesem Fall nur zwei (werden, bleiben) lexikalisiert; die weiteren zwei werden mit Hilfe der Negation nicht ausgedrückt (nicht werden, nicht bleiben)3, vgl. Abb. 1: Abb. 1: werden und bleiben als duale Operatoren (modifiziert nach Lenz 1996: 172 in Anlehnung an Löbner 1990: 106) duale Negation Typ 1: werden (Existenzquantor)
Typ 2: bleiben (Allquantor)
äußere Negation
äußere Negation
Typ 3: nicht werden (Negation des Existenzquantors)
Typ 4: nicht bleiben (Negation des Allquantors)
duale Negation
Dem obigen Schema entsprechend implizieren sich zum einen (3a) und (3a') oben, zum anderen (3b) und (3b') unten (die letzteren einfachheitshalber im Präsens): (3b) Der Artikel bleibt ungeschrieben. (3b') Der Artikel wird nicht geschrieben. Nehmen wir nun die obige Konstruktion (3b) ungeschrieben bleiben unter die Lupe, so können wir feststellen, daß für die Subjektgröße der bleiben-Konstruktion bei Negativpartizipien, deren Basisverb efftzierend ist, in affirmativen Indikativsätzen Nicht-Existenz präsupponiert wird. Somit handelt es sich genau genommen nicht um ein 'Verharren des Subjekts in einem Zustand' oder um ein 'Bewahren einer Eigenschaft' (vgl. oben), sondern um das Ausbleiben 2
"Eine konjunktivische Aussage hat [ ... ] gewöhnlich eine verneinte indikativische Aussage zur Voraussetzung (Präsupposition)" (Duden Grammatik 1995:158). Laut Lenz (1996: 172) können zwei Kopulaverben oder zwei Hilfsverben, aber auch ein Kopulaverb und ein Hilfsverb dual zueinander sein.
Die Konstruktion bleiben + Negativpartizip
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der ganzen Handlung und ihres Resultats. Die besondere intransformative 4 Phasenbedeutung von bleiben und die Tatsache, daß hier das Subnegationselement un- der äußeren Negation gleichkommt (vgl. weiter unten), können durch 'BLEIB (NICHT (p»' bzw. 'AUSBLEIB (p)' charakterisiert werden, wobei p den propositionalen Kerninhalt bezeichnet. (V gl. auch die annähernden Paraphrasen 'Es bleibt dabei, daß der Fall nicht eintritt, daß der Artikel geschrieben wird' bzw. 'Das Schreiben des Artikels bleibt aus'.) Eine zweite Analysemöglichkeit besteht darin, auch auf der logischen Ebene davon auszugehen, daß einem Argument x eine Eigenschaft Y prädiziert wird, also'Y(x)', denn kognitiv-konzeptuell können Größen, denen Eigenschaften zugewiesen werden, auch nur vorgestellt bzw. vorweggenommen sein. Bei affIZierenden Basisverben dagegen gibt es eine existente Subjektgröße, die in einem unveränderten Zustand verharrt, so daß die Oberflächenstruktur Subjekt + Kopula-PrädikativKonstruktion und die logische Struktur 'Y(x)' auch intuitiv übereinstimmen. Andererseits zeugt die Möglichkeit der Umformung zum werden-Passiv mit Satznegation auch hier von einer großen Verbnähe der bleiben-Konstruktion, und Bedeutungsparaphrasen vom Typ 'BLEIB (NICHT (p»' bzw. 'AUSBLEIB (p)' sind durchaus denkbar, vgl. (4)-(4'). In komplizierteren Kontextsätzen können Fokussierungen und Quantifizierungen die Paraphrasierung erschweren bzw. einschränken, vgl. (5)-(5') mit der Paraphrase, in der die Fokussierung von 'nur' auf einen besonderen (Not-)Ausgang nicht mehr eindeutig bleibt. (4)
Sein Brief blieb unbeantwortet. (= 2e)
(4') Sein Brief wurde nicht beantwortet. Vgl. 'Das Beantworten seines Briefes blieb aus.' (5)
Nur ein Notausgang in den Hintergarten für die unvermeidlichen Bedürfnisse blieb unverriegelt. (Hofmann 147)
(5') Nur ein Notausgang [... ] wurde nicht verriegelt. Vgl. (?) 'Nur das Verriegeln eines Notausgangs blieb aus.' Bei kognitiven und kommunikativen Basisverben ist die Beurteilung der EffiziertheitiAffiziertheit oft problematisch; insbesondere wenn ein sog. Inhaltssatz als Subjekt fungiert, scheint es jedoch eher um eine Umschreibung der Satznegation als um eine Eigenschaftszuweisung zu gehen: (6)
Woflir Tantalos diese sprichwörtlich gewordenen Qualen leiden muß, bleibt in der Odyssee unerwähnt [... ] (Fink 290)
(6') Wofür Tantalos [... ] leiden muß, wird nicht erwähnt. 'Die Erwähnung dessen, woflir Tantalos [ ... ] leiden muß, bleibt aus.' Schnerrer (1982 :29) macht darauf aufmerksam, daß die "Affixnegation [ ... ] in den un-Partizipien auch eine Satznegation realisieren [kann], in der sich die negative operative Bedeutung auf die gesamte Prädikatssphäre bezieht". Als Beispiele für die Synonymie zwischen dem Präfix un- und der Satznegation nicht führt sie (a. a. O. S. 28) die Satzpaare die Briefmarke ist unabgestempelt - die Briefmarke ist nicht abgestempelt und die Filme sind nicht belichtetdie Filme sind unbelichtet an, in denen die PlI-Verben affizierend sind. Auch Fleischer und Barz (1995 :272) räumen dem Präfix un- in Konstruktionen mit affizierenden und effizieren4
Zum Terminus 'intransformativ' vgl. Fabricius-Hansen (1975).
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den Basisverben gleichennaßen die Funktion als Ersatz für die Satznegation ein, richten aber zusätzlich ihr Augenmerk darauf, daß die Wahl zwischen den beiden Negationsalternativen bei gewissen Verben restringiert ist: "Bei Verwendung des Partizips 11 als Subjekts- oder Objektsprädikativ mit bleiben, lassen,jinden u. ä. steht un- obligatorisch für die Satznegation nicht und hat damit rein syntaktische Funktion. "5 M. E. gibt es aber verschiedene Abstufungen der Satznegationsähnlichkeit: Bei affizierenden Basisverben ist sie weniger ausgeprägt als bei effizierenden. Aus finnischer Sicht ist die Frage besonders interessant, weil das Finnische - das sonst nicht über ein subjekthaltiges Diathesen-Passiv verfügt6 --eine passivähnliche Infinitivkonstruktion besitzt, die aus einem kongruenzauslösenden sekundären Subjekt (= logischen Objekt) + jäädä 'bleiben' + Abessiv des 3. Infinitivs besteht und die Bedeutung 'Ausbleiben der ganzen Handlung' hervorhebt. Bei Subjekten mit Existenzpräsupposition, d. h. bei Affiziertheit, konkurriert sie in einigen Fällen mit den Kopula-Prädikativ-Konstruktionen aus jäädä 'bleiben' bzw. pysyä, säilyä '(erhalten) bleiben' und einem Adjektiv auf -matonl-mätön im Translativ bzw. Essiv, vgl. (7a, a'). Bei fehlender Existenzpräsupposition (Effiziertheit) kann dagegen nur die Infinitivkonstruktion mitjäädä verwendet werden, vgl. (7b, b'). Im Deutschen fallt beides in der Fügung bleiben + Negativpartizip zusammen; die Bedeutungsdifferenzierung kann aber u. a. durch Präfigierung des Basisverbs erfolgen (hier bebauen vs. bauen): (7a) Alue jäilsäilyi rakentamatta. (Infinitivkonstruktion) (7a') Alue jäi rakentamattomaksi / Alue säilyilpysyi rakentamattomana. (Kopula-Prädikativ-Konstruktion) 'Das Gebiet blieb unbebaut.' (7b) Talo jäi rakentamatta. (Infinitivkonstruktion) (7b') *Talo jäi rakentamattomaksi /*Talo säilyi rakentamattomana. (Kopula-PrädikativKonstruktion) 'Das Haus blieb ungebaut.' Mit der Infinitivkonstruktion kann im Finnischen auch das Ausbleiben einer Handlung ausgedrückt werden, die mit einem intransitiven bzw. intransitiv gebrauchten Verb bezeichnet wird. In dem Fall hat die Konstruktion kein Subjekt. Da nicht die Valenz vonjäädä, sondern die des Infinitivverbs über das Vorhandensein des (sekundären) Subjekts entscheidet, kann die Verbindungjäädä + Abessiv des 3. Infinitivs als ein weitgehend grammatikalisiertes Verbgefüge betrachtet werden, das einem komplexen Prädikat nahe kommt.? Im Deutschen ist eine entsprechende subjektlose Konstruktion mit bleiben + Negativpartizip dagegen nicht möglich. Der Grammatikalisierungsgrad der bleiben-Konstruktion ist somit geringer als der des werden-Passivs oder der der finnischen Infinitivkonstruktion, vgl. Tänäänjäi onkimatta. -*Heute blieb ungeangelt. - Heute wurde nicht geangelt. Auf das Dualitätsprinzip, das erklärt, warum Das Fenster bleibt ungeöffnet nicht das Gleiche wie Das Fenster bleibt nicht geöffnet bedeutet, gehen Fleischer und Barz (1995: 272) nicht ein. Dagegen heben sie hervor, daß bei einem PlI als einem Bestandteil des komplexen Prädikats, z. B. des werden-Passivs, nur nicht in Frage kommt, vgl. Das Fenster wird nicht geöffnet ~ *Das Fenster wird ungeöffnet. Vgl. auch Lenz (1996: 163) und Rapp (1997: 163). 6 Zum finnischen Passiv aus deutsch-finnischer kontrastiver Sicht siehe Hyvärinen (1996). 7 Grammatikalisierte Verbgeflige enthalten ein valenzneutrales Hilfs- oder Nebenverb. Valenzneutralität zeigt sich insbesondere als Subjektindifferenz, vgl. Hyvärinen (I 989:337ff.). 5
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Die folgende Typenauflistung zeigt, in welchen verbdependenten Distributionen im Deutschen zum einen affirmative, zum anderen negative PlI-Formen vorkommen können: (8a) Sie hat das Buch zu Ende gelesen /*ungelesen. 8 (8a') Sie hat den ganzen Tag gearbeitet /*ungearbeitet. (8b) Sie ist in die Stadt gegangen /*ungegangen. (8c) Das Buch wird ins Deutsche übersetzt /*unübersetzt. (8d) Das Fenster ist geöffnet /ungeöffnet. (8d') Das Fenster bleibt geöffnet /ungeöffnet. (8e) Sie ist geschminkt /ungeschminkt.. (8e') Sie bleibt geschminkt /ungeschminkt. (8f) Seine Haut ist behaart /unbehaart. (8f) Seine Haut bleibt behaart /unbehaart. (8g) Er läßt das Fenster geöffnet /ungeöffnet. Die un-Negation ist bei echt-verbalen periphrastischen Konjugationsformen (8a) - (8c) nicht möglich, da das Präfix un- kein Verbal-, sondern ein ausgesprochenes Nominalpräfix ist (vgl. Anm. 5). Das sog. Zustandspassiv Das Fenster ist geöffnet in (8d) ist ambig. Viele Forscher rechnen mit zwei homonymen Konstruktionen, von denen die eine - ggf. mit einer Agensphrase verbindbare - eine periphrastische Verbform, die andere, mit un- kompatible, eine Kopula-Prädikativ-Konstruktion sei (vgl. Lenz 1996: 165ff. sowie Rapp 1997: 161-217 und die dort angeführte Literatur). Genauso berechtigt es der un-Test, bei unecht-reflexiven Verben wie sich schminken, sich rasieren das sog. Zustandsreflexiv, das formal mit dem Zustandspassiv zusammenfällt (8e), und den entsprechenden Satz mit bleiben (8e') für eine Kopula-Prädikativ-Konstruktion zu halten 9 . Schließlich gibt es Pseudopartizipien lO (8f, f), denen eine echt-verbale Basis fehlt, so daß sie als potentielle Konjugationsformen ausscheiden und somit auch ohne un-Präfigierung immer als echte Adjektive einzustufen sind. Für die vorliegende Studie relevant ist die Tatsache, daß das un-Kriterium die Konstruktionen (8d, d')-(8f, f) syntaktisch als Kopula-Prädikativ-Konstruktionen ausweist. Neben dem oben besprochenen Subjekt-Kriterium ist dies ein weiteres Argument dafür, die Konstruktion bleiben + Negativpartizip nicht für eine zusammengesetzte Verbform zu halten. Die syntaktische Verbnähe der bleiben-Konstruktion ist anders, durch lexikalische und Wortbildungseigenschaften der Konstruktionsteile, zu begründen. -Auf den grammatischen Status der lassenVerbindungen (8g) soll hier nicht näher eingegangen werden. Einen anderen Typ vertritt der Satz Sie hat das Buch ungelesen im Regal, wo ungelesen als sog. freie Prädikativangabe zum Akkusativobjekt fungiert. - In der Auflistung soll die Grammatikalität von Formkombinationen, nicht semantische bzw. pragmatische Kompatibilität veranschaulicht werden. Die letztere würde Gefüge wie *Das Buch blieb gelesen aussondern. Zu semantischen Kookkurenzen vgl. weiter unten. 9 Somit ist die folgende Behauptung von Lenz (1995:70) eine Übergeneralisierung: "Nur passivische Partizipia II können adjektivisch verwendet werden." Ein weiteres Gegenbeispiel ist das aktivische (un)geeignet, dessen Basis das echt-reflexive sich eignen ist, vgl. Faucher (1994:6). 10 Zu Pseudopartizipien siehe u. a. Bernstein (1992) und Starke (1995). 8
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Je produktiver ein Wortbildungsmodell ist, desto größer ist seine Syntaktizität (vgl. Fleischer und Barz 1995:57ff.). Die Negativpartizipien verbinden zwei produktive Wortbildungsmodelle: Die Konversion des PlI zum Adjektiv und die Präfigierung von Adjektiven durch un- gehören zu den produktivsten Mitteln innerhalb der Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache (vgl. Fleischer und Barz 1995:224, 271ff. und Schnerrer 1982:29f.). Von den obigen Typen weist der Typ (8d') Das Fenster bleibt ungeöffnet mit dem höchst produktiven und transparenten detransitiv-passivischen Negativpartizip die größte Verbnähe auf. Aber auch innerhalb von produktiven Modellen gibt es Lexikalisierungstendenzen und somit verschiedene Abstufungen der Syntaktizität. Dabei überträgt ein produktives und frequentes Konstruktionsmodell auch auf die lexikalisierten und idiomatisierten Wörter vom gleichen Typ - durch Nachwirkung und durch Analogie - noch etwas von der prototypischen grammatischen Bedeutung. Transparente Wortbildungstypen sind somit zweidimensional: Sie vereinen Syntaktisches und Lexikalisches und bereichern somit die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Konstruktion mit bleiben + Negativpartizip und das werden-Passiv mit Satznegation weder semantisch voll synonym noch syntaktisch gleichwertig sind, auch wenn sie auf den gleichen Sachverhalt bezogen sind: (1)
Die aktionale Phasenbedeutung ist eine andere: Das werden-Passiv bezeichnet den Sachverhalt als einen Vorgang, die bleiben-Konstruktion als einen intransformativen Zustand.
(2)
Anders als das werden-Passiv ist die Konstruktion mit bleiben + Negativpartizip syntaktisch nicht als komplexes Prädikat, sondern als Kopula-Prädikativ-Konstruktion einzustufen.
(3)
Immerhin lassen die regelhaften Transformationseigenschaften zwischen den beiden Ausdrucksweisen die Frage aufkommen, ob wir es bei bleiben + Negativpartizip nur mit einer "normalen" Kopula-Prädikativ-Konstruktion oder doch nicht eher mit einer relativ weitgehend grammatikalisierten Konstruktion, emer systemhaften negativ-intransformativen Passivparaphrase zu tun haben.
(4)
Alle bleiben-Konstruktionen müssen nicht den gleichen Syntaktizitätsgrad aufweisen. Dieser kann graduell abgestuft sein je nachdem, ob das Basisverb des Negativpartizips effizierend oder affizierend ist und in welchem Grad das Negativpartizip lexikalisiert ist.
2. Empirische Belege Um dem Wesen der bleiben-Fügung nachzugehen, wurden aus zwei Korpora alle Belege mit bleiben + einem mit un- negierten PlI ausgesucht: Es handelt sich zum einen um das sog. dtvKorpus des Instituts für Deutsche Philologie der Universität Würzburg, das zehn dtvTaschenbücher in ihrer tatsächlichen Erscheinungsordnung umfaßt, und zum anderen um die acht bisher computerzugänglich gemachten deutschsprachigen Bände des zweisprachigen kontrastiven Korpus des Projekts "Wortbildung und Textanalyse im deutsch-finnischen Kontrast", an dem das Germanistische Institut der Universität Jyväskylä in Kooperation mit dem eben erwähnten Würzburger Institut seit 1995 arbeitet; dieses Korpus enthält teils Belletristik,
Die Konstruktion bleiben + Negativpartizip
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teils Fachtexte und ist als ein Paralleltext- und bidirektionales Übersetzungskorpus angelegt. (V gl. Punkt (A) der Literaturliste.) Die Belegdichte war nicht sehr groß: In den exzerpierten 18 Bänden wurde die Verbindung bleiben + un-PII insgesamt 53mal belegt. ll Es kamen 38 verschiedene un-PII-Formen vor, von denen nur die unten fett gedruckten im DUW (1996) nicht als Adjektive lemmatisiert sind. Bei den Formen mit umklammertem b. und/oder I. verzeichnet DUW das Verb bleiben bzw. lassen als Kollokation oder in den Beispielen:
unangetastet (b., I.) unangezogen unausgesprochen (b.) unbeachtet (b., I.) unbeantwortet (b.) unbebaut unbeeinflußt unbefleckt unbehelligt (b.) unbemerkt unberührt (b., I.) unbesorgt unbeteiligt (b.)
unbewegt unentdeckt unerjüllt (b.) unerwähnt (I.) unerwidert (b., I.) ungebaut ungedruckt ungeklärt (b.) ungemindert ungerührt (b.) ungesagt (I.) ungeschoren (b.) ungeschrieben (b.)
ungestraft ungetan (I.) ungetrübt (b.) unverändert unverbraucht unverheiratet unverloren unvermindert unverriegelt unversehrt unvollendet unzerstört
Eine Auflistung aller im DUW als Adjektive lemmatisierten un-PII-Formen würde schätzungsweise mehrere hundert Formen umfassen (vgl. Lenz 1995:70, in deren Korpus un-PIIFormen mit 709 Belegen rund 40% der gesamten belegten un-Adjektive betrug). Bei 14, also einem runden Drittel, war bleiben im DUW als ein typischer Kontextpartner mitgegeben. Nur vier un-PII-Formen der belegten bleiben-Fügungen waren im DUW nicht kodifiziert. Im Folgenden werden von den authentischen Korpusbeispielen zuerst die verbferneren Fälle ausgesondert (Kap. 2.1). Dann werden die verbnahen transparenten, semantisch passivischen Detransitivbildungen näher betrachtet (Kap. 2.2). Anschließend wird auf die Grenzziehungsproblematik zwischen passivischen und reflexivischen un-Partizipien eingegangen (Kap. 2.3). In Kap. 3 wird der Status der untersuchten bleiben-Fügung festgehalten, wonach durch einige Beispiele demonstriert wird, was die Sonderleistungen der Fügung zum Textaufbau und Stil beitragen können (Kap. 4).
2.1.
Als Adjektiv lexikalisierte verbfeme Negativpartizipien
Aufgrund des oben Angeführten besteht kein Zweifel, daß es bei der Verbindung werden + un-PII nur um voll lexikalisierte Adjektive mit einem Kopulaverb gehen kann: Wie aus dem Beispiel (8c) oben zu ersehen ist, ist die Negierung des werden-Passivs durch un- nicht möglich. Der Kopula-Charakter von werden in den Beispielen (9) und (10) unten ist auch daran zu erkennen, daß in den zusammengesetzten Vergangenheitstempora die Verbform II
Noch seltener war die kausative Verbindung lassen + un-PII mit insgesamt nur 10 Belegen (und 7 unterschiedlichen un-PII-Formen). Es überrascht nicht, daß sein + un-PII die größte Zahl, nämlich 67 Belege aufwies, denn sein ist das neutrale Kopulaverb für Adjektive.
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geworden - anstatt der für das periphrastische Passiv typischen Form worden - verwendet wird, vgl. (10):
(9)
Eisa wurde jetzt ein wenig ungehalten. (Strauß 165)
(10) Sie wollte sich nicht von ihrer Mutter und ihrer Arbeit trennen, und mein Leben war so ungeordnet geworden. (Fürst 303) Ein deutliches Zeichen für den Adjektivcharakter ist natürlich auch, wenn das Basisverb nicht (mehr) existiert bzw. eine andere Bedeutung hat. So ist zwar der konstruierte Satz Die Waren blieben unbesorgt regelmäßig von dem Transitivverb besorgen 'etw. beschaffen' (DUW 1996:244 s. v. besorgen La)) ableitbar. In (11) hat aber unbesorgt die Bedeutung 'sich wegen etwas keine Sorgen zu machen brauchend; ohne Sorge' (vgl. DUW 1996: 1598).12 (11) Jemand, wahrscheinlich Wrobel, riet Vorsicht an - dort könne, wie altgewohnt, ab- und mitgehört werden -, aber Reschke blieb unbesorgt. (Grass 124) Da versehren schon als veraltet gilt (DUW 1989:1663)13, kann unversehrt synchron als ein lexikalisiertes Adjektiv gelten. Als Bedeutungsparaphrasen verzeichnet DUW a) 'nicht verletzt, verwundet' und b) 'nicht beschädigt'; im Fall a) handelt es sich um eine belebte Bezugsgröße, vgl. (12a), im Fall b) um eine unbelebte Größe (12b): (12a) Ich blieb unversehrt. (Tuuri 201) (12b) Letzteres würde bedeuten, daß etwas verändert wird, das nach meiner Meinung stets unversehrt bleiben sollte. (Hofmann 163) Ein typisches Adjektivmerkmal ist Graduierbarkeit, und zwar entweder durch Komparationsformen oder aber mit Hilfe von Gradpartikeln. Die Beispiele (9)-(10) oben sowie Beispiel (13) unten enthalten graduierende Elemente (ein wenig, so, ganz), und DUW gibt bei vielen Formen die Komparationsformen an, so u. a. bei unbeherrscht (DUW 1996: 1597) und ungepflegt (DUW 1996:1604). Vgl. (13) [... ] ganz unberührt zu bleiben war [... ] unmöglich [... ] (Reich-Ranicki 22) GrenzHille zwischen Verbnähe und Idiomatisierung als spezifisches Adjektiv sind Beispiele wie (14): unbefleckt kommt insbesondere in übertragener Bedeutung mit dem Bezugssubstantiv Ehre vor, gilt als gehoben und bedeutet 'sittlich makellos; rein', wogegen die konkrete Bedeutung 'fleckenlos' selten sei (DUW 1996:1597). Beim verbalen Lemma beflecken sind sowohl die konkrete als auch die übertragene Variante verzeichnet (DUW 1996:218). In solchen Fällen scheint insbesondere die übertragene Variante eine Lexikalisierungsaffinität aufzuweisen, die Konstruktion ist aber noch mit werden-Passiv + Satznegation paraphrasierbar: (14) Unsere Ehre war unbefleckt geblieben. (Tuuri 149) (14') Unsere Ehre war nicht befleckt worden.
12 Die Paraphrase 'ohne Sorge' suggeriert hinter dieser Bildung das Modell der privativen unPseudopartizipien, vgl. Schnerrer (1982:33). Starke (1995:215) subsumiert die Form besorgt jedoch unter ursprünglichen, heute verdunkelten Partizipien.
13 In der Neuauflage DUW (1996: 1663) ist die Angabe ,,(veraltet)" getilgt worden.
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Nicht in einen Passivsatz transfonnierbar ist dagegen die Wendung ungeschoren bleiben im folgenden Beleg, vgl. (15) mit (15'). DUW (1996:1604) verzeichnet rur das übertragene ungeschoren die Bedeutungsparaphrase 'von etw. Unangenehmem nicht betroffen, unbehelligt' und gibt die Kollokationen ungeschoren bleiben, davonkommen an. In diesem Fall ist es m. E. jedoch fraglich, ob es sich um ein voll lexikalisiertes Adjektiv handelt, denn die Form wird in dieser Bedeutung wohl nicht attributiv verwendet (15"); DUW (a. a. 0.) führt nur rur die konkrete Bedeutung ein Attributbeispiel (ein ungeschorenes Lamm/eil) an. Vielmehr handelt es sich um die bekannte Tatsache, daß Phraseologismen Transfonnationslücken aufweisen. Das heißt: Die an sich ursprünglich verbnahe Fügung mit bleiben und dem bildhaft verwendeten Verb scheren im Negativpartizip ist als solche zu einer festen Wendung geworden, deren Teile nicht isoliert werden können. Vgl.: (15) Niemand wurde entlarvt, die Sondersitzung verlief folgenlos, das Paar blieb ungeschoren [... ] (Grass 287) (15') *Das Paar wurde nicht geschoren. (15") *das ungeschorene Paar ~ das ungeschoren gebliebene Paar
2.2. Verbnahe passivische Negativpartizipien Bei syntaxnahen produktiven Wortbildungsmodellen könnte man vennuten, daß nicht jedes Wortbildungsprodukt im Wörterbuch kodifiziert zu werden braucht. Von den verschiedenen verbnahen detransitiven Negativpartizipien bei bleiben waren nur ungebaut, unverloren 14 und unverriegelt im DUW nicht verzeichnet; außerdem kam im Korpus das im DUW nicht kodifizierte unangezogen vor, das im betreffenden Kontext (mit dem Bezugssubstantiv Kinder) entweder als Detransitivum oder als Dereflexivum zu deuten ist (vgl. Kap. 2.3 unten). Diese "Okkasionalismen" fallen nicht besonders auf, was ein typisches Kennzeichen eines vollproduktiven Wortbildungsmodells ist. Trotz der Transparenz waren aber die meisten detransitiven Negativpartizipien im DUW aufgenommen, so z. B. ungetan (16) oder unzerstört (17), vgl. DUW (1996: 1605, 1622). Oft waren sogar die Kollokationen im DUW gerade die belegten, so etwa die Liebe bei unerwidert bleiben, vgl. (18a, b). Solche festen Kollokationen verstärken den lexikalischen Charakter von syntaktisch regelhaften un-PII-Bildungen. In (18b) wird der grammatische Adjektivcharakter auch noch durch die Koordination mit dem Adjektiv einseitig hervorgehoben, das den Inhalt von unerwidert wiederholt und somit die Idiomatisierungsrichtung deutlich anzeigt. Die Beispiele (18a, b) stehen wortwörtlich zwischen Lexikon und Grammatik. Vgl.: (16) Wichtiges blieb ungetan. (Tarkka 54) (17) Zweifellos gab es auch Gegenden, die unzerstört geblieben waren [... ] (Haavikko 60)
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Dabei ist unverloren wegen der Gedichtform ein Sonderfall. Es handelt sich um eine Grabsteininschrift: ,,Nach Unrecht ward das Recht geboren, die Heimat blieb ihm unverloren" (Grass 151).
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(I8a) Wie lange, glaubst du, wird meine Liebe es noch verkraften, dich täglich aufs neue (reinzuwaschen, wenn du vor mir stehst, um dann doch immer unerwidert zu bleiben? Strauß 78) (18b) Denn "die Liebesaffäre der Juden mit den Deutschen" - sagte Gershorn Scholem"blieb, aufs Große gesehen, einseitig, unerwidert, und weckte im besten Fall etwas wie Rührung ... und Dankbarkeit". (Reich-Ranicki 57)
2.3. Reflexivbasierte Negativpartizipien Ein Teil der untersuchten Konstruktionen ist als eine Art "negativ-intransfonnatives Zustandsreflexiv" zu charakterisieren: Anstatt einer Passivparaphrase mit Negation kommt hier eine Paraphrase mit dem entsprechenden Reflexivverb und Satznegation in Frage. Völlig transparent ist z. B. unverheiratet bleiben: es ist (zumindest synchron) auf sich verheiraten zurückführbar (19). Die Transparenz verhindert aber nicht, daß diese Bildung in der Bedeutung 'ledig' im usuellen Wortschatz gespeichert istl5: (19) Der Mann wurde Arbeiter, blieb unverheiratet und lebte - fern von Freunden und Verwandten, die nun alle in Deutschland waren - mutterseelenallein auf dem Hof, der ihm nicht mehr gehörte und langsam zerfiel. (Pausewang 60) (19') Der Mann verheiratete sich nicht. Wie bei den Detransitiva gibt es bei den Dereflexiva auch bedeutungsverschobene bzw. idiomatisierte Bildungen. Trotz der semantischen Weiterentwicklung der Bedeutung ist der reflexive Ursprung u. a. bei unbeteiligt bleiben erkennbar: Es kann prinzipiell auf sich an etw. beteiligen (DUW 1996:248 s. v. beteiligen a» zurückgefiihrt werden. Bei innerlicher NichtBeteiligung hat sich die Bedeutung in Richtung 'desinteressiert' (vgl. DUW 1996: 1598 s. v. unbeteiligt) entwickelt und kann als weitgehend idiomatisiert gelten, vgl. (20a). Ein Zeichen für die abgeschlossene Adjektivierung ist die Tatsache, daß die Form auch mit dem KopulaVerb werden verbunden werden kann (20b). Beim Übergang zum Adjektiv wird oft auch der Valenzrahmen geändert. Bei unbeteiligt in der psychischen Bedeutung wird die Präpositionalphrase mit an nicht mehr realisiert. Um eine konkrete, nicht-idiomatisierte Beteiligung und somit eine syntaxnähere Konstruktion geht es dagegen bei dem dem DUW entnommenen Beispiel an etw. unbeteiligt sein (20c). Vgl. (20a) Selbst wenn er sprach, blieben Chatterjees [... ] Augen unbeteiligt, nach Reschke "traurig abwesend". (Grass 49) (20b) Wo ich mit Willen hinblickte, wurde der Gegenstand alltäglich und unbeteiligt, gegen die Ränder des Gesichtsfeldes hin aber atmeten die Dinge einzeln und wie in Wellen bewegt den einen Atem, der sie alle umfaßte. (Hofmann 93) (20c) Er war an dem Mord unbeteiligt. (DUW 1996: 1598) 15
DUW (1996:1647) vermerkt, daß das transitive verheiraten (vgl. Er hat seine Tochter mit einem Bankier verheiratet) heute veraltet ist. Historisch betrachtet können verheiratet/unverheiratet demnach auch als lexikalisierte Detransitiva gelten.
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Wenn es bei unbewegt um einen Gesichtsausdruck geht, ist es möglich, als Basis sich bewegen zu vennuten (21a). Laut DUW (1996:1598) ist das Wort in ähnlichen Kontexten graduierbar - also fest als Adjektiv lexikalisiert - und bedeutet 'unverändert'. Andererseits könnte man in diesem Satz, genauso wie im Beispiel (21 b), das eine Person als Bezugsgröße des Adjektivs hat, das schon als Verb abstrahierte Transitivum (emotionell) bewegen als Basis annehmen. Auch wenn es sich um Wasser handelt, könnte bei unbewegt genausogut ein Reflexivum wie ein Transitivum mit einem FORCE-Kausator als logischem Subjekt die Basis sein, vgl. den konstruierten Satz (21c), bei dem als Paraphrasen sowohl 'Das Wasser bewegte sich nicht' als auch z. B. 'Das Wasser wurde (vom Wind) nicht bewegt' vorstellbar sind. (21a) Kaisas Miene blieb unbewegt [... ] (IdströmI24) (21 b) Sie blieb ganz kühl und unbewegt. (Zigan 11) (2Ic) Das Wasser blieb unbewegt. Schon diese Sätze sind ein sprechendes Beispiel dafür, daß im Deutschen die Grenze zwischen Passiv und Reflexiv nicht immer ganz deutlich ist. Viele Negativpartizipien sind ambig: Es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob ein transitives oder reflexives Basisverb vorliegt. Dies hängt damit zusammen, daß das Reflexivpronomen beim PlI obligatorisch getilgt wird, so daß kein morphologischer Marker übrigbleibt. Unter Umständen handelt es sich nicht einmal um Ambiguität, sondern um Vagheit: Die Bedeutung bleibt undifferenziert. So ist es z. B. bei unerfüllt, ungemindert, unvermindert, ungeändert bleiben. Im entsprechenden Fall muß im Finnischen der Unterschied morphologisch expliziert werden, und Finnisch scheint hier eine besondere Vorliebe für die Reflexiv- bzw. Autornativverben zu hegen. Aus finnischer Sicht wäre es also naheliegend, auch für das Deutsche Reflexivität zu postulieren, wenn eine Entscheidung überhaupt getroffen werden muß: (22) [... ] deshalb haben so viele, gewiß nicht alle, doch mit dem Älterwerden eine wachsende Zahl Menschen den Wunsch, sozusagen zu Haus unter die Erde zu kommen, ein Wunsch übrigens, der zumeist bitter unenüllt bleibt [... ] (Grass 37) (vgl. fi. jää toteutumatta, Reflexivverb ) (23) Sein Äußeres war schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet, aber seine geistige Ausstrahlung war unvermindert geblieben. (Hofmann 180) Die potentiell dereflexiven Negativpartizipien weisen gleiche semantische und grammatische Lexikalisierungstendenzen auf wie die detransitiven Bildungen. So wird z. B. unerfüllt in (22) von bitter näher bestimmt - ein Adjektivcharakteristikum, das bei einem entsprechenden Reflexiv- oder Passivsatz ausgeschlossen ist: *Der Wunsch erfüllt sich bitter nicht /*Der Wunsch wird bitter nicht erfüllt.
3. Bilanz Zusammenfassend möchte ich behaupten, daß die untersuchte Fügung bleiben + Negativpartizip zwar keine periphrastische Konjugationsfonn, jedoch eine besondere, relativ weitgehend grammatikalisierte Konstruktion ist, die ihre negativ-intransfonnative Konstruktionsbedeutung durch ihre Teile gewinnt. Sie würde es verdienen, in die Liste der
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Passiv-Paraphrasen aufgenommen zu werden (vgl. z. B. Helbig und Buscha 1996: 183-188). In der Interaktion der Konstruktionsteile spielen folgende Faktoren eine zentrale Rolle: (ia)
Der syntaktische Status von bleiben ist nicht ein flir allemal festgelegt: Es wird als Vollverb bzw. Kopula und in hilfsverbähnlichen Funktionen - etwa beim modalen Infinitiv wie es bleibt zu hoffen, zu wünschen, daß ... ; es bleibt abzuwarten, ob ... (vgl. DUW 1996: 266 s. v. bleiben 1f)) - verwendet. Die Kopula nähert sich einem Hilfsverb, wenn das prädikative Adjektiv einem produktiven deverbalen Wortbildungstyp angehört. So wird die Fügung bleiben + (affirmatives) PlI, etwa Das Fenster bleibt geschlossen, von Hentschel und Weydt (1995) zu den "Passivkandidaten" gezählt und von Askedal (1987) für eine periphere Passivform gehalten. Anders als bei Fügungen mit einem affirmativen PlI blockiert aber das Nominalpräfix un- beim Negativpartizip die grammatische Lesart als periphrastische Konjugationsform. Dadurch, daß bleiben und werden duale Operatoren sind, werden jedoch auch die Negativpartizipfligungen eng mit dem syntaktischen werden-Passiv verbunden. Durch die Dualität sind außerdem gewisse Kookkurrenzerscheinungen bedingt: Bei vielen Verben ist die Handlungsrichtung aus semantischen und pragmatischen Gründen nicht umkehrbar, so daß oft nur entweder ein affirmatives oder ein negatives PlI sinnvoll ist. Ersparnisse z. B. können unangetastet, aber nicht *angetastet bleiben, was den Konstruktionsteilen der Fügung unangetastet bleiben eine besondere Zusammengehörigkeit verleihtl6. (ib) bleiben hat sowohl als Kopulaverb als auch als Hilfsverb eine besonders markierte intransformative Phasenbedeutung l7 ; es wird insbesondere dann verwendet, wenn eine dem üblichen Erwartungshorizont entsprechende Veränderung ausbleibt. (ii) Das PlI von transitiven Verben bringt die passivische Bedeutung mit sich. Passivtypisch sind hier die Objekt-zu-Subjekt-Diathese und die Agensabgewandtheit. Da das Agens in der Regel nicht realisiert werden kann, handelt es sich um eine im Vergleich zum werden-Passiv restringiertere Ausdrucksform. Eine weitere Restriktion ist das Fehlen einer subjektlosen bleiben-Konstruktion. (iii) Der Negationsskopus der typischen Wortnegation un- kann sich in bestimmten Fällen auf den ganzen propositionalen Inhalt erstrecken. Der Dualitätscharakter von bleiben bewirkt, daß -anders als bei dem neutralen Verb sein - das Negationspräfix un- und die Satznegation nicht nicht frei gegeneinander ausgetauscht werden können. Summa summarum: Der Zwittercharakter der Konstruktion bzw. ihrer Teile zwischen Grammatik und Lexikon besteht darin, daß die drei wesentlichen Konstruktionsteile isoliert betrachtet potentiell polyfunktionell sind: bleiben kann entweder ein grammatisches Hilfsverb oder ein Kopulaverb sein, die PlI-Form kann entweder Prädikatsteil oder Adjektiv sein, und Zu vennerken ist, daß bleiben auch in Verbindung mit formal affirmativen PII-Fonnen dazu tendiert, feste Gefüge zu bilden; vgl. erhalten bleiben, bewahrt bleiben, beibehalten bleiben; jmdm. erspart bleiben, jmdm. verborgen bleiben, jmdm. versagt bleiben, vor/von etw. verschont bleiben. 17 Askedal (1987) und Lenz (1996) verstehen unter Phasenneutralität Unterschiedliches: Für Askedal ist das werden-Passiv neutral, die sein- und bleiben-Passive seien besonders phasenmarkiert. Das stimmt insoweit, als das Vorgangspassiv sowohl zu durativen als auch perfektiven Verben gebildet werden kann. Die aktionale Bedeutung des Passivhilfsverbs werden ist zum Teil verblaßt. - Für Lenz (1996) ist sein phasenneutral, da es an dualen Operationen nicht beteiligt ist. 16
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das Präfix un-, das morphostrukturelliexemgebunden ist, leistet hier funktionell Ersatz für die syntaktische Satznegation. Dieser Nährboden ermöglicht einen fließenden Übergang, in dem der Syntaktizität Lexikalisierungstendenzen entgegenwirken, so daß nicht alle gleich aussehenden Fügungen den gleichen Stellenwert haben.
4. Wozu kann man die Konstruktion bleiben + Negativpartizip gebrauchen? Zuletzt soll noch gezeigt werden, wie geschickte Schreiber die grammatischen Bedeutungen der bleiben-Konstruktion zur stilistischen Variation einsetzen können. Von den exzerpierten Autoren erwies sich insbesondere Reich-Ranicki als wahrer Konstruktionskünstler. Die Eigenschaft als Passiv-Paraphrase kann ausgenutzt werden, und zwar zum einen, um die Wiederholung des Passivs zu vermeiden, und zum anderen, um zwischen Agenszugewandheit (Aktiv) und Agensabgewandtheit zu variieren. Eine Variation zwischen dem werden-Passiv und der bleiben-Konstruktion - mit zusätzlicher lexikalischer Variation - kommt z. B. oben in (15) synonymisch vor: Niemand wurde entlarvt - das Paar blieb ungeschoren. Eine ähnliche Variation begegnet unten in (24), diesmal antonymisch: drei Trakte wurden errichtet - der Nordtrakt blieb ungebaut. In (25) wird wiederum zwischen Aktiv und der passivischen bleiben-Konstruktion synonymisch variiert: die Nachschlagwerke nennen ihn nicht - auch bei Wapnewski bleibt er unerwähnt. Vgl.: (24) Der zum Platz hin gelegene Haupttrakt des Senatsgebäudes wurde 1822, der Südtrakt 1824 und der Osttrakt 1826-1828 errichtet; der Nordtrakt blieb in dieser Phase ungebaut. (Nikula 70) (25) Daß Süßkind von Trimberg, einer von den einhundertvierzig Poeten, deren Verse in der Manessischen Handschrift vereint sind, zu den bedeutenderen Dichtem des 13. Jahrhunderts keineswegs gehört - (die meisten Literaturgeschichten und Nachschlagewerke nennen ihn überhaupt nicht, auch in Peter Wapnewskis "Deutscher Literatur des Mittelalters" bleibt er unerwähnt) -, dessen zumindest können wir sicher sein. (ReichRanicki 167) Die besondere Bewandtnis mit der dualen Negation macht die Konstruktion gut verwendbar als Litotes - auch dafür bietet das Korpus mehrere Belege,18 In (26) gibt es mehrere Ausdrücke für die Unwichtigkeit, Belanglosigkeit von Ereignissen, zu denen der Tod durch die litotetische Doppelnegation als etwas Markantes in Kontrast gesetzt wird: (26) Aber was immer sie aus der Hand gab, die kurze Besprechung einer belanglosen Premiere, die Glosse zu einem Vorfall, der schon einige Tage später vergessen war, der Hinweis auf einen alten Mimen, an den man sich kaum noch erinnern konnte, dessen Tod jedoch in der Zeitung nicht unerwähnt bleiben sollte - alles ist in jenem wohlklingenden Deutsch formuliert, das sich trotz der meist erforderlichen Knappheit ebenso durch Anmut auszeichnet wie durch Sachlichkeit. (Reich-Ranicki 124) Beispiel (27) verbindet auf eine sehr gekonnte Weise beide Aspekte, die der Diathesenvariationen und die der litotetischen Doppelnegation (sagen, nicht ungesagt bleiben, nicht beschönigt 18 Vgl. auch Schnerrer (1982:44ff.), die die stilistischen Nuancen der litotetischen Doppelverneinung
in 5 Funktionsgruppen einteilt.
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werden). Beispiel (28) demonstriert schließlich, wie die Konstruktion als Teil der allgemeinen lexikalischen Variation nutzbar gemacht wird, denn in dem langen Gesamtsatz wird der gleiche Inhalt von (äußerer) Unbetroffenheit viermal mit jeweils anderen Worten ausgedrückt (seine Haltung bewahren; weder das eine noch das andere zeigen; ganz unberührt bleiben; gleichgültig bleiben):
(27) Eben deshalb und weil es sich um ein sehr persönliches Buch und um das Werk wohl von Jahrzehnten handelt, fällt es mir besonders schwer zu sagen, was, glaube ich, nicht ungesagt bleiben darf und was gerade in diesem Fall nicht beschönigt werden sollte [... ] (Reich-Ranicki 168) (28) Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit bewahrte, daß man weder das eine noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut anaesthesieren ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt. (Reich-Ranicki 22)
5. Literatur (A)
Belegquellen
(Al) dtv-Korpus des Instituts für Deutsche Philologie der Universität Würzburg: Demski, Eva (1993): Scheintod. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11675). Fink, Gerhard (1993): Who 's who in der antiken Mythologie. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 30363). Fürst, Max (1993) [1973]: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. 4. Aufl. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11692). Hofmann, Albert (1993): LSD - mein Sorgenkind. 2. Aufl. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 30357). Huber, Lotti (1993): Diese Zitrone hat noch viel Saft! Ein Leben. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11673). Möckel, Klaus (1993): Hoffnung für Dan. Aus dem Alltag mit einem behinderten Kind. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 30355). Pausewang, Gudrun (1993): Geliebte Rosinkawiese. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11718). Reich-Ranicki, Marcel (1993): Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11677). Spinnen, Burkhard (1993): Dicker Mann im Meer. Geschichten. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11696). Zigan, Margarete (1993): Möwenfutter. Kriminalgeschichten. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11684).
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(A2) Deutschsprachige Bücher aus dem Korpus des Projekts "Wortbildung und Textanalyse im deutsch-finnischen Kontrast" Grass, Günter (1994)[1992]: Unkenrufe. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11864). Haavikko, Paavo (1994): Fleurs mittlere Reife. Aus dem Finnischen von Gisbert Jänicke. Salzburg, Wien: Residenz Verlag. Hein, Christoph (1994)[1989]: Der Tangospieler. Eine Erzählung. Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag (= AtV 1025). Idström, Annika (1993): Mein Bruder Sebastian. Deutsch von Gabriele Schrey-Vasara. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH (= rororo 1090, neue frau 13345). Nikula, Riitta (1993): Bebaute Landschaft. Finnlands Architektur im Überblick. Deutsche Fassung: C.-A. von Willebrand. Helsinki: Otava. Strauß, Botho (1994)[1987]: Niemand anderes. Zweite Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag (= dtv 11236). Tarkka, Jukka (1991): Weder Stalin noch Hitler. Finnland während des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Finnischen von c.-A. v. Willebrand. Helsinki: Otava. Tuuri, Antti (1992): Der Winterkrieg. Aus dem Finnischen von Peter Uhlmann. Leipzig, Weimar: Kiepenheuer.
(B) Theoretische Quellen Askedal, John OIe (1987): Syntaktische Symmetrie und Asymmetrie im Bereich der passivischen Fügungen des Deutschen. In: Centre de Recherche en Linguistique Germanique (Hg.): Das Passiv im Deutschen. Akten des Kolloquiums über das Passiv im Deutschen, Nizza 1986, 17-49. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 183). Bernstein, WolfZ. (1992): Pseudopartizipien im deutschen Sprachgebrauch. Heidelberg: Groos. Duden Grammatik (1995) = Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 5., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben und bearbeitet von Günther Drosdowski in Zusammenarbeit mit Peter Eisenberg u. a. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. DUW (1989) = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag. DUW (1996) = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln. Bearbeitet von Günther Drosdowski und der Dudenredaktion. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag. Fabricius-Hansen, Cathrine (1975): Transformative, intransformative und kursive Verben. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 26). Faucher, Eugene (1994): Partizip oder Adjektiv? Partizip oder Infinitiv? Benennungs- und Abgrenzungsfragen. In: D. Bresson, M. Dalmas (Hgg.): Partizip und Partizipialgruppen im Deutschen, 117. Tübingen: Narr (Eurogermanistik 5). Fleischer, Wolfgang und Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Unter Mitarbeit von Marianne Schröder. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Tübingen: Niemeyer. Helbig, Gerhard und Buscha, Joachim (1996): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 17. Auflage. Leipzig, Berlin, München, Zürich, New York: Langenscheidt, Verlag Enzyklopädie. Hentschel, Elke und Weydt, Harald (1995): Das leidige bekommen-Passiv. In: H. Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Helbig zum 65. Geburtstag, 165-183. München: Iudicium.
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Hyvärinen, Irrna (1989): Zu finnischen und deutschen verbabhängigen Infinitiven. Eine valenztheoretische kontrastive Analyse. Teil 1: Theoretische Fundierung und Abgrenzung des Prädikats. Frankfurt am Main, Bem, New York, Paris: Peter Lang Verlag (Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache 25). - (1996): Passivrestriktionen im Deutschen aus der Perspektive des finnischen DaF-Unterrichts. In: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch '96 für Estland, Lettland und Litauen. Dritte Folge, 111142. Lenz, Barbara (1995): un- Affigierung: unrealisierbare Argumente, unausweichliche Fragen, nicht unplausible Antworten. Tübingen: Narr (= Studien zur deutschen Grammatik 50). - (1996): sein, bleiben und werden im Negations- und Partizipial-Kontext. In: Linguistische Berichte 162,161-182. Löbner, Sebastian (1990): Wahr neben Falsch. Duale Operatoren als die Quantoren natürlicher Sprache. Tübingen: Niemeyer (= Linguistische Arbeiten 244). Rapp, Irene (1997): Partizipien und semantische Struktur. Zu passivischen Konstruktionen mit dem 3. Status. Tübingen: Stauffenburg Verlag (= Studien zur deutschen Grammatik 54). Schnerrer, Rosemarie (1982): Funktionen des Wortbildungsmorphems un- in der deutschen Gegenwartssprache. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 2, 22-51. Starke, Günter (1995): Lexikologische Probleme des deutschen Pseudopartizips. In: 1. Pohl, H. Erhardt (Hgg.): Wort und Wortschatz: Beiräge zur Lexikologie. Tübingen: Niemeyer. S. 211-220.
Frank Liedtke . Düsseldorf
Grammatikalisierung und Imperativ eine historisch-vergleichende Skizze
Grammatikalisierung Wie Lehmann (1995) feststellt, geht der Begriff der Grammatikalisierung zwar auf A. Meillet (1912) zurück, die dahinterstehende Idee ist jedoch wesentlich älter. Schon Condillac, Horne Tooke, Schlegel und Humboldt arbeiteten mit diesem Konzept. So verglich Schlegel 1818 den Prozeß der semantischen Deprivation von Lexemen hin zu grammatischen Formativen mit der Entstehung des Papiergeldes, das ja auch keinen oder nur einen geringen Eigenwert hat. Humboldts Entwicklungsschema der Entstehung "grammatischer Bezeichnung", das als Agglutinationstheorie die folgende Diskussion bestimmte, unterstellt eine "verloren gehende Bedeutung der Elemente und Abschleifung der Laute in langem Gebrauch" (1822). Der prominenteste Anhänger der Agglutinationstheorie, Georg von der Gabelentz, fuhrt Grammatikalisierungsprozesse auf zwei "Kräfte" zurück, die "des Bequemlichkeitstriebes, der zur Abnutzung der Laute fuhrt, und des Deutlichkeitstriebes, der jene Abnutzung nicht zur Zerstörung der Sprache ausarten läßt." (1901, 256) Meillet schließlich spricht explizit von "grammaticalisation" im Sinne einer "attribution du charactere grammatical a un mot jadis autonome." (1912, 131) Angesichts der reichen Anzahl gegenwärtiger Ansätze zur Grammatikalisierung [vor allem Giv6n (1979), TraugottlHeine (1991), Heine/ClaudilHünnemeyer (1991)] beziehe ich mich in der folgenden Skizze exemplarisch auf die Theorie von Bybee/Perkins/Pagliuca (1994), weil hier einerseits grundsätzliche Aspekte der Grammatikalisierungsdefinition angesprochen werden, andererseits die Entwicklung grammatischer Kategorien des Verbs im Vordergrund steht, was ja fur das anstehende Thema relevant ist. Beachtlich ist auch die empirische Breite der Untersuchung - 76 Sprachen wurden auf der Basis von Referenzgrammatiken untersucht. Die Aufgabe einer Theorie der Grammatikalisierung sehen Bybee et ai. in der Rekonstruktion eines sprachhistorischen Prozesses, in dessen Verlauf aus lexikalischen Morphemen grammatische entstehen: [... ] grammaticization theory begins with the observation that grammatical morphemes develop gradually out of lexical morphemes or combinations of lexical morphemes with lexical or grammatical morphemes. (1994, 4)
Gegenstand der Untersuchung bilden fur Bybee et ai. diejenigen grammatischen Morpheme, die mit dem Verb verbunden sind, wozu unterschiedliche linguistische Elemente zählen: Affixe, Alternationen im Stamm, Hilfsverben, Partikel oder komplexe Konstruktionen wie das englische be going to. Abgekürzt werden diese Elemente ,,grams" genannt, und sie werden zu Klassen zusammengefaßt, sogenannten ,,gram-types" (s. Bybee et ai., 1994). Das Spezifische dieser gram-types ist, daß sie nicht mit den traditionellen Kategorien Tempus, Modus ete. zusammenfallen, sondern eine Ebene darunter angesiedelt sind. Gram-types sind also z. B.
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Futur, Perfektiv, Imperfektivetc. (Zu einer Ausarbeitung des gram-type-Ansatzes auch fUr das Deutsche s. Dahl, 1996). Im Zuge der Ausformulierung ihres Ansatzes stellen sie einige Hypothesen zur Grammatikalisierungstheorie auf, die aufgrund ihrer Relevanz fUr die hier diskutierte Fragestellung kurz zusammengefaßt werden sollen (s. Bybee et al. 1994, 9-24). Sie sind unter folgenden Stichworten zu finden: Source determination, unidirectionality, universal paths, retention of earlier meaning, semantic reduction and phonological reduction, layering, relevance. Diese Begriffe sind wie folgt zu verstehen: Source determination: Die ursprüngliche Bedeutung der Konstruktion, die am Anfang des Grammatikalisierungsprozesses steht, determiniert den Weg, den dieser Prozeß nehmen wird und somit auch die resultierende grammatische Bedeutung. Dies trifft zum Beispiel auf die englische Konstruktion be going to zu, deren Bedeutung sich von einer ursprünglichen "Bewegung auf ein Ziel zu" zu einem Futur-Markierer entwickelt hat. Gleiches gilt fUr das Französische venir de: ein Bewegungsverb mit einer Ablativkonstruktion verändert seine Bedeutung hin zu einem perfektivischen Tempusmarkierer. Unidirectionality: Die Entwicklung geht, semantisch gesehen, vom Spezifischen zum Allgemeinen, und dieser Prozeß ist nicht umkehrbar. So entwickeln sich aus Bewegungsverben sowie Ausdrücken, die einen Wunsch oder eine Obligation denotieren, Ausdrücke mit einer allgemeineren futurischen Bedeutung, nicht jedoch umgekehrt. Universal paths: Grammatikalisierungsprozesse aus sprachübergreifend verwandten Grundbedeutungen tendieren dazu, in verschiedenen Sprachen den gleichen Verlauf zu nehmen. Dies ist auf gemeinsame kognitive und kommunikative Rahmenbedingungen, die dem Sprachgebrauch unterliegen, zurückzufUhren. Retention 0/ earlier meaning: Spezifische ursprüngliche Bedeutungsanteile erhalten sich auch nach abgeschlossenem Grammatikalisierungsprozeß. So ist im Englischen die Frage "Shall I call you a cabT angemessener als die Form "Will I call you a cab?", weil im ersten Fall der semantische Rest einer Obligation noch durchscheint, der in dieser Frage auch am Platze ist. Semantic reduction and phonological reduction: Je allgemeiner die Bedeutung sprachlicher Formen ist, umso höher ist ihre Gebrauchsfrequenz. Häufig gebrauchte Formen sind in der Regel kürzer als selten gebrauchte. Daraus ergibt sich folgende Abstufung: Grammatische Morpheme sind phonetisch reduziert gegenüber Lexemen mit allgemeiner Bedeutung, die wiederum reduziert sind gegenüber Lexemen mit spezifischer Bedeutung. Layering: In einer Sprache können verschiedene Formen mit der gleichen Funktion koexistieren, was ein Zeichen fUr die historische Schichtung eines synchronischen Sprachzustands ist. So treten im Gegenwartsenglischen folgende Formen, deren Aufgabe es ist, eine Obligation auszudrücken, gleichzeitig auf, wobei nur eine stilistische Differenzierung eine Rolle spielt: "You have to/You 've gottalYou gotta ... "
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Relevance: Wenn zwei Lexeme, die einen potentiellen Stamm und ein potentielles Affix aus-
machen, semantisch eine Einheit bilden, ist Affigierung wahrscheinlich. Dies sind die Grundbegriffe, mit denen Bybee et al. ihre sprachvergleichende Untersuchung über die Verb-Morphologie in den verschiedenen gram-types durchführen. Ihr Ziel ist es letztlich, in diachroner Perspektive universelle Entwicklungslinien festzumachen, entlang derer die Entstehung grammatischer Morpheme aus Lexemen rekonstruiert werden kann. Im Vordergrund stehen dabei diejenigen grams, die sich den traditionellen Kategorien Tempus, Aspekt und Modus zuordnen lassen. Da der Imperativ als Verbmodus sowohl formal als auch semantisch im Deutschen klar umrissen ist, stellt sich die Frage, ob der skizzierte Ansatz dazu beitragen kann, die Entstehung der Imperativ-Morphologie im Deutschen und kontrastiv dazu in anderen Sprachen zu erklären. Ebenso sollen andere direktivische Ausdrücke und ihre Herleitung berücksichtigt werden. Um dies zu klären, möchte ich zunächst die ImperativMorphologie im Deutschen synchron und diachron relativ unabhängig von dem vorgestellten Paradigma darstellen, um dann im Anschluß einen Erklärungsversuch im Sinne des gramtype-Ansatzes vorzunehmen.
Imperativ Der Imperativ als Verbmodus gehört zu den umstrittensten Paradigmen im Deutschen, nicht etwa weil er formal nicht eindeutig gekennzeichnet wäre, sondern weil es sehr unterschiedliche Positionen über seinen Umfang gibt. Im Folgenden sind sechs verschiedene Auffassungen darüber zusammengefaßt, was zum Imperativ-Paradigma gehört und was nicht. Der Verdacht liegt nahe, daß es ebensoviele Auffassungen wie Autoren gibt. I.Ps.Sg. I.Ps.PI. 2.Ps.Sg. 2.Ps.PI. 3.Ps.Sg. 3.Ps.PI.
(Bin ich man nicht so) Gohonwk ~ Geh(e) ins Kino Geht ins Kino Nimm sich, wer will
GOhonSiOi"'Kin~
Windfuhr (1967) MatzellUlmtad(1978) Donhauser (1986) Bierwisch (1963) Winkler (1989) Wundodich(1984)
Donhauser (1986) und Wunderlich (1984) vertreten die restriktive Auffassung, daß nur die 2. Ps. Sg. dem Imperativ zuzurechnen sei. Großzügiger ist Bierwisch (1963), der die 1. Ps. PI., die 2. Ps. Sg., die 2. Ps. PI. und die 3. Ps. PI. als imperativisch akzeptiert. Winkler nimmt zu den genannten Formen noch die 3. Ps. Sg. hinzu und weist damit die Idee, es könnte sich um einen abgelauteten Konjunktiv der 3. Ps. handeln, zurück. Windfuhr (1967) nimmt schließlich die Maximalposition ein und läßt alle aufgeführten Formen als imperativisch zu. Der Ansatz von MatzellUlvestad (1978) beinhaltet die Auffassung, daß die 1. Ps. PI. als Adhortativ und die 3. Ps. PI. als Höflichkeits-Imperativ zum Paradigma zählen, ohne daß damit eine Ausschließlichkeit behauptet würde. Es soll an dieser Stelle keine "Entscheidung" getroffen werden darüber, welche Auffassung die meisten Vorteile bietet und daher zu bevorzugen ist. Insgesamt scheint die Auffassung von Bierwisch auch unter dem Gesichtspunkt einer vollständigen Erfassung des Form-FunktionsVerhältnisses die praktikabelste zu sein. Er erfaßt alle und nur die Formen, die in einer &fault
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Interpretation eine direktivische Lesart des korrelierten Sprechakts beinhalten. Ob man Windfuhr folgen und eine 1. Ps. Sg. annehmen soll, erscheint zweifelhaft allein schon aufgrund der handlungstheoretischen Probleme, die mit der Annahme von Selbst-Aufforderungen verbunden sind. Die Annahme der 2. Ps. Pl. erscheint als Pendant zur 2. Ps. Sg. sinnvoll, ebenso wie die des Adhortativs (1. Ps. Pl.) und des Höflichkeits-Imperativs (3. Ps. Pl.), denn mit fallender Intonation gesprochen ergibt sich für diese Formen kaum eine andere Interpretation als die direktivische. Eine restriktivere Haltung ist allenfalls möglich, wenn man den Imperativ 2. Ps. Sg'/Pl. als prototypischen Imperativ auszeichnet, ohne die anderen zwei Formen auszuschließen. Sein besonderes Merkmal ist seine syntaktische Umgebung. Er kommt in Spitzenstellung in subjektlosen Sätzen vor, in denen die Subjektlosigkeit nicht auf Vorfeldtilgung zurückzuführen ist. Auch sprachhistorisch hat die Tilgunsanalyse keine Basis: Die Subjektlosigkeit des Imperativs ist nicht der Effekt einer diachronen Tilgung des Pronomens - Subjektpronomina sind bei Imperativen nicht irgenwann weggefallen, sondern sie sind nie hinzugekommen. Sie blieben in diesem Falle fakultativ, verhielten sich also wie alle anderen Verbformen früherer Sprachstufen auch (s. hierzu Dal 1966, Neu 1988; ausführlicher ist dieser Aspekt in Liedtke 1993 dargestellt). Wenn man bei den Formen ist, die per default mit einem direktivischen Sprechakt korreliert werden, dann sollte man sich nicht auf diejenigen Sätze beschränken, die ein Verb im Imperativmodus enthalten. Gerade im Blick auf Grammatikalisierungsprozesse müssen Satztypen berücksichtigt werden, die zwar nicht als Imperativsätze gelten, da sie kein imperativisches Verb enthalten, jedoch trotzdem - mit fallender Intonation gesprochen - als Korrelate eines Direktivs fungieren. Gerade an ihnen kann man mögliche Grammatikalisierungspfade studieren. Mindestens folgende Fälle zählen dazu: Gebrauch von Modalverben: Du mußt dich beeilen. Wollen Sie sich um 17 Uhr in der Hotelhalle einfinden (* Will dich ... ). Modaler Infinitiv: Du hast ihm zuzuhören. Es ist um 7 Uhr anzufangen. Selbständig gebrauchter Infinitiv/Partizip: Herhören./Hergehört. (* Herhörend.) Eingebettete Infinitive: Es ist an dir, den ersten Schritt zu tun. Konjunktional eingeleitete Nebensätze: Daß du mir pünktlich nach Hause kommst. (Und) Ob du die Fenster putzt. Aussagesatz mit Handlungsverb 2. Ps. Sg. Präs.: Du trägst die Koffer 'runter. Aussagesatz mit Handlungsverb 3. Ps. Sg. Konj. Präs.: Man nehme 12 Eier... Unpersönliches Passiv:
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Hier wird nicht geraucht. Wie Bybee et al. betonen, ist ein diachroner Ansatz fiir die Explikation grammatischer Erscheinungen unverzichtbar, weil dadurch die Erkärungskraft entscheidend erhöht wird. Nur zu zeigen, daß eine Form oder Konstruktion eine bestimmte Funktion hat, ist nicht ausreichend, wenn man erklären will, wie diese überhaupt entstanden ist. Es muß ebenfalls gezeigt werden, wie diese Konstruktion die bestimmte Funktion übernehmen konnte (s. Bybee et al., 1994,3). Bezogen auf den Imperativ heißt dies, daß die Entwicklung der imperativischen Verbform und der Subjektlosigkeit des Imperativsatzes in der 2 Ps Sg.lPI. berücksichtigt werden muß, wenn man an einem vollständigen Bild dieses morphosyntaktischen Phänomens interessiert ist. Es sollen deshalb einige Anmerkungen zur Diachronie des Imperativs gemacht werden. Im Althochdeutschen bestand die morphologische Struktur der Imperativformen aus einem Grundmorphem und einem Relationsmorphem. Letzteres trug die grammatischen Informationen über Person, Numerus und Modus des Verbs. Das Relationsmorphem trat nicht nur in Imperativen, sondern auch in anderen Verbmodi auf, so daß sich die heute obligatorischen Personalpronomina als unnötig erwiesen - die grammatische Information war in den Relationsmorphemen enthalten und wurde nur fakultativ in den Personalpronomina wiederholt (s. Simmler 1989). F. Simmlers Untersuchung zur Geschichte der Imperativsätze, die ich im Folgenden auszugsweise wiedergebe, stützt sich auf die verschiedenen Ausformungen der Benediktinerregel, die aufgrund ihrer normativen Funktion und ihrer geschichtlichen Textkonstanz (sie liegt in lateinischer Fassung und in verschiedenen deutschen Fassungen vom 9. Jh. bis zur letzten Druckfassung von 1978 vor) eine äußerst geeignete Materialgrundlage darstellt. In der frühen Fassung zu Beginn des neunten Jahrhunderts traten Imperativ-Formen auf wie ahd. hlose; kehnegi; intfah; erfulli (das Relationsmorphem ist kursiv gesetzt) - mit den nhd. Entsprechungen höre; neige; nimm an; erfiille. Wird der Imperativ mit einem Personalpronomen verwendet, was im ahd. äußerst selten der Fall ist, dann hat dies Hervorhebungsfunktion. Das Gleiche gilt fiir den Imperativ der 2. Ps. Sg. Der Imperativ 2. Ps. PI. ist mit dem Indikativ 2. Ps. PI. Präs. homophon. Da das Personalpronomen fiir den Indikativ nicht distinktiv ist wie im nhd., erfolgt seine Kennzeichnung durch zusätzliche - fakultative Vokative, die ihn vom Indikativ abheben sollen. Hierfiir steht das folgende Beispiel (dieses und die folgenden Beispiele wurden von Simmler 1989 übernommen): Ahd. ghuemat suni hoorat mih - nhd. kommt, Söhne, hört mich an. Kommen im Satz vorgängige verba dicendi vor, dann wird schon aus der Syntax heraus klar, daß nicht die 2. Ps. PI. Ind. Präs. vorliegt. Dies ist in folgendem Satz der Fall: Ahd. die qhuuedant tuat die keuuisso tuant tuan nichurit nhd. was sie sagen, tut, was sie aber tun, sollt ihr nicht tun. Der Gebrauch von Modalverben zur Kennzeichnung von Direktivität tritt ab dem l3. Jh. auf, im Sg. wie im PI., wie man an den folgenden Beispielen mit den Verben suln und wellen erkennt: so sult ir niht erherten iwer herce. (Mitte 13. Jh.) ir uuellent nit irherten dv herzin iuwer (Mitte/Ende 12. Jh.) wenn ihr seine Stimme höret, wollet eure Herzen nicht verhärten (1855) Der Adhortativ ist in der althochdeutschen Fassung der Benediktinerregel durchaus belegt, interessanterweise kommt er hier ohne Personalpronomen mit Subjektfunktion vor. Dies be-
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stätigt noch einmal den oben erwähnten sprachgeschichtlichen Befund der fakultativen Kodierung der Subjektfunktion. Die Beispiele sind: Ahd. erstantames (Anfang 9. Jh.) - nhd. stehen wir auf. Das Relationsmorphem -ames ist allerdings homophon auch bei der 1. Ps. PI. Präs. subjektlos anzutreffen, weshalb hier die morphologische Zuordnung zum Imperativparadigma zweifelhaft erscheint. Im südrheinfränkischen Schreibdialekt (der Sprache Otfrieds) ist das Relationsmorphem -emes/-ames allerdings ein spezifisches Kennzeichen der 1. Ps. PI. Präs. Ist dies nicht gegeben wie in der zitierten Benediktinerregel, dann muß die syntaktische Umgebung zur Vereindeutigung beitragen. Dies ist in folgendem Beispiel gegeben, das über einen Vokativ verfügt: ahd. after deserv antfrahidu pruadra hooremees truhtinan antlengantan nhd. nach dieser Frage, Brüder, hören wir den antwortenden Herrn In einer späteren Fassung der Benediktinerregel findet sich bisweilen das Personalpronomen bei Adhortativen: davon wir vfstanden zirn iungestin (Mitte/Ende 12. Jh.) darum erheben wir uns endlich einmal (1896). Modalverben zur Kennzeichnung einer adhortativen Funktion treten ab dem 13. Jh. auf, wobei zunächst suln, erst in der zweiten Hälfte des 16. Jh. unser heutiges lassen gebraucht wird. Darurnbe suln wir ufsten (Mitte 13. Jh.) Derhalben last uns endtlich einmal vom Schlaff aufstehn (1574) Lasset vns derhalben einest vom Schlaff auffstehn. (1670) Damit möchte ich die Darstellung des diachronen Aspekts nach Simmler (1989) abschließen. Hinsichtlich der Grammatikalisierungsfrage erscheinen neben den imperativischen Formen auch die "benachbarten" Formen (wie der Adhortativ mit Modalverben) relevant, weil hier mögliche Entwicklungen zu einer imperativischen Bedeutung sehr viel besser nachgezeichnet werden können als beim Imperativparadigma im engeren Sinne (2. Ps. Sg.lPI.), das sich historisch nur gering verändert hat. Ich möchte nun zur Ausgangsfrage zurückkommen und den Ansatz von Bybee et al. dahingehend untersuchen, inwiefern er für die anstehende Fragestellung der Herausbildung des Imperativparadigmas und der anderen direktivischen Formen im Gegenwartsdeutschen eine angemessene Erklärung ermöglicht.
Grammatikalisierung und Imperativ Das Buch "The Evolution of Grammar" von Bybee et al. enthält ein Kapitel über "Mood and Modality" (176-242), in dem sich die für den Imperativ bedeutsamsten Passagen finden. Bybee et al. gehen hier von vier Typen von Modalität aus, von denen zwei fur das Thema von Interesse sind: Agens-orientierte und Sprecher-orientierte Modalität. Agens-orientierte Modalität liegt vor, wenn vom Agens-Träger des Satzes eine bestimmte Modalität ausgesagt ist, wobei der Satz reportativen Charakter hat. So kann ausgesagt sein, daß fur den Agens-Träger etwas obligatorisch ist, daß er etwas braucht oder nötig hat, daß er etwas kann, etwas wünscht etc. - Agens-orientierte Modalität wird in der Regel nicht flexivisch ausgedrückt, sondern
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lexikalisch. Sprecher-orientierte Modalität liegt dann vor, wenn nicht das Vorliegen bestimmter Bedingungen/Obligationen bezüglich des Agens-Trägers reportiert werden soll, sondern wenn der Sprecher mithilfe der Satzäußerung diese Bedingungen/Obligationen dem Adressaten auferlegt. Ohne Sätze und Äußerungen zu unterscheiden, schreiben Bybee et al. Sprecher-orientierte Modalität solchen Sätzen/Äußerungen zu, die als direktivisch gekennzeichnet werden können, also Befehlen, Aufforderungen, Bitten etc. Sie fUhren folgende Untertypen von Sätzen/Äußerungen mit sprecher-orientierter Modalität ein: Imperative (Aufforderungen), Prohibitive (Verbote), Optative (Wunschausdrücke), Hortative (Ermutigungen), Admonitive (Warnungen) und Permissive (Erlaubnisse) (s. Bybee et al. 1994, 179). Sprecher-orientierte Modalität wird in der Regel flexivisch ausgedrückt und nicht lexikalisch, wobei die Tendenz der Grammatikalisierung vom Nichtflexivischen zum Flexivischen geht, das heißt also von der Agens- zur sprecher-orientierten Modalität. Dies läßt sich am folgenden sprachvergleichenden Datenmaterial durchaus bestätigen. Die Untersuchung der grams fUr Modalität beginnt zunächst mit der agens-orientierten Form, also der reportativen Lesart von Modalitätszuschreibungen. Unter den oben aufgefUhrten Unterklassen ist die Modalität der Obligation die am häufigsten vorkommende. In ihrer Sammlung finden Bybee et al. folgende Formen fUr diese Modalität in den untersuchten Sprachen - wobei sie zugestehen, daß an dieser Stelle die Abgrenzung zwischen grammatischen und lexikalischen Formen aufgeweicht ist. So treten häufig Konstruktionen auf, die auf Obligationen referierende Lexeme enthalten. Ich füge der folgenden Auflistung von Bybee et al. (1994, 181 ff.) jeweils die deutsche Entsprechung hinzu, um so überprüfen zu können, ob ihre Ergebnisse auch auf das Deutsche anwendbar sind: Die erste Gruppe enthält Lexeme, die zu dem Verb schulden in Beziehung stehen: Dänisch skulle (abgeleitet von einem Verb mit der Bedeutung 'schulden') Kantonesischying goi ('schulden') Deutsch sollen (etymologisch abgeleitet aus schulden) (s. Kluge 221989, 678) Die zweite Gruppe nutzt die Bedeutung von benötigen, notwendig sein: Baskisch bear ("need") Deutsch nicht brauchen (Negierung einer Obligation) Sodann gibt es Fälle, die eine Übereinstimmung, ein Einpassen kennzeichnen: Mwera (Benue Congo) wandicila (Hilfsverb mit der Bedeutung "be fitting, be proper") Labu (Tibeto-Burmesisch) c:> (Hilfsverb mit der Bedeutung "be fitting, be proper") Palaung (Mon-Khmer) la (Partikel mit der Bedeutung "it is good, fitting to") Deutsch Es ist passend/unpassend. zu + In! ... (Nicht-)Übereinstimmung mit einer Verhaltensnorm Sein- und haben-Konstruktionen bilden die folgende Gruppe: Baluchi (Iranisch) Bgi bu "be, become" Kui (Dravidisch) ane ,,3s become" Englisch She is to ... Deutsch Wirst du wohl ... + fallende Intonation. Es ist an dir, zu + Inf. Temne (Niger-Kongo) -ba "have" + nominalisierte/infinitivische Verbform Englisch have to, have got to.
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Lahu (Tibeto-Burmesisch) ga "get, obtain, catch" Deutsch haben + Inf. mit "zu" Passiv-ähnliche Formen finden sich im Baluchi, wo das Verb sein im Infinitiv mit einem Possessiv-Suffix und dem Agens im Akkusativ vorkommt: ayra jihegi ynt 3.s.Akk lauf:Inf.Poss sein:3.s Er muß weglaufen. Im Englischen und Deutschen erlangen diese Formen in Kombination mit einem Bewegungsverb eine obligative Lesart: Englisch He is supposed to go tomorrow Deutsch Es wird von ihm erwartet, daß er morgen geht Soweit die von Bybee et al. aufgelisteten Formen - Lexeme und grams -, die flir die Agensorientierte Modalität stehen. Untersucht man die Formen, die dem Ausdruck einer Sprecherorientierten Modalität dienen, unter Grammatikalisierungsgesichtspunkten, dann sind folgende Gesichtspunkte signifikant: Der Imperativ ist eine der am meisten verbreiteten Formen, wobei mehr als die Hälfte der von Bybee et al. untersuchten Sprachen mehrere Imperativformen haben, je nach Höflichkeit, Emphase, Dringlichkeit oder Permissivität. Imperative mit Nullmorphem ("zero expression" nach Greenberg 1966) haben ausschließlich direktiven Gebrauch und sind diachron nicht auf andere Funktionen zurückzuflihren (Bybee et al. 1994, 210).
Andere Formen des Imperativs sind allerdings durchaus als das Ergebnis von Grammatikalisierungen anzusehen, z. B. solche, die sich aus dem Futurparadigma entwickelt haben. In dreizehn Sprachen können futurische grams auch imperativisch verwendet werden. Dies wird auf eine pragmatische Schlußregel zurückgefuhrt, die eine futurische Äußerung von einer übergeordneten zu einer untergeordneten Person nicht als Vorhersage, sondern als Aufforderung erscheinen läßt. Als Grammatikalisierung wird auch die Reinterpretation von Agensorientierter Modalität zu Sprecher-orientierter aufgefaßt, so zum Beispiel, wenn die Feststellung einer Agens-orientierten Obligation ("Du mußt ... ") imperativisch interpretiert wird. Auf ähnlichem Wege können admonitive Formen (Warnungen) aus grams entstehen, die als Kodierungen flir Möglichkeit fungieren, wobei das als möglich Dargestellte eine negative Konsequenz thematisiert - so im Gugada, Alyawarra, Ono und Slave (Vgl.: "Der Kessel kann explodieren.") In anderen Sprachen wiederum ist es nicht notwendig, daß eine negative Konsequenz thematisiert wird. Will man die Relevanz des Ansatzes von Bybee et al. flir die Untersuchung von Grammatikalisierungsprozessen beim Imperativ und anderen direktivischen Formen des Deutschen beurteilen, so kann man angesichts der hier wiedergegebenen Auszüge sicher zu einem positiven Urteil kommen. Das Deutsche läßt sich durchaus eimeihen in generelle, flir eine Vielzahl von Sprachen verbindliche Tendenzen, denen solche Grammatikalisierungspfade folgen. Ergiebig ist dabei vor allem die Analyse der nicht-imperativischen Ausdrucksmöglichkeiten fur Direktiva, bei denen sich große Übereinstimmungen zeigen vor allem hinsichtlich der Quellen, aus denen sich die direktivischen Formen speisen. Um den skizzierten Ansatz flir das Deutsche in vollem Umfang nutzen zu können, wird man sicher noch Spezifizierungen vornehmen müssen, vor allem was zwei Abgrenzungen betrifft: Einerseits die Abgrenzung von Satz und Äußerung bzw. Satz und Sprechakt-
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Imperativ ist eine Kategorie, die auf Verben oder Satztypen zutrifft, Direktiv eine solche, die auf Sprechakte zutrifft. Zum Anderen ist die Abgrenzung von Lexem und Morphem oder gram betroffen, denn wie gezeigt geht die Analyse oft quer zu dieser Einteilung. Hier ist allerdings des von Bybee et al. ins Feld geführten Arguments Rechnung zu tragen, daß solch eine einfach wirkende Differenzierung in Grenzbereichen häufig nur schwer durchzuhalten ist.
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Heide Wegener· Potsdam
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
Ich werde zunächst in einem einführenden Teil die wichtigsten Kriterien für Grammatikalisierung anführen und mit Beispielen aus anderen Bereichen exemplifizieren. Ich möchte dann in einem ersten allgemeinen Teil zeigen, wie die genannten Kriterien von Modalpartikeln erfüllt werden. Im zweiten speziellen Teil möchte ich dann für eine spezifische Partikel den Weg von der ursprünglichen konkreten Bedeutung und Funktion zur Modalpartikel aufzeigen, und zwar für das sehr alte denn. Es wird dabei u. a. zu untersuchen sein, ob der Grad der Grammatikalisierung Evidenz für die Klassifizierung eines Lexems als Modalpartikel liefern kann. Der Artikel schließt mit Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Grammatikalisierung und Lernbarkeit.
I. Zum Begriff Grammatikalisierung Ich gehe aus von einer klaren und unumstrittenen Definition von Grammatikalisierung: Grammatikalisierung ist der Prozeß, bei dem ein lexikalisches (oder weniger grammatisches) Element zu einem (mehr) grammatischen Element wird (nach Lehmann 1991 :493). Dabei treten folgende Prozesse auf: GI: Verlust an phonologischer Substanz Das Element verliert an phonologischer Integrität, d. h. es wird weniger betont, volle Vokale und Endsilben schwächen sich ab, der Prozeß kann zur Klitisierung und Affixierung, d. h. zum Übergang von einem freien zu einem gebundenen Morphem und schließlich zum Schwund fuhren. G 2: Verlust an semantischer Substanz Das Element verliert an konkreter/referentieller/denotativer Bedeutung, es "bleicht aus", d. h. es erhält zunehmend abstrakte Bedeutung und u. U. grammatische Funktion. G 3: Verlust an syntaktischer Freiheit Das Element ist erstens nicht mehr frei positionierbar, es wird auf wenige obligatorische Positionen im Satz reduziert. Es kann zweitens nicht mehr in allen Satzarten auftreten, sondern wird auf bestimmte Satzmodi restringiert. Beispiele für Grammatikalisierungsprozesse sind der Übergang von Vollverben unterschiedlicher Semantik, z. B. Bewegungsverben zu Futur-Hilfsverben im Englischen und Französischen, aber (noch) nicht im Deutschen, die Umwandlung von konkreten Verben in der Bedeutung 'erhalten' zu Passivauxiliaren im Englischen und Deutschen, der Übergang von Demonstrativpronomen zu Artikeln in den romanischen und germanischen Sprachen:
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Heide Wegener engl./frz. 'gehen' > Futur
She's going to do [gonna] Nous allons partir Im Deutschen ist dieser Prozeß noch nicht so weit fortgeschritten, denn wir können zwar ich gehe schwimmen wie 'ich werde später schwimmen' ... interpretieren, aber nicht bilden: *es geht regnen. Das folgende Beispiel ist dagegen im Deutschen und Englischen anzutreffen, hat aber im Französischen keine Parallele: dt. kriegen/bekommen, engl. to get > Passivauxiliar
Sie kriegte/bekam die Haare geschnitten. She got her hair cut. Dagegen findet sich die folgende Grammatikalisierung nischen und romanischen Sprachen:
In
vermutlich sämtlichen germa-
Demonstrativpronomen> Artikel lat. ille > frz. le germ. sa, tha > dt. der
Auf weitere Grammatikalisierungsparameter (s. Lehmann 1995:121ff, Diewald 1997:21ff) gehe ich hier nicht ein, da ich sie als Folgeerscheinungen dieser drei grundlegenden Prozesse ansehe. So führt Verlust an phonologischer und semantischer Substanz zu einem höheren Grad an Paradigmatizität, d. h. zur festeren Einbindung in kleinere, schließlich geschlossene Paradigmen (z. B. Bewegungsverben > Hilfsverben) und damit zu größerer Distribution (s. d. Bsp. rür 'gehen') und u. U. zu Obligatorik (Tempusmorpheme vs Tempusadverbien, Artikel vs Demonstrativpronomen). Der Verlust an syntaktischer Freiheit rührt zu syntagmatischer Kohäsion oder Fügungsenge, schließlich zur Klitisierung und Affixierung (Demonstrativpronomen haben freie, Artikel eine feste Position, Tempusmorpheme sind nicht mehr abtrennbar). Auf problematische Kriterien wie Skopus (Verlust an syntagmatischer Reichweite) und Verlust bzw Zunahme an pragmatischer Bedeutung gehe ich erst im 2. Teil ein.
2. Grammatikalisierungserscheinungen bei Modalpartikeln Auf den ersten Blick scheint die o. g. Definition nur teilweise auf Modalpartikeln zu passen. Modalpartikeln gelten als fakultativ, sind noch volle Lexeme und scheinen von daher weit davon entfernt, den Status von grammatischen Morphemen zu haben. Ich werde im folgenden allgemeinen Teil jedoch anhand einiger Beispiele zeigen, daß die genannten Gramrnatikalisierungsprozesse bei Modalpartikeln auftreten. Verlust an semantischer Substanz und an syntaktischer Freiheit ist bei allen, Verlust an phonologischer Substanz bei vielen Modalpartikeln zu erkennen. Ich beginne mit dem letzteren, da dieses am leichtesten aufzeigbar ist.
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
2.1
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Verlust an phonologischer Substanz
Im Gegensatz zu ihren Heterosemen können einsilbige Modalpartikeln klitisch werden, zweisilbige können einsilbig, dreisilbige können zweisilbig werden. Ich führe jeweils Beispiele für Modalpartikeln und die mit ihnen homonymen Adverbien bzw. Konjunktionen an: einsilbig> klitisch denn MP: Konj: Adv:
Was hat er'n gesagt? Was haste'n dann gesagt? ... , denn / *'n er hat nichts gesagt. und denn/ *und 'n hat er nichts mehr gesagt.
zweisilbig> einsilbig vielleicht MP: Adv.:
Der WAR v'leich besoffen! * V'leich war der besoffen.
eben
MP: Adv.:
Männer sind ehm [e:m] so. *Er ist ehm gekommen.
ruhig
MP: Adv.:
Komm ruij [ru:i~] rein! ?? Sie machte ganz ruij die Tür zu.
dreisilbig > zweisilbig eigentlich MP: Adv.:
Wie heißt du eigntlich [aintli~]? *Eintlich heißt er Müller.
In einigen Fällen hat der Verlust an phonologischer Substanz zur Herausbildung von zwei lautlich distinkten Varianten des Ausgangslexems geführt. Bei mal erfolgte Tilgung der ersten, bei eh die der zweiten Silbe, bei denn Reduktion des vollen Vokals zum Schwa. In diesen Fällen ist die Modalpartikel von ihrem Heterosem so deutlich unterschieden, daß sie nicht mit ihm verwechselt werden kann: mal:
MP: Adv.:
Geh mal schnell zur Post! Sie geht täglich einmal/*mal zur Post.
eh:
MP: Adv.:
Wir fahr'n eh gleich weg. Ich muß heute eher/*eh weg als sonst.
denn:
MP: Adv.:
Was hast du denn gesagt? Was hast du dann gesagt?
Bei anderen Modalpartikeln sind zur Disarnbiguierung unterschiedliche Position, also die Skopusverhältnisse, und unterschiedliche Betonung entscheidend: aber:
MP/Konj: Konj.:
Der hat jetzt aber einen Bart! Der hat aber jetzt einen Bart!
eigentlich:
MP: Adv.:
Wie heißt du eigntlich? Wie heißt du EIgentlich?
Im letzten Beispiel erhält das Lexem durch die Akzentuierung seine ursprüngliche, wörtliche Bedeutung zurück ('in Wirklichkeit') und fungiert deswegen hier als Adverb. Eine vergleichbare Restriktion existiert für keine andere Wortart. Für Weydt 1986:396f. sind sie "der einzige Fall in der deutschen Sprache, in der man geneigt sein könnte, dem Satzakzent zeichenunterscheidende Funktion zuzuschreiben."
Heide Wegener
40
Selbst grammatische Funktionswörter können metalinguistisch betont werden, z. B. wenn man einen Ausländer korrigiert. Aufgrund der gezeigten phonologischen Reduktionsprozesse ist eine solche metalinguistische Betonung bei Modalpartikeln wie zu erwarten nicht möglich: Ausländer: Er hat Ball genommen. Deutscher: Er hat DEN Ball genommen. Ausländer: Kann ich sehen? Deutscher: ?? Kann ich MAL sehen? Ausländer: Der WAR etwa betrunken! Deutscher: *Der war VIELLEICHT betrunken!
Legt man im letzten Beispiel nämlich den Akzent auf die Modalpartikel, so kippt die Bedeutung um, das Lexem wird zum Adverb, es tritt wieder in der Bedeutung 'möglicherweise' auf. Verlust an phonologischer Substanz führt also bei einigen Modalpartikeln zum Verlust einer Silbe und folglich beim einsilbigen denn zur Klitisierung. Jedoch tritt dieser Prozeß nicht obligatorisch auf - die Partikeln in den Beispielen oben müssen nicht reduziert gesprochen werden - und er tritt nicht bei allen Modalpartikeln auf. Aber, auch, doch u. a. werden offenbar nicht reduziert. Das Phänomen ist deshalb in den bei den Arbeiten, die sich mit Grammatikalisierung von Modalpartikeln befassen, nicht gesehen oder sogar bestritten worden (Abraham 1991: 338, Diewald 1997:75).
2.2
Verlust an semantischer Substanz
Semantic Bleaching ist ein Merkmal von Modalpartikeln und es ist zugleich eines der grundlegenden Merkmale von Grammatikalisierung. Daß Modalpartikeln nur noch Reste ihrer ursprünlichen Bedeutung bewahrt haben, daß diese aber in den Heterosemen erhalten und zu erkennen ist, ist Gemeinplatz der MP-Beschreibung und braucht deshalb hier nicht allgemein nachgewiesen zu werden. Nach Helbig 1988:14 haben sie "nur eine geringe oder gar keine denotative Bedeutung"l. Hartmann 1986:140 fragt, was unter der Bedeutung von Modalpartikeln zu verstehen sei, Thurrnair 1989:2 fragt, ob Modalpartikeln überhaupt eigene Bedeutung haben, und weist darauf hin, daß sie grundsätzlich weglaßbar sind, "ohne daß ein erkennbarer Inforrnationsverlust eintritt". Daß die Zweifel an der eigenständigen Bedeutung von Modalpartikeln berechtigt sind, ist u. a. daran zu sehen, daß sie zusammen mit ihrem Antonym auftreten können, - daß sie zusammen mit ihrem Heterosem auftreten können: MP + Antonym: Du kannst ruhig laut sein! Der kann ja nicht nein sagen. Das war einfach schwierig für mich. Tirol ist eben bergig. MP + Heterosem: Du kannst ruhig ganz ruhig liegenbleiben. Das war einfach zu einfach. Zu ähnlichen Äußerungen in der Literatur siehe Helbig ebenda.
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
41
Hätt ich doch NUR nur ein Glas getrunken! Wie heißt dein Bruder eigentlich EIgentlich?
Die Kombinierbarkeit eines Lexems mit seinem Antonym oder Heterosem ist jedoch kein ausreichendes Kriterium für seine Klassifizierung als Modalpartikel. Eine solche Kombinierbarkeit ist nämlich auch bei Adverbien gegeben, die dann mal als Ad-Verb i. e. S., als Modifikator des Verbs, mal als Satzadverb fungieren, vgl.: Als er die Polizei sah, fuhr er schnell ganz langsam.
2.3
Verlust an syntaktischer Freiheit
In ihrer syntaktischen Beweglichkeit sind Modalpartikeln gegenüber ihren Heterosemen stark eingeschränkt. Können letztere im Vorfeld und im Mittelfeld und teilweise allein als Satzäquivalent auftreten, so können Modalpartikeln nur im Mittelfeld stehen. Vorjeldposition: Adv.: Denn wolln wir mal gehen. Konj.: Denn wie sagte Peter neulich? MP: *Denn wie heißt du?
Es ist daher Meibauer zuzustimmen, der sagt (1994,38:) " ... daß Modalpartikeln grundsätzlich nicht vorfeldfähig sind und daß dies das wesentliche syntaktische Abgrenzungskriterium zu allen Arten von Adverbien darstellt. Die sog. vorfeldfähigen Modalpartikeln sind daher keine Modalpartikeln, sondern Adverbien". Bei Kombination mehrerer Modalpartikeln ist deren Reihenfolge im Gegensatz zu der von Adverbien fest: Adv.: MP: Adv.: MP:
Wo bist du dann eigentlich / eigentlich dann hingegangen? Wo bist du denn eigentlich / *eigentlich denn hingegangen? Wo bist du nur dann / dann nur hingegangen? Wo bist du denn nur / *nur denn hingegangen?
Außerdem können Modalpartikeln nicht erfragt werden, nicht herausgestellt werden, weder negiert2 noch kontrastiert, also nicht fokussiert und nicht koordiniert werden. (Beispiele zu mir/dir in Wegener 1989:58). Fokuss ierung: MP: *Dir ist nur eben nicht zu helfen. *Männer sind zwar eben so. *Komm nicht mir, sondern dem Papa pünktlich nach Haus! *Der WAR nicht vielleicht betrunken! vs Adv.: Obj.: Adv.:
2
Er war nur eben gerade da. Sag nicht mir, sondern dem Papa, wo du warst. Er war nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt betrunken.
Bei etwa ist der Fall komplizierter, vgl. Hast du (*nicht) etwa Hunger? vs. Du hast doch *(nicht) etwa Hunger?, s. hierzu Doherty 1985: 72ff.
42
Heide Wegener
Außerdem sind Modalpartikeln an den Satzmodus gebunden: Bestimmte Partikeln können nur in Fragen, andere nur in Aussagen, andere schließlich nur in Aufforderungen vorkommen. Eine vergleichbare Restriktion existiert für keine andere Wortklasse. Wo warst du denn so lange? *Ich war denn so lange im Garten. Der hat ja kein Geld. *Hat der ja kein Geld? denn ist offensichtlich nur in Fragen, ja nur in Aussagesätzen als Modalpartikel verwendbar.
Das Kriterium der Gebundenheit an einen Satzmodus werde ich unten zur Abgrenzung und Klassifizierung eines Lexems als Modalpartikel nutzen. Vergleichen wir die Modalpartikeln mit ihren Homonymen und konzentrieren wir uns dabei auf die Adverbien, denn als Vorstufe für Modalpartikeln kommen - außer bei miraufgrund ihrer Stellung im Mittelfeld nur Adverbien in Frage (s. Abraham 1991), so können wir feststellen, daß die herangezogenen Modalpartikeln die o. g. Kriterien erfüllen, daß sie Grammatikalisierungs-, d. h. Reduktionsprozesse in semantischer, syntaktischer und phonologischer Hinsicht durchlaufen haben. Ihre Semantik ist erheblich verblaßt, so weit, daß sie mit ihren Antonymen zusammen auftreten können; ihre Syntax ist erheblich eingeschränkt, sie sind nicht frei beweglich und können nur in bestimmten Satzmodi vorkommen. Ihre phonologische Substanz ist bei allen mehrsilbigen Modalpartikeln (außer aber, etwa) reduziert, beim einsilbigen denn ist die Reduktion zum Klitikum ziemlich weit fortgeschritten) In der Folge dieser Prozesse sind Modalpartikeln, die als Adjektive und Adverbien nur lose an offenen semantischen Klassen partizipierten, Mitglieder eines sehr viel kleineren Paradigmas geworden, dessen Zahl zwischen 15 und max. 20 liegt. 4 Ihre Distribution ist dagegen größer geworden - fast jeder Aussagesatz läßt die Modalpartikel ja, die meisten Fragesätze denn zu, für einige Modalpartikeln gilt sogar, daß sie für bestimmte Satzmodi obligatorisch oder nahezu obligatorisch sind, so doch fur Wunschsätze, wohl für deliberative Fragen und schon fur rhetorische W-Fragen: Wenn er doch käme! Ob er wohl kommt? Wer kauft schon Eis in Alaska?
4
Nach Meibauer 1994:60 handelt es sich um ein einfaches Klitikum, da es eine nicht-klitische Parallelform im Wort denn hat. Er betrachtet Modalpartikeln nicht als Klitika, die phonologisch mit einem Wort verschmelzen, weil einige von ihnen betonbar seien. Die Zahl der fürs Deutsche angenommenen Modalpartikeln ist nicht genau bestimmt, da die Meinung darüber, ob a) betonte Formen, b) Lexeme wie einfach, immerhin, überhaupt, wohl zu den Modalpartikeln zu zählen sind, strittig ist. Beschränkt man sich auf Lexeme, die Einstellungen des Sprechers ausdrücken und die nicht vorfeldfähig sind, um faßt diese Klasse um 15, max. 20 Lexeme, und zwar: aber, auch, bloß, denn, doch, eben, eh, eigentlich, einfach, etwa, halt, ja, mal, nur, ruhig, schon, vielleicht, wohl (s. auch Helbig 1988:36f).
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
2.4
43
Pragmatische Verstärkung
Trotz der unbestreitbar zu konstatierenden Grammatikalisierungsprozesse G I-G3, in denen Verlust zu beobachten ist, zögern wir aber, Modalpartikeln als so etwas wie grammatische Morpheme zu betrachten. Die MP-Forschung hat in zahlreichen Untersuchungen gezeigt, daß diese Lexeme zwar keine oder wenig referentielle Bedeutung haben, daß sie aber illokutive Funktion bzw. metakommunikative Stärke haben und daß ihr Skopus nicht geringer, sondern größer ist als der von Adverbien. Traugott 1988 weist nun darauf hin, daß bei Grammatikalisierung nicht nur Verlust zu beobachten ist, sondern gleichzeitig ein Zunehmen an iIIokutiver/epistemischer/pragmatischer Stärke (pragmatic strengthening). Sie hat drei Stadien im Grarnmatikalisierungsprozeß herausgearbeitet, die sie folgendermaßen definiert (Traugott 1988:409f.): Semantic-pragmatic Tendency I: Meanings situated in the external described situation> meanings situated in the internal (evaluative/perceptual/cognitive) situation. Semantic-pragmatic Tendency 11: Meanings situated in the described external or internal situation> meanings situated in the textual situation. Semantic-pragmatic Tendency III Meanings tend to become increasingly situated in the speaker's subjective belief-state/attitude toward the situation.
Folglich ist ein vierter Grammatikalisierungsprozeß vorzusehen: G 4: Gewinn an pragmatischer/illokutiver/metakommunikativer Stärke Klare Beispiele für die erste Tendenz bildet der Übergang von lokaler zu temporaler Bedeutung bei Präpositionen wie vor/in drei Stunden und bei den Bewegungsverben etc. Als Beispiel für die zweite Stufe ist der Übergang von Demonstrativpronomen zu Artikeln anzusehen. Traugott 1988:409 rührt als Beispiel rür diese Stufe das englische after an, das sich vom temporalen Konnektiv zu einem "marker of textual relations" entwickelt habe, für das Deutsche wären hier Adverbien wie also, folglich zu nennen. Als Beispiel für die dritte Stufe führt sie die Entwicklung von temporalen zu kausalen oder konzessiven Konjunktionen und die Entstehung der epistemischen Modalverben an. Wohin gehören nun die Modalpartikeln, zur Ebene der Textkonnektoren oder zur Ebene der epistemischen Zeichen? Zu bedenken ist, daß die drei Tendenzen wohl nicht unbedingt als aufeinander aufbauend gedacht werden müssen, sondern als parallel wirkend. Grammatikalisierung, gesehen als Subjektivierung, führt also mal zu Markern für textuelle Relationen, für Textkohärenz oder inkohärenz, mal zu epistemischen Zeichen, zu Signalen der Sprechereinstellung. Im Falle von Modalpartikeln sind offenbar beide Bereiche tangiert. In der Forschung werden die bei den Funktionen häufig nicht getrennt, sondern es werden beide Funktionen als Leistung von Modalpartikeln angesehen. In Thurmair 1989 nimmt die textverknüpfende Funktion, für die sie das Merkmal ansetzt, eine zentrale Stelle ein, König 1996: 1Of. bezieht die Textfunktion explizit in die drei Grundfunktionen von Modalpartikeln ein. Diese sind demnach "metapragmatische Instruktionen" mit folgenden Funktionen:
44
Heide Wegener
a) b)
Identifizierung von Widersprüchen, Stärkeindikatoren (Grad der Evidenz bei assertiven, Grad des Insistierens bei direktiven Sprechakten), Steuerung von Kontextauswahl.
c)
Wenn der Sprecher im Aussagesatz den Grad der Evidenz, im Aufforderungsatz den Grad des Insistierens anzeigt, so kann angenommen werden, daß er in Fragen den Grad und die Art der Dringlichkeit der Frage anzeigt. Die MP-Forschung ist sich weitgehend einig (s. Meibauer 1994: 11 mit Literaturhinweisen) in der Annahme, daß Modalpartikeln die Einstellung des Sprechers zur Äußerung kennzeichnen und damit epistemische Funktion haben. Danach tragen Modalpartikeln nichts bei zum Wahrheitswert einer Proposition, sind daher nicht-propositional, sondern drücken "Einstellungen des Sprechers" (zur Proposition bzw. zur Äußerung) aus, und zwar nur beiläufig oder indirekt. Insofern sind sie von epistemischen Satzadverbien wie vermutlich, wahrscheinlich, unbedingt, bestimmt zu unterscheiden. Gleichzeitig sind sie aber auch von Adverbien und Partikeln zur textuelIen Verknüpfung wie deswegen, folglich, also, da, dann zu unterscheiden. Für die Unterscheidungen sind nicht nur semantische, sonder auch syntaktische Kriterien relevant, vor allem das Kriterium der Vorfeldfahigkeit. Von manchen Forschern wird auch ein phonologisches Kriterium herangezogen, das der Unbetonbarkeit, die ja eine Vorform der Klitisierung, in jedem Fall eine Form der Reduktion darstellt, so von Thurmair 1989, von anderen werden auch betonte Formen als Modalpartikeln anerkannt, so vor allem von Meibauer 1994. Diese Frage ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse, denn wenn Modalpartikeln Ergebnisse von Grarnmatikalisierungsprozessen sind, so wäre es merkwürdig, wenn gerade die phonologische Substanz nicht reduziert sein sollte.
3. Die Grammatikalisierung von denn Für einige Modalpartikeln läßt sich ihr Ursprung bis in die germanische Urzeit zurückverfolgen. Es ist das Verdienst Hentschels 1986, für ja und doch gezeigt zu haben, daß sie aus Deiktika hervorgehen. Ich möchte den Weg nachzeichnen, den denn genommen hat.
3.1
Von lokaler über temporale zu kausaler Funktion: Vom Adverb zur Konjunktion
Der Ursprung des Wortes liegt in der indogermanischen Wurzel *to-, die im Germanischen deiktische Bedeutung hatte. Die mit ihr gebildeten Lexeme gehörten zum Bereich der DerDeixis, die im Gegensatz zur Ich-Deixis steht. Aus diesem Stamm entwickelten sich die germanischen Demonstrativpronomen (und aus diesen die heutigen Artikel), aus den Demonstrativpronomen wurden lokale und aus diesen temporale Adverbien gebildet.5 Dabei stellt der Übergang von der lokalen Bedeutung da, dahin zur temporalen Bedeutung da, dann eine erste Stufe der Grammatikalisierung dar, für die es in der Sprachgeschichte und wohl in allen SpraDaß das Temporaladverb dann auf einen Akkusativ Maskulin zurückgeht, verwundert nicht, werden doch heute noch Temporalangaben im Akkusativ gebildet.
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
45
chen Belege gibt. Außerdem liegt eine Entwicklung von einer deiktischen, also situationsgebundenen zu einer anaphorischen Beziehung vor: "dann kam er" verweist nicht mehr auf einen Zeitpunkt, den der Sprecher "vor" sich hat, sondern zurück auf einen vorerwähnten Zeitpunkt, und kann damit zum textuelIen Verweis, zur Textverknüpfung dienen. Aus dem ahd Temporaladverb thanne, das nach Eroms 1980:83 als Konjunktion, Adverb oder Partikel in begründender Funktion verwendet wird, entsteht so dann die kausale Konjunktion denn. Auch die konzeptuelle Verschiebung von temporalem zu kausalem Adverb bzw. Konjunktion ist in vielen Sprachen belegt, sie ist geradezu ein Paradebeispiel der Grammatikalisierungsforschung geworden (s. TraugottlKönig 1991: 194ff., Diewald 1997:55ff.). Die diachrone Entwicklung von denn läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen: denn diachron:
idg Wz *to, der-Deixis> Demonstrativpronomen > Lokaladverb got. thar; da, dort > Temporaladverb than; dann, darauf Akk. Mask thana (got.), thann (An.) > Kausaladverb Ahd. thanne, thant vgl. lat. posteaquam > frz. puisque, sp. pues dt. infolgedessen, folglich, nachdem, weil< dieweil
Diese konzeptuelle Verschiebung beruht auf einem alltagslogischen Trugschluß6 und dieser auf einer konversationellen Implikatur, wonach ein Ereignis B, das auf ein Ereignis A folgt, durch dieses verursacht wird: "post hoc ergo propter hoc". Die selbe Entwicklung können wir heute bei nachdem beobachten. Ein ähnlicher Trugschluß, der parallele Ereignisse in kausale Beziehungen setzt, hat aus dem temporalen dieweil die kausale Konjunktion weil entstehen lassen, und schließlich beruht auch die Interpretation von während als temporale oder als adversative Konjunktion auf einer ähnlichen semantischen Verschiebung: Nachdem er das Haus verlassen hatte, wandte er sich nach rechts. (Temporal) Nachdem er die WG verlassen hatte, ging es ihm besser. (Temporal/Kausal) Nachdem du nicht mitkommen willst, fahr ich allein. (Kausal) Während du Zeitung liest, mach ich den ganzen Abwasch. (Temporal/Adversativ) Dieweil/weil es regnet, bleiben wir zu Haus. (Temporal/Kausal) Wenn Peter kommt, dann geht Max. (Temporal/Kausal) Der Übergang von einer temporalen zu einer kausalen Konjunktion ist ein Phänomen der Subjektivierung. Ob ein Ereignis B zeitlich auf ein Ereignis A folgt oder nicht, läßt sich objektiv feststellen, ist meß- und kontrollierbar. Ob B logisch auf A folgt, A also kausal für B ist, kann dagegen eine Frage der subjektiven Beurteilung sein. Die logisch kausale Folge ist subjektiver, weniger leicht feststellbar als die temporale.
6 Diese Art von Trugschluß kommt keineswegs nur in der Alltagssprache vor, sondern läßt sich auch in wissenschaftlichen Texten zeigen, z.B. in der Spracherwerbsforschung.
46
Heide Wegener
3.2
Von faktischer zu epistemischer Begründung: die Konjunktion denn
Auf dem Wege der Subjektivierung ist denn früher als weil einen weiteren Schritt gegangen, und zwar den von der faktischen Begründung zur epistemischen Rechtfertigung (siehe hierzu Küper 1984, Keller 1993, Wegener 1993). Peter heiratet Anna, weil sie Geld hat. (Kausal, faktisch) Peter heiratet Anna, denn die hat Geld. (Kausal, epistemisch) Der denn-Satz begründet nicht den Sachverhalt des Hauptsatzes, sondern die Äußerung desselben durch den Sprecher, er rechtfertigt die Annahme des Sprechers, daß p, während der weil-Satz mit Verbendstellung den Sachverhalt des Hauptsatzes begründet. Anders gesagt, mit dem weil-Satz begründet der Sprecher den im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt: ich behaupte: p, weil q. Mit dem denn-Satz begründet er dagegen nicht den Hauptsatzsachverhalt, sondern er rechtfertigt seine Behauptung dieses Sachverhalts: ich behaupte p, weil q. Mit Keller 1993 können wir hier zwischen einer faktischen und einer epistemischen Begründung unterscheiden. Der Unterschied entsteht dadurch, daß die selbe semantische Relation, die der Begründung, einmal innerhalb der propositionalen Ebene verbleibt, einmal über die propositionale Ebene hinaus auf die illokutive Ebene verschoben wird.? Der Übergang vom faktischen zum epistemischen denn ist als Phänomen zu betrachten, das unter die semantisch-pragmatische Tendenz III fällt, wir befinden uns damit auf der illokutiven Ebene oder der Ebene der Sprecherhaltung. Mit dem epistemischen denn zeigt der Sprecher dem Hörer an, wie er die Äußerung zu interpretieren hat, nämlich als eine Behauptung oder Annahme des Sprechers, die ihre Rechtfertigung in einem Sachverhalt q hat. Wie die Beispiele zeigen, ist die Konjunktion denn auf keinen Satzmodus festgelegt, sondern kommt im Aussage-, Frage- und Aufforderungssatz vor: Konjunktion:
Denn sie wissen nicht, was sie tun. Denn wer kauft schon Eis in Alaska? Denn du gehst jetzt sofort ins Bett!
Nun ist es zwar sehr verlockend, die Modalpartikel denn direkt aus der Konjunktion abzuleiten, wird doch auch die MP-Funktion schon von WeydtlHentschel 1983:8 als eine kausale definiert: Denn zeigt an, daß die Frage "extern motiviert" ist. 8 Denn auch mit der Modalpartikel gibt der Sprecher dem Hörer einen Hinweis darauf, daß er seine Äußerung nicht ohne Grund macht. Ein solcher Schritt ist aber aus syntaktischen Gründen nicht zulässig, denn es ist kaum anzunehmen, daß die Modalpartikel, die niemals im Vorfeld stehen kann, aus der Konjunktion, die vor dem Satz steht, hervorgegangen ist. Schauen wir uns daher an, in welchen Kontexten denn sonst noch vorkommt. 9
7
8
9
Auch die epistemische Begründung kann heute mit weil + Verbzweitsatz realisiert werden, siehe dazu Keller 1993, Wegener 1993. Abraham 1995:129 meint wohl Ähnliches, formuliert aber mißverständlich "Man fragt mit der Modalpartikel denn ... danach, ob es einen Grund daflir gibt, die Frage zu stellen" -gemeint ist wohl: Der Sprecher zeigt, daß es einen Grund gibt. Von der veralteten Vergleichspartikel (Mehr denn je) sehe ich dabei wegen deren Seltenheit ab.
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
3.3
47
Vorkommen von denn synchron:
Unumstritten ist denn als Modalpartikel heute in E- und in W-Fragen, wobei in beiden Fällen der die Partikel enthaltenden Frage eine andere Äußerung vorauszugehen pflegt, an die diese Frage anknüpft: E-Frage: A: Kar! kommt nicht. B: War er denn eingeladen?
W-Frage: A: Peter war sehr wütend. B: Was hast du denn zu ihm gesagt?
Umstritten ist dagegen, ob auch in den folgenden Fällen eine Modalpartikel vorliegt: wenn denn im Aussage- oder Aufforderungssatz verwendet wird oder wenn es betont wird: MP?:
Denn mal los! Na denn prost! Ich geh denn schon mal.
MP?:
A: Heißt du Peter? B: Nein A: Wie heißt du DENN?
3.4
Denn in Aussagesätzen
Als Vorläuferlexem für die Modalpartikel kommt aus syntaktischen Gründen nur ein Adverb in Frage. Ein solches liegt heute besonders norddeutsch als Temporaladverb vor, und bedeutet dann 'nun, jetzt, schließlich', in kausaler Interpretation der temporalen Folge auch 'also, infolgedessen, somit' (Paul 1992: 168). Vor allem im süddeutschen Raum wird es in dieser Funktion durch dann ersetzt. Zumindest für süddeutsche Sprecher wirkt denn im Aussagesatz stilistisch erhaben, es tritt eher in literarischen Texten auf, vergl. z. B. Und da ich denn, unter dem Vorwand der Wißbegier, meine Lust ... hinlänglich gebüßt hatte, ... (Thomas Mann, F. Krull, Fischer Tb. 1977: 124) Und so blieb er denn ... zeit seines Lebens ein Deutscher (Peter Wapnewski, Rede zu Heines 200. Geburtstag am 13.12.1997)
Die Umgangssprache würde hier eher nun oder also verwenden. In diesen Beispielen wird durch die doppelte Paraphrasierbarkeit von denn durch nun und/oder also die zwischen Temporalität und Kausalität schillernde Bedeutung deutlich: Es stellt einerseits einen Bezug zu zeitlich vorhergehenden Ereignissen her und ist deshalb ersetzbar durch nun, andererseits stellt es eine logische Verbindung zum Kontext her und ist in dieser Funktion ersetzbar durch also.
Der Bezug zur ursprünglich temporalen Bedeutung, die logisch-kausal interpretiert werden kann, erlaubt es denn auch, das Vorkommen von denn in Aussagesätzen zu erklären, bei denen unklar ist (vgl. Thurmair 1989:222, Meibauer 1994:221 ff.), ob es sich um eine Modalpartikel handelt:
48
Heide Wegener
Die Leistungen waren denn auch entsprechend. Das ist denn doch die Höhe.
Vorwiegend, aber wie der Beleg aus Th. Mann zeigt, nicht ausschließlich kommt denn in Aussagesätzen nur in Verbindung mit einer anderen Modalpartikel, auch und doch, vor. In bei den Fällen kann es nicht klitisiert werden, in beiden Fällen verwenden süddeutsche Sprecher eher das eindeutiger temporale dann, durch das es auch in den obigen Beispielen ersetzt werden kann. Denn hat hier noch Reste der ursprünglich temporalen Bedeutung und ist ersetzbar durch nun, folglich, also,dann. Die Frage ist, ob denn hier epistemische Funktion hat oder die eines Adverbs, den Sachverhalt temporal bzw. logisch in den Kontext einzuordnen, wobei zwischen Sachverhaltskontext und Redekontext zu unterscheiden ist. Thurmair 1989:232 sieht bei denn in Aussagesätzen nur die Funktion "den Bezug zum vorangegangenen Beitrag zu verdeutlichen, es trägt also nur das Merkmal 'KONNEX'''. Wenn denn den in der Proposition dargestellten Sachverhalt auf propositionaler Ebene temporal einordnet und folglich durch nun, dann ersetzbar ist, ist es als Temporaladverb anzusehen. Wenn es den in der Proposition dargestellten Sachverhalt auf propositionaler Ebene logisch-kausal einordnet und folglich durch also, folglich ersetzbar ist, ist es als Kausaladverb anzusehen. Als Modalpartikel kann es nur gelten, wenn es die Äußerung selbst, den Redebeitrag in Bezug setzt zur Vorgängeräußerung. Nur dann hat es die pragmatische Ebene 2 (s.o.), die der textuelIen Verweise, erreicht und ist eine diskursorganisierende Partikel. Das scheint hier aber nicht der Fall.
3.5
Denn in Fragen
Nach Paul 1992: 168 war das temporale denn bis ins 18. Jahrhundert auch in Fragesätzen möglich, wofür folgender Beleg von Hans Sachs angeführt wird: Ach ist denn solchs die Freundschafft dein/ Die du mir oft versprochen hast? (1551 , Fastnachtsspiele)
Dieses Adverb, das zwischen temporaler und kausaler Bedeutung schillert, ist als Vorläuferlexem für die Modalpartikel anzusehen, vergl. Paul ebd: "Was 'nun', 'schließlich' und 'somit' Gegenstand einer Frage ist, mag später als Hinweis auf deren Veranlassung durch die jeweilige Situation verstanden worden sein, daher der Gebrauch schon des ahd thanne als Modalpartikel" . Behaghel 1928: 114 führt Belege aus Isidor und Tatian an, z. B. Huuer ist dhanne dher druhtin? (lsid. 9,5). Als Modalpartikel ist denn heute auf Fragesätze beschränkt, siehe die Beispiele in 2.3. Mit ihr zeigt der Sprecher, daß es einen Grund für seine Frage gibt, daß er folglich berechtigt ist, diese Frage zu stellen, z. B. deshalb, weil die vorhergehende Äußerung des Gesprächspartners eine Informationslücke bei ihm, dem Sprecher, offenlegte. Die Interpretation der Partikel als Zeichen für Überraschung ( so z. B. Helbig 1988: 105) beruht nun wieder auf einer konversationellen Implikatur: nur Personen, die überrascht feststellen, daß Karl zu den potentiellen Gästen gehört, s. Bsp. in 3.3., bilden eine diesbezügliche Frage, um die Informationslücke zu schließen. Durch Übertragung unserer Diskurserfahrung kommt es zur Interpretation von denn als Zeichen für Überraschung. Der Unterschied zwischen dem Temporaladverb und der Modalpartikel und damit der Übergang von der propositionalen zur illokutiven Ebene soll durch den Vergleich der folgen-
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
49
den zwei Dialoge gezeigt werden. (Da denn als Adverb nur noch in festen Wendungen oder literarisch vorkommt, verwende ich für ersteres die gebräuchlichere Form dann.) D I:
A: Erst hab ich ein Buch gekauft. B: Und was hast du dann gekauft?
D2:
A: Ich hab kein Geld mehr. B: Was hast du denn gekauft?
Dann referiert auf ein Ereignis, das zum Zeitpunkt t+ 1 relativ zu einem früheren Kaufereignis zum Zeitpunkt t stattfand, setzt also zwei Ereignisse auf der Sachverhaltsebene in Beziehung. Denn referiert dagegen nicht auf ein späteres Ereignis auf der propositionalen Ebene - es hat nur ein Kaufereignis gegeben -, sondern zeigt, daß der Frageakt, das Sprechereignis, eine Folge der Äußerung von A, dem Geständnis seiner Pleite, ist, hinsichtlich der Beine Informationslücke hat. Es setzt also die Frage B's in Bezug zum (hier sprachlichen) vorausgehenden Text A's und stellt sie damit als begründet dar. Es operiert also nicht auf der propositionalen, sondern auf der illokutiven Ebene. Die ursprünglich temporale Bedeutung "E2 folgt auf EI" (E = Ereignis) ist epistemifiziert zu "Meine Äußerung folgt auf eine Äußerung ÄI (auch nicht-sprachlicher Art) im Kontext". Durch die ursprünglich temporale Bedeutung, die auch in der Modalpartikel noch erhalten ist und die überhaupt die textverknüpfende Leistung ermöglicht, werden auch die Restriktionen erklärt. Denn ist nicht möglich in Fragen, die ein Gespräch eröffnen oder die einen Themawechsel einleiten und bei denen es folglich keinen Kontext gibt, an den der Sprecher anknüpfen könnte oder dies will, so etwa wenn jemand einen Laden betritt bzw. jemanden weckt oder wenn er unvermittelt nach der Zeit fragt. Im zweiten Fall kann nur der Angesprochene die Frage stellen, wobei dann die Modalpartikel paraphrasierbar ist durch den Klammerausdruck. Beim Betreten eines Ladens: A: *Haben Sie denn auch Lederwaren?1O Beim Wecken:
A: *Wie spät ist es denn? B: Wie spät ist es denn (daß du mich weckst)? Während eines Gesprächs über ein beliebiges Thema:
A: Sag mal, wie spät ist es eigentlich /*denn? Bei durch den Sprecher initiiertem Themawechsel will der Sprecher nicht an den Kontext anknüpfen. Die Inkohärenz der Frage, die ein Gespräch oder einen Themawechsel einleitet, schließt nicht nur denn aus, sondern verlangt eine andere Modalpartikel, nämlich eigentlich. Die temporale Ausgangsbedeutung ist m. E. auch der Grund, warum denn nicht möglich ist in Fragen, die als Aufforderungen intendiert sind wie *Kannst du denn mal das Fenster schließen? Solche in Fragesatzform ausgesprochenen Aufforderungen sind nicht reaktiv, sondern initiativ, und deshalb ist das an einen Kontext anknüpfende denn hier nicht möglich. Ist ein solcher Kontext vorhanden, so sind auch als Aufforderung intendierte Fragen mit der Modalpartikel durchaus möglich: 10
Beispiel nach Thurmair 1991 :378.
Heide Wegener
50 Warum machst du denn nicht das Fenster zu? Wie wärs denn, wenn du das Fenster zumachtest?
Auch die weiteren Restriktionen (s. Thurrnair 1991) lassen sich aus der Funktion, eine Folge anzuzeigen, erklären, die aus der Urprungsbedeutung herrührt. So ist denn nicht möglich in Fragenketten, mit denen der Sprecher mehrere Fragen zum sei ben Thema stellt: Wo liegt denn die Wohnung? Und wie groß ist die Wohnung (*denn)? Und wie teuer ist sie (*denn)?
Hier wird durch das gemeinsame Thema und den Konnektor und Textkohärenz hergestellt, so daß die Partikel redundant wäre. Wie zu erwarten, ist diese aber in der ersten Frage einer Fragenkette möglich. Ebenso wenig ist denn in Echo- oder Rückfragen möglich, selbst dann nicht, wenn der Sprecher eine Antwort erwartet, also eine Vergewisserungsfrage stellt, und nicht (nur) seine Empörung über den mitgeteilten Sachverhalt ausdrückt: A: Ich hab einen Mercedes gekauft. B: Du hast WAS gekauft? B: WAS hast du gekauft?
Die Restriktion ist nicht syntaktisch, etwa durch die Aussagesatzform, zu erklären, wie das letzte Beispiel zeigt. Vielmehr wird durch die wörtliche Wiederaufnahme des Sprachmaterials der Vorgängeräußerung Kohärenz (und der Grund für die Frage) so deutlich angezeigt, daß ein zusätzlicher Hinweis darauf durch die Partikel nicht möglich ist. Nach meiner Analyse ist die Bedeutung von denn spezifischer und sie steht der des Ausgangslexems, dem temporalen Adverb, näher als in Arbeiten angenommen wird, die denn in minimalistischer Betrachtungsweise nur als "Frageanzeiger" sehen (Thurrnair 1989:167, 1991). Danach hätte die Modalpartikel nur die Funktion, den geäußerten Fragesatz als "Standardfrage" (Thurrnair 1991:379) bzw als echte Frage zu kennzeichnen und von in Fragesatzform geäußerten Aufforderungen zu unterscheiden, so schon Doherty 1985:76 und ähnlich König 1996: 14. Wie die Beispiele zeigen, ist die Modalpartikel aber - ein entsprechender Kontext vorausgesetzt - auch in Aufforderungen durchaus möglich. Es ist nach dieser Analyse auch kein Problem, daß denn in rhetorischen Fragen vorkommt, wo angenommen werden könnte, daß der Sprecher gerade keine Antwort erwartet: Kannst du denn nicht aufpassen?
Die häufig als Vorwürfe zu interpretierenden rhetorischen E-Fragen knüpfen an ein vorausgehendes Ereignis, meist ein bestimmtes Verhalten des Hörers an, und verweisen mit der Modalpartikel darauf, daß der Sprecher sich auf dies Verhalten bezieht und eine Erklärung, zumindest eine Reaktion erwartet (s. hierzu König 1977:122). Bei rhetorischen W-Fragen wird eine Antwort impliziert, und diese Implikatur ist entweder negativ oder referentiell spezifisch (cf Meibauer 1991 :234): Wer glaubt denn sowas? (Niemand) Wer hat's denn schon immer gewußt? (Ich) Was ist denn schon dabei? (Nichts)
Hier wird zwar keine explizite Antwort erwartet, aber der Sprecher gebraucht die rhetorische Frage und nicht den inhaltlich entsprechenden Aussagesatz, weil er will, daß der Hörer selbst
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
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darauf kommt, wer oder was gemeint ist, d. h. daß der Hörer reagiert. Denn hat hier dieselbe Funktion wie in Informationsfragen, die nämlich, die Frage als Folge einer Vorgängeräußerung, auch nicht sprachlicher Art, und damit als motiviert erscheinen zu lassen. Tatsächlich enthalten rhetorische Fragen mit denn, wenn sich ihr rhetorischer Charakter nicht durch den Inhalt ergibt, häufig außerdem die Modalpartikel schon, die Rhetorizität anzeigt. Die Bedeutung des Satzes ergibt sich dann kompositionell aus den Bedeutungen von denn und schon. Ersteres zeigt an, daß es einen Grund für die Frage gibt, letzteres, daß der Sprecher keine Antwort i. e. S. erwartet. Der Unterschied zwischen epistemischem denn als Konjunktion und der Modalpartikel liegt also nicht in der Bedeutung. Beide beziehen sich auf die illokutive Ebene, rechtfertigen eine Äußerung, nicht den mit der Äußerung behaupteten Sachverhalt. Der Unterschied liegt in der Syntax und der Phonologie: Als Konjunktion erscheint denn vor dem Satz, auch vor dem Fragesatz, und knüpft im allgemeinen direkt an einen vorhergehenden (Haupt)Satz an. Die Modalpartikel kommt dagegen heute nur in Fragesätzen und nur im Mittelfeld vor. Als Konjunktion hat es seine volle phonologische Substanz erhalten, als Modalpartikel hat es sie stark, bis zum Klitikum, reduziert. Aufgrund der gemeinsamen illokutiven Funktion und epistemischen Bedeutung ist eine parallele Herausbildung von Konjunktion und Modalpartikel sehr wahrscheinlich, wofür auch die Tatsache spricht, daß beide schon ahd. belegt sind (s. Paul 1992).
3.6
Betontes denn
Schließlich kommt denn auch in betonter Form vor, z. B. A: (Wenn du nicht Peter heißt) Wie heißt du DENN?
Nach der mehrheitlich in der MP-Forschung vertreteten Meinung sind Modalpartikeln unbetont und unbetonbar, danach wäre diesem denn der MP-Status abzusprechen. Weydt 1986 und Meibauer 1994 plädieren dagegen dafür, auch in DENN eine Modalpartikel zu sehen, die dann gebraucht wird, wenn "im Äußerungskontext eine negative Proposition relevant (ist), auf die sich der Kontrast richtet."(Meibauer 1994:224). Dieses denn, auf dem ein Kontrastakzent liegt, ist syntaktisch noch stärker restringiert als das unbetonte, es kommt nur in W-Fragen vor. Sowohl die Betonung durch den Kontrastakzent als auch die syntaktische Restriktion lassen sich pragmatisch erklären. Denn wird dann betont, wenn die Frage eine Wiederholungsfrage darstellt, d. h. wenn der Sprecher zum selben Sachverhalt bereits eine E-Frage gestellt und darauf eine negative Antwort erhalten hat. Wenn auf die zuerst gestellte E-Frage eine negative Antwort erfolgt, so kann der Sprecher entweder weitere E-Fragen stellen: A: Heißt du Peter?
8: Nein. A: Heißt du dann FRAnz?
Er wird dabei auf die Tatsache, daß er nunmehr bereits die zweite Frage stellt, mit dem Temporaladverb dann hinweisen und außerdem einen Kontrastakzent auf das fokussierte Element, hier den Namen, legen. In diesem Fall kann das Temporaladverb nicht betont werden, da der Akzent auf dem Namen liegt. Deshalb kann DENN in E-Fragen nicht auftreten. Er kann diesen Prozeß aber auch abkürzen und den Gegenstand der Frage, den Namen, direkt erfragen, also eine W-Frage stellen:
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Heide Wegener
A: Heißt du Peter? B:Nein. A: Wie heißt du DENN? Auch in diesem Fall verweist er mit DENN bzw. (süddeutsch) DANN darauf, daß er die Frage schon zum zweiten Mal stellt, die Partikel enthält also eine temporale Komponente. Da die W-Frage aber im Gegensatz zur E-Frage kein anderes Element enthält, das den Satzakzent auf sich zieht, kann nun die Modalpartikel betont werden und durch den Kontrastakzent anzeigen, daß sich die Frage auf einen oppositiven Kontext bezieht. Die Funktion dieses betonten denn ist daher zunächst die der Textverknüpfung, die sich der ursprünglichen temporalen Bedeutung bedient. Auf diese spielt auch Weydt 1986:399 an: DENN werde gebraucht, wenn eine erste Annahme korrigiert sei und "wenn man sich nunmehr (!) nach dem 'richtigen' Sachverhalt erkundigt." Nach dem Grammatikalisierungskriterium ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Phonologisch ist DENN nicht nur nicht reduziert, sondern sogar betont. Syntaktisch ist es aber noch stärker restringiert als das unbetonte denn, nämlich auf W-Fragen, und darunter auf solche, die als zweite Frage auf eine Negation hin gestellt werden. Die Frage ist, ob die phonologische Reduktion ein notwendiges Kriterium ist. Eine weitere Frage ist, ob DENN in semantisch-pragmatischer Hinsicht als epistemisches Zeichen oder aber als Textverknüpfer oder gar als temporales Adverb anzusehen ist. Das temporale Element ist in DENN noch soweit vorhanden, daß die Frage paraphrasiert werden kann durch Nachdem du auf meine Frage, ob du Peter heißt, mit "nein" geantwortet hast, was antwortest du dann darauf ( = 'nun', 'jetzt'), wenn ich dich frage ... Die temporale Komponente wird hier von der Sachverhaltsebene auf die Textebene verlagert, wie die Paraphrase zeigt. Thurmair führt gegen DENN als Modalpartikel an, daß süddeutsche Sprecher hier eher dann verwenden und daß die betonte mit der unbetonten Variante kombinierbar ist. Selbstkombinationen von Modalpartikeln sind aber nicht zulässig (Meibauer 1994); es ist ja in der Tat nicht anzunehmen, daß der Sprecher zweimal den selben epistemischen Verweis auf seine Einstellung gibt. Beispiel: A: Du hast ihm also den Namen gesagt. B:Nein. A: Was haste'n DENN zu ihm gesagt. Hier verweist 'n darauf, daß die Frage durch die Situation motiviert ist. Dagegen verweist DENN darauf, daß diese Frage auf eine frühere Frage folgt, die nicht hinreichend beantwortet wurde, und der Kontrastakzent zeigt, daß sie sich auf eine negative Proposition im Kontext bezieht. Im Unterschied zu anderen Modalpartikeln, s. die Beispiele in 2.1. zu eigentlich, vielleicht, tritt aber beim betonten denn nicht der Kippeffekt in der Bedeutung auf, der bewirkt, daß sich das Lexem wieder als Adverb verhält und auf die Sachverhaltsebene bezieht. Dies kann auch hier der Vergleich zweier Dialoge verdeutlichen: D I:
A: Du hast also ein Buch gekauft? B: Ja. A: Und was hast du dann gekauft?
Zur Grammatikalisierung von Modalpartikeln
03:
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A: Du hast also ein Buch gekauft? B:Nein. A: Was hast du DENN gekauft?
Nur in D1 ist von zwei Kaufereignissen die Rede, in D3 mit betontem DENN wird genau wie in D2 mit dem unbetonten denn von nur einem Kaufereignis gesprochen. Nur im ersten Fall können eindeutig temporale Lexeme wie darauf, danach an die Stelle von dann treten. In beiden anderen Fällen operiert das Lexem auf der illokutiven Ebene und kann folglich als Modalpartikel gelten. Seine epistemische Bedeutung sehe ich darin, daß es durch den Kontrastakzent anzeigt, daß der Sprecher ,jetzt erst recht" einen Grund hat, die Frage zu stellen, wogegen das unbetonte denn bzw. 'n nur anzeigt, daß die Frage kohärent ist. Die Tatsache, daß bei Akzentuierung von denn kein Umkippen und Funktionswechsel des Lexems erfolgt, führe ich darauf zurück, daß sich die Modalpartikel und das Adverb zu lautlich distinkten Elementen auseinander entwickelt haben, wie in 2.1. gezeigt wurde, so daß hier auch bei Betonung keine Ambiguität entsteht. Dies wäre jedoch an anderen betonbaren Modalpartikeln zu überprüfen. Für den MP-Status von DENN spricht schließlich auch, daß es an den Satzmodus 'Frage' gebunden ist, wogegen DANN in allen Satzmodi vorkommt. Die Lexeme, die schließlich als Modalpartikeln fungieren, haben, wie besonders deutlich denn zeigt, mehrere Stufen der Grammatikalisierung oder Subjektivierung und dabei mehrere semantische Bereiche durchlaufen, sie sind Endpunkte einer Grammatikalisierungskette i. S. von Abraham 1991:373: LOCALISTIC > TEMPORAL> LOGICAL > ILLOCUTIVE/DISCOURSE FUNCTIONAL Für den Spracherwerb ist diese Überlegung von eminenter Bedeutung. Es ist nicht anzunehmen, daß Kinder Modalpartikeln so lernen, wie sie in den Anfangen der MP-Forschung dargestellt wurden, nämlich als mehrere unterschiedliche und vom Ausgangswort verschiedene Lexeme. Vielmehr dürfte es den Kindern möglich sein, das Prinzip der konzeptuellen Verschiebung auf die Lexeme anzuwenden, die sie primär als Adverbien im Input wahrnehmen, und qua konversationeller Implikatur die epistemische Bedeutung daraus abzuleiten. Wahrscheinlich gehört die Fähigkeit zu konzeptueller Verschiebung und konversationeller Implikatur zu unseren Sprachlernfahigkeiten, vielleicht zu unserer kognitiven Ausstattung im biologischen Sinne. Hier ist die Spracherwerbsforschung gefragt, Antworten auf offene Fragen zu geben. Damit wäre auch das merkwürdige Phänomen erklärt, daß bei keinem Lexem, das heute als Modalpartikel fungiert, das Ausgangslexem vollständig untergegangen ist - wo doch in der Sprachgeschichte so viele ursprünglich konkrete Bedeutungen untergehen und nur die abstrakten erhalten bleiben, siehe z. B. die den psychischen Verben grauen, schaudern, ekeln zugrunde liegenden Bedeutungen 'kratzen, schütteln, erbrechen' (Wegener i. V.). Wenn der Spracherwerb den Prozeß der Grammatikalisierung sozusagen nachvollzieht, so ist dafür aber natürlich Voraussetzung, daß das Kind im Input nicht nur die Modalpartikel, sondern auch deren Ausgangslexem vorfindet und daß zwischen bei der Bedeutung ein Minimum an Transparenz besteht. Problematisch sind für diese Annahme nicht mehr transparente Modalpartikeln wie halt.
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Heide Wegener
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Irmhild Barz . Leipzig
Zur Lexikalisierungspotenz nominalisierter Infinitive
Der Beitrag geht der Frage nach, warum nominalisierte Infinitive (= NIe) relativ selten als usuelle Benennungen ins Lexikon eingehen, obwohl sie nach der ung-Derivation die zweithäufigste Art aller in Texten vorkommenden Verbalabstrakta darstellen (Wellmann 1975, 245) und auch im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtmenge an Substantiven in bestimmten Texten relativ häufig vorkommen (Schröder 1992, 94). Ich betrachte NIe als Ergebnis des Wortbildungsverfahrens Infinitivkonversion (= IK), bei dem verbale Infinitive in die Wortart Substantiv transponiert werden, ohne daß sich an ihrer Form etwas ändert. Innersprachliche Lexikalisierungsbedingungen für den NI, auf deren Suche ich mich begebe, sind von drei Seiten zu erwarten: von der Konversionsbasis verbaler Infinitiv, vom Konversionsprodukt Substantiv und von der Gesamtheit lexikalisierter Wörter, dem Lexikon. Entsprechend diesen Bedingungen gliedere ich meine Ausführungen wie folgt. Nach einer Einführung in die Problemstellung und den Lexikalisierungsbegriff wird die Konversionsbasis beschrieben (Welche Verben werden nominalisiert?), dann das Wortbildungsprodukt (Welche Produkteigenschaften hemmen oder befordem möglicherweise die Lexikalisierung?), und schließlich wird der Anteil des Lexikons an der Lexikalisierung erfragt (Wie beeinflussen Lexikoneigenschaften den Lexikalisierungsprozeß?).
1. Die Infinitivkonversion als Wortbildungsphänomen Den Anstoß für die Beschäftigung mit dem NI gibt die exemplarische Durchsicht gegenwartssprachlicher Wörterbücher nach Neuaufnahrnen. Bei der Analyse der Neuaufnahmen in den Ausgaben des Rechtschreibdudens von 1991 und 1996 sowie im achtbändigen Dudenwörterbuch (= DWB 1993) - jeweils im Vergleich mit ihren vorgängigen Auflagen - zeigt sich, daß NIe so gut wie nicht neu gebucht werden. Die 20. Auflage des Rechtschreibdudens von 1991, der sog. Einheitsduden, enthält lt. Verlagsangabe ca. 5000 neue Wörter. Ein Vergleich der Lemmata unter A mit denen in den Ausgaben von Leipzig 1985 und Mannheim 1986 ergibt, daß sich unter den 385 Neuaufnahrnen von 1991 kein einziger NI befindet, was insbesondere wegen des hohen Verbanteils von 26% (aufgrund der zahlreichen mit ab-, an-, auJ-, auspräfigierten Verben) verwundert. 1996 ist dann unter A nur das Alpenglühen neu aufgenommen (BarzlNeudeck 1997, 117). Ein ähnliches Bild bietet das DWB 1993. Auf 100 Seiten (S. 600 - 700, von Brutkasten bis derlei) sind gegenüber dem gleichen Buchstabenabschnitt im sechsbändigen Duden (19761980) lediglich drei neue NIe kodifiziert (Bungeespringen, Busengrapschen, Damenziehen; als Kompositum Buntfernsehen; Strauch 1996), unter dem Buchstaben W lassen sich bei den Neuaufnahrnen gar keine Konversionen finden (Taneva 1997). Und noch eine Zahl regt die
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Irmhild Barz
hier gewählte Fragestellung an: Von den 66000 Stichwörtern im Lernerwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (L WB 1993) sind weniger als 0,1% NIe (nach Thiem 1994). Wenn man die Kodifizierung von Wörtern in einem einsprachigen Wörterbuch des Standards als ein Indiz für deren Lexikalisiertheit akzeptiert (zur Problematik dieser Entscheidung Sandberg 1976, 62; Naumann 1986, 33f.), und das soll hier geschehen, dann bestätigen die Wörterbuchvergleiche die hinlänglich bekannte Funktionsbestimmung für die IK: Sie "ist weniger ein Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes [... ] als vielmehr ein syntaktisch relevantes Nominalisierungsverfahren" (Fleischer/Barz 1995,211), anders ausgedrückt, ihre primäre Funktion ist die "syntaktische Rekategorisierung" (Kastovsky 1995, 105). Das Primat dieser syntaktischen Funktion zeigt sich nicht nur an Stichwortverzeichnissen von Wörterbüchern, sondern läßt sich auch mit hohen Vorkommenszahlen in Texten belegen. Einschlägige Zählungen, grob zusammengefaßt, weisen z. B. in belletristischen Texten ca. 20% aller deverbalen Substantive als NIe aus; in den nichtbelletristischen Textbereichen liegen die Zahlen nur geringfügig darunter (Schippan 1967, 46; Wellmann 1975, 245). Schließlich verweisen die zahlreichen verschieden motivierten Termini für die IK wie "syntaktische Konversion" (Erben 1993, 28), "syntaxnahe Ableitung" (Toman 1983, 81) und ihre Bewertung als "verbnähere Nominalform" im Vergleich mit der ung-Derivation (Stepanowa/Fleischer 1985, 193) sowie die Bezeichnung der Konversionsergebnisse als "grammatische Abstrakta" (Wellmann 1975, 209) gleichfalls recht einhellig auf den syntaktischen Charakter der NIe. Die Dominanz der syntaktischen Funktion ist es dann auch, die gelegentlich zum Anlaß genommen wird, den Wortbildungsstatus der NIe in Frage zu stellen (v gl. z. B. Müller 1993, 40f., Vogel 1996). Nach meiner Ansicht sind diese Zweifel mit wenigstens zwei Argumenten zu entkräften. Wenn man das Wesen der Wortbildung darin sieht, daß "bei wortbildenden Vorgängen ein neues Wort mit eigener Bedeutung und möglichst eigenem Paradigma entsteht" (Vogel 1996, 45), spricht beim NI das nominale Paradigma eindeutig für den Status 'anderes, neues Wort'. Der verbale und der gleichlautende nominalisierte Infinitiv sind grammatisch verschiedene Wörter. Was ihre Bedeutung angeht, so sollte auch der Wechsel der kategorielIen Bedeutung, das WIE der Gestaltung der lexikalischen oder kategorematischen Bedeutung (Hentschel/Weydt 1996, 47), als Ausweis des neuen Wortes dienen. Das zweite Argument betrifft die Funktionen der Wortbildung. Bildungsergebnisse mit dominant syntaktischer Funktion nicht als Wortbildungsprodukte zu klassifizieren hieße, Wortbildung zu einseitig als Verfahren der Lexikonerweiterung zu sehen und möglicherweise auch andere Bildungstypen aus der Wortbildung auszuschließen. Immerhin kann der gesamten Gruppe grammatischer Abstrakta - Derivaten auf -ung, -ation, -(er)ei, Ge-... -e, -nis, -er, -e und der Verbstammkonversion - primär syntaktische Funktion zugeschrieben werden (Wellmann 1975, 209). Nicht nur Derivate, sondern auch viele okkasionelle Komposita fungieren "nur" als Formulierungsalternativen im Text, ohne daß man ernsthaft auf die Idee käme, sie nicht den Wortbildungsprodukten zuzuordnen. Es hängt demnach von dem jeweiligen theoretischen Wortbildungsbegriff ab, ob man die IK als Wortbildungsverfahren klassifiziert oder nicht. In eine polyfunktional verstandene Wortbildung muß sie einbezogen werden. Daß NIe ein eher untypisches Wortbildungsverfahren repräsentieren (Weimich 1993,981; vgl. auch Ehrich 1995), ist damit nicht in Abrede gestellt, sollte für die hier zu treffende grundsätzliche Entscheidung jedoch zweitrangig sein.
Zur Lexikalisierungspotenz nominalisierter Infinitive
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2. Lexikalisierung Als lexikalisiert gelten sprachliche Einheiten dann, wenn sie "in das Sprachwissen" überführt sind (Feilke 1996, 181). Unter Lexikalisierungspotenz lexikalischer Einheiten (auch "Lexikalisierungsaffinität", Fleischer 1997) wird im allgemeinen die Gesamtheit der für die Lexikalisierung relevanten Eigenschaften einer lexikalischen Einheit einschließlich der Relevanz des entsprechenden Begriffs verstanden. Wie alle Gedächtnisphänomene ist die Lexikalisiertheit sprachlicher Einheiten eine graduiert ausgeprägte Eigenschaft. Sie ist das Ergebnis des historischen Prozesses Lexikalisierung, der im synchronen Zugriff auf einer bestimmten Stufe, in einer "Momentaufnahme", erfaßt wird. Diesem Prozeß könnten theoretisch alle "individuell-okkasionellen, textgebundenen" Benennungen (Fleischer 1988, 57), die der Bezeichnung von "Ad-hoc-Begriffen" dienen (Hoffmann 1986, 34), unterworfen werden. Tatsächlich erlangt jedoch nur ein Bruchteil davon den Status einer lexikalisierten Benennung. Lexikalisierung ist gewissermaßen ein Auswahlprozeß. Von manchen Textwortschätzen bleiben fast 30% der durch Wortbildung entstandenen Substantive, Adjektive und Verben okkasionell (Wellmann 1995, 400). Betrachtet man nur substantivische Komposita, kann der Anteil noch höher sein (Barz 1995, 14). Als ausschlaggebend für die Verbreitung und Approbation von Okkasionalismen gilt gemeinhin ein überindividueller Benennungsbedarf; in Anlehnung an J. Erbens Charakteristik der Wortbildung läßt sich das Lexikon folglich als "Bedarfssystem" (Erben 1993, 146) bezeichnen. Zum Begriff Bedarf gibt es Überlegungen in der Nominationsforschung, die sich für die Differenzierung von Lexikalisierungsphänomenen anbieten. Nach C. Knobloch (1994, 123) sollte ein Unterschied zwischen kommunikativem und kognitivem Bedarf gemacht werden. Aktuelles Benennungshandeln befriedigt danach primär kommunikativen bzw. textkonstitutiven Formulierungsbedarf. Viele der hierfür gebildeten Einheiten, zu deren vollem Verständnis meist situationsspezifisches Wissen gebraucht wird, sind also nicht von vornherein für die Lexikalisierung "vorgesehen", d. h. die Wortbildung wird vom jeweiligen Sprecher "nicht als Akt der Nomination" reflektiert (Große 1982,46). Von daher verwundert es nicht, daß durch Wortbildung mitunter Wörter entstehen, die kaum lexikalisierungsfähig sind. W. Fleischer (1997) nennt u. a. Wortbildungsprodukte mit Eigennamen, hochgradig komplexe substantivische Komposita sowie die meist konnotierten Produkte der Reduplikation und Kontamination. Die Lexikalisierung lexikalischer Einheiten entspricht dem kommunikativen und dem überindividuellen kognitiven Bedarf, dem Bedarf nach dauerhafter Fixierung von Begriffen. Damit korrespondiert die Feststellung H. Feilkes zur Zweitrangigkeit des Frequenzkriteriums für den Lexikalisierungsbegriff: "Nicht die Frequenz, sondern nur die Leistung eines Ausdrucks kann ihn für die Lexikalisierung prädisponieren" (1996, 185). W. Fleischer bezeichnet diese Leistung anschaulich als 'Verkehrswert' (Fleischer 1997). Solche leistungsbezogenen Bedingungen für den Lexikalisierungsprozeß lexikalischer Einheiten sind: die Bedeutsamkeit des bezeichneten Sachverhalts für eine soziale Gruppe und die Aufnahme der lexikalischen Einheit durch andere Gruppen. Einen großen Anteil an der Ausbreitung sprachlicher Neuerungen kann mitunter auch das Sozialprestige des Verwenders haben (vgl. Große 1982,47). Wenn nun für die Fixierung eines Begriffs verschiedene Wortbildungstypen zur Verfügung stehen, wie das bei den Verbalabstrakta der Fall ist (das Verbreiten/die Verbreitung [von Nachrichten]), und sich bei der Lexikalisierung die Bevorzugung eines Typs so deutlich ab-
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zeichnet, müssen insbesondere innersprachliche Ursachen für den Auswahlprozeß geltend gemacht werden können, d. h. Eigenschaften des Wortbildungstyps.
3. Die Konversionshasis Der NI gehört zu den Nominalisierungen, "die sich sozusagen von selbst einstellen" (Wilss 1993, 192). Daraus zu schließen, daß jeder verbale Infinitiv nominalisierbar sei, ist aber nur dann korrekt, wenn man zwischen morphologisch-syntaktischer und semantischer Seite unterscheidet. Morphologisch-syntaktisch gesehen, ist die Wilmannssche Feststellung (1899, 405), daß jedes Verb nominalisiert werden könne, ohne Einschränkung gültig, und sie wird bis heute immer wieder bestätigt (vgl. z. B. Toman 1983, 84). Sowohl einfache und komplexe Verben als auch ganze Verbalphrasen werden bekanntermaßen durch Konversion zu Substantiven (das Schneeschippen, das Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben). Beschränkungen zeigen sich erst bei einer Lesarten-Differenzierung der verbalen Infinitive. Th. Schippan hat herausgearbeitet, daß sich häufig "Nebenvarianten" der Verben, wie sie es nennt, der Nominalisierung entziehen, wie z. B. der unpersönliche Gebrauch persönlicher Verben (es empfiehlt sich) (Schippan 1967, 44f.). B. Sandberg fand hierzu später verschiedene Präzisierungen, wonach beispielsweise durchaus auch bestimmte unpersönliche Verben nominalisiert werden können (Sandberg 1976, 101). Auch eine semantische Klassifizierung des Verbbestandes offenbart mögliche Beschränkungen. 1. Toman nennt Zustandsverben und "eine Gruppe von Empfindungsverben", die die Konversion nicht zuließen. Allerdings sind seine Beispiele nicht alle in gleichem Maße akzeptabel, wie es scheint. Die unterschiedlichen Wohlgeformtheitsgrade seiner Sätze lassen immerhin Zweifel an der optimistischen Annahme aufkommen, es seien "klare Konturen" für die Distributionsrestriktionen der NIe zu erkennen (1983,85). Auch W. Motsch (1987, 215) kann man in dieser Hinsicht nicht zustimmen. Vorsichtigere Angaben in anderen Arbeiten wie "die Substantivierung mit -en (zeigt) kaum Einschränkungen" (Wellmann 1995, 415) oder NIe seien "nahezu universell" bildbar (Fleischer/Barz 1995, 211) signalisieren, daß hier trotz morphologisch unbeschränkter Bildbarkeit semantische Beschränkungen bestehen und strikte Regeln doch nicht angegeben werden können. Weder die Erscheinung, daß nicht alle Lesarten der Wortbildungsbasis in ein Wortbildungsprodukt eingehen, noch daß sich bestimmte semantische Klassen von Wörtern einer Wortbildungsart entziehen, ist allerdings eine Infinitivspezifik. Der Auftrag von auftragen impliziert z. B. nicht die Verbbedeutung in Essen auftragen, Make up auftragen oder die Jeans des großen Bruders auftragen. Insofern unterscheidet sich die IK zunächst einmal nicht von anderen Wortbildungsarten. Dennoch ist sie in bezug auf ihre Basen in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes. Zum einen ist die weitgehende morphologisch-syntaktische Restriktionslosigkeit doch ein singulärer Fall in der Wortbildung. Es existiert kein anderes Modell, für das eine solche uneingeschränkte Bildungspotenz besteht. (Bei N-N-Komposita ist es zum Beispiel der Komplexitätsgrad der Nomina, der Grenzen setzt; bei der Adjektivierung von Partizipien die Verbsyntax). Daraus ergibt sich die zweite Besonderheit. Auch die in bezug auf andere Wortbildungsmodelle hochgradig wortbildungsinaktiven Infintive (z. B. tosen, trippeln, abkratzen 'sterben') widersetzen sich der IK nicht. Aus diesen besonderen Eigenschaften der IK, die einen leichten Zugriff des Sprechers auf das Modell garantieren, erklärt sich wohl die
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Dominanz der syntaktischen Funktion. Eine Erklärung für die geringe Lexikalisierungspotenz, ein direkt proportionaler Zusammenhang zwischen leichter Bildbarkeit und reduzierter Lexikalisierungpotenz also, läßt sich allerdings nicht konstruieren, zumal sich die ebenfalls schwach restringierten Nominalisierungen von Adjektiven und Partizipien anders verhalten. Ihnen wird in jüngster Zeit gerade eine erhöhte Lexikalisierungsneigung nachgesagt (Wilss 1993, 197; vgl. z. B. auch die Neuaufnahmen der/die Alternative, Ausgebeutete, Autonome, Asoziale und Ausländerbeauftragte im 91er Duden).
4. Das Konversionsprodukt Nach dem Konzept "grammatographischer Prototypik" (Naumann 1992, 96; Lindqvist 1996), das Grade der Wortartzugehörigkeit von Wörtern annimmt, stellen NIe untypische Substantive dar. Sie lassen sich als eine Peripherieerscheinung der Wortart Substantiv bestimmen, da sie nicht über alle Substantivmerkmale verfügen, oder anders gesagt, nicht alle Verbmerkmale abgelegt haben. Für sie gilt in besonderem Maße, daß "Verbalität und Nominalität [... ] keine binär disjungierten Eigenschaften, sondern Gradphänomene" sind (Schaeder/Knobloch 1992, 35). Typische Substantive im Deutschen sind die sog. genus festen und attribuierbaren 'countnouns' oder Individuativa, Bezeichnungen v. a. für Personen, Tiere und konkrete Gegenstände, auf die raumzeitlich eindeutig referiert werden kann. NIe hingegen zählen zu den untypischen Abstrakta, durch "spatio-temporale Vagheit und ambige Referenz" (Vogel 1996, 115) von den Individuativa abgehoben. Als Vertreter der Wortart Substantiv sind sie zwar durch die Genusfestigkeit, Deklination und Attribuierbarkeit eindeutig ausgewiesen, aber sie sind morphologisch und syntaktisch untypisch, zum einen wegen des defektiven Numerus; zum anderen wegen des Verhältnisses zur Besetzung der ArgumentsteIlen. Bei ad hoc gebildeten NIen ist in der Regel eine Reduktion der ArgumentsteIlen nicht akzeptabel, vgl. Kinder erziehen - das Erziehen. .. (Welke 1988, 134; Vogel 1996, 135). Untypisch sind sie auch wegen ihrer Distribution im Vergleich mit dem verbalen Infinitiv. Der NI kann an derselben TextsteIle wie ein verbaler Infinitiv mit zu stehen: "das Beschriften der Tabellen überlassen wir dem Lehrling/ die Tabellen zu beschriften ..." (Weinrich 1993,982). Und in wenigen Positionen ist der Status verbal- nominal sogar völlig offen: Irren ist menschlich (Sandberg 1976, 13). Auch ontologisch-semantisch weichen NIe von typischen Substantiven ab: Sie bezeichnen Ereignisse, Prozesse und Handlungen, d. h. ihre lexikalischen Bedeutungen entsprechen weitgehend denen der zugrunde liegenden Verben (solange keine Isolierungen eingetreten sind), ihre wortartbestimmende kategorielle Bedeutung dagegen weist sie als Substantive aus. Sind diese Substantive im Vergleich mit ihrer Basis nun tatsächlich andere Wörter oder nur andere Wortformen? Die Antwort auf die Frage ist deshalb wichtig, weil nur Wörter, und nicht (flexionsmorphologisch erzeugte) Wortformen als lexikalisierungsfähig gelten. Verben erfassen einen Wirklichkeitsausschnitt als "einen sich in der Zeit vollziehenden Prozeß", Substantive als ein "Etwas, eine Entität, einen Gegenstand des Sprechens" (Hentschel/Weydt 1995, 47). Substantive und Verben verfügen also einerseits über je eine typische kategorielle "semantische Charakteristik", wie es in den Grundzügen heißt (1981, 493), sie können jedoch andererseits durchaus denselben Wirklichkeitsausschnitt erfassen, wie
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die satzsemantische Beschreibung funktionaler Wortklassen hinlänglich deutlich macht (Strauß 1989, 792ff.). Handlungen und Vorgänge werden zwar typischerweise durch Verben bezeichnet, aber durch Substantive ist das ebenso möglich, wenn auch fast ausschließlich durch sekundäre Substantive. Bezieht man die kategorielle Bedeutung in die Kategorie 'neues Wort' im Verhältnis zur Basis ein - und das ist m. E. angemessen, weil ein Wirklichkeitsausschnitt einer anderen begrifflichen Klasse zugeordnet wird (Ereignisnominalisierungen, Bierwisch 1989), - dann ist ein NI zweifelsfrei ein neues Wort. Daß die Kenntnis der kategorielIen Bedeutung "kaum etwas zum semantischen Verständnis der Wörter" beitrage, wie G. Strauß mit Bezug auf die Wortartangaben in Wörterbüchern vermutet, scheint kaum überprütbar zu sein und dürfte kein überzeugendes Gegenargument darstellen (Strauß 1989,788). Zusätzlich zur semantischen, morphologischen und syntaktischen Charakteristik der Wortarten macht B. Naumann mit einer Wortartskalierung nach der abnehmenden morphologischen Determiniertheitsdichte auf eine weitere Besonderheit der Wortartendifferenzierung im Deutschen aufmerksam. Sie läßt sich auf die NIe applizieren und erhellt deren Peripherieposition aus einer aufschlußreichen Perspektive. B. Naumann bringt Wörter aller Wortarten in ein Kontinuum, in dem sie ihren Platz aufgrund des Grades der Wortartmarkierung am Wort und nach ihrer Wortbildungsaktivität finden (Naumann 1992, 104ff.). Vergleichbare Überlegungen stellt schon 1. Charitonova an, indem sie das Merkmal "morphologische Gestaltung" neben der syntaktischen Position, der Semantik sowie der Distribution als wortartunterscheidend herausarbeitet und die unterschiedliche Ausprägung dieser Merkmale für die ZentrumPeripherie-Gliederung jeweils einer Wortart verantwortlich macht (Charitonova 1977, 29). In Naumanns Skala finden sich am Pol der größten morphologischen Determiniertheitsdichte substantivische und adjektivische Derivate: Kindchen, rötlich, bergig, Freiheit, Lehrer und Meinung. Bei diesen Wörtern ist die Wortart durch die Suffixe eindeutig signalisiert. Substantive haben außerdem ein festes Genus und damit eine vorhersagbare Flexion. B. Naumann nennt diese Wörter derivationsmorphologisch markiert. Zur zweiten Gruppe mit einer schon geringeren Determiniertheitsdichte gehören die Simplizia des Primärwortschatzes einschließlich der einfachen Verben (Kind, rot, Berg, frei, lehren, meinen), sie sind "derivationsmorphologisch hinsichtlich ihrer Wortartzugehörigkeit nicht festgelegt" (Naumann 1992, 105), Genus und Flexion der Substantive sind nicht vorhersagbar. Wörter der Gruppen 1 und 2 haben primär lexikalische Funktion. Die nächste Gruppe bilden Adverbien, die mit dem Suffix -ig zu Adjektiven werden können (heute, oben); es folgen als vierte Gruppe komplexe Wörter wie sicherlich, keineswegs, außerhalb, längsseits, von denen manche in bezug auf die Wortart nicht mehr notwendig eindeutig sind, sondern als Präposition oder Adverb fungieren können. Sie gehen, wie auch die weiteren Gruppen zum Negativpol hin, keine flexions- oder derivationsmorphologischen Verbindungen ein. Die im Negativpol angeordneten Wörter, Konjunktionen, einige Adverbien (sehr) und Pronomina (man), haben primär syntaktische Funktion. Für die Einordnung des NIs soll als Fazit dieser Skalierung, die nicht in Einzelheiten erörtert werden kann, festgehalten werden, daß der typische Sekundärwortschatz im Deutschen derivationsmorphologisch markiert ist, der NI als sekundäres Substantiv also in dieser Hinsicht ebenfalls nicht als typisch angesehen werden kann. Der NI entspricht nicht dem offensichtlich wirksamen Sprecherbedürfnis nach deutlicher morphemischer Wortartmarkierung bei sekundären Wörtern, sondern durch die Übernahme der flexionsmorphologisch unveränderten verbalen Grundform in die Klasse Substantiv widerspricht er diesem Bedürfnis geradezu. In der Geschichte der Wortbildung finden sich zahlreiche Beispiele dafür, daß
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gerade das Bedürfnis nach "fonnaler Profilierung" (Hartweg/Wegera 1989, 156; Fleischer 1988, 187; Wurzel 1991,408) zu einschneidenden Wortbildungsveränderungen der Art geführt hat, daß untypische Fonnen untergehen (vgl. z. B. den Suffixersatz -ei-er bei Nomina).
5. Lexikonbedingungen 5.1. Bildungsrestriktionen F. Plank hat gezeigt, daß das Lexikon Einfluß auf die Bildung von Wörtern nimmt. Unter dem Oberbegriff "resultatsorientierte Beschränkungen" faßt er Lexikonerscheinungen zusammen, die die Erzeugung bestimmter Wortbildungsprodukte verhindern, weil diese Produkte "unerwünschte fonnale oder semantische Eigenschaften" (1981, 148) haben, derentwegen sie mit bereits lexikalisierten Wörtern kollidieren würden. Als solche lexikonbedingten Blockierungen gelten die potentielle Entstehung von Homonymie zwischen einem lexikalisierten Wort und dem durch Wortbildung erzeugten sowie die sog. Synonymieblockierung, die Verhinderung einer Wortbildung, wenn bereits ein Synonym zum potentiellen Wortbildungsprodukt geläufig ist (vgl. auch Naumann 1986, 34ff.; Werner 1995). Beide Blockierungsarten greifen bei der Bildung des NIs nicht. Wäre Homonymieblockierung wirksam, gäbe es die IK als Wortbildungstyp nicht, denn Fonnengleichheit mit der Basis und grammatischer Unterschied zu dieser Basis machen ihr Wesen aus. Mit Blick darauf schränkt F. Plank dieses Prinzip auch in seiner Geltung ein. Dennoch bleibt die geringe semantische Differenz zwischen verbaler Basis und Konversionsprodukt als wichtige, für Homonyme untypische Besonderheit ein Phänomen, das möglicherweise auf die Lexikalisierungspotenz der Konversionsprodukte Einfluß nimmt. Die okkasionelle Nominalisierung solcher Verben, zu denen fonnengleiche Substantive als Sachbezeichnungen lexikalisiert sind, ist grundsätzlich möglich (das Essen fällt dem Kranken schwer). Die entsprechenden NIe werden als Bezeichnungen des "unbegrenzten Handlungskontinuums", als eine neue Lesart oder ein homonymes Wort, verstanden (Wellmann 1975,244), so daß eine Äußerung wie das Essen des heißen Essens fällt dem Kranken schwer durchaus korrekt ist Für die Synonymieblockierung arbeitet Plank zwei unterschiedliche Wirkungsweisen heraus: Einmal können bereits lexikalisierte Bildungen auch regelhafte synonyme Neubildungen ohne Anspruch auf lexikalischen Status blockieren; zum anderen kann sich bei zwei oder mehr rivalisierenden Bildungsmitteln, deren Distribution nicht anderweitig geregelt ist, das stärkere, d. h. im allgemeinen frequentere und unbeschränktere, auf Kosten des schwächeren durchsetzen, so daß Synonymie verhindert wird, auch ohne daß eines der alternativ möglichen Derivate lexikalischen Status hat (Plank 1981, 181).
Das erklärt jedoch noch nicht, warum wie im Falle der IK das Blockierungsprinzip für die Bildung der Wörter auch völlig außer Kraft gesetzt sein kann. Denn ein Infinitiv läßt sich auch dann nominalisieren, wenn vom gleichen Verb schon Ereignisnominalisierungen anderer Bildungsweisen geläufig sind (das Verarbeiten, obwohl Verarbeitung; das Verbinden, obwohl Verbindung), ohne daß seine Akzeptabilität eingeschränkt wäre. Das macht den NI übrigens zum klassischen Bildungstyp für Bedeutungsparaphrasen bei Nomina actionis im
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einsprachigen Bedeutungswörterbuch (vgl. Schröder 1997). Die Bildung der NIe ist durch das Lexikon demnach nicht restringiert; auf ihre Lexikalisierung dagegen trifft das nicht in gleicher Weise zu.
5.2. Lexikalisierte NIe Am Beispiel der im Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache verzeichneten NIe möchte ich den Lexikalisierungsbedingungen nachgehen. Ich betrachte zunächst das Bedeutungsverhältnis zwischen NI und Basisverb, dann die Bezeichnungsleistung und schließlich die Konkurrenzen der IK zur Verbstammkonversion (= VSK) und zur ung-Derivation. Trotz semantischer Heterogenität im einzelnen läßt sich flir die lexikalisierten NIe insofern Einheitlichkeit konstatieren, als sie in der Regel im Vergleich mit dem Basisverb - anders als okkasionelle Substantivierungen - einen sog. "lexikalischen Mehrwert" haben. Auch bei scheinbar gleicher Bedeutung von Basis und NI, wie z. B. bei lächeln - das Lächeln oder schweigen - das Schweigen, haben sich beim NI semantische Spezialisierungen herausgebildet. Das Lächeln bezeichnet z. B. eher eine Einzelhandlung (bei Wellmann 1975, 238, findet sich sogar ein Beleg flir den Plural die Lächeln). Grenzfälle, bei denen sich ein solcher Mehrwert kaum sinnvoll herauspräparieren läßt, gibt es wenige: das Lachen, Ermessen, Ersuchen, Gedenken, Mißlingen. Manche dieser NIe sind relativ fest an bestimmte Umgebungen gebunden: auf Ersuchen, nach menschlichem Ermessen, in stillem Gedenken. Ihre Bedeutung ist zwar durch die Basisbedeutung motiviert, aber nicht systematisch prädiktabel. Letzteres gilt auch für die größere Gruppe der Sachbezeichnungen das Einschreiben, Essen, Haben, Schreiben. Völlige Demotivierungen fehlen fast ganz, semantisch relativ weit entfernt von der Basis sind lediglich Aufsehen und Abkommen, kaum mehr erschließbar nach jmds. Gutdünken. Unter onomasiologischem Aspekt, d. h. nach der Bezeichnungsleistung, lassen sich folgende Verallgemeinerungen über die lexikalisierten NIe treffen. Die meisten bleiben semantisch im abstrakten Bereich. Sie bezeichnen (1) Situationen: Treffen, Geschehen, Zusammensein, (2) Geflihle und Zustände: Befremden, Behagen, Entzücken, Entsetzen, Mißtrauen, Zutrauen, Befinden oder (3) Handlungsergebnisse: Versprechen, Vergehen, Vorgehen, Vorhaben, Auftreten, Betragen. Interessanterweise sind diese drei Gruppen, wie auch die Sachbezeichnungen, mühelos durch lexikalisierte ung-Derivate von anderen Basen aufflilIbar: (la) Veranstaltung, Lesung, (2a) Befremdung, Empörung; (3a) Versprechung, Vorhaltung. Daran zeigt sich, daß die Lexikalisierung der NIe nicht Folge einer grundsätzlich originären Bezeichnungsleistung des Wortbildungstyps sein kann. Bei einzelnen Verben lassen sich dessenungeachtet zwischen den Bildungstypen mitunter deutliche Bedeutungsunterschiede ausmachen. Für einen Wirklichkeitsausschnitt allerdings wird der NI als Bildungstyp bevorzugt: Er ist spezialisiert auf die Bezeichnung von Sportarten: Gehen, Rennen, Ringen, Rudern, Schießen, Turnen, Brust- und Rückenschwimmen, Weitspringen und Stechen (beim Reiten) stehen im Wörterbuch (L WB 1993), nach der Lektüre der Sportseiten von Tageszeitungen lassen sich weitere ergänzen: Bergsteigen, Bowlen, Boxen, Diskus- und Hammerwerfen, Eisbaden, Eiskunstlaufen, Eisschießen, Eisstockschießen, Gewichtheben, Kegeln, Kugelstoßen, Schlittschuhlaufen, Skifliegen, Springreiten, Stehendschießen, Synchronschwimmen, Wandern, Weltcupspringen, Wurftaubenschießen und andere. In wenigen Fällen stellt die Verbstammkonversion Konkurrenzbildungen zur Verfligung (Weitsprung, Eiskunstlauf) oder bildet
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die einzige usuelle Bezeichnung wie bei Langstreckenlauf, Hochsprung. Aber auch ganz anders gebildete Bezeichnungen kommen in dem Bereich vor (Leichtathletik, Fußball). Deverbale Konkurrenzformen zu lexikalisierten NIen sind nicht systematisch lexikalisiert. Mehr als die Hälfte der lexikalisierten NIe (ca. 65% des Korpus) haben keine weiteren sekundären Abstrakta neben sich, wie z. B. Erachten, Ermessen, Ersuchen, Lächeln, Mißlingen, Raunen, Sein, Staunen, Tun. Wenn doch ein weiteres Verbalabstraktum mit derselben verbalen Basis lexikalisiert ist, handelt es sich häufiger um nominalisierte Verbstämme (= NVSe) als um ung-Derivate. M. Bierwisch (1989, 17) stellt für das Deutsche insgesamt fest, daß kein Verb mehr als zwei Ereignisnominalisierungen im Lexikon hat, und schon zwei kommen nach seinen Beobachtungen relativ selten vor. Das bestätigt sich an dem hier untersuchten Material. Zwischen dem NI und dem NVS lassen sich verschiedenartige semantische Differenzen ausmachen, und zwar sowohl in der Differenziertheit der semantischen Gliederung als auch im Verhältnis der Lesarten zueinander. Der NI hat laut LWB (1993) meist nur eine Lesart, der NVS ist dagegen oft polysem: Schießen 'sportliche Veranstaltung' - Schuß (1) 'einmaliges Abfeuern einer Waffe', (2) 'Verletzung', (3) 'Geschoß'; ebenso Gehen 'leichtathletische Disziplin - Gang (1) 'die Art und Weise, wie sich jmd. beim Gehen bewegt', (2) 'schmaler, langer Raum', (3) 'ein einzelnes Gericht in einer Speisenfolge' (4) 'einer von mehreren Teilen in einem Mechanismus'. Die NIe können außerdem als Vorgangs bezeichnung ohne weitere semantische Spezifizierungen gebraucht werden: das Schießen hat er aufgegeben; das Gehen muß nach dem Unfall wieder geübt werden. Letztere sind im Wörterbuch in dieser Bedeutung nicht registriert. Die Bedeutungen der meisten stammgleichen lexikalisierten NIe und NVSe sind deutlich verschieden: Aufsehen - Aufsicht, Befinden - Befund, Betragen - Betrag. Synonymie zwischen NI und einer Lesart des NVS, wie bei Treffen und Treff 'verabredete Begegnung' bleibt die absolute Ausnahme. NI und NVS stellen offenbar kein Konkurrenzpotential dar. Noch seltener kommen im Lexikon bei ein und demselben Basisverb NI und ung-Derivat in der Bedeutung 'Nomen actionis' vor. Einzelbeispiele sind Versagen - Versagung, Einschreiben - Einschreibung. Und auch sie sind keinesfalls synonymisch zu gebrauchen. Diese Beobachtung stützt die Interpretation der IK als eines Ersatzverfahrens bei der Lexikalisierung von Verbalabstrakta. NIe werden zwar unabhängig davon gebildet, ob ung-Derivate mit derselben Basis lexikalisiert sind oder nicht, aber sie werden nicht unabhängig von dieser Tatsache lexikalisiert. Lexikalisierung erfahren sie nur in Auswahl, vorzugsweise bei den Verben als Basis, die sich nicht mit -ung verbinden können, und zwar in erster Linie bei unpräfigierten und durativen Verben. Nach H. Wellmann (1975, 212ff.) sind das solche, die einen andauernden Zustand, einen zeitlich nicht begrenzten Ablauf, einen wiederholten Vorgang oder mehrfache Tätigkeiten bezeichnen, insgesamt also etwas Unabgeschlossenes, wie z. B. die Modalverben: Wenn Verben die ung-Derivation zulassen, wird diese bei der Lexikalisierung deverbaler Substantive gegenüber dem NI offenbar deshalb bevorzugt, weil die ungDerivate derivationsmorphologisch als sekundäre Substantive morphemisch ausgewiesen sind, weil sie einen Plural bilden und auch weil sie als resultative Ereignisnominalisierungen meist über eine deutliche(re) semantische Differenz zum Basisverb verfügen.
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6. Schlußfolgerung Für den resümierenden Abschluß beziehe ich mich auf die von W. Motsch herausgearbeiteten Prinzipien der Erweiterung des Lexikons (Motsch 1983, 10 1). Er nimmt drei Prinzipien an, nach denen die Sprecher bei der Lexikalisierung von Benennungseinheiten verfahren: das Prinzip der (begrifflichen) Relevanz, das Prinzip der (morphologischen) Knappheit und das Prinzip der (semantischen) Klarheit. Benennungen, die allen drei Prinzipien genügen, haben nach diesem Ansatz die größten Lexikalisierungschancen. NIe verrugen über formale und semantische Eigenschaften, die sie, wie gezeigt werden sollte, rur das Lexikon offenbar unattraktiv machen. Für die Erklärung dieses Phänomens erscheint es notwendig, ein weiteres Lexikalisierungsprinzip anzunehmen, und zwar in Anlehnung an W.u. Wurzel (1991, 408) das der Distinktivität zwischen Wortbildungsbasis und Wortbildungsprodukt (vgl. dazu die "Signalreliabilität" von Ausdrücken, Feilke 1998). Das Distinktivitätsprinzip soll besagen, daß bevorzugt formal und semantisch hinreichend unterschiedene Wörter auf Dauer fixiert werden. Die NIe verletzen dieses Prinzip ganz offensichtlich. Zwei Eigenschaften sind der Grund dafür: 1. die fehlleitende Morphemgestalt (von der Großschreibung abgesehen gleicht sie den Verben) und 2. die zu geringfügigen lexikalisch-semantischen Differenzen zum Verb. Zwar ist der NI wegen der veränderten kategoriellen Bedeutung grammatisch ein anderes Wort als das Verb, dieser relativ abstrakte Bedeutungsunterschied wird aber rur die Lexikalisierung nicht wirksam, er reicht offensichtlich nicht aus. Letzteres könnte auch als Verstoß gegen das Relevanzprinzip gewertet werden: Es besteht kein kognitiver Bedarf rur die gleichzeitige Lexikalisierung einer verbalen und einer substantivischen Bezeichnung mit einer Bedeutung, die nur kategoriell verschieden ist. NIe sind nach diesen Kriterien schlechte, untypische Kandidaten rur Lexikoneinheiten. Was die IK zur Lexikonerweiterung beitragen könnte, leisten andere Wortbildungstypen, insbesondere -ung-Derivate, besser, d. h. sie bilden bessere Vertreter der Verbalabstrakta. Sie sind derivationsmorphologisch markiert, sind eher Resultats- als Ereignisnominalisierungen, oft simultan bei des, und daher deutlicher von der Bedeutung der verbalen Basis abgehoben, und sie decken, abgesehen von den Bezeichnungen rur die Sportarten, den gesamten semantischen Bereich der IK ab.
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Helmuth Feilke . Siegen
Idiomatische Prägung
Aus der Perspektive einer Theorie der "idiomatischen Prägung" diskutiert der folgende Beitrag Grenzfragen zur Problematik des Verhältnisses von Lexikon und Grammatik. Ausgangspunkt dafür ist eine theoretische Position, die gegenüber dem "Wort" als hauptsächlichem Bezugspunkt der semasiologischen und grammatischen Analyse die Bedeutung des "Ausdrucks" und seiner syntagmatischen Typik betont. Das Verhältnis von Wort und Ausdruck wird dabei wie folgt konzipiert: Das Wort ist die kleinste syntaktisch feldfähige semantische Einheit. Es ist systemintern durch seine syntaktischen und morphosyntaktischen Eigenschaften maximal auf syntaktische Prozesse beziehbar. Jedoch schon mit der Fähigkeit zur Wortbildung ist das Wort auf die Funktion bezogen, Wortfolgen nicht bloß ad hoc zu organisieren - das ist das Feld der Syntax -, sondern vor allem deren semantische Prägung durch den Gebrauch gestalthaft zu verkörpern und ins Lexikon zu überführen. Das ist das Feld des Ausdrucks. Dieses Feld erstreckt sich weit über das Schnittfeld der usuellen Wortbildungen hinaus und entfaltet sein Potential gerade außerhalb der syntaktischen und semantischen Domäne des Wortes, denn der Ausdruck faßt vor allem auch illokutionäre, propositionale und textuelle Ordnungsleistungen des Sprechens. Die Perspektive erlaubt deskriptiv den Zugriff auf einen Gegenstandsbereich, der bisher in seiner Bedeutung weder von der Grammatiktheorie noch von der Idiomatik und Phraseologie erkannt ist. Der Beitrag gliedert sich in: Vorbemerkungen zur Problematik der Grenze zwischen Lexikon und Grammatik (1), Erläuterungen zum Forschungsgegenstand (2), den Versuch zu einer deskriptiven Bestimmung idiomatischer Prägung (3), Diskussion der methodologischen Konsequenzen der deskriptiven Problematik (4) und eine Zusammenfassung theoretischer Bestimmungselemente für idiomatische Prägung (5).
1. Vorbemerkungen zur "Grenz"-Problematik Bereits das Sprechen von einer "Grenze" überhaupt zwischen Lexikon und Grammatik ist eine Metapher und legt eine Sicht auf Sprache nahe, die auf weitgehend ungeklärten theoretischen Voraussetzungen beruht. Abgesehen von der Frage, was innerhalb einer Sprache den Grenzverlauf zwischen Grammatischem und Lexikalischem bestimmt, markiert der sprachtheoretisch konstitutive Charakter der Begriffe zunächst offenbar auch Grenzen der Verständigung in der Sprachwissenschaft selbst. Es gibt sprachtheoretische Positionen, für die die Grenze zwischen Lexikon und Grammatik zugleich das Nichtsprachliche von der Sprache überhaupt scheidet. Von Manfred Bierwisch etwa stammt der Satz: "Die Sprache können wir schon, das Lexikon müssen wir noch lernen.") In einer entgegengesetzten Perspektive wird das Lexikon ) So Bierwisch bei der abschließenden Podiumsdiskussion der IDS-Jahrestagung 1993 in Mannheim
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als sprachverstehend aufgebautes und reproduziertes, also kulturell hervorgebrachtes Inventar von Zeichen zum Definiens für Sprache. So etwa bei Hermann Paul, der in den "Prinzipien der Sprachgeschichte" definiert: "Erst wo Sprechen und Verstehen auf Reproduktion beruht, ist Sprache da." (Paul 188011995: 187). Angesichts solcher aufs Ganze gehenden Grenzkämpfe, die auch die aktuelle Diskussion prägen, scheint es mir wichtig, die Rolle des Gesichtspunkts, die Rückbezüglichkeit im Verhältnis von Methode, Grundbegrifflichkeit und Theorie zu bedenken. Bereits W. v. Humboldt macht nachdrücklich und wiederholt darauf aufmerksam, daß Lexikon und Grammatik weniger Kennzeichen der Sprache als vielmehr Mittel ihrer Darstellung für bestimmte theoretische und praktische Zwecke sind, "Hülfsmittel", sagt er und erläutert weiter: Der Unterschied, welchen wir zwischen Grammatik und Lexicon zu machen pflegen, kann nur zum praktischen Gebrauche der Erlernung der Sprachen dienen, allein der wahren Sprachforschung weder Gränze noch Regel vorschreiben. (Humboldt 1963/88 [1830-35]:421).
Sicher ist es nicht leicht zu sagen, was die "wahre Sprachforschung" sein soll. Aber es gibt bescheidenere Möglichkeiten, die im Zitat formulierte Einsicht zu berücksichtigen und vor allem theoretisch und deskriptiv umzusetzen: Was als lexikalisch, was als grammatisch angesehen wird, ist stets Resultat der Anwendung bestimmter Methoden und spiegelt damit auch deren Beschränkungen. Die folgende Diskussion geht von Beobachtungen zu Ausdruckseigenschaften aus, die meines Erachtens weder dem Lexikon noch der Grammatik ohne weiteres zuzuordnen sind, und deren Analyse und Erklärung daher theoretisch und methodisch Probleme aufwirft. Das gilt insbesondere für das Faktum, daß die Repräsentation bedeutungstragender Einheiten im Lexikon einer Sprache nicht redundanzfrei möglich ist bzw. - positiv formuliert - die Repräsentation von semasiologisch komplexen Einheiten und Mustern verlangt. Das gilt bereits auf der Ebene des Wortes, nämlich für die usualisierten Resultate der Wortbildung. So findet man z. B. Straßenhändler oder Windmühle selbstverständlich in jedem Wörterbuch des Deutschen, obwohl sie regelhaft gebildet sind und auch Straße, Händler, Wind und Mühle bereits angeführt sind. Die zwingend redundante Struktur des Lexikons zeigt sich erst recht bei usuellen Syntagmen und Kollokationen sowie patterns solcher Syntagmen bis hin zu Satzund Aktmustern. Bereits ein unbefangener Blick auf die Ausdrucksfamilie, in der ein Verb wie stehen verortet ist, macht dies deutlich (vgl. Agricola 1988, DUW 1989, Wahrig 1987). stehen, >aufstehenetw. gestehenetw. erstehenauferstehenetw. zugestehenetw. überstehenjmdm. beistehenetw. steht bei jmdm.etw. verstehensich verstehensich verstehen alssich verstehen aufjmdn. (wortlos) stehen lassenetw. (das Essen) stehen lassenstehen bleibenjmdm. steht etwasetw. steht gut o. sGhlechtetw. steht zu befurchtenunter Druck stehenunter Wasser stehenin Verbindung stehen => =>
Das Substantiv ist schon seit dem 12. Jahrhundert bezeugt. 49 Mhd. ougenblic gehört zu derselben Reihe wie ougenschouwe und ougenweide und bedeutet zunächst schlicht 'Blicken der Augen' bzw. 'Anblick fiir die Augen'.50 So heißt es z. B. bei Walther von der Vogelweide: Ir vii minnec/ichen ougenblicke rüerent mich.51 Die heute übliche undurchsichtige, also demotivierte temporale Bedeutung 'ganz kurze Zeit, Moment' ist seit dem späteren Mhd. bezeugt. Ein Beleg aus den Altdeutschen Predigten zeigt explizit den Vorgang der Bedeutungsverschiebung: "in eime ougonblicke. also schiere so ein ouge Ci! unde zuo ist getan." Diese Bedeutung ist auch bei Goethe vorherrschend. Als ein Schlüsselwort bei ihm dient Augenblick vor allem zur Wiedergabe der Dialektik zwischen Augenblick und Dauer. Als eine Art Remoti vierung (diesmal im eigentlichen Sinne des Terminus) können jedoch Fälle gelten, wo bei Goethe Wörterbuch (l978:1068ff.). Ebd. 1048ff. Zur Beschreibung der Motivationsstruktur anhand des Kondensationsvorgangs s. genauer Luukkainen (1990b) u. ders. (1992). 49 Kluge/Mitzka (1975:38). Das Lemma fehlt in Kluge/Seebold (1995). 50 Vgl. Lexer (1876: 187ff.) 51 Kluge/Mitzka a.a.O. 46
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Goethe doch die durchsichtige Bedeutung mit Betonung des Visuellen anstatt des Temporalen anklingt, wie etwa im folgenden ltalien-Erinnerungsbild: 52 Alles was unser Auge übersieht, ist so harmonisch gefärbt, so klar, so deutlich ... Nur selten werden wir in unseren Gegenden an jene paradiesischen Augenblicke erinnert, und ich lasse einen Vorhang über dieses Gemählde fallen.
Bei der Zusammensetzung Augenblick haben wir also den Vorgang der Wortbildung von den ersten Anfangen bis zur Demotivierung und Remotivierung konkret verfolgen können. Lexer gibt sowohl mhd. ougenblic als auch die Parallelbildung ougenschouwe schon als zusammengeschriebene Lexeme an, während ougenweide auch als getrenntgeschriebenes Syntagmem angegeben wird.53 Dem letztgenannten, durch Hartmann von Aue und andere mhd. Lyriker bekannt gewordenen Substantiv liegt die Motivationsbedeutung 'Speise, Labsal für die Augen' zugrunde, woraus sich die Wortbedeutung 'was den Augen gefällt, schöner Anblick' ergibt. 54 Entsprechende Bildungen sind Augenschmaus und Ohrenschmaus. Die finnische Entsprechung silmänruoka 'Augenspeise' ist genauso strukturiert wie anfangs das deutsche Wort Augenweide. 55 Im Gegensatz zu Augenblick hat Augenweide die ursprüngliche Bedeutung bis heute behalten. Bei Goethe begegnen übrigens u. a. auch noch die nach demselben Modell gebildeten Zusammensetzungen Seelenweide bzw. Seelenfreude und Herzensweide. 56 Ich glaube, das erstere begegnet selten auch im Finnischen in der Form sielunruoka 'Seelenspeise' . Drei Gruppen von Sprachbenutzern weisen eine besondere Kreativität im Bereich der Wortbildung auf, indem sie stereotype Konventionen brechen, und zwar Kinder, Künstler und Werbeleute. Alle drei Gruppen achten besonders auf die Ausdrucksseite der Äußerungen. Vor einigen Jahren fiel mir im Schaufenster eines Optikergeschäftes in Hamburg ein Werbeschild mit der Schrift Augen-Blick auf. Ich wurde informiert, daß es als Aufforderung gemeint ist und 'Moment, Stehenbleiben' bedeutet. Ich glaube jedoch, daß es sich auch hier um eine Art Remotivierung handelt - es war ja die Reklame eines Optikergeschäftes. Ein Zweck der Remotivation besteht gerade in der Schaffung eines mehrdeutigen Effektes. Derartige graphische Remotivierungen sind auch besonders typisch für Christa Wolf. Hier einige Beispiele aus "Kindheitsmuster". Zur Hervorhebung der Ausdrucksseite trägt auch die reichliche Morphemwiederholung bei. Als sonstige mittels der Wortbildung erzeugte Stilelemente können u. a. die Häufung von mehrgliedrigen Komposita in der ersten Textprobe57 sowie Substanti52 53 54 55
Goethe Wörterbuch a.a.O. Lexer a.a.O. Drosdowski (1989:805). Zu Weide mit der alten Bedeutung 'Speise' s. Kluge/Seebold (1995:881), vgl. noch dia!. Weidedarm 'Mastdarm'. 56 Goethe Wörterbuch 1083. 57 Zur entsprechenden Häufung von schwerfalligen Zusammensetzungen bei Böll s. Luukkainen (I 990b:297f. ): "War ihre Wohnung ein Konspirationszentrum. ein Bandentreff, ein WaJfenumschlagplatz", "Da waren die Heizungsschächte rot, die Lüftungsschächte blau, die Kabelleitungen grün und die Kanalisation gelb eingezeichnet. [... ] stell dir vor, man hätte eine Kopie des Plans bei ihr gefunden - dann wäre die Verschwörungstheorie, die Idee des Umschlagplatzes perfekt untermauert, die Verbindung - Rote-Trude-Banditen - KatharinaHerrenbesuch. So ein Plan wäre natürlich ftir alle Sorten von Ein- und Ehebrechern, die nicht gesehen werden wollen, eine ideale Anleitung, ungesehen ein- und auszugehen."
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vierungen antithetischer Infinitiv-Perfekt-Formen in der auch sonst antithetisch gebauten zweiten Textprobe gelten, die Antithese zeichnet auch die letzte der drei Textproben in einer flir Wolf typischen Weise aus: Nicht, daß es keine Bilder mehr gäbe: Blitzlichtaufnahmen, auch Abfolgen. Aber ihre Leuchtkraft hat nachgelassen, als seien die Farben der Wirklichkeit nicht mehr von der gleichen Qualität wie früher. Dafür werden andere Erinnerungszeichen - Erkenntnisblitze, Einsichten, Gespräche, GeJühlszustände, Gedankengänge - merkwürdig. Worauf deutet das: Auf Altern? Oder nicht auch auf die Veränderung des Materials, das erinnert werden muß? Daß nicht mehr vor allem die Sinnesorgane das Gedächtnis in Gang setzen [... ], sondern immer häufiger, die verschiedenartigen EinDrücke aus der unermeßlichen Welt des Unsichtbaren, Untastbaren?58 Gestorbensein - Überlebthaben - Leben: Woran erkennt man sie? Von den Toten kann man nicht sprechen. Den Überlebenden sind Rück-Sicht und Vor-Sicht versperrt. Die Lebenden verfügen über Vergangenheit und Zukunft. 59
Ihre Neugier, das wußte sie schon, galt mehr den Tiefen als dem, was andere 'Höhen des Lebens' nannten. Das war vielleicht die Ur-Sache hinter der merkwürdigen Bestätigung, die sie aus ihrer Krankheit zog. (Sie hatte sich, vermittelt durch den Bazillus, eine Infektion zugezogen, die unheilbar war: Das geheime Wissen, daß man sterben muß, um geboren zu werden.)60 Wortbildung und Satzbildung bilden die beiden Hauptpole bei der stilistischen Gestaltung eines Textes. Wir haben oben auf den ganzheitlichen Stilbegriff in der von Sandig gemeinten Weise verwiesen. Weil keine Literatur in einem gesellschaftlichen Vakuum entsteht, hinterläßt das gesellschaftliche Umfeld seine Spuren auch in der Sprache der Literatur. In der Sprache der Wirklichkeit liegt der Nachdruck auf dem WAS, in der der Fiktion auf dem WIE. Doch ist in der letztgenannten das WIE mit dem WAS eng verzahnt. Dies gilt verstärkt für engagierte Autoren wie Wolf oder BölI. Auf der Mannheimer Frühjahrstagung 1994, die den Stilfragen galt, verwies Hans-Martin Gauger auf einen Brief von Fontane an seinen Verleger, wo stand: "Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; und das ist so ziemlich alles, was auf den 500 Seiten geschieht".61 Fontane aber fügt hinzu, daß ihm alles "an der Mache gelegen habe". Das Fazit von Gauger lautet: "das WIE ist ihm entscheidend, [... ] es wird ihm zum WAS." Wir zitieren Gauger weiter: Und hier zeigt sich gerade ein Spezifisches des literarischen Texts: die Trennbarkeit von Was und Wie ist bei ihm entschieden geringer als beim nicht-literarischen. Das Was gehört beim literarischen Text in gewissem Sinn selbst schon zum Wie, wobei der literarisch-poetische Diskurs, auch in dieser Hinsicht, nicht völlig verschieden ist von der nicht-literarischen Äußerung: es gibt da eine Skala, keinen eigentlichen Bruch. Das Spezifische des literarischen Texts liegt darin, daß in ihm die Verschränkung von Was und Wie bis zur völligen Untrennbarkeit gehen kann, was sich dramatisch in der Übersetzung zeigt: sie kann nahezu unmöglich sein, eben weil das Materielle eines Texts so zu ihm gehören kann, daß es von ihm nicht abziehbar ist.
Wolf(l979:450f.). Ebd.477. 60 Ebd.539. 61 Gauger(1995:16ff.).
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Der ganzheitliche, komplexe Stilbegriff der modernen Stilistik, wie er in Mannheim 1994 erarbeitet wurde 62 , ist letzten Endes in dem Zeichenmodell begründet, das Roman Jakobson in seinem Diskussionbeitrag "Linguistik und Poetik" 1960 darstellte. 63 Die schon von Jakobson vorgebrachten Gedankengänge können in ein Kontinuum folgender Art umgebaut werden: 64 Kontext (referentieller Aspekt): Sender (expressiver Aspekt): Empfänger (appelativer Aspekt):
Kanal (phatischer Aspekt): Kode (metasprachlicher Aspekt): Nachricht (poetischer Aspekt): Jeder dieser Faktoren hinterläßt seine Spuren im Text, nicht zuletzt in der Wort- und Satzbildung, in der Anordnung der sprachlichen Elemente im Textganzen. Auf den vorangehenden Seiten wurde das Hauptaugenmerk auf die Lexik bzw. auf die Verzahnung von Lexik und Grammatik gerichtet. Im Prozeß der Textherstellung wurden Wort und Satz als zwei Gegenpole in einem Kontinuum angesehen, weil ein und derselbe Sachverhalt je nach dem Ermessen des Textherstellers in ein komplexes Lexem verdichtet oder in Form eines Syntagmems oder eines einfachen oder komplexen Sentems ('Satzes') ausgedrückt werden kann. In meinen Untersuchungen zum Stilwandel bei Christa Wolf ging es besonders um den Wandel des Satzbaus, und zwar vor dem Hintergrund des wechselnden gesellschaftlichen Kontextes und der damit verbundenen eventuellen Neuorientierungen der Autorin. Etwas zugespitzt ausgedrückt kann man festhalten: In dem Maß, wie sich die Selbstsicherheit der ersten Jahre in Zweifel und Unsicherheit verwandelt, kompliziert sich der Satzbau. Jeder der zahlreichen Wendepunkte in ihrer Laufbahn, auch die letzte große Wende, nach der sie eine Zentralfigur im deutsch-deutschen Literaturstreit wurde, macht sich in der Syntax mehr oder weniger deutlich bemerkbar. So kommt etwa der langsame Wandel vom schwarz-weißen Weltbild des sozialistischen Realismus in eine differenziertere Betrachtungsweise nicht zuletzt im Wachsen der Satzlänge zum Vorschein. 65 Die Komplizierung des Ausdrucks bei Wolf stimmt mit den Beobachtungen von Möslein bei seiner Analyse der Syntax der technisch-wissenschaftlichen Literatur während der letzten zweihundert Jahre überein. 66 Wo eine übermächtige, chaotisch-schwierige Informationsmenge sprachlich und geistig verarbeitet werden mußte, war der Autor Möslein zufolge nicht immer Vgl. Stickel (Hg.) (1995). Jakobson (I 972:99ff.). 64 Luukkainen (I 997:69ff.). 65 Luukkainen (1997: 148ff.). 66 Möslein (1974: 156ff.). 62 63
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in der Lage, sich von den vielen Einzelheiten der Wirklichkeit zu distanzieren, was sich in der Syntax widerspiegelte. Demgegenüber bewirkte eine größere Distanzierung des Autors eine deutliche Komprimierung und Abklärung des Ausdrucks. Auch bei Wolf wird erkennbar, daß ein Unterschied zwischen Werken mit unmittelbarer und mittelbarer Erzählweise besteht. So ist z. B. die Syntax in "Kindheitsmuster" (1976), wo die Geschichte der Nazizeit verarbeitet wird, erheblich komplizierter als in "Kassandra" (1983). Das erstere Werk ist in der kurzen Phase der etwas freieren Kulturpolitik Anfang der 70er Jahre geschrieben, das letztere in der verschärften Atmosphäre nach dem Biermann-Prozeß.67 Als extremes Beispiel fUr die Zunahme der Satzlänge bei Wolf kann genannt werden, daß in der Anthologie "Auf dem Weg nach Tabou" von 1994 eine ganze Geschichte nur aus einem einzigen Satz mit 730 Wörtern besteht. 68 In derselben Anthologie findet sich auch eine Geschichte, in der der Erzähierin ein Gesträuch in der Kehle, in Richtung des Rachens gewachsen ist, das sie hindere, bestimmte Wörter auszusprechen. 69 Eines der ersten Wörter, die verloren gegangen sind, sei das Adjektiv sicher gewesen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf unsere erste Textprobe oben verweisen, die metaphysischen Reflexionen mit Hans Peter Dürr. Da ist die Rede von der Eröffnung von alternativen Elementen, von der Vernetzung von immer neuen alternativen Fragen, von einem immensen Möglichkeitsreservoir. Die metaphysische Entwicklung der Autorin im Verlauf der Jahrzehnte kann in den Worten Ja - nein. So - anders. Sowohl - als auch. kristallisiert werden. Der Wandel der Satzlänge ist ein Beispiel unter zahlreichen anderen grammatischen Verschiebungen. Ich weise kurz nur auf eine weitere Erscheinung hin. Wenn wir im Bereich der Diathesen zwischen Aktiv (Jemand tötet einen), Passiv (Jemand wird getötet) und Pseudoaktiv (Jemand stirbt) unterscheiden70 , ergibt sich aufgrund einer sehr groben Analyse der Texte Wolfs, daß der Anteil des Aktivs mit den Jahren, mit der zunehmenden Enttäuschung, Entfremdung und Ermüdung abgenommen, der des Passivs und Pseudoaktivs zugenommen hat.71 Wenn wir die Opposition Aktiv und Nicht-Aktiv betrachten und dabei zum Nicht-Aktiv auch die zahlreichen Sätze ohne verbales Prädikat rechnen, ergibt sich das Verhältnis 3:4 in "Moskauer Novelle" (1961), 2:3 in "Der geteilte Himmel" (1963) und 1:2 in "Sommerstück" (1989) und "Auf dem Weg nach Tabou" (1994). Somit sind wir also vom Bereich der Wortbildung in den der Grammatik übergegangen. Unsere beiden letzten Textproben stammen von Sarah Kirsch, aus ihrem 1991 erschienenen Buch "Schwingrasen" mit dem Untertitel "Prosa". Hier liegt zunächst einmal ein Beispiel fUr eine sehr augenfällige grammatische Ausdrucksweise vor, fUr ein "Sich-AusfUgen" anstelle von einem "Sich-EinfUgen", fur "opting out" anstelle von "opting in", d. h. ein Beispiel fur "Erwartungsbesiegung" anstelle von "ErwartungserfUllung" im Sinne von Roman Jakobson. 72 Wo der Leser Satztrennung erwartet, begegnet ein zusammengefugtes Satzbündel; andererseits wird eine logisch zum vorangehenden Satz gehörende Adverbialbestimmung davon losgelöst und wider Erwarten als getrennter isolierter Satz ausgedrückt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das WIE des Textes gelenkt. Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit des Lesers jedoch ebenso stark auf das WAS des Textes, nicht zuletzt des67 68 69 70 71
V gl. Stephan (1991 :22f.). Wolf (I 994:202ff.). Ebd. I 89ff. Vgl. Luukkainen (1988a:IIOff.), ders. (I988b:119ff.). Luukkainen (1997:225ff.). 72 V gl. Gauger (1995: I Of.).
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halb, weil die Nachricht auch hier in einem leicht identifizierbaren geschichtlichen Kontext verankert ist: Einmal vor Weihnachten nahm ich mein Federgewand und kam nach Prag. Es war im Jahr sechsundsechzig die Menschen strebten bereits in ihren berühmten unvollendeten Frühling. Und obgleich ich ihren Reden gern lauschte sprach ich lieber mit meinem finnischen Freund. In einer Wohnung auf der Kleinen Seite gleich hinter dem aufgebockten russischen Panzer, der Warnung. Oder wir flogen über Brücken und Plätze und da es wie gesagt kurz vor Weihnachten war standen Holzbottiche an den Rändern der Straße in denen träge Karpfen schwammen und diese Holzbottiche mit den mümmelnden Karpfen fallen mir jedes Jahr wieder ein.73 Ich brauche flinke Füller wenn ich von meinen Ausflügen mit dem Schwanen gewand etwas aufschreiben will, die Feder muß fliegen sonst kommt nichts zustande ich muß mir mein Werkzeug gut präparieren. [... ] Stehe mit Pentti eines sehr kalten eisgrünen Morgens in Prag an den hölzernen Fischbomichen rum ganz übermüdet und nichts gegessen vor Liebe. Er schlug die halbe Nacht die Schreibmaschine und ich schrieb mit olivgrüner Tinte und wir haben dazwischen über das Erdenleben lauthals gelacht. Jetzt sind wir also bei diesen Fischen die mit ihren Mäulern gewissenhaft die Stunden zählen die uns noch bleiben und er deklamiert mir den Erlkönig vor in seinem verführerischen Deutsch aus der Schule oder ich bin schon wieder auf und davon und befinde mich sagen wir mal mit K. ach wassen Glück in der Lausitz auf unseren schnurrenden Rädern. [... ].74
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73 Kirsch (1991:79). 74 Ebd.31.
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Henrik Nikula . Vaasa
Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie
O. Einleitung Der Titel dieses Beitrags hätte eigentlich zwischen Anfuhrungszeichen stehen sollen, denn er ist auch der Titel eines Vortrags des Dichters Ernst landl (vgl. landl 1985: III, 562-564). Es gibt verschiedene Gründe, warum ich Gedichte als Gegenstand dieses Beitrags gewählt habe. Ein wichtiger Grund ist aber, daß literarische Texte, vor allem, wenn es um literarische Experimente wie die konkrete Poesie geht, Aspekte der Textualität sehr deutlich "konkretisieren", u. a. eben den Grenzbereich zwischen Lexik und Grammatik. Ernst landl unterscheidet in traditioneller Weise in dem oben erwähnten Vortrag zwischen normativen und deskriptiven Wörterbüchern und Grammatiken, wobei er von der "Lust" spricht, die durch die "Spannung zwischen der Norm und dem Tatsächlichen" verursacht werde, landl (1985: III, 563). Um den Begriff der Autonomie zu konkretisieren, fuhrt landl die Vorstellung einer "projektiven" Grammatik und eines "projektiven" Wörterbuchs ein, d. h. einer "vorauseilenden" Grammatik und eines "vorauseilenden" Wörterbuchs, die angeben, "was es in und an einer Sprache, die es gibt, geben wird, das heißt jetzt noch nicht gibt", landl (1985: III, 563). - Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, was landl genau meint, aber man könnte es wohl so interpretieren, daß er durch den Begriff des Projektiven veranschaulichen möchte, daß sprachliche Kreativität nur im Spannungsfeld zwischen Norm und Freiheit existieren kann, was an sich natürlich kein neuer oder origineller Gedanke ist. Es ist wichtig festzustellen, daß landl sehr deutlich zwischen "Alltagssprache" und "Poesiesprache" unterscheidet, landl (1985: III, 564). Dabei ist zwar der Begriff "Sprache" nicht ganz klar - eine typische Schwierigkeit in der Kommunikation zwischen Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern und Linguisten, aber es scheint mir, daß landl die Sprachverwendung meint, d. h. die Ausnutzung des Potentials des Sprachsystems einer bestimmten Sprache.
1. "Alltagssprache" vs. "Poesiesprache" Die erwähnte Unterscheidung zwischen "Alltagssprache" und "Poesiesprache", oder besser, zwischen nicht-literarischer und literarischer Kommunikation, ist von grundlegender Bedeutung, wenn man literarische Texte als solche linguistisch untersuchen möchte. Das Problem ist, daß es schwierig ist, linguistisch greifbare Kriterien zu finden, und ich kann in diesem Zusammenhang natürlich nur kurz einiges andeuten. Deutlich scheint aber, daß der Unterschied nicht ausgehend von sprachlichen Regeln und Normen erfaßt werden kann.! Es scheint !
Vgl. auch Lücking (1995: 2): "Fiktionale und nicht-fiktionale Texte unterscheiden sich nämlich nicht dadurch, daß ihnen unterschiedliche semiotisch-textologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde lägen."
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eher um verschiedene Arten zu gehen, sich zu den allgemeinen oder universalen Bedingungen der Kommunikation zu verhalten, d. h. zu Bedingungen, wie sie etwa durch das bekannte Kooperationsprinzip und die damit zusammenhängenden Maximen von Grice (1975) erfaßt werden. Zentral ist dabei die Maxime der Qualität, die sich auf die "Wahrhaftigkeit" des Textes bezieht. Ein enger Zusammenhang besteht natürlich zwischen diesem Begriff und dem Begriff der Fiktionalität, der einen Schlüsselbegriff bei den Versuchen darstellt, zwischen nicht-literarischen und literarischen Texten zu unterscheiden. Ich möchte dabei eher von Fiktionalisierung sprechen, wobei Fiktionalisierung grundsätzlich nur in dem Sinne etwas mit Fiktivität zu tun hat, daß Fiktionalisierung bedeutet, daß davon abgesehen wird, ob der Textinhalt ein fiktiver ist oder nicht2 Die Frage, ob mit Hilfe eines literarischen Textes gelogen wird oder nicht, wird somit gegenstandslos. Wenn jemand sagt, ,jetzt werde ich euch eine Geschichte erzählen" bedeutet dies eben, daß er die Zuhörer implizit bittet, von der eventuellen Wahrheit oder Unwahrheit des Erzälten wenigstens vorläufig abzusehen, was die Zuhörer bei gelungener Kommunikation "kooperativ" akzeptieren. Die Fiktionalisierung bedeutet, daß durch den literarischen Text nicht über etwas gesprochen wird, denn dann könnte man die Beziehung zwischen dem Text und dem, worüber gesprochen wird, in Frage stellen, d. h. eben die Wahrhaftigkeit. Durch den literarischen Text wird lediglich "dargestellt" oder "vorgezeigt", vgl. etwa Gabriel (1983: 14), und zwar auch die Sprache, die Textstruktur selbst; darin besteht eben die "Ästhetisierung". In extremen Fällen, wie in der konkreten Poesie, stellt beinahe ausschließlich die äußere Form, Lautstruktur und/oder graphische Struktur des Gedichts den "vorgezeigten Gegenstand" dar, den Inhalt, das ist das "Konkrete" dabei. Die Fiktionalisierung hat natürlich auch Konsequenzen ftir die Gültigkeit der übrigen Maximen wie die der Quantität der Information und die der Art und Weise des Ausdrucks. Itälä (1996) zeigt, daß das einzige Kriterum der Textualität im Sinne von de Beaugrande und Dressler, das auch ftir die konkrete Poesie ausnahmslos Gültigkeit besitzt, das der Kohärenz ist, vgl. Itälä (1996: 57,62). Der Text muß also als sinnvoll interpretiert werden können, auch wenn sein Sinn der reine Unsinn sein kann, wie landl (1985: III, 620) andeutet. Dies bedeutet, daß die Maxime der Relation (oder Relevanz) auch bei Fiktionalisierung eine zentrale Bedingung ist. Die Maximen der Quantität und der Art und Weise werden dagegen stark betroffen, da durch die Fiktionalisierung die Interdependenz von Form und Inhalt absolut wird. Ich werde unten auf die Gründe daftir zurückkommen. Die Realisationen des Literarischen sind kulturbedingt, die Möglichkeit des Literarischen (und somit des Ästhetischen und Künstlerischen überhaupt) ist universal. Regeln und Normen sind sprach- und kulturspezifisch. Dabei möchte ich, etwa in Anlehnung an Wiegand (1986), die Beziehung zwischen Regeln und Normen folgendermaßen betrachten: Sprachliche Äußerungen werden immer regelgesteuert produziert, aber welche Regeln akzeptiert werden, wird durch implizite und/oder explizite Normen gesteuert 3 Wenn jemand sagt, Er hat mich gehol2
Interessant in diesem Zusammenhang ist u. a. Rühling (1996), auch wenn er in einer etwas anderen Weise als hier zwischen Fiktionalität und Fiktivität unterscheidet, denn zwar versteht Rühling unter Fiktionalität eine Darstellungsweise und unter Fiktivität eine bestimmte Existenzform von Gegenständen, aber Fiktionalität bedeutet dabei eine Darstellungsweise, "derart, daß das Dargestellte nicht existiert", vgl. Rühling (1996: 29). Im vorliegenden Beitrag aber bedeutet Fiktionalität eine Darstellungsweise, die von der Frage der Existenzform der Gegenstände usw. absieht. Wiegand (1986: 79-89). Vgl. z. B. weiter Bartsch (1987: 65-83), Heringer (1982), Ripfel (1989: 194-195).
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fen, hat er eine Valenzregel verwendet, die nicht mit der allgemeinen Norm übereinstimmt,
die aber im System der deutschen Sprache eine denkbare wäre, daja sowohl der Akkusativ als auch der Dativ typische Objektskasus sind; es geht also in diesem Falle eher um einen Verstoß gegen die Norm. Der Satz Heute er hat mir geholfen wäre aber kaum ein Ausdruck der Verwendung einer denkbaren Regel der deutschen Sprache, weil die Regel, daß im Deutschen ein Hauptsatz nur mit einem Satzglied anfangen kann, eine sehr allgemeine ist; es würde eher um die Interferenz von Regeln einer anderen Sprache gehen, wie etwa des Englischen oder des Finnischen. Der Begriff "denkbare Regel einer Sprache" ist natürlich nicht unproblematisch, und u. a. deshalb ist es im konkreten Fall durchaus nicht immer einfach, oder gar möglich, eindeutig zwischen Regel- und Normverstößen zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen Regel und Norm ist aber prinzipiell wichtig, denn es ist klar, daß sogar die konkrete Poesie in irgendeiner natürlichen Sprache formuliert wird, d. h. solange überhaupt von einem (sprachlichen) Text gesprochen werden kann. Es gibt allerdings Grenzüberschreitungen, wie z. B. das recht bekannte "Apfel-Gedicht" von Reinhard Döhl. Dieses Gedicht scheint so enstanden zu sein, daß Döhl zuerst ein Blatt Papier mit dem Wort Apfel vollgeschrieben und danach mit der Schere eine apfelformige Figur aus dem Blatt geschnitten hat. Ungefähr in der Mitte des "Apfels" gibt es einmal das Wort Wurm. [Döhl] zwingt, wie es scheint, dem bedeutungslosen Resultat einer mechanischen Vervielfaltigung [des Wortes Apfel] ebenso mechanisch, mit der Schere, die Kontur eines Apfels auf [... ]. (Wagenknecht 1987: 94f.)4 Aber auch Gedichte wie das Apfel-Gedicht werden mit Hilfe von bekannten Regeln der betreffenden Sprache formuliert, auch wenn sie schon beinahe die Grenze zum reinen Bild überschreiten. 5 - Die rein sprachliche Kreativität könnte als der Grad der Ausnutzung des Regelpotentials der Sprache betrachtet werden, und wenn die Regelverwendung bzw. die Regeln nicht normkonform sind, geht es um Normverletzung, die möglicherweise zu einer Veränderung der Norm führen kann. Daß die dichterische Kreativität dagegen das Regelpotential einer Sprache verändert, dürfte wenigstens äußerst selten, wenn überhaupt, vorkommen. Dabei muß beachtet werden, daß a) die dichterische Sprache selbst zum Teil andere Normen besitzt als die "Alltagssprache", d. h. daß sich bestimmte Konventionen innerhalb der verschiedenen Gattungen entwickelt haben (die Gattungen selbst stellen natürlich schon an sich Konventionen dar), und b) daß die Ästhetisierung durch Fiktionalisierung auf die allgemeinen kommunikativen Bedingungen einwirken, was dazu führt, daß auch Regeln und Normen aus einer zum Teil anderen Perspektive betrachtet werden müssen. Zusammenfassend: Die Sprache als System besteht aus Regeln, während die tatsächliche Verwendung dieses Regelpotentials durch Normen gesteuert wird. Durch das Tatsächliche, d. h. die tatsächliche Verwendung kann aber die Norm beeinflußt werden, wobei der Normverstoß Teil der Norm wird und die "Spannung zwischen der Norm und dem Tatsächlichen"6 aufgehoben wird.
Interessant in diesem Zusammenhang sind natürlich auch Döhls eigene Gedanken zu Gedichten dieser Art, vgl. Döhl (1987). 5 Das Gedicht besteht aus deutschen Wörtern und hat eine im Deutschen mögliche Syntax, asyndetische Parataxe, vgl. weiter auch Nikula (1983) und Nikula (1996). 6 Vgl. oben die Einleitung, landl (1985: III, 563). 4
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2. Der Begriff des Ästhetischen Wenn wir einen literarischen Text wirklich als literarischen Text linguistisch analysieren möchten, genügt eine ostensive Definition nicht; wir müssen wissen, warum wir einen bestimmten Text mit dem Prädikat "literarisch" versehen, wobei der Grund nicht nur der sein kann, daß auch andere es tun. - Ein Ausgangspunkt könnte sein, daß literarische Texte als "Kunst" betrachtet werden können. Dabei kann aber die Qualität kein Maßstab sein;7 genau wie es "Trivialliteratur" gibt, gibt es natürlich sowohl in der Musik als auch in der bildenden Kunst Werke, die für mehr oder weniger "trivial" gehalten werden. Wenn etwas als "Kunst" charakterisiert wird, scheint aber immer ein gemeinsamer Nenner vorzuliegen: Der Begriff des Ästhetischen. Das Problematische dabei ist, daß dieser Begriff nie besonders klar definiert worden ist, wenigstens nicht in dem Sinne, daß er einen Ausgangspunkt linguistischer Untersuchungen darstellen könnte.8 Offenbar realisiert sich das Ästhetische in verschiedener Weise in verschiedenen Medien der Kunst, wobei es von grundlegender Bedeutung ist, daß derjenige Begriff des Ästhetischen, mit dessen Hilfe der literarische Text definiert wird, mit den anderen Erscheinungsformen der Kunst wenigstens kompatibel ist. Wie könnten wir sonst etwa die modeme multimediale Kunst wissenschaftlich erfassen? Und Werke der Kunst dürften überhaupt selten eindeutig auf ein Medium beschränkt sein, was das folgende Beispiel sehr deutlich zeigt. Auf der ersten Seite der Süddeutschen Zeitung, 18.10.1996, findet man unter "Heute im Magazin" den folgenden Text: Betriebsgeheimnis: Die finnische Firma Bonk legt eine glänzende Bilanz vor, entwickelt einzigartige Produkte und hat einen blendend aussehenden Geschäftsführer. Da stimmt doch was nicht. (V gl. weiter Cornelius 1996.)
Bonk Business Inc. stellt in der Tat ein in diesem Zusammenhang sehr interessantes und beleuchtendes Beispiel eines multimedialen Kunstwerks dar. Das Unternehmen, dessen "geschäftsführender Direktor" Alvar Gullichsen ein anerkannter Künstler ist, hat verschiedene Verzweigungen wie Mad Dog Production Ltd. und Henrikin Tuote. 9 Es werden u. a. phantasievolle Maschinen hergestellt, deren Funktionen "fiktiv", oder eher "ästhetisch" sind. Es gibt eine Geschichte des Unternehmens, die ganz offenbar fiktiv ist, vgl. Gullichsen u. a. (1994), wie auch Bonk Worlds (1993).10 Es wird ein Fernsehfilm über das Unternehmen produziert, Donalies (1995) zeigt z. B., daß es keine sprachlichen Merkmale gibt, die den Trivialroman in charakteristischer Weise vorn nichttrivialen Roman unterscheiden würde. 8 Z. B. stellen Werbetexte ein Medium dar, wo das Ästhetische häufig eine wichtige Rolle zu spielen scheint, vgl. z. B. Eichholz (1995). Sie sind aber keine ästhetischen oder literarischen Texte, weil sie nicht als Textganzheiten ästhetisiert werden, sondern das Ästhetische nur eine untergeordnete instrumentale Funktion hat, denn wenn der ganze Text "fiktionalisiert" (vgl. unten) würde, würden sie ihre Funktion als Werbetexte in der "realen Welt" verlieren. 9 Im Internet findet man (im Oktober 1996) unter der Adresse ,,http:// www.telegate.se/bonk/posts.htJm .. weitere Information(?) über Bank Business Inc. und dessen Verzweigungen, u. a. "Cosmic Therapy Division, Sirius Research Ab, Visby, Sweden", "Rabba Hiff Power Machinery Ab, Trollhättan, Sweden", "Bonk Repacking Division, Bonk Repacking Pie, Bermuda", "Laboratoire d'amour. Bonk Business S.A., Grasse, France" usw. 10 Vgl. auch das kitschige, mit alten Familienfotos bebilderte Gedichtbuch Mitt hjärtas sang (Bonk ,,1901 "), angeblich geschrieben von "Amelie Bonk", in der Tat aber von dem anerkannten 7
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The Cosmic Sucker, der den ersten Teil einer dreiteiligen Fernsehserie The Amazing Story 0/ Bonk Business Inc. bilden soll, vgl. Hbl (1996). Das Unternehmen ist aber offenbar weder fiktiv noch nicht-fiktiv, denn man könnte genauso gut sagen, es ist sowohl fiktiv als auch nicht-fiktiv. Es geht um Fiktionalisierung in dem Sinne, wie dieser Begriff unten definiert wird. Es geht in der Tat nicht nur darum, daß die Geschichte eines Unternehmens der Fiktionalisierung unterworfen wird, sondern darum, daß ein Unternehmen als Idee und "Philosophie" fiktionalisiert wird. Ein Unternehmen als ästhetisches Objekt dürfte eine Seltenheit in der Geschichte der Kunst sein. 11 Und ein Unternehmen als ästhetisches Objekt kann nur ein multimediales Kunstwerk sein. Einen guten Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen bietet die Definition literarischer Texte von Wolfgang Heinemann und Dieter Viehweger. Ihrer Darstellung nach werden bei literarischen Texten die primären Textfunktionen SICH AUSDRÜCKEN, KONT AKTIEREN, INFORMIEREN und STEUERN durch die Funktion ÄSTHETISCH WIRKEN "überlagert", vgl. Heinemann/Viehweger (1991: 148ff.).
Das erfolgt vor allem dadurch, daß der Textproduzent mit Hilfe des Textes eine fiktive Realität schafft, auf diese Weise dem Rezipienten pragmatische Informationen vermittelt und insbesondere 'emotionale Bewußtseinsprozesse' auslöst. (HeinemannNiehweger 1991: 149) Ein Problem ist aber, daß die Begriffe "fiktiv" und "ästhetisch (wirken)" nicht näher definiert werden. 12 Daß "pragmatische Informationen vermittelt und insbesondere 'emotionale Bewußtseinsprozesse'" ausgelöst werden, ist hier weniger relevant, da auch nicht-literarische Texte dieselbe Wirkung auf den Rezipienten ausüben können. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber, daß Heinemann und Viehweger die Fiktivität als Mittel zur Erreichung der Funktion ÄSTHETISCH WIRKEN auffassen. Es ist natürlich sehr üblich, Begriffe wie Fiktivität und Fiktionalität mit Literarizität zu verknüpfen, aber diese explizite Verbindung zwischen Fiktivität, Ästhetizität und Literarizität finde ich sehr fruchtbar. Allerdings sind dabei einige Präzisierungen notwendig.
3. Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren Die oben erwähnte Präzisierung betrifft Begriffe wie Fiktivität, Fiktionalität, Fiktionalisierung und Fingieren. Dabei wird Fiktivität hier als ein Phänomen betrachtet, das nicht unmittelbar mit der Sprache oder mit Texten verknüpft ist. Träume, Vorstellungen, Phantasien, Erinnerungen, Zukunftspläne usw. haben, oder können einen mehr oder weniger fiktiven Charakter haben. Über diese sprachunabhängigen "Inhalte" können wir berichten, wobei sie durch
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finnlandschwedischen Schriftsteller und Dichter Bo Carpelan, dem die Aufgabe offenbar Spaß gemacht hat. - Es gibt weiter ein sehr schönes Betriebsmuseum in Uusikaupunki (Nystad), Finnland, wo die "Geschichte" des Unternehmens anschaulich dargestellt wird. An sich gibt es wenigstens zum Teil vergleichbare Unternehmen, "wie das des Schweizers Res Ingold, der seit Jahren die imaginäre Fluglinie 'Ingold Airlines' betreibt", Cornelius (1996: 72). Bonk ist aber als Unternehmen keineswegs "imaginär", es ist weder fiktiv, noch nicht-fiktiv, sondern eben "fiktionalisiert" in dem Sinne, wie wir unten diesen Begriff verwenden wollen. Sie kommen auch nicht im Sachregister vor!
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Textualisierung als Textinhalte versprachlicht werden. Bei der Textualisierung der Inhalte wird vorausgesetzt, daß sie referentialisierbar sind, d. h. daß die referentiellen Ausdrücke in irgendeiner Welt potentielle Referenz besitzen; wenn die Inhalte fiktiv sind, ist auch die Welt fiktiv. Der Inhalt einer Lüge braucht dabei nicht fiktiv zu sein, d.h. wenn die Lüge die reale Welt betrifft; der Inhalt stimmt nur nicht mit der realen Welt in der Weise überein, wie vorgegeben wird. Es muß also u. a. zwischen fiktiven Inhalten und Lügen unterschieden werden. 13 Wichtig zu unterstreichen ist, daß das, was als fiktiv bzw. real betrachtet wird, zum Teil kulturabhängig, eine Ansichts- oder gar eine Glaubensfrage sein kann, vgl. auch Grünkorn (1994: 15). Ob etwa Gott und die Engel als fiktiv oder nicht angesehen werden, ist ganz deutlich eine Sache des Glaubens und nicht der Kommunikation (oder der Linguistik). Es gibt also überhaupt keinen direkten Zusammenhang zwischen Fiktivität (oder "Fiktion") und Literarizität; literarische Texte können, genau wie nicht-literarische Texte, inhaltlich gesehen fiktiv oder nicht-fiktiv sein. 14 Fiktivität setzt also Referentialisierbarkeit voraus, und zwar in einer sprachunabhängigen fiktiven Welt, die sich definitionsgemäß von der realen wenigstens zum Teil unterscheiden muß. Fiktionalisierung möchte ich aber als eine kooperative Strategie des Textproduzenten und des Rezipienten betrachten, wobei auf die Festlegung einer bestimmten Textwelt verzichtet wird. Fiktionalität hat somit grundsätzlich nichts mit Fiktivität zu tun, denn Fiktionalisierung bedeutet lediglich, daß in der Kommunikation, wenigstens "provisorisch", davon abgesehen wird, ob die durch den Text vorausgesetzte bzw. geschaffene Welt eine real mögliche ist. Fiktionalisierung ist eine grundlegende Voraussetzung ftir die Interpretation literarischer Texte, aber wenn auch dabei Fiktivität natürlich sehr üblich ist, stellt sie keine grundlegende Bedingung für diese Texte dar. Deutliche Fiktivität kann aber als ein Mittel zur Signalisierung der Fiktionalität, dienen, d. h. daß der Text mit Hilfe der Strategie der Fiktionalisierung rezipiert werden soll. Fiktionalisierte Texte können also inhaltlich fiktiv oder nicht-fiktiv sein. Grundsätzlich ist jeder Text potentiell fiktionalisierbar, d. h. fiktional interpretierbar. Dagegen kann kaum jeder Text inhaltlich als potentiell fiktiv betrachtet werden, wobei davon natürlich abgesehen wird, daß auch die reale Welt in gewissem Sinne als fiktiv, als eine durch das interpretierende Bewußtsein erzeugte "Konstruktion" betrachtet werden kann.15 Die reale Welt ist diejenige Welt, die eben für die real gegebene gehalten wird, und somit als Maßstab aller anderen Welten dient. Es muß dabei deutlich zwischen Textinhalt und Welt unterschieden werden. Damit ein Inhalt einem Text zugeordnet werden kann, muß normalerweise eine bestimmte Welt vorausgesetzt werden. Fiktive Welten stellen dabei mehr oder weniger starke Abweichungen von der realen dar, wobei diese Abweichungen explizit oder implizit durch den Text selbst erzeugt werden. Aber auch die reale Welt kann durch den Text mehr oder weniger explizit "erzeugt" werden. Wenn z. B. jemand, der nichts über Finnland weiß, den SatzJText "Der heutige Präsident Finnlands heißt Martti Ahtisaari" hört, lernt er nicht nur den Namen des Staatspräsiden13 14
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Eine andere Möglichkeit wäre vielleicht, Lügen zwar als inhaltlich fiktive Texte zu betrachten, die aber als nicht-fiktiv angeboten werden. Vgl. auch Gabriel (1983: 14): "An dieser Stelle möchte ich, obwohl es aus dem bisher Gesagten eigentlich schon einsichtlich ist, daß Fiktion und Literatur zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben [... l." Gabriel (1983) unterscheidet dabei zwar nicht, wie hier, zwischen Fiktivität (Fiktion) und Fiktionalität. Vgl. Nikula (1991: 234ff.), Eco (1987: 166ff.), Schmidt (1983 u. 1992), Vater (1992: I09ff.)wie auch den Begriff "projected world" bei Jackendoff (1983: 28-37).
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ten kennen, sondern erfährt auch als "neue Information" durch den Text eigentlich schon Präsupponiertes, aber explizit erzeugtes Weltwissen wie etwa, daß es einen Staat wie Finnland gibt und daß dieser Staat eine Republik ist (vgl. auch Parry 1995: 31). Es ist in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung, auch zwischen Fingieren und Fiktionaliserung zu unterscheiden. Es ist bekanntlich relativ üblich, die literarische Kommunikation als eine Art Als-üb-Kommunikation zu betrachten. 16 Das Fingieren, so wie dieser Begriff hier verstanden wird, betrifft die ganze kommunikative Situation, die Fiktionalisierung aber nur den Text. Ein deutliches Beispiel stellen Sätze und Texte dar, die in Beispielfunktion verwendet werden, etwa Beispiele in Wörterbüchern, Lehrbüchern und Grammatiken, die entweder "authentische", d. h. Belege, oder konstruierte Beispiele sein können, vgl. Hermanns (1988), Nikula (1986 u. 1995). Ein Beispiel in einer Grammatik des Deutschen wie etwa den Aufforderungssatz Setzen Sie sich bitte! deuten wir in der Ais-üb-Kommunikation "metasprachlich" als ob die Aufforderung an uns gerichtet wäre, reagieren aber in der realen Welt, in der wir uns befinden, natürlich nicht entsprechend dieser Aufforderung. Fingierte Kommunikation setzt die Annahme eines fiktiven Textproduzenten (Erzählers) und eines fiktiven Rezipienten (Lesers/Hörers) voraus. Die Inhalte literarischer Texte sind ja in der Praxis häufig inhaltlich fiktiv, weshalb auch bei der Interpretation dieser Texte ein fiktiver Erzähler und ein fiktiver Leser angenommen werden können, d. h. der Leser projiziert sich selbst und den Erzähler in die fiktive Welt hinein, wobei fingierte Kommunikation entsteht. Der Inhalt des literarischen Textes braucht aber nicht fiktiv zu sein, und die Kommunikation zwischen dem realen Erzähler und dem realen Leser ist natürlich nie eine fingierte. 17
4. Ästhetisierung durch Fiktionalisierung Fiktionalisierung bedeutet, daß der Textproduzent und der Rezipient davon absehen, ob der Text mit der "realen" Welt übereinstimmt, ob er "wahr" ist oder nicht. Dies bedeutet zwangsläufig, daß nichts durch den literarischen Text als literarischen Text unmittelbar "mitgeteilt" werden kann, d. h. nicht in dem Sinne, wie man sonst den Begriff "etwas mitteilen" mit Hilfe von Texten versteht. Auch wenn der Verfasser eines literarischen Textes bei der Textproduktion bestimmte Vorstellungen, Gedanken und Ideen gehabt haben mag, existieren diese nicht als textunabhängige "Inhalte". Über die Inhalte von literarischen Texten kann man somit nicht berichten; berichten kann man höchstens über seine eigenen Erfahrungen bei der Lektüre dieser Texte. Ein literarischer Text ist eben ein Kunstwerk, und durch Kunst wird etwas eher dargestellt, gestaltet oder vorgezeigt, als mitgeteilt. 18 Der Dichter Ernst landl drückt dies folgendermaßen aus:
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Wohl vor allem in Anlehnung an die Arbeiten von John R. Searle, vgl. Searle (1969 u. 1981), wie auch Nikula (1984). Der schwedische LiteraturwissenschaftIer Lars-Ake Skalin zeigt mit zum Teil etwas anderen Argumenten recht überzeugend, daß es flir die Erklärung der Möglichkeit literarischer Kommunikation keinen zwingenden Grund flir die Annahme eines fiktiven Erzählers und Lesers gibt, vgl. Skalin (1991). Gottfried Gabriel schreibt über die "Aufweisungsfunktion" des literarischen Kunstwerks Folgendes: "Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten
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Das Schreiben - wenn man darunter die Tätigkeit des Schriftstellers versteht - interessiert mich vor allem als Möglichkeit der Produktion von Kunst. Derart eingeschränkt, unterscheidet sich für mich der Vorgang des Schreibens prinzipiell vom Vorgang des Aufzeichnens von Denkabläufen und Sachverhalten, tatsächlichen und fiktiven. Schreiben, als eine Möglichkeit der Produktion von Kunst, ist die Erzeugung von Objekten aus einem bestimmten Material- Objekten, die es nicht gibt, außer als Ergebnis eines solchen Machens. Schreiben als eine Beschreibung von Objekten - tatsächlichen oder fiktiven - ist eine völlig andere Sache. (Jandl 1985: III, 490)
Jandl schreibt weiter über die sogenannte "konkrete Poesie" Folgendes: Kontakt mit solcher Dichtung ist - im Schauen, Lesen, Hören - ein Vorbeigehen an ihr, wie an Bildern, an ihrer Oberfläche streifend. Sie kennt keine Tiefe, Perspektive, Dreidimensionalität, und täuscht sie auch nicht vor. Sie täuscht nichts vor. Sie macht klar. Sie macht Oberfläche klar. Wie Bilder ist sie - einzig - Fläche, Oberfläche. Vom Kontakt mit ihr bleibt nichts als Stücke Erinnerung von Worten, Folgen, Flächen, und an Wissen nur dies: ein Bestimmtes gesehen, gelesen, gehört zu haben; und an Möglichkeit diese: den Vorgang des Kontakts zu wiederholen, über eine Oberfläche streichend. (Jandl 1985: III, 449)
Die konkrete Poesie stellt sicher ein extremes Beispiel dar; je mehr Sprache nur als "Material" dient, je konkreter das Gedicht wird, je mehr es "Sprechgedicht" oder "visuelles Gedicht" (vgl. Jandl 1985: III, 444, 446, 552-561) ist, desto weniger ist es ein Text. Je weniger es Text ist, desto weniger ist es auch ein Gedicht, was aber natürlich nicht ausschließt, daß es ein Kunstwerk ist l9 Konkrete Poesie "konkretisiert" aber in einer etwas extremen Weise, worum es geht; ein literarischer Text ist eben nicht "über" etwas, er ist etwas, was uns vorgezeigt wird. Als Text hat auch der literarische Text einen Inhalt, der uns "vorgezeigt" wird und den wir "aus einer externen Perspektive von außen" betrachten können (vgl. Skalin 1991), da er wegen der Fiktionalisierung durch seine referentiellen Beziehungen nicht gebunden ist20 Die unmittelbaren Beziehungen zu der realen Welt sind gekappt, und der Text schwebt sozusagen "autoreflexiv" vor unseren Augen, wobei der Inhalt unmittelbar nur von der Textstruktur und dem "Betrachter" abhängig ist, und nur indirekt von jener Welt, wo der Text geboren wurde. Wie schon oben im vorigen Abschnitt gesagt wurde, ist jeder Text potentiell fiktionalisierbar, sogar triviale Gebrauchstexte. So kann z. B. eine authentische Anzeige fiktional interpretiert werden, wenn sie mit den äußerlichen Charakteristika eines Gedichts versehen wird, wie
mitgeteilt, sondern gezeigt. [... ] literarische Erkenntnis wird im Sprachmodus des Zeigens allererst möglich. [... ] Ein wesentlicher Teil literarischer Texte, verstanden als komplexe Zeichen, ist dadurch ausgezeichnet, daß die Verweisungsfunktion fehlt, dafür aber zur Mitteilungsfunktion die Aufweisungsfunktion hinzukommt." (GabrieI1983:14) 19 Undje weniger es Text ist, desto weniger ist es übersetzbar, vgl. Nikula (1996). Vgl. weiter auch Schmitt (1996). - Visuelle konkrete Poesie ist immer primär Text, und nur sekundär Bild, während mit sprachlichem Material versehen Bildkunstwerke primär Bilder, und nur sekundär Texte sind, auch wenn die Funktion der Sprache wichtig ist (ich denke z. B. an einige Werke von Andy Warhol und an die Comics-ähnlichen Werke von Roy Lichtenstein). - Vgl. weiter Gross (1994: 66-87), Stichwörter "visuelle Syntax" und "Textfiguren". 20 Solange man noch von Texten sprechen kann, enthält konkrete Poesie aucht Inhalte, oder vielleicht eher, diese Texte können als Inhalte enthaltend interpretiert werden.
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z. B. "Tiermarkt/Ankauf' (1970) von Erich Fried. 21 Die Tatsache, daß die Anzeige in einem Gedichtbuch veröffentlicht worden ist, erleichtert es dem Rezipienten, den Text zu fiktionalisieren und somit "von außen" zu betrachten. Ähnliches betrifft die sogenannten ready-madeKunstwerke wie z. B. den berühmten Flaschentrockner von Marcel Duchamp, der im Museumskontext als von seiner ursprünglichen Funktion gelöst "von außen" als ästhetisches Objekt rezipiert werden kann.
5. Fiktionalisierung und Nonn Durch die Fiktionalisierung wird der Text als Text fokussiert. Durch den Verzicht auf die Festlegung einer textunabhängigen Textwelt ensteht eine größere Freiheit bei der Textgestaltung. Die Textwelt kann Züge einer fiktiven Welt enthalten, wobei die Fiktivität auch als Signal der Fiktionalisierung dienen kann, z. B. daß Tiere etwa reden und singen können; in diesem Falle werden die Grenzen eher durch die Glaubwürdigkeit als durch die Grammatik gesetzt,22 Durch die Fiktionalisierung entsteht aber auch die Möglichkeit, gegen rein sprachliche Regeln und Normen zu verstoßen, z. B. gegen Regeln der syntaktischen und semantischen Valenz. Eine totale Freiheit gibt es dabei natürlich nicht. Erstens gibt es immer zeitlich gebundene Normen der verschiedenen Gattungen,23 Zweitens setzt die Interpretierbarkeit bestimmte Grenzen, wie natürlich auch die Bereitschaft der Rezipienten, sich anzustrengen. Metaphern und ähnliche Fälle des "uneigentlichen Sprechens" stellen in gewissem Sinne Regelverstöße dar. Die Fiktionalisierung bedeutet dabei, daß ein sprachlicher Ausdruck, der in nicht-fiktionalisierter Rede eine metaphorische Interpretation verlangen würde, in fiktionalisierter Rede vielleicht wörtlich interpretiert werden kann, d. h. daß die Frage der Metaphorisierung in fiktionalisierter Rede vielleicht zunächst nicht aktuell wird, genau wie von der eventuellen Fiktivität der Inhalte fiktionalisierter Texte zunächst abgesehen werden kann. Bei der Lektüre von Kafkas Die Verwandlung braucht zunächst nicht Stellung zur Frage genommen werden, "was es eigentlich bedeutet", daß Gregor Samsa ,,[ ... ] eines Morgens [... ] sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt [findet]". (Kafka 1978: 7) Wenn wir im Gedicht Der Augenblick des Fensters von Karl Krolow lesen, "Jemand schüttet Licht/Aus dem Fenster", oder wenn im Gedicht Erwachen von demselben Autor steht, "Die Minuten, dielMeine Finger umschließen, /Haben kein Gewicht" (Krolow 1980: 62 bzw. 63),24 müssen 21 Zuerst veröffentlicht in Unter Nebenfeinden, 1970, später in Fried (1987: 77). Vgl. auch Kelletat (1991: 17f.), Nikula (1994: 25ff.). Fried hat eine authentische Anzeige (Tagesspiegel, 7. März 1970) in Verse und Strophen gegliedert, sonst aber keine Veränderungen vorgenommen. 22 Hayward (1994) zeigt mit Hilfe von psycholinguistischen Tests, daß Fiktionalität erstaunlich leicht erkannt wird. Das Erkennen von Fiktionalität scheint eine grundlegende Komponente unserer kommunikativen Kompetenz zu sein. - Zum Problem der Erkennbarkeit von Fiktionalität aus einem anderen Blickwinkel, vgl. Petersen (1996). 23 V gl. auch Grünkorn (1994: 17): "Fiktionalitätsindikatoren sind historisch bedingt, sie können zu einer Zeit auftauchen und wieder verschwinden, indem sie durch andere ersetzt werden." Die Gattungen sind natürlich historisch bedingte Erscheinungen, die eben als Fiktionalitätsindikatoren dienen können; wenn ein Text als Kurzgeschichte oder als Gedicht veröffentlicht wird, ist dies ein deutlicher Indikator für Fiktionalität. 24 Die Gedichte wurden erstmals 1956 bzw. 1959 veröffentlicht.
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wir nicht unmittelbar davon ausgehen, daß etwa die semantische Valenz von schütten bzw. umschließen verletzt worden ist und die Interpretation mit Hilfe irgendeiner metaphorischen Umdeutung durchführen (auch wenn wir es natürlich tun könnten). Die Fiktionalisierung erlaubt uns, diese Textstellen so zu lesen, wie sie sind, oder besser, so zu betrachten, wie sie dargestellt worden sind. Damit ein Text noch als Text betrachtet werden kann, und somit eventuell auch als literarisches Kunstwerk, muß er (natürlich) gewisse Mindestbedingungen der Textualität erfüllen. Die einzige Bedingung, die ausnahmslos obligatorisch zu sein scheint, ist die der Kohärenz, wie schon einleitend notiert wurde, vgl. Itälä (1996: 57,62). Es muß also dem Rezipienten möglich sein, wenigstens irgendeinen Sinn aus der Texstruktur abzuleiten, sonst ist der Text wenigstens für diesen Rezipienten kein Text. Einen starken Kohärenz stiftenden Faktor stellen dabei häufig Titel und Überschriften dar, vgl. auch Itälä (1996: 62). Als Beispiel dafür mag das Gedicht "Krieggrab" von August Stramm angeführt werden, das, wie es scheint, neue dichterische Normen setzend, gegen verschiedene semantische und grammatische Regeln verstößt, das aber wegen der Überschrift ohne größere Schwierigkeiten sinnvoll interpretiert werden kann,25 Inwiefern es um Normverletzungen geht, d. h. um eine "unzulässig erweiterterte" Verwendung des Regelpotentials der deutschen Sprache, oder um Regelverstöße im Sinne von nicht-denkbaren Regeln, kann wohl nicht in jedem einzelnen Fall eindeutig entschieden werden, aber hervorzuheben ist wenigstens, daß das Gedicht eindeutig in deutscher Sprache formuliert worden ist, was dafür spricht, daß es eher (wenigstens vor allem) um Normverletzungen geht. KRIEGGRAB
Stäbe flehen kreuze Arme Schrift zagt blasses Unbekannt Blumen frechen Staube schüchtern Flimmer Tränet Glast Vergessen. Ein weiteres, etwas andersartiges Beispiel bietet das ausschließlich aus Konsonanten bestehende Gedicht "schtzngrmm" von Ernst Jandl. Durch die in verschiedener Weise variierten Anhäufungen der Konsonanten des Wortes Schützengraben, also eines normalen deutschen Wortes mit semantischem Inhalt, werden die verschiedenen Laute, die man im Kriege in einem Schützengraben hat erleben können, akustisch-ikonisch abgebildet: "schtzngrmmJschtzngrmm/t-t-t-t/t-t-t-t/grrrmmmmm/t-t-t-t/[... ]",26 Das Gedicht ist eindeutig in deutscher Sprache formuliert, d. h. ein deutsches Phoneminventar (im Druck natürlich Grapheminventar) wird benutzt, um ein bestimmtes Erlebnis durch "Vorzeigen" zu vermitteln. Das Wort schtzngrmm kann als eine Nachahmung einer kurzen militärischen Aussprache von Schützengraben gedeutet werden. Man kann hier kaum von Regelverletzungen sprechen, son-
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V gl. Stramm (1990: 112). Erstdruck in Der Sturm, Dez. 1915, vgl. Stramm (1990: 400). August Stramm fiel am 1. Sept. 1915 bei Horodec in Rußland. Jand1 (1985 [19.4.1957]: I, 125). V gl. auch Kelletat (1991: 87f.), Niku1a (1994: 26ff.).
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dem höchstens von Nonnverstößen oder Nonnerweiterungen; Jandl scheint in diesem Falle etwas "autonom" mit dem Regelpotential des Deutschen umzugehen. Ästhetisierung bedeutet Verfremdung, und Fiktionalisierung ist ein Mittel der Verfremdung. Sprachliche "Abweichungen von der Nonn" wie im Gedicht "Krieggrab" oder "schtzngrmm" wirken an sich verfremdend und tragen somit zum "Verfremdungseffekt" bei, sind aber nur im Zusammenhang mit der Fiktionalisierung möglich und "nonnal".
6. Zusammenfassung Sehr wesentlich für sprachwissenschaftliche Untersuchungen literarischer Texte ist, daß literarische Texte wirklich als literarische Texte analysiert werden. Es muß möglich sein, zwischen literarischer und nicht-literarischer Kommunikation zu unterscheiden. Dabei besteht der Unterschied nicht unmittelbar aus den rein sprachlichen Eigenschaften der Texte, d. h. die eventuell "abweichenden" sprachlichen Eigenschaften der literarischen Texte wie "Abweichungen von der Nonn" sind eher Signale der Ästhetisierung durch Fiktionalisierung. Umgekehrt macht die Fiktionalisierung solche Abweichungen von sprachlichen Nonnen möglich, die man sonst nicht akzeptieren würde, da durch sie die Versprachlichung selbst zum Inhalt wird. Wer die Versprachlichung kritisiert, kritisiert somit auch den Inhalt. Literarische Texte sind als "Kunst" zu betrachten, sie sind eben "ästhetische Texte", wobei die Qualität kein entscheidender Maßstab ist. Wichtig ist aber, daß ein literarisches Kunstwerk nicht unbedingt nur als Text betrachtet werden darf, denn Textualität kann nicht die einzige Bedingung dafür sein, ob wir ein literarisches Kunstwerk vor uns haben oder nicht; in der Tat wird ja durch die Fiktionalisierung von bestimmten Kriterien der Textualität abgesehen, wobei nur die Bedingung der Kohärenz eine Ausnahme darzustellen scheint. Dies bedeutet, daß die Grenze zwischen Text und Nicht-Text verschoben oder gar durchbrochen wird, in extremen Fällen sogar aufgehoben, wie in der konkreten Poesie, die eine äußerste Konsequenz dieses "Durchbruchs" darstellt. Ein "Text" aber, der überhaupt keine Eigenschaften der Textualität besitzt, ist natürlich kein Text, wenn auch möglicherweise ein Kunstwerk. Der Begriff des Ästhetischen als unterscheidendes Kriterium zwischen literarischer und nicht-literarischer Kommunikation wird durch den Begriff der Fiktionalisierung linguistisch greifbar. Fiktionalisierung bedeutet dabei nicht Fiktivität, sondern daß davon abgesehen wird, ob der Textinhalt als fiktiv oder nicht-fiktiv zu verstehen ist. Fiktionalisierbarkeit ist eine grundlegende, inhärente Eigenschaft der Kommunikation durch Sprache, während aber die Fonnen, wie etwa die Gattungen, historisch bedingte Erscheinungen sind. - Erst wenn die ästhetische Funktion linguistisch greifbar gemacht worden ist, können literarische, d.h. ästhetische Texte als solche in sinnvoller Weise linguistisch analysiert werden. Und erst dann können wir sinnvoll literarische Texte ausgehend von Begriffen wie Nonn und Regel analysieren.
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