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German Pages 217 [219] Year 2009
Karl-Joachim Hölkeskamp / Stefan Rebenich (Hg.) Phaëthon
Karl-Joachim Hölkeskamp / Stefan Rebenich (Hg.)
Phaëthon Ein Mythos in Antike und Moderne
Eine Dresdner Tagung
Franz Steiner Verlag 2009
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09415-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis 1. Mythos und Politik in der Antike. Bemerkungen zu Begriffen und (Be-)Deutungen .......................................................................................... Karl-Joachim Hölkeskamp 2. Zwischen Theater und Utopie. Phaëthon bei Euripides und Platon ........... Veit Rosenberger
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3. medio tutissimus ibis. Mythos und Politik im frühen Prinzipat ................. 33 Stefan Rebenich 4. Die Hintergrundstrahlung eines kosmischen Mythos: Phaëthon in Kaiserzeit und Spätantike ........................................................................... Peter Habermehl
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5. Phaëthons Metamorphosen. Poetische Instrumentalisierungen des Mythos im lateinischen Mittelalter und in der Renaissance .................................... 61 Thomas Haye 6. Ovids Phaëthon in der textbegleitenden Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts ......................................................................................... Gerlinde Huber-Rebenich
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7. Der Phaëthon-Mythos in der Kunst. Visualisierte Repräsentation, didaktisches Exemplum und Instrument der sozialen Mobilität ................ Andrea von Hülsen-Esch
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8. Phaëthon in der deutschen Literatur ........................................................... 117 Christiane Hansen, Bernd Seidensticker 9. Phaëthon in der Musik. Camille Saint-Saëns’ symphonische Dichtung „Phaéton“ als „Programmmusik“ ............................................................... 133 Mischa Meier 10. Sakralität und Desakralisierung. Antiker Mythos und antike Geschichte bei Louis XIV. ............................................................................................ 149 Albert Schirrmeister 11. Überwindung von Zeit und Raum. Die Mobilisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert ...................................................................................... 161 Wolfgang König
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Inhaltsverzeichnis
12. Phaeton – Mythos, Kutsche, Automobil ..................................................... 171 Gerolf Thienel 13. Automobiler Luxus im Kontext: „Phaetons“ von 1900 bis heute .............. 179 Kurt Möser 14. Der automobile Hochadel hieß Phaeton ..................................................... 193 Peter Klinkenberg 15. Von der Wiederkehr des Phaëthon-Mythos in der „Postmoderne“ – mehr als ein mediales Intermezzo? ............................................................ 197 Dirk Schlinkert Autorenverzeichnis ........................................................................................... 215
Mythos und Politik in der Antike. Bemerkungen zu Begriffen und (Be-)Deutungen Karl-Joachim Hölkeskamp Was ist überhaupt ein ‚Mythos‘? Schon diese trügerisch einfach daherkommende Eingangsfrage lässt sich schlicht nicht beantworten: Allgemein unstrittig ist allenfalls, dass es eben keine anerkannte Definition von ‚Mythos‘ gibt – und zwar weder hinsichtlich des Inhalts des Begriffs, mithin welche Themen, Traditionen und Motive also als Mythen gelten können, noch hinsichtlich des Status dieses Begriffs als einer Kategorie der Wissenschaftssprache.1 Nicht zuletzt liegt das eben daran, dass allenthalben ein lebhaftes Interesse am ‚Mythos‘ als einer eigentümlichen Form des Denkens, Konzeptualisierens und Kodierens, des Sichverständigens und Sprechens, also des Diskurses über Gott (oder vielleicht eher: die Götter) und die Welt, ihre Ursprünge und Anfänge, die Menschheit und ihre Kindheit festzustellen ist – und zwar in den verschiedensten Wissenschaften mit ihren jeweiligen Theorien, Methoden und Erkenntnisinteressen und ihren davon explizit oder implizit inspirierten Rastern von Konzepten und Kategorien: Das Spektrum reicht von der Ethnologie und Anthropologie, der Religionswissenschaft und der Theologie über die kulturwissenschaftlich ‚gewendete‘ Klassische Philologie, Archäologie und ihre altertumswissenschaftlichen Nachbardisziplinen bis hin zur Philosophie und Psychoanalyse. Trotz aller Beschwörungen der Einheit der Human- und Kulturwissenschaften und trotz der daraus hergeleiteten modernen, postmodernen oder auch nur modischen Forderungen nach Inter- oder Transdisziplinarität, die ebenso wohlfeil wie empirisch schwer einzulösen sind, liegt hier ein kaum zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zu einem einheitlichen Konzept des ‚Mythos‘ – ganz zu schweigen von einer allgemein akzeptierten ‚grand theory‘ des Mythos. Und vielleicht ist dieser Weg heute mehr denn je verstellt – oder es kann ihn gar nicht mehr geben, nach dem Ende des Optimismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Denn im Zeitalter des ‚linguistic turn‘ und der Postmoderne sind die einstmals überzeitlich gültig scheinenden Parameter, die zuvor ein solches Konzept gewissermaßen hätten markieren können, längst zur Disposition gestellt worden. 1
Vgl. dazu und zum Folgenden grundlegend Walter Burkert: Mythos und Mythologie, in: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 1, Die Welt der Antike 1200 v.Chr. – 600 n.Chr., Berlin 1981, S.11–35; ders.: Mythos – Begriff, Struktur, Funktion, in: Fritz Graf (Hrsg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Rom, Stuttgart u.a. 1993, S.9–24; ders.: Antiker Mythos – Begriff und Funktion, in: Heinz Hofmann (Hrsg.): Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S.11–26; Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung, Düsseldorf (1985) 1999, S.1ff. und zuletzt die Übersicht von Angela Kühr: Als Kadmos nach Boiotien kam. Polis und Ethnos im Spiegel thebanischer Gründungsmythen, Stuttgart 2006, S.15ff. (mit weiterer Literatur).
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Wenn das berühmte Diktum von Jacques Derrida, dass es keinen „hors-texte“ gibt2, nichts jenseits des Textes, also keine Welt, keine Realität und damit auch keine Vergangenheit, selbst für die historisch orientierten Wissenschaften zu einer Herausforderung geworden ist; wenn deren reflexartige Zurückweisung oder auch der beleidigte Rückzug auf den nur noch scheinbar sicheren Grund der so genannten objektiven Daten, Fakten und Relikte immer fragwürdiger wird; wenn stattdessen die kulturalistisch gewendeten historischen Wissenschaften sich der unangenehmen Tatsache stellen müssen, dass nicht nur die Grenze zwischen ‚past‘ und ‚history‘ oder ‚hi-stories‘, Vergangenheit, Geschichte und Geschichten, sondern auch diejenige zwischen Faktizität und Fiktionalität zum Problem geworden ist3 – wie kann es da noch eine konsensfähige oder gar verbindliche Bestimmung des ‚Mythos‘ in Abgrenzung nicht nur zu Sage, Märchen, Legende, sondern auch zur ‚Geschichte‘ geben? Aber womöglich greift diese etwas resigniert-negativ klingende Diagnose grundsätzlich zu kurz – womöglich entzieht sich der Begriff geradezu hartnäckig einer umfassenden Definition, weil das breite Spektrum der darunter jeweils und durchaus zu Recht subsumierten Phänomene sich von vornherein einer rationalen, dem logos entsprungenen, eben ‚logischen‘ Systematisierung widersetzt; weil deren Vielgestaltigkeit und Reichtum an Varianten und Deutungspotentialen und nicht zuletzt die inhärente Dynamik dieser Potentiale zur permanenten Umdeutung und Weiterentwicklung eine präzise und gewissermaßen rückstandsfreie inhaltliche Fixierung strukturell ausschließen. Daran könnte es ja auch liegen – und das wäre dann eben auszuhalten –, dass der Mythos jene „alte Zweideutigkeit“, die dem Begriff wie dem damit bezeichneten Spektrum schon seit der Antike anhaftete, gar nicht endgültig loswerden kann: „Ein Mythos ist unlogisch, unwahrscheinlich oder unmöglich“, womöglich sogar unmoralisch und frivol.4 Die radikale Kritik und Distanzierung beginnt – selbst für uns noch greifbar – bereits im 6. Jh. v. Chr. mit Xenophanes, für den die Mythen bloß „erfundene Fabeln der Früheren“ sind, und er meint damit Homer und Hesiod, die den allzu menschlichen Göttern sogar alle möglichen schimpflichen Schandtaten unterstellt hätten, Stehlen, Ehebrechen und gegenseitige Täuschung. Und schon bei Pindar erscheint Mythos als eine „mit farbenfrohen Lügen verzierte“ Erzählung und auch schon als Gegenbegriff zum logos als der vernünftigen, verantworteten und daher eigentlich ‚wahren‘ Rede.5 Ebenso ist für Herodot und erst recht für Thukydides6 der ‚Mythos‘ eine unverbürgte, weder beweis- noch nachprüfbare und damit un2
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De la grammatologie, Paris 1967, S. 227; vgl. zur (Um-)Deutung dieses und anderer „texts and contexts“ Elizabeth A. Clark: History, Theory, Text. Historians and the Linguistic Turn, Cambridge, Mass. 2004, S.130ff. Vgl. dazu Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen der historischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1999 (engl. Original 1997); Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S.33ff. Burkert, Mythos und Mythologie, S. 11. Xenophanes, in: Hermann Diels/Walter Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, Zürich u.a. 1985, Nr. 21 B 11–12; Pindar, Olympische Oden 1,28f. Herodot 2,23,1; 45,1 und 3; Thukydides 1,21; 22,4. Vgl. dazu differenzierend Paul Cartledge: Die Griechen und wir, Stuttgart 1998 (engl. Original 1993, 2. rev. Aufl. 1997), S.22ff.
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glaubhafte Erzählung und muss sogar widerlegt werden, da sie das Gegenteil der kritisch geprüften und beglaubigten ‚Wahrheit‘ sei. Und schließlich wird der Mythos als „Darstellung von Ungeschehenem und Unwahrem“ ganz aus dem Diskurs der Rationalität ausgegrenzt – und die Konnotation von Unglaubwürdigkeit, ‚Fabel‘ und ‚Ammenmärchen‘ ist ja noch bei der Verwendung des Begriffs in der heutigen Umgangssprache ebenso präsent wie prominent. Aber schon in der Antike gab es auch Versuche, den Mythos gewissermaßen rational einzufangen und (im ursprünglichen wie metaphorischen Sinne) ‚logisch‘ zu domestizieren – ihn etwa als eine archaische Art der Wahrnehmung und Deutung, als eine Entwicklungsstufe vor der Entstehung der Philosophie und der Geschichtsschreibung oder auch als Sprache der Symbole und Allegorien zu interpretieren.7 Der Katalog solcher Ansätze, die seit der Antike bis in die moderne Welt (oder plakativ formuliert: von Hekataios bis C.G. Jung und darüber hinaus) in immer neuen Varianten entwickelt worden sind, ließe sich geradezu endlos erweitern.8 Diese ganz unterschiedlichen, nicht miteinander vermittelten und anscheinend auch überhaupt nicht vermittelbaren Versuche, mit dem Phänomen ‚Mythos‘ umzugehen, reflektieren auf unterschiedlichen Ebenen zwei grundsätzliche Tatbestände, die sich auf komplexe Weise gegenseitig bedingen. Selbst eine willkürliche Auswahl an Versuchen der kritischen Distanzierung oder der einhegenden Rationalisierung belegt zunächst eine ebenso unstrittige wie scheinbar paradoxe Feststellung: Weder Verdammung als ‚Lüge‘, noch Metaphorisierungsstrategien oder die generelle ‚Rationalisierung‘ der Welt konnten dem Mythos, seiner Präsenz und seiner Vitalität etwas anhaben – Mythen bleiben in den sich wandelnden Lebenswelten der Antike im umfassenden Sinne des Begriffs allgegenwärtig, und das gilt auf besondere Weise für die antiken ‚Räume der Politik‘. Zuvor aber noch einmal zurück an die mühsame ‚Arbeit am Mythos‘ – wenn diese modisch-postmodern entkontextualisierte Anspielung auf Hans Blumenberg9 erlaubt ist. Durch ihre Vieldeutigkeit sind der Begriff wie das Phänomen auf besondere Weise ‚offen‘ – zunächst bestätigt sich der zuvor geäußerte Anfangsverdacht: Sie sind nicht rückstandslos reduzierbar, weder auf einen konkreten Sinn, eine unstrittige Bedeutung des Begriffs, noch auf eindeutig und streng als ‚Mythos‘ kategorisierbare Gegenstände und noch nicht einmal auf eine bestimmte, präzise fixierbare Form des Diskurses. Man könnte von einer Art inhärenten Resistenz des Mythos gegen thematische Reduzierung, sachliche Systematisierung und interpretatorische Rationalisierung sprechen, die gewissermaßen direkt proportional zu seiner 7
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S. dazu etwa Walter Burkert: Mythos, Mythologie I, in: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp.281–283; Johannes Engels: Mythos, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp.80–97. Vgl. dazu die Überblicke von Graf, Mythologie, S.15ff.; 39ff.; Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktion, S.10ff.; Axel Horstmann: Mythos, Mythologie II–VI, in: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp.283–318; Engels, Mythos, Sp.82f.; 88ff., jeweils mit umfangreichen Quellen- und Literaturnachweisen, sowie die Sammlung von Wilfried Barner/Anke Detken/Jörg Wesche (Hrsg.): Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003. Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979 u.ö.
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Offenheit als ‚Gefäß‘ der Kommunikation, als Medium und diskursiver Träger zu sein scheint. Ob diese Formel im Test der empirischen Anwendung ein zureichendes Erklärungspotential zu entfalten vermag, muss sich allerdings erst herausstellen. Zunächst ist der Mythos nicht auf eine bestimmte literarische Gattung festgelegt.10 Wie Klytaimnestra den großen Agamemnon – ihren Ehemann aus dem fluchbeladenen Haus des Atreus, König von Mykene und Herrn der griechischen Heerscharen vor Troja – bei seiner Rückkehr ermordete und wie sich ihr Sohn Orest dann mit Hilfe seiner Schwester Elektra an seiner Mutter und ihrem Liebhaber, Mittäter und Usurpator der Herrschaft Aigisthos rächte, wird in allen großen Gattungen der griechischen Literatur erzählt – natürlich in verschiedenen Kontexten, Versionen und Varianten: Der Mythos taucht bekanntlich schon im Epos auf – und sogar an prominenter Stelle, im ersten Gesang der Odyssee. Und in der attischen Tragödie der klassischen Zeit wurde schließlich der Mythos von allen drei großen Tragikern behandelt und dabei variiert, jeweils anders und neu gedeutet – zunächst in der Trilogie des Aischylos, die unter der Bezeichnung „Oresteia“ firmiert und aus den Stücken „Agamemnon“, „Choephoren“ und „Eumeniden“ besteht; ganz andere, ja radikal andersartige Dimensionen und Deutungen der gleichen Charaktere, Konstellationen und tragischen Konflikte entwickelten dann Sophokles in seiner „Elektra“ und vor allem Euripides in seinen Stücken „Elektra“ und „Orestes“ und in den damit vernetzten Versionen vom Schicksal der Iphigenie – also jener Tochter des Agamemnon und der Klytaimnestra, deren Opferung nach dem Spruch des Sehers Kalchas durch ihren eigenen Vater schon im „Agamemnon“ des Aischylos die „kindrächende“ Wut der Mutter auslöste.11 Darüber hinaus ist der Mythos nicht einmal auf sprachlich formulierte ‚Texte‘ festgelegt – völlig ungebrochen, machtvoll und ebenso vielgestaltig wie die ‚erzählten‘ Versionen ist die Präsenz der Mythen und ihrer Varianten in der Welt der Bilder: Ein wichtiger Träger des Mythos sind seine visuellen Darstellungen, Manifestationen, Konkretionen – und auch und gerade in dieser Form weit über die Antike hinaus. Vor allem sind Mythen immer und per definitionem „plural“, indem sie sich eben „nicht nur durch chronologische, sondern auch durch simultane Variabilität“ auszeichnen – anders formuliert: Varianten und konkurrierende Versionen aller Art sind geradezu konstitutiv für ihr Wesen. Und da es dann auch „keine ursprüngliche oder einzig ‚wahre‘ Variante eines Mythos“ geben kann, kann er sich letztlich überhaupt nur „aus allen Varianten, die je existierten und noch existieren werden“, konstituieren.12 Um diese Diagnose in eine viel bemühte Metapher der Postmoderne zu kleiden: Mythen sind eine besondere Art eines ‚offenen Textes‘, der kontinuierlich umformuliert werden kann, ja muss; der mithin geradezu danach verlangt, immer wieder neu, dabei anders und in immer neuen Kontexten formuliert zu 10 Vgl. Graf, Mythologie, S.8f. 11 Agamemnon 123ff.; 155 (Zitat); vgl. dazu Graf, Mythologie, S.8; 152ff.; Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S.96ff.; 238ff.; 345ff.; 359ff.; Bernhard Zimmermann: Europa und die griechische Tragödie, Frankfurt/M., S.119ff.; 132ff. 12 So Kühr, Kadmos, S.17 im Anschluss an Claude Lévi-Strauss.
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werden; dessen ‚Offenheit‘ und das daraus resultierende Potential an Flexibilität, Aktualisierbarkeit und gewissermaßen kontextkonformer An- bzw. Einpassungskapazität sogar ein konstitutives Charakteristikum ist – und nicht nur das: Es ist eben dieses Potential, das auch eine besondere respektive besonders ausgeprägte Instrumentalisierbarkeit mit sich bringt – nicht nur als ‚weiches‘, bildsames Material für Kunst und Literatur, sondern auch und gerade im Sinne einer spezifischen Ideologisier- und Politisierbarkeit. Damit stehen wir wieder vor der eingangs gestellten Frage, ob es überhaupt eine einigermaßen konsensfähige Bestimmung des Begriffs geben kann. Immerhin hat einer der besten Kenner der Sache, Walter Burkert, als Ausweg aus dem Dilemma eine minimalistische Umschreibung vorgeschlagen – nämlich eine Definition, die gerade nicht die Inhalte, Themen, Botschaften und Bedeutungen ‚des‘ Mythos schlechthin, sondern zunächst nur seine formale Struktur und die Merkmale des Mythos als Medium der Vermittlung eines prinzipiell offenen Spektrums von Varianten, Interpretationen und Intentionen in den Mittelpunkt stellt. Danach ist ein Mythos zunächst nichts weiter als eine „traditionale Erzählung“ – wobei allerdings beide Konzepte in mehrfacher und durchaus komplexer Weise miteinander vermittelt sind.13 Ein Mythos ist also eine ‚Geschichte‘ im Sinne der englischen Begriffe tale und story, die durch ihre narrative Struktur – oder genauer: Sequenz – gekennzeichnet ist, also durch die Abfolge eines Geschehens in der Zeit, das durch eine Kette von Anfang, Mitte und Ende verbunden ist. Zugleich ist der Mythos auch in anderer Hinsicht und im Wortsinne eine ‚Erzählung‘ oder tale – diese ‚Geschichte‘ wird ursprünglich mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, und zwar ohne schriftliche Fixierung als eine besondere Art oraler Tradition. Auf diesen Kern des Begriffs zielt auch die Qualifizierung einer solchen ‚Erzählung‘ als ‚traditional‘: Der ‚Mythos‘ wird zwar im Wortsinne immer wieder und immer weiter ‚erzählt‘, aber er hat keinen namentlich bekannten ‚Ersterzähler‘, also keinen benennbaren Urheber oder ‚Autor‘, ja er geht überhaupt nicht in einem bestimmten, konkreten ‚Text‘ auf, sondern ist zugleich mehr und weniger, nämlich eine Art Substrat, das aus bestimmten Charakteren – Akteuren wie Göttern und Helden – und einer narrativen Konstellation besteht, die als Handlungsgerüst in den Grundzügen vorgegeben ist. Der „hochgradigen Beständigkeit“ dieses „narrativen Kerns“ – die den besonderen „Reiz“ garantiert, einen bestimmten Mythos auch in anderer Gestalt und anderen Medien, etwa „in bildnerischer oder ritueller Darstellung wieder zu erkennen“ – steht allerdings eine „ebenso ausgeprägte marginale Variationsfähigkeit“ gegenüber: Sänger und Dichter haben weite Spielräume für die Entfaltung jener vielfältigen Variationen und Neudeutungen, die „den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung“ ausmachen und die überhaupt typisch für den Mythos an sich sind – oder um es auf einen Nenner zu bringen: „Die einzelne
13 Vgl. dazu und zum Folgenden zuerst Walter Burkert: Structure and History in Greek Mythology and Ritual, Berkeley u.a. 1979, S.23; ders., Antiker Mythos, S.13f.; Kühr, Kadmos, S.15f. mit weiterer Literatur.
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Variation, das einzelne Dichterwerk hat einen Autor“, aber der Mythos selbst eben nicht.14 Diese Bestimmung der formalen Struktur des Mythos ist sicherlich eine notwendige Bedingung einer tragfähigen Definition des Mythos – aber sie ist noch nicht zureichend: Die grundsätzliche Möglichkeit des Überlebens durch das erwähnte Potential besonderer ‚Offenheit‘, Aktualisierbarkeit, Ein- und Anpassungskapazität erklärt noch nicht erschöpfend, warum bestimmte, durchaus als typisch geltende Mythen sich tatsächlich und nachweisbar durch eine besondere, geradezu hartnäckige Vitalität auszeichnen – mit anderen Worten: Wie und warum überstehen bestimmte Mythen die strenge Selektion durch das „kulturelle Gedächtnis“ einer Gesellschaft, das ja gerade nicht unterschiedslos, gewissermaßen automatischakkumulativ, eine wie auch immer vollständige amorphe Gesamtheit des hergebrachten, ‚traditionalen‘ Wissens dieser Gesellschaft sammelt und in sich bewahrt?15 In dieser besonderen Form einer kollektiv geteilten Erinnerung einer Gruppe bleiben nur jene Bestände an Wissen und Gewissheiten über historische (oder mythische) Ursprünge, über Tugenden, Taten und Tragödien großer Helden ferner Zeiten eingelagert, die für das Selbstbild und Selbstverständnis dieser Gruppe, für das Bewusstsein ihrer Eigenart, Einheit und Identität, in einer bestimmten konkreten Gegenwart wichtig sind. Dieses kulturelle Gedächtnis bedarf der beständigen Absicherung und gezielten Pflege, für die jeweils kulturspezifische Erinnerungsmedien in Form von Monumenten und Denkmälern, Bildern und Symbolen, Festen und Ritualen und dann auch Texten entwickelt werden. Diese Pflege wird aber nur solchen Beständen an konstruiertem oder erinnertem, mythischem oder historischem Vergangenheitswissen zuteil, die als „intentionale Geschichte“16 eine Bedeutung für die jeweils aktuelle Gegenwart haben, indem sie dazu dienen, die gerade gültigen Muster und Modi der Wahrnehmung und Deutung der Lebenswelt metaphorisch zu formulieren und zu reflektieren. In diese Richtung muss also eine gewissermaßen einkreisende Definition des Phänomens Mythos gezielt erweitert werden – wiederum im Anschluss an Walter Burkert. Zunächst hatte er darauf bestanden, dass eine „traditionale Erzählung“ sich durch eine „Bezugnahme auf etwas von kollektiver Bedeutsamkeit“ auszeich-
14 Blumenberg, Arbeit, S.40 bzw. Graf, Mythologie, S.8 (Zitate). 15 Vgl. zum Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ und zur Abgrenzung vom „kommunikativen Gedächtnis“ grundlegend Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; ders.: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S.11ff. S. zur Sache auch Hans-Joachim Gehrke: Was ist Vergangenheit? Oder: Die Entstehung von Vergangenheit, in: Christoph Ulf (Hrsg.): Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003, S.62–81. 16 Vgl. zu diesem Konzept Hans-Joachim Gehrke: Mythos, Geschichte, Politik – antik und modern, in: Saeculum (45) 1994, S.239–264; ders.: Myth, History, and Collective Identity. Uses of the Past in Ancient Greece and Beyond, in: Nino Luraghi (Hrsg.), The Historian’s Craft in the Age of Herodotus, Oxford 2001, S.286–313; ders.: Was heißt und zu welchem Ende studiert man intentionale Geschichte? Marathon und Troja als fundierende Mythen, in: Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln 2004, S.21–36.
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nen müsse, um als Mythos gelten zu können.17 Zwar sei diese Bezugnahme generell nur „partiell“, weil die ‚erzählte Welt‘ des Mythos und die konkrete Lebenswelt, in der ein Mythos immer neu erzählt werde, niemals unmittelbar miteinander vergleichbar oder auch nur einander ähnlich seien – ohne die verfremdende Distanz zur aktuellen Realität wäre der Mythos ja auch gar kein Mythos mehr (und das gilt keineswegs nur für jene Mythen von Ursprüngen und Anfängen der Welt, des Kosmos und der Götter, die in der Ferne der Urzeit und damit in besonderer Distanz von Gegenwart und Realität angesiedelt sind). Diese Kautelen betreffen aber nicht den Kern der Sache: Aus dem genannten Grund, dass die Vitalität von Mythen und ihre fortgesetzte Relevanz als Code der kollektiven Selbstverständigung das eigentliche Explanandum sind, kommt auch eine minimalistische Definition nicht darum herum, das Phänomen Mythos über die Bestimmung der formalen Struktur hinaus auch von seinen Funktionen her zu begreifen. Wiederum hat Burkert dieser Notwendigkeit Rechnung getragen, indem er Mythen zusätzlich als „angewandte Erzählung“ bezeichnete, die die „Verbalisierung komplexer, überindividueller, kollektiv wichtiger Gegebenheiten“ ermöglicht18 und schon insofern immer auf die Realität der Lebenswelt zielt. Diese ‚Anwendung‘ darf allerdings keineswegs im Sinne einer alltagsentrückten Übung in feierlicher Selbstbesinnung verstanden werden; vielmehr erfüllt sie durchaus konkrete, ja zentrale Funktionen der kollektiven „Selbstvergewisserung, Ortsbestimmung und Identitätsstiftung und -wahrung“.19 So dienen bestimmte lokale, gewissermaßen orts- und personengebundene Mythen als ehrwürdige Fundamente kollektiver Identitäten einzelner Gesellschaften oder auch, gerade in der Antike, von Städten und ihren Bürgerschaften als politisch verfassten personal-territorialen Einheiten – für diese spezifische Art von „intentionaler Geschichte“ bot sich der Mythos geradezu an. Ein klassisches Beispiel für diesen Typ ist das (zudem noch besonders variantenreiche) Repertoire an ‚Erzählungen‘ um Theseus, der nicht nur als heroischer Abenteurer und Kämpfer gegen Monster wie den Minotauros mythischen Status genoss, sondern als legendärer König Athens auch zum Begründer der Einheit Attikas und später sogar zum Stifter der Demokratie stilisiert wurde.20 Zu dieser Klasse genuin politischer ‚(Be-)Gründungsmythen‘ ist auch ein spezifischer, recht verbreiteter Typ zu rechnen, den Bronislaw Malinowski als „charter 17 Vgl. Burkert, Structure and History, S. 23; ders., Mythos und Mythologie, S.12, auch zum Folgenden; Cartledge, Die Griechen, S. 21. 18 Burkert, Mythos und Mythologie, S.12. 19 Vgl. dazu und zum Folgenden grundlegend Gehrke, Mythos, S. 257 (Zitat) und passim; ders., Myth, passim. 20 Vgl. dazu etwa H. Alan Shapiro: Theseus in Kimonian Athens. The Iconography of Empire, in: Mediterranean Historical Review (7) 1992, S.29–49; Sophie Mills: Theseus, Tragedy and the Athenian Empire, Oxford 1997; Elke Stein-Hölkeskamp: Kimon und die athenische Demokratie, in: Hermes (127) 1999, S.145–164; Ralf von den Hoff: Die Posen des Siegers. Die Konstruktion von Überlegenheit in attischen Theseusbildern des 5.Jahrhunderts v.Chr., in: ders./ Stefan Schmidt (Hrsg.): Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. und 4.Jahrhunderts v.Chr, Stuttgart 2001, S.73–88, sowie die einschlägigen Beiträge in: Martin Flashar/Ralf von den Hoff/Bettina Kreuzer: Theseus – der Held der Athener, München 2003.
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myth“ bezeichnet hat21 – nämlich jene ‚Erzählungen‘, welche die Etablierung von Ritualen oder auch konkreten sozialen Normen und politischen Institutionen thematisieren und damit der Fundierung ihrer jeweiligen Geltungsansprüche in zeitlicher, ‚mythischer‘ Distanz zum Jetzt dienen. Indem der Mythos einen Anspruch auf aktuelle Relevanz und Gültigkeit formuliert, überbrückt er diese Distanz, so dass der Ursprung in der Urzeit mahnend, anspornend, fordernd in dieses Jetzt hineinragen kann. Solche Gründungsgeschichten von politischen Herrschaftsformen oder einzelnen Institutionen, die ihre Legitimität in der Gegenwart aus der Vergangenheit, aus Ursprüngen und Anfängen herleiten, sind ‚Geltungsgeschichten‘ besonderer Art, nämlich Geschichten, welche die Geltung von Herrschaft generell und Herrschaftsträgern im besonderen, von politischen Institutionen und Verfahren mythisch (im doppelten Sinne des Wortes) begründen – und diese Institutionen werden wiederum gerade durch diesen Legitimitätsgrund ihrerseits mit einem Anspruch auf Akzeptanz und Verbindlichkeit ausgestattet. Eine eigentümliche Variante ist die erst von Aischylos in den „Eumeniden“ gestiftete Geschichte von der Einsetzung des Areopags in Athen durch die Stadtgöttin Pallas Athene: Dieser Gerichtshof – notabene aus athenischen Bürgern, also sterblichen Menschen – soll den Anspruch der uralten (weiblichen) Rachegeister, Orest für den Mord an seiner Mutter zu verfolgen, einerseits und die Position des ‚jungen‘, neuen (und männlichen) Gottes Apollon, Orest als legitimen Vollstrecker der pflichtgemäßen Rache für seinen Vater an der Gattenmörderin freizusprechen, andererseits gegeneinander abwägen und durch seinen Spruch die Kollision von altem und neuem Recht aufheben – eine eigentlich erstaunliche Variante, die auch als Plädoyer für die ‚politische‘ Einhegung und Kanalisierung schwerer Konflikte und die Überlegenheit institutionalisierter Verfahren gelesen werden kann.22 Noch einmal zurück zu der mittlerweile klassischen Burkertschen Definition: Deren Charme besteht ja in ihrer Allgemeinheit, welche einerseits der erwähnten Offenheit des Phänomens Mythos gerecht zu werden versucht und andererseits ihre eigene Offenheit nicht als Defizit an Prägnanz und Präzision erscheinen lassen will, sondern als Voraussetzung und Bedingung der universellen empirischen Anwendbarkeit der Definition begreift: Damit soll die zuletzt genannte ‚sekundäre‘ Offenheit gewissermaßen zu ihrer primären Tugend werden. Aber selbst diese Definition ist nur bedingt auf ‚gestiftete‘, gewissermaßen artifiziell konstruierte, ja gezielt generierte ‚Mythen‘ anwendbar – und damit sind 21 Vgl. dazu Burkert, Mythos, S.18f. im Anschluss an Bronislaw Malinowski, Myth in Primitive Psychology (zuerst 1926), in: Magic, Science and Religion and other Essays, Garden City 1954, S. 93–148, hier 107; 111ff.; 143ff. 22 Vgl. dazu allgemein Graf, Mythologie, S.157ff.; Latacz, Einführung, S.127ff. und neuerdings Zimmermann, Europa, S.127ff., sowie die wichtigen Deutungsansätze von Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980 u.ö., S.144ff; ders.: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S.117ff.; Hellmut Flashar: Orest vor Gericht, in: Walter Eder/Karl-Joachim Hölkeskamp (Hrsg.): Volk und Verfassung im vorhellenistischen Griechenland, Stuttgart 1997, S.99–111; Maximilian Braun: Die »Eumeniden« des Aischylos und der Areopag, München 1998, S.81ff.; 134ff.; 225 ff; Frank Bücher: Die Polis braucht ihre Poeten. Aischylos’ „Eumeniden“ und die Reformen des Ephialtes, in: Hermes (136) 2008, S.255–274.
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jene Mythen gemeint, die aus handfesten, gelegentlich geradezu durchsichtigen machtpolitischen Motiven gestiftet, ‚erzählt‘ und dabei wie die traditionellen Erzählungen ausgedeutet werden konnten: In diesem Sinne war der Mythos jenes ‚legendären‘ Sieges, den die Athener im Jahre 490 bei Marathon über ein überlegenes persisches Invasionsheer erfochten hatten, eine „Erinnerungsfigur“ der besonderen Art23 – durch die schon bald nach den Perserkriegen einsetzende, sorgfältig gehegte, gepflegte und gesteuerte Erinnerung wurde die Geschichte jenes Septembertages im Jahre 490 zum Mythos, der im kulturellen Gedächtnis Athens eine zentrale Rolle einnehmen sollte – ja, in einer bestimmten, eben handfesten Hinsicht kann man sogar von einer „fundierenden Geschichte“ sprechen, also einer Geschichte, „die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen“.24 Dieser ‚Ursprung‘ muss also keineswegs zwangsläufig in einer fernen, nebligen und unbestimmbaren, daher gern ‚mythisch‘ genannten Vorzeit liegen – vielmehr kann er durchaus zeitnah sein, ja sogar noch im Horizont des „kommunikativen Gedächtnisses“ liegen: Auch derartige ‚sekundäre‘, also gezielt gestiftete, junge und gewissermaßen noch prekäre Mythen können durchaus die erwähnten mythischen Funktionen erfüllen und vor allem – wie in diesem Fall – historisch, politisch-ideologisch und sogar unverhüllt propagandistisch zu voller Wirkung kommen.25 Die Botschaft des Mythos von Marathon kristallisierte sich in zwei Zeilen, die jenem Simonides zugeschrieben wurden, der für seine Epigramme auf die gefallenen griechischen Helden späterer Schlachten des Perserkrieges so bekannt war und auch eine Elegie auf die Marathon-Kämpfer verfasst haben sollte: „Als Vorkämpfer der Hellenen haben die Athener bei Marathon die Macht der goldtragenden Meder niedergestreckt“. Selbst wenn dem berühmten Dichter diese Zeilen erst später zugeschrieben worden sein sollten, wäre auch das ein Indiz für die Entfaltung eines eigentümlichen Mythos von Marathon – und zwar für den eigentlichen Kern der Sache, nämlich jenen Anspruch Athens, der schon in den Inschriften auf den frühen Denkmälern der Perserkriege auf der athenischen Agora aufscheint: Die athenischen Kämpfer der großen Schlachten waren es, die verhinderten, dass „ganz Hellas den Tag der Knechtschaft sah“ – eine bezeichnenderweise und sicherlich absichtsvoll auffällige Wendung, die in den Raum des ‚primären‘, also traditio-
23 Vgl. dazu und zum Folgenden Martin Flashar: Die Sieger von Marathon – zwischen Mythos und Vorbildlichkeit, in: ders./Hans-Joachim Gehrke/Ernst Heinrich (Hrsg.): Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike, München 1996, S.63–85; Karl-Joachim Hölkeskamp: Marathon – vom Monument zum Mythos, in: Dietrich Papenfuß/ Volker M. Strocka (Hrsg.): Gab es das Griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Mainz 2001, S.329–353; Hans-Joachim Gehrke: Marathon (490 v. Chr.) als Mythos. Von Helden und Barbaren, in: Gerd Krumeich/Susanne Brandt (Hrsg.): Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung, Köln u.a. 2003, S.19–32; ders., Ende S. 26 ff.; Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als »lieux de mémoire« im antiken Griechenland, Göttingen 2006. 24 Assmann, Gedächtnis, S. 52. 25 Vgl. Burkert, Mythos, S. 20.
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nellen Mythos verwies: Sie gehört nämlich zur Formelsprache des homerischen Epos.26 Auch das ist natürlich ein Modus, wie sich ein neuer, strittiger Mythos zitierend-legitimierend einem alten, kanonischen anschließen kann, um seiner etablierten und unstrittigen ‚Bedeutsamkeit‘ teilhaftig zu werden. Und wenig später brachten Herodot und Thukydides die Botschaft auf eine knappe, eindeutige und gleich dreifach anspruchsgesättigte Formel: „Bei Marathon haben wir als erste, auf uns allein gestellt und für ganz Griechenland gegen die Perser gekämpft und gesiegt“.27 Um was es dabei konkret ging, war spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts klar: Zunächst diente der Anspruch Athens, zuerst und allein – und das sollte heißen: bevor die Abwehr der Gefahr aus dem Osten eine Griechenland insgesamt betreffende, also ‚panhellenische‘ Sache wurde – und schon von Anfang an als ‚Vorkämpferin‘ für das ganze Griechenland und seine Freiheit gekämpft zu haben, einer offensiven propagandistischen Zurückdrängung der panhellenischen Gleichrangigkeit und Gleichheit. Das war wiederum die Voraussetzung für einen noch weitergehenden Anspruch: Diese Deutung der Schlacht bei Marathon diente der ‚historischen‘ Begründung und ideologischen Legitimation des athenischen Anspruchs auf Vorrang, unbestrittene Führerschaft im Delisch-Attischen Seebund und politisch-militärische Hegemonie über ganz Griechenland. Schon früh, nämlich nur 30 Jahre nach dem Ereignis, war das, was der Mythos von Marathon werden sollte, bezeichnenderweise in einem anderen Medium formuliert worden – in einem Gemälde, das seit etwa 460 in der Stoa Poikile an der Agora zu bewundern war.28 Als visuelle Konkretion des entstehenden Mythos hatte dieses Bild, so könnte man geradezu sagen, eine eigenartige Affinität zum Charakter eines Mythos schlechthin: Es zeichnete sich nämlich durch eine raffinierte, vielschichtig-vernetzte und dadurch suggestive ‚narrative‘ Struktur von Bildern und Symbolen aus: Das Gemälde war in drei räumliche Abschnitte eingeteilt – am linken Ende sah der Betrachter den Schauplatz des Angriffs der Athener vom lokalen Heiligtum des Herakles aus, wo der legendäre Sturmlauf der Schlachtreihe gegen das Perserheer begann, im Zentrum waren die Sümpfe der Küstenebene zu sehen, und am rechten Rand jener Abschnitt des Strandes in der Bucht, an dem die persische Invasionsflotte gelandet war. Diese räumliche Struktur sollte zugleich absichtsvoll und im Wortsinne unübersehbar die zeitliche Abfolge des Schlachtgeschehens vor Augen führen: Vom ersten Zusammenprall der Schlachtreihen wurde der Betrachter zielstrebig über die Verfolgung der fliehenden Perser in die Sümpfe zum entscheidenden Endkampf bei den gelandeten Schiffen geführt.
26 Vgl. dazu Hölkeskamp, Marathon, S.345f. mit Quellenbelegen und Literatur. 27 Herodot 9,27,5; Thukydides 1,73,4. Vgl. dazu Hölkeskamp, Marathon, S.346f. mit weiteren Belegen, sowie generell zum kollektiven Selbstverständnis Athens: Gehrke, Myth, S. 301ff. 28 S. dazu grundlegend Tonio Hölscher: Griechische Historienbilder des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Würzburg 1973, S.50ff.; ferner Heinrich Th. Grütter: Die athenische Demokratie als Denkmal und Monument. Überlegungen zur politischen Ikonographie im 5. Jh. v. Chr., in: Walter Eder/ Karl-JoachimHölkeskamp (Hrsg.): Volk und Verfassung, S.113–132, hier 117ff.; Hölkeskamp, Marathon, S.342ff. mit weiteren Nachweisen.
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Die Vernetzung des konkreten, vom zeitgenössischen Betrachter noch selbst erinnerten, also gewissermaßen authentisch-historischen Geschehens in weiteren politisch-ideologischen Zusammenhängen und zugleich in bereits etablierten mythischen Horizonten wurde wesentlich durch die Hervorhebung bekannter, mittlerweile legendärer Einzelkämpfer einerseits und durch die Präsenz von Göttern und Heroen andererseits geleistet. Zunächst war der große Miltiades, Stratege und mastermind des erfolgreichen Schlachtplans der Athener, natürlich an der Spitze der heranstürmenden Schlachtreihe positioniert. Dann waren da die Götter und Heroen, die den Sieg garantiert hatten – Athene, die Schutzgöttin der Stadt; der Held und Halbgott Herakles, dessen Heiligtum hier lag; und – last but not least – Theseus, der Haupt- und Staatsheros des klassischen Athen: Theseus steigt aus seinem Grab auf, um für Athen gegen die fremden Invasoren aus dem Osten zu kämpfen. Man kann also die Mythisierung von Marathon als ein klassisches Beispiel für jenen Prozess lesen, durch den das kulturelle Gedächtnis, so Jan Assmann, „faktische“ Vergangenheit in „erinnerte“ Geschichte „und damit in Mythos transformiert“ – mehr noch: Dieser Mythos und seine konkrete politisch-ideologische Funktion in der Gegenwart des 5. Jahrhunderts v. Chr. illustriert auch ein weiteres Diktum Assmanns, dass Geschichte, die durch Erinnerung zum Mythos geworden ist, dadurch nicht unwirklich wird, „sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer normativen und formativen Kraft“ gewinnen kann.29 In diesem Fall resultieren diese Kraft und die ihr inhärente Dynamik allerdings erst aus einer spezifischen Vernetzung des neuen jungen Mythos mit alten ‚Erzählungen‘ von hergebrachter Bedeutsamkeit, die dabei ihrerseits variiert, in neues Licht gesetzt und mit neuen (Be-)Deutungen aufgeladen werden – der Theseus-Mythos und seine spezifische Dynamik, die hier nur angedeutet werden konnten, sind ein eindrucksvolles Exemplum dafür.30 Die erste, nämlich thematisch-inhaltliche Ebene der Vernetzung wird durch die typische Offenheit, Variabilität und Anschlussfähigkeit des Mythos generell begünstigt, ja überhaupt erst ermöglicht; denn erst aus dieser Offenheit resultiert ja die Chance, einerseits die Gegenwart, ihre Anforderungen und Ansprüche und andererseits die jüngste Vergangenheit, die gepflegte und geformte Erinnerung daran durch solche ‚Erzählungen‘ aus einer mythischen Vorzeit mit einer zeitlichen Tiefendimension zu versehen und in einen epochal übergreifenden Sinnzusammenhang zu bringen: Durch den Mythos verweisen Geschichte und Gegenwart aufeinander und zugleich in die immer gleiche Richtung, so dass die gemeinsame, aber gewissermaßen dreifach formulierte ‚Bedeutung‘ oder Botschaft unüberhörbar, unübersehbar und unwiderstehlich wird. Gerade dazu bedarf es wiederum der zweiten, formal-medialen Ebene der Vernetzung: Die Verbildlichung von Geschichte(n), alten und jungen Mythen – und zwar in einem umfassenden, multimedialen Sinn des Begriffs – erlaubt die Transzendierung der formalen Struktur des Mythos als ‚Erzählung‘ durch das Überschreiten jener Grenzen der Vernetzung, die der ‚narrativen Sequenz‘ inhärent sind: 29 Assmann, Gedächtnis, S. 52. 30 Vgl. dazu Hölkeskamp, Marathon, S.338f.; Gehrke, Mythos, S. 248f.
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Die Verbildlichung ermöglicht nämlich eine besondere Gleichzeitigkeit der Darstellung von Akteuren und Aktion auf der ‚erzählten‘ Oberfläche und ihrer metaphorischen, allegorischen und symbolischen (Be-)Deutungen – und gerade dadurch hat sie eine besondere Affinität zu der erwähnten strukturellen Mehrdimensionalität und polyvalenten Ausdeutbarkeit des Mythos und kann damit eigentlich erst das volle Potential dieser Form des Diskurses zur Entfaltung kommen lassen. Die Betrachtung des Mythos von Marathon führt nun noch einmal und diesmal endgültig zum zweiten Teil der Thematik, nämlich zu der Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Politik – und diese Frage führt über die erwähnte Ebene der direkten, interessegeleiteten und insofern auf der Hand liegenden Funktionalisierung eines bestimmten Typs des ‚gestifteten‘ Mythos hinaus. Denn das Problem des Ortes respektive der Verortung des Mythos in der Politik – oder wiederum genauer: im spezifischen, einer bestimmten Kultur eigentümlichen Raum des Politischen – verlangt zunächst eine Antwort auf eine wiederum trügerisch einfach scheinende allgemeine Frage: Was ist ‚Politik‘ – und zwar in der Antike? Und wiederum ist schon aus einer historischen Vogelperspektive unmittelbar zu erkennen, dass eine interkulturell und überzeitlich universell anwendbare Definition des Politischen, die etwa auf die Bestimmung typischer Inhalte und Gegenstände zielt, von vornherein nicht möglich und eigentlich auch nicht erstrebenswert ist. Längst hat man ja erkannt, dass das, was in einer gegebenen Gesellschaft, ihren Machtstrukturen und mentalen Horizonten, ihren formalen Institutionen und Verfahren zum Gegenstand von ‚Politik‘ werden kann, also in einem konkreten historischen Kontext überhaupt ‚politisierbar‘ ist, grundsätzlich für die verschiedenen Epochen der Moderne und gerade der Vormoderne, für die spezifischen sozialen und kulturellen Konfigurationen und die kontingenten Konstellationen von Bedingungen, Möglichkeiten und Optionen jeweils erst einmal bestimmt werden muss. Aber auch die traditionelle formale Definition, nach der Politik als effektive Ausübung von Macht durch interessegeleitetes, zweckrationales aktives Handeln zu begreifen sei, das auf die Produktion und Implementierung verbindlicher Entscheidungen ziele, ist ins Gerede gekommen: Diese Definition steht unter dem Verdacht, Politik auf einen „eindimensionale(n) Akt oder Prozess“ zu reduzieren, „in dem von oben nach unten dekretiert, regiert, entschieden“ werde.31 Dagegen insistiert die „Neue Politikgeschichte“ oder „historische Politikforschung“ darauf, dass Politik eben nicht nur eine „Inhaltsseite“, sondern auch eine „Ausdrucksseite“, eine entsprechende „kognitive“ Ebene und eine kommunikative Struktur habe32: Politische Kulturen – vormoderne wie moderne – haben rituelle, visuelle und symbolische Dimensionen, die für die Reproduktion der Legitimität des Systems konsti31 Ute Frevert: Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S.152–164, hier S. 158. 32 Begriffe nach Karl Rohe: Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: HZ (250) 1990, S.321–346. Vgl. dazu etwa Frevert, Politikgeschichte, S.158ff.; Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S.9–24 und zuletzt Luise Schorn-Schütte: Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, S.77ff.
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tutiv sind und schon daher als integraler Bestandteil des Komplexes der Voraussetzungen und Bedingungen, Muster und Regeln jenes Handelns angesehen werden müssen, das auf die Herstellung und Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen zielt. Es ist vor allem diese „Ausdrucksseite“, die der Erzeugung von Zugehörigkeit und Zustimmung, der Stiftung von Sinn und Sinnhaftigkeit politischen Handelns und damit der Begründung einer kollektiven Identität dient. Wie wichtig diese Funktion tatsächlich ist, wird nicht zuletzt dann historisch-empirisch besonders fassbar, wenn es um die radikale Neubegründung einer solchen Identität ging, wie etwa im Athen der Jahrzehnte nach dem Sieg über die Perser, als zwei je für sich schon einschneidende Prozesse – nämlich eine geradezu atemlose Serie politischinstitutioneller Reformschübe im Inneren und ein wenige Jahre zuvor noch unvorstellbarer außenpolitisch-strategischer Machtzuwachs – durch ihr zunächst kontingentes Zusammentreffen und durch ihre dann folgende rasche Vernetzung eine ungeheure Dynamik entfalteten: In kaum mehr als einer Generation, von den Reformen des Kleisthenes bis zur ‚Entmachtung‘ des Areopags durch Ephialtes, kam es einerseits zum endgültigen Durchbruch einer politischen Ordnung, in der Rat und vor allem Volksversammlung im Zentrum standen, in der damit eine praktisch permanente Präsenz einer selbstbewussten Bürgerschaft in diesem Zentrum und das Prinzip der „herrschenden Hand des Volkes“ (so die Formel des Aischylos) institutionell umgesetzt wurden.33 Im gleichen Zeitraum stieg Athen zu einer neuartigen maritimen Großmacht auf, die qualitativ erweiterte strategische Horizonte und hegemoniale Ambitionen im Ostmittelmeerraum entfaltete. Die schiere Geschwindigkeit der Entwicklung musste zunächst zu einem mentalen Vakuum und damit zu einem gesteigerten Nachholbedarf an tragfähigen Leitbildern, Deutungsund Orientierungsmustern führen – und da bot sich der Fundus der Mythen an, gerade weil die Mythen durch ihre Offenheit für neue Wertzuschreibungen, Sinngebungen und Kontextualisierungen geradezu bereitlagen.34 Für den Einsatz des Mythos in diesem Sinne standen dabei durchaus unterschiedliche Strategien der konkreten Umsetzung zur Verfügung wie die erwähnte Einbettung des „charter myth“ des Areopags in den Atriden-Mythos durch Aischylos einerseits und die Vernetzung des jungen, ‚gestifteteten‘ Mythos von Marathon mit traditionellen Mythologemen im Bildprogramm der Stoa Poikile andererseits. Bei allen Unterschieden ist beiden Strategien eine fundamentale Funktion gemeinsam: Durch ihre Offenheit und Ausdeutbarkeit fordern, ja erzwingen die Mythen immer wieder eine gemeinsame, verbindliche Interpretation. Im Prozess des ge33 Aischylos, Die Schutzflehenden 601ff.; 605ff. Vgl. zur Sache etwa Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Polis. Verfassung und Gesellschaft in archaischer und klassischer Zeit, 2. erw. Aufl. Stuttgart 1998, bes. S.157ff.; 182ff.; 198ff.; 301ff.; Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie, 2. Aufl. Paderborn 1994; Elke Stein-Hölkeskamp: Adelskultur und Polisgesellschaft, Stuttgart 1989, S.168ff.; 205ff.; Karl-Joachim Hölkeskamp: Parteiungen und politische Willensbildung im demokratischen Athen. Perikles und Thukydides, Sohn des Melesias, in: HZ (267) 1998, S.1–27, und zuletzt die Beiträge in Kurt A. Raaflaub/Josiah Ober/Robert W. Wallace (Hrsg.): Origins of Democracy in Ancient Greece, Berkeley u.a. 2007. 34 Dietrich Harth: Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens, in: ders./Jan Assmann (Hrsg.): Revolution und Mythos, Frankfurt/M. 1992, S.9–35, hier S. 17.
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meinsamen Ausdeutens der ‚Erzählungen‘ auf der Bühne wie des gleichzeitigmehrdeutigen Bildes mit dem Ziel einer kollektiv bindenden Wert- und Sinnzuschreibung werden die Zuschauer im Theater wie die Betrachter des Gemäldes zu Beteiligten an einer spezifischen Form der Kommunikation und konstituieren sich dabei als „Erinnerungs- und Überzeugungsgemeinschaft“,35 die nicht zuletzt die politische Identität dieser Gemeinschaft als selbstbewusste Bürgerschaft einer traditionsreichen myth-historisch legitimierten griechischen Großmacht fundierte.36
35 Begriff bei Schorn-Schütte, Historische Politikforschung, S. 108f.; vgl. zur Sache auch Gehrke, Vergangenheit, S.63ff. 36 Die hier skizzierte Thematik, insbesondere die theoretischen und methodischen Probleme und Potentiale habe ich an anderer Stelle ausführlich behandelt: Mythos und Politik – (nicht nur) in der Antike. Anregungen und Angebote der neuen „historischen Politikforschung“, in: HZ 288 (2009) S.1–50; vgl. dazu auch Frank Becker: Begriff und Bedeutung des politischen Mythos, in: Stollberg-Rilinger, B. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S.129–148.
Zwischen Theater und Utopie. Phaëthon bei Euripides und Platon Veit Rosenberger Down, down I come like glist’ring Phaethon, Wanting the manage of unruly jades. (Shakespeare, Richard II.)
Zur Regierungszeit des Königs Lysimachos (305–281 v. Chr.) verfielen die Bewohner von Abdera in einen seltsamen kollektiven Wahn. Nach siebentägigem heftigem Fieber, begleitet von Nasenbluten und Schweißausbrüchen, deklamierte die gesamte Bürgerschaft mit lauter Stimme Jamben, Strophen und ganze Lieder aus der „Andromeda“ des Euripides. Ein Vers war besonders beliebt: „Eros, o du der Götter und Menschen Tyrann“. Stunde um Stunde, Tag um Tag, grölten die Abderiten Passagen der Tragödie; erst der Wintereinbruch, verbunden mit heftigen Erkältungen, sorgte für Ruhe. Der Sophist und Satiriker Lukian diagnostizierte als Ursache dieser Manie, dass die Bewohner von Abdera in der mörderischen Hitze des Hochsommers eine Aufführung des Stückes gesehen hatten, bereits im Theater vom Fieber befallen wurden und daher mit der Tragödie ins Krankenbett sanken.1 Bekanntlich war Lukian ein großer Spötter, dem man nicht alles glauben darf, zumal er die Anekdote bei den Abderiten ansiedelte, den antiken Vorläufern der Schildbürger. Dennoch konnten Theaterstücke gefährlich sein: Phrynichos, der 492 v. Chr. eine Tragödie über die Zerstörung Milets verfasst hatte, wurde mit einer empfindlichen Geldstrafe belegt, weil sein Stück die Athener zum Weinen gebracht hatte.2 Euripides’ „Phaethon“, von dem nur 193 Verse erhalten sind,3 ist die ausführlichste Darstellung des Phaëthon-Mythos in der griechischen Literatur.4 Mythen haben die ebenso faszinierende wie zur Verzweiflung treibende Eigenschaft, immer wieder neue Varianten zu bilden. In der griechischen Mythologie finden sich vier Personen namens Phaëthon, wörtlich übersetzt „der Leuchtende“. Erstens der Phaëthon, der hier behandelt werden soll. Zweitens ist Phaëthon eine Bezeichnung für den Sonnengott Helios. Drittens begegnet ein Phaëthon als Sohn der Eos und des Kephalos, er wird von Aphrodite entführt und zu ihrem Tempeldiener gemacht.5 1 2 3 4
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Lukian, De historia conscribenda 1. Herodot 6,21. Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S. 161 bietet Angaben zum Umfang weiterer Dramenfragmente des Euripides. Neben den in diesem Beitrag behandelten Passagen zu Phaethon finden sich Notizen bei den folgenden Autoren aus der archaischen bis zur hellenistischen Zeit: Hesiod, Theogonie 986– 991; Aischylos, Heliostöchter, Frgm. 180–184; Aristoteles, Meteorologica 345a–346b. Hesiod, Theogonie 986–991.
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Viertens gibt es einen Enkel des Helios namens Phaëthon, den Wagenlenker seines Vaters Aietes; die Verwandtschaft zu Helios und die Tätigkeit als Wagenlenker deutet auf unseren Phaëthon hin; möglicherweise verschmelzen diese beiden Figuren namens Phaëthon zumindest zum Teil; dieser Phaëthon stirbt nicht bei einem Unfall mit dem Wagen, sondern wird von seiner Schwester Medeia zerstückelt. Der Mythos von Phaëthon ist schnell referiert. In der „Götterlehre“ von Karl Philipp Moritz (1788), der in engem Kontakt mit Goethe eine vereinfachte griechische Mythologie erstellte, in der er auf Varianten verzichtete, heißt es: Phaëthon, der Sohn des Sonnengottes Helios und der Klymene, der Tochter des Okeanos, wächst in Äthiopien auf. Als ein neidischer Knabe bezweifelt, dass Phaëthon der Sohn des Helios sei, begibt sich Phaëthon zum Palast des Helios und lässt sich beim Styx schwören, dass Helios ihm eine Bitte gewähren soll. Dann bittet er einen Tag den Sonnenwagen des Helios lenken zu dürfen. Helios muss einwilligen; Phaëthon fährt los, kann aber die Rosse nicht auf der richtigen Bahn halten, sondern kommt der Erde zu nahe, so dass die Erde zu brennen beginnt, Quellen und Flüsse versiegen. Die Erde fleht den Göttervater Zeus um Hilfe an, der schleudert Blitze auf Phaëthon, welcher in den Fluss Eridanos, den heutigen Po, stürzt. Dort beweinen ihn seine drei Schwestern, die Heliaden; sie verwandeln sich in Pappeln und ihre Tränen werden zu Bernstein. Ein Detail lässt Moritz aus: Zeus schickt ein Hochwasser, um den gewaltigen Brand zu löschen. Auch wenn die Literatur zu griechischen Mythen kaum zu überblicken ist, wurde die Figur des Phaëthon in den Texten der griechischen Antike noch nicht systematisch untersucht; dieser Beitrag versteht sich als Versuch, diese Lücke zu schließen: Während im ersten Teil die Bedeutung des Theaters in Athen dargelegt werden soll, wird im zweiten Teil der Versuch einer Einordnung und Deutung der Tragödie „Phaethon“ des Euripides unternommen. Im dritten Teil schließlich soll die Rolle Phaëthons in Platons Erzählung über Atlantis aufgezeigt werden. Aufführungen von Theaterstücken fanden in Athen bereits im 6. Jh. v. Chr. statt, damals noch auf der Agora. Erst im 5. Jh. v. Chr. entstand ein steinernes Theater am Südabhang der Akropolis. Die Ansammlung von Bürgern im Theater erinnerte an die Volksversammlung, im Theater wurden Ehrungen an verdiente Bürger verkündet, vor den Aufführungen bei den Dionysien wurden auf der Bühne die jährlichen Tribute der Mitgliedsstaaten des delisch-attischen Seebundes präsentiert, kurz: Das Theater war ein politischer Raum. Daher war die Tragödie nicht Kunst für eine Elite, sondern für die Bürger; „die griechische Tragödie ist das poetische Produkt eines politischen Prozesses“.6 Das Theatergebäude fasste bis zu 17.000 Zuschauer. Ausgehend von einer Bürgerzahl zwischen 30.000 und 50.000 konnte ein ansehnlicher Prozentsatz der athenischen Bürger den Aufführungen folgen7. Zu den Zuschauern gehörten außer den Bürgern die ortsansässigen Fremden (Metoi-
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Egon Flaig: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen, München 1998, S. 41. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 74 hält es für wahrscheinlich, dass die Tragödien auch in lokalen Theatern in Attika, etwa in Eleusis und Piräus, aufgeführt wurden. Wenn diese Überlegungen zutreffen, so erhöht sich nochmals die Zahl der Zuschauer.
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koi), Gäste und Knaben; Frauen waren nicht ausgeschlossen, aber scheinen nicht in großer Zahl präsent gewesen zu sein. An den Dionysien im März fanden in Athen die wichtigsten Theateraufführungen statt, weniger bedeutsam waren die Inszenierungen an den Lenäen. Besonders an den Dionysien manifestierte sich die enge Verbindung zwischen Religion und Polis: Am ersten Tag zog eine Prozession zum Tempel des Dionysos, Opfer wurden dargebracht, im Theater wurden Kultlieder gesungen. Vom zweiten bis zum vierten Tag fanden die Aufführungen der Tragödien statt, am fünften führte man die Komödien auf. Schiedsrichter, die in typisch demokratischer Manier aus einer großen Anzahl von vorgeschlagenen Kandidaten gelost worden waren, entschieden die Wettbewerbe. Im 4. und 3. Jh. v. Chr. breitete sich die in Athen erprobte Aufführungspraxis in der gesamten griechischen Welt aus; oft wurden die klassischen athenischen Autoren des 5. Jh. v. Chr. gespielt: Aischylos, Sophokles und Euripides.8 Obgleich die Verbindung zwischen Theater und Politik in Athen schon lange aufgefallen war, wurde die Forschung auf die Tragweite dieses Phänomens erst in den letzten 30 Jahren aufmerksam.9 Nach der Ansicht des Althistorikers Christian Meier war die Tragödie ein elementarer Bestandteil der Demokratie; für Meier bestand der Vorteil der Tragödie darin, dass sie die Fragen der Gegenwart im Mythos durchspielen konnte.10 Allerdings gilt dies nicht für alle Tragödien in gleichem Maße. Ein Vergleich der Behandlung des Orest-Stoffes erweist den Unterschied zwischen Aischylos, bei dem der Triumph der Polis zur Beendigung endloser Rache und Widerrache führt, und Euripides, bei dem die Polis keine Rolle mehr spielt, sondern blanker Individualismus den Sieg davonträgt.11 Auch wenn Meier vor allem Aischylos und Sophokles analysierte, und auch wenn er den ersten Jahrzehnten nach den Perserkriegen12 (490–479 v. Chr.) das größte politische Potential für die Tragödie zusprach, so konzedierte er auch Euripides dieselbe politische Qualität wie den älteren Kollegen.13 Egon Flaig erläuterte die politischen Aussagen des „König Oidipus“ von Sophokles. Wenn Oidipus seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und mit ihr Kinder in die Welt setzt, die zugleich seine Kinder und Halbgeschwister sind, so geht es in dem Stück nicht um den von Freud geprägten Ödipuskomplex, sondern um die Aufhebung der Familie, was katastrophale Folgen für das Gemeinwesen vorhersagt: Der Zusammenbruch der Familienstrukturen steht für den Zusammenbruch der Polis. Griffig formulierte Flaig diesen Sachverhalt: „Bei Freud verweisen soziale Sachverhalte und Zeichen stets auf Sexuelles; in der Antike verweisen sexuelle Sachverhalte und Zeichen 8 9
Robert Parker: Polytheism and Society at Athens, Oxford 2005, S. 136–152. Einen Forschungsüberblick bietet Suzanne Saïd: Tragedy and Politics, in: Deborah Boedeker/ Kurt Raaflaub (eds.): Democracy, Empire, and the Arts in Fifth-Century Athens, Cambridge, MA/London 1998, S. 275–295. 10 Meier, Tragödie, S. 239. 11 Meier, Tragödie, S. 42f. 12 Zur Bedeutung der Perserkriege zuletzt Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als „lieux de mémoire“ im alten Griechenland, Göttingen 2006. 13 Meier, Tragödie, S. 238.
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stets auf Soziales und Politisches“.14 Generell handeln die versöhnlich endenden Tragödien in Athen, während die Stücke mit grausam-tragischem Schluss in anderen Städten angesiedelt sind; oft dient Theben – wie etwa beim „König Oidipus“ – als Projektionsfläche.15 Michael Stahl nahm den Faden Meiers auf und zeigte, wie die „Eumeniden“ des Aischylos – beim Auftritt der fürchterlich anzusehenden Erinyen soll es zu Fehlgeburten gekommen sein – unter anderem ein Bündnis zwischen den Athenern und Argos untermauerten.16 Insgesamt war das athenische Theater eine die Bürgerschaft integrierende Kommunikationsform, in der es um Themen wie die Einheit der Bürgerschaft oder die Auswirkungen von Hybris gehen konnte. Der „Phaethon“ des Euripides: Euripides wurde zwischen 485 und 480 v. Chr. auf Salamis geboren und starb 406 v.Chr. in Pella. Von seinen mindestens 88 Stücken ist ein gutes Dutzend erhalten, ein weiteres Dutzend nur fragmentarisch bekannt, vor allem auf weit über 1.000 Papyrusfetzen; zu dieser Gruppe gehört der „Phaethon“.17 Zu seinen Lebzeiten war Euripides nur bedingt erfolgreich. Er nahm an 22 Tragödienwettbewerben teil, von denen er nur vier gewann. Besonders sein Zeitgenosse Aristophanes kritisierte ihn; in den Thesmophoriazusen warf er Euripides halb im Scherz, halb im Ernst vor, er bringe die Menschen durch seine Tragödien zu der Überzeugung, dass es keine Götter gebe.18 Erst im 4. Jahrhundert wurde die Qualität der Dichtung des Euripides geschätzt. Aristoteles nannte ihn in der „Poetik“ den Tragödiendichter par excellence (ho tragikótatos).19 Fest datierbar sind nur wenige Tragödien, etwa die 431 aufgeführte „Medeia“. Eine Datierung des „Phaethon“ ist nur aufgrund von metrischen Argumenten möglich. Daher differieren auch die vorgeschlagenen Datierungen: Während Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf von einem Jugendwerk ausging,20 schlug James Diggle in seiner Ausgabe des „Phaethon“ eine Datierung um 420 vor.21
14 Flaig, Ödipus, S. 26. 15 Froma Zeitlin: Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama, in: John Winkler/Froma Zeitlin (Hrsg.): Nothing to do with Dionysos? Athenian Drama in its Social Context, Princeton 1990, S. 130–167. Wohl aus thebanischer Perspektive verfasst ist die „Oidipodeia“, ein fragmentarisch erhaltenes Epos des 6. Jhs., in dem Oidipus nicht Inzest begeht und seine Kinder nicht mit seiner Mutter zeugt. Nicole Loraux: The Divided City. On Memory and Forgetting in Ancient Athens, New York 2002, S. 148. 16 Aischylos, Eumeniden 671–673; Michael Stahl: Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Klassische Zeit, Paderborn 2003, S. 121–162, bes. S. 145; dies sah bereits Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 3, Darmstadt 1957 (1898–1902), S. 193. 17 Bernhard Zimmermann: DNP 4, Stuttgart u.a. 1998, s.v. Euripides, Sp. 280–289. 18 Aristophanes, Thesmophoriazusen 450f.; Harvey Yunis: A New Creed. Fundamental Religious Beliefs in the Athenian Polis and Euripidean Drama, Göttingen 1988. Einen erschöpfenden Forschungsüberblick zu den vollständig erhaltenen Tragödien des Euripides bietet Martin Hose: Euripides 1970–2000, 1. Teil, in: Lustrum, Heft 47, 2005, S. 7–740. 19 Aristoteles, Poetik, 1453 a 29; Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992, S. 94f. 20 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 148; 434. 21 James Diggle: Euripides, Phaethon, Cambridge 1970, S. 47–49 argumentiert mit metrischen Gründen; William M. Calder III: A Note on the Dating of Euripides’ Phaethon, Classical Phi-
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Von der gesamten Tragödie ist schätzungsweise ein Siebtel erhalten, teils in längeren Passagen, teils nur in einzelnen Versen, die von anderen antiken Autoren zitiert wurden. Ein Beispiel ist Fragment 778: „Die jubelnde Menge erschreckte mich“, das in Plutarchs Schrift über „Die Seelenruhe“ überliefert ist. Plutarch erwähnt weder den Autor des Stückes noch das Stück selbst, einziger Anhaltspunkt für die Zuweisung ist die Nennung des Merops. Auch wenn der Vers aus einer anderen Tragödie stammen könnte oder von einem unbekannten Dichter, der einen „Phaethon“ verfasste, dürfte Euripides gemeint sein: Wenn der Name eines Autors nicht genannt wird, ist er so bekannt, dass man ihn nicht nennen muss. Und dann bleibt doch nur Euripides übrig. Ort der Handlung im „Phaethon“ ist der Palast des Merops in Äthiopien. Insgesamt sind zwei größere Textpartien des „Phaethon“ überliefert: Zum einen ein Dialog zwischen Phaëthon und seiner Mutter, aus dem hervorgeht, dass Helios der Vater des Phaëthon ist. Daran schließt sich eine Szene, in der Merops, der (Stief-)Vater Phaëthons, verkündet, dass er seinen Sohn verheiraten wolle; die Braut wird nicht genannt. Es scheint sich um eine Göttin zu handeln, singt doch der Chor: „da du dich einer Göttin vermählst“.22 Danach beginnt die Fahrt Phaëthons. Helios reitet auf Sirius hinterher und gibt Anweisungen, in welche Richtung Phaëthon fahren soll. Von der Katastrophe und dem Tod Phaëthons ist nichts erhalten, wahrscheinlich wurden sie auch nur indirekt beschrieben. In der antiken Tragödie waren generell Bluttaten auf der Bühne nicht zu sehen, sondern wurden nur berichtet. Die zweite größere Textpassage enthält tragische Szenen in der Heimatstadt Phaëthons. Der ahnungslose Merops will die Hochzeitszeremonie einleiten, während die Mutter den toten Sohn im Palast aufbahren lässt. Merops erkennt seinen grausamen Irrtum. Diese groteske und bizarre Ironie aus Tod und Hochzeit, wobei die Störung der Hochzeit vom verkokelnden Leichnam des Bräutigams ausgeht, ist typisch für Euripides.23 Aufgrund des fragmentarischen Charakters des euripideischen Dramas lässt sich nicht sagen, welche Bestandteile des Phaëthon-Mythos von Euripides verarbeitet wurden. Der Kern des Mythos, wie er bei Ovid fassbar ist, mag schon in der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. Chr. vorhanden gewesen sein. Doch zugleich gilt es zu bedenken, dass Euripides dafür bekannt war, „die mythische Vulgata keck zu ändern“, um eine Formulierung von Jacob Burckhardt zu verwenden.24 Dies lässt sich auch am Beispiel des Phaëthon-Stoffes nachweisen: Während Phaëthon im „Hippolytos“ beim Adriatischen Meer in den Eridanos stürzt, wo ihn seine Schwestern beweinen,25 wird im „Phaethon“ der noch vom Blitz qualmende Leichnam in Äthiopien aufgebahrt. Nur bei Euripides steht Phaëthon kurz vor der Hochzeit; Ovid
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lology, Heft 67, 1972, S. 291–293. Eine Übersicht bietet die Budé-Ausgabe: Euripide, Tragédies 8,3, François Jouan/Herman van Looy (Hrsg.), Paris 2002, S. 233. Euripides, Phaethon, Fragm. 781,28. Ann Norris Michelini: Euripides and the Tragic Tradition, London 1987, S. 86; Calder, Euripides’ Phaethon, S. 292. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, S. 226. Euripides, Hippolytos 737–741.
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baut dieses Motiv nicht in seiner Version ein. Unter dieser Prämisse sind auch andere Änderungen des Mythos durch Euripides zu erwarten, genauso aber auch Abweichungen der Autoren nach Euripides von der Version des athenischen Dramatikers. In der Forschung wurden in den Stücken des Euripides immer wieder Anklänge an zeitgenössische Probleme entdeckt. Man erkannte in der „Hekabe“ und in den „Troerinnen“ die Nachwirkungen von Krieg, in den „Schutzflehenden (Hiketiden)“ und in der „Andromache“ athenischen Patriotismus,26 im „Ion“ die Problematik der Vergabe des athenischen Bürgerrechts.27 Tragische Schuld und damit die Bedeutung des Schicksals in der Tragödie wurde als falsche28 oder als hilfreiche29 Interpretationskategorie gewertet. Gyburg Radke wandte sich mit dem Hinweis auf die Bedeutung des Textes gegen den performative turn, in dem die Bilder, Rituale und Handlungen im Vordergrund stehen;30 sie deutete die „Bakchen“ des Euripides, ein Schaubild von Brutalität und grausamer Härte – immerhin paradiert die Mutter des thebanischen Königs Pentheus im Glauben, einen Löwen getötet zu haben, mit dem Kopf ihres Sohnes durch die Stadt – als „Mitleidstragödie“, die die Zuschauer dazu erzieht, Humanität zu entwickeln.31 Zum „Phaethon“ des Euripides finden sich in der Forschung nur wenige Aussagen. Es ist sicherlich dem Klassischen Philologen Martin Hose zuzustimmen, der postuliert, der Tod Phaëthons könne kein bloßer Unfall sein. Hose vermutet, Phaëthon habe von seiner Mutter erfahren, dass nur er befugt sei, den Wagen zu lenken.32 Indes müssen solche Aussagen aufgrund des fragmentarischen Zustandes der euripideischen Tragödie hypothetisch bleiben; ein Problem, das auch für die im Folgenden vorzuschlagenden Deutungen gilt. Sie lassen sich als Teil eines sich stetig erweiternden Interpretationshorizontes verstehen, um einen von Hans-Georg Gadamer geprägten Ausdruck zu verwenden.33 Beim Versuch einer Deutung, vor allem bei der Suche nach Anspielungen in einem Text, entsteht ein methodologisches Problem: Wie ist eine Anspielung zu definieren? Und vor allem, was hat ein Autor absichtlich als Anspielung eingebaut? 26 Cf. Zimmermann, Tragödie, S. 120–125. 27 Josiah Ober: Political Conflicts, Political Debates, and Political Thought, in: Robin Osborne (Hrsg.): Classical Greece, Oxford 2000, S. 127f. 28 Michael Lurje: Die Suche nach der Schuld. Sophokles’ Oedipus Rex, Aristoteles’ Poetik und das Tragödienverständnis der Neuzeit, München u.a. 2004. 29 Hellmut Flashar: Gnomon, Heft 78, 2006, S. 671–674. 30 Zum „performative turn“: Silvia S. Tschopp/Wolfgang E. Weber: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S. 111–122. 31 Gyburg Radke: Tragik und Metatragik, Euripides’ Bakchen und die moderne Literaturwissenschaft, Berlin/New York 2003, S. VIIf. Für Fritz Graf: Griechische Mythologie, München u.a. 1985, S. 167 hingegen demonstriert das Stück „die furchtbare Gewalt des Gottes in seinem Ritual“. 32 Martin Hose: Studien zum Chor bei Euripides, Teil 1, Stuttgart 1990, S. 124. 33 Cf. Michael Lurje: Misreading Sophocles. Or Why Does the History of Interpretation Matter?, Antike und Abendland, Heft 52, 2006, S. 1–15 verweist darauf, dass in den Darstellungen zumeist erst die Interpretationen seit dem frühen 19. Jahrhundert, besonders Schelling und die Brüder Schlegel, behandelt werden.
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In der Forschung begegnen wir unterschiedlichen Ansätzen. Der Althistoriker Christian Meier umging diese Problematik, indem er voraussetzte, dass „die Bürger die Tragödien wesentlich auch als Bürger gesehen und gehört haben.“34 Eine deutlich radikalere Position vertrat der Philologe Günther Zuntz, der die Existenz von Anspielungen in der Tragödie verneinte; nach Zuntz haben Anspielungen „ihren Ursprung in der Phantasie moderner Gelehrter und nicht in der Dichtung des Euripides“.35 Angus Bowie versuchte die Kritik von Zuntz zu umgehen, indem er nicht einzelne Formulierungen, sondern generelle Tendenzen in einer Tragödie analysierte.36 Während Nicole Loraux bei der Interpretation eines Textes die Bedeutung des wortgenauen Lesens einforderte37, stellt sich bisweilen die Frage, inwieweit die Zuschauer bei der Aufführung der zweiten oder dritten Tragödie eines Tages noch die Feinheiten einer Formulierung verstehen konnten. Müssen wir uns die Athener als selbstbeherrschte Zuschauer vorstellen, die über viele Stunden hinweg konzentriert dem Verlauf der Tragödien folgten – oder sollte Charles Segal Recht haben, der die Zuschauer als „eine erregte, oftmals lärmende Menge von Tausenden von Menschen“ beschrieb?38 Die Zuschauer vernahmen nicht nur den reinen Text, sondern sahen den Tanz und die Gestikulation der Schauspieler, lauschten der Musik, rochen die von unzähligen Menschen produzierten Gerüche, hörten die von ihnen verursachten Geräusche und verspürten Hitze oder Kälte, kurz: Tragödien regten alle Sinnesorgane an. Hinzu kommt noch, dass man den Text in den hinteren Reihen des Theaters, die allgemein verachtet waren, sicherlich schlechter verstehen konnte als in den vorderen Reihen; nicht umsonst war die erste Reihe den athenischen Amtsträgern, Priestern und hochrangigen auswärtigen Besuchern vorbehalten. Erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Texte der großen Tragiker durch einen Gesetzesbeschluss aufbewahrt; wer Stücke von Aischylos, Sophokles oder Euripides aufführen wollte, musste fortan diese Texte zur Grundlage nehmen.39 Auf der Basis von schriftlich fixierten Texten, die sich beliebig oft lesen ließen, konnte Aristoteles in der „Poetik“ die Feinheiten von einzelnen Passagen erörtern und Anspielungen goutieren – Aristoteles verfügte damit über eine Nähe am Text, die bei einer Aufführung nie gegeben war. Trotz aller Bedenken sollen einige Aspekte des „Phaethon“ herausgegriffen werden. Euripides erzählt von Hybris. Phaëthon ist ein Verblendeter, er traut sich 34 Meier, Tragödie, S. 11. 35 Günther Zuntz: Euripides und die Politik seiner Zeit, in: Ernst-Richard Schwinge (Hrsg.): Euripides, Darmstadt 1968, S. 423. 36 Angus Bowie: Tragic Filters for History. Euripides’ Supplices and Sophocles’ Philoctetes, in: Christopher Pelling (Hrsg.): Greek Tragedy and the Historian, Oxford 1997, S. 39–62. 37 Loraux, Divided City, S. 33 nennt zwei Prinzipien der Interpretation einer Tragödie: (1) No word can be simply substituted for another, and nowhere is this more the case than in a tragic text; if Aeschylus names the entrails and not the heart, that is precisely what must be interpreted; (2) A tragic text, more than any other, is ruled by polysemy. 38 Charles Segal: Zuschauer und Zuhörer, in: Jean-Pierre Vernant (Hrsg.): Der Mensch der griechischen Antike, Frankfurt 1993, S. 252. 39 Rosalind Thomas: Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge 1989, S. 48 f.; Rosalind Thomas: Literacy and Orality in Ancient Greece, Cambridge 1992, S. 48.
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eine Sache zu, die ihm sehr bald aus der Hand gleitet. Die Geschichte endet nicht nur mit seinem Tod, sondern auch mit einer gigantischen Naturkatastrophe.40 Ein Mensch, gleich ob durch seine Abstammung legitimiert oder nicht, maßt sich eine Arbeit an, die Sache eines Gottes ist. Und es geht nicht um einen Menschen, der in der Schmiede des Hephaistos ein Werk beginnt, dessen Misslingen keine Konsequenzen mit sich zieht, sondern die Fahrt des Sonnenwagens ist von essentiellem Charakter für die gesamte Welt. Man mag hier eine Anspielung auf die athenische Politik während des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) erkennen wollen, in dessen Verlauf sich die Athener in grober Selbstüberschätzung auf katastrophale militärische Abenteuer einließen, wie etwa die Sizilische Expedition (415–413 v. Chr.). Doch da die Datierung des Stückes nicht klar ist, muss diese Deutung hypothetisch bleiben. Als Merops den Leichnam Phaëthons entdeckt, sagt der Chor über Klymene: „Wehe, Wehe! Schlimmes wird offenbar: Die unglückliche Königin und ihr Sohn, den sie drinnen als Toten verborgen hat, o Jammer, und die Blitze des Zeus, Feuerschläge, und das Liebeslager des Helios. O du Unselige, deine Leiden sind unermesslich! Tochter des Okeanos, wirf dich dem Vater bittend zu Füßen, damit er einen jammervollen Tod von deinem Nacken abwehrt.“41 Klymene hatte sich bei ihrem Seitensprung ebenso wie ihr Sohn in die Nähe der Götter gewagt. Phaëthon musste mit dem Leben bezahlen; Klymene droht ein gleiches Schicksal durch den erzürnten Merops. Der Versuch der Auflösung der Grenzen zwischen Göttern und Menschen, letztlich auch in der geplanten Hochzeit Phaëthons mit einer Göttin angelegt, wird von Zeus geahndet. Auch wenn weitere Indizien fehlen, so ist der „Phaethon“ ein Lehrstück über den Platz des Menschen im Verhältnis zu den Göttern, vielleicht auch über den Platz des Einzelnen in der Gesellschaft. Der Ort: Die Handlung spielt in Äthiopien, am Rand der bewohnten Welt; die Äthiopier werden als „Bewohner des Landes am Okeanos“ bezeichnet. Während in der „Orestie“ von Aischylos mit Libyen, der Chalkidike und Troia verschiedene Orte im Gebiet des östlichen Mittelmeers vorkommen, an denen athenische Heere operierten42, liegt Äthiopien zweifellos außerhalb des Aktionsradius der athenischen Flotte. Zugleich stimmt der Ort des Todes nicht mit den anderen Versionen 40 Richard Lattimore: Story Patterns in Greek Tragedy, London 1964, S. 23–25; Christel Brüggenbrock: Die Ehre in den Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit, Göttingen 2006, S. 163–180; zur Hybris bei Euripides: Uwe Neumann: Gegenwart und mythische Vergangenheit bei Euripides, Stuttgart 1995, S. 125–148. 41 Euripides, Phaethon, Fragm. 781,63–74. 42 Meier, Tragödie, S. 123.
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überein, wird doch der Leichnam Phaëthons im Palast des Königs in Äthiopien aufgebahrt; der Sohn des Helios wird im „Phaethon“ des Euripides nicht am Eridanos betrauert, wohl aber im „Hippolytos“. Da der „Phaethon“ nicht in Athen, sondern am Rand der Welt spielt, sind ungeheuerliche Greuel und ein tragisches Ende zu erwarten. Wir wissen vom verbrannt stinkenden Leichnam Phaëthons, der von der Mutter im Palast versteckt wird; es ist nicht auszuschließen, dass Merops seine Frau erschlägt und Selbstmord begeht. Die unbestattete Leiche: In ihrer Verblendung will Klymene zunächst den Leichnam vor Merops verbergen. Sie weist ihre Mägde an, das Blut vom Boden zu wischen und erfüllt damit Vorstellungen von kultischer Reinheit. Phaëthon wird in der Schatzkammer des Merops aufgebahrt, zu der allein Klymene Zutritt hat. Phaëthons Leichnam, der noch qualmend in der Schatzkammer liegt, ist in einem liminalen Zustand: Phaëthon ist zwar tot, aber noch nicht bestattet. Ein Diener kommt zu Merops und berichtet, er habe gesehen, wie durch die Tür der Schatzkammer schwarzer Rauch quoll. Merops nimmt es nicht ernst und meint, der Rauch vom Opferfeuer sei bis ins Haus gezogen. Als der Diener dies ausschließt, sagt Merops: „So will ich gehen; denn dergleichen pflegt, wenn man es geringschätzt, zu einem großen Sturm zu führen. Du aber, Herrin des Feuers, Tochter der Demeter, und du, Hephaistos, seid gnädig meinem Haus!“43 Merops hat nicht nur die Vorahnung, sondern ruft in seiner Unsicherheit zwei Gottheiten des Feuers um Hilfe an, Hestia und den Schmiedegott Hephaistos. Doch alles Beten kommt zu spät. Die Unsicherheit bei der Frage nach der Person des Vaters: Euripides gestaltete dies in der folgenden Passage: Phaethon: Klymene: Phaethon: Klymene: Phaethon:
Wie kann ich denn dem glutheißen Haus des Helios nahen? Er selbst wird Sorge tragen, dass du keinen Schaden nimmst. (Ironie) Wenn er mein Vater ist, dann hast du sicher recht. Dessen sei gewiss, aber du wirst das bald genau erfahren. …Wenn aber der Greis, mein Vater, vom Schlaf erwacht und vor die Tür getreten ist und mich wegen der Hochzeit angesprochen hat, dann werde ich zum Haus des Helios gehen und die Probe machen, ob deine Worte wahr sind.44
Phaëthon hat in seiner eigenen Rede zwei Väter: Helios und Merops; das Haus des Helios ist unschwer zu erreichen, da es in der Nachbarschaft der Äthiopier liegt, deren Gebiet Helios jeden Morgen zuerst erreicht. Die Frage nach dem wahren Vater mag mit der Bedeutung des athenischen Bürgerrechts zusammenhängen, das vom Vater auf den Sohn vererbt wurde. Seit der Gesetzgebung des Perikles 451/50 v. Chr. konnte nur noch athenischer Bürger sein, wessen Vater und Mutter bereits Bürgerrecht besaßen. Wenige Jahre später (445/44 v. Chr.) geriet dieses Gesetz zur 43 Euripides, Phaethon, Fragm. 781,57–60. 44 Euripides, Phaethon, Fragm. 773. Die Partien aus Euripides beruhen alle auf der Übersetzung von Gustav Adolf Seeck.
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Anwendung, als ein ägyptischer Herrscher dem Volk von Athen vierzigtausend Scheffel Weizen schenkte, die unter den Bürgern verteilt werden sollten. Es kam zu einer großen Zahl von Prozessen gegen die nicht vollbürtigen Athener, die bis dahin übersehen worden waren. Plutarch spricht allein von rund 5.000 Personen, die man verurteilte und zur Strafe in die Sklaverei verkaufte; die Zahl derjenigen, die angeklagt wurden, aber ihren Prozess gewannen, war etwa dreimal so hoch.45 Dies unterstreicht die Brisanz der Debatte um das Bürgerrecht und damit um die Abstammung. Schließlich noch zwei explizit politische Aussagen: Zum einen: „Zu den Torheiten der Menschen rechne ich es, wenn ein Vater einen unvernünftigen Sohn an der Macht (exousia) teilhaben lässt oder überhaupt einen unvernünftigen Bürger“.46 Zum anderen: „Ein einziger Anker pflegt ein Schiff nicht zu halten, wie wenn man drei auswirft: und ein einzelner Regent (prostates) ist für die Stadt gefährlich – kommt ein zweiter hinzu, ist das nicht schlecht“.47 Wenn hier das Schiff als Metapher für den Staat steht, so befindet sich Euripides in einer langen Tradition.48 In beiden Passagen spiegelt sich eine Debatte über die richtige Form von Herrschaft, um das Recht zur Setzung einer normativen Ordnung. Beide Zitate sind isoliert und erlauben nur Spekulationen über den Zusammenhang bei Euripides. Es mag Kritik an den Kriegsgegnern zur Abfassungszeit des „Phaethon“ sein, am monarchisch verfassten Sparta oder am persischen Großkönig. Sollten die beiden Passagen einen Kommentar zu athenischen Angelegenheiten darstellen, so ist zum einen auf die Tyrannis des Peisistratos zu verweisen, der rund ein Jahrhundert zuvor seine Macht an seine Söhne weitergeben konnte, zum andern auf die zeitgenössischen oligarchischen Kreise in Athen, die gerade in der Endphase des Peloponnesischen Krieges an Einfluss gewannen. Besonders der Verweis auf Peisistratos erscheint reizvoll: Während sein Regime noch maßvoll gewesen sein soll, wurde sein Sohn Hippias zum typischen Tyrannen, den man am Ende aus Athen vertrieb. Doch solange keine weiteren Partien aus dem euripideischen Drama entdeckt werden, bleibt dies bloße Spekulation.49 Im Kontext der Atlantis-Erzählung in Platons „Timaios“ findet sich eine kurze Erwähnung Phaëthons. Am Anfang des Dialoges steht der Wunsch des Sokrates, eine Stadt nach dem Ideal des platonischen Staats in der Bewährung des Krieges zu sehen. Kritias, ein Onkel Platons, referiert eine Erzählung, die er von seinem Großvater kennt. Angeblich hat der Großvater seine Nachrichten von Solon, der wiederum seine Informationen von ägyptischen Priestern bezogen haben soll. Solon soll in Ägypten von einem Ur-Athen erfahren haben, das 9.000 Jahre vor Sokrates gleichzeitig mit Atlantis existierte. Ein Priester erklärte Solon: „Denn das, was auch 45 46 47 48
Plutarch, Perikles 37; Philochoros FGrHist 328 F 119. Euripides, Phaethon, Fragm. 784. Euripides, Phaethon, Fragm. 774. Eine Übersicht zu den Belegen für das Schiff als Metapher für den Staat bietet Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte, München 1978, S. 190–198. 49 Auszuschließen ist die positivistisch-naturwissenschaftliche Deutung des Mythos als Reaktion auf Meteoriteneinschläge; Jerker Blomqvist: The Fall of Phaethon and the Kaalijärv Meteorite Crater: Is There a Connection?, in: Eranos, Heft 92, 1994, S. 1–16.
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bei euch erzählt wird, dass einst Phaëthon, der Sohn des Helios, der seines Vaters Wagen anschirrte, was auf der Erde war, verbrannte, weil er die Bahn des Vaters nicht einzuhalten vermochte, selbst aber, vom Blitze getroffen, seinen Tod fand, das wird zwar in der Form eines Mythos berichtet, ist aber in Wahrheit eine Abweichung der am Himmel um die Erde kreisenden Sterne und eine in großen zeitlichen Abständen stattfindende Vernichtung der auf der Erde befindlichen Dinge durch mächtiges Feuer“.50 Der ägyptische Priester, anders als die Griechen mit dem Wissen von Jahrtausenden gesegnet, rationalisiert den Mythos durch eine wissenschaftliche Erklärung. Phaëthons Sturz leitet auf ein zentrales Argument bei Platon hin: In Abständen von vielen Jahrhunderten löschen große Überschwemmungen die Zivilisation aus; durch eine dieser Sintfluten wurden Atlantis und Ur-Athen zerstört.51 Sein Wissen erklärt der Priester damit, dass einzig Ägypten von solchen Fluten verschont bleibe, da es in seinem Land nie regne. Atlantis, vor den Säulen des Herakles lokalisiert, war größer als Libyen und Asien zusammen und herrschte über Nordafrika und Etrurien, stellt also eine spiegelverkehrte Macht zum Weltreich der Perser dar. Die Schilderung der Verhältnisse in Athen trägt klar die Züge einer Utopie: Hierzu gehört die später nie mehr erreichte Schönheit und Gesundheit der Ur-Athener, der Wasserreichtum des Landes, die Fruchtbarkeit der Erde, der Überfluss an Futter und Bodenschätzen.52 Ebenso wie die Athener in den Perserkriegen (490–479 v. Chr.) die Perser zurückschlagen konnten, wehrten die Ur-Athener den Angriff der Herrscher von Atlantis ab und befreiten alle, die innerhalb der Säulen des Herakles wohnten. Atlantis und Ur-Athen versanken innerhalb eines Tages und einer Nacht.53 Obwohl die altertumswissenschaftliche Forschung längst zeigen konnte, dass Platons Atlantis eine literarische Fiktion ist, wird immer wieder nach Atlantis gesucht – merkwürdigerweise sucht niemand nach dem 9.000 Jahre alten Athen. Und wenn Atlantis eine von Platon augenzwinkernd erzählte Fiktion ist, so mögen sich auch Zweifel daran regen, ob Platon den Phaëthon-Mythos tatsächlich dekonstruieren wollte. Durch die Überlieferungskette vom ägyptischen Priester über Solon, den Großvater des Kritias hin zu Kritias hat Platon als Verfasser mehr als nur einen doppelten Boden eingezogen. Hier stoßen wir an die Grenzen der Interpretation.54 In den fälschlich Aristoteles zugeschriebenen „Mirabilia“ wird der Ort beim Eridanos, an dem Phaëthon abstürzte, wie ein Eingang zur Unterwelt geschildert. Es ist die Rede von einem mit heißem und giftigem Wasser gefüllten See, der einen 50 51 52 53 54
Platon, Timaios, 22c-d in der Übersetzung von Schleiermacher/Müller. Claude Calame: Mythe et histoire dans l’Antiquité grecque, Lausanne 1996, S. 167. Platon, Timaios 23b; Platon, Kritias 111c. Platon, Timaios 25a-d. Zu Atlantis: Pierre Vidal-Naquet : Athènes et l’Atlantide. Structure et signification d’un mythe platonicien, in: ders.: Le chasseur noir, 2. Aufl. Paris 1991, S. 335–360; Pierre Vidal-Naquet: Atlantis und die Nationen, in: ders.: Die griechische Demokratie von außen gesehen. Athen. Sparta. Atlantis, München 1993, S. 61–94; Herwig Görgemanns: Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantis-Erzählung, in: Hermes, Heft 128, 2000, S. 405–419; Pierre Vidal-Naquet: Atlantis. Geschichte eines Traums, München 2006.
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starken Gestank verströmt, so dass selbst ein Vogel, der über den See fliegt, hineinstürzt.55 Ähnliche Auskünfte liefern die Argonautica des Apollonios von Rhodos im 3. Jh. v. Chr.: Der Eridanos mündet in einen See, aus dem noch immer wegen der brennenden Wunde Phaëthons dichte Dunstschwaden emporsteigen; jeder Vogel, der darüber fliegt, geht in Flammen auf. Die Schwestern des Phaëthon, in Pappeln verwandelt, weinen um ihren Bruder; ihre Tränen verwandeln sich in Bernstein.56 Solche Notizen bezeugen das Weiterwirken des Mythos, erweitert um die Option, dass Phaëthon am Ort des Absturzes direkt in die Unterwelt abstieg. Im Gegensatz dazu fand auch die rationalisierende Position Platons ihre Fortsetzung bei den griechischen Autoren der hellenistischen Zeit. Bei der Beschreibung der nördlichen Adria bestritt Polybios den Absturz Phaëthons mit dem Verweis, dass er als Historiker eine andere Art von Literatur als die Tragödiendichter produziere.57 Diodor widersprach der Angabe, dass Bernstein aus der Adria oder vom Po komme und lokalisierte die Herkunft des Bernsteins auf einer Insel nördlich von Gallien.58 Der Phaëthon-Mythos, in wenigen Versen bei Hesiod zuerst belegt, lässt sich im Drama des Euripides erstmals in einer gewissen Ausführlichkeit fassen. Aufgrund des Ruhmes, den Euripides vor allem postum genoss, ist seine Bedeutung bei der Formung des Mythos kaum zu überschätzen, obgleich sich Änderungen in Details, wie dies bei Mythen typisch ist, immer wieder feststellen lassen. Auch wenn der „Phaethon“ des Euripides nur fragmentarisch erhalten ist, können wir seine politischen Implikationen zumindest zum Teil aufspüren: Hybris und die Sanktionierung einer Grenzüberschreitung durch Zeus, unklare Vaterschaft und damit die Frage nach dem Bürgerrecht. Die Distanz zwischen Menschen und Göttern variiert in den Dramen des Euripides. Während in den „Phönikerinnen“ keine Götter auftreten, agiert Phaëthon nah am Bereich des Göttlichen.59 Er ist im Begriff, eine Göttin zu heiraten und fährt mit dem Wagen des Sonnengottes. Möglicherweise erleidet Phaëthon bei Euripides nicht die Strafe für das selbst verschuldete Chaos, sondern bezahlt mit dem Leben für die Frechheit, eine Göttin heiraten zu wollen. Unter diesem Aspekt gewinnt der Vers „Eros, o du der Götter und Menschen Tyrann“, den die Bürger von Abdera in ihrem Tragödienfieber deklamiert haben sollen, Gültigkeit auch für Phaëthon.
55 Aristoteles, Mirabilia 81. 56 Apollonios von Rhodos, Argonautica 4,595–626. 57 Polybios 2,16: Alles andere aber, was sonst über diesen Fluss bei den Griechen berichtet wird, ich meine die Geschichte von Phaethon und seinem Fall, von den Tränen der Pappeln und den schwarz gekleideten Anwohnern des Flusses, die noch bis auf diesen Tag von der Trauer um Phaethon her solche Gewänder tragen sollen, und all diesen Stoff für Tragödien und ähnliche Dichtungen, wollen wir jetzt beiseite lassen. 58 Diodor, Bibliotheke 23. 59 Christiane Sourvinou-Inwood: Tragedy and Athenian Religion, Lanham 2003, S. 481.
medio tutissimus ibis. Mythos und Politik im frühen Prinzipat Stefan Rebenich Im Sommer 1821 las Goethe die Fragmente des Euripideischen „Phaethon“, die der Leipziger Philologe Johann Gottfried Hermann entdeckt hatte. Zwei Jahre später erschien seine Abhandlung „Phaethon, Tragödie des Euripides“. Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken“. Goethe distanzierte sich darin von der Fassung der Geschichte, die Ovid und Nonnos überliefert hatten: „Ehrfurchtsvoll an solche köstlichen Reliquien herantretend, müssen wir vorerst alles aus der Einbildungskraft auslöschen, was in späterer Zeit dieser einfach großen Fabel angeheftet worden, durchaus vergessen, wie Ovid und Nonnos sich verirren den Schauplatz derselben in’s Universum erweiternd.“1 1827 verließ Goethe jedoch die „enge zusammengezogene Lokalität, wie sie der griechischen Bühne wohl geziemen mochte“2 und setzte die Vermutung in die Welt, der Mythos von Phaëthons Sturz gehe auf den Einschlag eines meteoritischen Körpers zurück.3 Diese Hypothese hat 1977 Wolf von Engelhardt aufgegriffen, der unter Berufung auf den Dichterfürsten in den Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften glaubte feststellen zu können, dass im Phaëthon-Mythos die Erinnerung an den Einschlag eines Großmeteoriten an der Po-Mündung greifbar sei.4 Träfe dies zu, dann sollten die Luxuskarossen, die künftig nach dem griechischen Heros benannt werden, einen italienischen Namen tragen, nämlich Fetonte. Doch es ist hier nicht der Ort, diesen Versuch einer naturwissenschaftlichen Deutung des Mythos zu kommentieren. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr die berühmte und wirkmächtige Phaëthonerzählung in Ovids „Metamorphosen“. In einem ersten Schritt gilt es zu klären, ob und gegebenenfalls welche politische Aussage diese Metamorphose besitzt. Sodann soll ausgehend von diesem Beispiel das Verhältnis von Mythos und Politik im frühen Prinzipat, genauer: unter den Kaisern der julisch-claudischen Dynastie untersucht werden. Unter Mythos verstehe ich im Anschluss an Walter Burkert5 und Karl-Joachim Hölkes1 2 3 4
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Zitiert nach: Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 41, Weimar 1903, S. 32. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Bernd Seidensticker in diesem Band. Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 41, Weimar 1903, S. 32. Vgl. ebd., S. 246. Wolf von Engelhardt: Phaethons Sturz – ein Naturereignis?, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Jg. 1979, Berlin u.a. 1979, S. 161–199, hier S. 187f. Vgl. Walter Burkert: Mythos – Begriff, Struktur, Funktion, in: Fritz Graf (Hrsg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Rom, Stuttgart 1993, S. 9–24 und ders.: Antiker Mythos – Begriff und Funktion, in: Heinz Hofmann (Hrsg.): Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S. 11–26. Vgl. auch Fritz Graf: Mythos I. Theorie des Mythos, in: Der Neue Pauly 8, 2000, S. 633–635.
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kamp6 eine traditionale Erzählung, die kollektive Bedeutung besitzt, nachhaltig wirkt, Verbindlichkeit anstrebt und Zugehörigkeit und Zustimmung erzeugt. Die Interpretationsgeschichte der ovidischen Episode ist facettenreich und lohnte einen eigenen Vortrag. An ihr ließe sich ein wichtiges Kapitel der abendländischen Rezeptionsgeschichte der Antike schreiben, und es könnten verschiedene Muster von Bedeutungszuweisung und zeitgenössischer Aktualisierung aufgezeigt werden.7 Legion sind die werkimmanenten Deutungen, vielfältig die Bemühungen um alexandrinische Vorbilder, und zahlreich die Studien, die intertextuelle Bezüge aufdecken.8 Klassische Philologen und Religionswissenschaftler sahen in dem Mythos eine „natursymbolische Einkleidung des Sonnenuntergangs“,9 und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der princeps philologorum, erkannte in Phaëthon eine Personifikation des Morgensterns.10 Immer wieder fahndeten Gelehrte nach der Metamorphose in dieser Geschichte: Ist sie in der Verwandlung von Verwandten und Freunden des Phaëthon zu erblicken, die dessen Tod in tiefste Trauer stürzt, oder aber, wie Siegmar Döpp vermutete, in der „von Phaethon ausgelösten Rückverwandlung der Welt ins Chaos, die nur dank dem energischen Eingreifen der Götter und um den Preis von Phaëthons Tragödie noch einmal zum Stillstand gebracht wird“?11 Schließlich wurde – und wird – die Episode mit der kontrovers diskutierten Frage nach Ovids Verhältnis zu Augustus verbunden. Seit Ende der sechziger Jahre machten sich manche Autoren auf die beschwerliche Suche nach codierten zeitpolitischen Aussagen und beförderten Phaëthon zum Kronzeugen einer anti-augusteischen Interpretation der Metamorphosen. Ernst Doblhofer nannte 1973 Ovid den „Urvater der Résistance“, der Augustus’ Anspruch auf göttliche Deszendenz in der Episode kritisiert habe. Der Dichter habe Augustus davor warnen wollen, sich wie der Spross eines Gottes zu verhalten: „Hat Ovid […] etwa Augustus vor Augen gehabt, als er seinen Phaëthon darum abstürzen ließ, weil der nicht Mensch hatte bleiben, nicht seines irdischen Vaters, sondern des Sol Sohn hatte sein wollen?“12 Sven Lundström glaubte 1980, es unterliege keinem Zweifel, dass Ovid die willkürliche Jurisdiktion des Kaisers attackiert habe.13 Und 1990 hat 6
Vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp: Mythos und Politik – (nicht nur) in der Antike, in: HZ 288, 2009, S. 1–50 und seinen Beitrag: Mythos und Politik in der Antike. Bemerkungen zu Begriffen und (Be-)deutungen“ in diesem Band. 7 Vgl. Cuppo Csaki: The Influence of Ovid’s Phaethon, New York 1995 und die einschlägigen Beiträge in diesem Band. 8 Vgl. Ulrich Schmitzer: Zeitgeschichten in Ovids Metamorphosen, Stuttgart 1990, 89 mit Anm. 67 und die S. 325f. genannten Forschungsberichte und Bibliographien. 9 Vgl. etwa Carl Robert: Die Phaethonsage bei Hesiod, in: Hermes (18), 1883, S. 434–441, hier S. 440, und allg. Georg Knaack: Phaethon, in: Wilhelm H. Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechisch-römischen Mythologie, Bd. 3.2, Leipzig u.a. 1902, S. 2175–2201. 10 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen, Berlin 1931/32 (= Darmstadt 1955), Bd. 1, S. 257. 11 Siegmar Döpp: Werke Ovids. Eine Einführung, München 1992, S. 153. 12 Ernst Doblhofer: Ovid – ein „Urvater der Résistance“? Beobachtungen zur Phaethonerzählung in den Metamorphosen 1,742 – 2,400, in: 400 Jahre Akademisches Gymnasium Graz, Graz 1973, S. 143–154, hier S. 149. 13 Sven Lundström: Ovids Metamorphosen und die Politik des Kaisers, Uppsala 1980, S. 31.
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Ulrich Schmitzer in Ovids Erzählung „eine vernichtende Generalabrechnung, geradezu eine Konkursbilanz der Herrschaft des Augustus“ erblickt.14 In der Tat ist es verlockend, in dem schlecht gelenkten Sonnenwagen ein Symbol für die Herrschaft des Augustus zu sehen, der sich als Prinzeps, als „Erster unter Gleichen“, über die klar definierten Grenzen des aristokratischen mos maiorum hinwegsetzte und das agonale Prinzip seines Standes überdehnte. Kann man mit Hartmut Boehme in Phaëthon den römischen Kaiser erkennen, der auf Grund der von ihm selbst betriebenen sakralen Überhöhung und der Inszenierung seiner göttlichen Deszendenz seinen eigenen Sturz herbeiführte?15 Ist Dirk Schlinkert zuzustimmen, der kürzlich ausführte, Ovid habe „die mythische Tradition gegen die politische Ordnung des Prinzipats“ mobilisiert?16 Vermag diese politische Lesart zu überzeugen? Bevor wir diese Frage klären können, gilt es einen näheren Blick auf die mit 428 Versen längste Verwandlungsgeschichte in den Metamorphosen zu werfen, die ein Glanzstück ovidischer Erzählkunst ist und verschiedene Traditionsstränge des Mythos bündelt. Ovid beginnt die Geschichte am Ende des ersten Buches.17 Phaëthon, der bei seiner Mutter Klymene und seinem Stiefvater Merops in Äthiopien aufwächst, weiß, dass Helios sein Vater ist, und rühmt sich seiner göttlichen Abkunft. Epaphus, der Sohn der Io und des Zeus, bezweifelt jedoch seine Herkunft und provoziert Phaëthon, dass dieser – von seiner Mutter ermutigt – seinen Vater aufsucht, um von ihm als Sohn anerkannt zu werden. Sobald sein Vater Helios, den Ovid Sol und Phoebus nennt, seinen Sohn erblickt, begrüßt er ihn und verspricht ihm, er werde ihm eine Bitte, wie immer sie auch laute, erfüllen. Phaëthon ergreift die Gelegenheit, um seine göttliche Abkunft aller Welt zu demonstrieren, und verlangt den Sonnenwagen. Sol widerrät zwar, kann aber sein Versprechen nicht mehr zurücknehmen. Phaëthons Wunsch muss erfüllt werden. Rasch schirren die Horen die Pferde an. Sol bestreicht seines Sohnes Gesicht mit einer schützenden Salbe und setzt ihm die Strahlenkrone auf. Er redet ihm ins Gewissen, die Pferde mehr zu zügeln als anzustacheln, und erklärt ihm, wie er fahren muss, um die rechte Mitte zu halten (medio tutissimus ibis18). Kaum hat Tethys den Riegel des Himmels aufgestoßen, stürmen die Sonnenpferde ungestüm, wie sie es gewohnt sind, hinaus. Bald merken sie, dass ein unerfahrener Wagenlenker die Zügel führt. Phaëthon kann die Pferde nicht bändigen, die nun vom Wege abkommen. Panik überfällt ihn, und das Gespann gerät völlig außer Kontrolle. Eine gigantische Feuersbrunst überzieht Him14 Schmitzer, Zeitgeschichten, S. 106. 15 Hartmut Boehme: Phaethon, Promotheus und die Grenzen des Fliegens, in: Wolf R. Dembrosky (Hrsg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe, Opladen 1995, S. 35–52, hier S. 40 mit Anm. 4. 16 Dirk Schlinkert: Vom Phaethon zum Volkswagen. Mythos, Kutsche, Automobil, in: Martin Korenjak (Hrsg.): Die Antike in der Alltagskultur der Gegenwart, Innsbruck 2007, S. 303–314, S. 307; vgl. ders.: Konjunkturen eines Mythos. Der Weg des Phaëthon in das kulturelle Gedächtnis der Antike und Moderne, in: Ute Schneider/Lutz Raphael (Hrsg.): Dimensionen der Morderne, Frankfurt 2008, S. 109–127. 17 Vgl. zum folgenden Ovid. Met. 1,747 – 2,400. Die deutsche Übersetzung der „Metamorphosen“ folgt der Übertragung von Erich Rösch, München 1952. 18 Ovid. Met. 2,137.
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mel und Erde. Selbst die Götter leiden, ganz besonders die Göttin der Erde, Tellus, die nun Zeus (Jupiter) um Hilfe bittet. Dieser schleudert seinen Blitz und tötet Phaëthon, der in die Tiefe stürzt. Die Pferde reißen sich los, der Wagen zerschellt und Phaëthon fällt im fernen Westen in den Eridanus (Po). Die hesperischen Nymphen bestatten ihn. Der Sonnengott ist voller Trauer und kann einen Tag lang seinen Pflichten nicht nachkommen. Klymene sucht das Grab ihres Sohnes und beweint ihn dort; ebendies tun auch seine Schwestern, die Heliaden. Sie klagen unaufhörlich, bis sie nach vier Monaten in Pappeln verwandelt werden. Die Tränen fließen jedoch weiter aus den Bäumen und werden zu Bernstein.19 Der Verwandte Cygnus wird aus Trauer zum Schwan. Sol wird von den Göttern gebeten, die Rosse einzufangen; er gehorcht, als Zeus, der sich für sein Eingreifen entschuldigt, ihm befiehlt, seine Aufgaben wieder zu versehen. Für das Verständnis der Episode ist der Konflikt zwischen Epaphus und Phaëthon zentral. Phaëthon erträgt es nicht, dass er als Sterblicher bezeichnet wird. Sein Sinnen und Trachten richtet sich auf den Beweis seiner göttlichen Abstammung. Eigentlich will Phaëthon nicht nur Übermenschliches, sondern Übergöttliches verwirklichen: plus etiam, quam quod superis contingere fas est („Ja, noch mehr, als selbst einem Gott zu erlangen vergönnt ist“).20 Dieser Wunsch führt in die Katastrophe, die die Ordnung der Welt gefährdet, den höchsten der Götter zur Intervention zwingt und mit Phaëthons Vernichtung endet. Doch trägt dieser Phaëthon, trägt Ovids Phaëthon Züge des Augustus? Selbstverständlich ist Augustus in Ovids Metamorphosen präsent. Allerdings distanziert sich der Dichter nicht von dem Prinzeps. Schon im ersten Buch wird Augustus mit Jupiter parallelisiert.21 Wie der höchste der Götter die Frevel der aus dem Blut der Giganten entstandenen Menschen rächte, so rächte Augustus die Frevel der Caesarmörder. Und das Werk schließt bekanntlich mit der Apotheose Caesars und mit einem Hymnus auf Augustus als pater et rector des Erdkreises, der als Jupiters Stellvertreter auf Erden wandelt.22 Ich kann den modernen Lesern nicht folgen, die diesen Stellen eine Kritik am augusteischen Prinzipat entnehmen zu können glauben. Man kann sich wohl darauf verständigen, dass Ovid das Lob des neuen Herrschers nicht ganz so laut sang wie seine Dichterkollegen Vergil und Horaz und Properz. Er misstraute der Dauerhaftigkeit der politischen Ordnung, die für ihn vergänglich war – im Gegensatz zu seinem literarischen Werk, das er nicht den Gesetzen von Werden und Vergehen unterworfen sah.23 Wenn man denn in der Phaëthon-Episode überhaupt eine Anspielung auf Augustus sucht, dann sollte man sie nicht in dem jugendlichen Rosselenker erkennen, sondern in der Person des intervenierenden Jupiters, der vorgibt, der Garant von Recht und Ordnung zu sein. Dessen Zorn (ira Iovis) war auch Ovid ausgesetzt, wie 19 Vgl. Siegmar Döpp: Die Tränen von Phaethons Schwestern wurden zu Bernstein. Der PhaethonMythos in Ovids „Metamorphosen“, in: Michael Ganzelewski (Hrsg.): Bernstein, Bochum 1996, S. 1–8. 20 Ovid. Met. 2,57. 21 Vgl. Ovid. Met. 1,199ff. 22 Vgl. ebd. 15,858ff. 23 Vgl. Niklas Holzberg: Ovid. Dichter und Werk, München 1997, S. 155f.
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der nach Tomi (Constanza) am Schwarzen Meer Verbannte am Ende seines Werkes beklagte.24 In der Phaëthonerzählung kritisiert Cygnus Jupiters Handeln als iniuste25, und am Ende entschuldigt sich Jupiter gar bei Sol, dass er den Blitz sandte, der seinen Sohn tötete.26 Die Jupiterrolle wurde Augustus auch in anderen Medien zugeschrieben.27 Wenn Jupiter für Augustus steht, wen repräsentiert dann Phaëthon? Sollte er einer der Verlierer der augusteischen Nachfolgeordnung sein? Etwa Agrippa Postumus, der seine Zurücksetzung nicht ertrug, um seine Position kämpfte, 6 n. Chr. nach Sorrent relegiert und im folgenden Jahr auf einer Insel interniert wurde?28 Ein ironischer Seitenhieb auf die Person des Augustus wäre dann die Bemerkung am Ende der Rede des Sol, der seinen Sohn vor der Fahrt mit dem Sonnenwagen warnt: et quid Iove maius habemus („und was haben wir Größeres als Jupiter?“).29 Doch solche Konstruktionen überzeugen nicht. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass für die diskursive Konstituierung des politischen Raumes im frühen Prinzipat die Mythen eine herausragende Bedeutung hatten. Paul Zanker und Jochen Bleicken, um nur diese beiden zu nennen,30 haben eindrücklich gezeigt, wie die gentilizische memoria der Republik durch den Kaiser usurpiert und monopolisiert wurde, wie durch Verdrängung konkurrierender Mythen aus dem julischen Familienmythos ein imperialer Mythos wurde und wie Augustus es verstand, durch historisierte mythische Erzählungen seinen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. Hierfür boten sich griechische wie römische Mythen gleichermaßen an, da sie deutungsoffen waren und ihre Aussage reformuliert werden konnten, so dass diese traditionalen Erzählungen neue kollektive Identitäten begründeten. Hier sollte die Erörterung einer politischen Aussage der Phaëthon-Geschichte, die Ovid entwickelt, einsetzen. Denn Ovid bietet keine Kritik, sondern – pointiert formuliert – eine Affirmation monarchischer Herrschaft, die sich in hellenistischer Tradition auf Helios beruft. Es ist schon längst gesehen worden, dass die Beschreibung des Palastes, in dem Sol wohnt, Elemente der Lichtsymbolik aufgreift und Formen autokratischer Herrschaftsrepräsentation spiegelt.31 regia Solis erat sublimibus alta columnis, clara micante auro flammasque imitante pyropo; cuius ebur nitidum fastigia summa tegebat, argenti bifores radiabant lumine valvae.
24 Vgl. Ovid. Met. 15,871f. sowie Dietmar Kienast: Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 1999, S. 303f. 25 Ovid. Met. 2,378. 26 Ebd. 2,396f.: missos quoque Iuppiter ignes / excusat. 27 Vgl. dazu Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München 1990, S.232ff. 28 Kienast, Augustus, S. 143f. 29 Ovid. Met. 2,62. 30 Zanker, Augustus, bes. S. 198ff. und Jochen Bleicken: Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998, bes. S. 509ff. 31 Ovid. Met. 2,1ff. Vgl. hierzu den Kommentar von Franz Bömer, Heidelberg 1969, ad loc.
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„Hoch erhob sich der Saal der Sonne auf ragenden Säulen, leuchtend von funkelndem Gold und feuerflammenden Erzen; Schimmernd Elfenbein deckt den erhabenen First seines Giebels, gleißend in silbernem Licht erstrahlten die Flügel der Pforten.“ Die Parallelisierung des Königs, dem Herrscher über die Erde, und der Sonne, der Herrscherin über den Himmel, findet sich bereits im Alten Orient und in Ägypten und lässt sich bis zum Sonnenkönig Ludwig XIV nachzeichnen. Den oriens Augusti hatte schon Ernst H. Kantorowicz untersucht.32 Neuerdings hat Marianne Bergmann aus archäologischer Sicht die solaren Motive des römischen Prinzeps näher betrachtet.33 Augustus bediente sich immer wieder der solaren Symbolik, um seine Botschaft, mit seiner Herrschaft sei das Goldene Zeitalter wiedergekommen, zu propagieren: Die Quadriga des Sonnengottes zierte den Giebel des palatinischen Apollontempels ebenso wie den Brustpanzer auf der Statue von Primaporta. Nach der Eroberung Ägyptens brachte er zwei Obelisken nach Rom, um sie dort als Weihegabe für Sol aufstellen zu lassen. Einer dieser beiden diente als ‚Zeiger‘ für eine riesige Sonnenuhr, der andere schmückte den Circus Maximus, der – wie Tertullian bestätigt34 – Sol geweiht war. Andere Darstellungen des Sol betonten den apollinischen Aspekt dieser Gottheit, in der man Helios und Apollon vereint sah.35 Augustus scheint – möglicherweise in Abgrenzung zu seinem Rivalen Antonius – eher die apollinische Seite des Gottes bei seiner Herrschaftsrepräsentation betont zu haben.36 Erst durch die Integration der Sonnensymbolik in die augusteische Prinzipatsideologie bekam der Mythos von Phaëthon einen eminent politischen Charakter. Der griechische Mythos ist folglich nicht nur Teil einer unterhaltsamen Erzähldichtung, sondern spiegelt tiefgreifende Veränderungen in der politischen Grundordnung. Die Politisierung ästhetischer Formen im frühen Prinzipat erfasste auch den griechischen Mythos und trug zur diskursiven Grenzziehung des Politischen bei. Phaëthon begründet seinen Anspruch auf den väterlichen Wagen und damit auf Herrschaft durch seine Abstammung. Seine solare Filiation37 rechtfertigt seine Ambitionen, und Epaphus leugnet ebendiesen Anspruch: „[…] fuit huic animis aeqalis et annis Sole satus Phaethon, quem quondam magna loquentem nec sibi cedentem Phoeboque parente superbum non tulit Inachides, ‚matri’que ait ‚omnia demens 32 Ernst H. Kantorowicz: Oriens Augusti – Lever du Roi, in: Dumbarton Oaks Papers, 17, 1963, S. 117–177. 33 Marianne Bergmann: Die Strahlen des Herrschers. Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Mainz 1998, bes. 123ff. 34 Tert. Spect. 8,1. 35 Zur Vorstellung, Apollon und Helios seien zwei Erscheinungsformen einer einzigen Gottheit, vgl. Bergmann, Strahlen, S. 123 mit Anm. 763. 36 Vgl. Bergmann, Strahlen, S. 125f. 37 Vgl. Bruno Poulle: Phaéthon et la légitimité d’Auguste, in: Michel Fartzoff/Elisabeth Smadja (Hrsg.): Pouvoir des hommes, signes des dieux dans le monde antique, Paris 2002, S. 125–139, hier S. 134.
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credis et es tumidus genitoris imagine falsi.’ erubuit Phaethon iramque pudore repressit.“ „ […] An Gemüt und Jahre ihm gleich war Phaëthon, Phoebus’ Sohn. Als dieser im Stolz auf den Vater einst mit großen Worten zu weichen ihm weigert, ertrug der Inachusenkel nicht: ‚Du Narr, du glaubst Deiner Mutter alles und schwillst in der Einbildung nur, dass Dein Vater ein Gott sei!‘ Rot ward Phaëthon da, unterdrückte in Scham seinen Zorn.“ 38 Phaëthon ist folglich nicht nur der Vermessene, der eine Aufgabe übernehmen will, die kein anderer Gott, nicht einmal Zeus, bewältigen kann, und der hochmütig die Mahnworte des Vaters in den Wind schlägt.39 Er verlangt vielmehr, was ihm auf Grund seiner Herkunft zusteht: den Sonnenwagen als Symbol seiner Herrschaft: „[…] currus rogat ille paternos inque diem alipedum ius et moderamen equorum.“ „ […] Er fordert den väterlichen Wagen und für einen Tag das Recht, die flügelfüßigen Pferde zu lenken.“40 Aber für den Vater bleibt er dennoch ein Sterblicher, der sich übernimmt: sors tua mortalis, non est mortale quod optas. „Sterblich Dein Los. Es geziemt nicht einem Sterblichen, was Du forderst.“41 Doch die Naiaden, die ihm ein Grabepigramm setzen, sehen es anders: „hic situs est Phaethon, currus auriga paterni, quem si non tenuit, magnis tamen excidit ausis.“ „Phaëthon liegt hier, der den Wager des Vaters bestiegen, hielt er ihn nicht, dennoch ist er bei großem Wagnis gefallen.“42 Nicht im „narzisstischen Taumel“ wollte Phaëthon das Los des sterblichen Menschen überwinden, wie Hartmut Boehme meinte43, sondern wegen seiner göttlichen Herkunft forderte er seine Investitur ein. Er scheiterte nicht daran, dass er tradierte Normen verletzte oder einen Konsens aufkündigte44, sondern er scheiterte an der Unvereinbarkeit seiner beiden Naturen, die es ihm unmöglich machte, den sicheren Mittelweg zu gehen und das ambitionierte Unternehmen zum Erfolg zu führen. 38 39 40 41 42 43 44
Ovid. Met. 1,750–755. Ovid. Met. 2,54ff. Ovid. Met. 2,47f. Ovid. Met. 2,56. Ovid. Met. 2, 327f. Boehme, Phaëthon, S. 42. Vgl. Schlinkert: Phaëthon, S. 307 und ders., Konjunkturen.
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Ovids Phaëthon ist folglich eine ambivalente Figur, die einerseits zu viel wagt und deshalb furchtbar scheitert, die andererseits aber als Sohn des Sonnengottes einen legitimen Herrschaftsanspruch besitzt – oder zumindest behauptet, einen solchen zu besitzen. Deshalb überrascht es nicht, dass in der Spätantike Phaëthon zum Symbol der Usurpatoren wurde.45 Die Ambivalenz dieser Figur zeigt sich bereits in der unmittelbaren Rezeptionsgeschichte des ovidischen Phaëthon. Augustus und seine Nachfolger beriefen sich auf Sol-Apollon, nicht aber auf Phaëthon. Gaius (Caligula) etwa ließ sich in Wort und Bild als Neos Helios verehren; Anleihen an Phaëthon sind nicht erkennbar.46 Der Vergleich mit Phaëthon diente vielmehr der Kritik an dem Kaiser. Der alte Kaiser Tiberius, so führte Sueton aus, habe den jungen Prinzen Gaius durchschaut. Bisweilen soll der sagacissimus senex bemerkt haben, Gaius lebe zu seinem und aller Untergang, er, Tiberius, erziehe dem römischen Volk eine Natter, dem Erdkreis aber einen Phaëthon (se natricem populo Romano, Phaëthontem orbi terrarum educare).47 Hier repräsentiert Phaëthon einen rechtmässigen Herrscher, der allerdings durch sein schändliches Wesen dem Erdkreis Unheil bringt. Möglicherweise spielte auch Seneca in seiner Consolatio ad Polybium auf diese Kritik an48: Die Natur habe Gaius zum Verderben und zur Schande der Menschheit geschickt, a quo imperium exustum atque eversum funditus („von dem das Reich verheert und gründlich zerstört wurde“).49 Der erste, der sich indes explizit auf Phaëthon berief und ein neues, positives Phaëthonbild schuf, war Kaiser Nero. Ihm gilt der zweite Teil des Beitrages. Neros Begeisterung für den Sonnengott ist weithin bekannt.50 Schon seine Geburt habe eine neue Epoche eingeleitet, die unter der Herrschaft des Sol-Apollon gestanden habe, berichten antike Autoren.51 Apollon wollte er im Singen, Sol im Wagenlenken gleichkommen, wie es bei Sueton heisst: destinaverat etiam, quia Apollinem cantu, Solem aurigando aequiperare existimaretur […].52 Im Jahre 67 weihte er in einer großartigen Inszenierung seine Siegespreise als Kitharöde und als Rennfahrer einerseits Apollon, dem Gott des Gesangs, und andererseits Sol, dem Gott der Rennfahrer.53 Schon der junge Kaiser wurde in der Dichtung und auf Kameen, auf Münzen und in Lobreden mit Sol verglichen. Seneca parallelisierte Nero in der Apocolocyntosis, in seiner anonym veröffentlichten Satire auf die Vergöttlichung des Claudius, mit dem Sonnengott. Er ließ Apollon selbst den Kaiser preisen:
45 46 47 48 49 50 51 52 53
Vgl. etwa Claud. VI cons. Hon. 186ff.; Ruf. 2,210ff. Vgl. Bergmann, Strahlen, S. 127ff. Suet. Cal. 11. Vgl. Rita degl’Innocenti Pierini: Caligola come Fetonte (Sen. Ad Pol. 17,3), in: Giornale italiano di filologia 37 (N.S. 16), 1985, S. 73–89. Sen. Ad Pol. 17,3. Vgl. Bergmann, Strahlen, S. 133ff. und 214ff. sowie Edward Champlin: Nero, London 2003, S. 112ff. Cass. Dio 61,2,1; vgl. Suet. Nero 6. Suet. Nero 53. Vgl. Champlin, Nero, S. 118.
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„qualis, cum primum tenebris Aurora solutis induxit rubicunda diem, Sol aspicit orbem lucidus et primos a carcere concitat axes: talis Caesar adest, talem iam Roma Neronem aspiciet.“ „Gleich wie Helios, wenn Aurora, das Dunkel zerstreuend, rosig geleitet den Tag – im Strahlenkranz den Erdkreis anschaut und aus den Schranken den Sonnenwagen hervorlenkt: Solch ein Kaiser ist nah! So wird jetzt Rom seinen Nero schauen.“ 54 Dieses Programm, genauer: die Vision eines neuen Goldenen Zeitalters, bot Nero die willkommene Chance, sich in der Anfangsphase seiner Regierung von Claudius abzugrenzen, der den Vergleich mit Jupiter bevorzugt hatte. Der Hinweis auf den Beginn der aurea aetas sollte verdeutlichen, dass sich Nero von Claudius’ Vorbild abgrenzte und wieder an die augusteische Tradition anknüpfte.55 Doch nicht nur die Kontinuität zu Augustus und der Bruch mit Claudius mussten kommuniziert werden, auch Neros Jugendlichkeit galt es positiv darzustellen. In ebendieser Situation wurde Ovids Phaëthon-Mythos aufgenommen. Ein nur noch fragmentarisch in Senecas Naturales Quaestiones erhaltenes, nicht sicher zu datierendes Gedicht eines gewissen Vagellius (selbst der Name ist ungewiss) scheint Phaëthon für seine großen Taten gepriesen zu haben: si cadendum est mihi […] e caelo cecidisse velim, heißt es dort: „Wenn ich fallen muss, will ich vom Himmel herunterfallen.“56 Seneca selbst hat in seinem Dialog de providentia ein durchaus positives Bild des Heros gezeichnet, der als generosus adulescens, als vortrefflicher junger Mann erscheint, dessen Furchtlosigkeit vorbildhaft ist und der zu einem exemplum virtutis wird.57 Ein neues Phaëthonbild lässt sich auch in Lucans bellum civile greifen. In dem Epos wird Nero als der Garant augusteischer Tradition gefeiert und mit Sol und Jupiter gleichgesetzt. Lucan, ein Neffe Senecas, präsentiert im Prooemium, das der Huldigung Neros dient, einen erfolgreichen Phaëthon: […] te, cum statione peracta astra petes serus, praelati regia caeli excipiet gaudente polo; seu sceptra tenere seu te flammigeros Phoebi conscendere currus telluremque nihil mutato sole timentem igne vago lustrare iuvet, tibi numine ab omni cedetur, iurisque tui natura relinquet 54 Sen. Apol. 4,1; vgl. zum Text Otto Weinreich: Senecas Apocolocyntosis. Einführung, Analyse und Übersetzung, Berlin 1923. 55 Bergmann, Strahlen, S. 222f. 56 Vgl. Sen. nat.quaest.6,2,8 sowie Luc Duret: Néron – Phaéthon ou la témérité sublime, in: Revue des Etudes Latines 66 (1988), S. 139–155. 57 Vgl. Sen. prov. 5,10f. sowie Csaki, Influence, S. 112ff. und Duret, Néron, S. 143f.
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quis deus esse velis, ubi regnum ponere mundi. „ […] Fährst Du nach Erfüllung Deiner Wächterpflicht in ferner Zukunft den Sternen entgegen, um lieber den Himmel zu wählen, so werden Dich die Götter froh in ihrer Burg willkommen heißen; ob Du nun das Szepter zu führen geneigt bist oder Phoebus’ Flammenwagen zu besteigen und die Erde mit wanderndem Licht mustern, ohne dass sie dieser Sonnenwechsel schreckt: Dir werden alle Überirdischen den Vortritt lassen, und das All wird es Dir anheimstellen, welcher Gott Du sein, wo Du Deinen Weltenthron errichten willst.“58 Lucans Lob auf Nero ist keineswegs ironisch gemeint.59 Dem Kaiser wird zugestanden, als legitimer Herrscher den „Flammenwagen des Phoebus“ lenken zu können; damit repräsentiert er einen neuen Phaëthon, dessen Wagemut nicht in die Katastrophe führt, sondern reich belohnt wird. Aber Nero ließ sich nicht nur in der Literatur mit dem Heliossohn vergleichen60, sondern in der Domus Aurea wurde der Kaiser offenbar auch als Phaëthon dargestellt. Das Bild zeigte ihn in dem Moment, als sein Wunsch erfüllt wurde und er den Sonnenwagen erhielt. Die Investitur des jugendlichen Helden war folglich an prominenter Stelle verewigt worden.61 Aus Neros Identifikation mit Phaëthon könnte auch seine Vorliebe für Bernstein rühren: Er verwandelte ein Amphitheater in einen Bernsteinpark, und er pries das bernsteinfarbene Haar seiner Frau Poppaea.62 Nero scheint sowohl die Rolle des néos Hélios, des neuen Sonnengottes, als auch die des erfolgreichen Phaëthon geschätzt zu haben.63 Die Adaptation des Phaëthon-Mythos in der kaiserlichen Repräsentation durch den letzten Herrscher der julisch-claudischen Dynastie zeugt indes nicht von Größenwahn, sondern veranschaulicht vielmehr die rasch voranschreitende Sakralisierung der Person des Prinzeps. Sueton überliefert in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Episode: Als jemand in einem Gespräch mit Nero den griechischen Vers zitierte „Wenn ich tot bin, da soll sich doch ruhig Erde mit Feuer mischen“, soll dieser geantwortet haben, „Ganz im Gegenteil, das soll noch zu meinen Lebzeiten geschehen.“ Sueton 58 Luc. bell.civ. 1,45ff. Die Übersetzung folgt der Ausgabe von Wilhelm Ehlers, München 1973. 59 Vgl. Christoph Schubert: Studien zum Nerobild in der lateinischen Dichtung der Antike, Stuttgart/Leipzig 1998, S. 109ff. 60 Das berühmteste Monument war eine etwa 35 Meter hohe Bronzestatue, die ihn als Sol zeigte und für die Domus Aurea konzipiert war, vgl. Plin. nat.quaest. 34,35ff.; Suet. Nero 31 sowie Marianne Bergemann: Der Koloß Neros, die Domus Aurea und der Mentalitätswandel im Rom der frühen Kaiserzeit, Mainz 1994. 61 Vgl. Duret, Néron, S. 149ff. 62 Vgl. Champlin, Nero, S. 135. 63 Das Changieren zwischen den beiden Rollen war auch möglich, da Phaëthon nicht nur der Name des Sohnes des Sol, sondern auch ein Epitheton des Sol war; Sol und Phaëthon wurden in der Tradition daher immer wieder in eins gesetzt; vgl. Georg Türk, „Phaethon“, in: RE 19.2, 1938, Sp. 1508–1515, hier 1508 und Jean Rudhart, Le mythe de Phaéton, in: Keros, Heft 10, 1997, S. 83–95.
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fügte hinzu: planeque ita fecit („genau das brachte er dann auch zustande“)64 – und steckte die Stadt Rom in Brand. Das Feuer wütete sechs Tage und sieben Nächte. Der Vergleich mit dem durch Phaëthon ausgelösten Brand lag auf der Hand, und Nero mag an der Gleichsetzung durchaus Gefallen gefunden haben. Den Zeitgenossen war seine Vorliebe ohnehin bekannt. Philologischer Scharfsinn hat verschiedene Stellen aus Senecas Tragöden aufgespürt65, in denen nach dem incendium urbis auf den Sonnenwagen und den Phaëthon-Mythos angespielt wurde. So heißt es in der sechsten Strophe des Chorliedes der Medea: ausus aeternos agitare currus / immemor metae iuvenis paternae / quos polo sparsit furiosus ignes / ipse recepit („der Jüngling wagte, den ewigen Wagen anzutreiben, ungeachtet der Bahn, die der Vater ihm wies, und so wurde er selbst Opfer des Feuers, das er wild vom Himmel regnen ließ“).66 Phaëthon wurde unter Nero zum Symbol eines umfassenden Wandels. Der Heros diente ihm gleichzeitig als Instrument der Emanzipation, zuerst von Claudius, dann von den Fesseln der Konvention. Nero-Phaëthon-Sol konnte seiner Leidenschaft als auriga frönen, wie Nero-Apollon seine musischen Ambitionen auslebte. Die Rolle des Phaëthon gestattete ihm, die Stadt Rom in Brand zu setzen. Nero handelte, als sei er selbst Phaëthon-Sol (oder Apollon), ja er trat in Konkurrenz zu seinen mythologischen Vorbildern. Die Ambivalenzen, die Ovids Phaëthon zur Zeit des Augustus noch aufgewiesen hatte, verschwanden. Phaëthon wurde zu einem positiv konnotierten exemplum. Nero stilisierte und inszenierte sich ganz im Sinne des Mythos. Diese Neubewertung zeigt exemplarisch den dynamischen Prozess der Neu- bzw. Umformulierung von Mythen im Zuge der Etablierung des Prinzipats. Neros reduktionistisches Phaëthon-Bild, das in der zeitgenössischen Literatur und Kunst gespiegelt wurde, setzte sich nicht durch, der Wagenlenker blieb eine ambivalente Figur. Die neronische Adaptation des Mythos kanonisierte aber Phaëthons Funktion in der solaren Legitimation und Repräsentation monarchischer Herrschaft, die durch Ovids Darstellung in den Metamorphosen grundgelegt war.
64 Suet. Nero 38,1. 65 Vgl. Ulrike Auhagen: Nero – ein neuer ‚Phaethon‘ in Rom? Eine politische Deutung des Apennin-Exkurses in Lukans bellum civile (2,396–438), in: Thomas Baier/Frank Schimann (Hrsg.): Fabrica. Studien zur antiken Literatur und ihrer Rezeption, Stuttgart 1997, S. 91–102, hier S. 98f. 66 Sen. Medea 599–602.
Die Hintergrundstrahlung eines kosmischen Mythos: Phaëthon in Kaiserzeit und Spätantike Peter Habermehl „Wenn dich ein süßes Verlangen ergreift nach den Sagen der Vorzeit, / so will ich dir Punkt für Punkt Phaethons ganzen Mythos verkünden.“ Es dürfte kaum ein passenderes Motto geben für jene rätselumrankte Geschichte, deren Ursprünge gänzlich im Dunkeln liegen, als dieses vollmundige Versprechen, das in Nonnos’ „Dionysiaka “ Hermes seinem Halbbruder Dionysos macht.1 Es wäre freilich vermessen, hier den ‚ganzen Mythos‘ durchzugehen, ‚Punkt für Punkt‘, oder gar ‚Fassung für Fassung‘.2 Denn Phaëthons Geschichte war überaus populär. Von „vielen Dichtern und Geschichtsschreibern“ sei sie erzählt worden, notiert zu Recht Diodor, ein sizilischer Historiker der späten römischen Republik.3 Antike und Mittelalter überlebt haben rund drei Dutzend substantieller kürzerer Variationen des Themas (die meisten von ihnen übrigens aus Kaiserzeit und Spätantike), sowie drei große Darstellungen des Mythos: Euripides’ tragischer Torso, und die beiden epischen Versionen Ovids und des Nonnos. Auf die dritte und letzte dieser drei – auf ihre Weise kanonischen – Fassungen, die des Nonnos, möchte ich mich hier konzentrieren – nach einem kurzen Sturzflug durch den Phaëthon-Stoff in Kaiserzeit und Spätantike sowie einige antike Deutungen des Mythos.
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Nonnos: Dionysiaka 38,106f. (Zitate aus den Dionysiaka nach der Übersetzung von Dietrich Ebener: Nonnos. Werke in zwei Bänden, Berlin 1985). Als Ausgabe wurde herangezogen: Nonnos de Panopolis: Les Dionysiaques. Tome 14. Chants 38–40. Texte établi et traduit par Bernadette Simon, Paris 1999. Den Kern der Sage – „wenn man alle späten oder unwesentlichen Züge abstreift“ – fasst Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff (Phaethon, in: Hermes 18 (1883), S. 396–434; Zitat S. 426f.) folgendermaßen zusammen: „Phaethon, der Sohn des Helios (…), besteigt den Sonnenwagen ohne Vorwissen des Vaters, wird durch den Blitz in den Eridanos geschleudert, den Fluss des äussersten Westens; seine Schwestern, die Heliaden, weinen um ihn die Bernsteinthränen und werden in Schwarzpappeln verwandelt.“ Irritierend genug ist es just die letzte Episode der Geschichte, welche die ältesten literarischen Zeugnisse festhalten: die Trauer der Heliaden und ihre Metamorphose – als Aition des Bernsteins (vgl. Euripides: Phaethon, James Diggle (Hrsg.), Cambridge 1970, S. 4f.). Diodor 5,23,2.
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Ⅰ. Phaëthons Geschichte in der Kaiserzeit und Spätantike Während aus Griechenlands klassischer und hellenistischer Ära im Grunde wenig zu Phaëthon erhalten ist,4 sieht es für Roms Republik und frühe Kaiserzeit merklich besser aus. Cicero und Lukrez philosophieren über den Mythos, Vergil spielt wiederholt auf das Schicksal der Heliaden und des Cygnus an, Horaz deutet Phaëthons Los allegorisch, Manilius erzählt es breit nach – ganz zu schweigen vom Beitrag Ovids, der in Sachen Phaëthon die europäische Vulgata begründet.5 In der Kaiserzeit bleibt das Thema aktuell, wie in Rom u.a. Senecas Exkurse belegen, die poetischen Miniaturen eines Lukan, eines Statius, eines Valerius Flaccus, eines Nemesian, oder in der Spätantike die Paraphrasen des Mythographen Hygin oder des Vergil-Kommentators Servius, die vielen Variationen Claudians, aber auch die christlichen Seitenhiebe auf den heidnischen Mythos bei Orosius oder Venantius Fortunatus.6 Ein ähnlich buntes Bild bietet der griechischsprachige Osten, wenn – um nur einige Stationen zu streifen – Dion von Prusa oder Plutarch Aphorismen zu Phaëthon schmieden, der Neuplatoniker und Theologe Origenes über den paganen Mythos vom Sonnenkind herzieht, dem der Neuplatoniker Proklos metaphysische Botschaften zu entlocken versteht, oder zwei so grundverschiedene Dichter wie Sulpicius Maximus oder Nonnos den Stoff in Hexameter gießen.7 Sulpicius Maximus im übrigen hatte 94 n. Chr. beim Agon Capitolinus zu Rom Aufsehen erregt mit einer improvisierten Scheltrede des Zeus an Helios, der unverantwortlicher Weise seinen Wagen dem Sohn überlassen habe. Was der Erwähnung bedarf: dieses römische Talent war erst elf Jahre alt, als es – mit wohlgemerkt griechischen Versen – den Lorbeer errang. Wenig später starb jener junge Phaëthon.8 Ein Kleinod ist Philostratos’ lange Ekphrasis eines vermutlich fiktiven Phaëthon-Gemäldes in seinen „Imagines “ (1,11; frühes 3. Jh. n. Chr.).9 Dieser beziehungsreiche Text des wohl bedeutendsten griechischen Vertreters der sog. Zweiten Sophistik kleidet alexandrinische Gelehrsamkeit in eine farbenfrohe und, 4 5
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Das frühe Material seit Hesiod und Aischylos’ verlorener Tragödie Die Heliaden präsentiert u.a. Diggle, Euripides, S. 4–32. Cicero, De natura deorum 3,76f.; De officiis 3,94; Lukrez 5,392–415; Vergil, bes. Aeneis 10,189–193; Horaz, carmen 4,11,25–28; Manilius 1,735–749; 4,818–840; Ovid, met. 1,747– 2,400. Zu Ovids Phaethon vgl. u.a. Alfred Rohde: De Ovidi arte epica capita duo, Berlin 1929, S. 7–29; Brooks Otis: Ovid as an epic poet, Cambridge 1966, S. 108–116, S. 360–366; Luciana C. Csaki : The influence of Ovid’s Phaethon. Fordham University, New York 1995, S. 73–104. Lukan 2,408–415; Statius, Thebais 1,219–221; 4,716–722; Valerius Flaccus 5,429–432; Nemesian, Cynegetica, 34–38; Hygin, fabulae 152a; 154; Servius, Aeneis 6,659; 10,189; Claudian, u.a. carmen 8,62–69; in Rufinum 2,206–211; Orosius, Historiae 1,10,19; Venantius Fortunatus, Vita Martini 3,121–152; dazu Csaki, I n f l u e n c e , S. 147–151. Zu Seneca vgl. unten. Plutarch, De tranquillitate animi, 466e; De sera numinis vindicta, 557d; Non posse suaviter vivi secundum Epicurum, 1094b; Origenes, Contra Celsum, 1,19f.; 4,11f. Zu Dion von Prusa und Proklos vgl. unten. Der Text ist u.a. zugänglich im Corpus Inscriptionum Latinarum Bd. VI Nr. 33.976, sowie in W. Peek: Griechische Versinschriften I, Nr. 1924, Berlin 1955. Philostratos: Die Bilder. Griechisch-deutsch (…) von Otto Schönberger, München 1968, S. 114–117. Ebd. S . 57–61 antike (und moderne) stilistische Urteile über Philostratos.
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so die antike Stilkritik, „süße“ Sprache und stellt dabei die Trauer um den toten Sonnensohn ins Zentrum. Der Text beginnt und endet bezeichnenderweise mit den Heliaden. An Originalität kaum zu überbieten sind die Auskünfte, die Wielands antiker Lieblingsautor, der syrische Satiriker Lukian, zu Phaëthon erteilt. Gleich drei Identitäten des Heliossohnes spielt er durch – eine euhemeristische, eine phantastische – und die vertraute mythische. In seinem Traktat „Über die Astrologie “ berichtet Lukian unter anderem von Männern, die sich bereits in grauer Vorzeit der Gestirnsbeobachtung verschrieben hätten. Zu diesen Pionieren der Astronomie rechnet er auch Phaëthon, der sich mit „Beobachtungen zum Lauf der Sonne“ ausgezeichnet habe.10 Dem Mythos hingegen, den er ausführlich referiert, spricht er jede Wahrscheinlichkeit ab: „Die Sonne hat keinen Sohn gezeugt, und hätte sie einen Sohn gehabt, so wäre er nicht gestorben.“11 – soweit der nicht allzu ernst gemeinte Euhemerismus des Autors aus Samosata. In der phantastischen Version, in Lukians berühmten „Wahren Geschichten“, hat Phaëthon einen Auftritt als veritabler Sonnenkönig.12 Der Herrscher über die Völker der Sonne (wie Lukian treuherzig versichert, ist jenes Gestirn „nicht minder bewohnt als der Mond“) überzieht Endymion, den Herrn des Mondes, mit Krieg – beansprucht dieser doch den Morgenstern als Kolonie der Seleniten. Wir erleben einen genuinen ‚Krieg der Sterne‘, eine gigantische interplanetare Schlacht zwischen Hypogypen, Wolkenzentauren, fliegenden Riesenameisen und etlichen anderen Fabelwesen, die Phaëthon für sich entscheidet. Als er zuletzt den Mond mit einer gewaltigen Wolkenwand verdunkelt, zwingt er Endymion endgültig in die Knie und diktiert den unterlegenen Seleniten seinen Friedensvertrag. Mit der überlieferten Gestalt des Mythos spielt Lukian in seinen „Göttergesprächen“.13 Dort kanzelt ein griesgrämiger Zeus den Helios ab, dass es eine Art hat (das Thema traktierte bereits Sulpicius Maximus beim Agon Capitolinus). Im Schlagabtausch der beiden kommen etliche Motive der Himmelsfahrt zur Sprache: der weichherzige Vater, der sich von den inständigen Bitten des Sohnes und der Gattin erweichen lässt ( ihm begegnen wir bei Nonnos wieder); die schwierige Aufgabe, die Sonnenrösser zu lenken und die Bahn zu halten, nebst genauen Fahrtanweisungen; das Crescendo einer Katastrophe, die ausschließlich die Erde trifft; schließlich der Grund für Phaëthons Scheitern – die Hilflosigkeit eines wie bereits bei Ovid hoffnungslos überforderten Knaben: „Aber freilich ist es nur gar zu natürlich, daß ein noch so junger Mensch, wie er sich ringsum mit so viel Feuer umgeben sah und in die unermeßliche Tiefe hinabblickte, den Kopf verlor und daß die Rosse, sobald sie merkten, daß sie 10 Lukian, De astrologia, 19 (Zitate Lukians in Wielands klassischer Übertragung: Lukian, Werke in drei Bänden. Aus dem Griechischen übersetzt von Christoph Martin Wieland, Berlin 1981, hier Bd. 3, S. 151). 11 Lukian, De astrologia, 19. 12 Lukian, Verae historiae, 1,10–21. 13 Lukian, Dialogi Deorum 24 (25). – Das Zitat a.O. 24,2 in Wielands Übersetzung, Bd. 1, S. 318f.
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nicht ihren gewohnten Führer hätten, den Knaben verachteten, mit ihm durchgingen und alles dies Unheil anrichteten; denn vermutlich ließ der arme Junge, aus Furcht herabzufallen, die Zügel fahren und klammerte sich an dem Wagen fest.“ In dieser letzten Variante bleibt Lukian dem Mythos also treu – und demontiert – kühnere Geister würden sagen: dekonstruiert ihn zugleich am nachdrücklichsten. Die missmutigen Tiraden des Zeus, Helios’ kleinlaute Apologie banalisieren die große Geschichte durch und durch und verbuchen sie bürokratisch als Protokoll eines leidigen Betriebsunfalls im Alltag olympischer Amtsgeschäfte. Ⅱ. Antike Deutungen des Phaëthonmythos Schwerlich lässt sich über Phaëthon sprechen, ohne den Umstand zu würdigen, dass bereits in der Antike – zum Teil sehr früh – die Geschichte Gegenstand inspirierter Auslegungen war.14 In einer seiner späten Oden predigt Horaz gesunde Selbstbescheidung, die ihr Maß wisse und nichts zu Großes erhoffe. „Erstrebe stets, was dir gebührt; doch zu hoffen über das hinaus, was erlaubt, erachte als Frevel.“ Diese Botschaft unterstreichen mit leicht ironischem Pathos zwei negative mythische Exempla – die beiden Himmelsstürmer Bellerophon und „der verglühte Phaethon“ (ambustus Phaethon).15 In verwandtem Geist greift Seneca das Exemplum auf, wenn der Chor seiner Medea dafür plädiert, „die sakrosankten Gesetze des Alls“ zu achten und den ausgetretenen Pfaden treu zu bleiben. Das apotropäische Gegenbeispiel liefert Phaëthon auf dem Sonnenwagen, der „die väterliche Wendemarke mißachtet“ (immemor metae paternae ), will heißen: bewusst aus der Sonnenbahn ausbricht – und dafür das himmlische Feuer auf sich zieht.16 Dass sich ebenso auch die umgekehrte Botschaft aus dem Mythos destillieren lässt, zeigt Senecas Schrift „De providentia“. Dort belehrt uns ein vor hohem Mut strotzender Phaëthon, wie wahre virtus die gefahrlosen Niederungen hinter sich lässt und empor ins Unbekannte strebt: „Sollen doch Kleingeister und Duckmäuser sich ans Vertraute klammern – Mannesmut greift nach den Sternen.“ 17 Von dieser ethischen ist es nur ein Schritt zur politischen Exegese, wie sie zu wiederholten Malen gerade für Ovid versucht wurde: Phaëthons Fall als negativer Fürstenspiegel für den vermessenen Herrscher, der sein Amt und seine Aufgabe aus
14 Dazu u.a. Simon, Nonnos, S. 40–44; Csaki , I n f l u e n c e , passim. 15 Horaz, carmen 4,11,25–31; vgl. Csaki, I n f l u e n c e , S. 69–72. 16 Seneca, Medea 599–606. Im gleichen Sinne kehrt das Beispiel wieder im Hercules Oetaeus 675–682. Seit langem erkannt ist die Anspielung auf den Phaethon-Mythos in der Todesfahrt des Hippolytus in Senecas gleichnamigem Stück, dazu u.a. M. Skovgaard-Hansen: The Fall of Phaethon. Meaning in Seneca’s Hippolytus, in: Classica et mediaevalia 29 (1968), S. 92–123. 17 Seneca, De providentia 5,10f., das Zitat § 11: Humilis et inertis est tuta sectari – per alta virtus it ; vgl. Csaki, Influence, S. 119–122.
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den Augen verliert.18 Hier mag der Hinweis genügen, dass diese moderne Deutung sich auf antike Gewährsmänner berufen kann. Sie steckt bereits in dem Bonmot des greisen Tiberius, der den jungen Caligula ahnungsvoll als „Phaethon für den Erdkreis“ charakterisiert.19 Den selbstherrlichen König, der vergisst, dass seine Machtfülle von Zeus stammt, brandmarkt der Stoiker Dion von Prusa (ca. 40–120 n. Chr.) als „zweiten Phaethon“. Und kein Blatt vor den selbstkritischen Mund nimmt jemand, der es wissen muss – Kaiser Julian, die bête noire der zeitgenössischen Christenheit. Ihm zufolge verleihe das Königtum seinem Besitzer nur selten Tugend; viel eher verführe es zu Hochmut: „Ist der Mensch erst einmal im Besitz (der Macht), fühlt er sich wie emporgetragen in Himmelshöhen – und unterscheidet sich in nichts von der Legende und dem tragischen Los Phaethons.“ 2 0 Andere Dimensionen erschließen metaphysische Deutungen der Geschichte, wie sie in der Spätantike kursieren. Eine ausführliche Allegorese des Mythos trägt der Neuplatoniker Proklos (5. Jh. n. Chr.) in seinem „Timaios-Kommentar “ vor.21 Ihm zufolge stammen die immateriellen ewigen Seelen von den sieben ‚Planeten‘ ab. Es gibt also Marsseelen, Mondseelen usw., und eben auch Sonnenseelen. Phaëthon verkörpere die Sonnenseele, abstrakter : die unvergängliche solare Energie, die hinabsteige in die materielle Welt des Werdens. Die älteste und zugleich anregendste Deutung des Mythos, die noch in der Neuzeit ( u.a. in Weimar) und bis heute glühende Anhänger findet, vermutet hinter Phaëthons Geschichte reale kosmische Ereignisse – am ehesten eine Naturkatastrophe. Frühe Pythagoreer dachten an eine auffällige Irregularität der Sonnenbahn, die zur Entstehung der Milchstraße geführt habe.22 In Platons „Timaios “ erfährt Solon von einem greisen ägyptischen Priester, in regelmäßiger Folge ( in Jahrtausenden gerechnet) brächen Planeten aus ihrer Bahn und lösten auf der Erde Überschwemmungen aus, aber auch gigantische Brände. Eben dies erzähle besagter Mythos als ‚Märchen‘.23 Das erinnert an die spätere stoische Idee einer zyklischen kosmischen Ekpyrosis – beschränkt allerdings auf die Erde. In diesem Sinn zitieren auch kaiserzeitliche Stoiker, z.B. Manilius, der augusteische Autor eines astronomischen Lehr-
18 So v.a. Ulrich Schmitzer : Zeitgeschichte in Ovids Metamorphosen, Stuttgart 1990, S. 89–107. Dazu im vorliegenden Band der Beitrag von Stefan Rebenich. 19 Sueton, Caligula 11: Phaethontem orbi terrarum. 20 Dion von Prusa, Oratio 1,46 (Über das Königtum); Julian, Oratio 2,83d. 21 Proklos, In Timaeum I p. 110,22–113,33 Diehl ; vgl. Simon, Nonnos, S. 43f. 22 So Aristoteles, Meteorologica 1,8 345a14ff.; Diodor 5,23,2; Manilius 1,735–749; vgl. Michael Hillgruber: Der Phaethonmythos als Gegenstand kosmologischer Spekulationen, in: Gymnasium 102 (1995), S. 481–496, hier S. 490. 23 Platon, Timaios 21e–23c, bes. 22cd (dt. von H. Müller): „Das, was auch bei euch erzählt wird, dass einst Phaethon, der Sohn des Helios, der seines Vaters Wagen anschirrte, was auf der Erde war, verbrannte, weil er die Bahn des Vaters nicht einzuhalten vermochte, selbst aber, vom Blitze getroffen, seinen Tod fand, das wird zwar in der Form eines Mythos berichtet, ist aber in Wahrheit eine Abweichung ( parállaxis ) der am Himmel um die Erde kreisenden Sterne und eine in großen zeitlichen Abständen stattfindende Vernichtung der auf der Erde befindlichen Dinge durch mächtiges Feuer.“
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gedichts, oder Dion von Prusa den Phaëthon-Mythos – als Bild einer terrestrischen Feuerkatastrophe.24 Grundlegender deuten die Epikureer die Geschichte. Für Lukrez bekundet der Mythos seine These vom steten Kampf der vier Elemente gegeneinander.25 Gewinne eines der Elemente die Oberhand, etwa das Feuer, so nehme die Welt (der Kosmos, wie wir ihn kennen) Schaden. Phaëthons Fall beschreibe einen solchen GAU. Abwenden könne ihn eine Sintflut, die das kosmische Feuer eindämme. Spätantike Stimmen, z.B. der Neuplatoniker Olympiodor, verwahren sich zum Teil ausdrücklich gegen diese früheren Lesarten und deuten Phaëthon als Kometen.26 Den letzten Schritt gingen offenbar erst Autoren der Neuzeit, die den Mythos als fall-out eines verheerenden Meteoriteneinschlags verzeichnen.27 Angelegt ist diese Idee freilich bereits bei einem römischen Epiker der flavischen Ära, Valerius Flaccus, der Phaëthon als „schwarze Kugel“ (ater globus ) beschreibt, die in den Eridanus gestürzt sei.28 In der Tat : wer könnte sich ein erhabeneres Schauspiel vorstellen als die Explosion eines galaktischen Feuerballs, wie sie sich zuletzt im Juni 1908 bei Tunguska in Sibirien ereignet hat? Gleichwohl bleiben ernsthafte Zweifel an einem so positivistischen Zugang zu diesem letztlich wohl religionshistorisch zu begreifenden Mythos.29 Ⅲ. Die Fassung des Nomos Über Nonnos’ Biographie ist wenig mehr bekannt als die Lebenszeit (5. Jh. n. Chr.). Er stammte aus Panopolis, einer Stadt im tiefen Süden Ägyptens. Vieles spricht für längere Aufenthalte in Alexandria, manches für Reisen in Palästina und Syrien. Und es ist gut denkbar, dass er identisch war mit Bischof Nonnos von Edessa ( Syrien), der 451 an dem so folgenreichen Konzil von Kalchedon teilnahm. Denn das ist das eigentliche Rätsel um seine Person: zwei große Werke sind von Nonnos überliefert, eine „Nachdichtung des Johannes-Evangeliums “ in zwanzig Gesängen, eines der eigenwilligsten Bibelepen der Spätantike, aber eben auch die „Dionysiaka“, mit ihren 48 Gesängen das längste erhaltene Epos der Antike, 24 Manilius 4,818-840; vgl. Csaki , Influence, S. 106–112; Dion von Prusa, oratio 36, 40ff., bes. 48. Ähnliches berichtet die ps.-aristotelische Schrift De mundo 6 p. 400a 26–34; vgl. Hillgruber, Phaetonmythos, S. 485. 25 Lukrez 5,380–415, bes. 396–405; vgl. Csaki , I n f l u e n c e , S. 61–69. An solche Theorien scheint Philostratos zu denken, wenn er in der Ekphrasis des Phaethon-Gemäldes sagt ( Imagines 1,11,1; übers. O. Schönberger): „Den Gelehrten scheint hier (d.h. im Phaethon-Mythos) ein Übermaß des Feuerstoffes (tū pyrōdūs ) vorzuliegen.“ 26 Vgl. Hillgruber, Phaethonmythos, S. 490 mit weiteren spätantiken Belegen. Bereits Ovid vergleicht Phaethon mit einem Kometen (met. 2,319–322). 27 Der eloquenteste Vertreter der Meteoritentheorie ist Wolf von Engelhardt: Phaetons Sturz – ein Naturereignis? Sb. Akad. Wiss. Heidelberg, math.-naturwiss. Kl. 1979, 2. Abhandlung. 28 Valerius Flaccus 5,430 ater et Eridani trepidum globus ibat in amnem. 29 Nicht zuletzt ethnologische Parallelen aus Nordamerika sprechen für eine solche religionshistorische Exegese des Stoffes, als Feier der Allmacht des Sonnengottes; so zuletzt Hillgruber, Phaethonmythos, S. 494–496.
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das den Siegeszug und die Mission des Gottes Dionysos auf Erden besingt. Roberto Calasso hat es treffend charakterisiert: „Die Dionysiaka stellen eine überbordende Summa der heidnischen Gedankenwelt dar, die ja längst im Sterben hätte liegen sollen, und die sich hier wie eine mit Narzissen übersäte Wiese vor unseren Augen öffnet.“30 Eine dieser Narzissen ist unsere Phaëthon-Geschichte. Verbeißen wir uns aber die spannende Frage, wie diese beiden – womöglich sogar zeitgleich entstandenen – Werke aus zwei so unvereinbaren religiösen Kosmen sich versöhnen lassen, und erinnern uns lieber daran, dass solche Grenzgänger zwischen hellenischem Polytheismus und christlichem Dogma in der Spätantike keine Ausnahme waren (man denke nur an Synesios und Heliodor, oder auf römischer Seite Ausonius). Nun zum Text: Ovid verankert Phaëthons Geschichte fest im Gebäude der Metamorphosen. Bei Nonnos hingegen ist der Mythos eher lose mit dem DionysosEpos verknüpft, als Epyllion im Munde des Hermes.31 Eine plötzliche Sonnenfinsternis während des langjährigen Krieges, den Dionysos in Indien führen muss, deutet Hermes seinem Götterbruder als Himmelszeichen, das vom glücklichen Ausgang jenes Feldzugs künde. Fast beiläufig, in einem Vergleich, erwähnt er Phaëthons Tod. Dionysos erkundigt sich nach der unerhörten Geschichte aus dem fernen Westen – und Hermes lässt vor ihm den Mythos Revue passieren. Wie es einer Göttergeschichte gebührt, beginnt sie mit einer Genealogie.32 Okeanos (der Ozean) und seine schwesterliche Gemahlin, die Meeresgöttin Tethys, zeugen „die schönste aller Najaden“ (38,112), Klymene. Helios erblickt die herrliche Meerjungfrau, als sie im Ozean badet. In einer schwülen Ekphrasis sehen wir sie mit den Augen des liebeskranken Gottes – und leiden unweigerlich mit ihm (38,116–129):33 „Halb nur zu sehen, barfuß, stand das Mädchen im Wasser, traf mit den rosigen Wangen den Helios wie mit Geschossen. Ihre Gestalt hob sich ab vom Wasser, kein Tuch verhüllte ihren Busen, die liebliche Rundung der silbernen Brüste schimmerte rötlich und warf ihr Licht weit über die Wellen.“ Jeder Ovid-Leser macht sich nach diesen Versen auf den unvermeidlichen göttlichen Übergriff gefasst, wie ihn in stets neuen Variationen zu erzählen die Metamorphosen nicht müde werden. Anders Bischof Nonnos. Ein harter Schnitt – und 30 Roberto Calasso: Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia. Aus dem Italienischen übers. von M. Kahn, Frankfurt a.M. 1990, S. 353–356, das Zitat S. 353. 31 Zu Nonnos’ Passage vgl. v.a. Viktor Stegemann: Astrologie und Universalgeschichte. Studien und Interpretationen zu den Dionysiaka des Nonnos von Panopolis, Leipzig 1930; Julius Braune: Nonnos und Ovid, Phil. Diss. Greifswald 1935; Diggle, Euripides, S. 180–200; Peter E. Knox: Phaethon in Ovid and Nonnus, in: The Classical Quarterly 38 (1988), S. 536–551; Siegmar Döpp: Werke Ovids, München 1992, S. 142–153. 32 Zurecht verweist Simon, Nonnos, S. 29 hier auf Einflüsse der panegyrischen Tradition mit den Topoi Geschlecht, Geburt, Kinder- und Jugendzeit. 33 Passender Weise vergleicht die Ekphrasis Klymene mit dem Mond (38,122–124): Mythos wie Astronomie sehen Helios und Selene als komplementäres Paar (der Mythos fasst sie als Geschwister; vgl. z.B. Hesiod, Theogonie, 371).
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wir sehen die beiden Gottheiten traut vor dem Traualtar – aber auch in der Hochzeitsnacht, wenn die Braut „um den heißen Gemahl die eisigen Arme schlang“ (38,135). Letztlich ist Phaëthon ein Kind des Wassers und des Feuers – jener beiden Elemente, durch die er auch zu Tode kommen wird. Seine Kindheit und Jugend lassen uns drei einprägsame Tableaus miterleben. 1. Mit dem Kleinen tollt Opa Okeanos gerne in den Fluten. Er wirft ihn hoch in die Lüfte, um den Jauchzenden wieder aufzufangen. Doch einmal verfehlt das Kind die großväterlichen Arme und stürzt „ins schwarze Wasser – Seher des eigenen Todes“ (38,162f. eis mélan hýdōr, / mántis heū thanátoio).34 In stillem Schmerz, den er seiner Tochter zuliebe für sich behält (vom Vater Helios ist nicht die Rede), erkennt Okeanos den Willen Moiras (des Schicksals), die dem Kind den Tod in den Fluten verheißt. 2. Als Phaëthon älter wird, bricht sich eine tragische Liebe Bahn – zum Automobil des Vaters, das ungeachtet seiner nur vier Pferdestärken eine fatale Faszination auf den Knaben ausübt. In einer rührenden Szene sehen wir, wie er sich einen veritablen kleinen Sonnenwagen zimmert und damit stolz an Thrinakias Strand spazieren fährt (38,171–183): 35 „Geschickt baute er sich aus Holzleisten eine Achse zusammen, formte so etwas wie Räder dem nachgemachten Vehikel, Zügel schnitt er sich zurecht und schuf sich aus biegsamen Ruten (…) die dreifach geflochtene Peitsche,36 schirrte vier junge Schafböcke unter sein kleines Joch. Einen ansehnlichen Morgenstern brachte aus grellweißen Blüten, rund wie ein richtiges Rad, er sinnreich zustande und setzte ihn als Herold ein für den prächtig rollenden Wagen, ganz wie das echte Gestirn der Frühe. Brennende Fackeln, aufwärts gerichtet, band er sich beiderseits fest um die Haare. So ahmte den Vater er nach mit künstlichen Strahlen, wenn das Gefährt um die meerumbrandete Insel er lenkte.“ Die Beharrlichkeit des Knaben, mit der er seinen Traum verfolgt, wird ihn unweigerlich ans Ziel führen. Nur in der Brechung dieses so bodenständig beschriebenen Spielzeuges übrigens wird bei Nonnos das authentische Sonnengefährt lebendig, 34 Der hohe Flug des Kindes symbolisiert Phaethons späteren Weg durch die sieben Sphären. Die prophetische Szene erinnert an den Flussgott Eridanos auf Philostratos’ Phaethon-Gemälde, der den leblosen Jüngling niederstürzen sieht ( Imagines 1,11,5; übers. O. Schönberger): „Auch der Flussgott klagt, taucht aus der wirbelnden Flut empor und bietet Phaethon Brust und Arme dar, denn seine Haltung zeigt, dass er ihn auffangen will.“ 35 Hierher passt eine Bemerkung des Dion von Prusa in einer Paraphrase des Mythos (oratio 36,48; übers. H.-G. Nesselrath): „Phaethon (…), ein sterblicher Sohn des Helios, habe Verlangen bekommen nach einem Spiel (paidiās), das schwierig und für alle Sterblichen schädlich sein sollte.“ Die im fernen Osten gelegene mythische Heliosinsel Thrinakia (vgl. Odyssee 12,127) wurde wohl erst in hellenistischer Zeit mit Sizilien identifiziert. 36 Auf der Himmelsfahrt wird die Peitsche zum Werkzeug seines Verderbens, vgl. unten.
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wobei der Sonnenspross ein handwerkliches Geschick an den Tag legt, das selbst Hephaistos zur Ehre gereichte, dem großen Künstler und Tüftler des Olymp. Anders bei Ovid, der Helios’ Wagen selbst eine so knappe wie elegante Ekphrasis widmet, die sich ihrerseits inspiriert an Homer, der im 5. Gesang der „Ilias “ Heras edlen Zweispänner beschreibt.37 3. Schließlich erleben wir Phaëthon als Jüngling, der leuchtenden Auges um das Gefährt des Vaters streicht, es bewundert, es zärtlich berührt – ein Verliebter. Und ständig liegt er dem Vater in den Ohren, er möge ihn doch bitte einmal – ein einziges Mal – ans Steuer lassen. Helios schlägt ihm den Wunsch ab und redet dem Jüngling ins Gewissen: der Wagen verlange schließlich höchste fahrtechnische Kompetenz; selbst ein erfahrener Pilot wie er wisse ihn kaum zu beherrschen.38 Doch Phaëthon lässt nicht locker. Sekundiert von einer so weichherzigen wie kurzsichtigen Mutter, bestürmt er die väterliche Feste wieder und wieder mit heißen Tränen und kniefälligen Bitten. Wie einst Okeanos, erkennt auch Helios Moiras Willen und gibt sich am Ende schweren Herzens geschlagen. Phaëthons Schicksal ist besiegelt. Bevor er dem Sohn den Wagen überlässt, erteilt er ihm freilich noch einen Crashkurs in Sachen Astronomie (38,222–290). Er schildert ihm Architektur und Mechanik des Weltgebäudes, die Bahnen der sieben Wandelsterne entlang der zwölf Tierkreiszeichen, das Wirken der Sonne im Zusammenspiel mit den Jahreszeiten. Das geschieht nicht von ungefähr. Diese umfängliche Rede, in der die vollendete Ordnung des Alls rhetorisch elegant Gestalt gewinnt (der Kosmos der Gestirne und der Kosmos der Worte kommen gleichsam zur Deckung ), setzt nicht nur das folgende Chaos am Firmament umso stärker in Relief, sondern vor allem Phaëthons Blindheit für die himmlische Harmonie, die sein Vater als Inbegriff der Zeit und Lebensenergie personifiziert und garantiert (ähnlich Ovids Phaëthon, der achtlos an den sublimen ikonographischen Botschaften des Sonnenpalastes vorübergeht).39 Aber auch die Gefahren seiner Tour malt Helios an die Wand, v.a. Kursabweichungen in die Zyklen der übrigen sechs ‚Planeten‘ ( Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn), und die beiden ‚Drachenpunkte‘, an denen Selenes Bahn die Ekliptik schneidet und Mond- oder gar Sonnenfinsternisse lauern.40 Mit Helm, Strahlenkrone und Feuergewand rüstet Helios den stolzen Sohn für die Fahrt (nicht unähnlich dem Bild, das der Knabe auf seinem Bocksgespann bot). Die Rosse sind angeschirrt, hochgemut steigt Phaëthon auf den Wagen und emp37 Ovid, met. 2,106–110; Ilias 5,722–732. – „ Dichter und Maler sehen nur Pferde und Wagen.“ (Philostratos, Imagines 1,11,1, zu dem Phaethon-Gemälde). 38 „Ich leite ihn selber sogar nur mit Mühe.“ (38,199). 39 Zu der Ovid-Episode vgl. u.a. Hans Herter: Ovids Verhältnis zur Bildenden Kunst, am Beispiel der Sonnenburg illustriert, in: N.I. Herescu (Hrsg.): Ovidiana, Paris 1958, S. 49–74; Robert Brown: The Palace of the Sun in Ovid’s Metamorphoses, in: M. Whitby u.a. (Hrsg.): Homo Viator. Classical Essays for John Bramble, Bristol 1987, S. 211–220. 40 Kurzsichtig die böse Kritik, die Helios’ astronomische Rede in der modernen Philologie trifft (vgl. e.g. Georg Knaack, Quaestiones Phaethonteae, Berlin 1886, S. 40: „ille (sc. Nonnus) ingenti verborum ambitu usus more aetatis suae siderum cognitionem inepte iactat“ ; Diggle, Euripides, S. 189f.).
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fängt Zügel und Peitsche. Von fern verfolgt die Mutter die Szene: „Unweit der Küste stand Klymene (…); sie sah den geliebten / Sohn auf den feurigen Wagen steigen und bebte vor Freude.“ (38,304–306). Wie anders ergeht es dem Vater : „( Helios) zitterte, schweigend. Er wusste, / kurz nur würde sein Sohn noch leben.“ (38,303f.). Überaus verheißungsvoll lässt Phaëthons Jungfernfahrt sich an. Wie jeden Morgen gewinnt das Gespann, von Hesperos geführt, zügig an Höhe und folgt treu der vertrauten Trasse. Und der Jüngling, von der spektakulären Aussicht in Bann geschlagen, genießt das kosmische Panorama (38,310–322): 41 „Aufsteigend spähte der mutige Lenker der feurigen Rosse über den von dem Reigen der Sterne besprenkelten Himmel, den die sieben Zonen umgürteten.42 Auch die Planeten sah er einander entgegenkreisen, erkannte die Erde, die als der Mittelpunkt feststand, erhöht auf ragenden Schroffen, allseits befestigt von tief in Höhlen brausenden Winden. Flüsse erspähte er auch und den Rand des Okeanos. Dieser saugte soeben sein Wasser zurück in die eigene Strömung. Während den Blick er auf Äther und Sternenflut lenkte, auf rührig wimmelnde Erdengeschöpfe und ruhelos wogende Meere, ringsum die Stätten des grenzenlos weiten Weltalls sich ansah, jagten die leuchtenden Rosse im Joch auf ihrer vertrauten Strecke dahin, durchliefen die Bahn, die dem Tierkreise folgte.“ So glatt verläuft die Fahrt, dass der Leser sich irritiert fragt, ob Helios gelogen habe oder ob er spätere, anspruchsvollere Etappen im Sinn hatte, als er so eindringlich vor den Gefahren jenes Parcours warnte und vor den Schwierigkeiten eines Wagens, den selbst er kaum zu meistern wisse. Die Distanz zur Fassung Ovids könnte nicht größer ausfallen, dessen Phaëthon nicht einmal zu Beginn der Fahrt den Wagen beherrscht, und den fast vom ersten Moment an eine stetig wachsende Panik lähmt. Kurzum: würde Phaëthon – Nonnos’ Phaëthon – sich entspannt zurücklehnen und die Zügel dem eingespielten Team überlassen, der Wagen parkte abends wieder unbeschadet in der väterlichen Garage. Doch das lange Training an Thrinakias Gestade hat seine Spuren hinterlassen. Der so furchtlose wie ehrgeizige Lenker (adídaktos, „unerfahren“, nennt ihn Hermes 38,323) sieht offenbar immer noch die Schafböcke vor sich, die damals wohl nur seine Peitsche zu dirigieren wusste und drischt auf das Sonnengespann ein. Fatalerweise hatte Helios seinen Sohn gerade vor dieser Gefahr nicht gewarnt – anders als bei Ovid, wo Sol nachdrücklich mahnt: „Schone die Peitsche und gebrauche lieber die Zügel. Von selbst stürmen sie voran; es kostet Kraft, ihr Ungestüm zu zähmen.“ 4 3 41 Das andächtige Staunen des Fahrenden angesichts der „ neuen Weltwunder“ (nova … spectacula mundi) beschreibt auch Manilius’ Nacherzählung des Mythos (1,735–749; zitiert 1,737). 42 Die „sieben Zonen“ entsprechen den Bahnen der sieben ‚Wandelsterne‘. 43 „ parce, puer, stimulis et fortius utere loris. / sponte sua properant ; labor est inhibere uolentes.“ (met. 2,127f.).
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Die Pferde scheuen und brechen aus ihrer Bahn aus. Im selben Augenblick gerät das Firmament in „Aufruhr“ (3,330 klónos). Schockiert warnt der Morgenstern, der noch immer als Wegweiser voranzieht, den ungestümen Chauffeur vor seinem kopflosen Manöver, das ihn auf Kollisionskurs führe mit den übrigen Planeten und den Fixsternen. Zudem drohe Gefahr von erzürnten Sternbildern (nach gängiger antiker Vorstellung werden sie als beseelt angesehen; 38,336–343): „Andernfalls schlägt dich der dreiste Orion tot mit dem Schwert, trifft dich der alte Boōtes mit seinem feurigen Knüppel! Scheuche mir nicht das Gespann in die Irre, sonst wird dich im hohen Äther der Walfisch des Himmels in seinem Bauche begraben, wird dich der Löwe zerreißen, vielleicht auch der Stier des Olympos senken den Schädel, dich spießen mit seinen flammenden Hörnern! Hüte dich vor dem Schützen, er könnte von seiner gestrafften Sehne mit einem feuerbeschweiften Pfeil dich durchbohren!“ Zuletzt beschwört der Morgenstern die größte aller Gefahren – nicht für Phaëthon, sondern für das All: „Laß nicht ein zweites Chaos entstehen!“ (38,344 mē cháos állo génoito). Ähnlich stöhnt bei Ovid die gemarterte Erde: „Ins alte Chaos fallen wir zurück!“ (met. 2,299 in Chaos antiquum confundimur ). Bei Ovid jedoch läutet dieser Aufschrei ins Ohr des höchsten Gottes Phaëthons Ende ein. Bei Nonnos hingegen lässt Hesperos’ verzweifelter Warnruf den Jüngling herzlich kalt – schlimmer noch: er reizt ihn geradewegs zu wüsteren Exzessen.44 Noch ungestümer hetzt Phaëthon das Gespann durch die Weiten des Alls, in sämtliche Himmelsrichtungen. Den „Tumult“ (3,349 klónos), den er alsbald in den Ätherregionen entfesselt, beschreibt Nonnos in einer barocken Ekphrasis von erschöpfender Fülle (38,349–409), die mancher Exeget ihm kleinmütig vorgerechnet hat – ohne den feinsinnigen Humor zu würdigen, mit dem der ägyptische Epiker das himmlische Tohuwabohu so pathetisch wie komisch in Szene setzt. Atlas vermag das wankende Firmament kaum noch zu tragen, die Himmelsachse neigt sich bedrohlich zur Seite. Die Sternbilder geraten durcheinander und ändern – meist unfreiwillig – ihre Position. Wie Schlittschuhläufer auf einer trudelnden Eisbahn wirbeln sie kreuz und quer, kommen sich gegenseitig ins Gehege, stoßen zusammen (38,354–371): „(…) Weit schon vom Bären entfernt, wand kratzend der Drache eilig sich vorwärts auf dem Äquator und zischte beim Treffen mit dem verstörten Stier. Wider den glühheißen Hund brüllte gähnend der Löwe, wärmte den Äther mit züngelnder Flamme, zum Angriff gerüstet auf den Achtfüßer, den Krebs, mit gesträubter Mähne, verwegen. Neben seinen Hintertatzen peitschte der dürstende Schwanz 44 Er reagiert, als habe er Senecas Exegese seines Mythos in De providentia gelesen. Dort verlautbart er seinem Vater gegenüber: „Was mich abschrecken soll, spornt mich nur an. Dort zieht es mich hin, wo Sol selbst vor Angst erbebt.“ ( 5,11 his, quibus deterreri me putas, incitor; libet illic stare ubi ipse Sol trepidat ).
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des himmlischen Leu seine Nachbarin, die Jungfrau.45 (…) Purzelbaum schlagend, begann der Delphin sich behende zu tummeln und Seite an Seite mit dem Steinbock im Kreis ringsum zu tanzen.“ Merkur, der Erzähler, sieht sich als Wandelstern abgedrängt in die Gefilde der Plejaden.46 Und großer und kleiner Bär umrunden nicht länger den Polarstern, sondern „sie hatten sich vielmehr / südwärts gewandt und badeten ihre sonst trockenen Tatzen / ferne im westlichen Meer.“ (38,406–409). Die Burleske erreicht ihren Höhepunkt, wenn Venus kollidiert mit – Venus: „Gegen die Westgrenze sandte der Morgenstern taumelnd die Strahlen, / stieß den Abendstern fort, der von dort entgegen ihm irrte.“ (38,364f.; die Identität der beiden Gestirne war den griechischen Astronomen wohlgemerkt seit archaischer Zeit bekannt).47 Doch auch an düsteren Noten fehlt es nicht. So zeigt gegen Mittag Selene ihr trüb verfärbtes Gesicht – als Mondfinsternis (38,376–379; vor möglichen Finsternissen hatte Helios den Sohn 38,253–256 noch eigens gewarnt).48 Die Situation eskaliert, als die aus ihren ehernen Bahnen geworfenen Gestirne, Fix- wie Wandelsterne, aneinander geraten: die Planeten greifen die Plejaden an, Venus prallt auf Jupiter, Mars attackiert Saturn. Ein kosmischer Krieg droht – auch dem tollkühnen Piloten. Denn Hesperos’ Schreckensbild wird Wirklichkeit: wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen dringen von allen Seiten wütende Sternbilder – Stier, Orion, Boōtes, Pegasos – auf Phaëthon ein (38,393–405). Da erscheint unversehens, wie der berühmte Maschinengott, Zeus auf der Bühne (einige Verse zuvor war er noch als Wandelstern mit der schönen Venus kollidiert) und beendet die kosmisch-komischen Turbulenzen (38,410–423, zit. 410f.): „Doch Vater Zeus schleuderte mit seinem Blitz Phaethon / zur Tiefe, ließ ihn sich überschlagen hinab zum Lauf des Eridanos.“ So lapidar kommt Phaëthon ums Leben, dass der Todesfall beinahe als erzählerische Leerstelle gelten muss. Dies scheint Absicht, denn in zwei früheren Passagen bekommt die Tragödie kurz ein Gesicht. So heißt es im Vorspann des Epyllions (38,91–93): „Einst, vom göttlichen Gluthauch getroffen, stürzte Phaethon jählings, kopfüber, vom flammenden Wagen des Helios, halb schon verbrannt, und versank im keltischen Fluß.“ Und in einem früheren Gesang entlockt ein Pantomime dem Dionysos und seiner frohen Runde „ungewohnte Tränen“ und rührt selbst den Gott zu „schmerzlichem Staunen“ mit seinem Spiel vom sterbenden Phaëthon und seinem „Gemälde des 45 Der „durstige Schwanz“ des Löwen, der die „Jungfrau peitscht“, klingt nicht nur in der Übersetzung leicht anstößig. Vergleichbare Scherze riskiert Nonnos des öfteren. 46 38,384–392. 47 Vgl. Gregory Nagy: Phaethon, Sappho’s Phaon, and the White Rock of Leukas, in: Harvard Studies in Classical Philology, Band 77, 1973, S. 137–177, hier S. 174. – Einen humorvollen Umgang mit den Gestirnen im Chaos pflegt bereits Ovid (met. 2,171–177. 195–200. 208f.). 48 Vgl. Philostratos’ Phaethon-Gemälde ( Imagines 1,11,2; übers. nach O. Schönberger): „Am Himmel gerät alles in Aufruhr. (…) Nacht verjagt den Tag vom Mittagshimmel, die Sonnenscheibe (ho de hēlíū kýklos) fällt zur Erde und reißt die Gestirne mit sich.“
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brennend sich wälzenden Jünglings“ (30,110–116). Vor allem in diesen Versen klingt die Grausamkeit jenes Todes immerhin an – auch wenn wir weit entfernt sind von der Dramatik, mit der Ovid das qualvolle Sterben des schon lange vor dem erlösenden Blitzschlag von Rauch und Flammen verschlungenen Sonnensohnes beschreibt, und den schier endlosen Sturz des Entseelten erdwärts. Nonnos’ leichtfüßiges Finale mag von solchen dunklen Tönen nichts wissen.49 Umso ausgiebiger beschreibt es Zeus’ Wirken, der im Handumdrehen die verirrten Gestirne zurückführt auf die alten Plätze und Bahnen. Mit kräftigen Schauern löscht er die Brände, die das Sonnengespann „auf Erden überall ausgelöst hatte“ (dass Phaëthons Irrfahrt den Erdball entflammte, erfahren wir erst im Nachhinein), sein Regen reinigt und belebt die Fluren.50 Auch das Tageslicht muss das All – anders als bei Ovid, wo eine Sonnenfinsternis folgt und ein verbitterter Sol streikt – nicht lange missen. Zeus gibt Helios Wagen und Rosse zurück, unverzüglich beginnt dieser im Osten eine neue Tour, und prächtiger denn je erstrahlt Gaia („Heiter begann die Erde aufs neue zu lächeln. (…) / Üppig ersproßten die Saaten, es lachten aufs neue die Gärten, / durften genießen die alten belebenden himmlischen Strahlen.“). – Trauert dieser Vater (von der Mutter hören wir, wieder anders als bei Ovid, nichts mehr) überhaupt um seinen Sohn? Der Spuk ist vorbei. Damit nicht genug. Die Ordnung, die der Herr des Himmels restauriert, ist umfassender. Die Geschichte endet mit dem Katasterismos Phaëthons und des „verbrannten“ Flusses. Beide versetzt Zeus als Sternbilder an den Himmel: Phaëthon als den ‚Wagenlenker‘, Eridanos als Milchstraße.51 Kein verglühter Leichnam, kein Grab trübt (wie bei Ovid) das bukolische Idyll. Vielmehr wird der Ruhestörer, der Fremdkörper integriert in die Ordnung – eingeschlossen in der Harmonie der Fixsternsphäre wie ein Insekt im Harz. Bezeichnenderweise sind denn auch die einzigen, die trauern, Phaëthons Schwestern samt ihren Bernsteintränen, mit deren bereits im Vorspann gleich zweifach evoziertem Los das Epyllion melancholisch ausklingt (38,432–434). Nonnos’ Phaëthon wird von der Kritik stets mit Ovids Version verglichen52 – was unweigerlich zu der akademischen Frage nach den Abhängigkeitsverhältnissen führt (auf welche älteren Quellen stützen sich beide? und wichtiger: stützt Nonnos sich auf Ovid?).53 Vor allem aber misst man Nonnos an Ovid – und stets zu seinen
49 Zu behaupten, Nonnos interessiere sich nicht für Phaethons Ende (so zuletzt Simon, Nonnos, S. 38), verkürzt den Gedanken erheblich. 50 Vgl. Otis, Ovid, S. 365: bei Ovid stehen das Chaos auf Erden und Tellus’ Not im Zentrum. 51 Phaethons Katasterismos dürften zuerst alexandrinische Autoren erzählt haben, allen voran Eratosthenes (die wichtigste erhaltene hellenistische Version ist Apollonius von Rhodos, Argonautika 4,596–618). Zur mythischen Qualität des Eridanos als Pendant des Okeanos und als Grenzraum zwischen Erdkreis und Jenseits vgl. Nagy, Phaethon, S. 149–153. 52 Zumal die Vorstellung gilt (um einen der namhaftesten englischen Philologen unserer Tage zu zitieren), „that Nonnus’ account is often close in content and expression to the narrative of Ovid“ (Diggle, Euripides, S. 9) – eine Einschätzung, der ich nur sehr bedingt zu folgen vermag. 53 Die Frage wäre leichter zu entscheiden, hätte der große byzantinische Philologe Planudes (ca.
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Ungunsten.54 Niemand wird es leugnen: der kompositorische Spannungsbogen von Epaphus’ folgenreicher Beleidigung des ‚Bastards‘ Phaëthon55 hin zur Weltverweigerung eines vom Schmerz zerrissenen Vaters; die raffinierte Rhetorik der beiden Reden Sols, die der jeweiligen Situation auf den Leib geschneidert sind; 56 der punktgenaue Einsatz astronomischer Verweise, die Phaëthons späterer Route exakt entsprechen; das unter die Haut gehende Psychogramm des in wachsender Panik hilflos durch das All jagenden Jünglings, aber auch der reiche Symbolgehalt der regia Solis, des Sonnenpalastes57 oder das subtile Spiel mit der Zeit, die am Himmel wie auf der erzählerischen Ebene rätselhaft „out of joint“ ist58 – sie (und anderes mehr) machen Ovids Version zu dem Meisterwerk, das sie ist. Doch Nonnos’ Fassung ist mitnichten epigonal. Ob er Ovid nun gekannt hat oder eher nicht.59 Denn er findet einen eigenen, beinahe verspielten Zugang zu dem Mythos, der eine feine Balance hält zwischen innovativen Zutaten und etablierter Überlieferung. Den vertrauten Topos von der Liebe auf den ersten Blick zum Beispiel schildert er mit Gespür für Sinnlichkeit und Ästhetik, und bricht ihn so charmant wie launig mit den (voll barocker Fabulierlust geschilderten) maritimen Hochzeitsfeierlichkeiten. Das unfreiwillige kosmische Ballett tanzender, taumelnder, zuletzt in allerlei Handgemenge verstrickter Gestirne sprüht von graziösem Humor (und schlägt, unter uns gesagt, Ovids langatmige Kataloge der von Phaëthon in Brand gesetzten Gebirge und Gewässer um Längen). Den Reiz des Authentischen besitzen die Vignetten aus den Kinder- und Jugendjahren Phaëthons. Dank dieses quasi biographischen Zugangs gelingt ihm ein durch und durch stimmiges Porträt Phaëthons – der sich in einem Himmelfahrtskommando, auf das er sich von Kindesbeinen an unbeirrbar vorbereitet, als zweiter Helios verwirklichen will, und der nicht an Umständen scheitert, die letztlich größer sind als er (wie bei Ovid), sondern auf tragische Weise an sich selbst.60 Gibt Nonnos Hinweise für eine Lesart dieses Textes nach den erwähnten antiken Modellen – die er zumindest in Teilen gekannt haben dürfte? Wo weder Stolz noch Hybris regieren, sondern allenfalls tollkühner Leichtsinn, lässt sich auch kaum
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1255–1305), berühmt unter anderem für seine griechische Metamorphosen-Übersetzung, tausend Jahre früher gelebt. Die jüngste Stimme in diesem Sinne ist Döpp, Tränen passim. In seinem Referat der Fassung Ovids formuliert Servius (Aeneis 10,189) die Andeutung des augusteischen Dichters aus: Phaethon (…) cum doleret obiectum sibi ab Epapho, rege Aegypti, quod esset non de Sole, sed de adulterio procreatus eqs. Hier entzündet sich Phaethons katastrophenträchtige „crisis of identity“, so treffend Nagy, Phaethon, S. 155. Vgl. u.a. Otis, Ovid, S. 365; Döpp, Tränen, S. 147–149. Die regia Solis beschreibt kongenial Sols kosmische Aufgabe – was Phaethon, der blind an ihrem Bildprogramm vorbeieilt, im wahrsten Sinne des Wortes übersieht (vgl. oben S. 53). Vgl. Andrew Zissos/Ingo Gildenhard: Problems of Time in Metamorphoses 2, in: Ph. Hardie u.a. (Hrsg.): Ovidian Transformations, Cambridge 1999, S. 31–47, hier S. 34–39. Zurecht zurückhaltend Simon, Nonnos, S. 39: „Si Nonnos a connu le récit d’Ovide, il ne semble pas s’en être inspiré, tant les deux textes diffèrent l’un de l’autre.“ Der Mangel an Psychologie, den Döpp, Tränen, S. 146 Nonnos vorwirft, ist kaum nachzuvollziehen.
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über deren Strafe meditieren. Ebenso fehlen Hinweise auf eine astrophysikalische Allegorese. Auch nach Signalen für eine religiöse Botschaft sucht man vergebens. Denkbar wäre immerhin eine politische Deutung – doch kaum, wie es im Fall Ovids diskutiert wird, als negativer Fürstenspiegel. Denn Nonnos bettet die Episode in einen klaren außenpolitischen Kontext. Wie die Sonnenfinsternis Dionysos’ schweren Stand im Krieg gegen feindliche indische Potentaten ins Bild setzt, so Helios’ Rückkehr den siegreichen Gott des Weinstocks, der seine Feinde bezwingt: sie werden stürzen – wie einst Phaëthon. Vielleicht hatte Nonnos hier die Zeitgeschichte im Sinn, am ehesten Kaiser Theodosius II. († 450), der in vier Jahrzehnten auf dem oströmischen Thron wiederholt Krieg führte gegen mächtige Widersacher aus dem Osten: gegen das persische Großreich der Sassaniden, und gegen einen weit ernsteren Gegner : Attila, dessen hunnisches Vielvölkerheer schier unaufhaltsam ins alte Reich drängte.61 Doch das bleibt vage Vermutung. Nonnos, dem letzten großen Erben der überreichen epischen Tradition Griechenlands, dessen Qualitäten als ernstzunehmender Autor sui generis erst die jüngste Sekundärliteratur zu würdigen beginnt, ging es am ehesten schlicht um das literarische Spiel – um den Versuch, einem etliche Male traktierten Stoff neue Facetten abzugewinnen, oder – bleiben wir im Bild – einige sprühende Funken zu schlagen aus einem verglühten Himmelskörper.62 Der Versuch darf als gelungen gelten.
61 Diese Exegese hätte zwei spannende Entsprechungen auf lateinischer Seite. Claudian schildert in einem Gedicht Alarich als vermessenen Phaethon, der in seiner Hybris Rom angreife – und den Kaiser Honorius in die Schranken weise (carmen 28,159–192; vgl. Csaki , Influence, S. 139–141). Ähnlich geißelt Sidonius Apollinaris (carmen 7,403–410) die Westgoten als politische Brandstifter auf den Spuren Phaethons, und feiert Kaiser Avitus als Retter der kosmischen Ordnung. 62 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Simon, Nonnos, S. 44f. (zit. S. 45): In seiner Fassung des Phaethon-Mythos sei Nonnos „poète avant tout“.
Phaëthons Metamorphosen. Poetische Instrumentalisierungen des Mythos im lateinischen Mittelalter und in der Renaissance Thomas Haye Der Phaëthon-Mythos gehört zu jenen prominenten Stoffen der Weltliteratur, welche auch in die lateinische Dichtung des Mittelalters und der Renaissance Einzug gehalten haben.1 Allerdings findet innerhalb des Zeitraums zwischen 500 und 1550 keine kontinuierliche und stetig verlaufende Rezeption statt, sondern es lassen sich Schwerpunkte, Rezessionen, Latenzen und Renaissancen des Mythos beobachten. Es ist vielleicht zunächst überraschend, dass die Figur des Phaëthon und die mit ihm verbundene Sage innerhalb der frühmittelalterlichen Dichtung überhaupt keine Rolle spielen; die großen Poeten der karolingischen Epoche haben ihn schlichtweg ignoriert. Ein solcher Befund resultiert zweifelsohne aus der zu dieser Zeit insgesamt geringen Rezeption der ovidischen „Metamorphosen“ (dort die Phaëthon-Sage 1, 751–2, 400), welche hernach die wichtigste poetische Quelle für die Kenntnis des Mythos bilden – die eher knappen Erwähnungen bei Claudian, Vergil, Lucan und anderen Dichtern der Antike haben Ovids ausführliche Darstellung lediglich flankiert und abgerundet. Obwohl einer der bedeutendsten literarischen Repräsentanten karolingischer Kultur, Theodulf von Orléans, die Möglichkeit der allegorischen und moraldidaktischen Auslegung heidnischer Poesie, und damit auch der mythologischen Dichtung Ovids, programmatisch verkündet hat (c. 45: De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum a philosophis mystice pertractentur), ist dieses Programm im frühen Mittelalter doch niemals realisiert worden. So ist es wenig verwunderlich, dass bis zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrtausends der Name Phaëthon innerhalb der Dichtung nicht auftritt. Erst an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert setzt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der heidnischen Sagenwelt, die nun zum Teil erstmals moraldidaktisch interpretiert wird, auch eine Beschäftigung mit Phaëthon ein. Die zu dieser Zeit entstandene „Ecloga Theoduli“, ein anonym überliefertes Streitgedicht, erwähnt innerhalb eines Dialogs zwischen Alithia (der christlichen Wahrheit) und Pseustis (der paganen, aus griechischen Mythen gespeisten Lüge) die Geschichte 1
Vgl. einführend Hans-K. Lücke/Susanne Lücke: Helden und Gottheiten der Antike. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 477–486; Eric M. Moormann/Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten, Stuttgart 1995, S. 551–553; Jane Davidson Reid: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts 1300–1990s, New York/Oxford 1993, S. 888–892; G. Knaack: Art. „Phaëthon“, in: W. H. Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3,2, Leipzig 1902–1909, Sp. 2175–2202; G. Türk: Art. „Phaëthon“, in: Wilhelm Kroll (Hrsg.): Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, Bd. 19, Stuttgart 1938, Sp. 1508–1515.
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des Phaëthon als Beispiel einer Katastrophe, eines Weltuntergang und einer Apokalypse.2 – Jener Tag, an dem das Reich Gottes über das ethisch korrupte Diesseits obsiegen wird, ist durch den Phaëthon-Mythos gleichsam typologisch vorgezeichnet. Im Verlaufe des 11. und zu Beginn des 12. Jahrhunderts wird Phaëthon als mythologisches Exemplum sodann noch in einigen weiteren Carmina erwähnt, so im Lehrgedicht „Quid suum uirtutis“,3 beim so genannten Eupolemius,4 bei Alfanus von Salerno5 und Baudri von Bourgueil.6 Doch vor allem avanciert Phaëthon in der folgenden Dichtung des 12. und frühen 13. Jahrhunderts zu einer prominenten Figur: Sein Mythos ist zu dieser Zeit allgemein bekannt und wird ohne ideologische Berührungsängste von nahezu allen großen Poeten verwendet. Dass das Phaëthon-Motiv in der Poesie des Hohen Mittelalters zum literarischen Allgemeingut gehört, belegen so bedeutende Namen wie Gottfried von Winchester7, Hildebert von Lavardin8, Marcus Valerius9, Radulf von Caen10, Vitalis von Blois11, Bernardus Silvestris12, Serlo von Wilton13, Joseph Iscanus14, Johannes de Hauvilla15, Matthäus von Vendôme16, Stephan von Rouen17, Hugo von Mâcon18, Odo von Magdeburg19, die anonyme „Rudium doctrina“20, Alexander Neckam21 und Johannes de Garlandia.22 Diese imposante Liste demonstriert zugleich den Umstand, dass Phaëthon sich zu dieser Zeit in nahezu alle literarischen Gattungen eingeschlichen hat: in das Epos, die Hagiographie und Briefpoesie, das Lehrgedicht, die Elegienkomödie, die Bukolik und die Verserzählung. Der Grund für die poetische Omnipräsenz des Phaëthon-Mythos liegt nicht nur allgemein in der intensiven Ovid-Rezeption (die Junktur ‚aetas Ovidiana‘ ist hier vollauf gerechtfertigt), sondern speziell auch daran, dass er im Schulunterricht behandelt wird. So führt ihn Galfred von Vinsauf in sei-
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Ecloga Theoduli, vv. 245f.: Quadrupedes Phoebi quae cogit causa morari? // Experientur item Phaetontis saecula cladem. Quid suum virtutis, vv. 41 u. 1091–1104. Eupolemius, vv. 610f. Alfanus von Salerno, carm. 13, v. 720. Baudri von Bourgueil, carm. 134, vv. 177–182. Gottfried von Winchester, epigr. 185, v. 1. Hildebert von Lavardin, misc. 46, v. 49. Marcus Valerius, bucol. 4, v. 73. Radulf von Caen, Tancr., v. 418. Vitalis von Blois, Aul., v. 595. Bernardus Silvestris, Cosmographia, meg. 3, v. 40. Serlo von Wilton, carm. 24, v. 53. Joseph Iscanus, Ylias 6, v. 838. Johannes de Hauvilla, Architr. 5, v. 24. Matthäus von Vendôme, epist. 1, 1, v. 56. Stephan von Rouen, Draco, 2, v. 223. Hugo von Mâcon, Gesta milit., 6, v. 75. Odo von Magdeburg, Ern., 8, vv. 22 u. 320. Rudium doctrina, v. 293. Alexander Neckam, De laud., 1, v. 527, u. 3, vv. 304 u. 689. Johannes de Garlandia, epithal., 8, v. 323.
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ner „Poetria nova“ an, um ein Beispiel für die rhetorische Figur der Personifikation zu geben.23 Da die Produktion antikisierender und speziell ovidianischer Dichtung im spätmittelalterlichen Europa zumindest nördlich der Alpen erheblich reduziert ist,24 verwundert es nicht, dass in dieser Zeit, d.h. zwischen 1250 und 1450, auch der Phaëthon-Mythos kaum noch innerhalb der lateinischen Poesie begegnet. Anders hingegen in Italien: Beginnend mit dem italienischen Frühhumanismus, fährt Phaëthon dort nach einem kurzzeitigen Absturz erneut zu den Sternen hinauf. Erste, noch isolierte Belege findet man im Gedicht „De controversia hominis et fortune“ des Stefanardo da Vimercate aus dem 13. Jahrhundert25, auch in den „Epistole“ des Albertino Mussato26, ferner zweimal in den poetischen Briefen des Lovato Lovati27, sodann bei Convenevole da Prato in seiner an König Robert von Neapel adressierten Sammlung von Gedichten28 und in einem Carmen des Moggio Moggi an Petrarca.29 Häufig begegnet der Name sodann in der Hochrenaissance: Phaëthon tritt auf in der „Polydoreis“ des Antonio Baratella30 und im „Achilles“ des Antonio Loschi31, bei Basinio da Parma („Astronomica“)32, bei Cassandra Fedele33, bei Callimaco Esperiente34, in der „Constantinopolis“ des Ubertino Pusculo35, bei Polizian in dessen Oden36, bei Cornelio Paolo Amalteo37, Alessandro Braccesi38, Quinto Emiliano Cimbriaco39, Gerolamo Bologni40, im „Epithalamium“ des Matteo Andronico41, in den Elegien des Naldo Naldi42, bei Matteo Canale43 sowie in der 23 Galfred von Vinsauf, Poetria, vv. 461–465: Quinta coadiutrix, ultra protendere cursum, // Prosopopeia, ueni. Cui nulla potentia fandi, // Da licite fari donetque licentia linguam. // Sic Phetonteos tellus experta uapores // Est conquesta Ioui; … (hier wird auf Ovid, Metamorphosen, 2, vv. 272–300, angespielt). 24 Vgl. Thomas Haye: Ein spätmittelalterliches Antidot für Ovid-Liebhaber. Ambrogio Migli und der ,Antiovidianus‘ im Spiegel venezianischer Glossen, in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 203–223. 25 Stefanardo da Vimercate, De controversia hominis et fortune, v. 1100. 26 Albertino Mussato, epist., 18, v. 58. 27 Lovato Lovati, epist. 3 (ad Bellinum), v. 67, u. 4 (ad Compagninum), v. 32 . 28 Convenevole da Prato, regia carm., 88, v. 56. 29 Moggio Moggi, carm. 17, v. 7; zu Phaëthon bei Petrarca vgl. Robert Vivier: Frères du ciel. Quelques aventures poétiques d’Icare et de Phaéton, Brüssel 1962, S. 45–52. 30 Antonio Baratella, Polydoreis, 2, v. 771, u. 3, 452. 31 Antonio Loschi, Achilles, v. 749. 32 Basinio da Parma, astronom., 1, vv. 87, 172 u. 575. 33 Cassandra Fedele, epigr. ad Cassandram, v. 8. 34 Callimaco Esperiente, carm. 28, v. 3, u. 127, v. 1. 35 Ubertino Pusculo, Constantinop., 4, v. 593. 36 Angelo Poliziano, odae, 1, v. 22. 37 Cornelio Paolo Amalteo, carm. 12, v. 180, u. 15, v. 116. 38 Alessandro Braccesi, carm. 2, 8, v. 7. 39 Quinto Emiliano Cimbriaco, encomiast., 1, v. 269. 40 Gerolamo Bologni, Cand., 2, 13, v. 17, u. 3, v. 49. 41 Matteo Andronico, epithal., v. 269. 42 Naldo Naldi, elegiae ad Laurentium Medicen, 1, 26, v. 19, u. 28, v. 49. 43 Matteo Canale, carm. 1, v. 3.
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„Istrias“ des Raffaele Zovenzoni.44 Auch hier lässt sich feststellen, dass die Figur in nahezu alle literarischen Gattungen Einzug gehalten hat. Während allerdings Phaëthon von diesen Autoren eher peripher erwähnt wird, stechen vier Dichter hervor, die eine intensivere Auseinandersetzung mit der Figur erkennen lassen: In den „Epigrammata“ des Panfilo Sasso45 begegnet Phaëthon achtmal. Baptista Mantuanus verwendet den Mythos in seiner „Parthenice“ viermal46 und drei weitere Male im Gedicht „De calamitatibus temporum“.47 Tito Vespasiano Strozzi erwähnt Phaëthon mehrfach in den „Erotica“48, und hierunter einmal in einem Gedicht (Erot. 2, 17) über den zugefrorenen Fluss Po.49 Damit zeigt sich eine Verwendungsmöglichkeit, die noch ausführlicher zu erläutern ist: die Identifikation des Phaëthon mit jenem Fluss, in den er gemäß der Sage gestürzt sein soll. Schließlich begegnet Phaëthon bei Pontano in der „Urania“50 (dort spielt der Dichter auch mit dem Namen) und im Gedicht „Eridanus“: Im ersten Buch dieses Werks behandelt Pontano Phaëthon viermal51; im zweiten Buch widmet er das 18. Gedicht der Begegnung des Flusses mit dem gefallenen Gottessohn (Eridanus Phaetontem consolatur). Keineswegs aus chronologischen Gründen bildet Pontano einen, genauer gesagt: den Höhepunkt der poetischen Auseinandersetzung mit der Figur des Phaëthon. Kein anderer Dichter des Mittelalters oder der Renaissance hat sich in ähnlicher Intensität mit diesem Mythos beschäftigt und ihn in das Zentrum eines literarischen Textes gestellt. Innerhalb der Rezeption des Mythos ist nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art der poetischen Verwendung beachtlich. Kaum eine ovidische Figur ist so wandlungsfähig wie Phaëthon. Sie erlebt in der Rezeption des Mittelalters und der Renaissance zahlreiche Metamorphosen und wird für die unterschiedlichsten, zumeist bereits in antiker Dichtung approbierten Formen der Instrumentalisierung genutzt. Sechs sind hervorzuheben:52 44 Raffaele Zovenzoni, Istrias, 2, v. 19. 45 Panfilo Sasso, epigr., 1, 1, v. 3; 1, 6, v. 6; 1, 33, v. 4; 1, 60, v. 6; 3, 54, v. 10; 3, 65, v. 4; 3, 80, v. 2; 4, 77, v. 3. 46 Baptista Mantuanus, Parthenice prima, 1, v. 395, Parthenice secunda, 3, vv. 120 u. 595, u. Parthenice quinta, v. 5. 47 Baptista Mantuanus, de calamitatibus temporum, 1, v. 475, u. 3, v. 603. 48 Tito Vespasiano Strozzi, erot., 3, 4, v. 131, u. 5, 4, v. 40. 49 Erot. 2, 17 (De Pado concreto frigoribus. Ad Leonellum de Padi fluminis ariditate et quod durissima glacie sit astrictus): Qui Phaethonteos extinxit plurimus igneis, // Pene gelu absumptis nunc Padus aret aquis; // Atque repentinos borealia frigora ponteis // Struxere, et sicco peruia lympha pedi est; // … . 50 Giovanni Gioviano Pontano, Urania, 1, vv. 796 u. 1019; 3, v. 2; 5, vv. 275–281. 51 Giovanni Gioviano Pontano, Eridanus, 1, 2, v. 3; 1, 12, vv. 3 u. 7; 1, 30, v. 1. 52 Es ist bemerkenswert, dass die bei Arnulf von Orléans angebotene Deutung des von Ovid berichteten Phaëthon-Mythos bei den zeitgenössischen Dichtern offenbar keine Resonanz gefunden hat: Modo quasdam allegorice, quasdam historice, quasdam moraliter in ordine exponamus. 1. Cum Sol et Climene nimpha, quod idem est quod limpha, coeunt, necesse est ut aliquid gignant, ergo gignunt Phetontem id est segetes que Pheton dicuntur, quia pheton dicitur apparens et segetes genite ex umore et calore in superficie terre apparent. Sicut Pheton ad sui gloriam currum patris exigit, ita et segetes ad sui maturitatem calorem solis exigunt. Quo accepto resolvuntur segetes a spicis, sicut Pheton accepto curru resolvitur a corpore fulminatus. Zitiert
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Erstens die mythologische Instrumentalisierung oder: der erlogene Phaëthon. – Eine solche Verwendung liegt den mittelalterlichen Autoren offenkundig am nächsten. Hierbei wird Phaëthon als repräsentatives Beispiel für die Erfindungen, Lügen, Fabeln, Phantasien und Lächerlichkeiten des heidnischen und längst obsolet gewordenen Mythos angeführt. So benutzt ihn etwa Baudri von Bourgueil, obwohl keinesfalls ein leidenschaftlicher Gegner antikisierender Poesie, lapidar als Exempel zur Demonstration der Graeca fictitia.53 Zweitens die lokale Metonymie, oder Phaëthon als Fluss. – In der Dichtung des Hochmittelalters und der Renaissance wird der Name Phaëthon ganz selbstverständlich zur Ortsbestimmung, genauer: zur Bezeichnung des Flusses Po verwendet. So bietet etwa Alexander Neckam zu Beginn des 13. Jahrhunderts in seinem Lehrgedicht „De laudibus divinae sapientiae“ eine entsprechende Aitiologie.54 In gleicher Identifikation bezeichnet Angelo Poliziano in einem Gedicht an Bartolomeo Fonzio den Po als Phaetontis flebile bustum55; ähnlich nennt ihn Quinto Emiliano Cimbriaco Phaethontis grande sepulchrum.56 Tito Vespasiano Strozzi und Alessandro Braccesi sprechen hingegen vom Padus Phaethonteus57 (bzw. Phaetonteius)58, auch Sasso dichtet über „phaetontische Fluten“.59 Drittens die astrologische Metonymie oder: Phaëthon als Sonne. – Nicht selten verschmilzt Phaëthon mit der Figur seines Vaters Apoll. Ein solches Verfahren wendet schon Alfanus von Salerno im späten 11. Jahrhundert an, wenn er vom Phaethon renascens spricht und hiermit die aufgehende Sonne bezeichnet.60 Viertens die Metonymie für Feuer, Verbrennen und Weltuntergang oder: Phaëthon als Katastrophe. – Dass der Phaëthon-Mythos auch dazu genutzt werden kann, einen apokalyptischen Weltenbrand zu umschreiben, zeigte sich schon am Beispiel der „Ecloga Theoduli“. Im 12. Jahrhundert spricht der Epiker Joseph Iscanus in ähnlicher Weise von einer Phetontea favilla, um den Untergang Trojas poetisch zu paraphrasieren.61 Kurz darauf benutzt Hugo von Mâcon die Formulierung Fetontis fata zur Darstellung eines schweren Schicksalsschlages.62 Im 15. Jahrhun-
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nach Fausto Ghisalberti (Hrsg.): Arnolfo d’Orléans, un cultore di Ovidio nel secolo XII, Mailand 1932, S. 204. Baudri von Bourgueil, carm. 134, vv. 177–182: Interponuntur multarum tempora rerum, // Ambages ueterum Grecaque fictitia. // Tempora Deucalion humana elapsa reformat // Et sua Pirra uiro suggerit auxilium. // En auriga nouus, huius quoque nescius artis, // Terras exurit Pheton et ipse ruit. Alexander Neckam, de laud. 3, vv. 686–694: Tertius illorum dicitur esse Padus. // Indigenae fluuium censent hoc nomine, Graecus // Flumen ab Eridano nomen habere putat. // Nam puer Eridanus, qui Phaeton dicitur, huius // Fluminis extremum clausit in amne diem. // Fulmine succensus puer est submersus in undis, // Irato parent ignis et unda Ioui. // Succendi metuit orbis succensor, et ingens // Extingui tanto debuit amne calor. Angelo Poliziano, Bartholomaeo Fontio, v. 17. Quinto Emiliano Cimbriaco, encom., 1, v. 269. Tito Vespasiano Strozzi, erot., 5, 4, v. 40. Alessandro Braccesi, carm., 2, 8, v. 7. Panfilo Sasso, epigr., 3, 80, v. 2. Alfanus von Salerno, carm. 13, v. 720. Joseph Iscanus, Ylias, 6, v. 838. Hugo von Mâcon, Gesta milit., 6, v. 75.
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dert verwenden Baptista Mantuanus und Bologni, im 16. Jahrhundert dann auch Cornelio Amalteo den Namen zur Bezeichnung eines Weltuntergangs und apokalyptischen Ereignisses.63 Fünftens die moraldidaktische Verwendung: Phaëthon als Beispiel der Unvernunft und Unfähigkeit. – Dass man aus dem Studium des Mythos einen moraldidaktischen Nutzen ziehen kann, hat bereits die Antike herausgearbeitet. Ähnlich betont Albertino Mussato, dass man aus der Lektüre der in den ovidischen „Metamorphosen“ berichteten Phaëthon-Geschichte fructus und virtus gewinnen könne.64 Der Leser muss sich nur jene Lehren vor Augen halten, die Apoll seinem Sohn vor der Fahrt gegeben hat. Doch welche konkreten Lehren kann man aus diesem Mythos ziehen? In dem als „Rudium doctrina“ betitelten Lehrgedicht erscheint Phaëthon als ein Beispiel für unüberlegtes Handeln, für ein Exempel mangelnder discrecio.65 In ähnlicher Weise betont der hochmittelalterliche Epiker Stephan von Rouen, Phaëthon habe es niemals gelernt, einen Sonnenwagen zu fahren66; der Akzent liegt hier somit deutlicher auf der fehlenden Ausbildung. Sechstens eine weitere moraldidaktische Verwendung: Phaëthon als Modell sozialen Verhaltens. – Lovato Lovati leitet aus dem Phaëthon-Mythos ein bestimmtes Sozialverhalten ab: Man solle als Mensch nicht nach allzu Hohem streben, denn dort oben sei es gefährlich.67 Baptista Mantuanus setzt hier noch einen anderen Akzent: Er sieht Phaëthon als Beispiel für die prinzipielle Vergänglichkeit von Macht und Reichtum.68 Insbesondere die weltlichen Fürsten und ihre politischen Berater leben gefährlich und werden schließlich wie Phaëthon tief fallen. Im Gegensatz zur antiken Dichtung sowie zur Emblematik der Frühen Neuzeit kennen Mittelalter und Renaissance jedoch offenbar keine politische Instrumentalisierung des Mythos. Nur ganz isoliert und lediglich angedeutet findet man eine solche Auslegung bei Matthäus von Vendôme, dem wohl literarisch innovativsten Schriftsteller des hohen Mittelalters. In einem von ihm komponierten Modellbrief wendet sich ein leidgeplagter Konvent an den Papst:
63 Baptista Mantuanus, de calamitatibus temporum, 3, 600; Gerolamo Bologni, Cand., 3, 63, v. 49; Cornelio Paolo Amalteo, carm., 12, v. 180. 64 Albertino Mussato, epist., vv. 55–58: … cauta si mente repenset // Lector, ab inclusa fructum uirtute reuellet: // Tolle patris monitus, prebet quos fabula, Phebi // In natum Phetonta suum; … . 65 Rudium doctrina, vv. 289f. u. 293f.: Nam quecunque facis, si non discreueris ante, // Ad reprobum finem sepe uenire solent. // … // Si genitus Phebi Pheton discrecior esset, // Non aliqua tellus parte perusta foret. 66 Stephan von Rouen, Draco, 2, vv. 221–224: Currum sic auriga regens, dum flectere nescit, // Se, sua confringit, labitur, isque perit, // Solaris currus Phaethon dum rexit habenas, // Inscius artis erat, terra perusta dolet. 67 Lovato Lovati, epist., 3, vv. 66–68: Tu, memor ycharie metuis sublimia penne, // Et phetontee retinens exempla fauille, // Astra fugis; … . 68 Baptista Mantuanus, Parthenice secunda, 3, vv. 119–122: Et quid opes, aurumque Midae monuere? Quid ausus, // Quid Phaetontis equi? Nisi quod uota improba regum // Diuitiaeque abeunt pessum, secumque ruinis // Inuoluunt grauibus reges, rerumque ministros?
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Te pastore rati, tuti te preside, freti Te duce conquerimur tristia queque pati. Solares radios qui poscit apostata, fiat Pheton et sitiens lora paterna ruat. (Epist. 1, 1, vv. 53–56) Phaëthon erscheint hier als ein Apostat, als ein vom politischen Konsens abweichender Usurpator, welcher sich in unrechtmäßiger Weise ein hohes Amt (sc. des Bischofs oder Papstes) angemaßt hat und für dieses Vergehen vom Schicksal bestraft wird. Eine solche Ausdeutung ist sicherlich bereits deshalb gewagt, weil Phaëthon doch mit Zustimmung seines Vaters Apoll den Sonnenwagen bestiegen hat. Aber für den Umstand, dass eine solche (kirchen-)politische Interpretation unter den Autoren des Mittelalters und der Renaissance keine Verbreitung gefunden hat, ist zweifellos noch ein weiterer Grund verantwortlich: In nachantiker Zeit wird die pagane Mythologie primär ethisch ausgelegt. Wer sich im Mittelalter mit ihr befasste, musste dies durch die Herausstellung eines gemeinschaftlichen Nutzens rechtfertigen. Eine politische Deutung fiel jedoch nicht in eine solche Kategorie. In der Renaissance hingegen war die antikisierende lateinische Dichtung überwiegend auf Herrscherfiguren ausgerichtet und somit primär panegyrisch orientiert. Affirmation, nicht Subversion war ihr Geschäft. Ein politischer Phaëthon wurde auch hier nicht benötigt.
Ovids Phaëthon in der textbegleitenden Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts Gerlinde Huber-Rebenich Nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um die Mitte des 15. Jahrhunderts bemühte man sich schon bald um adäquate Schmuckformen für das neue Medium. Eine beliebte Spielart war die Textillustration, die bereits seit etwa 1460 in der Technik des Holzschnitts ausgeführt wurde. Illustrationen finden sich zunächst vor allem in Bibeldrucken, aber auch in Werken des lateinischen Altertums. Unter diesen gehörten die ‚Metamorphosen‘ des Ovid zu den meistrezipierten, vermittelten sie doch eine umfassende Kenntnis der antiken Mythologie, die nicht nur auf antiquarisches Interesse stieß, sondern für Literatur und Kunst einen reichen Fundus an bildhaften Formeln zur Darstellung allgemeiner oder zeitspezifischer Inhalte bereitstellte. Mit den illustrierten Ovid-Ausgaben1 geriet ein immenses Repertoire an mythologischen Bildmotiven in Umlauf – eine leicht zugängliche Inspirationsquelle für Kunsthandwerker und Künstler. Diese Funktion ist nicht zu unterschätzen, da viele Renaissancekünstler – wie im Übrigen auch ihre Auftraggeber – der lateinischen Sprache nicht mächtig waren. Ihre Kenntnis der antiken Mythologie kann mithin nicht auf der Lektüre von Originaltexten beruht haben, es sei denn durch die Zusammenarbeit mit gelehrten Humanisten.2 Außer volkssprachlichen Übertragungen kam daher bei der Vermittlung mythologischer Kenntnisse der genuin bildlichen Überlieferung und der Neuschöpfung ikonographischer Muster in der Buchgraphik eine entscheidende Rolle zu.3 Am Beispiel des Phaëthon-Mythos wollen wir uns im Folgenden die verschiedenen Darstellungsmodi vergegenwärtigen, die in den ersten hundert Jahren der 1
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Die erste umfassende Untersuchung zu diesem Gegenstand stammt von Max D. Henkel: Illustrierte Ausgaben von Ovids Metamorphosen im XV., XVI. und XVII. Jahrhundert, in: Vorträge der Bibliothek Warburg (6), 1926–1927, S. 58–144. Die gesamte textbegleitende Druckgraphik zu Ovids ‚Metamorphosen‘ wird dokumentiert in: Gerlinde Huber-Rebenich/Sabine Lütkemeyer/Hermann Walter: Ikonographisches Repertorium zu den Metamorphosen des Ovid. Die textbegleitende Druckgraphik. Bd. I.1: Simultandarstellungen, erscheint Berlin 2010, Bd. Ⅰ.2: Monoszenische Darstellungen, erscheint Berlin 2013, Bd. II: Sammeldarstellungen, Berlin 2004. Vgl. Bodo Guthmüller: „Per dare invenzione al pittore“. Auftraggeber, Literat und Maler in Annibal Caros Briefen an Vicino Orsini, in: Bodo Guthmüller/Berndt Hamm/Andreas Tönnesmann (Hrsg.): Künstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance, Wiesbaden 2006, S. 31–46, hier: 41, mit weiterer Literatur. Vgl. Michael Thimann: Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen 2002, S. 50 mit Verweis auf Carlo Ginzburg: Tiziano, Ovidio e i codici della figurazione erotica nel Cinquecento, in: Paragone, Heft 24, 1978, S. 3–24.
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Textillustration realisiert wurden, und anhand einer überschaubaren Auswahl einflussreicher Serien vor Augen führen, welche Spielräume innerhalb dieser Gattung ausgeschöpft werden konnten. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei dem Zusammenhang zwischen Bild und Text gelten.4 Bei den Darstellungsmodi sind zwei Grundtypen zu unterscheiden: zum einen die als altertümlich oder mittelalterlich geltenden Simultandarstellungen, die in narrativer Linearität die wichtigsten Handlungsschritte einer Episode in einem einheitlichen Bildraum zur Anschauung bringen, zum andern die ‚moderneren‘ monoszenischen Darstellungen, die die Einheit von Raum und Handlung herstellen, indem sie sich im Wesentlichen auf eine Szene pro Bild beschränken. Der Umschlag von der einen zur anderen Darstellungsweise findet, jedenfalls tendenziell, um die Mitte des 16. Jahrhunderts statt.5 Die bedeutendste Serie von Simultanbildern innerhalb der Metamorphosenillustrierung ist die Holzschnittfolge, die 1497 erstmals den ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘ des Giovanni dei Bonsignori begleitet.6 Sie wurde nachweislich nach dem Text gearbeitet, den sie in dieser Erstausgabe illustriert.7 Der ‚Ovidio meta4
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S. zu diesem Gegenstand auch Pierre Maréchaux: Les métamorphoses de Phaëton: étude sur les illustrations d’un mythe à travers les éditions des Métamorphoses d’Ovide de 1484 à 1552 [recte: 1557], in: Revue de l’art, Heft 90, 1990, S. 88–103, der stärker auf die Texttraditionen eingeht und z. T. andere Bildbeispiele heranzieht als die in diesem Beitrag behandelten (von diesen sind die Abb. 1–3 und 5–8 auch bei ihm berücksichtigt); Maréchaux‘ Aussagen sind z. T. korrektur- und ergänzungsbedürftig, da er bei der Konzentration auf das Phaëthon-Motiv die Merkmale der Gesamtserien mit ihrer eigenen Tradition außer acht lässt, wodurch es im einzelnen zu Fehleinschätzungen kommt. Grundlegend für die Unterscheidung der verschiedenen Darstellungstypen Kurt Weitzmann: Illustration in Roll and Codex. A study of the Origin and Method of Text Illustration, Princeton 1947, 1970; zur Umsetzung von Narration im Bild s. z.B. auch Hans Belting/Dagmar Eichberger: Jan van Eyck als Erzähler, Worms 1983; Wolfgang Kemp: Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987; ders. (Hrsg.): Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung, München 1989; ders.: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996. [Giovanni dei Bonsignori] Ouidio methamor- // phoseos vulgare. – Kolophon: Fine delo Ouidio Metamorphose- // os uulgare. Stampato in Venetia per // Zoane rosso uercellese ad instantia del // nobile homo miser Lucantonio zonta // fiorentino del. M. CCCC. LXXXXVII. // A di. X. del mese de Aprile [Venedig: Giovanni Rosso für Lucantonio Giunta, 1497]. Kritische Edition: Erminia Ardissino (Hrsg.): Ovidio Metamorphoseos vulgare / Giovanni Bonsignori da Città di Castello, Bologna 2001; maßgebliche Studie: Bodo Guthmüller: Ovidio metamorphoseos vulgare. Formen und Funktionen der volkssprachlichen Wiedergabe klassischer Dichtung in der italienischen Renaissance, Boppard am Rhein 1981; Untersuchung der Illustrationen: Evamaria Blattner: Holzschnittfolgen zu den Metamorphosen des Ovid. Venedig 1497 und Mainz 1545, München 1998. S. Gerlinde Huber-Rebenich: Die Holzschnitte zum Ovidio Methamorphoseos vulgare in ihrem Textbezug, in: Hermann Walter/Hans-Jürgen Horn (Hrsg.): Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit. Der antike Mythos in Text und Bild, Berlin 1995, S. 48–57 (mit Tafeln 12–15); zu den Derivaten von dieser Serie und ihren Kontexten s. dies.: Kontinuität und Wandel in der frühen italienischen Ovid-Illustration. Die Tradition der Holzschnitte zu Giovanni dei Bonsignoris Ovidio metamorphoseos vulgare, in: Heidi Marek/Anne Neuschäfer/ Susanne Tichy (Hrsg.): Metamorphosen. FS für Bodo Guthmüller zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2002, S. 63–79.
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morphoseos vulgare‘ ist keine wörtliche Übersetzung des ovidischen Epos, sondern eine bereits zwischen 1375 und 1377 entstandene Prosabearbeitung, die das Original zum Teil paraphrasiert, zum Teil aber auch abwandelt: Wo Ovid einzelne Sagen nur andeutet, erzählt Bonsignori die komplette Episode, indem er auf verschiedene mythographische Vorlagen zurückgreift. Auch bietet er zuweilen konkurrierende Versionen eines Mythos an. Dem besseren Verständnis dienen geographische und antiquarische Erklärungen. Durch diese Erweiterungen wird der ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘ zu einem regelrechten Mythenkompendium. Die erweiterte Paraphrase der ovidischen Verwandlungssagen wird zudem durch allegorische Auslegungen ergänzt. Insgesamt passt Bonsignori das antike Werk an den Erfahrungs-, Wissens- und Interessenshorizont des zeitgenössischen Publikums an. Die Leser solcher Übertragungen waren freilich nicht die lateinkundigen Gelehrten, sondern die reichen Bürger der oberitalienischen Stadtstaaten, die durch die volkssprachliche Vermittlung an den Gegenständen des humanistischen Bildungsideals teilhaben konnten. Die Phaëthon-Illustration (Abb. 1) steht am Anfang des zweiten Buches, direkt vor dem ersten Kapitel, das mit „Casa dil sole“ überschrieben ist. Und ebendieses ‚Haus‘ nimmt denn auch den gesamten linken Bildraum ein: Der Thron des Sol befindet sich erhöht in einer offenen Säulenhalle, vor der am Boden Phaëthon kniet. Im oberen rechten Bildteil gehen die Pferde mit dem Sonnenwagen durch, während Phaëthon sich bereits im freien Fall befindet. Von links eilen seine drei Schwestern, die Heliaden, herbei.8 Am rechten Flussufer steht händeringend Phaëthons Freund und Verwandter Cygnus.
Abb. 1: Bonsignori, Venedig 1497 (Volltitel in Anm. 6), fol. XIr
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Wäre man – z.B. als oberitalienischer Notar des ausgehenden Quattrocento – in der antiken Mythologie nicht ganz sattelfest, könnte man ohne Kenntnis des Textes den Bildinhalt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht identifizieren. Was man sieht, ist folgendes: Einer kniet vor einem erhabenen Anderen (ob ein Bittender vor einem Herrscher oder ein Betender vor [einem] Gott ist weder an der Architektur des Gebäudes9, noch an den Attributen10 noch am Gestus des Knienden eindeutig zu erkennen) – einer stürzt, befremdlicherweise vom Himmel, aus einem Pferdegespann (dass es sich dabei um dieselbe Person wie den Knienden handelt, ist nicht offensichtlich) – drei Frauen und ein Mann eilen bestürzt herbei. Erst die Kombination mit dem Text macht die Bildaussage verständlich und eindeutig. Freilich hat der Inventor des Bildmotivs weder alle Beschreibungselemente noch alle Schritte der Handlung vollständig umgesetzt. So ‚fehlen‘ z. B. die reiche Ornamentik des Sonnenpalastes und der Beginn der Fahrt auf dem Sonnenwagen. Aber die wichtigsten Sequenzen sind vorhanden: die unheilvolle, vermessene Bitte des Phaëthon, ohne die die Handlung gar nicht erst ins Rollen gekommen wäre, die daraus zwangsläufig resultierende Katastrophe und die Reaktion einer Auswahl Betroffener auf das tragische Geschehen.11 So lassen sich denn anhand der Illustration die wesentlichen Elemente rekonstruieren und memorisieren. Der didaktisch wirksame Medienwechsel fördert dabei die Einprägsamkeit. Man kann sich fragen, weshalb die Holzschnitte nicht am Ende der Textpassagen stehen, die sie in ‚ihrer Sprache‘ resümieren, sondern ihnen vorausgehen. Zwei Antworten sind möglich: Zum einen macht ein rätselhaftes Bild neugierig auf die folgende ‚Lösung‘. Zum anderen lässt sich die Funktion dieser Bilder durchaus mit denen von ‚argumenta‘, knappen Zusammenfassungen im Medium Sprache, vergleichen. Auch diese gehen den Texten, auf die sie sich beziehen, immer voraus, obwohl sie oft erst durch die Lektüre der betreffenden Texte in ihrer Knappheit ganz verständlich werden. In ihrem Kontext haben die Bilder eine gliedernde, eine motivierende und eine didaktische Funktion – aber wohlgemerkt: nur dort.12 Sie bedürfen dieses Kontexts, um auf allen genannten Ebenen ihre volle Wirksamkeit entfalten zu können, während der Text auch ohne sie auskommt.13 8
Die Dreizahl legt nahe, dass es sich um die Heliaden handelt, nicht um die Nymphen und Naiaden, die den Leichnam bestatten; ganz auszuschließen ist letztere Deutung allerdings nicht. Diese Feststellung gilt mutatis mutandis auch für die weiter unten behandelten Derivate aus dem Phaëthonbild von 1497. 9 Palast oder Tempel? 10 Der Strahlenkranz, der Sol umgibt, spricht für seine Göttlichkeit; das Szepter, das er in der Linken hält, gehört nicht zu den gängigen Attributen des Sonnengottes und kennzeichnet die Figur eher als Herrscher. 11 Diese drei Sequenzen bilden in der Folgezeit mit einem gewissen Spielraum für Variationen geradezu den Kanon der immer wieder ins Bild gesetzten Motive. 12 Die Funktion der Illustrationen auf der Basis des Bild-Text-Bezugs wurde ausführlich untersucht von Blattner, Holzschnittfolgen, S. 170, mit deren Ergebnissen die folgenden Beobachtungen übereinstimmen. 13 Aufgrund dieser nachgeordneten Stellung haftet der Textillustration in der künstlerischen Bewertung oft der Geruch der mangelnden Kreativität an; vgl. dazu Peter Schmidt: Literat und
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Wie der Phaëthon-Holzschnitt haben auch alle übrigen Bilder dieser Serie keine über den Text hinausgehende Botschaft. Sie enthalten keine Kommentare oder Interpretationen zum Text, sondern dienen – auf der Ebene des Literalsinns – allein der Inhaltsvermittlung. Selbst die in den ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘ integrierten Allegorien spiegeln sich in den Bildern nicht wider. Eine andere Funktion, die gerade in der Frühzeit des Buchdrucks jedoch nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die ornamentale. Das mit Holzschnitten geschmückte Buch fand schnell seine Liebhaber. Die Faszination der gestalterischen Möglichkeiten des neuen Mediums ließ zuweilen die enge Bild-Text-Relation in den Hintergrund treten. So griffen denn Verleger zur formalen Aufwertung ihrer Bücher häufig auf existierende Serien zurück oder ließen mehr oder weniger qualitätvolle Kopien davon anfertigen, die sie an mehr oder weniger passenden Stellen in ihren Ausgaben verteilten. Dieses Schicksal wurde auch den Holzschnitten von 1497 und ihren Abkömmlingen zuteil, die in verschiedenen Metamorphosenausgaben und -bearbeitungen abgedruckt wurden.14 Im Falle des Phaëthon-Motivs bleibt eine sinnvolle Text-Bild-Relation vergleichsweise konstant erhalten, weil dieser Mythos – anders als manche anderen – in verschiedenen Textbearbeitungen bezüglich der wesentlichen Handlungselemente kaum Varianten aufweist.15 Nicht nur durch die häufige Wiederholung des Originalholzschnitts und seiner ikonographisch treuen Kopien, sondern auch durch die Verbreitung freierer Nachfertigungen prägte sich die für die Ausgabe von 1497 gefundene Bildkonzeption in das visuelle Gedächtnis des Publikums ein. Die kleinformatigen Holzschnitte, die erstmals 1513 in einem lateinischen Ovid mit dem Kommentar des Humanisten Raphael Regius abgedruckt werden16, nehmen alle Bildelemente der Vorlage auf (Abb. 2): Phaëthon kniet vor dem Sonnengott, der wieder in einer Säulenhalle thront. Sein unpassendes Attribut, das Szepter, ist hier weggelassen. Stattdessen „selbgewachsner Moler“. Jörg Wickram und der illustrierte Roman der Frühen Neuzeit, in: Bodo Guthmüller/Berndt Hamm/Andreas Tönnesmann (Hrsg.): Künstler und Literat, S. 143– 194, hier 145. 14 Vgl. Henkel, Illustrierte Ausgaben, S. 69–71; Huber-Rebenich, Kontinuität und Wandel. 15 Eine ‚Zweitverwendung‘ erfährt die Phaëthon-Illustration in den Ausgaben des ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘, die 1517 und 1523 (more veneto 1522) in Venedig und 1519 in Mailand erschienen (in allen Fällen handelt es sich um Kopien nach dem Original, nicht um dieses selbst). Dort wird der Holzschnitt auch zu Beginn des Werkes vor dem Proömium eingefügt, das die Form eines Gebets aufweist. Der Gestus des Phaëthon wurde offenbar als dafür passend empfunden; die übrigen Bildinformationen (Absturz, Heliaden, Cygnus) sind bei dieser Zuordnung jedoch überschüssig und funktionslos. Vgl. Guthmüller, Ovidio metamorphoseos vulgare, S. 285 u. 288. 16 Ouidii // Metamorphosis cu[m] luculentissimis Ra // phaelis Regii enarrationibus: qui= // bus cu[m] alia q[uae]dam ascripta sunt: q[uae] i[n] // exemplaribus antea impressis // non inueniuntur: tum eorum // apologia quae fuerant // a quibusdam re= // praehensa. // Cum Gratia & Priuilegio. – Kolophon: Impressum Venetiis Per Ioannem Thacuinum de Tridino. M. D. XIII [Venedig: Johannes Thacuinus de Tridino, 1513]. Obwohl humanistische Ausgaben des lateinischen Originals in der Regel eher nicht illustriert sind (s. o.), wurde diese Serie – in Anlehnung an die Vorlagen von 1497 eigens für diese Edition neu geschaffen (zur Anpassung der Bildkonzepte an den lateinischen Ovid vgl. Huber-Rebenich, Holzschnitte, S. 56 u. dies., Kontinuität, S. 69f. u. 73f.).
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weist seine Linke in Richtung Phaëthon, der nicht demütig zu Boden blickt, sondern sein Gesicht erhebt. Damit soll wohl das Gespräch zwischen Vater und Sohn in Szene gesetzt werden. Die minimale Änderung wirkt dem – irrigen – Eindruck einer Anbetung, der beim Anblick des Originals entstehen konnte, entgegen.
Abb. 2: Ovid, Venedig 1513 (Volltitel in Anm. 16), fol. XVIr
Im rechten oberen Bildteil wird Phaëthon aus dem Wagen katapultiert. Die Zahl der Heliaden ist, sicher aus Platzgründen, auf zwei reduziert. Obwohl man bei den Benutzern einer lateinischen Metamorphosenausgabe mit humanistischem Kommentar viel eher Kenntnisse der antiken Mythologie – und damit ein Vorverständnis für die Bilder – voraussetzen kann als bei der Leserschaft des ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘, sind hier einzelnen Personen und Handlungssequenzen Beischriften hinzugefügt. Diese legen die Identifikation eindeutig fest und verstärken so die didaktische Funktion – was in diesem Kontext sicher gar nicht erforderlich gewesen wäre. Allerdings bleibt die Realisierung dieser Verständnishilfen häufig hinter der gut gemeinten Intention zurück, und es kommt zu Fehlzuordnungen, Druckfehlern und falschem lateinischen Sprachgebrauch.17 Auch diese kleinformatige Serie wurde häufig wieder verwendet und kopiert – erstaunlicherweise meistens für lateinische Ausgaben. Die Qualität wird dabei nicht 17 Statt „Phaeton e[st] praecipitatur“ müsste es korrekt entweder ‚est praecipitatus‘ oder nur ‚praecipitatur‘ heißen. – Es ist sehr die Frage, ob man es zum Verständnis des Bildes wirklich für nötig befunden hat, unter den Gegenstand, der ganz offensichtlich ein Wagen ist, „currus“ zu schreiben. Wahrscheinlich sollte hier ursprünglich Cygnus bezeichnet werden. Denkbar ist, dass der Holzschneider (s)eine Notiz nicht mehr entziffern und/oder mit diesem Namen nichts anfangen konnte und sich deshalb, angesichts des Wagens, für die leichtere Lesart „currus“, entschied (die zugegebenermaßen zumindest rudimentäre Lateinkenntnisse voraussetzt). Insgesamt wurde die Zuordnung der Beischriften in dieser Serie ganz offensichtlich nicht von einem Humanisten kontrolliert.
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unbedingt besser, was der Phaëthon-Holzschnitt, der für eine 1526 in Tusculum erschienene Edition angefertigt wurde18, belegt (Abb. 3): Das Pferd sieht eher aus wie ein Esel; die Beischrift zum Wagen hat ein R verloren, und das schon auf dem Original fehlerhafte „Phaeton e[st] praecipitatur“ ist hier vollends zu „Phaet[on] principia“ verballhornt.
Abb. 3: Ovid, Tusculum 1526 (Volltitel in Anm. 18), fol. XXXIIv
Höheren Ansprüchen genügen hingegen die Holzschnitte, die in Anlehnung an die Serie von 1497 für den ‚Ovidio metamorfoseos in verso vulgar‘ des Niccolo degli Agostini hergestellt wurden und erstmals 1522 in Venedig erschienen.19 Außer auf die Originale von 1497 greift der Künstler gelegentlich auf aus diesen abgeleiteten Vorlagen zurück und nimmt manchmal auch Elemente auf, die allein dem AgostiniText eignen.20 Insgesamt handelt es sich bei dieser Serie um Textillustrationen im eigentlichen Sinne, die die gleichen Funktionen erfüllen wie der ‚Archetyp‘ von 1497. Der Holzschnitt zu Phaëthon lehnt sich besonders eng an diese Vorlage an (Abb. 4). Wir sehen wieder die bekannte Szenenfolge. Bemerkenswert sind allein 18 P. OVIDII // METAMOR // PHOSIS CVM LVCV // lentissimis Raphaelis // Regij enarrationi // bus: quibus cum // alia q[uae]da[m] ascri // pta sunt: q[uae] in exemplaribus antea // impressis non inueniuntur: // tum eorum apologia que // fuerant a quibusdam // reprehensa. – Kolophon: Imp[re]ssum Tusculani apud Benacu[m]. In edi- // bus Alexa[n]dri Paganini. M.D.XXVI [Tusculum: Alessandro de‘ Paganini, 1526]. 19 Tutti gli Libri de Ouidio Metamorphoseos tra- // dutti dal litteral in verso uulgar con le sue Allegorie in prosa con gratia // & privilegio. Item sub pena exco[m]municationis late sen // tentie come nel breue appare & historiato. – Kolophon: Qui finisse Louidio Metamorphoseos composto per Nicolo agu // stini, & stampato in Venetia per Iacomo da Leco ad instan- // tia de Nicolo Zoppino & Vince[n]tio di Pollo suo com- // pagno correnti gli anni del Signore. M. D. XXII. // a giorni sette di Magio regnante lo inclito // Principe messer Antonio Grimani [Venedig: Jacomo da Leco für Nicolo Zoppino und Vincentio di Pollo, 1522]. 20 Vgl. Huber-Rebenich, Kontinuität, S. 74–77.
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Abb. 4: Agostini, Venedig 1522 (Volltitel in Anm. 19), fol. B5v
zwei Elemente: Zum einen sind hier erstmals alle vier Pferde des Sonnengespanns ins Bild gesetzt. Da alle in Frage kommenden Vorlagentexte von einer Quadriga ausgehen, ist dies kein Agostini-Spezifikum; nur hat der Künstler im Gegensatz zu seinen Vorgängern den Text wörtlich genommen. Und dies noch in einer anderen Hinsicht: In der Phaëthon-Sage gehen die Pferde durch und stieben nach dem gewaltsamen Eingreifen Jupiters wild auseinander; aber sie stürzen nicht ab. Fast alle Ovid-Illustratoren zeigen jedoch auch die Pferde im mehr oder weniger freien Fall. Der Agostini-Künstler bildet eine der wenigen Ausnahmen, vielleicht auch nur aufgrund eines Mangels an expressiven Fähigkeiten. Jedenfalls gibt sein – vielleicht zu – geordnet dahineilendes Viergespann den Ovid- (und Bonsignori- und Agostini-) Text in dieser Hinsicht treuer wieder als die meisten anderen Illustrationen, deren Schöpfer das Thema ‚Fall/Absturz‘ mit einer umfassenden extremen Abwärtsbewegung umsetzten, wobei sie unbewusst in Widerspruch mit dem Text gerieten oder diesen Widerspruch um der gesteigerten Dramatik und Dynamik willen in Kauf nahmen. Das zweite bemerkenswerte Element ist Cygnus, der hier in die falsche Richtung läuft. Er scheint sich dem knienden Phaëthon zu nähern, statt auf den Stürzenden zuzueilen. Da der Künstler ansonsten recht bewusst mit seinen Vorlagen umgeht, ist dieser Eindruck sicher unbeabsichtigt entstanden. Man muss den Mythos und die Bildtradition kennen, um diese Figur richtig deuten zu können. Die dem Text untergeordnete, dienende Funktion der Bilder ist die idealtypische Rolle der Textillustrationen in Ovid-Ausgaben bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Ihre Ausdrucksform ist in der Regel die Simultandarstellung, die den Inhalt der Handlung im Medium Bild nacherzählt.21 Diese ist nicht mehr gefragt, so21 Die Fortführung von Bildtraditionen durch den Wiederabdruck existierender Serien ohne Rücksicht auf den Kontext läuft der Funktion der idealtypischen Textillustration entgegen. Das
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bald sich die Kenntnis der antiken Mythologie bei den potentiellen Rezipienten der Bücher – Lesern, Künstlern, Auftraggebern von Kunstwerken – als Allgemeingut durchgesetzt hat und sobald einschlägige Hilfsmittel und Nachschlagewerke leicht zugänglich in ausreichender Zahl vorhanden sind.22 In dieser Phase setzt sich auch ein neuer Darstellungsmodus durch: die monoszenische Illustration. Hier findet eine Konzentration auf jeweils ein möglichst expressives Moment der Handlung statt, allerdings nicht in dem Sinne, dass pro Mythos nur noch ein Bild konzipiert würde. Vielmehr werden häufig verschiedene Sequenzen eines Handlungszusammenhangs auf verschiedene Bildräume verteilt. Dadurch werden diese Sequenzen aus ihrem narrativen Kontext herausgelöst und stehen für sich. Sie sind nicht mehr Teile einer linearen Erzählung, sondern Momentaufnahmen. Der Gehalt der Einzelszene tritt dadurch viel prägnanter in den Vordergrund. Während die Simultandarstellungen mit ihrer Szenenreihung den Gang der Handlung vermitteln wollten und dabei auf die Wiedergabe des Innenlebens weitgehend verzichteten (abgesehen von standardisierten Pathosformeln wie Händeringen u. ä.), kommt es nun vermehrt auch auf die Visualisierung von Emotionen und Stimmungen an.23 Die Formel, die das Kunstverständnis der Zeit bestimmt, lautet ‚ut pictura poe24 sis‘ : Poesis ist nicht allein das epische Erzählen von Handlung, sondern – besonders in der Lyrik – vor allem die Vermittlung von Gefühlszuständen, die sie kunstvoll in poetische Bilder kleidet. Will die Malerei den Wettstreit mit der Dichtung aufnehmen, muss sie sich auf dieser Ebene mit ihr messen. Die gemalten – oder in unserem Fall gedruckten – Bilder müssen zeichenhaft auch für tiefere Dimensionen stehen als allein für den ikonographisch beschreibbaren Inhalt. Dieser bedarf in den einschlägigen Kreisen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts weit weniger als zuvor der multimedialen Didaxe. Vielmehr geht es jetzt um die Frage, was ein Bild ausdrücken kann, was es ‚versinnbildlicht‘. Häufig werden nun Texte zu Bildern geschrieben, statt Bilder nach Texten gestaltet. Es ist bezeichnend, dass viele der traditionsbildenden Metamorphosenserien der Folgezeit ursprünglich nicht als Textillustration i.e.S. konzipiert waren, sondern – wie auch ihre Derivate – allenfalls nachträglich als solche genutzt wurden. Am deutlichsten tritt das neue Verhältnis von Bild und Text in den Emblembüchern zutage, die in dieser Zeit Hochkonjunktur haben.25 Ihre ‚picturae‘ entstam-
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ist kein Widerspruch, der die hier beschriebenen Relationen als falsch entlarvte, sondern eine – vielfach sicher von ökonomischen Interessen diktierte – Parallelentwicklung. Zu nennen sind hier etwa die mythographischen Handbücher des Natale Conti, Vincenzo Cartari und Lilio Gregorio Giraldi Der höhere Grad an Expressivität hängt nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Entwicklung der Ausdrucksmöglichkeiten zusammen. Zum Begriff u. weiterer Literatur s. Heinz J. Drügh: Art. ‚Ut pictura poesis‘, in: Der Neue Pauly (15/3), 2003, Sp. 929–935. Zur Emblematik vgl. Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hrsg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1996 (11969); zum Verhältnis von illustrierten Ovidbearbeitungen zur Emblematik s. Françoise Bardon: Les Métamorphoses d’Ovide et l’expression emblématique, in: Latomus, Heft 35, 1976, S. 71–90; Bodo Guthmüller: Picta Poesis Ovidiana, in: ders.: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance,
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men nicht selten dem Bereich der antiken Mythologie. So erstaunt es denn auch nicht, dass die erste Metamorphosenserie des neuen Typs in einem nach dem formalen Vorbild der Emblematik aufgemachten Werk, in der 1557 bei Jean de Tournes in Lyon erschienenen ‚Métamorphose d’Ovide figurée‘26 zu finden ist. Jede der 178 Seiten ist formal „eine kalligraphische Synthese von Wort und Bild in der für das Emblem typischen Dreiteiligkeit: Inscriptio, Pictura, Subscriptio.“27 Die Holzschnitte stammen von dem Lyoneser Künstler Bernard Salomon, die Texte – Huitains – vermutlich von dem Dichter Barthélemy Aneau. Ähnlich wie in Lyoneser Ausgaben der ‚Emblemata‘ des Andreas Alciatus28, also in ‚echten‘ Emblembüchern, umschließt ein figürlicher oder ornamentaler Rahmen die drei Bestandteile der Seitenkomposition. Aus der Phaëthon-Sage sind vier Szenen ausgewählt und auf vier Bildräume verteilt: 1. „Phaëton priant Apolon“; 2. „Phaëton conduisant le char du Soleil“; 3. „Phaëton occis par foudre“; 4. „Heliades muees en arbres“ (Abb. 5–8). Wie verhalten sich in dieser Metamorphosenbearbeitung Text- und Bildteile zueinander? Die Huitains resümieren in der Fassung und Reihenfolge des ovidischen Originals einzelne Sequenzen. Dasselbe tun die Bilder, können aber – aufgrund ihres monoszenischen Charakters – in der Regel immer nur einen bestimmten Moment festhalten. So kommt es häufig vor, dass der Inhalt der Verse nur teilweise mit dem der Bilder übereinstimmt. Meist erzählen jene mehr als diese zeigen: Von dem Huitain, der unter „Phaëton occis par foudre“ steht, handeln vier Verse von den ungestümen Pferden, die ob des ungewohnt leichten Gewichts ihres Lenkers die vorgegebene Bahn verlassen und die Erde in Flammen setzen – nichts davon auf dem Holzschnitt. Die letzten vier Verse hingegen schildern das Eingreifen Jupiters und das abrupte Ende der Fahrt, was auch im Bild zu sehen ist. Einer der selteneren Fälle, in denen das Bild mehr zeigt, als die Verse erzählen, findet sich auf der folgenden Bildseite: Der Huitain berichtet von der Bestattung des Phaëthon am Ufer des Po und der Trauer seiner Mutter und seiner Schwestern, die sich aus Gram in Bäume verwandeln. Sarkophag, Metamorphose der Heliaden und Verzweiflung der Clymene sind im Bild wiedergegeben. Aber es zeigt noch mehr: Der Schwan, der vom Fluss aus das Geschehen im Vordergrund beobachtet, ist gewiss kein beliebiger Schwan, sondern Cygnus. Dieser wird in den Versen jedoch mit keinem Wort erwähnt. 29
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Weinheim 1986, S. 101–115 u. 181–189, zuerst in: Klaus Heitmann/Eckhart Schröder [Hrsg.]: Renatae Litterae, Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance. August Buck zum 60. Geburtstag […], Frankfurt 1973, S. 171–192. LA // METAMOR- // PHOSE D‘OVIDE // FIGVREE. // A LYON, // PAR IAN DE TOVRNES. // M. D. LVII. // Auec priuilege du Roy [Lyon: Jean de Tournes, 1557]. Faksimile-Neudruck der Erstausgabe mit einer knappen kunstgeschichtlichen Studie: Robert Brun, Editions des bibliothèques nationales de France, [Paris] 1933; zur Konzeption der ‚Métamorphose figurée‘ vor dem Hintergrund der Tradition und unter Berücksichtigung des Kontexts: Ghislaine Amielle: Les traductions françaises des Métamorphoses d’Ovide, Paris 1989, S. 198–240. Vgl. Guthmüller, Picta Poesis, S. 101. Z.B. 1550: Mathias Bonhomme. Nicht nur der Cygnus-Schwan verrät, dass Bernard Salomon nicht nach den beigegebenen Ver-
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Abb. 5: Bernard Salomon, Métamorphose figurée, Lyon 1557 (Volltitel in Anm. 26), fol. b4v
Abb. 6: Bernard Salomon, Métamorphose figurée, Lyon 1557 (Volltitel in Anm. 26), fol. b5r
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Abb. 7: Bernard Salomon, Métamorphose figurée, Lyon 1557 (Volltitel in Anm. 26), fol. b5v
Abb. 8: Bernard Salomon, Métamorphose figurée, Lyon 1557 (Volltitel in Anm. 26), fol. b6r
Trotz der – auch durch den Rahmen und die formale Anlehnung an die Emblematik – suggerierten optischen Einheit der Bildseiten, stehen Texte und Bilder inhaltlich unverbundener nebeneinander, als es auf den ersten Blick scheinen will (weder sen gearbeitet hat, sondern nach Ovid oder einer diesen treu wiedergebenden Bearbeitung. Auch die Tatsache, dass der Sarkophag mit einer Inschrift versehen ist und Clymene an Rinde und Ästen ihrer sich verwandelnden Töchter reißt, entspricht dem antiken Original. – Möglicherweise empfand man den allein im Bild zitierten Cygnus-Schwan, der auch nicht durch ein Übergangsstadium (Mensch mit Flügeln o. ä.) als Ergebnis einer Verwandlung gekennzeichnet ist, als zu unscheinbaren Repräsentanten für eine komplette Metamorphose und widmete ihm deshalb in der 1559 ebenfalls in Lyon bei Jean de Tournes gedruckten italienischen Bearbeitung (‚Metamorfoseo d’Ovidio, figurato & abbreviato in forma d’Epigrammi‘ des Gabriello Symeoni) eine ganze Bildseite.
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können die Bilder aus den sie begleitenden Versen abgeleitet sein, noch besprechen die Verse die Bilder).30 Im Grunde haben wir es mit zwei parallel laufenden Metamorphosenbearbeitungen zu tun: der einen im Medium Sprache, der anderen im Medium Bild. Letzteres hat sich in der ‚Métamorphose figurée‘ von der bis dahin geltenden Vorherrschaft des Textes emanzipiert.31 Eher, als dass die beiden Bearbeitungen einander ergänzen, treten sie hier in Konkurrenz miteinander. Unter derselben Überschrift erhält der Leser/Betrachter zwei verschiedene Fassungen des vorgegebenen Themas und kann nun selbst entscheiden, ob der Dichter oder der Maler die prägnantere Lösung gefunden hat. In der ‚Métamorphose figurée‘ hat der ‚paragone‘ zwischen ‚pictura‘ und ‚poesis‘ Gestalt angenommen. Es gibt keine Bildfolge zu den ‚Metamorphosen‘, die über Nachdrucke und Kopien in der späteren Buchillustration so viele Spuren hinterlassen hätte, wie die des Bernard Salomon.32 Als ‚Multiplikator‘ wirkte vor allem der Nürnberger Zeichner und Holzschneider Virgil Solis33, der im Auftrag des Frankfurter Verlegerkonsortiums Rab/Feyerabend/Han den kompletten Salomon’schen Zyklus kopierte. Solis‘ Holzschnitte geben das Original zwar in die Gegenrichtung34 und etwas vergrößert, aber ikonographisch exakt wieder (Abb. 9–12). Sie wurden erstmals 1563 in Frankfurt in drei verschiedenen Metamorphosenwerken benutzt (dazu gleich mehr). In den folgenden Jahrzehnten kamen diese Holzschnitte oder völlig getreue Nachbildungen derselben an verschiedenen Druckorten in unterschiedlichen Ovidbearbeitungen zum Einsatz.35
30 Guthmüller, Picta Poesis, S. 102, dessen Anliegen in erster Linie in einem Vergleich der ‚Métamorphose figurée‘ mit der Emblematik besteht, weshalb er die Verse vor allem nach allegorischen Elementen durchsucht, kommt auf dem Hintergrund seiner Fragestellung zu dem Ergebnis „Die Subscriptio wiederholt in neuer Form die Aussage der Pictura, […]“. Das ist insofern zutreffend, als die Verse keine Deutungen der Bilder enthalten, wie man es in der Emblematik erwarten würde, berücksichtigt aber nicht die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen Text- und Bildinhalt. 31 Amielle, Les traductions, S. 209, leitet u.a. aus der Präsenz des Cygnus eine „primauté de l‘image“ ab, eine Dominanz der Bilder, die oft reicher seien als der Text und diesen ‚präfigurierten‘. Dieser Eindruck ist indes gewiss nicht konzeptionell gewollt, sondern hängt eher damit zusammen, daß Salomon seinen Zyklus bereits vor der Planung der ‚Métamorphose figurée‘ in Anlehnung an ältere Textfassungen schuf (vgl. Peter Sharratt, Bernard Salomon, Genf 2005, S. 258f.). Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Wirkung auf den Leser/Betrachter, der ja nur das fertige Buch kennt. Zahlreiche Beispiele sprechen im übrigen eher für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Text und Bild als für eine Hierarchisierung. 32 Vgl. Henkel, Illustrierte Ausgaben, S. 76–81 u. 87–95. 33 Reproduktionen der Metamorphosenillustrationen in: Hollstein’s German Engravings, Etchings and Woodcuts. 1400–1700, Bd. 63: Virgil Solis. Book Illustrations, bearb. v. Dieter Beaujean, hrsg. v. Giulia Bartrum, Teil 1–2, Ouderkerk aan den Ijssel 2006, Bd. 2, S. 87–161; zu Virgil Solis: Ilse O’Dell-Franke: Kupferstiche und Radierungen aus der Werkstatt des Virgil Solis, Wiesbaden 1977; Karl Stahlberg, Virgil Solis und die Holzschnitte zu den Metamorphosen des Ovid, in: Marginalien, Heft 95, 1984, S. 29–35. 34 Die spiegelverkehrte Wiedergabe ist Folge des handwerklichen Kopiervorgangs. Sie bleibt bei monoszenischen Darstellungen in der Regel ohne Folge für den Bildinhalt, während bei Simultandarstellungen die Verkehrung der Erzählrichtung sinnentstellend wirken kann. 35 Vgl. Henkel, Illustrierte Ausgaben, S. 88–95.
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Abb. 9: Virgil Solis, aus: Spreng, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 39), fol. 20r
Abb. 10: Virgil Solis, aus: Spreng, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 39), fol. 21r
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Abb. 11: Virgil Solis, aus: Spreng, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 39), fol. 22r
Abb. 12: Virgil Solis, aus: Spreng, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 39), fol. 23r
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Eigene Akzente setzt der Künstler, der für die Illustrationen eines 1582 in Leipzig erschienenen lateinischen Ovid36 verantwortlich zeichnet. Er greift zwar bei jedem seiner Bilder ganz offensichtlich auf den bekannten Typus zurück, geht aber in der Gestaltung formaler Elemente wie auch bei der Umsetzung des expressiven und emotionalen Gehalts neue Wege. So findet etwas Phaëthons Bitte in Leipzig vor einem Rundtempel statt (Abb. 13).37 Auch wirkt die Szene wesentlich dynamischer als auf der Vorlage: Die beiden Personen scheinen erregt miteinander zu diskutieren. Der Künstler hat offenbar bewusst diejenige Phase ausgewählt, in der Sol verzweifelt versucht, seinen Sohn zu einem Rückzieher zu bewegen, dieser aber nicht nachgibt. Bei Salomon/Solis hingegen hatte man den Eindruck, dass Phaëthon entweder gerade erst anfängt, sein Anliegen vorzubringen, und die Stimmung deshalb noch ruhig ist, oder aber dass die Künstler einfach eine bildliche Ausdrucksform für das allgemeine Motiv ‚Bitte an einen Gott‘ gesucht und auf die Darstellung handlungsspezifischer Gemütszustände verzichtet haben. Der Leipziger Künstler bindet sein Bild wesentlich enger als seine Vorgänger an eine ganz spezifische Situation innerhalb der vorgegebenen Handlung.
Abb. 13: Ovid, Leipzig 1582 (Volltitel in Anm. 36), p. 76
36 PVB. OVIDII // NASONIS METAMOR- // PHOSEON LIBRI XV. // EX POSTREMA IACOBI // Micylli recognitione, // ET RECENSIONE NOVA. // GREGORII BERSMANI, // cum eiusdem notationibus: // ET SINGVLARVM FABVLA- // rum argumentis, partim veteribus, par- // tim recentibus. // LIPSIAE, // Anno M. D. XIIXC. – Kolophon: Lipsiæ, // IMPRIMEBAT IOANNES // STEINMAN. // ANNO // M. D. LXXXII [Leipzig: Johannes Steinmann, 1582]. Zu den Illustrationen dieser Ausgabe vgl. Henkel, Illustrierte Ausgaben, S. 91–93. 37 Die am linken Bildrand hinzugefügte Säule trägt vermutlich dem 1. Vers dieser Handlungssequenz Rechnung, in dem der Palast des Sonnengottes mit den Worten beschrieben wird „Regia Solis erat sublimibus alta columnis“ (Met. II.1). Der Leipziger Künstler scheint also nicht nur die Bildvorlagen, sondern auch den Ovidtext zu berücksichtigen.
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Analog verhält es sich mit der Fahrt des Phaëthon auf dem Sonnenwagen (Abb. 14). Salomon/Solis präsentieren die Quadriga noch in wohlgeordneter Formation. Der Leipziger Künstler entscheidet sich hingegen für den Moment, in dem die ungestümen Pferde Phaëthon die Zügel entreißen und er die Kontrolle über das Gespann verliert. Er hat ein Gespür für den dramatischen Augenblick, in dem die Katastrophe anfängt, ihren Lauf zu nehmen. Durch diese Zuspitzung legt er den Bildinhalt aber auch stärker fest als seine Vorgänger. Die – je nach Blickwinkel – geringere Präzision oder größere Offenheit der Salomon/Solis-Bilder begünstigen ihren Einsatz in unterschiedlichen Kontexten.
Abb. 14: Ovid, Leipzig 1582 (Volltitel in Anm. 36), p. 82
Der Zyklus des Virgil Solis scheint geradezu zu einer solchen vielfältigen Verwendung geschaffen worden zu sein. Wie bereits angedeutet, erschien die Serie erstmals 1563 in Drucken des Frankfurter Verlagshauses Rab/Feyerabend/Han in drei verschiedenen ‚Metamorphosen‘: einer kommentierten Ausgabe des lateinischen Textes38 und zwei freien Neubearbeitungen. Uns interessieren hier nur die beiden letzteren. Die eine stammt von dem Augsburger Notar und Meistersinger Johannes Spreng.39 Sprengs Bearbeitung weist einen ähnlichen Aufbau auf wie die ‚Méta38 PVB. // OVIDII NA= // SONIS // METAMORPHOSEON // LIBRI XV. // In singulas quasque Fabulas // Argumenta. // Ex postrema Iac. Micylli // Recognitione. // M. D. LXIII. – Kolophon: IMPRESSVM FRANCO- // FVRTI, APVD GEORGIVM COR- // uinum, Sigismundum Feiera- // bent, & hæredes Vui- // gandi Galli [Frankfurt: Rab/Feyerabend/Han, 1563]. 39 METAMORPHO= // SES OVIDII, ARGVMENTIS QVI- // dem soluta oratione, Enarrationibus autem & // Allegorijs Elegiaco uersu accuratissimè ex- // positæ, summaq[ue] diligentia ac stu- // dio illustratæ, per // M. IOHAN. SPRENGIVM AVGVSTAN. // Vnà cum uiuis singularum transformationum Iconibus, // à Vergilio Solis, eximio pictore, delineatis. // CVM GRA-
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morphose figurée‘, nur dass jetzt jedes ‚Kapitel‘ ein ganzes Blatt füllt40 und der Anteil der Texte überwiegt. Diese Amplifizierung bringt es mit sich, dass nicht mehr die komplette Einheit in einen verbindenden Rahmen gestellt werden kann. Dadurch wirkt sie weniger als die ‚Métamorphose figurée‘ als homogenes Ganzes, sondern eher als regelmäßige Abfolge bestimmter Teile (Abb. 15). Jede Einheit beginnt nach einer kurzen Überschrift mit dem entsprechenden Bild. Dieses setzt ein optisches Signal, das nicht nur gliedernd wirkt, sondern zugleich den Inhalt anschaulich ‚präfiguriert‘.41 Ihm folgt zunächst eine Prosazusammenfassung des betreffenden Mythos42, sodann eine Enarratio in elegischen Distichen zum selben Thema. Den Abschluss bildet eine Allegoria, ebenfalls in elegischen Distichen. Die Abfolge ist steigernd aufgebaut: Bild und Prosafassung geben in verschiedenen Medien den Literalsinn wieder. Dasselbe tut die Enarratio, aber mit den Ausdrucksmitteln der Dichter/vates/Seher, und leitet damit zu einer höheren Ebene, der Allegoria, über. Die Rolle des Bildes ist ambivalent: Zum einen steht es an herausgehobener Position am Anfang; zum anderen ist es im Gefüge der jeweiligen Einheiten auf einer niederen Sinnebene angesiedelt. Rein mengenmäßig beansprucht es jeweils ein Viertel eines Kapitels. Das Bild ist mit seiner Signalwirkung den Texten zwar vor-, aber nicht übergeordnet, sondern reiht sich vielmehr als eine mögliche Spielart in ein breites Spektrum von Bearbeitungsmöglichkeiten ein. Vergleicht man den Bildinhalt mit dem Inhalt von Prosafassung und Enarratio43, stellt man fest, dass diese verhältnismäßig stark voneinander abweichen können: Zum Bild „Phaëtontis petitio“ bietet die Prosa zusätzlich Informationen über die Abstammung Clymenes; die Enarratio hingegen beschränkt sich weitgehend auf das Gespräch zwischen Vater und Sohn. – Auf dem Bild, das mit „Phaëton tam supremas, quam infimas mundi partes incendit“ überschrieben ist, ist der Weltenbrand gar nicht dargestellt; gezeigt wird vielmehr die – noch – geordnete Fahrt auf dem Sonnenwagen. Prosazusammenfassung und Enarratio entsprechen übereinstimmend der Überschrift. – Unter
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TIA ET PRIVILEGIO. // 1563. – Kolophon: IMPRESSVM FRANCOFVR- // TI APVD GEORGIVM CORVINVM, SI= // gismundum Feyerabent, & hæredes // VVygandi Galli. // 1563 [Frankfurt: Rab/Feyerabend/Han, 1563]. Zum didaktischen Anspruch des Werkes und seinem Verhältnis zur Emblematik vgl. Guthmüller, Picta Poesis, S. 108–111; zum Verhältnis Sprengs zur antiken Literatur: Rudolf Pfeiffer: Die Meistersingerschule in Augsburg und der Homerübersetzer Johannes Spreng, München/ Leipzig 1919 u. Ingrid Urban: Antike Dichtung in den weltlichen Liedern des Meistersängers Johannes Spreng, in: Euphorion, Heft 55, 1961, S. 146–162; zur allegorischen Auslegung: Ann Moss: Ovid in Renaissance France. A Survey of the Latin Editions of Ovid and Commentaries printed in France Before 1600, London 1982, S. 44–48. In der 1564 beim selben Verleger erschienenen deutschen Fassung des Werkes verteilt sich eine Einheit sogar über vier Seiten (kurze Beschreibung bei Guthmüller, Picta Poesis, S. 108). Diese Aufgabe war ihm schon in den frühen Ovid-Ausgaben zugefallen. Die Prosazusammenfassungen fußen auf den argumenta des Lactantius Placidus (s. Guthmüller, Picta Poesis, S. 108). Die allegorische Ausdeutung geht traditionsgemäß so frei mit ihren Ansatzpunkten auf der Literalebene um, dass sich ein Vergleich mit den anderen Textteilen für unsere Fragestellung erübrigt.
Ovids Phaëthon in der textbegleitenden Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts
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Abb. 15: Spreng, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 39), fol. 22r/v
dem Titel „Casus Phaëtontis“ ist tatsächlich der Absturz zu sehen. Die Prosa enthält aber auch die Bitte der Erde um Rettung vor dem Feuer und die Rückkehr der Sonnenpferde in den Stall. Die Enarratio inszeniert erst ausführlich ein flammendes Inferno, bevor sie abschließend relativ kurz auf das Ende Phaëthons eingeht. Das Bild und die verschiedenen Textteile sind also inhaltlich eher locker aufeinander bezogen. Jeder Teil könnte auch für sich alleine stehen – außer der Allegoria, die einen Bezugspunkt auf der Literalebene braucht. Während die ‚Métamorphose figurée‘ mit ihrer Gegenüberstellung von einem Bild und einem Text den direkten Vergleich dieser beiden Medien begünstigte, ja geradezu herausforderte, fördert Spreng nicht in erster Linie den ‚paragone‘. Vielmehr präsentiert er ein Spektrum von Metamorphosenbearbeitungen, unter denen das Bild zwar als ‚Hingucker‘ fungiert, ohne dass ihm dadurch aber eine privilegierte Position zukäme. Die Texte weisen eine größere Vielfalt an Variationsmöglichkeiten auf. Eine andere Bild-Text-Relation ist bei der zweiten Neubearbeitung zu beobachten: den ‚Tetrasticha‘ des Arztes und neulateinischen Dichters Johannes Posthius
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aus Germersheim.44 Schon der Titel45 spiegelt das Layout der einzelnen Seiten innerhalb des Werkes wider (Abb. 16): Unter der Überschrift kommt jeweils zuerst das lateinische Tetrastichon, dann die ‚Figur‘, zum Schluss die ‚teutschen Reime‘. Dem Betrachter drängt sich unmittelbar der Eindruck auf, dass hier in der Hauptsache die Bilder wirken sollen, „die wohl auch aus diesem Grunde zum Unterschied von Sprengs Buch mit einem prachtvollen Rahmen umgeben sind, welcher der Ornamentik der Lyoner Ausgabe nachempfunden ist“.46 Die herausragende Rolle der Bilder reflektiert der Titel insofern, als er sie und ihren Schöpfer gleich zweimal nennt – einmal auf Lateinisch, einmal auf Deutsch –, und in dem sie als Inspirationsquellen für Künstler und Kunsthandwerker angepriesen werden.47 Der visuelle Aspekt steht in diesem Werk – im wahrsten Sinne des Wortes – im Zentrum; die 44 IOHAN. POSTHII // GERMERSHEMII TETRA- // STICHA IN OVIDII METAM. LIB. XV. QVI= // bus accesserunt Vergilij Solis figuræ elegantiss. // & iam primùm in lucem editæ. // Schöne Figuren/ auß dem fürtrefflichen // Poeten Ouidio/ allen Malern/ Goldtschmiden/ // vnd Bildthauwern/ zu[m] nutz vnnd gutem mit fleiß gerissen durch // Vergilium Solis/ vnnd mit Teutschen Reimen kürtzlich // erkläret/ dergleichen vormals im Truck nie // außgangen/ Durch // Johan. Posthium von Germerßheim. // CVM GRATIA ET PRIVILEGIO ROM. // Cæs. & Reg. Maiestatis, // M. D. LXIII. – Kolophon: IMPRESSVM FRANCOFVR- // ti, apud Georgium Coruinum, Si- // gismundum Feyrabent, & hæredes // VVigandi Galli. // M. D. LXIII [Frankfurt: Rab/Feyerabend/Han, 1563]. Zu Posthius allg. s. Klaus Karrer: Johannes Posthius (1537–1597). Verzeichnis der Briefe und Werke mit Regesten und Posthius-Biographie, Wiesbaden 1993 (zu den hier besprochenen Drucken und ihren Illustrationen s. S. 55–59 u. 371–380); zu den ‚Tetrasticha‘ s. Guthmüller, Picta Poesis, S. 104–108 u. Hans-Jürgen Horn: Die Tetrasticha des Johannes Posthius zu Ovids Metamorphosen und ihre Stellung in der Überlieferungsgeschichte, in: Walter/Horn, Die Rezeption, S. 214–224 (mit Tafeln 51–53). 45 Laut Titelblatt (s. Anm. 44) wurde die Solis-Serie also in diesem Werk zuerst veröffentlicht („iam primum“). Ob sie primär dafür geschaffen wurde, ist eine andere Frage. Der Widmungsbrief zu den ‚Tetrasticha‘ ist auf den 1. März datiert, der zur Spreng-Ausgabe auf den 22. Februar 1563, also wenige Tage früher. Das Datum der Dedikation muss allerdings nicht notwendigerweise dem Publikationstermin entsprechen. Es ist bei der dichten Abfolge ohnehin damit zu rechnen, dass Rab und seine Kollegen von Anfang an vorhatten, die Bildserie mehrfach zu nutzen. 46 Vgl. Horn, Tetrasticha, S. 216. 47 Dieser pragmatische Aspekt ist zweifellos ernst zu nehmen. Lateinunkundigen Künstlern und Kunsthandwerkern stand zu jener Zeit nur eine einzige deutsche Übersetzung der ‚Metamorphosen‘ zur Verfügung, die des Georg Wickram, die ihrerseits illustriert war und auf dem Titelblatt als Inspirationsquelle für Künstler angepriesen wurde: (P. Ouidij Nasonis deß aller Sin= // reichsten Poeten METAMORPHOSIS/ Das // ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen/ // Thier/ vnd anderer Creaturen [etc.]. Jederman lüstlich/ besonder aber allen Malern/ // Bildthauwern/ vnnd der gleichen allen Künstnern nützlich/ Von wegen // der ertigen Inuention vnnd Tichtung. Etwan durch den // Wolgelerten M. Albrechten von Halberstatt inn Reime // weiß verteutscht/ Jetz erstlich gebessert vnd mit Fi= // guren der Fabeln gezirt/ durch Georg // Wickram zu Colmar [etc.]. // EPIMYTHIVM. // Das ist // Der Lüstigen Fabeln des obgemeltes buchs Außlegung/ jeder= // man kurtzweilig/ vornemlich aber allen Liebhabern der // Edlen Poesi stadtlich zu lesen/ Gerhardi // Lorichij Hadamarij. // Getruckt zu Meyntz bei Iuo Schöffer mit Keyserlicher Ma= // iestat Gnad vnd Freiheyt nit nach zu Trucken [etc.]. // Anno M. D. LI. [Mainz: Ivo Schöffer, 1551; Erstausgabe ebd. 1545]. Zur Illustrierung dieser Ausgabe vgl. Blattner, Holzschnittfolgen.
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Abb. 16: Posthius, Frankfurt 1563 (Volltitel in Anm. 44), p. 22
‚pictura‘ wird von der ‚poesis‘ umrahmt. Dass der Dichter Posthius in Widmung und ‚Vorred‘ stärker auf den moralischen Anspruch, den er mit seinen Versen verfolgt, und den Anteil der Texte eingeht, ist aus seiner Perspektive verständlich, widerspricht aber nicht dem gerade formulierten Gesamteindruck, den man bei der Betrachtung des Werkes gewinnt.48 Die lateinischen Vierzeiler passen in ihren dar48 Dass Posthius selbst mit seinen Versen vorrangig didaktische Ziele verfolgte, geht aus seiner ‚Vorred‘ hervor und wurde bereits von Guthmüller, Picta Poesis, S. 105–108 und Horn, Die Tetrasticha, v.a. S. 220–222, dargelegt. Den Bildern kommt in diesem Zusammenhang die Funktion zu, aufgrund ihrer Neuartigkeit und durch den ästhetischen Genuss, den sie verursachen, den Betrachter zum Verweilen anzuregen und damit auch – implizit – zur Reflexion über den dargestellten Inhalt und zur Einprägung der vermittelten Lehre (vgl. Vorred: „Dann es den Menschen angeborn / Daß er allweg thut außerkorn / Was neuw / was frembd / was seltsam ist / Und wunderbarlich zugerüst / Deßgleighen auch die Maler sich // Befleissen / daß sie gantz
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stellenden Teilen in der Regel widerspruchslos zu den Bildern, so als seien sie für diese gemacht. Die ‚teutschen Reime‘ vermitteln im Allgemeinen keine komplementären Erkenntnisse49; sie entsprechen grosso modo ihren lateinischen Pendants, sind aber keine treuen Übersetzungen und wirken zuweilen recht derb.50 Zur „Phaëtontis petitio“ wird in beiden Sprachen der Inhalt dieser Bitte zusammengefasst. Die Tetrasticha stellen diese zusätzlich in den Kontext des Vaterschaftsnachweises und werten Phaëthon als „temerarius“. – Zu „Phaëton Solem regendum suscipit“ referieren die Tetrasticha, wie der den Mahnungen des Vaters unzugängliche Sohn den Wagen besteigt und seine Fahrt antritt; desgleichen die deutschen Verse, die nun in diesem Zusammenhang von dem „thöricht[en]“ jungen Mann sprechen. – Zu „Phaëtontis casus“ (Abb. 16) wird im ersten Distichon der durch Jupiters Eingreifen verursachte Sturz von Lenker, Wagen und Pferden thematisiert (in Einklang mit dem Bild, aber abweichend von Ovid, wo nur Phaëthon stürzt und die Wagenteile in alle Richtungen verstreut werden), im zweiten wird das Unheil belehrend als Exemplum für Selbstüberschätzung ausgegeben. Die ‚teutschen Reime‘ simplifizieren volkstümlich: „Phaeton mit Wagen und Pferden / Vom Himmel hoch fellt auff die Erdn. / Der was nicht kann und nimpt sichs an / Der muß den spott zum schaden han.“ Freilich kennt Posthius seinen Ovid nicht erst aus den Holzschnitten des Virgil Solis. Er weiß um die Hintergründe des dargestellten Geschehens und lässt diese auch in seine Verse einfließen. Aber er vermeidet in der Regel störende überschüssige Elemente. Hier scheinen die Texte wesentlich besser auf die Bilder abgestimmt, als sie es in den Metamorphosenbearbeitungen waren, die wir bisher betrachtet haben. Ihre Kürze, die kleine Drucktype wie auch die Positionierung am oberen bzw. unteren Bildrand machen sie zu Beischriften.51 Die Priorität hat in diesem Werk das Bild. artlich // Die Zier und wolstand exprimiern / // Damit sie mögen erlustiern / // Und lang auffhalten alle die // Solches Gemähl anschauwen ja.“). 49 Vgl. Horn, Tetrasticha, S. 218. 50 Die chronologische Abfolge der Herstellung von Texten und Bildern stellt Posthius selbst in seinem Widmungsgedicht an Erasmus Neustetter folgendermaßen dar (und nimmt damit auch eine gewisse Hierarchisierung vor): Erst habe er die ovidischen Inhalte in kurze Verse gebracht und auf deutsch entfaltet. Dann erst seien die Bilder hinzugetreten, die den Ungebildeten als Ersatz für das gelehrte Gedicht dienen sollen („Cuius [Ovids] ego summas ludendo in pauca redegi / Carmina, Teutonicis explicuique sonis. / Sunt quibus appositae praestantes arte figurae, / Quae rudibus docti carminis instar erunt.“). Der Dichter Posthius gibt also in der Dedikation die „figurae“ als sekundär aus, und zwar im Verhältnis zu beiden Textfassungen. Laut ‚Vorred‘ scheint er aber zumindest die deutschen Verse eigens für die Holzschnitte verfasst zu haben („Die [= ‚Figurn‘] sint von mir in Reimen weiß / Erklärt worden mit allem fleiß“). Ob diese oder jene Reihenfolge den Tatsachen entspricht, oder ob es das Standesethos des humanistischen Dichters einfach (noch) nicht zuließ, dass – besonders lateinische – Verse sich einem Bild unterordnen, lässt sich nicht mit Gewissheit entscheiden. Die widersprüchlichen Angaben mahnen jedenfalls zur Vorsicht, die Selbstaussagen des Dichters als neutrale Quelle für den Entstehungsprozess dieses Drucks zu nehmen, auf dessen Gestaltung der Verlag gewiss keinen geringen Einfluss genommen haben dürfte. 51 Zum Sonderfall der Bild-Text-Relation i.S.v. Bild-Beischrift und zur Rolle des Verlegers bei der Zuordnung von Bild und Text s. Anja Wolkenhauer: Genese und Funktion von Epigram-
Ovids Phaëthon in der textbegleitenden Druckgraphik des 15. und 16. Jahrhunderts
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Lassen wir unsere Beispiele noch einmal Revue passieren, so stellen wir folgende Entwicklung fest: Den Anfang bildeten – mit den narrativen Holzschnitten zum ‚Ovidio metamorphoseos vulgare‘ – Illustrationen, die dem Text nachgestaltet und untergeordnet waren und deren wesentliche Funktion darin bestand, Inhalte dem Gedächtnis einzuprägen – dies in einer Phase, in der es galt, die Kenntnis der antiken Mythen einem neuen Publikum zu erschließen. Nachdem dieser Zustand erreicht war, trat die Funktion der Inhaltsvermittlung zurück. Wie in anderen Kunstgattungen wurde nun auch in der Buchgraphik über das Verhältnis von ‚pictura‘ und ‚poesis‘ reflektiert und verschiedene Relationen durchgespielt: vom direkten Vergleich über die friedliche Koexistenz bis hin zur Dominanz des Bildes. Diese klaren Entwicklungslinien sind freilich nur bei der ‚Avantgarde‘ unter den Buchillustratoren und Buchgestaltern zu beobachten. Daneben halten sich hartnäckig auch ältere Traditionen – nicht zuletzt, weil Buchdruck ein Geschäft ist, in dem man auf Kostendämpfung zu achten hat. So werden vorhandene Druckstöcke und Platten – zuweilen bis zur Materialermüdung und ohne sorgfältige Abstimmung auf den Kontext – wieder verwendet. Die Flut an rein mechanisch reproduzierten, vielfach auch künstlerisch minderwertigen Bildern darf aber nicht zu einem Verdikt über die gesamte Gattung der Textillustration führen. Die ausgewählten Beispiele haben gezeigt, dass die innovativen Serien im Zusammenwirken mit ihrem Kontext nicht nur gezielt auf Bedürfnisse ihres Publikums eingehen, sondern auch bewusst Tendenzen der aktuellen Kunstdiskussion aufgreifen und mit verschiedenen Möglichkeiten der Bild-Text-Relation experimentieren.
men in der Druckgraphik des 16. Jahrhunderts am Beispiel einiger Stiche von Hendrick Goltzius, in: Guthmüller/Hamm, Künstler, S. 327–345 (mit weiterer Literatur v.a. in Anm. 2).
Der Phaëthon-Mythos in der Kunst. Visualisierte Repräsentation, didaktisches Exemplum und Instrument der sozialen Mobilität Andrea von Hülsen-Esch Darstellungen des Phaëthon erfreuten sich seit der Antike einiger Beliebtheit – wenn auch unterschiedliche inhaltliche Aspekte akzentuiert wurden. Im Mittelalter überwogen die Verbindungen zu kosmischen Phänomenen, die seit Platons Erklärung, „der Sturz Phaëthons sei die Mythisierung einer Verwüstung, die einst durch einen großen Kometen verursacht worden sei“1 in der mittelalterlichen literarischen Tradition, insbesondere in den astronomischen Traktaten, vorherrschend waren. Noch bei Dante findet sich die Deutung, dass die Milchstraße die Spur des vom Blitz getroffenen, brennenden Phaëthon-Wagens sei. Bedeutsamer für die bildliche Tradition aber wurde die Bezugnahme Phaëthons auf Sol: in einer Handschrift des Hofastrologen Kaiser Friedrichs II., Michael Scotus, aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, erscheint Phaëthon als Sohn des Planetengottes, der auf dem Wagen thronend seine vier Sonnenrosse lenkt (Abb. 1). Diese Darstellungsform wirkt bis in die graphischen Folgen der Planetenkinder-Zyklen des 15. Jahrhunderts hinein. Sie hat hier auch den Zweck, die Planetengötter durch Hinweise auf Episoden aus ihrem ‚Leben‘ besser kenntlich zu machen. Der andere Strang der bildlichen Darstellung führt zum eigentlichen Mythos zurück. Inwieweit hier Überschneidungen mit anderen Planetengöttern vorkommen, welcher Grund zur Auswahl des Mythos für den jeweiligen Ort geführt hat und wie die verschiedenen sozialen Gruppen den Mythos instrumentalisiert haben, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele genauer betrachtet werden. Um diese Auswahl besser einordnen zu können, soll zunächst ein – notwendigerweise fragmentarischer – Überblick über die Darstellungen des Phaëthon-Mythos in der Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert gegeben werden, der die Aktualität des Themas bis in unsere Zeit reflektiert.2 1
2
Brigitte Jacoby: Studien zur Ikonographie des Phaetonmythos, Bonn 1971, S. 12; die folgende Zusammenfassung der mittelalterlichen Bildtradition folgt der materialreichen Dissertation von Jacoby S. 12–36. Zu den verschiedenen Interpretationssträngen vgl. auch Bodo Guthmüller: Formen des Mythenverständnisses um 1500, in: Hartmut Boockmann/Ludger Grenzmann/ Bernd Moeller/Martin Staehelin (Hrsg.): Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989–1992, Göttingen 1995, S. 109–131. Mit diesem Überblick werden Akzente gesetzt, die für den zweiten Teil des Beitrags von Belang sind und in dieser Form noch nicht zusammengestellt wurden; viele andere Interpretationsstränge, die mittelalterliche Tradition sowie die gesamte Druckgraphik müssen außer Acht bleiben.
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Abb. 1: Michael Scotus, Sol, Liber introductorius, um 1340.
Ⅰ. Einen wichtigen Ausgangspunkt haben die Motivtraditionen in den astronomischen Traktaten des Mittelalters: Die motivische Ähnlichkeit des Planetengottes Sol mit Phaëthon, der eine Quadriga lenkt, wird bereits beim Vergleich einer astronomischen Handschrift aus der Zeit um 1080 mit dem Liber introductorius von Michael Scotus ersichtlich (um 1340), wobei der Sonnengott der späteren Handschrift aufgrund seiner Barttracht und der Kaiserkrone zudem Assoziationen mit einem Herrscher, und, aufgrund der Aureole, mit einem göttlichen Weltenherrscher nahe legt.3 Die Tradition des im Triumphzug einherfahrenden Sonnengottes wird in einer Kupferstichfolge zu den Planetenkindern um 1460 von Baccio Baldini weitergeführt.4 Doch scheint dieses die letzte Darstellung des Planetengottes mit seinem Sohn im Arm zu sein, denn bereits Heinrich Aldegrever führt das Verhältnis zwischen Sol und Phaëthon in seiner Serie der sieben Planeten aus dem Jahre 1533 3
4
Madrid, Bibl. Nacional, Cod. 19 und München, Bayer. Staatsbibliothek, Michael Scotus, Liber Introductorius, Clm. 10268 fol. 37r. Dieter Blume: Regenten des Himmels, Berlin 2000, S. 55–59 mit Abb. 48 u. 50. London, British Museum, Kupferstich, Baccio Baldini, um 1460. Blume, Regenten, S. 183– 191 u. Abb. 262.
Der Phaëton-Mythos in der Kunst
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wieder auf eine szenische Begebenheit aus dem Mythos zurück, indem er den Moment darstellt, in dem Phaëthon den Sonnengott um die Quadriga bittet (Abb. 2)5 – eine Bildformulierung, die dann entkontextualisiert – oder auf den Ursprungsmythos bezogen – in den 1570er Jahren in der Keramik aus Urbino wieder auftaucht.6
Abb. 2: Heinrich Aldegrever, Sol (aus der Serie der Sieben Planeten), 1533.
Ebenfalls noch dem Kontext der astronomischen Darstellungen verhaftet, jedoch deutlich auf den ursprünglichen Mythos und nicht auf die mittelalterlichen SolDarstellungen rekurrierend, ist das Fresko mit dem Phaëthon-Sturz auf dem Deckenbild der Sala dei Mappamondi im Palazzo Farnese in Caprarola von 1575. Zum Sternbild des Großen Bären gehörend, vollzieht sich der Sturz Phaëthons oberhalb des Sternbildes des Eridanus, zwischen den gespreizten Beinen des fal5
6
Holm Bevers/Christiane Wiebel (Hrsg.): The New Hollstein. German Engravings, Etchings and Woodcuts, 1400–1700. Heinrich Aldegrever, compiled by Ursula Mielke, Rotterdam 1998, S. 13 u. 85–87 m. Abb. 74. Johanna Lessmann: Italienische Majolika. Katalog der Sammlung des Herzog Anton UlrichMuseums Braunschweig, Braunschweig 1979, S. 280 Kat. Nr. 339 u. S. 292f. Kat.-Nr. 374f.
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lenden Phaëthon erscheint die Sonnenscheibe.7 Wenngleich also die mittelalterliche Interpretation des Phaëthon-Mythos mit ihrem Bezug zu den Sternbildern auch in der bildlichen Tradition weiterlebt, so entsteht mit der Re-Lektüre des antiken Mythos eine Bildformulierung, die im Prinzip bis ins 20. Jahrhundert wirkt: dargestellt wird nun der Sturz des Phaëthon, der kopfüber gemeinsam mit den vier Pferden seiner Karosse auf die Erde stürzt. Bevor diese weit wirkende Darstellungsform mit Beispielen vorgestellt wird, muss jedoch noch eine weitere Interpretation des Phaëthon kurz erörtert werden: diejenige der Gleichsetzung Phaëthons mit dem Lichtbringer Apoll, der in gemäßigtem Tempo seinen Wagen lenkt und für den geregelten Ablauf des Tages wie der Jahreszeiten steht.8 Besonders zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als der antike Mythos Ovids wieder präsent wird, erhält diese Gleichsetzung ihre bildwirksame Gestalt in den Fresken Girolamo Romaninos in Trient (1531) sowie in Majolika-Tellern aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die als Vorlage einen Stich mit einem lorbeerbekränzten Apoll im Sonnenwagen haben, auf dem Boden des Tellers jedoch inschriftlich mit „Fetonte“ bezeichnet werden.9 Ⅱ. Deutlich wird die Aufnahme des antiken Mythos in den Kunstwerken ab der Mitte des 15. Jahrhunderts: Bereits Leon Battista Alberti überliefert, er habe voller Bewunderung von einem Ring sprechen hören, der den von vier Rossen gezogenen Phaëthon mitsamt der feinst geschnitzten Zügel und Beine gezeigt habe, doch überließen die Florentiner Maler derlei Bewunderung den Gemmenschnitzern.10 Ein Sardonyx-Kameo aus dem Schatz der Medici in Florenz, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts datiert wird, vermittelt eine Vorstellung von derlei Gemmenschnitzereien: Er nimmt den Mittelteil eines antiken Sarkophagreliefs auf, das sich im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in S. Maria in Ararcoeli in Rom befunden haben soll.11 Die Kenntnis antiker Relikte wurde für die Entwicklung des Phaëthon-Motivs entscheidend, prägend für die Form der Darstellung wurden jedoch zwei eigenhändige Zeichnungen von Michelangelo, die dieser um 1533 für seinen venezianischen Freund Tommaso dei Cavalieri gefertigt hat (Abb. 3).12 Hierbei handelt es 7
Das Fresko stammt von Giovanni Antonio Vanosino. Jacoby, Studien, S. 33–35. Ein kurzer Überblick über die frühen italienischen Deckenmalereien auch bei Peter Diemer/Dorothea Diemer: „Der was nit klan und nimpt sichs an / Der muss den spott zum schaden han.“ Der Mythos von Phaeton im Hirschvogelsaal, in: Susanne Böning-Weis (Hrsg.): Der Hirsvogelsaal in Nürnberg. Geschichte und Wiederherstellung, München 2004, S. 109–111. 8 Jacoby, Studien, S. 50–53. 9 Anna Rosa Gentilini/Carmen Ravanelli Guidotti: Libri a stampa e maioliche istoriate del XVI secolo, Faenza 1989, S. 150f. u. Jacoby, Studien, S. 53, mit einem Beispiel aus dem Princeton University Art Museum; zu den Trienter Fresken vgl. unten. 10 Hanno-Walter Kruft: Rezension von Hans Ost, Leonardo-Studien, Berlin 1975, in: German Studies, Heft 11, 1978, S. 120. 11 Jacoby, Studien, S. 143f. Heute befindet sich das Relief in den Uffizien in Florenz. 12 Hans Ost: Das Leonardo-Porträt in der Kgl. Bibliothek Turin und andere Fälschungen des Gi-
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sich um autonome Zeichnungen, die nicht als Vorlage zur Umsetzung in ein anderes Medium dienten.
Abb. 3: Michelangelo Buonarroti, Sturz Phaetons, um 1533, London, British Museum.
useppe Bossi, Berlin 1980, S. 93–122, führt glaubhaft aus, dass es sich bei der dritten Michelangelo zugeschriebenen Zeichnung um ein Imitat Bossis handelt. Vgl. zu den Zeichnungen und zu dem handschriftlichen Kommentar Michelangelos an den Empfänger Luitpold Dussler, Die Zeichnungen des Michelangelo. Kritischer Katalog, Berlin 1959, S. 112f. Kat. Nr. 177, S. 142 Kat. Nr. 234 und S. 144f. Kat. Nr. 238; ferner Jacoby, Studien, S. 150–162, die vor allem die ikonographische Vorbildhaftigkeit der Michelangelo-Zeichnungen für die nachfolgende Behandlung des Themas herausstellt. Doch selbst für das Jüngste Gericht wurden Teile der Zeichnungen vorbildhaft; vgl. hierzu Hidemichi Tanaka: Il Giudizio Universale di Michelangelo e i Disegni per Cavalieri, in: Bijutsushigaku TA’hoku Daigaku Bigaku Bijutsushi KenkyA shitsu Senai 18, 1996, S. 208–178.
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Die früheste Zeichnung ist in drei nur lose miteinander verbundene Motivgruppen unterteilt, die das hochrechteckige Blatt horizontal gliedern. Am unteren Blattrand lagert der Flussgott Eridanus auf seinem Attribut, einer Urne, aus der Wasser fließt, und schaut gen Himmel. Rechts von ihm vollzieht sich die Metamorphose der mit Klage- und Trauergesten ihren Schmerz ausdrückenden Heliaden (mit der Dreizahl folgt die Darstellung Ovid), deren Extremitäten sich bereits in Äste und Stämme verwandeln; König Cygnus im Hintergrund ist schon zum Schwan geworden. Die mittlere Zone – wie das Blatt insgesamt – wird von dem aus dem Wagen stürzenden Phaëthon beherrscht; das richtungslos auseinanderbrechende Pferdegespann findet ebenfalls keinen Halt mehr, so dass die Pferdeleiber radial auseinanderstreben und in Hilflosigkeit durcheinanderpurzelnd herabfallen. Bekrönt wird die Szene am oberen Blattrand von dem auf einem Adler heranschwebenden Zeus, der kraftvoll seinen Blitz auf das Gespann schleudert, wobei die Linienführung von dem erhobenen Arm des Himmelsgottes über den zurückgebogenen Pferdekopf, den Pferdekörper und den bogenartig gespannten Körper Phaëthons bis zum vornübergebeugten Körper der mittleren Heliade den Zick-Zack-Verlauf eines stilisierten Blitzes nachvollzieht. Der Aufbau der Komposition insgesamt ist unmittelbar der Antike entlehnt, wenn auch in Seitenverkehrung.13 Fortgeführt hat Michelangelo die Studien zu diesem Thema in einer zweiten, heute in Windsor Castle aufbewahrten, Zeichnung, die auch für nachfolgende Künstler maßgeblich wurde, wie der Stich von Nicolas Beatrizet (ca. 1507/1515 bis 1565) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigt (Abb. 4). Hier sind die einzelnen Motivgruppen stärker in der Vertikalen aufeinander bezogen und in sich zusammengefasst worden. Eridanus ist nun zwar nicht mehr am Geschehen beteiligt, wird jedoch durch einen urnentragenden Quellgenius im Hintergrund – dessen Vorbild eine antike Brunnenfigur im Giardino Cesi ist – inhaltlich betont. Die stürzende Phaëthon-Gruppe betont in der Bewegungsrichtung einheitlich die Vertikale nach unten, der Körper des Protagonisten ist jetzt jedoch nicht mehr sehnig gespannt, sondern in verschiedenen, nicht aus einer einzigen Bewegung hervorgehenden, Torsionen bewegt, so dass sich das Plötzliche und Gewaltsame des Sturzes vermittelt. Michelangelo hat erstmals die zeitlose antike Komposition mit der dem Text folgenden Dramatik verbunden.14 Diese Elemente des Textes nehmen auch die zahlreichen Majoliken auf, die bereits zur selben Zeit entweder in Form einer kontinuierenden Darstellung die verschiedenen Szenen des Mythos nebeneinander15 oder mit einem Fokus auf dem Moment der Verwandlung die Dramatik des Geschehens akzentuieren, wie etwa der Teller des berühmten Majolika-Malers Francesco Xanto Avelli da Rovigo aus dem Jahre 1532, der die Metamorphose der Schwestern Phaëthons sowie die Verwandlung des fliehenden Cygnus’ in einen Schwan thematisiert und auch Eridanus 13 Hierauf machte erstmals Jacoby, Studien, S. 153, aufmerksam. 14 Jacoby, Studien, S. 158. 15 So etwa der Teller aus einer Privatsammlung von Baldassare Manara, ca. 1535 in Faenza gefertigt; vgl. den Ausstellungskatalog Biblioteca Apostolica Vaticana (Hrsg.): L’Istoriato. Libri a stampa e maioliche italiane del Cinquecento. Salone Sistino, 12 Giogno – 26 Settembre ’93, Faenza 1993, S. 132f.
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Abb. 4: Nicolas Beatrizet nach Michelangelo, Kupferstich, Mitte 16. Jh.
tätig vor einem dramatisch bewölkten Himmel zeigt, ohne unmittelbar den Sturz darzustellen.16 Einzelne Elemente des Mythos nimmt auch die Majolika-Werkstatt des Domenico da Venezia um 1570/75 auf, die den Sturz des Phaëthon mit der Verwandlung König Cygnus’ sowie den Flussgott Eridanus zeigt. Dieser Darstellung – wie vielen anderen auch – liegt ein Holzschnitt von Bernard Salomon in der Aus-
16 Jörg Rasmussen: The Robert Lehmann Collection X: Italian Majolika of The Metropolitan Museum of Art, New York 1987, S. 134f.
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gabe der Metamorphosen des Ovid von 1559 in Lyon zugrunde, die auch für die Urbiner Majolikaproduktion entscheidend war.17 Doch nicht nur für die keramische Kunst, auch für die Verarbeitung von Edelmetallen war das Thema interessant, wie vier Silberschalen des Nürnberger Goldschmieds Christoph Jamnitzer aus der Zeit um 1595/1600 zeigen, die sich heute in der Staatlichen Eremitage in St. Petersburg befinden und die entscheidenden Szenen des Mythos darstellen: Die Bitte Phaëthons vor Sol, die Fahrt im energisch gelenkten Viergespann, der Sturz des vom Blitz getroffenen Gefährts und die Klage der sich in Pappeln verwandelnden Heliaden.18 Als weitere Gattung, die den Phaëthon-Mythos ebenfalls in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufgriff, ist die Folge von Tapisserien zu nennen, die aufgrund ihrer Fragilität jedoch nur in wenigen Exemplaren überliefert sind. Berühmte Produktionsorte, aus denen sich Wandteppiche mit diesem Inhalt nachweisen lassen, sind Florenz, Brüssel und Enghien (Hennegau); auch Wandteppiche, die im 17. Jahrhundert produziert wurden, griffen die Kompositionen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts auf.19 Entscheidend wurde die von Beatrizet (Abb. 4) aufgenommene Zeichnung Michelangelos aber nicht nur für die Kleinkunst, sondern natürlich auch für die Skulptur wie für die Malerei. Ein Marmorrelief von Francesco di Simone Mosca, genannt il Moschino, um 1560 entstanden, zeigt die meisterliche szenische Umsetzung mit teils nahezu freiplastisch gearbeiteten Figuren, die in der Klarheit der Körperformen mühelos die verschiedenen Gruppen des Mythos voneinander scheiden lassen.20 Beispielhaft für die Vorbildhaftigkeit Michelangelos in der Malerei sind etwa die Phaëthonkompositionen Hans von Aachens – eine Zeichnung und ein Bild auf Alabaster (datiert um 1600), und diejenige des Augsburger Malers Johann Heinrich Schönfelds aus der Zeit um 1635.21 Schon früh jedoch existiert daneben eine andere Behandlung des Themas: Mit der Gestaltung der Deckenfresken des Palazzo del Tè in Mantua gibt Giulio Romano 1528 die früheste sotto-in-su Komposition des Phaëthonsturzes, die die Prot17 Lessmann, Italienische Majolika, S. 409 u. 495 Kat. Nr. 811. 18 Renate Eikelmann (Hrsg.): Der Mohrenkopfpokal von Christoph Jamnitzer, München 2002, S. 35–40; auch für Jamnitzer waren die Holzschnitte von Bernard Salomon in Lyon maßgeblich. 19 Zu der Produktion in Enghien und dem Nürnberger Behang (7,21m x 4,26m) vgl. Heinrich Göbel: Wandteppiche, I. Teil: Die Niederlande. Bd. 1, Leipzig 1923, S. 519–525; zu einem Phaëton-Teppich flandrischer Produktion Marthe Crick-Kuntziger, Note sur une Tenture inédite de l’Histoire de Phaëton, in: Revue Belge d’Archéologie et d’Histoire de l’Art (20) 1951, S. 127–137. Insgesamt s. Jacoby, Studien, S. 128–132. 20 Heute in der Skulpturensammlung im Bode-Museum, Inv. Nr. 282. Francesco Mosca war wie sein Vater Simone Mosca an der Dombauhütte von Orvieto beschäftigt und 1577 kurzzeitig als Hofbildhauer für die Farnese in Parma engagiert. Vgl. Steven Bule: Francesco Mosca, in: Jane Turner (Hrsg.):The Dictionnary of Art, Bd. 22, London 1996, S. 166. 21 Zu den Werken Hans von Aachens im Baseler Kupferstichkabinett und in den Sammlungen Rudolfs II. von Schloss Ambras (Innsbruck) s. Joachim Jacoby: Hans von Aachen (1552–1615), München u.a. 2000, S. 141–143; zu Schönfeld, dessen Phaëtonsturz aus der frühen Zeit gegen Ende seines Romaufenthalts entstand, und der stilistisch Annäherungen zu Poussin zeigt, vgl. Herbert Pée: Johann Heinrich Schönfeld. Die Gemälde, Berlin 1971, S. 21–24 u. Kat. Nr. 15.
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Abb. 5: Giulio Romano, La caduta di Fetonte, Camera delle Aquile (Adlersaal), 1527, Mantua, Palazzo del Tè.
agonisten in starken Verschränkungen und Verkürzungen darstellt und sie eines unteren Bildrandes beraubt, so dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, die Figuren stürzten tatsächlich ins Leere (Abb. 5). Diese Darstellungsform hat vor allem nördlich der Alpen eine Nachfolge gefunden, wie etwa in der Landshuter Residenz oder in dem Hirschvogelsaal in Nürnberg (Abb. 9).22 22 Nina C. Wiesner: Das Deckengemälde von Georg Pencz im Hirschvogelsaal zu Nürnberg, Hildesheim 2004, S. 129–135; Susanne Böning-Weis (Hrsg.): Der Hirsvogelsaal in Nürnberg. Geschichte und Wiederherstellung, München 2004, S. 104–120; Jacoby, Studien, S. 146–150; Iris
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Eine andere Akzentuierung erfährt das Thema in den Niederlanden, wo die Landschaftsdarstellungen den Mythos in den Hintergrund drängen und die Atmosphäre der Dramatik durch Landschaftselemente betont wird, wie etwa in einem Stich von Pieter Bruegel (ca. 1565), in dem das wildbewegte Meer mit den kenternden Schiffen den Sturz Phaëthons im oberen Bildfeld zu marginalisieren scheint, ihn inhaltlich jedoch verstärkt. Ein weiteres Beispiel für die Verarbeitung des Themas in den Niederlanden ist eine lavierte Federzeichnung von Hendrick Goltzius von 1588 aus seiner Serie der Metamorphosen, die bezeichnenderweise nicht, wie viele andere bildliche Darstellungen den Moment der Verwandlung selbst darstellt, sondern den Augenblick davor. Ⅲ. Waren auch die Zeichnungen Michelangelos wie die Deckenfresken Giulio Romanos entscheidend für alle späteren Gestaltungen des Themas, ohne dass sich dies im Einzelnen immer nachweisen ließe, so entstehen ab dem 17. Jahrhundert vielfältige Formulierungen des Themas, die oftmals eher die Freude an der Darstellung bewegter Körper und Gewandformen, an der Beherrschung perspektivischer Illusionsmalerei oder an der Motivvariation der kunsttheoretisch bedeutsamen Gattung der Historienmalerei verraten, als dass sie eine konkrete Umsetzung der literarischen Vorlage wären. Hierzu zählt auch das 1604/05 datierte Ölgemälde von Peter Paul Rubens, das sich in englischem Privatbesitz befindet, und das neben den Fresken Giulio Romanos – Rubens hatte nachweislich eine Wohnung in Mantua – etliche Schlachtenbilder und Kampfdarstellungen Leonardo da Vincis wie auch Tizians verarbeitet; diesem Gemälde vergleichbar ist auch das Gemälde Sebastiano Riccis von 1703/04.23 Zu den freien Kompositionen zählen auch die zahlreichen Deckenfresken, die im 17. Jahrhundert entstehen und die den Mythos mit anderen Szenen kombinieren – wie etwa der Götterversammlung im Olymp, zu sehen in den Fresken Francesco Albanis aus dem Jahre 1609 im Palazzo Giustiniani Odescalchi in Bassano di Sutri bei Rom, dessen zentrales Geschehen, der Phaëthonsturz, bereits 1625 von Johann Liss in seinem Gemälde aufgenommen wird.24 Insgesamt aber erscheint der Sturz des Phaëthon in den illusionistischen Dekorationssystemen des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem als Himmelserscheinung, die den Raum weitet und zugleich durch das Motiv des Herabstürzens den Bezug zum Betrachter wie-
Lauterbach/Klaus Endemann/Christoph Luitpold Frommel (Hrsg.): Die Landshuter Stadtresidenz. Architektur und Ausstattung, München 1998, S. 233–248. 23 Neta Georgievska-Shine: Horror and Pity. Some Thoughts on the Sense of the Tragic in Rubens’ ,Hero and Leander‘ and ,The Fall of Phaeton‘, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Heft 30, 2003, S. 217–228; Jacoby, Studien, S. 165–171. 24 Jacoby, Studien, S. 172–174; zu Liss, der verschiedentlich das Phaëton-Motiv in Zeichnungen und Gemälden verarbeitet hat, s. J. Bean: Johann Liss (and Paolo Pagani), in: Master Drawings, Heft 14, 1976, S. 64–66, ferner: Vitale Bloch: Liss and his ‚Fall of Phaeton‘, in: The Burlington Magazine, Heft 92, 1973, S. 278–282.
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derherstellt – wie beispielsweise anhand einiger Deckenmalereien Tiepolos aus den Jahren 1720 bis 1731 nachzuvollziehen ist.25 Deckenfresken mit dem Sturz des Phaëthon in Palästen Südfrankreichs, wie z. B. im Palazzo Grimaldi in Cagnes-sur-Mer (1648) von Giulio Benso oder im Palais Lascaris in Nizza von Giovan Battista Carlone (um 1650), führen zur Verarbeitung des Themas in Frankreich, wo insbesondere die Szene mit der Bitte Phaëthons um den Sonnenwagen häufig dargestellt wird.26 Die früheste Ausführung in einem Wandfresko ist diejenige von Niccolo dell’Abate im Ballsaal von Fontainebleau, entstanden 1552 bis 1556/8, die, Nachzeichnungen zufolge, weitgehend der Soldarstellung Heinrich Aldegrevers von 1553 entsprochen haben muss (Abb. 2). Aufgenommen wird dieses Motiv auch von Nicholas Poussin in einem um 1629/31 entstandenen Gemälde, das sich heute in der Berliner Gemäldegalerie befindet, und in einem Deckenbild von Eustache Lesueur für das Hotel Lambert (um 1646).27 Zugleich bleibt jedoch auch der Mythos insgesamt präsent: hier muss in erster Linie die Oper des Phaéton von Jean-Baptiste Lully für die Académie Royale de Musique mit den Bühnenbildern des Hofmalers Jean Berain I genannt werden, die am 6. Januar 1683 in Versailles uraufgeführt wurde.28 Die Wirkung der darstellenden Künste wie der Bühnenbilder auf die Rezeption des Ovid-Mythos ist bislang noch nicht erforscht, doch geben zahlreiche, öffentliche Wiederaufnahmen der 25 Vgl. zum Palazzo Archinti (Mailand) u. der Villa Baglioni (Massanzago): Filippo Pedrocco: Giambattista Tiepolo, Mailand 2002, S. 23–30 u. 218–220; William L. Barcham: “E chi non potrebbe cantare facilmente Febo?”, in: Lionello Puppi (Hrsg.): Giambattista Tiepolo nel terzo centenario della nascità. Atti del Convegno Internazionale di Studi, Bd. 1, Venedig 1998, S. 255–259 und Luisa Cogliati Arano: Tiepolo a Milano e a Brescia, in: ebd., S. 423–430; ferner Adriano Mariuz/Giuseppe Pavanello: I primi affreschi di Giambattista Tiepolo, in: Arte veneta, Heft 39, 1985, S. 101–113; Philip L. Sohm: Giambattista Tiepolo at the Palazzo Archinto in Milan, in: Arte Lombarda, Hefte 68/69, 1984, S. 70–78 und ferner zu den Gemälden und Zeichnungen: Campbell Dodgson: The Three Versions of Tiepolo’s Phaëton, in: The Burlington Magazine, Heft 31, 1917, S. 228–233; Giuseppe-Maria Pilo: Ancora sulle due redazioni del Mito di Fetonte di Giovan Battista Tiepolo, in: Arte documento, Heft 11, 1997, S. 182–187. 26 Vgl. Christiane Lorgues: Décorateurs génois du Seicento en Provence orientale. Giovan Battista Carlone et Giulio Benso au Château des Grimaldi de Cagnes et au Palais Lascaris à Nice, in: « Il se rendit en Italie». Études offertes à André Chastel, Paris 1987, S. 404–413. 27 Pierre Rosenberg/Louis-Antoine Prat: Nicolas Poussin (1594–1665). Ausstellungskatalog, Galeries nationales du Grand Palais, 27 septembre 1994 – 2 janvier 1995, Paris 1994, S. 195f.; Knut Helms: Eine Schicksalsallegorie des Nicolas Poussin: «Die Bitte Phaetons» in Berlin, in: Jahrbuch der Berliner Museen N.F., Heft 42, 2000, S. 165–186, und zu den politischen Implikationen : Holger Schmid, Structures de l’espace civique, in : La Part de l’Oeil, Heft 12, 1996, S. 227–237. Das Gemälde von Lesueur befindet sich heute in den Musées du Louvre. 28 Jean-Baptiste Lully/Philippe Quinault: Phaéton. Tragédie en Musique. Représenté par l’Académie Royale de Musique, Paris 1683. Am 27. April 1683 fand die Aufführung in Paris mit der Bühnenmaschinerie statt. Zur Funktion Jean Berains als Bühnenbildner vgl. immer noch: Roger-Armand Weigert: Jean I Berain. Dessinateur de la chambre et du cabinet du Roi (1640– 1711), Paris 1937, S. 50–68 sowie Jérôme de la Gorce: Berain. Dessinateur du Roi Soleil Bd. 1, Paris 1986, passim u. S. 85 zum Phaëton. Zum kathartischen Moment der Oper und einem Vergleich mit dem Gemälde von Poussin s. Dany Lachaux-Lefebvre: Le discours dans le spectacle en musique de 1661 à 1686. Des comédies de divertissements de Molière aux tragédies lyriques de Quinault, Tübingen 2002, S. 317–332.
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Oper zu offiziellen Anlässen mächtiger Fürsten in Deutschland Anlass zu der Vermutung, dass die Inszenierung des Mythos der Herrscherpropaganda durchaus nicht abträglich war.29 Von ungebrochener Beliebtheit des Mythos im Frankreich des 18. Jahrhunderts zeugen auch ein kostbarer emaillierter Becher aus Limoges mit den Szenen der Übergabe des Gespanns wie des Phaëthonsturzes ebenso wie ein Ölgemälde des Nicolas Bertin um 1720.30 Einen erneuten Höhepunkt erlebt die Rezeption des Mythos gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Der französische Symbolismus mit Gustave Moreaus Version des Phaëthon zur Weltausstellung von 1878, der den Mythos wieder in kosmische Zusammenhänge einbettete (Abb. 6),31 lieferte das Vorbild für den expressionistischen Holzschnitt Ludwigs von Hoffman, der im Jahre 1919 eine Nachdichtung des Mythos des ihm befreundeten Dichters Hans Reisingers illustriert.32 Seinen Nachhall fand Moreau aber vor allem bei Odilon Redon, der bereits 1878 in seinen Tagebuchaufzeichnungen lange über das Bild Moreaus reflektiert und sich auch in der Folge mit dem Mythos auseinandersetzt, bis er schließlich zwischen 1905 und 1910 mehrere Varianten des Mythos gibt, deren von aufsteigenden Diagonalen geprägte Bildformulierung und helle Farbigkeit im Gegensatz zu Moreau jedoch eine optimistische Interpretation nahe legt.33 Ebenfalls von Moreau geprägt und in der Chronologie 1911 auf Redon folgend widmet Augusto Giacometti, ein Onkel des später berühmten Alberto, ein Tondo dem Mythos mit dem Titel: „Phaëthon im Zeichen des Skorpion“. Giacometti setzt
29 Als der Durchlauchtigste Fürst und Herr, Herr Christian Herzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg (…) dero höchst erwünscht hohen Geburths-Tag 23. Febr. Anno 1736 abermals höchst feyerlich begangen, wurde auf dem grossen Schau-Platz der neuen Augustus-Burg zu Weissenfelß Phaeton in einer Opera unterthänigst aufgeführt, Querfurth 1736. Phaeton. Ein musicalisches Trauerspiel welches auf allergnädigsten Befehl an dem höchsterfreulichen Geburts-Feste Ihro Majestät der Königl. Frau Mutter Frauen Sophien Dorotheen Königin von Preussen auf dem Königl. Schauplatze zu Berlin soll aufgeführt werden, Berlin 1750. Carl Heinrich Graun/ Leopoldo di Villati/Francesco Algarotti: Friedrich, Phaeton. Ein musicalisches Trauerspiel welches auf Sr. Königl. Maj. In Preussen auf allergnädigsten Befehl auf dem königlichen Schauplatz zu Berlin aufgeführt werden soll, Berlin 1770. 30 Der Becher mit Motiven nach Alciati befindet sich heute in Bourges, Musée des arts décoratifs. Zu Bertin s. Thierry Lefrançois: Phaéton conduisant le char du soleil de Nicolas Bertin, in: La Revue du Louvre et des musées de France, Heft 31, 1981, S. 282–286 mit Abb. 1. 31 Roberta J.M. Olson: The Comet in Moreau’s ‚Phaeton‘. An Emblem of Cosmic Destruction and a Clue to the Painting’s Astronomical Meaning, in: Gazette des Beaux-Arts, Heft 101, 1983, S. 37–42, sowie Maria Luisa Fronga: Delacroix, Flaubert, Moreau, Redon e Il carro di Apollo, in: Arte Documento, Heft 7, 1993, S. 263–282, bes. S. 267–272. 32 Hans Reisinger: Phaëton, Wien 1922, der Holzschnitt Ludwig von Hofmanns ist das Titelbild. Vgl. Claudia Falter: Ein Meister der Vielseitigkeit. Das graphische Werk Ludwig von Hofmanns, in: Annette Wagner/Klaus Wolbert (Hrsg.): Ludwig von Hofmann. Arkadische Utopien in der Moderne, Darmstadt 2005, S. 264–281 und zu seinen Buchillustrationen Contessa Roberts: Auf der Suche „nach dem entschwebten Land der Griechen“. Der Maler und Graphiker Ludwig von Hofmann (1861–1945). Ein Überblick seines Oeuvres mit besonderem Schwerpunkt auf Zeichnungen und Druckgraphik, Freiburg 2001. 33 Zum Einfluss Moreaus auf Redon und dessen verschiedene Fassungen vgl. Fronga, Delacroix, S. 272–280.
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Abb. 6: Gustave Moreau, Phaeton, 1878, Paris, Cabinet des Dessins, Musée du Louvre.
hier – wie Moreau – ganz die kosmologische Sphäre in kräftigen Farben um,34 wohingegen die Lithographie Pablo Picassos aus dem Jahre 1930 in wenigen Linien den Mythos des Sturzes wieder aufgreift.35 Den Schlusspunkt dieses kursorischen Überblicks soll das Ölgemälde Marc Chagalls aus dem Jahre 1977 bilden, das auf eine langjährige Auseinandersetzung mit dem Motiv des Feuerwagens bei der Himmelfahrt Eliahs in der jüdischen Tradition zurückgeht, hier jedoch mit eindeutig politischer Implikation auf den Kontext des ursprünglichen Mythos verweist: Das Unglück des auf die Erde herabstürzenden Feuerwagens wird bei Chagall weitergedacht, so dass die dadurch in Flammen aufgehende Erde zum Synonym für die Zerstörung des europäischen Juden34 Christian Klemm: Augusto Giacometti „Phaëton im Zeichen des Skorpions”, in: Jahresbericht der Zürcher Kunstgesellschaft, 1991, S. 63–66. 35 S. hierzu Gerlinde Huber-Rebenich: Metamorphosen der ‚Metamorphosen‘. Ovids Verwandlungen in der textbegleitenden Druckgraphik, Rudolstadt-Jena 1999, S. 42–47 m. weiterführender Literatur.
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tums wird. Dass diese Interpretation kein gedankliches Konstrukt ist, belegen sowohl die städtische Architektur, die mit Chagalls Geburtsstadt Vitebsk identifiziert werden kann, als auch die vielen, vor Entsetzen die Arme hebenden Menschen am unteren Bildrand.36 Das Gemälde Chagalls führt zu der Frage, warum die vielen verschiedenen Darstellungen des Phaëthon-Mythos in ihrer jeweiligen Zeit entstanden sind. Die größte Vielfalt an Kunstwerken ist zweifelsohne zunächst mit der Re-Lektüre, Rezeption und Verbreitung des antiken Mythos im 16. Jahrhundert entstanden, doch zeigt der Überblick, dass mit fortschreitender Zeit unterschiedliche Gattungen, wie etwa die Wand- und Deckenmalerei, in den Vordergrund treten. Welche Aussagen sind nun damit zu verbinden? Die emblematische Literatur, ausgehend von Andrea Alciatis „Emblemata“, gedruckt Augsburg 1531 und nachfolgend in Frankfurt, Basel, Lyon und Paris, greift das Emblem in temerarios auf, das in der ersten Hälfte des Epigramms die Geschichte Phaëthons wiedergibt, die im Folgenden dann mit dem Schicksal junger, ehrgeiziger Fürsten und Könige verglichen wird, die sich und ihrem Volk schaden. Zahlreiche Kommentare zu Alciatis Werk fügen Exempla aus der Geschichte hinzu, und ergänzen dieses durch mahnende Worte an den Leser – also den Fürsten und potentiellen Auftraggeber von Kunst –, die diesen zum Maßhalten auffordern.37
Ⅳ. Zwei eingängige Beispiele, die die politische Deutung des Mythos visualisieren, seien kurz angeführt: Es handelt sich zum einen um eine Medaille aus den Niederlanden, zum anderen um eine englische Zeichnung aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Sebastian Dadler fertigte eine Gedenkmedaille auf den Tod Wilhelms II. von Oranien am 6. November 1650, die auf der Versoseite das Panorama von Den Haag mit dem Trauerzug des Prinzen zeigt, darüber den blitzeschleudernden Zeus, der auf den Wagen des herabstürzenden Phaëthon zielt.38 Das Avers bietet ein galoppierendes Pferd vor einer Ansicht Amsterdams und das Datum 30. Juli 1650. „An diesem Tag hatte Wilhelm II., seit 1647 Statthalter der Niederlande, um den Widerstand gegen seine Politik zu brechen, sechs Mitglieder der Staaten gefangengesetzt und gleichzeitig versucht, Amsterdam zu besetzen, was aber misslang. Trotzdem erlangte er die Zustimmung der Staaten, starb aber dann plötzlich an den Blattern. Das galoppierende Pferd der Vorderseite, auf dessen Satteldecke“39 die 36 Mira Friedman: Prophet Elijah’s Ascension in the Works of Chagall, in: Journal of Jewish Art, Heft 10, 1984, S. 102–113. 37 Jacoby, Studien, S. 96–98. 38 Zu Dadlers Vorlagen für die Medaillen insgesamt s. Simon McKeown: Literary Tradition and the Medal: Sebastian Dadler and the Emblem Genre, in: The medal, Heft 45, 2000, S. 44–59, und zu den Gedenkmedaillen für Herrscher, insbes. f. Gustav Adolf von Schweden in: ders.: The King struck down. Sebastian Dadler’s Medallic Images of Gustavus Adolphus, in: The medal, Heft 38, 2001, S. 7–22. 39 Jacoby, Studien, S. 99f.
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Verfassung als ein Buch mit drei Siegeln sowie die Worte Unio(nem) Religio(nem) simultant erscheinen, ist als Symbol der Generalstaaten zu verstehen, die anscheinend bezwungen wurden. Jedoch wurde diese Unterwerfung nicht gutgeheißen; so jedenfalls lässt sich die Aversseite interpretieren, die den Tod des Statthalters als göttliche Strafe zeigt – allerdings mit einem Zitat Ovids (Met. 3,328) in der Umschrift (Magnis excidit ausis), die dessen persönlichen Mut, mit dem er das Wagnis einging, hervorhebt und ihm somit einen letzten Tribut zollt. Sehr viel vordergründigere Kritik übt die handkolorierte Aquatinta-Radierung von James Gillray, die am 1. Juli 1788 von Samuel William Fores publiziert wurde und mit dem Titel „The Fall of Phaeton“ versehen ist: Gillray nutzt den PhaëthonMythos dazu, um King George IV. und seine langjährige Mätresse Maria Anne Fitzherbert aus dem Wagen herausstürzen zu lassen und damit einem öffentlichen Ärgernis Ausdruck zu verleihen.40 Der zukünftige König hatte die katholische Witwe 1785 heimlich geheiratet, allerdings wurde die Ehe vom Königshaus niemals anerkannt. Aufgrund seines verschwenderischen Lebenswandels wurde George von seinem Vater vor die Wahl gestellt, entweder standesgemäß seine Cousine, die Prinzessin von Braunschweig, zu heiraten, oder aus seiner Residenz Carlton House auszuziehen. In dieser Situation entstand die Radierung, die in ihrer Verurteilung der Unbotmäßigkeit des künftigen Königs nicht deutlicher sein könnte. Zwanzig Jahre später, am 22. März 1808, benutzt Gillray erneut den Phaëthon-Mythos, um eine politische Größe, den Außenminister George Canning zu karikieren: In heroischer Positur lenkt Phaëthon alias Canning den schon brennenden Sonnenwagen durch einen Sternenhimmel voller ihm übelwollender Gegner und über einer durch Napoleon bereits in Brand gesetzten Erde.41 Diese beiden Beispiele zeigen, dass die Botschaft des Mythos überall verstanden wurde, dass er zum Allgemeingut zumindest einer gehobenen Schicht geworden war. Zugleich aber stehen die oben angeführten Beispiele auch für das teilweise Scheitern eines Herrschers – wie also ist dann zu verstehen, dass seit dem 16. Jahrhundert der Mythos in Deckenmalereien italienischer adliger Paläste geradezu zum Modethema avancierte? Selbstverständlich lässt er sich immer als Warnung vor unmäßigem Verhalten verstehen und würde damit eine reflektierte Haltung des Auftraggebers visualisieren, der sich der Verlockungen und Gefahren der Macht bewusst ist – ein beliebtes Thema adliger Repräsentation. Allerdings sind diese Malereien in den verschiedensten Räumen angebracht worden, und damit stellt sich erneut die Frage nach der Kontextualisierung, die nun anhand weniger nahezu zeitgleich entstandener Decken- und Wandmalereien in Mantua, Trient und Genua erörtert werden soll.
40 Abbildung unter URL: www.gillrayprints.com/view_art.php?min=08max=10000000. Zu James Gillray immer noch unerlässlich die Biographie von Draper Hill: Mr Gillray the Caricaturist, London 1965, zu seinem graphischen Werk: Richard Godfrey/Mark Hallet (Hrsg.): James Gillray. The Art of Caricature. Ausstellungskatalog Tate Gallery, London 2001, bes. S. 90–186 zur politischen Karikatur; zu Gillrays Rhetorik der Karikatur s. Christina Oberstebrink: Karikatur und Poetik: James Gillray 1756–1815, Berlin 2005. 41 Godfrey/Hallet, Gillray, S. 164 Nr. 139.
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Ⅴ. In Mantua ließ Herzog Federico II. Gonzaga seinen neu erbauten Palazzo del Tè von Giulio Romano ausmalen, darunter auch im Jahre 1527 die so genannte Sala delle aquile, den Adlersaal, mit dem Phaëthon-Mythos (Abb. 5).42 Bei diesem Raum in den Privatgemächern, dem kleinsten des gesamten Palastes, handelt es sich um nichts Geringeres als um das herzogliche Schlafgemach. Giulio Romano gelingt hier eine Verschmelzung von Wand- und Deckenmalerei, wobei das zentrale Achteck in der Deckenmitte in kühner perspektivischer Verkürzung den Sturz Phaëthons wiedergibt. Adler, das Wappentier der Gonzaga, treten aus den vier Ecken hervor, auf den Lünetten sind Götter und Amoretten abgebildet. Stuckreliefs mit den Liebesentführungen der Götter (z.B. dem Raub der Proserpina und demjenigen der Amphitrite) komplettieren das Programm, dessen zentrales Thema die Leidenschaften zu sein scheinen – was für ein Schlafgemach passend gewesen sein mag, zumal Federicos überaus leidenschaftliche Liaison mit Isabella Boschetti solchen Interpretationen Nahrung gibt.43 Die Wand- und Deckendekorationen des Palastes, seit dem Besuch Kaiser Karls V. 1530 und 1532 in aller Munde, scheinen den allgemeinen Anforderungen für die Anbringung von Deckenfresken zu genügen, die 1586 in einem Traktat des Kunsttheoretiker Giovanni Battista Armenini formuliert wurden: Unter Berücksichtigung des decorum hätten die großen, öffentlichen Säle mit den Taten und heroischen Tugenden großer Männer – also mit historischen Fakten – ausgemalt zu werden, die Paläste der Bürger und die privaten Räume hingegen, die dem otium dienten, mit einem fatto poetico, namentlich mit den favole Ovids.44 Die Anbringung des Phaëthon-Sturzes im Schlafgemach entspricht also dieser Anforderung, zugleich aber beansprucht der Autor ausgerechnet für diesen Mythos eine politisch-moralische Deutung: Mit Bezug auf die Deckenfresken der sala delle aquile deutet er die favola „nach einer ausführlichen Beschreibung der dargestellten Affekte als Allusion auf die schlechte Regierung eines Fürsten und als Mahnung vor der imprudenza“.45 Zu berücksichtigen gilt es auch, dass sich in der Bibliothek der Gonzaga ein 1493 dem herzoglichen Vater Francesco gewidmeter Kommentar zu den Metamorphosen Ovids von Raphael Regius befand, der die Mythen ganz einfach als exempla virtutum vitiorumque darstellt. „So lehre beispielsweise der Sturz des Phaëthon schlicht, dass sich die Kinder nicht den Ratschlägen der Eltern widersetzen sollen.“46 Sollte der Mythos im herzoglichen Schlafgemach dieser simplen Ausdeutung folgen? 42 Amedeo Belluzzi: Palazzo Te a Mantova, Modena 1998, S. 115–141 zu den Ausmalungen, S. 405–417 die Dokumentation zur Camera delle Aquile; Frederick Hartt: Giulio Romano, Bd.1, New Haven 1958, S. 123–126; Egon Verheyen: The Palazzo del Te in Mantua. Images of Love and Politics, Baltimore u.a. 1977, passim. 43 Verheyen, Palazzo del Te, S. 19–21 u. 28f. 44 Vgl. Michael Thimann: Lügenhafte Bilder. Ovids favole und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen 2002, S. 76. 45 Ebd. S. 75. 46 Thimann, Lügenhafte Bilder, S. 35.
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Mit Bezug auf Federico Gonzaga gibt es eine weitere Deutung, die den Mythos aktualisiert: In Vergils Aeneis (10, 189ff.) steht Phaëthons Tod in enger Verbindung mit der Nennung Mantuas, was bereits in spätantiker Zeit zu der Identifizierung des Flusses Po, der durch Mantuaner Gebiet verläuft, mit dem Fluss Eridanus geführt hat. Phaëthons Tod führte zum Ende der drohenden Zerstörung der Welt – und damit zum Aufatmen; diese Erholung und Wiederherstellung eines arkadischen Lebensraumes ging von dem Punkt aus, an dem Phaëthon in den Fluss gestürzt war – und dieser Punkt wurde mit Mantua identifiziert.47 Inmitten der kriegerischen Zeiten würde also, so verstanden, der Frieden von Mantua ausgehen, und die Adler in den Ecken des Schlafsaals lassen keinen Zweifel, dass der Herzog selbst der Friedensstifter sein würde. Es lässt sich nach heutigem Kenntnisstand nicht entscheiden, welche Deutung der Fresken vorrangig ist – möglich wäre auch, alle Lesarten nebeneinander bestehen zu lassen, womit das Schlafgemach ein Dekorationsprogramm aufwiese, das sowohl private wie auch staatspolitische Bezüge hätte. Die Mantuaner Fresken waren jedenfalls insgesamt Aufsehen erregend, und so nimmt es nicht Wunder, dass der prachtliebende Trientiner Fürstbischof Bernhard von Cles (1485–1539) in den Jahren 1528 bis 1536 seine Residenz, den Palazzo del Buonconsiglio, ausbauen und in der Manier eines italienischen Renaissancefürsten ausschmücken ließ.48 1531/32 wurde der große Repräsentationssaal mit Fresken dekoriert; aus der erhaltenen Korrespondenz mit den ausführenden Künstlern, den Gebrüdern Dossi, geht eindeutig hervor, dass der Kirchenfürst für diesen Raum ein profanes Programm entweder mit einigen Fabeln Ovids oder mit Szenen des Alten Testaments haben wollte, und dass Dosso Dossi selbst die genauen Themen bestimmen und ausführen sollte.49 Die Vorgeschichte der Planung – Dossi wählte Szenen aus den Metamorphosen – legt also nahe, dass „hinsichtlich einer ikonologischen Ausdeutung der mythologischen Szenen kein tieferer moralisch-allegorischer oder panegyrischer Sinn bei der Auswahl der Einzelszenen“50 wie des Gesamtprogramms zu vermuten ist. Die Auswahl der favole als angemessene Dekoration des Saals war ausschließlich ästhetisch motiviert. Der Phaëthon-Mythos erscheint aber nicht unter diesen Malereien, sondern in der von Girolamo Romanino ausgeführten Loggia im sog. Löwenhof (Abb. 7).51 Das Hauptdeckenfresko stellt nicht den Sturz, sondern Phaëthon als Wagenlenker dar. Es folgt damit, wie bereits angedeutet, der Angleichung des 47 Verheyen, Palazzo del Te, S. 89. 48 Zu Bernhard von Cles s. vor allem Alfred A. Strnad: Bernhard von Cles (1485–1539). Herkunft, Umfeld und geistiges Profil eines Weltmannes der Renaissance. Zum Erscheinungsbild eines Trientner Kirchenfürsten im Cinquecento, Innsbruck 2004, zu dessen Rolle als Mäzen der Künste und Wissenschaften ebd., S. 97–134. 49 Thimann, Lügenhafte Bilder, S. 88–90. 50 Ebd. S. 89 51 Dokumentiert ist die Bemalung der Loggia ausführlich in der Publikation der Restaurierung von Ezio Chini: Il Romanino a Trento. Gli affreschi nella Loggia del Buonconsiglio, Trento 1988; vgl. zum Gesamtprogramm die kurzen Beiträge von Rossana Bossaglia: Il ciclo di Trento nel percorso del Romanino, in: Paolo Prodi (Hrsg.), Bernardo Clesio e il suo tempo, Città di Castello 1988, S. 411–415, und von Wolfgang Wolters: La decorazione delle volte e die soffitti del Castello del Buonconsiglio, in: ebd., S. 417–429.
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Abb. 7: Girolamo Romanino, Loggia im Löwenhof, 1531/1532, Trient, Palazzo Buonconsiglio.
Phaëthon mit Apollon und ordnet den Mythos in einen kosmologischen Zusammenhang ein.52 In diesen Kontext fügen sich auch die weiteren Deckenfresken mit der Darstellung der vier Jahreszeiten und der Allegorien von Sonne und Mond ein, ergänzt durch einzeln dargestellte olympische Götter in den Zwickeln – ein Programm, das ganz und gar auf Apoll als Lichtbringer und Beherrscher des Tagesablaufs wie auch der Jahreszeiten abgestimmt ist. Das Programm wurde offensichtlich von Romanino zusammengestellt und gehörte inhaltlich zum Allgemeinwissen.53 Auch der dem Genueser Stadtpatriziat angehörende Andrea Doria, 1532 von Karl V. zum Fürsten von Melfi erhoben, suchte seiner Stellung entsprechend neue Repräsentationsformen. Das Konkurrenzverhältnis zu Mantua, zu dem Hof, der den Habsburger bereits empfangen hatte, lässt den mächtigen Bürger mit europäischem Geltungsdrang um 1536/37 seinen Palazzo Fassolo mit Wand- und Deckenmalereien versehen, wozu er neben Giulio Romano den zu jener Zeit ebenfalls berühmten Perin del Vaga engagiert.54 Der Empfangs- und Repräsentationssaal wird mit Malereien aus der Seefahrt geschmückt, mit politischen Allegorien, die in der Identifizierung des Hausherrn mit einem ‚neuen Jupiter‘ gipfeln. Die Privatgemä52 Vgl. inhaltliche Interpretationen jüngst bei Lia Camerlengo: La loggia del principe, in: dies. (Hrsg.): Romanino. Un pittore in rivolta nel Rinascimento italiano, Mailand 2006, S. 258– 269. 53 Camerlengo, Loggia, S. 258f. und Giuseppe Barbieri: Vorrei fare alcune cose chio ho lette. Considerazioni sugli approci di Girolamo Romanino a Trento, in: Arte documento, Heft 22, 2006, S. 132–143, sprechen die programmatische Gestaltung ganz Romanino zu und nehmen als eine Vorlage Filaretes Architekturtraktat, Buch IX, an. 54 Hierzu und zum Folgenden s. Lorenza Rossi: Dalla narrazione all’emblema. Il mito di Fetonte nell’affresco ‚genovese‘ del Cinquecento, in: Arte documento, Heft 4, 1990, S. 102–111.
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Abb. 8: Luca Cambiaso, La caduta di Fetonte, 1565, Genua, Palazzo Doria-Spinola.
cher seiner Ehefrau – Peretta Usodimare – aber lässt er in den Lunetten des Deckengewölbes mit den Szenen des Phaëthon-Mythos ausschmücken, die hier ergänzt werden um Szenen des Sonnenverlaufs während des Tages und Repräsentationen der vier Himmelsrichtungen – eine Kombination, die eine eher naturalistische Interpretation des Mythos nahe legt und ihn wieder in die astronomischen Zusammenhänge einbettet, die der mittelalterlichen Tradition entstammen und für die Trientiner Fresken ebenfalls maßgeblich waren. Diese Deutungsebene lässt sich auch in den Malereien eines weiteren Genueser Palastes beobachten: Im so genannten Salotto di Apollo der Villa Pallavicino delle Peschiere, einem Repräsentationsraum im Piano nobile, wird um 1560 eine Trompel’oeuil-Malerei in Form einer fingierten Öffnung nach außen realisiert, die den Sturz Phaëthons zeigt, allerdings eingebettet in ein kompliziertes Wandmalereiprogramm, das die Sternkonstellation des Eridanus wiedergibt, und dieses wiederum gehört zum Themenkomplex des Tagesablaufs, für den Apoll steht. Der PhaëthonMythos dient hier also der näheren Beschreibung des Planetengottes, wird Ornament der Lebenswelt der mythischen Götter. Dass daneben dennoch auch zu jener Zeit eine andere Interpretation in den Deckenfresken manifestiert wird, belegen die Malereien von Luca Cambiaso im Palazzo Doria-Spinola aus dem Jahre 1565: Der Sturz des Phaëthon (Abb. 8) wird hier beobachtet von der versammelten Götterschar, ihm zur Seite gestellt werden weitere negativ konnotierte Helden wie Ikarus, Marsias, die Giganten und Arachne. Diese Fresken im Repräsentationssaal des Palastes werden stets als eine Art Manifest des umsichtigen Verhaltens des Auftragge-
Abb. 9: Georg Pencz, Sturz des Phaëton, 1534, Nürnberg, Hirschvogelsaal.
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bers verstanden und wären somit in den von Alciati vorgegebenen Traditionsstrang einer politischen Interpretation einzuordnen. Diese bei Alciati angelegte politische Deutung des Mythos und die von Armenini geforderte Lokalisierung mythologischer Fresken in Bürgerhäusern finden wir schließlich nördlich der Alpen realisiert: Der zu den namhaftesten Geschlechtern Nürnbergs gehörende Patrizier Lienhard III. Hirschvogel ließ an der Rückseite seines bereits bestehenden Wohnhauses einen Anbau errichten, dessen Saal im ersten Obergeschoss, dem piano nobile, mit einem großformatigen Deckengemälde von Georg Pencz ausgemalt und 1534 vollendet wurde (Abb. 9).55 Es besteht aus 20 Leinwänden, die insgesamt ca. 100 qm Fläche ausfüllen. Der so genannte Hirschvogelsaal wurde im 2. Weltkrieg komplett zerstört. Da die Ausstattung jedoch ausgelagert war, konnte er weitestgehend rekonstruiert werden. Georg Pencz, 1532 als Nürnberger Ratsmaler bestallt und für seine Bildnisse bekannt, lässt in seiner Deckenmalerei mit der stark illusionistischen Unteransicht ohne Zweifel die Kenntnis der Mantuaner Deckenmalereien erkennen, doch hält er sich in seiner Formulierung des Phaëthon-Sturzes eng an die literarische Vorlage mit den einzelnen Szenen: es beginnt in der unteren rechten Bildecke mit der Bitte an Apoll, umrahmt von dem Zodiakus, in der Mittelachse folgt das Hauptgeschehen mit dem blitzeschleudernden Jupiter und dem stürzenden Phaëthon. Jupiter nähern sich die Windgottheiten (Boreas), darunter befinden sich Aurora und Venus als Morgenstern, bei dem geflügelten Jüngling mit Pfeil und Bogen handelt es sich um Hesperos (Sohn der Aurora und Abendstern). Rechts von Jupiter sind Herkules, Mars, Neptun und Pluto (Hades als Rückenakt) zu identifizieren, unterhalb von Neptun steht Saturn. Die vor Jupiter kniende Frauengestalt wird mit Tellus identifiziert, die Jupiter bittet, einen Blitz zu schleudern, um die Welt zu retten, hinter ihm steht Juno. Das Bild gibt lückenlos den mythologischen Handlungsverlauf wieder und bettet ihn zudem in die kosmologische Ordnung und den Ablauf von Tag und Nacht ein – die beiden Stränge der Interpretation des Mythos, die südlich der Alpen jeweils für sich dargestellt waren, werden nördlich der Alpen miteinander kombiniert. Die Darstellung des Phaëthon-Mythos in der Deckenmalerei des Hirschvogelsaals ist kein Einzelfall – die Visualisierung dieses Mythos lässt sich in einigen Bürger- und Rathäusern nachweisen, sowohl in Nürnberg als auch in Landshut, in Mecheln und in Amsterdam als Deckenbild in Rathäusern und in Bürgerhäusern, in Nürnberg und in Regensburg zudem als Fassadenmalerei.56 Für Nürnberg ist die Funktion der Räume als Festsaal und Herberge für hochstehende Fürsten bezeugt.57 Mit der Visualisierung des Mythos beanspruchte das gehobene Bürgertum die Geltung des Phaëthon-Exempels auch für sich und machte damit einen weiteren Schritt
55 Hierzu vor allem Wiesner, Deckengemälde, passim, und Johannes Hallinger: Georg Pencz und der Hirsvogelsaal zu Nürnberg, in: Susanne Böning-Weis (Hrsg.): Der Hirsvogelsaal in Nürnberg. Geschichte und Wiederherstellung, München 2004, S. 91–194 sowie Diemer/Diemer, „Der was nit klan …“, S. 104–120. 56 Wiesner, Deckengemälde, S. 100f.; Jacoby, Studien, S. 44–46, 49, 89f., 103; Diemer/Diemer, „Der was nit klan…“, S. 111f.; Lauterbach/Endemann/Frommel, Stadtresidenz, S. 233–248. 57 Wiesner, Deckengemälde, S. 129–135.
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zur Angleichung an adliges Verhalten.58 Nördlich der Alpen diente der PhaëthonMythos nicht nur der Repräsentation oder als didaktisches Exemplum, sondern er wurde darüber hinausgehend zum Instrument des Anspruchs auf soziale Mobilität.
58 Auch Diemer/Diemer, „Der was nit klan…“, S. 112 u. 115, gehen davon aus, dass das Bestreben, mit den Malereien einen prunkvollen Rahmen – und damit gesellschaftliches Prestige – zu schaffen, für Hirsvogel das Movens für die Auftragsvergabe war. Sie vermuten allerdings, dass der Maler für die Wahl des Themas verantwortlich sei, was ich bezweifle. Hallinger, Georg Pencz, S. 101, hat sogar den Wappenvogel des Auftraggebers, Lienhard Hirsvogel, in der Architektur-Abbreviatur des Sonnentempels entdeckt – ein Zeichen, das sowohl für Hirsvogels Selbstbewusstsein als auch für die Imitation adligen Verhaltens spräche.
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Abbildungsnachweis Abb. 1:
Dieter Blume: Regenten des Himmels, Berlin 2000, Abb. 50.
Abb. 2:
Heinrich Aldegrever, compiled by Ursula Mielke, Rotterdam 1998, Abb. 74.
Abb. 3 u. 4:
Hans Ost, Das Leonardo-Portrait in der Kgl. Bibliothek Turin und andere Fälschungen des Giuseppe Bossi, Berlin 1980, S. 112 und 117, Abb. 53 und 56.
Abb. 5:
Amedeo Belluzzi: Palazzo Te a Mantova, Modena 1998, Abb. 636.
Abb. 6:
Roberta J. M. Olsen : The Comet in Moreau’s «Phaeton» : An Emblem of Cosmic Destruction and a Clue to the Painting’s Astronomical Meaning, in: Gazette des Beaux-Arts 101 (1983), S. 38, Fig. 1.
Abb. 7:
Ezio Chini: Il Romanino a Trento. Gli affreschi nella Loggia del Buonconsiglio, Trento 1988.
Abb. 8:
Lorenza Rossi, Dalla narrazione all’emblema: il mito di Fetonte nell’affresco «genovese» del Cinquecento, in: Arte documento 4 (1990), S. 108/109, Abb. 7.
Abb. 9:
Nina C. Wiesner: Das Deckengemälde von Georg Pencz im Hirschvogelsaal zu Nürnberg, Hildesheim 2004.
Phaëthon in der deutschen Literatur Christiane Hansen, Bernd Seidensticker Auch wenn Phaëthon nicht zu den wirkungsmächtigsten antiken Figuren gehört, ist die literarische Rezeptionsgeschichte des Stoffs vielfältig. Vom ausgehenden Mittelalter bis in die Moderne akkumuliert der Mythos ein breites Spektrum verschiedener Deutungen und wird in unterschiedlichen Zusammenhängen instrumentalisiert.1 Am Anfang der deutschsprachigen Phaëthon-Rezeption steht die mittelhochdeutsche Übertragung der Metamorphosen Ovids durch Albrecht von Halberstadt. Leider ist dieser erste Versuch, das wirkungsmächtige Epos in einer der europäischen Nationalsprachen zu präsentieren – immerhin mehr als 100 Jahre vor dem Ovide Moralisé – fast völlig verloren gegangen, und Albrechts Gestaltung der Phaëthon-Episode kann aus der rund 350 Jahre später erschienenen Bearbeitung seines Werks durch Jörg Wickram (1545) nicht mit Sicherheit erschlossen werden.2 Diese beschränkte sich offenbar keineswegs auf eine Umsetzung der mittelhochdeutschen Reimpaarverse in die Sprache seiner Zeit, sondern setzte – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Ovide Moralisé – sowohl gegenüber Ovid als auch gegenüber Albrechts Bearbeitung eigene Akzente.3 Dem bedeutenden Vertreter der oberrheinischen volkssprachlichen Literatur – neben einer Reihe von Dramen produzierte er vor allem Prosaromane und Schwanksammlungen – ging es bei der ‚Modernisierung‘ von Albrechts Übertragung in Reimpaarversen in erster Linie darum, das von Ovid bereitgestellte mythologische Material allgemein zugänglich zu machen. Dabei dachte er vor allem an Maler und Bildhauer, Kupferstecher und Holzschneider. Die Übertragung ist in einzelne ‚Figurae‘ gegliedert, die jeweils von einem Holzschnitt eingeleitet und von einem detaillierten Prosakommentar abgeschlossen werden. Wie durchweg bewahrt Wickram auch bei der Phaëthon-Geschichte im Großen und Ganzen die Ovidische Erzählung, zeichnet aber durch eine Reihe kleinerer Änderungen die Gestalt des Jünglings deutlich negativer als Ovid. So lässt sich zeigen, dass Wickram in der Frage nach der Schuld an der Katastrophe die Ambiva1
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Die Anmerkungen sind auf das Wesentlichste beschränkt; weitere Literatur und detailliertere Interpretationen zu vielen der behandelten Texte in: Christiane Wirtz: Der Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur von der frühen Neuzeit bis Goethe, Zulassungsarbeit (unpubl.), Freiburg/Br. 2006. Georg Wickram: Sämtliche Werke. Bd. 13,1. Ovids Metamorphosen. Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Berlin 1990. Vgl. u.a. Brigitte Rücker: Die Bearbeitung von Ovids ,Metamorphosen‘ durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997.
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lenz seiner lateinischen Vorlage reduziert und auf eine moralische Antwort hin zuspitzt, indem er wiederholt die Unbesonnenheit des Jünglings hervorhebt. Das zeigt sich mit aller Klarheit am Schluss der Erzählung, wenn Wickram die pointiertknappe Grabinschrift Ovids zu einem ganz eigenen Kommentar erweitert. Heißt es bei Ovid: Hic situs est Phaëthon, currus auriga paterni; Quem si non tenuit, magnis tamen excidit ausis. (Met. II, V. 327 f.) (Hier liegt Phaëthon, Wagenlenker des väterlichen Wagens. Wenn er diesen auch nicht zu halten vermochte, so stürzte er doch, nachdem er Großes gewagt hatte) So erklärt Wickram: Hie ligt Phaeton begraben Der was seins Vatters Wagen mann Die gantze Erden er verbrann Als er die Sunn herumb füren wolt Welche der Erden leuchten solt Deshalb darff niemandts zweiffeln nun Daß er sey gewesen Phebus Sun. (II, V. 698–704) Bestätigt Ovid Phaëthon abschließend, dass er zwar nicht im Stande gewesen sei, des Vaters Viergespann zu zügeln, aber Großes gewagt habe („magnis ausis“), so streicht Wickram die in diesen Worten liegende Anerkennung und verspottet den Gestürzten stattdessen mit einer sarkastischen Schlussfolgerung: Immerhin habe Phaëthon sein Ziel ja erreicht, denn nach dem die ganze Welt erleuchtenden Brand habe niemand mehr daran zweifeln können, dass er der Sohn des Sonnengottes gewesen sei. Der Großes wagende Jüngling Ovids wird so zur moralischen Allegorie für die Bestrafung von Hochmut und Unbesonnenheit. Der Kommentar des Lorichius von Hadamar, den der Herausgeber Wickrams Text beigegeben hat, bietet eine ganze Reihe von Deutungen, nach denen Phaëthon nicht als allegorische Kritik an der ‚superbia‘ eines unreifen Jünglings verstanden wird, sondern allgemeiner als Kritik an Adel, Kirche oder Gelehrtenstand gelesen und verwendet werden kann. Diese politischen Instrumentalisierungen des Phaëthon-Mythos bestimmen auch die Verwendung des Sinnbilds in der Emblematik. In Andrea Alciatis Emblematum liber, der wichtigsten Sammlung dieser im 16. und 17. Jahrhundert so überaus populären Gattung, erscheint das Phaëthon-Emblem unter dem Motto: „in temerarios“ – wider die Verwegenen! In dem 1531 in Augsburg erschienenen Werk des Italieners ist den Holzschnitten von Jörg Breu neben dem lateinischen auch ein deutsches Epigramm beigegeben, das sich zwar an den lateinischen Distichen Alciatis orientiert, mit seinen vierhebigen gereimten Jamben aber doch als Stück deutscher Literatur gelten kann.
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Die Auslegung des Mythos auf den verhängnisvollen Ehrgeiz junger Fürsten, die sich und ihre Untertanen ruinieren, ist in der deutschen Fassung der Pariser Ausgabe des Werks besonders pointiert: Da Phaeton noch iung vnd schwach, Die Sonn zu fiernn in stoltz gedacht, Verbrant er die ganntz welt gar nach, Und sich selbs vmb das leben bracht: Noch manch Furst iung, vnd vnbedacht, Offt durch ehrgeytz, vnd hochfart wennd Zu gmaynem vngluck all sein macht, Vnd puest zu loetzt mit boesem ennd.4 In den geistlichen Emblembüchern, mythologischen Exempelsammlungen und Predigttexten sowie in der Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts erscheint die moralisch-politische Deutung des Mythos in christlicher Färbung. Phaëthon wird zum Sinnbild der ‚superbia‘; der Sturz des Stolzen dient dem Appell zu christlicher Demut. Als Beispiel mag das Mirantische Flötlein dienen, das 1711 in Frankfurt erschienen ist.5 Jedem der dreißig Lieder des Kapuzinermönchs Laurentius von Schnüffis, der sich in seinen Büchern Mirant nannte, gehen ein Kupferstich und eine Melodie mitsamt Basslinie voraus. Auf die Ankündigung des Themas und ein dazu passendes Bibelzitat, das auch unter dem Kupferstich erscheint, folgen jeweils zwanzig achtzeilige Strophen, die die jeweilige Lehre mit immer neuen Exempla aus antiker Mythologie, Geschichte, Alltagswelt und Altem Testament belegen. Der Kupferstich des sechsten Lieds im zweiten Teil der Sammlung zeigt nicht Phaëthon, sondern den Sturz Luzifers, der schon seit dem Mittelalter mit Phaëthon verglichen wird. Phaëthon erscheint am Ende der Reihe, die Hoffart, ihre Bestrafung und die Vergänglichkeit weltlichen Ruhms dokumentiert, zusammen mit dem übermütigen Ikaros: Niemal ist Hoffart ohne Schand geblieben/ Hat zu dem Fall den Phaéton getrieben/ Welcher auff seinem schönen Ehren-Wagen Meisterloß wolte durch die Höhe jagen/ Hochmuth hat aber seine Räiß verkürtzet/ Ihne gestürtzet/ Mußte im Pò mit unerhörtem Schaden Zu tode baden. (V. 90–97)
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Andreas Alciatus: Emblematum libellus. Repographischer Nachdruck der Ausgabe, Paris 1542. August Buck (Hrsg.), Darmstadt 1991, S. 144f. Laurentius von Schnüffis: Mirantisches Flötlein. Repographischer Nachdruck der Ausgabe, Frankfurt/M. 1711, in: Annemarie Daiger (Hrsg.), Darmstadt 1968; vgl. u.a. Ruth Gstach: Mirant. Komödiant und Mönch. Leben und Werk des Barockdichters Laurentius von Schnifis, Graz 2003.
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Die Strophe – metrisch handelt es sich um eine Variation der im Barock gern verwendeten gereimten sapphischen Strophe – komprimiert die Ovidische Erzählung rigoros auf Phaëthons Hochmut und Sturz. Die Vorgeschichte, die zu der verhängnisvollen Bitte führt, fehlt ebenso wie die Mahnrede des Helios und der Weltenbrand, den der stürzende Wagenlenker auslöst. Stattdessen wird der für seine Hoffart Bestrafte – wie bei Wickram – dem Spott des Lesers preisgegeben: Das beginnt bereits damit, dass die tragisch endende Fahrt als „verkürzte Reise“ bezeichnet wird, und erreicht im letzten Adoneus mit der ironischen Iuxtaposition von Tod und Bad einen pointierten Höhepunkt. Schon in Johannes Posthius’ 1563 erschienenen Tetrasticha in Ovidii Metamorphoseon libros XV tritt eine ähnlich spöttische Haltung hervor: Phaeton mit wagen und pferden Vom Himmel hoch felt auf die Erden. Der was nicht kan und nimpt sichs an, Der müß den spott zum schaden han.6 Es verwundert so nicht, dass der Stoff Gegenstand von Satire und Parodie werden konnte. Im Unterschied zu Spanien, Frankreich, Italien und England entstehen zwar in Deutschland keine Phaëthon-Komödien oder -Harlekinaden, die den Mythos als dramatische Vorlage oder als intertextuelle Folie für eine moderne Geschichte benutzen, durchaus aber komödiantische Bearbeitungen des Stoffs. 1774 widmete Heinrich Leopold Wagner dem Fürsten von Nassau-Saarbrücken zum Beginn des Jahres eine politische Satire mit dem Titel Phaeton.7 Die 18 gereimten Strophen in drei-, vier- und fünfhebigen Jamben folgen der Ovidischen Erzählung zwar recht genau, übertragen die Geschichte aber ganz in die höfische Welt und setzen eigene Ponderierungen und Akzente. Der parodistische Ton ist von der ersten Strophe an überdeutlich: Herr Epaphus, ein Spötter Der Menschen und der Götter Sprach einst dem Prinzen Phaeton Und seiner Frau Mama zum Hohn, Er wäre nicht des schönen Phoebus Sohn. (V. 1–5)
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Iohan. Posthii Germershemii Tetrasticha In Ovidii Metam. Lib. XV.: Qvibus accesserunt Vergilij Solis figurae elegantiss. & iam primùm in lucem editae = Schöne Figuren, auß dem fürtrefflichen Poeten Ouidio / allen Malern, Goldtschmiden, vnd Bildthauwern, zu nutz vnnd gutem mit fleiß gerissen durch Vergilium Solis, vnnd mit Teutschen Reimen kürtzlich erkläret, dergleichen vormals im Truck nie außgangen, Durch Johan. Posthium von Germerßheim, Francofvrti: Coruinus, Feyrabent, & Gaullus 1563, S. 22. Heinrich Leopold Wagner: Phaeton. Eine Romanze. Dem durchlauchtigsten Fürsten und Herrn Ludwig, Fürsten zu Nassau/Grafen zu Saarbrücken und Saarwerden, Herrn zu Lahr, Wisbaden und Idstein etc. etc. etc. in tiefster Ehrfurcht erzehlet von Heinrich Leopold Wagner. Nachdruck der Ausgabe Saarbrücken (Hofer) 1774. Christoph Weiß (Hrsg.), St. Ingbert 1990 (mit ausführlichem Nachwort).
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Phaëthon, der daraufhin erst zur ,Mama‘ und dann zum ,Herrn Papa‘ rennt, um sich seine göttliche Herkunft bestätigen zu lassen, ist als unreifer, unbelehrbarer und eitler Prinz gezeichnet, der trotz der „100 Gründ’“, die sein Vater gegen die Fahrt auf dem Sonnenwagen vorbringt, bei seinem „Wahn“ bleibt und dann „so stolz wie eitle Pfauen/ und hübsche junge Frauen“ „einherfährt“, bis Zeus’ Blitz ihn trifft. Die Schlussstrophe der Erzählung fügt dem Schaden den Spott hinzu: Schon bey dem ersten Streiche War Phaeton zur Leiche, Und – was noch mancher Pferdenarr Weit mehr bedauern wird – so gar Der schönste Zug, der je gesehen war. (V. 81–85) Es folgt das fabula docet, das den Sturz des Prinzen – wie die Embleme und die Erbauungsliteratur – verallgemeinernd auf alle Regenten bezieht, allerdings ohne die Folgen schlechter Herrschaft ausdrücklich zu benennen: Kein schöner Monumente Erbaut sich der Regente, Der seine Kräften nie studiert, Beym kleinsten Sturm den Kopf verliehrt Und alles nur nach seinem Wahn regiert. (V. 86–90) Natürlich war Wagner sich darüber im Klaren, dass sein Geschenk an den jungen Fürsten von diesem oder von Anderen auch als Angriff auf den Landesherren verstanden werden konnte: Ich wollt’ es keinem Dichter rathen Dem oder jenem Potentaten Diß launischte Gedicht zu weyhn: Schnell wird ein Schmeichler Schwarm o crimen laesae schreyn. (V. 91–94) So beeilte er sich, eine panegyrische Schlusssequenz hinzuzufügen, die betont, dass er „Prinz Phaetons verwegenes Betragen“ natürlich nur geschildert habe, damit die Leser fühlen könnten Wie himmelweit der Abstand sey Von einem Phaeton zu Ludwigs Conterfey. (V. 105–108) Ob das nun ehrlich gemeint war – und dann wohl nur als naiv bezeichnet werden könnte – oder aber, was wahrscheinlicher ist, das satirische Spiel nur noch um eine ironische Ebene erweitern und verschärfen sollte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall waren Wagners Tage in Saarbrücken gezählt. Intrigen am Hof sorgten dafür, dass sowohl Wagner als auch der Kammerpräsident Hieronymus Maximilian von Günderode, bei dem der Dichter als Hofmeister arbeitete, die Stadt verlassen mussten.8
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Vgl. Christoph Weiß: Nachwort, in: ders., Wagner. Der ausführliche Brief Wagners an Ring,
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Etwa zur gleichen Zeit (1772 in der dritten und letzten Fassung) entstand Just Wilhelm Friedrich Zachariäs episches Gedicht Der Phaethon.9 Schon der bestimmte Artikel des Titels macht darauf aufmerksam, dass es nicht – jedenfalls vordergründig nicht – um die mythologische Gestalt, sondern um den nach Phaëthons Wagen benannten Kutschentyp geht, einen Zweispänner mit leichtem, vorn ganz oder teilweise offenem Wagenkasten. Die epische Mythenparodie beginnt, wie es sich gehört, mit einem veritablen Musenanruf: Singe, Muse, den Unfall von einer verwegenen Gräfin, Die es gewagt, neptunische Rosse mit männlichem Muthe Zu regieren, vom Phaeton aber, ob gleich nicht beschädigt, In den See gestürzt, den ietzt noch ihr Name verewigt. (V. 1–4) Die junge Gräfin Diana erbittet von ihrem Vater, der versprochen hat, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, die Erlaubnis, „ohne männliche Hülfe“ den neuen Phaeton zu lenken, „mit welchem noch niemand gefahren.“ Alle Versuche des Vaters, sie mit dem Hinweis zurückzuhalten, sie solle nichts verlangen, was sie als Mädchen nicht werde bewältigen können, bleiben ebenso erfolglos, wie die Warnungen der Zofe und ihres Lehrers Kahlmann, der sie an das Schicksal des mythischen Phaëthon erinnert. Schließlich gelingt es, sie zu überreden, für den Fall der Fälle, wenigstens ihren Verehrer, den Baron, mitzunehmen. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: der Phaëthon versinkt, trotz des beherzten Eingreifens des Verehrers, schließlich in den Fluten des Sees. Vom Baron gerettet, bereut der weibliche Phaëthon die ungeziemliche Kühnheit und darf zur Belohnung mit dem Baron Verlobung feiern. Die Schlussverse verkünden die Moral: Bis auf den heutigen Tag heißt, von dem Unfall der Gräfin, Dieser See, der Dianensee. Ein warnender Name Amazonischen Schönen, die mit verwegenen Händen Pferd, und Ehmann regieren, und Hut und Freiheit uns rauben. (V. 114–117) Nur ganz vereinzelt finden sich in den ersten Jahrhunderten der modernen deutschen Phaëthon-Rezeption auch Texte, die die positiven Aspekte oder doch die Ambivalenz des von Ovid geschaffenen mythischen Bildes aufscheinen lassen. Ein frühes Geburtstagsgedicht von Martin Opitz beginnt mit einer langen Anrufung erst Auroras und dann Apollons, die gebeten werden, den Tag, an dem die von allen Göttinnen reich beschenkte Geliebte ihren achtzehnten Geburtstag feiert, schnell heraufzuführen und zu einem sonnenüberstrahlten Festtag zu machen:
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der die Geschehnisse zusammenfasst, ist abgedruckt in: Elisabeth Genton: La Vie et les Opinions de Heinrich Leopold Wagner (1747–1779), Frankfurt 1981, S. 392–396. Kritische Ausgabe und Kommentar in: Sonja Martina Schreiner: Phaet(h)on – mehrsprachig. Friedrich Wilhelm Zachariäs ,Der Phaeton‘ (1754–1772) und Heinrich Gottfried Reichards ,Phaethontis libri quinque‘ (1780), Frankfurt 2005.
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Heut’ ist mein Augentrost/ heut’ ist mein Liecht gebohren/ In der vollkommentlich zusammen sich verschworen Die Dinge, so doch sonst gar selten Freunde sind: Die Schönheit und die Zucht. Ich wil mein Haupt bedecken Mit einem Lorberkrantz’; ich wil viel höher strecken Die Sinnen/ die sie mir/ hat gantz und gar entzündt.10 Es folgt das Versprechen, die Geliebte unsterblich zu machen; und das Gedicht endet mit der Erwartung des lyrischen Ich, durch seine Verse auch selber unsterblich zu werden – wie Phaëthon. Wann gleich auch meine Verß vnd diese schwache Sinnen Dein’ Hoheit und Verdienst nicht vbersteigen können/ So ist doch Lobens werth mein Will vnd bester fleiß. Ob wohl der Phaeton sich allzuhoch vermessen/ So wird doch seiner auch noch jetzund nicht vergessen/ Weil er hat angesteckt den gantzen Erdenkreiß. Die poetischen Kräfte mögen zu schwach sein; der kühne Versuch, die Geliebte angemessen zu besingen, die als das Sonnen‚Liecht‘ apostrophiert wird, welches dem Dichter „die Sinnen … gantz und gar entzündt“ hat, mag als ebenso vermessen erscheinen, wie Phaëthons Versuch, den Sonnenwagen zu lenken: allein der Versuch ist „doch Lobens werth“ und soll den Dichter unsterblich machen. Opitz nimmt damit die in den bisher betrachteten Texten völlig ignorierte abschließende Wertung Ovids auf, nach der Phaëthon den Sonnenwagen zwar nicht zu lenken vermochte, aber doch Großes gewagt habe; und auch die Verwendung des Phaëthon als Sinnbild des Dichters geht letztlich auf Ovid zurück, der in den Tristien seinen Sturz in die Verbannung mit dem Schicksal der allzu hochstrebenden mythischen Helden Ikaros und Phaëthon vergleicht.11 Opitz ist nicht der erste moderne Dichter, der sich als Phaëthon stilisiert. Das haben lange vor ihm auch schon Boccaccio und Petrarca (und mancher andere) getan,12 und gerade für den Dichter als Liebenden bietet sich das Bild an: Wie hier bei Opitz erscheint die Geliebte in der Liebeslyrik des 16. und 17. Jahrhunderts gern als Sonne, der der Dichter sich – wie Phaëthon (oder wie Ikaros) – nur unter der Gefahr nahe kommen kann, entflammt ins Verderben zu stürzen. Gewagt aber muss es dennoch sein; denn Liebe und Ruhm gewinnt nur der Wagende. Eben diese Bedeutung der Gestalt findet sich nicht nur in der Liebeslyrik des Barock, sondern auch im Drama der Zeit. Es gibt zwar nur wenige – und im deutschsprachigen Raum keine – Tragödien, die den Stoff dramatisieren, aber Andreas Gryphius verwendet Phaëthon – wie z.B. auch Marlowe und Shakespeare – als
10 Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. George Schulz-Behrend (Hrsg.). Band 2,2, Stuttgart 1979, S. 615–617. 11 Vgl. Trist. I,I, 73–86; III, 21–30; IV, 3, 61–70. 12 Vgl. Jon Usher: Global Warming in the Sonnet. The Phaethon Myth in Boccaccio and Petrarch, in: Studi sul Boccaccio, Heft 28, 2000, S. 125–183.
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Sinnbild des Großes Wagenden, der um der Macht und des Ruhmes willen das Risiko des Scheiterns akzeptiert. Die Tragödie Leo Armenius oder Fürstenmord beginnt mit der Verschwörung, die Michael Balbus, der ehemalige Vertraute und Kampfgefährte des Kaisers Leo Armenius, gegen diesen anzetteln will. Als er Exabolius, dem geheimen Rat des Kaisers, die Umsturzpläne entdeckt, warnt ihn dieser in einer langen Rede nicht nur vor den Schwierigkeiten, die geplante Tat auszuführen, sondern auch vor den Gefahren der Macht. Als Höhepunkt und Abschluss verweist er auf Phaëthon: Leid etwas über dir! der den der Ehrgeitz jagt: Der sich ins weite Feldt der leichten Lüffte wagt; Mit Flügeln/ die Jhm Wahn und Hochmutt angebunden/ Jst/ eh’ als er das Zil nach dem er rang gefunden/ Ertruncken in der See. Zwar Phaeton ergriff Die Zügel: Aber als der strenge Wagen liff/ Und Niger/ Phrat und Nil’ in lichter Flamme schmachten; Als schon die Donnerkeyl auff seinem Kopff’ erkrachten; Verflucht er/ doch zu spätt/ die hochgewündschte Macht.13 (Ⅰ,4, V. 405–413) In der Warnung vor Scheitern und Sturz allzu hochfliegender Pläne sind die emblematischen Exempla Ikaros und Phaëthon miteinander verknüpft. Liegt der Akzent bei Ikaros auf seinem allzu großen „Ehrgeitz“, auf „Wahn und Hochmuth“, so folgt Gryphius bei Phaëthon der politischen Deutung der Gestalt, die deswegen stürzt, weil sie die Zügel der „hochgewünschten Macht“ zwar ergreifen, sie aber nicht festhalten kann, und mit seinem unmäßigen Machtstreben einen Weltenbrand auslöst. Der so Gewarnte aber lässt sich nicht schrecken: Diß rede Kindern ein! Ein Helden-Geist der lacht Diß leichte Schrecken aus. Ein Mann wird/ mag er leben Nur einen Tag/ gekrönt: in höchste Noth sich geben. Diß was unmöglich scheint; wird möglich/ wenn man wagt. (I,4, V. 414–417) Wie bei Opitz kommt hier neben dem drohenden Sturz auch die Faszination des Wagnisses in den Blick; und eben diese Facette des mythischen Bildes ist es, die für die Phaëthonrezeption um 1800 bestimmend ist. So haben auch Goethe und Schiller Phaëthon als Sinnbild für von ihnen geschaffene dramatische Figuren (und für ihr eigenes dichterisches Schaffen) verwendet: Schiller entfaltet in einer gleichzeitig mit den Räubern entstandenen lyrischen laudatio funebris für Karl Moor die Ambivalenz des groß Gescheiterten in immer neuen Oxymora: Karl Moor wird als „Majestätischer Sünder“ (V. 3), „Hoher Gefallener“ (V. 5) und „erhabener Verstoß der Mutter Natur“ (V. 8) apostrophiert.14 Dass 13 Andreas Gryphius: Ein Fürsten-Mörderisches Trawer-Spiel / genant. Leo Armenius, in: Dramen. Eberhard Mannack (Hrsg.), Frankfurt 1991, S. 14–116. Vgl. Rüdiger Campe: Questions of Emblematic Evidence. Phaeton’s Disaster, with Reference to Pierre Legendre’s Theory of Emblems, in: Amy Wygant (Hrsg.): New Directions in Emblem Studies, Glasgow 1999, S. 1– 24. 14 Friedrich Schiller: Monument Moors des Räubers, in: Georg Kurscheidt (Hrsg.): Gedichte
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Schiller, ohne die mythische Folie zunächst zu nennen, an das Ovidische Grabepigramm auf Phaëthon anknüpft, signalisieren nicht nur der Titel, sondern auch der Hinweis auf den „steinernen Herold“, der die „furchtbare Kunde“ (V. 33 f.) erzählt und die Ambivalenz der Reaktionen auf den Sturz des Räubers Moor, die, ähnlich wie bei Ovid, von Erschrecken über Anteilnahme zu Bewunderung reichen. Gleich in den ersten Worten des Gedichts erscheint der Angesprochene als Sünder und Heiland15 dessen Scheitern mittels einer Theatermetapher als vorherbestimmtes Schicksal gekennzeichnet wird (V. 4) und sich so der Frage nach Schuld und Versagen entzieht: Vollendet! Heil dir! Vollendet! Majestätischer Sünder! Deine furchtbare Rolle vollbracht. (V. 1–4) Die Verschränkung von ewiger Schande und unsterblichem Ruhm kennzeichnet auch das zentrale Paradox des Gedichts: Siehe! der Ewigkeit übergibt dich die Schande! Zu den Sternen des Ruhms Klimmst du auf den Schultern der Schande! Einst wird unter dir auch die Schande zerstieben, Und dich reicht – die Bewunderung. (V. 22–26) Die wesentliche Komponente der Reaktion auf das Monument, das Schandmal und Ehrenmal zugleich ist, ist jedoch die Trauer, die an die Klage der in Bernsteintropfen weinende Bäume verwandelten Heliaden um ihren Bruder anklingt. Der letzte Teil des Gedichts warnt vor den Risiken, die ‚des Genies Ätherstrahl‘ (V. 40) birgt: nur der „Meister“ kann der Verantwortung gerecht werden; wer der Aufgabe nicht gewachsen ist, richtet – wie Phaëthon – die Welt und sich selbst durch seinen ‚kindischen Mutwillen‘ (V. 45/48) zugrunde: Jünglinge! Jünglinge! Mit des Genies gefährlichem Ätherstrahl Lernt behutsamer spielen. Störrig knirscht in den Zügel das Sonnenroß, Wie’s am Seile des Meisters Erd und Himmel in sanfterem Schwunge wiegt, Flammts am kindischen Zaume Erd und Himmel in lodernden Brand! Unterging in den Trümmern Der mutwillige Phaeton. (V. 39–48)
(Werke I), Frankfurt 1992, S. 532f. 15 Johannes 19, 29f.: Danach sagt Jesus, da er wußte, daß bereits alles vollbracht war, damit die Schrift erfüllt würde: „Mich dürstet.“(…) Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: „Es ist vollbracht.“
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Die folgenden Verse verdeutlichen die exemplarische Funktion, die das Geschehen für den Rezipienten und, da das „glühende, tatenlechzende Herz“ auch das Herz des lyrischen Ich sein kann, auch für den Autor gewinnt: Kind des himmlischen Genius, Glühendes tatenlechzendes Herz! Reizet dich das Mal meines Räubers? War wie du glühenden tatenlechzenden Herzens, War wie du des himmlischen Genius Kind. (V. 49–53) Anhand des Doppelbeispiels Moor-Phaëthon stellt Schiller die Faszination wie auch die existentielle Gefährdung des Genieideals heraus und legt dem Leser die angemessene Rezeption des ersten seiner großen dramatischen Helden nahe, die nicht in der Nachahmung, sondern in der bewundernden Empathie liegt. Auch Goethe verbindet den Mythos im Egmont mit dem Ideal des Tatmenschen, indem er seinem Protagonisten in der berühmten Rechtfertigung seines Handelns im zweiten Akt phaëthontische Züge verleiht, ohne den Namen des mythischen Helden zu nennen. Es ist Egmonts Sekretär, der das Bild einführt, wenn er die Sorgen die der väterliche Freund Graf Oliva und er sich um Egmont machen, mit den Worten verteidigt: „Verzeiht mir, es wird dem Fußgänger schwindlig, der einen Mann in rasender Eile daherfahren sieht.“16 Egmonts Antwort nimmt das Bild auf und entwickelt es zu einer leidenschaftlichen Verteidigung der menschlichen Freiheit gegen die Allmacht des Schicksals: Egmont: Kind! Kind! Nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als mutig gefaßt die Zügel zu erhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder weg zu lenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam. Sekretär: Herr! Herr! Egmont: Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen; ich fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch habe ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh ich droben einst; so will ich fest, nicht ängstlich stehen. Soll ich fallen; so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja ein selbst verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen, da lieg ich mit viel tausenden. Ich habe nie verschmäht mit meinen guten Kriegsgesellen um kleinen Gewinst das blutge Los zu werfen und sollt ich knickern, wenns um den ganzen freien Wert des Lebens geht. (S. 493) Der Verweis auf Phaëthon ist ebenso deutlich wie die Veränderung, der Goethe das Sinnbild unterzieht. Der Eingriff in die Tradition ist so tiefgreifend, dass man geradezu von einer Mythenkorrektur sprechen kann: Goethes phaëthontischer Egmont ist nicht schwach und mutlos wie der Ovidische, den beim Anblick von der Höhe des Äthers Angst befällt und der schließlich hilflos und verwirrt die Zügel fahren 16 Johann Wolfgang Goethe: Egmont. Frankfurter Ausgabe, Bd. 5, Dieter Borchmeyer (Hrsg.), Frankfurt 1988, S. 493.
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lässt. Er fühlt Hoffnung, Mut und Kraft und fürchtet sich nicht vor seines „Wachstums Gipfel“. Egmonts Mut erscheint dabei nicht etwa als Vermessenheit, sondern als grenzenloses Zutrauen zu sich selbst (so Goethe in Dichtung und Wahrheit) und als Behauptung des Besten im Menschen; sein Sturz ist nicht die Strafe für Schuld, sondern das Risiko, das in Kauf genommen werden muss, „wenns um den ganzen freien Wert des Lebens geht.“ Auch dieser Phaëthon kann den von den unsichtbaren Geistern gepeitschten Wagen nicht zum gewünschten Ziel lenken; auch er – das ahnt der Zuschauer spätestens von diesem Moment an – wird stürzen. Aber stärker noch als Ovids Phaëthon gilt für Egmont, dass er – indem er sich treu bleibt – Großes wagt. Am Ende von Dichtung und Wahrheit zitiert Goethe, als die Postkutsche zum Aufbruch nach Weimar bereit steht und die Wirtin ihn ein letztes Mal zurückzuhalten versucht, den Anfang von Egmonts Credo und betont damit seine innere Verwandtschaft mit Egmont – und mit Phaëthon.17 In der Tat gibt es keinen deutschen Dichter, der sich so lange und so intensiv mit dieser Gestalt der antiken Mythologie auseinandergesetzt hat. Die Beschäftigung mit Phaëthon, die zweifellos mitverantwortlich ist für die große Bedeutung, die die Metapher des Wagenlenkers vom Egmont bis zum Faust II für Goethe hat, beginnt bereits mit der Übersetzung einer moralisierenden Paraphrase der Geschichte ins Lateinische, die Goethe als Schüler anfertigt hat, und gewinnt im Alter besondere Bedeutung, als ihm Gottfried Herrmann seine Edition der beiden großen Fragmente des Euripideischen Phaëthon zuschickt und Goethe sich sofort an die Rekonstruktion des verlorenen Stücks macht: „Die von Professor Herrmann im Jahre 1821 freundlichst mitgeteilten Fragmente wirkten, wie alles, was von diesem edlen Geistes- und Zeitverwandten jemals zu mir gelangt, auf mein Innerstes kräftig und entschieden; ich glaubte hier eine der herrlichsten Produktionen des großen Tragikers vor mir zu sehen; ohne mein Wissen und Wollen schien das Zerstückte sich im innern Sinn zu restaurieren.“18
17 „Der Wagen stand vor der Tür, aufgepackt war, der Postillion ließ das gewöhnliche Zeichen der Ungeduld erschallen, ich riß mich los, sie wollte mich noch nicht fahren lassen, und brachte künstlich genug die Argumente der Gegenwart alle vor, so daß ich endlich leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts ausrief: Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin es geht, er weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“ (J.W.G.: Dichtung und Wahrheit. Frankfurter Ausgabe Bd. 14, Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Frankfurt 1986, S. 853). 18 So Goethe im Vorwort seiner Bearbeitung und Ergänzung der Fragmente, die er 1823, im 2. Heft des 4. Jahrgangs von Kunst und Altertum, publizierte: Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, Stefan Greif/Andrea Ruhlig (Hrsg.), Frankfurt 1998, S. 167–179, hier S. 1041.
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Goethes leider unvollständig gebliebener Rekonstruktionsversuch ist von Klassischen Philologen und Germanisten detailliert analysiert worden.19 Hier kann es nur darum gehen, die Züge, die Goethe der Titelfigur verliehen hat, zu bestimmen. Da sich in den erhaltenen Fragmenten so gut wie nichts findet, was auf die Euripideische Konzeption der Figur hindeutet, und es Goethe in erster Linie um die Rekonstruktion der Struktur der dramatischen Handlung geht und nicht um die Zeichnung der Charaktere, sind wir auf die wenigen Hinweise in den von Goethe hinzugefügten Versen und in seinen Anmerkungen angewiesen. In den erläuternden Texten nennt Goethe den Jüngling „mutig, ruhm- und herrschsüchtig“ (S. 169), dessen „kühner, des Vaters werter Mut“ ihn dazu treibt, „das Übermäßige, seine Kräfte weit Übersteigende zu verlangen“ (S. 174), und deutet damit auch den selbstzerstörerischen Aspekt der Kühnheit an, die Phaëthon vernichten wird. An der für Goethes Phaëthon wichtigsten Stelle liegt der Akzent aber ganz auf dem Drang nach dem Höchsten und Würdigsten. Als Clymene in der zweiten Szene des Prologs dem Sohn eröffnet, dass Helios sein Vater ist, lässt Goethe Phaëthon ausrufen: Wie? Mutter, darf ich willig glauben was erschreckt. Ich bin erschrocken vor so hohen Stammes Wert, Wenn dies mir gleich den ewig innern Flammenruf Des Herzens deutet, der zum Allerhöchsten treibt. (S. 169) Der Jüngling erschrickt zwar über die unerwartete Nachricht; sie ist ihm zugleich aber auch ersehnte Bestätigung seines innersten Gefühls, das ihn dazu treibt, nach dem „Allerhöchsten“ zu streben. Wie beim phaëthontischen Egmont ist Goethes Nähe auch zu seinem Euripideischen Phaëthon überdeutlich. Die lebenslange Faszination, die die Figur offenbar für den Dichter hatte, hat ihren tieferen Grund in der Seelenverwandtschaft Goethes mit dem faustischen Streben des mythischen Jünglings, wie er ihn verstand. Da nimmt es nicht wunder, dass Goethes Beschäftigung mit der Figur ihre Spuren auch im Faust II hinterlassen hat. Die Interpreten des monumentalen Alterswerks haben gezeigt, dass Goethe eine ganze Reihe von Handlungsmotiven seiner Rekonstruktion des Euripideischen Phaëthon in den Helena-Akt übertragen hat. Das gilt in besonderem Maße für die Euphorion-Szenen: Beide Dichter- bzw. Dichtungsallegorien – der „kleine Phoebus“ Euphorion und der Knabe Lenker – tragen deutlich Züge Phaëthons. Nimmt man den Phaëthon-Briefroman des achtzehnjährigen Wilhelm Friedrich Waiblinger hinzu, dessen Titelheld kein anderer als Friedrich Hölderlin ist, so wird ganz deutlich, dass um 1800 die Verwendung Phaëthons als Symbol für den Dichter alle anderen Instrumentalisierungen der mythischen Gestalt in den Hintergrund gedrängt hat.
19 Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, S. 167–179. Vgl. u.a. Uwe Petersen: Goethe und Euripides, Heidelberg 1974; Ken Weisinger: Goethe’s ,Phaethon‘, in: DVjs, Heft 48, 1974, S. 154–192; Thomas Gelzer, Goethes ‚Helena‘ und das Vorbild des Euripides, in: Hellmut Flashar (Hrsg.): Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart 1997, S. 199–234.
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Nach diesem Höhenflug um 1800 stürzt Phaëthon in die Vergessenheit. Nach Goethes komplexer Phaëthonrezeption, die hier nur angedeutet werden konnte, gibt es in der deutschsprachigen Literatur (und nicht nur in dieser) keinen wichtigen Text eines bedeutenden Autors mehr und auch kaum noch Texte weniger bedeutender Autoren. Immerhin finden sich in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert einige dramatische Bearbeitungen des Stoffs. Als Sinnbild für politischen Ehrgeiz im Kontext der italienischen Renaissance erscheint der Mythos in Oscar Richards Tragödie Phaëthon, oder Der Menschen Ringen und Streben (1882).20 Während Karl Wilhelm Geißler in erster Linie versucht, Goethes fragmentarische Euripides-Rekonstruktion zu einem vollständigen Drama auszuarbeiten, konfrontiert Otto Kaus den euripideischen Phaëthon mit mythologischen Figuren wie Ganymed und Prometheus.21 Als Sonderentwicklung der Rezeption ist wiederum das 1918 in den Kriegsschriften „Unterm Eisernen Kreuz“ veröffentlichte Phaëthon-Drama Wolfgang von Gersdorffs zu nennen:22 Gersdorffs Phaëthon ist charakterisiert durch seine Unzufriedenheit mit dem alltäglichen menschlichen Leben, das er als Zeichen seiner göttlichen Abkommenschaft deutet. Sein Streben und Scheitern wird innerhalb des Dramas ambivalent bewertet: Er wird zwar vor den Gefahren seines Vorhabens gewarnt, sein Sturz wird aber auch als Sieg verherrlicht. So erklärt seine Mutter Klymene: Denn er fuhr auf Aus dämmernder Nacht Mit rauschendem Fittich; Mutig durchmaß er die Weiten All seiner Kraft, Groß in dem Wachstum, Das nie sich befriedigt. (S. 29) Vor allem aber die Paratexte bewerten sein Streben affirmativ als Sinnbild einer idealistisch gesinnten Jugend, gerade auch im Zusammenhang des Weltkriegs: Heldenleben – wir sind seine Zeugen nun schon drei Jahre lang. In heißem Sehnen, das Maß der Menge zu überwachsen und dem besseren Selbst ganz zu genügen, reckt sich der Jüngling an dem Göttlichen empor, um nach leuchtendem Aufstieg, nach heißem Mühen und harten Kämpfen am Ende doch in Unkraft zu erliegen (…) – heilig ist die Jugend, die in den Grenzen der Menschheit sich nicht bescheiden kann und die, den Untergang vor Augen, dennoch mit festem Willen den Wagen des Schicksals aufwärts lenkt. Auch die Vorrede des Herausgebers betont den Vorbildcharakter dieser „idealsten Auffassung menschlichen Strebens, furchtloser Zuversicht auf eigenes Wollen und Können und selbstlosester Hingabe an die gestellte Aufgabe“. Phaëthon wird so zum Archetyp eines jugendlichen Heroismus. 20 Oscar Richard: Phaëthon, oder Der Menschen Ringen und Streben. Drama in vier Aufzügen, Hamburg 1882. 21 Otto Kaus: Phaëthon. Tragödie in einem Aufzug, Berlin 1914. 22 Wolfgang von Gersdorff: Phaethon. Ein dramatisches Gedicht, Berlin 1918.
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34 Jahre später wird Phaëthon in Otto zur Neddens Nachkriegsmonodram Phaëthon. Tragödie der Jugend (1952)23 ebenfalls zum Sinnbild der Jugend im Krieg: Ein zurückgekehrter Soldat erwürgt einen Polizisten, der ihn als Kriegsverbrecher beschimpft, obwohl er derjenige gewesen war, „der den Krieg als Ideal gepriesen und uns immer wieder angefeuert hatte“ (S. 12). Zum Tode verurteilt in einer Gefängniszelle fingiert er seine Verteidigungsrede: Ich war 17 Jahre, als die Kriegsfurie losbrach. Oh – hätte ich sie noch einmal, diese 17 Jahre! Dürfte ich sie noch einmal träumen mit ihrem Glanz und ihren Hoffnungen (…). Da waren die Ideale der Liebe und der Treue, um deren Sinn zu ringen unsere reinsten, heiligsten Gefühle wachgerufen wurden, daß unsere Wünsche hoch und immer höher stiegen – bis zu den Sternen … Doch da – da liegt es, meine Herren Richter, daß alles das nicht standhielt, was man uns gelehrt, daß wir (…) erkennen mußten, daß man uns mißbraucht, daß unsere Träume Hirngespinste, unsere Hoffnungen Trugbilder und unsere Wünsche Köder zu dem einen Zweck gewesen waren, uns aufzuopfern auf dem Altar der Verlogenheit (…). Nun stehe ich hier, meine Herren Richter, verklagt auf Mord, zerfallen mit der Welt, mit Gott und mir selbst. (…) Was ich von Ihnen will, ist meine Jugend! Geben Sie sie mir zurück, damit ich noch einmal vom Götterfunken der Freude, von Liebe, Schönheit und den Sternen träumen kann! Wo nicht, verlange ich, daß wir die Rollen tauschen und ich von Ihrem Platze aus die Klage führen kann (…): Wer uns mißbraucht, wie immer er auch heißen mag, der ist der Schuldige, den gilt es auszurotten (…). (S. 8 f.) Schließlich hält der Gefangene sich in geistiger Verwirrung selbst für Phaëthon, dessen Geschichte er nacherlebt, bis er den Weltbrand mit seinem traumatischen Kriegserlebnis, bei der sein engster Freund ums Leben kam, überblendet. Danach aber bietet die Datenbank des Berliner Archivs für Antikerezeption keinen einzigen wirklichen Phaëthon-Text und nur wenige Einträge über mehr oder minder bedeutungsvolle Evokationen des Mythos: – ein beiläufiger Hinweis in Wolfgang Hildesheimers Roman Tynset, wenn der Held sich in das Nichts des Alls hinaufträumt, „wo Bilderhimmel und Sagenhimmel sich verfransen“, wo die schön benannten Sterne aufhören …, fremd dem Phaëthon, Sehnsucht vielleicht des Ikaros“;24 – ein knapper Eintrag über die Entstehung des Bernsteins aus den Tränen der trauernden Schwestern Phaëthons in Raoul Schrotts fiktivem Logbuch des Pytheas von Massilia (im ersten Teil des Romans Finis Terrae);25 – eine originelle Nacherzählung im 13. Kapitel von Marie Luise Kaschnitz’ Kunstmärchen Der alte Garten;26
23 Otto C. A. Nedden: Phaëthon. Tragödie der Jugend. In ders., Monodramen, Düsseldorf 1985, S. 5–26. 24 Wolfgang Hildesheimer: Tynset, Frankfurt/M. 1965, S. 182f. 25 Raoul Schrott: Finis terrae. Ein Nachlaß, Innsbruck 1995, S. 93f. 26 Marie Luise Kaschnitz: Der alte Garten. Ein Märchen, Düsseldorf 1975, S.509f.
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– eine pointierte Ovid-Paraphrase im ersten der drei Münchner Romane von Heinz Piontek (Die mittleren Jahre), dessen Icherzähler, der auf seinen Reisen in den Metamorphosen liest, angesichts der reißenden Fahrt Phaëthons kommentiert: „Diese Höhe! Wer setzt da nicht alles aufs Spiel, um so hinaufzukommen. Nur in solchen Höhen, wenn überhaupt, erfährt man Genaues über sich.“27 – und eine Anspielung in der Karneval-Szene von Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt, in der Tereus, der Schlachter, seinen Ochsenkarren als Sonnenwagen ausstaffiert und sich so als „Zerrbild“ des Sonnengotts inszeniert: „Der Schlachter wollte Phoebus sein.“28 Mehr hat die extensive Suche des Archivs nicht ermitteln können, und in der reichen Antikerezeption der DDR ist Phaëthon anscheinend gar nicht vertreten.29 Gewiss: Viele mythische Geschichten und Gestalten verschwinden auf Dauer oder doch vorübergehend; ein Schicksal, das z.B. auch Ikaros erfahren musste, mit dem Phaëthon über Jahrhunderte eng verbunden war. Anders als Phaëthon hat sein Himmelsbruder Ikaros im 20. Jahrhundert jedoch einen neuen Höhenflug angetreten und gehört zusammen mit Sisyphos und Odysseus zu den mythischen Archetypen, die die Phantasie moderner Künstler am stärksten inspiriert haben. Die Revitalisierung vergessener oder vernachlässigter Mythen kann durch eine bedeutende Gestaltung des Mythos erfolgen (Beispiele sind Camus’ Sisyphos oder James Joyce’ Ulysses); eine individuelle Rezeption kann jedoch nur dann zu einer dauerhaften Erneuerung eines Mythos führen, wenn dieser das Lebensgefühl der Zeit trifft, wenn er zur Chiffre für fundamentale kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklungen und Probleme, zum Bild für weit verbreitete Utopien und Hoffnungen, Sorgen und Ängste der Zeit wird. Und genau dies trifft auf Ikaros zu. Das liegt zunächst einmal daran, dass der uralte Traum des Menschen, sich wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben, und der damit verbundene Albtraum des tödlichen Absturzes durch die Erfindung des Flugzeugs und die begonnene Eroberung des Weltraums im 20. Jahrhundert große Aktualität gewonnen hat. Es gilt aber noch in einem viel allgemeineren Sinne: Die spannungsreiche Verbindung von Kühnheit und Maßlosigkeit, stürmischem Aufbruch und kläglichem Sturz, Streben und Gefährdung lässt diese Gestalt zu einem einzigartigen Sinnbild der Moderne werden, in der Intelligenz, experimentelle Neugier und Risikobereitschaft zu einem ungeahnten zivilisatorischen Höhenflug geführt, zugleich aber auch nie da gewesene Gefährdungen und Katastrophen gebracht haben.
27 Heinz Piontek: Die Mittleren Jahre. Roman, Hamburg 1967, S. 75f. 28 Christoph Ransmayr: Die letzte Welt. Roman, Frankfurt 132004, S. 92. 29 Peter Gosses Absage an Phaethon in seinem Gedicht Die Amsel. Nach Petrarcas 105. Kanzone, in: Peter Gosse: Erwachsene Mitte, Leipzig 1986, S. 27, bestätigt die Regel: „Wie er sein, Phaeton, der, höchst – ich weiß – / hinaufwollend, mördrisch in den Po fiel? Nein.“
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Eben dies aber könnte auch von Phaëthon gesagt und an ihm versinnbildlicht werden. Hartmut Böhme hat die „megalomanische Techno-Phantasmatik“ der Moderne, die mit dem ihr inhärenten Streben über alle dem Menschen gesetzten Grenzen hinaus die Erde zu zerstören droht, als phaëthonisch bezeichnet: „Phaeton entgleitet die Steuerung über den Sonnenwagen wie uns die über die Technikentwicklung.“30 Warum – wenn diese Parallele sich doch anbietet – sind die alten emblematischen Warnungen „in temerarios!“ oder „altum sapere periculosum!“ nur noch mit Ikaros verbunden und nicht auch mit Phaëthon? Diese Frage kann nur hypothetisch beantwortet werden. Der Phaëthon-Mythos verliert seine bedeutsame Stellung in der abendländischen Rezeptionsgeschichte antiker Mythen in dem Moment, als die Gestalt und ihre apokalyptische Fahrt auf dem Sonnenwagen zur Bezeichnung eines Zweispänners verkümmert. Zachariä hat in seinem parodistischen Epos mit dem folgenlosen Sturz des Zweispänners in den Dorfsee dem Tod eines kosmischen Mythos im Trivialen das angemessene Denkmal gesetzt; und die Autoindustrie – von den frühen Kutschenwagen bis zum Luxusmodell der VW-Flotte – hat das Schicksal des Mythos endgültig besiegelt. Viel mehr als die schon von meinem Berliner Kollegen Widu-Wolfgang Ehlers verspottete bildungsbürgerliche Erregung über das angeblich fehlende h im Autonamen ist von dem großartigen Ovidischen Bild des Jünglings, den – wie es bei Goethe heißt – „der ewig innre Flammenruf des Herzens … zum Allerhöchsten treibt“ nicht geblieben.31 Es bleibt abzuwarten, ob er sich von diesem Sturz ins tödlich Triviale noch einmal erholen kann.
30 Hartmut Böhme: Phaeton, Prometheus und die Grenzen der Fliegerei, in: Wolf R. Dormbrowsky/Ursula Pasero (Hrsg.), Wissenschaft, Literatur, Katastrophe: Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen, Düsseldorf 1995, S. 35–52. 31 Widu-Wolfgang Ehlers: Sein oder Nichtsein. Phaethon, Phaeton und das kleine h. Forum Classicum, Heft 46, 2003, S. 190f.
Phaëthon in der Musik. Camille Saint-Saëns’ symphonische Dichtung „Phaéton“ als „Programmmusik“ Mischa Meier Der Phaëthon-Mythos hat in der neuzeitlichen Musik nur geringen Niederschlag gefunden. Dies mag den außenstehenden Motivforscher zunächst einmal überraschen, doch wird man den als solchen bereits signifikanten Befund wohl als Indiz dafür nehmen müssen, dass die Geschichte vom übermütigen Jüngling, der den Sonnenwagen nicht unter Kontrolle halten kann und schließlich vom Blitz getroffen auf die Erde stürzt, grundsätzlich keine besondere Attraktivität auf Komponisten ausübte – aus welchen Gründen auch immer. Für die Phase von ca. 1600 bis 1800, in der antike bzw. antikisierende Stoffe sich einer ausgesprochenen Beliebtheit erfreuten und sogar Mythen und historische Episoden aus dem Altertum, die heute nahezu unbekannt sind, hundertfache Vertonungen erfuhren, lassen sich gerade einmal um die 20 Phaëthon-Opern nachweisen,1 deren bekannteste Jean-Baptiste Lullys (1632–1687) ungemein erfolgreiche „Tragédie en musique Phaëton“ sein dürfte. Sie basiert auf einem Libretto des Dichters Philippe Quinault (1635– 1688), wurde im Jahr 1683 uraufgeführt und ist insbesondere mit Blick auf Lullys Freund und Förderer, den ‚Sonnenkönig‘ Ludwig XIV., interessant.2 Bereits diese Oper zeigt, dass der Phaëthon-Stoff als schwer umsetzbar galt; Quinault und Lully mussten mit Théone eigens eine zusätzliche Figur einführen, um dadurch wenigstens ansatzweise eine ansprechende lyrische Konstellation konstruieren zu können. Neben den frühen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts ist mir zudem eine einaktige Oper „Phaeton“ von Heinz Röttger (1909–1977) bekannt (wenngleich nicht zugänglich), entstanden nach einem Libretto von Eva Johnn (UA Dessau 1960). Darüber hinaus sind erwähnenswert – in chronologischer Reihenfolge – die D-DurSymphonie „Der Sturz Phaetons“ aus den 6 Symphonien nach Ovids „Metamor1
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Vgl. Franz Stieger: Opernlexikon, Teil I: Titelkatalog, Bd. 2 F-N, Tutzing 1995, S. 449; ders.: ebd., Bd. 3 O-Z, Tutzing 1995, S. 947; Alexander Reischert: Kompendium der musikalischen Sujets. Ein Werkkatalog, Bd. 1, Kassel u.a. 2001, S. 778f. – Bei den entsprechenden Nachforschungen habe ich große Unterstützung durch Herrn cand. Phil. Nils Steffensen erhalten, dem an dieser Stelle dafür herzlich gedankt sei. Eine griffige Einführung zu Lullys Leben und Werk sowie eine umfangreiche Bibliographie bietet Herbert Schneider: Lully (1), in: Friedrich Blume: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil, Bd. 11, Kassel u.a. 2004, S. 578–605; vgl. auch Jérôme de la Gorce: Jean-Baptiste Lully, Paris 2002. Zu Lullys „Phaëton“ s. Herbert Schneider: Phaéton, in: Carl Dahlhaus/ Sieghart Döhring (Hrsg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, München u.a. 1989, S. 605–607; ferner Gorce: Lully, S. 638ff., sowie den Beitrag von Albert Schirrmeister im vorliegenden Tagungsband. Zu Ludwig XIV. s. Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993, ND 2001.
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phosen“ des Mozart-Zeitgenossen Carl Ditters von Dittersdorf (1739-1799), die symphonische Dichtung für großes Orchester „Phaéton“ von Camille Saint-Saëns (1835-1921), die anderthalbminütige Studie für Oboe Solo „Phaeton“ aus Benjamin Brittens (1913-1976) „Six Metamorphoses after Ovid“ op. 49 (entstanden 1951) sowie schließlich die 1986 komponierte Orchesterfantasie „Phaethon“ des zeitgenössischen amerikanischen Komponisten Christopher Rouse (*1949). Unabhängig von der Tatsache, dass ich die Operngeschichte des 17./18. Jahrhunderts zu wenig kenne, um fundierte Urteile darüber abgeben zu können, erscheinen mir die wenigen Phaëthon-Opern dieser Zeit für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Umsetzung und Ausgestaltung des mythischen Stoffes – und darum geht es mir vor allem – im Vergleich zu den zuletzt genannten Instrumentalwerken auch weniger ergiebig, da der Musik in den Bühnenwerken jeweils eine sichtbare und textlich gefasste dramatische Handlung korrespondiert, die die Entschlüsselung inhaltlicher Anliegen der Dichter und Komponisten erleichtert sowie die Rückbindung der stofflichen Vorlage deutlicher zutage treten lässt. Insofern erweisen sich die reinen Instrumentalkompositionen auch für die grundsätzlichere Frage nach der Phaëthon-Gestalt in der Musik als interessanter, da sich an ihnen das Problem diskutieren lässt, wie die Umsetzung einer konkreten mythischen Erzählung in Musik erfolgen kann, ohne dabei auf unterstützende Hilfskonstrukte in Form von Text bzw. Gesang zurückgreifen zu müssen. Dies wiederum leitet über zu grundsätzlichen Fragestellungen, die den Komplex der so genannten Programmmusik – ich bin mir der Problematik dieses Begriffs durchaus bewusst3 – betreffen und die sich besonders ertragreich an SaintSaëns’ Tondichtung „Phaéton“ diskutieren lassen, die im Folgenden im Mittelpunkt der Darlegungen stehen wird. Saint-Saëns war eines der großen Wunderkinder der Musikgeschichte, vergleichbar mit Mozart oder auch Erich Wolfgang Korngold.4 Bereits mit zweieinhalb Jahren konnte er Noten lesen, die erste Komposition brachte er 1839, im Alter von knapp dreieinhalb Jahren, zu Papier. Dass Saint-Saëns, der bald eine erfolgreiche Karriere als Pianist, überaus fleißiger Komponist und Dirigent einschlug, 3
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Einen hervorragenden einführenden Überblick in das Problemfeld ‚Programmmusik‘ bietet Detlef Altenburg: Programmusik, in: Friedrich Blume: Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil, Bd. 7, 1997, S. 1821-1844. Daneben vgl. auch Carl Dahlhaus: Musikästhetik, in: ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden. Allgemeine Theorie der Musik I. Historik – Grundlagen der Musik – Ästhetik, Bd. 1, Hermann Danuser (Hrsg.), Laaber 2000, S. 447-532, bes. S. 496ff.; ders.: Die Idee des musikalisch Absoluten und die Praxis der Programmmusik, in: ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden. 19. Jahrhundert I. Theorie/Ästhetik/Geschichte: Monographien, Bd. 4, Hermann Danuser (Hrsg.), Laaber 2002, S. 107-116; ders.: Aporien der Programmmusik, in: ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden. 19. Jahrhundert II. Theorie/Ästhetik/Geschichte: Monographien, Bd. 5, Hermann Danuser (Hrsg.), Laaber 2003, S. 717-761. Zur Biographie des Komponisten s. etwa Michael Stegemann: Camille Saint-Saëns, Reinbek 1988; Brian Rees: Camille Saint-Saëns. A Life, London 1999; Stephen Studd: Saint Saëns. A Critical Biography, London 1999; Timothy S. Flynn: Camille Saint-Saëns. A Guide to Research, New York u.a. 2003, S. 1-17; Jean Gallois: Charles-Camille Saint-Saëns, Sprimont 2004; Peter Jost: Saint-Saëns, (Charles-)Camille, in: Friedrich Blume: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil, Bd. 14, Kassel u.a. 2005, S. 803-820.
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daneben auch noch die Zeit fand, sich eine stattliche Bildung anzueignen, die ihn unter die Universalgelehrten seiner Zeit rückte,5 erstaunt umso mehr. Seinem beruflichen Aufstieg, der allerdings (insbesondere in Paris) auch von herben Enttäuschungen begleitet war, korrespondierte eine private Biographie, die man wohl vorbehaltlos als gescheitert bezeichnen kann. Nach dem frühen Tod des Vaters (1835) kam Saint-Saëns unter die Obhut seiner Mutter und seiner Großtante, und es gelang ihm nie wirklich, sich aus der Umklammerung der beiden Frauen zu befreien. Nach dem Tod der Großtante 1872 entfloh er der Mutter durch die Hochzeit mit Marie-Laure Truffot (1875), aber die Ehe scheiterte rasch und wurde zudem vom Tod der beiden gemeinsamen Söhne im Jahr 1878 – beide Todesfälle ereigneten sich im Abstand von nur sechs Wochen – überschattet. 1881 kehrte Saint-Saëns wieder zu seiner Mutter zurück, die aber 1888 starb und einen rastlosen und dahinkränkelnden Sohn zurückließ, der den Rest seines Lebens mit Konzertreisen und Erholungsurlauben verbrachte. Musikalisch galt Saint-Saëns zunächst als radikaler Reformer; aber sein Kompositionsstil blieb im Wesentlichen statisch und erfuhr keine signifikante Fortentwicklung.6 So wurde aus dem Innovator allmählich ein Klassiker, der sich gegen Ende seines Lebens sogar den Vorwurf eines konservativen Traditionalismus gefallen lassen musste, obwohl er gerade in dieser Phase einige interessante Experimente – u.a. mit Bühnenmusiken zu antikisierenden Tragödien (hier tritt Saint-Saëns’ Interesse für die Antike besonders deutlich hervor)7 und mit Filmmusik (1908) – durchgeführt hatte. Am preußisch-französischen Krieg 1870/71 nahm Saint-Saëns als Soldat der Garde nationale de la Seine teil und erlebte dabei die Belagerung von Paris. Infolge der Niederlage entwickelte sich auch bei ihm ein verstärktes Nationalbewusstsein, das in der u.a. von ihm ausgehenden Gründung der Société nationale de musique seinen Ausdruck fand, einer Vereinigung, die französischen Komponisten Gelegenheiten für die Aufführung ihrer Musik vor einem französischen Publikum verschaffen wollte.8 Auffälligerweise fällt exakt in diese Phase die Entstehung der vier Symphonischen Dichtungen von Camille Saint-Saëns, die zudem einen deutlichen Antikeschwerpunkt aufweisen: „Le Rouet d’Omphale“ op. 31 (1871); „Phaéton“ op. 39 (1873); „Danse macabre“ op. 40 (1874); „La Jeunesse d’Hercule“ op. 50 (1877). Möglicherweise sah Saint-Saëns die Zeit gekommen, die in Deutschland so erfolgreiche Symphonische Dichtung nunmehr auch in seinem Heimatland zu etablieren und damit die Grundlage für eine spezifisch national geprägte Fortentwicklung der Gattung zu legen. Saint-Saëns’ zweite Symphonische Dichtung (Poëme symphonique – der Franzose übernahm diese Bezeichnung von seinem Freund Franz Liszt) „Phaéton“ 5 6 7 8
Stegemann, Saint-Saëns, S. 7; Flynn, Saint-Saëns, S. 1; Jost, Saint-Saëns, S. 803. Vgl. Stegemann, Saint-Saëns, S. 9. Dazu s. kurz Flynn, Saint-Saëns, S. 12. Camille Saint-Saëns: Die Société nationale de Musique, in: ders.: Musikalische Reminiszenzen, Leipzig 1978, S. 228-232. Vgl. Stegemann, Saint-Saëns, S. 34ff.; Rees, Saint-Saëns, S. 160ff.; Studd, Saint Saëns, S. 79ff.; Flynn, Saint-Saëns, S. 4; Gallois, Saint-Saëns, S. 137ff.
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wurde am 12. März 1873 vollendet und entstand damit ein Jahr nach „Le Rouet d’Omphale“. Es handelt sich um ein groß angelegtes Orchesterstück, dessen Besetzung u.a. eine Piccoloflöte, ein Kontrafagott (ad libitum), eine Bass-Tuba, vier Pauken (für drei Spieler), ein Tam-Tam und zwei Harfen umfasst. Die Uraufführung wurde, wie zuvor schon diejenige von „Le Rouet d’Omphale“, eher verhalten aufgenommen, einige Kritiker reagierten sogar mit Hohn und Empörung auf das Werk, das in Anlage und Durchführung dem französischen Publikum weitgehend fremdartig erschien, aus der Feder eines bekennenden Wagnerianers stammte und nicht nur deshalb unter dem Generalverdacht des „germanisme“ stand.9 Dabei hatte Saint-Saëns sich darum bemüht, es den Zuhörern so leicht wie möglich zu machen, und zu diesem Zweck der Komposition eine kurze erläuternde Notiz vorangestellt: „Phaéton hat es erreicht, im Himmel den Wagen des Sonnengottes, seines Vaters, lenken zu dürfen. Doch seine ungeschickten Hände bringen die Pferde in Verwirrung. Der Flammenwagen nähert sich, aus seiner Bahn geworfen, den irdischen Gefilden. Das ganze Universum droht in Flammen unterzugehen, da trifft Jupiter mit seinem Blitz den törichten Phaéton“.10 Der Phaëthon-Mythos erscheint in diesem Text auf seine essentiellen Grundbestandteile reduziert; jegliche Nebenschauplätze und Zwischenepisoden werden ausgeklammert, um höchste Klarheit und Prägnanz zu erzielen. Und dennoch bleibt auch bei dem Wenigen, das Saint-Saëns übriggelassen hat, die Frage: Wie lässt sich das in Musik umsetzen? Bei der Diskussion dieses Problems muss man sich einen wichtigen Sachverhalt klarmachen: Trotz der bahnbrechenden Leistungen eines Hector Berlioz (1803–1869) befand sich die durch ein außermusikalisches ‚Programm‘ geleitete Tondichtung um das Jahr 1873 zumal in Frankreich noch in ihren Anfängen. Zwar hatte Franz Liszt (1811–1886), mit dem Saint-Saëns in den späten 1860er und in den 1870er Jahren eng befreundet war und der u.a. die Uraufführung von „Samson und Dalila“ in Weimar (1877) organisiert hatte,11 die Symphonische Dichtung für großes Orchester in einer ganz spezifischen Ausprägung bereits auf den deutschen Spielplänen etabliert, aber Liszt galt gerade mit den entsprechenden Werken als Neuerer, ja geradezu als Revolutionär. Französische Komponisten hatten seine Anregungen bis dahin noch nicht in erkennbarem Maße aufgegriffen. Saint-Saëns leistete insofern Pionierarbeit.12 Wollte er die Gattung der Symphonischen Dichtung in
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Vgl. Daniel Martin Fallon: The Symphonies and Symphonic Poems of Camille Saint-Saëns, Yale 1973, S. 255; Stegemann, Saint-Saëns, S. 35–37; Rees, Saint-Saëns, S. 177; Studd, Saint Saëns, S. 90f.; S.98. 10 C. Camille Saint-Saëns: Phaéton. Poëme Symphonique, op. 39, München 2006 (Deckblatt): „Phaéton a obtenu de conduire dans le Ciel le char du Soleil, son père. Mais ses mains inhabiles égarent les coursiers. Le char flamboyant, jeté hors de sa route, s’approche des régions terrestres. Tout l’univers va périr embrasé, lorsque Jupiter frappe de sa foudre l’imprudent Phaéton“. 11 Zum freundschaftlichen Verhältnis zwischen Saint-Saëns und Franz Liszt vgl. etwa Georges Servières: L’Amitié de Liszt et de Saint-Saëns, in: Le Menestrel, Heft 28, 1922, S. 297–299; Klára Hamburger: Three Unpublished Letters by Liszt to Saint-Saëns, in: The New Hungarian Quarterly (29.111) 1988, S. 222–229; Flynn, Saint-Saëns, S. 4. 12 Vgl. Gallois, Saint-Saëns, S. 139f.
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der von Liszt repräsentierten Form13 auch in Frankreich etablieren, dann musste er seinem Publikum vor allem in zweierlei Hinsicht entgegenkommen: Zum einen durfte die Auflösung traditioneller Bauformen zugunsten eines im wesentlichen durch das außermusikalische ‚Programm‘ geleiteten musikalischen Flusses nicht dazu führen, dass der Eindruck entstand, man habe es nur noch mit einer amorphen Orchesterfantasie zu tun, die keinen erkennbaren formalen Gestaltungsprinzipien mehr folgte; zum anderen musste die Musik stark genug sein, um in Verbindung mit dem kurzen Einführungstext tatsächlich die vom Komponisten erwünschten Assoziationen zu evozieren – die eines über das Himmelszelt dahinrasenden, von galoppierenden Pferden gezogenen Wagens, der immer mehr außer Kontrolle gerät und schließlich vom göttlichen Blitzstrahl getroffen abstürzt – und die darin zum Ausdruck kommende Hybris. Dies führt auf ein grundsätzliches Spannungsfeld in der Programmmusik: Den steten Konflikt zwischen traditionellen formalen Bauprinzipien und den von ihnen vorgegebenen Korsetten einerseits und den dazu in der Regel querstehenden thematischen Anforderungen des ‚Programms‘ andererseits – eine Auseinandersetzung, die insbesondere im 19. Jahrhundert in erbitterter Schärfe geführt worden ist und in Eduard Hanslicks vielzitiertem Diktum von den „tönend bewegten Formen“ als ausschließlichem Inhalt und Gegenstand der Musik einen prominenten Höhepunkt gefunden hat.14 Saint-Saëns hat dieses Problem u.a. dadurch zu lösen versucht, dass er wie bei seiner etwas älteren Tondichtung ein durchgängiges Element eingeführt hat, das geeignet war, sein Werk sowohl mit Blick auf das Sujet zum Sprechen zu bringen als auch formal zusammenzuhalten. Hatte es sich im Fall von „Le Rouet d’Omphale“ um die musikalische Imitation eines Spinnrads gehandelt, so stellte der Komponist in der mit diesem Werk in vielerlei Hinsicht verwandten Schwesterkomposition15 „Phaéton“ – mit gutem Grund – das Galoppieren der Pferde in den Vordergrund, und zwar in Form eines einfachen rhythmischen Motivs:
Dieses Motiv zieht sich in unterschiedlichen Varianten nahezu durch die gesamte Tondichtung, entwickelt sich dabei zu einem eigenständigen Thema und bezieht aus verschiedenen Modifikationen ein jeweils ganz unterschiedlich einsetzbares Spannungspotential. Neben diesem vorwiegend rhythmisch konnotierten Element steht ein weiteres Thema, das zwar auch einen markanten Rhythmus aufweist, 13 Dazu s. Carl Dahlhaus: Liszts Bergsymphonie und die Idee der Symphonischen Dichtung, in: ders.: Gesammelte Schriften in 10 Bänden. 19. Jahrhundert III: Ludwig van Beethoven – Aufsätze zur Ideen- und Kompositionsgeschichte – Texte zur Instrumentalmusik, Bd. 6, Hermann Danuser (Hrsg.), Laaber 2003, S. 630–672. 14 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854, S. 32, Dietmar Strauß: Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Teil I: Historisch-kritische Ausgabe, Saarbrücken 1987, S. 75. 15 Vgl. Fallon, Symphonies, S. 255: „sister works“.
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gleichzeitig aber vor allem durch seinen Fanfarencharakter gekennzeichnet ist – es erscheint bei seinem ersten Auftreten in den Trompeten und Posaunen – und offenbar den übermütigen Jüngling repräsentiert:16
Die Einführung dieser beiden Themen gab Saint-Saëns nicht nur die nötigen Freiräume, um die Fantasie des Publikums in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken, sondern verschaffte ihm zugleich auch die Möglichkeit zur thematischen Arbeit im Sinne der traditionellen formalen Vorgaben. Am Beginn des Werkes (T. 1–4) steht indes eine feierliche (maestoso) Einleitung in vier Takten,17 die über den Orgelpunkt G (Trompeten, 3. Posaune) vom einleitenden Es-Dur (das später noch von Bedeutung sein wird) in ein markantes G-Dur führt und damit über die Dominante die Grundtonart der ganzen Komposition vorbereitet: C-Dur (T. 5) – man kennt derartige Einleitungen etwa aus Liszts Symphonischer Dichtung „Prometheus“. Unvermittelt sieht sich der Zuhörer dann jedoch in Phaëthons Ritt hineingeworfen: Das bereits erwähnte, mit dem Hauptthema der 3. Symphonie (1886) verwandte Galopp-Motiv rast als achttaktige Phrase in drei an- und abschwingenden Spannungsbögen durch die Streicher (T. 5–12), begleitet von Harfenakkorden und kurzen Einwürfen in den Celli und Kontrabässen, die zur Festigung der Tonart C-Dur dienen.
Saint-Saëns gelingt es dabei, mit erstaunlich einfachen Mitteln eine beachtliche Dynamik zu erzeugen: Zum einen suggeriert das Auf- und Absteigen des GaloppMotivs (beim dritten Mal immerhin über ein Intervall von 2 Oktaven) ein hohes Maß an Bewegung, zum anderen aber wird die achttaktige Phrase noch zwei weitere Male wiederholt, allerdings jeweils einen Ton höher: Ab Takt 13 erscheint sie auf d (in D-Dur), ab Takt 21 mit einer neu hinzutretenden kontrapunktischen Bewegung in den Celli auf e, zudem durch einen doppelten Aufstieg ohne nachfolgenden Abstieg (T. 21–24) noch einmal beschleunigt. Die Steigerung c-d-e sollte offenbar für den programmatisch konditionierten Hörer den Eindruck einer steten Zunahme der Geschwindigkeit und Spannung erzeugen. Relativ einfach gestaltet der Komponist auch die Rückkehr vom tonalen Zentrum E zur Grundtonart C-Dur, indem er über die Dominantparallele e-moll (T. 25–26) zum G-Dur-Septakkord in Domi16 Vgl. Rees, Saint-Saëns, S. 176: „theme of pride“. 17 Wohl zu eng am ‚Programm‘ orientiert deutet Otto Neitzel: Camille Saint-Saëns, Berlin 1899; Berühmte Musiker. Lebens- und Charakterbilder nebst Einführung in die Werke der Meister, Bd. 6, Heinrich Reimann (Hrsg.), S. 15, die Einleitung als „dem Anschirren der Rosse entsprechend“.
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nant-Funktion (T. 27) moduliert – der im Forte besonders hervorgehoben wird – und von dort aus zielstrebig wieder zur Tonika C-Dur gelangt (T. 29), wo das Galopp-Motiv nunmehr um eine Oktave aufwärts versetzt von den Holzbläsern übernommen wird – vor allem letzteres ein in der Musik der Romantik häufiges, nicht eben originelles Variationsmittel. Das Galopp-Motiv wird nun u.a. von Pizzicato-Kontrapunkten in den Streichern begleitet, das Bauprinzip bleibt indes konstant: Der erste Spannungsbogen setzt auf c ein (T. 29–36), der zweite auf d (T. 37–44), doch kommt es nunmehr nicht zu einer erneuten Steigerung in Richtung e; statt dessen festigt der Komponist sein D-Dur über mehrere Takte, erweitert schließlich den D-Dur-Dreiklang durch den Ton c zum Septakkord (T. 43–44) und schafft damit die Dominante für die neue Tonart, auf die das Werk nun zusteuert: G-Dur (T. 45). Hier erscheint das zweite, wiederum achttaktige Thema, die feierliche Fanfare in Trompeten und Posaunen (T. 45–52), deren Herrlichkeit allerdings durch den Umstand ein wenig eingetrübt wird, dass eine eindeutige tonale Festlegung nicht erfolgt – vielmehr changiert das Thema, auf g beginnend und auf e endend, merkwürdig zwischen G-Dur und der Mediante e-moll; auch die das Galopp-Motiv rhythmisch fortsetzenden Ostinati in den Violinen – g und h – führen hier keine Klärung herbei, denn diese beiden Töne sind sowohl G-Dur als auch e-moll gemeinsam. Sollte sich darin bereits das furchtbare Ende des strahlenden Wagenlenkers ankündigen? Wie beim ersten Thema erfolgt die Wiederholung auch bei der Fanfare jeweils um einen Ton aufwärts versetzt: In Takt 53 setzt sie mit a ein (T. 53–60), nunmehr in Klarinetten, Oboen und Hörnern; ab Takt 61 beginnt sie mit h in den Violinen (T. 61–68) und wird dabei von Trillern und kleineren ornamentalen Figuren umspielt; damit geht der fanfarenartige Charakter allmählich verloren und das Thema entwickelt sich zu einer eher sanft wiegenden Melodie, wobei das Galopp-Motiv durch die begleitenden Sechzehntel-Figuren in den Holzbläsern nach wie vor präsent bleibt. Das Klangbild wird insgesamt weicher, zugleich aber durch die üppigere Instrumentation auch dichter und geschlossener. Ab Takt 69 wird das 2. Thema noch einmal in dem beschriebenen verspielten Stil wiederholt, moduliert dabei von H-Dur in die Mediante G-Dur (T. 73–75), wodurch wiederum die Rückkehr zur Grundtonart C-Dur in Takt 79 dominantisch vorbereitet wird. Was dann – ab Takt 79 – folgt, lässt sich als eine Art Durchführung interpretieren: Das Galopp-Motiv erscheint erneut in den Streichern, jetzt allerdings rhythmisch modifiziert als an- und abschwellende Triolen-Bewegung; die Triller werden von den Holzbläsern übernommen. Die bekannte achttaktige Phrase bleibt dabei zunächst erhalten und setzt in Takt 86 wiederum um einen Ton erhöht ein, d.h. auf d; vorbereitet wird dies durch ein lang ausgehaltenes a in den Blechbläsern (T. 85), das als Grundton der Dominante zu D-Dur diese Tonart direkt ansteuert. Nun wird es komplizierter, denn anstatt in einer Wiederholung auf e zu gipfeln, entwickelt sich das Galopp-Motiv zu einer Begleitung des 2. Themas, dessen Kopf in Takt 94 markant in der Trompete einsetzt und in einem kleinen Fugato ab Takt 95 durch Wiederholung in den Holzbläsern enggeführt wird. Auch harmonisch hat sich etwas getan: Wir befinden uns jetzt im Klangspektrum von Es-Dur (wir erin-
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nern uns, dass in dieser Tonart das Werk begonnen hatte), das Saint-Saëns über den B-Dur-Dominantseptakkord (T. 92) als Zwischendominante erreicht hat. Ab Takt 98 erscheint das Thema in Fagotten und Hörnern in der Mediante g-moll – in Takt 97 durch die Zwischendominante D-Dur (ohne Grundton) vorbereitet –, mit Takt 102 ist schließlich die Mediante B-Dur erreicht. Die Triolen, in die das GaloppMotiv inzwischen transformiert worden ist, werden nun von den Bläsern übernommen, während die Streicher charakteristische Fetzen des 2. Themas anklingen lassen: Phaëthon und der dahinrasende Sonnenwagen sind in dieser Passage klanglich eins geworden, beide Themen sind untrennbar zusammengeflossen. Diese Suggestion wird über mehrere Takte aufrecht erhalten und erfährt lediglich eine interne Variation dadurch, dass ab Takt 106 die Streicher die Triolenfiguren übernehmen, während nun die Bläser für das 2. Thema zuständig sind. Ab Takt 110 mündet die Bewegung in einen ausgedehnten B-Dur-Septakkord, der als Dominante – über mehrere Takte gezogen – den Übergang zu Es-Dur in Takt 116 vorbereitet. Bis zu diesem Punkt lässt sich Saint-Saëns’ Tondichtung formal nach den Maßgaben eines Sonatenhauptsatzes deuten: Auf die langsame Einleitung folgt in einer Exposition die Vorstellung der beiden Hauptthemen – in unserem Fall sogar in der klassischen Ausprägung mit dem Seitenthema in der Dominanttonart des 1. Themas, d.h. (wenn man die e-moll-Elemente einmal ausklammert) in G-Dur; in der anschließenden Durchführung wird das thematische Material dann bearbeitet. Hätte Saint-Saëns sich an die klassische Form gehalten, dann hätte nach der Durchführung eine Reprise mit einer optionalen Coda folgen müssen. Stattdessen aber führt der Komponist ab Takt 122 ein neues, drittes Thema ein, das – espressivo überschrieben – durch breite, choralartige Bläserakkorde gekennzeichnet ist.
Diese unerwartete Wendung bereitet den Interpreten erhebliche Schwierigkeiten, denn es stellt sich nun umso mehr die Frage nach der formalen Anlage des Werkes. Dass Saint-Saëns grundsätzlich auf klassische Modelle rekurriert, geht aus der Ausgestaltung und Durchführung der beiden ersten Hauptthemen deutlich hervor. Aber wie lässt sich das 3. Thema formal einbinden? Vorgeschlagen wurde, das Werk nicht nach der strengen Maßgabe eines Sonatenhauptsatzes zu interpretieren, sondern die flexiblere Rondo-Form zu postulieren und die Takte 79–121 nicht als Durchführung, sondern als Hinführung zum 3. Thema zu bewerten.18 Ich halte dies nicht für überzeugend, lasse die Frage aber vorerst offen. Das 3. Thema ist mit 11 Takten nicht nur länger als seine beiden Vorgänger, sondern zudem auch unregelmäßig gebaut. Es verklingt nahezu unmerklich mit Takt 132 auf der Dominante B-Dur, während die Violinen, die den Choral bis dahin durch Fortführung der rhythmischen Struktur des Galopp-Motivs begleitet hatten, eine von Chromatismen durchsetzte absteigende Linie erkennen lassen, die zu ei18 So Fallon, Symphonies, S. 267, S. 277f.
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ner Wiederholung des 3. Themas ab Takt 136, dieses Mal unter Einbezug der Holzbläser, führt. In verschiedenen Varianten wird Thema 3 in den folgenden Takten aufgenommen, stets begleitet vom Galopp-Motiv in den Violinen in z.T. deutlich chromatischer Einfärbung; erst mit Takt 174 ist wieder fester Es-Dur-Boden erreicht. Welchem Zweck dient dieses 3. Thema? Soll es Phaëthons Untergang ankündigen, stellt es das Aufgehen bzw. den Glanz der Sonne dar oder spiegelt es den Blick auf die irdischen Gefilde?19 Immerhin kehrt das Thema später, nach Phaëthons Sturz durch Jupiters Blitzschlag, wieder, hängt also in irgendeiner Weise mit dem Absturz zusammen (T. 264ff.). Daniel Fallon will überhaupt keine konkreten Inhalte in das Choral-Thema hineininterpretieren, sondern geht davon aus, dass SaintSaëns schlichtweg einen musikalischen Kontrast zum Vorausgegangenen benötigt und sich daher für die Einführung einer lyrischen Passage entschieden habe. Er sei dabei insofern seiner eigenen musikalischen Logik gefolgt und habe sein ‚Programm‘ dafür geopfert.20 Das Problem führt letztlich auf die vieldiskutierte Frage, wie konkret überhaupt vermeintliche ‚Programme‘ auf Musik bezogen werden dürfen. Muss man davon ausgehen, dass Saint-Saëns sich sklavisch an die musikalische Präsentation des Phaëthon-Mythos begeben hat21 (dann hätte er Liszts Konzept der Programmmusik mit bloßer Tonmalerei verwechselt), oder diente ihm der Stoff lediglich – das wäre das andere Extrem – als Inspirationsfolie für diverse, letztlich freie Assoziationen, die dann in einer Tondichtung zusammengeflossen sind, aber keine linear verfolgbaren Bezüge zur mythischen Handlung erkennen lassen und somit ihrerseits genügend Offenheit für unterschiedliche Rezeptionsansätze bieten? Die Frage scheint mir zusammenzuhängen mit dem Problem der formalen Fassbarkeit des Gesamtwerks (Stichwort: Sonatenhauptsatz oder Rondo), und dieses verweist wiederum auf den skizzierten Grundkonflikt zwischen Form und Thema bzw. Sujet in der sog. Programmmusik. Wollte der Komponist eine Tondichtung im seinerzeit modernen Stil schaffen, so war er gezwungen, bestimmte Formelemente aufzugeben bzw. stark zu modifizieren. Hätte er aber jegliche Form zugunsten der programmatischen Intention aufgelöst, wäre ihm und den Zuhörern die Komposition in einem amorphen Fluss zerronnen oder zu reiner Tonmalerei degeneriert. Saint-Saëns war also gezwungen, einen Mittelweg zu beschreiten: Beibehaltung einer Form – die aber durchaus in höchstem Maße, mitunter bis zur Unkenntlichkeit, modifiziert werden konnte – verbunden mit einer dann notwendigerweise eher abstrakten Umsetzung des ‚Programms‘, weniger im Sinne einer tonmalerischen, auf ‚Realismus‘ hinzielenden Imitation von Handlungsabläufen denn als Darlegung einer allgemeinen Grund-
19 Die einzelnen Interpretationsvorschläge sind aufgelistet bei Fallon, Symphonies, S. 270f. Vgl. auch Donald F. Tovey: Essays in Musical, Vol. IV. Illustrative Music, London 1972, S. 20f. 20 Fallon, Symphonies, 272; ähnlich Studd, Saint Saëns, S. 97. 21 Diese Prämisse liegt der Deutung der Tondichtung durch Neitzel, Saint-Saëns, S. 15–17, zugrunde, der zusammenfassend festhält: „Die Tonmalerei, die Nachahmung äußerer Vorgänge durch die Tonkunst, tritt hier noch viel mehr in ihre Rechte als beim Totentanz“.
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idee, wie derjenigen von Phaëthons Hochmut.22 Bereits die Einbindung spezifischer Elemente des Mythos in zwei achttaktige (und damit klassisch gebaute) Themen setzt ja eine Abstraktion des zunächst einmal außermusikalischen Stoffes zum Zweck der Transformation in formgebundene Musik voraus. Eine weitere Abstraktion könnte m.E. in der Einführung des 3. Themas vorliegen, das hinreichend interpretationsoffen ist und von der Sonne über die Erde bis zur Vorausweisung auf Phaëthons Untergang alles bedeuten kann. Es sind ja gerade derartige variable Assoziationsmöglichkeiten, die Programmmusik überhaupt für individuelle Hörer interessant machen. Auf der formalen Ebene kann dabei durchaus zunächst einmal am Sonatenhauptsatz festgehalten werden. Die Einspeisung zusätzlichen thematischen Materials in der Durchführung ist in der Musik des 19. Jahrhunderts keinesfalls singulär, und Saint-Saëns war ohnehin bekannt für seine weitreichenden Experimente mit überkommenen Formen.23 Das geheimnisvolle 3. Thema fände damit sowohl formale Parallelen als auch eine inhaltliche Erklärung und müsste nicht lediglich mit Fallon als Versuch interpretiert werden, in irgendeiner Weise das Tempo herauszunehmen und einen lyrischen Kontrast zu den beiden vorangegangenen Themen zu schaffen. Ab Takt 174 setzt in den Violinen eine Variante des 2. Themas ein, die – um Elemente aus dem 3. Thema angereichert – einen eigenen neuen Melodiebogen konstituiert und harmonisch durch den Wechsel zwischen Es-Dur und Fes-Dur, dem Neapolitanischen Sextakkord (T. 178), charakterisiert ist.
Die Melodie wird ab Takt 178 von den 2. Violinen und den Bratschen, ab Takt 182 von Bratschen und Celli, in 186 schließlich von Celli und Kontrabässen übernommen und steigt somit immer weiter ab. Das Galopp-Motiv bleibt dabei in den Pauken stets präsent (ab T. 182 in der nun auch bereits bekannten Triolenform), die gleichzeitig das tonale Zentrum Es auch in den Fes-Dur-Teilen (enharmonisch: EDur) aufrechterhalten. Ab Takt 190 läuft die gesamte Passage in Richtung C-Dur aus, das in Takt 196 über Ces-Dur (T. 191, 193, 195) vollkommen unerwartet und überraschend anklingt (ohne tatsächlich sicher erreicht zu werden – bis zum Ende
22 Vgl. Stegemann, Camille Saint-Saëns, S. 98. Für „Le Rouet d’Omphale“ hat Carlo Caballero: In the Toils of Queen Omphale. Saint-Saëns’s Painterly Refiguration of the Symphonic Poem, in: Marsha L. Morton/Peter L. Schmunk (Hrsg.): The Arts Entwined. Music and Painting in the Nineteenth Century, New York u.a. 2000, S. 119–141, das hohe Abstraktionsniveau der Musik gegenüber der Vorlage überzeugend nachgewiesen. 23 S. Jost, Saint-Saëns, S. 816.
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des Werkes wird die C-Dur-Tonika jetzt nur noch angedeutet, aber nicht mehr klar auskomponiert).24 Jetzt kehrt das Galopp-Motiv zurück, aber die Ausgestaltung zielt auf wesentlich stärkere Unruhe als noch zu Beginn der Partitur: Das rhythmische Grundmotiv geht mehrfach in Tremoli über (etwa T. 198, 202), die achttaktige Ursprungsphrase ist zu viertaktigen Halbelementen mit chromatischen Läufen verkürzt (T. 196–199, 200–203), das Aufsteigen in der Tonleiter – c-d-e – wird beibehalten und sogar erweitert: In Takt 206 beginnt das Motiv auf f, in Takt 208 auf fis. Aus den Ganztonschritten sind nun chromatische Anstiege geworden, die Phrasen sind seit dem Beginn auf e in Takt 204 nochmals um die Hälfte auf jeweils 2 Takte reduziert; aufsteigende Läufe in den Holzbläsern (wir kennen sie aus der Einleitung) erzeugen zusätzliche Spannung. All dies dient nur einem Zweck: Den Eindruck einer sich steigernden Hektik und wachsenden Dynamik – wir befinden uns in stetem crescendo – zu evozieren. In Takt 210 gehen die galoppierenden Streicher einmal mehr in die Triolenbewegung über und begleiten den erneuten Einsatz des 2. Themas, zunächst in der Posaune, dann (ab T. 211) wieder in einer fugenartigen Engführung in den Holzbläsern. In den Streichern entwickelt sich dabei eine starke chromatische Einfärbung (T. 213–214). Eine permanente Steigerung erfasst die nun folgenden Takte: 1. und 2. Thema, chromatische Läufe und der Übergang in eine spannungsgeladene rhythmische Ostinato-Figur aus einer punktierten halben sowie einer Viertelnote (ab T. 226)25 überschneiden sich, lösen einander ab und gipfeln, begleitet vom geheimnisvollen Rauschen des Tam-Tams, in einem vom gesamten Orchester getragenen EsDur-Donner im dreifachen Fortissimo (bei dem sogar drei Pauken gemeinsam einen Es-Dur-Akkord erzeugen) in Takt 248 – zweifellos die musikalische Umsetzung des göttlichen Blitzschlages. Langsam absteigende, aus dem Material des 2. Themas entwickelte Bewegungen in den zunächst noch hektisch tremolierenden Streichern und einigen Bläsern, die allmählich an Tempo verlieren, suggerieren das Bild des herabstürzenden Flammenwagens. Mit Takt 263 ist endgültig ein Ruhepunkt erreicht. Langsam und verhalten setzt jetzt das dritte Thema noch einmal ein (ab T. 264) und leitet in leichten Varianten, die vor allem durch klagend aufsteigende Sequenzen in den Streichern gekennzeichnet sind, über zum 2. Thema, das jetzt aber seinen ursprünglichen Fanfarencharakter vollkommen verloren hat. Übriggeblieben ist eine langsame, geradezu trauermarschartige Wiederaufnahme in Flöten und Klarinetten (T. 276–284), die zum stillen Ausklang des Werkes überleitet: Streicherpizzicati auf c im Pianissimo, begleitet von einer leisen Pauke, ebenfalls auf c – ein ganz traditioneller, im Kontext der Orchestermusik des 19. Jahrhunderts nicht eben origineller Schluss. Akzeptiert man meine Analyse der Tondichtung, so kristallisiert sich eine klare formale Struktur heraus:
24 Vgl. Fallon, Symphonies, S. 272. 25 Saint-Saëns greift hier offenbar Elemente der Basslinie T. 191ff. auf.
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1.) Einleitung (T. 1–4). 2.) Exposition (T. 5–78) mit Vorstellung der beiden Hauptthemen (T. 5ff.; T. 45ff.). 3.) Durchführung (T. 79–195) mit Einführung eines dritten Themas (T. 122ff.). 4.) Reprise (T. 196–262) mit Wiederaufnahme des ersten (T. 196ff.) und zweiten (T. 210ff.) Themas. 5.) Coda (T. 263–292) mit Wiederaufnahme des 3. (T. 264ff.) und 2. (T. 276–284) Themas. Das 1. Thema, das die galoppierenden Pferde versinnbildlicht, macht an dieser späten Stelle der Komposition (und der ‚Handlung‘) verständlicherweise keinen Sinn mehr. Bei dieser Struktur handelt es sich um einen klassischen Sonatenhauptsatz, der lediglich durch die Einführung des 3. Themas in der Durchführung leicht modifiziert worden ist.26 Saint-Saëns hat somit sein musikalisch umzusetzendes ‚Programm‘ in eine traditionelle, etablierte und durchaus strenge Form gegossen, was angesichts der generellen Hochschätzung fester formaler Gestaltungsprinzipien durch diesen Komponisten auch nicht allzu verwunderlich sein dürfte.27 Der durch das ‚Programm‘ definierte Inhalt hat dementsprechend nicht über die Form gesiegt – oder doch? Kaum ein Zuhörer dürfte beim ersten, rein akustischen Kontakt mit der Komposition deren Aufbau sofort erschlossen haben. Die zugrundeliegende formale Gestalt wird nämlich geschickt dadurch verschleiert, dass sie vom ‚Programm‘ regelrecht überlagert wird. Saint-Saëns dürfte ganz bewusst die Zäsuren zwischen den einzelnen Teilen des Sonatenhauptsatzes verdeckt haben, u.a. dadurch, dass in der Durchführung ein schwer einzuordnendes 3. Thema erscheint und dass der dynamische Höhepunkt des Werks – der Blitzschlag – mitten in die Reprise fällt und auf der formalen Ebene überhaupt keinen Zäsurcharakter besitzt. Thematisch-stoffliche und formale Struktur der Tondichtung sind also nicht deckungsgleich, und dies ermöglicht unterschiedliche Lesarten: eine traditionell-formalistische und eine progressiv-programmatische. Die der ‚Programmmusik‘ inhärente Spannung zwischen Form und Sujet wird vom Komponisten damit zumindest insoweit aufgelöst, dass auf keiner der beiden Seiten größere Abstriche erforderlich waren.28 Dies lässt sich durchaus als originell ansehen.29 26 Vgl. demgegenüber allerdings auch Vincent d’Indy: Cours de composition musicale. Deuxième livre – seconde partie. Rédigé par Auguste Sérieyx, Paris 1901/02, ND 1948, S. 321, der einen Aufbau in zwei Großabschnitten mit jeweils eigenständiger Exposition herausarbeitet, dabei aber wohl vor allem vom Vorbild Liszt geleitet wird und letztlich ebenfalls implizit eine Sonatenhauptsatzform erkennt. 27 Zu Saint-Saëns’ Hochschätzung formaler Kriterien s. Jost, Saint-Saëns, S. 814f. 28 Anders Flynn, Saint-Saëns, S. 4, der die Tondichtungen Saint-Saëns’ – insbesondere im Vergleich mit den entsprechenden Werken Liszts – in dem Sinne interpretiert, „that Saint-Saëns was thinking more symphonically and less programmatically“. 29 Anders freilich Studd, Saint Saëns, S. 97, der das Werk insbesondere aufgrund der Diskrepanz zwischen formalen und inhaltlichen Ansprüchen als völlig gescheitert ansieht: „Phaëton is an ultimately disappointing work, the least satisfying of the symphonic poems, from the point of view of form and in part of content. He [Saint-Saëns] seems as carried away by his subject as
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Weniger innovativ gestalten sich indes Harmonik und Instrumentation der Symphonischen Dichtung.30 Die vielfach auf einfachen Kadenzen und Mediantenmodulation beruhende Harmonik birgt nur wenige Überraschungen, so etwa den Wechsel zwischen Es-Dur und Fes-Dur (mit dem Orgelpunkt auf Es) sowie die Rückung von Ces-Dur (enharmonisch: H-Dur) nach C-Dur am Ende der Durchführung. Thematische Arbeit tritt zurück zugunsten von Themenwiederholungen in mehr oder minder ausgeprägten Variationen – hier unterscheidet sich Saint-Saëns deutlich von Liszt. Gleichermaßen konventionell mutet die Instrumentierung an, die zwar die für Saint-Saëns typische, unwagnerische Transparenz besitzt, dafür aber ebenfalls keine größeren Überraschungsmomente aufzuweisen hat. Insgesamt handelt es sich um ein routiniert komponiertes Orchesterstück aus der Feder eines ebenso erfahrenen wie handwerklich begabten Komponisten. Warum Saint-Saëns sich ausgerechnet für die Vertonung des in der Musik nicht sonderlich prominenten Phaëthon-Stoffes entschieden hat, ist schwer zu eruieren. Lullys Oper, deren Partitur er besaß, mag seine Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt haben;31 hinzukommt die bekannte Vorliebe des Komponisten für antike Stoffe, die freilich nicht Resultat einer spezifischen Antikebegeisterung oder einer programmatischen Auseinandersetzung mit dem Altertum war, sondern schlichtweg aus der Tatsache erwuchs, dass Saint-Saëns die klassische Literatur in besonderem Maße schätzte und beherrschte und aus diesem Bereich immer wieder interessante Anregungen und Sujets schöpfte, deren Umsetzung die Möglichkeit bot, spezifische Klangfarben und Kolorits zu erproben. Immerhin ist auffällig, dass von Saint-Saëns’ vier Tondichtungen allein drei auf antike Stoffe zurückgreifen. Im Kontext des verlorenen Krieges 1871 und der anschließenden Gründung der „Société Nationale“ könnte man die Wahl des Phaëthon-Themas auf die Prominenz des Hybris-Motivs in diesem Mythos zurückführen. Saint-Saëns’ Zeitgenossen fühlten sich von den siegreichen Deutschen gedemütigt und in ihrem Stolz gekränkt. Hier könnte der übermütig-törichte Himmelsstürmer Phaëthon als warnendes Exempel gedient haben und als Botschaft in Richtung Osten verstanden worden sein. Aber dies alles muss Spekulation bleiben, zumal sich das Hybris-Motiv nicht nur politisch, sondern auch biographisch, gesellschaftlich usw. ansiedeln lässt. Selbstzeugnisse des Komponisten, die mehr Klarheit erbringen könnten, liegen m.W. zu dieser Frage nicht vor.32 Nur ganz kurz seien noch einige Bemerkungen zu den übrigen eingangs genannten Phaëthon-Vertonungen angefügt: Der Amerikaner Christopher Rouse bePhaëton is by his horses. (…) It is as if he has fallen between the two stools of musical storytelling and formal consistency: the result is a lop-sided work that is saved only by the heady intoxication of its opening“. Studd fragt allerdings nicht nach dem möglichen Bauprinzip der Symphonischen Dichtung. 30 Dies kann man freilich auch positiv formulieren, wie etwa Neitzel, Saint-Saëns, S. 16f., der „die Wahl der einfachsten und zweckmäßigsten Mittel in Rhythmus und Instrumentation“ durch Saint-Saëns besonders lobt. 31 So Rees, Saint-Saëns, S. 175. 32 In der Forschung bleibt die Frage nach den Gründen für Saint-Saëns’ Interesse an Phaethon ebenfalls offen, vgl. etwa Gallois, Saint-Saëns, S. 151.
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zieht sich auf seiner Homepage in einer programmatischen Notiz zu seinem 1986 entstandenen Orchesterwerk „Phaethon“ eigens auf Saint-Saëns’ gleichnamige Tondichtung. Während dieser aber „the entire story“ zugrundegelegt habe, gehe es in seinem „Phaëthon“ einzig um den Ritt als solchen.33 Folgerichtig gestaltet sich sein ca. achtminütiges Werk als gigantisches Furioso, das eine in mehreren Bögen an- und abschwellende Steigerung erfährt und in ohrenbetäubendem Krachen mit dem Blitzstrahl des Gottes abrupt endet. Von Beginn an sind schnelle, geradezu hektisch rasende Bewegungen in unterschiedlichen Instrumentengruppen charakteristisch für das Werk, das durch das zunehmend prominente Hinzutreten dunkler Blechbläser und vor allem eines überdimensionierten Schlagzeugapparates – Rouse selbst ist virtuoser Schlagzeuger – immer heftiger anschwillt und am Ende regelrecht in alle Richtungen zerplatzt; Einflüsse der Rockmusik insbesondere der 70er Jahre, die ohnehin prägend auf den Komponisten gewirkt hat,34 sind dabei unverkennbar. Rouse selbst merkt an, dass er am Morgen des 28. Januar 1986 gerade am Blitzschlag des Zeus, der Phaëthon vom Himmel fegt, gearbeitet habe, als die Raumfähre Challenger explodiert sei. Das Werk ist dementsprechend den Astronauten gewidmet, die bei diesem Unglück umkamen und wie Phaëthon „were knocked from the sky“.35 Weit weniger krachend kommt Benjamin Brittens subtile Oboenstudie aus dem Jahr 1951 daher, die mittlerweile zum Standard-Repertoire der Oboenliteratur gehört. Von den beiden zuletzt behandelten Werken unterscheidet sie sich nicht nur in der Besetzung durch ein einziges Soloinstrument, sondern auch dadurch, dass die Phaëthon-Episode – wie in den Programmsymphonien Dittersdorfs – in einen größeren Zyklus mit Erzählungen aus Ovids „Metamorphosen“ eingebettet ist. Britten hat den zweiten seiner sechs Ovid-Sätze folgendermaßen betitelt: „Phaeton, who rode upon the chariot of the sun for one day and was hurled into the river Padus by a thunderbolt“.36 Von der Bedrohlichkeit und dem tragischen Ausgang dieser Episode ist in Brittens Komposition freilich kaum etwas zu spüren. In leich33 Vgl. http://www.christopherrouse.com/phaethonpress.html (16.5.2007). 34 Zu Christopher Rouse und seiner musikalischen Sozialisation s. Laurie Shulman: Christopher Rouse: An Overview, in: Tempo N.S. (199) 1997, S. 2–8; eine Kurzfassung des Artikels bietet dies.: Rouse, Christopher (Chapman), in: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians, 21, London 2001, S. 798f. 35 URL: http://www.christopherrouse.com/phaethonpress.html (16.5.2007). 36 Benjamin Britten: Six Metamorphoses after Ovid op. 49 for Oboe Solo, London u.a. 1957, S. 2. Die übrigen Sätze der „Six Metamorphoses after Ovid“ sind wie folgt überschrieben: „1. Pan, who played upon the reed pipe which was Syrinx, his beloved. – 3. Niobe, who, lamenting the death of her fourteen children, was turned into a mountain. – 4. Bacchus, at whose feast is heard the noise of gaggling women’s tattling tongues and shouting out of boys. – 5. Narcissus, who fell in love with his own image and became a flower. – 6. Arethusa, who, flying from the love of Alpheus the river god, was turned into a fountain”. Zu Brittens Ovid-Vertonung s. etwa Frank Mulder: An Introduction and Programmatical Analysis of the Six Metamorphoses After Ovid by Benjamin Britten, in: Journal of the International Double Reed Society, Heft 20, 1992: URL: http://idrs2.colorado.edu/PUBIDRS2/Journal20/JNL20.Mulder.html (24.5.2007); Stephen Hiramoto: An Analysis of Britten’s Six Metamorphoses after Ovid, in: Journal of the International Double Reed Society (22.2) 1999, S. 23–26: https://www.idrs.org/www.idrs/publications2/journal2/jnl22.2/jnl22.2.pdf.
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ten Dreierbewegungen, die in der Musik häufig sinnbildlich für Reiten verwendet werden, tanzen die Töne locker daher – Britten bevorzugt dabei Sekund- und Terzintervalle, vermeidet also extreme Tonsprünge –, lediglich durch unregelmäßige und überraschend auftretende Pausen unterbrochen. Das Stück folgt weniger einem A-B-A Schema, wie es Britten in seinen Ovid-Metamorphosen bevorzugt verwendet hat, als einem Variationsmuster A (T. 1–18) – A’ (T. 19–27) – A’’ (T. 28–38) – Coda (T. 39–42). Die Leichtigkeit und Schwerelosigkeit der kurzen Studie mag eher die naive Kühnheit und Überheblichkeit Phaëthons als seinen rasenden Sturz in die Tiefe in Töne fassen; selbst der Abschluss der Miniatur im dreifachen Piano (und mit einer aufsteigenden melodischen Linie!) deutet eher auf ein leichtes Entschwinden in die Lüfte als auf ein Zerbersten am harten Boden. Im Vergleich zu den bisher besprochenen Werken wirkt schließlich die zwischen 1781 und 1786 komponierte und 1786 in Wien mit großem Erfolg aufgeführte Programmsymphonie „Der Sturz Phaëtons“, das zweite Stück aus den „12 Symphonien nach Metamorphosen von Publius Ovidius Naso“ von Carl Ditters von Dittersdorf, auf ein modernes Publikum eher statisch.37 Das kompositorische Niveau zahlreicher Werke dieses ungemein fleißigen Notenschreibers ist eher mäßig, aber die Ovid-Symphonien heben sich in dieser Hinsicht positiv ab, u.a. dadurch, dass Dittersdorf das Wagnis eingeht, die klassische, u.a. von ihm mitgeprägte Bauform der Symphonie zugunsten der Umsetzung der literarischen Vorlage zu variieren. So endet etwa das Finale der Phaëthon-Symphonie nicht im schnellen vivace, sondern in einem langsam ausklingenden andantino. Von Programmmusik kann hier allerdings noch nicht geredet werden, vielmehr wurde von „charakteristischer Instrumentalmusik“ gesprochen (Dittersdorf selbst verwendete den Terminus der „charakterisierten“ Symphonie),38 bei der es vor allem darum ging, dem Hörer Impulse zu geben, um sich selbst ein Bild der zugrundegelegten Situation zu verschaffen – was allerdings vereinzelte tonmalerische Elemente nicht ausschließt.39 Den expliziten Anspruch, Stimmungen oder Gefühle ausdrücken zu können, erheben die Programmsymphonien noch nicht; aber sie setzen den literarisch vorgebildeten und mit dem Sujet vertrauten Hörer voraus und bewegen sich vor dem Hintergrund einer in den Jahren ihrer Entstehung einsetzenden musikästhetischen Diskussion als durchaus ernstzunehmender Beitrag bereits in diese Richtung.40 37 Zu Dittersdorf s. Hubert Unverricht/Werner Bein (Hrsg.): Carl Ditters von Dittersdorf, 1739– 1799. Mozarts Rivale in der Oper, Würzburg 1989; Hubert Unverricht (Hrsg.): Carl Ditters von Dittersdorf. Leben – Umwelt – Werk, Tuzing 1997; Herbert Seifert/Oldřich Pulkert: Ditters von Dittersdorf, (Johann) Carl, in: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil, Bd. 5, 2001, S. 1109–1128 (mit weiterer Literatur). Zu den Metamorphosen-Symphonien s. etwa Hubert Unverricht: Dittersdorfs Metamorphosen-Sinfonien, in: Musik des Ostens, Heft 12, 1992, S. 267–271; Ludwig Finscher: Ovid in Oberschlesien: Anmerkungen zu den „Metamorphosen“-Symphonien von Karl Ditters von Dittersdorf, in: Werner Schubert (Hrsg.): Ovid. Werk und Wirkung. Festgabe für Michael von Albrecht zum 65. Geburtstag, Teil II, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 1163–1176. 38 Norbert Miller (Hrsg.): Karl Ditters von Dittersdorf, Lebensbeschreibung. Seinem Sohne in die Feder diktiert, München 1967, S. 221. 39 Unverricht, Dittersdorfs Metamorphosen-Sinfonien, S. 271. 40 Unverricht, Dittersdorfs Metamorphosen-Sinfonien, S. 271; Finscher, Ovid in Oberschlesien, S. 1163ff.
Sakralität und Desakralisierung. Antiker Mythos und antike Geschichte bei Louis XIV. Albert Schirrmeister J’entens mon Destin qui m’appelle, Je brûle de monter dans un rang glorieux Si Théone me paroît belle, La Couronne est encore plus charmante à mes yeux.1
Die vorangestellten vier Verse geben in konzentrierter Fassung wieder, welche Themen im Libretto von Philippe Quinault zur Oper „Phaéton“ von Jean-Baptiste Lully für die Hauptperson als wesentlich angesehen werden: Liebe und Verlangen nach Ruhm sind für Phaéton2 beide gleichermaßen präsent. Um die Oper in ihrer Bedeutung kulturgeschichtlich einzuordnen, werde ich zunächst den Librettisten vorstellen, die Entstehungsbedingungen einer Oper am französischen Königshof erläutern und in stark geraffter Form die Veränderungen des Stoffes gegenüber der eindeutigen Vorlage aus Ovids Metamorphosen skizzieren: Statt der Titelfigur rücken damit die göttlichen Gestalten Apoll und Jupiter in den Fokus des Theaters. Zentraler Gegenstand ist deshalb die Darstellung der kurzfristigen und langfristigen politischen und kulturellen Kontexte zur 1683 uraufgeführten „tragédie lyrique“, worauf aufbauend ich die besondere Rolle der Antike und des antiken Mythos für die politische Repräsentation von Louis XIV. diskutiere.
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Quinaults Libretti liegen in einer modernen Edition mit einer instruktiven Einleitung vor: Philippe Quinault, Livrets d‘opéra, présentés et annotés par Buford Norman, Paris 1999, 2 vol.; zudem sind Quinaults Werke in einer Ausgabe von 1715 via Gallica online benutzbar: Pháeton dort im fünften Band, S. 184–238, URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k73858n.notice (01.10.2007), nach dieser Ausgabe zitiere ich: „Ich höre mein Schicksal rufen / Ich brenne darauf, in einen Rang des Ruhms aufzusteigen / Wenn auch Théone mir schön erscheint / so schmeichelt doch die Krone meinen Augen noch mehr“ (alle Übersetzungen aus dem Französischen von mir; ihr Anspruch ist lediglich, mein Verständnis der zitierten Passagen von vorneherein deutlich zu machen, nicht aber poetische Qualität zu transportieren). Die vorzügliche Gesamtaufnahme mit einem instruktiven, ausführlichen Begleitheft: Jean-Baptiste Lully: Phaëton. Tragédie en musique. Livret de Philippe Quinault, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski, Erato 1994. Die Schreibweise im Folgenden immer nach dem Libretto, französisch.
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1. Quinault, die Oper und das Libretto3 Philippe Quinault, getauft am 5. Juni 1635, machte als Sohn eines Bäckers eine Aufsteigerkarriere: Er erhielt Lateinunterricht am Collège du Cardinal Lemoine, praktizierte seit 1655 als Rechtsanwalt. Zugleich aber beeilte er sich, seine literarische Karriere zu beginnen; im gleichen Jahr 1655 wurde bereits sein erstes Theaterstück gespielt, seit 1670 war er Mitglied der Académie française, wichtiger aber wurde 1674 seine Mitgliedschaft in der so genannten „petite Académie“, der „Académie royale des Inscriptions et des Médailles“. In dieser Eigenschaft wählt er mit anderen konkurrierenden Literaten die Stoffe für die am Königshof zu spielenden Theaterstücke aus. Für Quinault ist dies die Folge seiner 1660 beginnenden Zusammenarbeit mit dem zunehmend mächtiger werdenden Jean-Baptiste Lully, von dem er für jedes abgelieferte Libretto reichlich entlohnt wurde, zusätzlich zu einer ebenfalls ansehnlichen jährlichen königlichen Pension. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Quinault ausgerechnet 1687 mit dem Tod Lullys poetisch vom Theater verabschiedet, wofür er religiöse Skrupel verantwortlich macht – er habe zu sehr von Spielen und der Liebe gesungen –, schreibt er.4 Lully war der entscheidende mächtige Protektor für den unter Literaten nie unumstrittenen Quinault. Die Sujets von Quinaults Libretti beruhen zunächst auf antiken mythologischen Stoffen, von diesen acht Opern ist „Phaéton“ die letzte. Die noch folgenden drei Operntexte sind Bearbeitungen mittelalterlicher Ritterstoffe (Roland, Amadis und Armide). Die Struktur der Opern gehorcht generell dem Schema eines traditionellen Epos: ein Held wie Theseus, Perseus oder auch Amadis überwindet eine Reihe von Hindernissen, um am Ende seine Geliebte heiraten zu können. Im „Phaéton“ ist dieses Schema, da sich Quinault nicht vollständig vom Mythos lösen kann, nicht wirklich durchzuführen. Der Oper vorangestellt ist ein Prolog, der die Rückkehr des goldenen Zeitalters durch Louis XIV. mit einigem mythologischen Personal feiert. Im ersten Akt wird sofort in den ersten beiden Szenen das zusätzliche Personal eingeführt, die zugleich den galanten Liebeskonflikt personalisieren: Libie ist als Tochter des Königs von Ägypten Objekt dynastischer Heiratsüberlegungen und liebt Epaphus, den Kontrahenten des Phaéton; dann kommt Théone dazu, sie ist Tochter des Proteus und liebt Phaéton. Dieser muß zwischen Ägypten, das er durch eine Heirat mit Libie als Herrscher erhalten würde, und seiner Liebe zu Théone wählen und entscheidet sich mit Unterstützung seiner Mutter Climène für die Aussicht auf beispiellosen Ruhm. Nachdem allerdings Proteus in einem Orakel Climène von der tödlichen Gefahr überzeugt hat, die in ihrem 3
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Zu Quinaults Libretti und zu Phaéton gibt es neuere, gründliche Studien, von denen ich für die folgenden Ausführungen profitieren konnte, vgl. v.a.: Buford Norman: Touched by the graces. The libretti of Philippe Quinault in the context of French classicism. Birmingham, Ala. 2001, zu Phaéton besonders Kapitel 9, S. 259–279, dort die nötigen Nachweise zu den im folgenden referierten Einzelheiten; Virginia Scott: The Fall of Phaeton. The Son of the Sun God in the Theatre of the Sun King, in: French Studies (48, 2) 1994, S. 143–154. Zitiert nach Quinault, Livrets, l’Hérésie détruite: Je n’ai que trop chanté les jeux et les amours; /Sur un ton plus sublime il faut nous faire entendre : / Je vous dis adieu, muse tendre, / Et vous dis adieu pour toujours.
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Ehrgeiz gründet – tremblés pour votre Fils, ambitieuse Mère, heißt es dort – (I, 8), versucht sie ihren Sohn von den Vorteilen eines ruhigen mit Liebe erfüllten Lebens gegenüber einem ruhmvollen Tod zu überzeugen (II, 1). Waren jedoch die Aussichten, Phaéton von einer Bewerbung um Ägyptens Thron und um Libie abzuhalten, schon von vorneherein eher gering, so ist nach dem Zusammenstoß mit Epaphus die Sache entschieden: Epaphus, der sich zunächst vor allem aufgrund seiner erwiderten Liebe zu Libie des Thrones und der Frau gewiss war, wird von der Entscheidung des Königs Mérops für seinen Kontrahenten überrascht und fühlt sich bloßgestellt. Da Mérops seine Wahl (II, 5) mit dem Ruhm des Helden Phaéton und zugleich mit der Aussicht begründet, seine königliche Familie mit göttlicher Abstammung zu adeln („le sang des Dieux s’unit au sang des Rois“), ist letzteres der Punkt, an dem Epaphus einsetzt. In einem wütenden Wettstreit, wessen Abkunft die vornehmere ist, beruft er sich darauf, von seinem Vater Jupiter anerkannt worden zu sein, während bei der göttlichen Herkunft Phaétons durchaus noch Zweifel erlaubt seien. Dies führt im vierten Akt zum Besuch Phaétons im Palast der Sonne bzw. des Sonnengottes. Dort erreicht er die Erlaubnis seines Vaters, den Sonnenwagen für einen Tag zu fahren. Der fünfte Akt ist im Wesentlichen von den Befürchtungen Climènes und Théones erfüllt, daneben von der offensichtlich unerfüllten Bitte des Epaphus an seinen Vater, zu seinen Gunsten einzugreifen. Dieser Akt wird beschlossen vom Hilferuf der Göttin der Erde, die sich ebenfalls an Jupiter richtet und dem erst darauf durch den Blitz folgenden Sturz des Phaéton. In Libretto und Musik ist die Reaktion auf den Sturz des Phaéton bemerkenswert kurz, sie wird zweigeteilt in die gemeinsamen Worte der Trauer von Climène und Théone, die das Schicksal beklagen („o sort fatal!“), während Mérops, Libie und der Chor ihrem Schrecken Ausdruck verleihen („O chûte affreuse! O temerité malheureuse!“). Epaphus tritt in dieser letzten Szene nicht mehr auf, er ist als Nebenfigur lediglich Auslöser des tragischen Sturzes, aber sonst an keiner entscheidenden Szene beteiligt. Die Uraufführung erlebte „Phaéton“ als erste Oper in Versailles, die Serie der Aufführungen begann am 6. Januar 1683. An der Académie Royale wurde sie zum ersten Mal am 27. April 1683 zur Wiedereröffnung nach Ostern und dann ein ganzes Jahr lang bis zur Premiere von Amadis gespielt. Unterbrochen wurde die Serie lediglich im Sommer durch einen Trauermonat vom 30. Juli bis zum 30. August 1683 anlässlich des Todes der Königin. Durchweg erfolgreiche Wiederaufführungen erlebte die Oper in Marseille 1686, in Avignon 1687 sowie in Lyon 1688 und in Rouen 1689, hier jeweils zur Eröffnung einer Académie Royale de Musique. Weitere Pariser Aufführungen fanden ab 1692 und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt. Während bei den Pariser Aufführungen offensichtlich alle reichhaltig benötigten Theatermaschinerien einschließlich eines eindrucksvoll abstürzenden Sonnenwagens zur Verfügung standen, musste in Versailles mit eher provisorischen Aufführungsbedingungen Vorlieb genommen werden, so dass die Wirkung sehr stark vom Bühnenbild und den Kostümen abhing. Während die Bühnenbilder von Jean Berain (1640–1711) entworfen und ausgeführt wurden, hatte sich Lully auch die
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Verantwortung für die Gestaltung der Kostüme gesichert. Auf ihre Bedeutung für die Oper wies Lully mit seinem Dank an den König hin, diese Aufgabe anvertraut zu erhalten haben, der in der gedruckten Partitur öffentlich wurde. Dass Lullys Zugriff auf die Konzeption der Oper und ihre Aufführungsbedingungen umfassend war, zeigt auch der Bericht bei Lecerf, in dem ausführlich geschildert wird, wie Quinault immer wieder seine Libretti überarbeiten musste. Speziell auf den Phaéton bezogen wird noch genauer ausgeführt, dass Lully die Figur des Phaéton charakterlich sehr viel stärker als ehrgeizig aber nicht allein brutal sehen wollte, wie er offenbar in Quinaults ersten Fassungen gezeichnet war. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, auf die Rolle der Petite Académie hinzuweisen, die zuerst bei der Stoffauswahl tätig wurde, dann aber auch offenbar in Vertretung des Königs als Zensor der jeweiligen Dichtung auftrat. 2. Kurzfristige Kontexte: Sterne, Garten und Söhne Schon im Mai 1682 war der Hof nach Versailles übergesiedelt, so dass die Architektur von Garten, Schloß und die damit verbundene mythologische Programmatik dem Hof und den Höflingen zur Aufführungszeit neu und sehr präsent waren. Näher noch zum Thema der Oper und wenigstens diskussionswürdig als Subtexte sind andere aktuelle Ereignisse. Auffällig sind im Jahr vor der Uraufführung des „Phaéton“ zwei vielleicht auch untereinander zu verknüpfende Daten, die in Paris und am Hof kurzfristig das Verständnis einer Metaphorik mit astronomischen Elementen geschärft haben können. Im Herbst des Jahres 1682 ereignet sich die Passage des Halleyschen Kometen und im gleichen Jahr wird das Pariser Observatorium durch Louis XIV. eröffnet. Einerseits werden Kometenängste aktuell, nicht zeichenhaft, sondern als Thema der höfischen Gespräche; andererseits werden die Sterne zu Objekten des monarchischen Zugriffs in den Wissenschaften. Noch aktuell ist um 1683 auch die bis 1681 erfolgte Legitimierung der Kinder, die Louis XIV. mit seinen Mätressen hatte. Virginia Scott hat bereits erwogen, dass ein Hintergedanke des Librettos gewesen sein könnte, im Auftrag des Königs allzu ehrgeizige Bastarde zu warnen, schließlich handele die Oper zuvorderst von Göttersöhnen, nicht von den Göttern selber: „Quinault and Lully would never have used the libretto of an opera as a warning to their royal patron, but Louis himself could have conspired to speak through an opera to his people, promising, as Jupiter, to guard against any unwarranted ambition on the part of the royal bastards. In this reading, Louis becomes both Jupiter, the father of Epaphus, and Le Soleil, the father of Phaeton.”5
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Scott, Phaethon, S. 146.
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3. Die kulturelle Repräsentation des Königs: antiker Mythos, antike Geschichte Ohne dass dies im Einzelnen immer hieb- und stichfest belegt werden könnte, liegen diese kurzfristigen Kontexte recht nahe. Sie werden aber überlagert von längerfristigen kulturellen Bedingungen, durch die sie ihre Bedeutung für die Oper erst erhalten können. Die Verwendung antiker kultureller Versatzstücke zur Illustration politischer Machtansprüche ist hierbei sicherlich dasjenige Moment, das in seinen verschiedenen Ausprägungen am grundlegendsten die Voraussetzungen für das Verständnis des Phaéton am französischen Königshof lenkte. Der Antikebezug, der durch die Geschichte der Oper „Phaéton“ sichtbar wird, ist dabei nicht arbiträr und austauschbar. Die Selbstkonstruktion der französischen Monarchie des Louis XIV. ausgerechnet in Auseinandersetzung mit antiker Mythologie und Geschichte verweist auf die grundsätzliche Bedeutung antiker Kultur auch für die politische Moderne Europas. Versailles kann dabei mit Fug und Recht als ein zentraler Ort der politischen Kultur der Frühen Neuzeit bezeichnet werden, weshalb die hier entwickelten Veränderungen auch andernorts prägend werden. In den Gärten und der Architektur von Versailles sind dabei zumindest zunächst die Verweise auf Apollo geradezu omnipräsent. Das ist kein Zufall und bedarf angesichts der bekannten Ausdeutung, die Louis XIV. für die Verwendung der Sonne als dem Emblem seiner Herrschaft geliefert hat, zunächst kaum einer weiteren Erklärung.6 Umso wichtiger ist es allerdings, darauf aufmerksam zu machen, dass in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts die Apollo-Verweise aus den Gärten nach und nach entfernt werden. Das schlägt sich, wie die Arbeiten von Christopher Thacker gezeigt haben, auch in den mehrfach erneuerten königlichen Schriften nieder, die autoritativ – nämlich tatsächlich unter dem Namen des Königs – vorschrieben, wie die Gärten gezeigt und besichtigt werden sollten.7 Jean-Pierre Néraudau datiert den beginnenden Rückzug des apollinischen Mythos und der symbolischen Repräsentation der königlichen Herrschaft durch die Sonne bereits auf die Jahre seit 1670.8 Allerdings wird diese symbolische Repräsentation nur für Versailles wirklich aufgegeben, und hauptsächlich nach Marly verschoben. Tatsächlicher Aus6
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Angesichts der so eindeutigen Gleichsetzung, die Louis XIV. hier zwischen der Sonne und dem Monarchen mit seinem Hofstaat herstellt, sei die Stelle zitiert: „on choisit pour corps le soleil, qui dans les règles de cet art est le plus noble de tous, et qui, par l’éclat qui l’environne, par la lumière qu’il communique aux autres astres qui lui composent comme une espèce de cour, par le partage égal et juste qu’il fait de cette même lumière à tous les divers du monde, par le bien qu’il fait en tous lieux, produisant sans cesse de tous côtés la vie, la joie et l’action, par son mouvement sans relâche, où il paraît néanmoins toujours tranquille, par cette course constante et invariable, dont il ne s’écarte et ne se détourne jamais, est assurément la plus vive et la plus belle image d’un grand monarque.“ Louis XIV.: Mémoires pour servir à l’instruction du Dauphin, Paris 1978, S. 135. Christopher Thacker: „La Maniere de montrer les jardins de Versailles,“ by Louis XIV. and Others, in: Garden History (1, 1) 1972, S. 49–69; Ders.: Louis XIV.’s Last ‚Maniere de montrer les jardins de Versailles‘, in: Garden History (6, 2) 1978, S. 31–38. Jean-Pierre Néraudau: L’olympe du Roi-Soleil. Mythologie et idéologie royale au Grand Siècle, Paris 1986.
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druck einer Wende ist dann weniger der Verzicht auf mehrere architektonische Projekte als vielmehr 1684 die Zerstörung der Thetisgrotte, die durch eine „allégorie réelle“ des Königs in der Geschichte seiner Herrschaft ersetzt wird. Für eine ähnliche Verschiebung steht zur gleichen Zeit in der Provinz der Bau des canal du midi (1674–1681). Der Kanal, der eine Verbindung zwischen Mittelmeer und Atlantik herstellt, wird als eine römische Attraktion inszeniert: Das Bauwerk wird dem Monarchen selbst oder auch seinem Ingenieur Vauban als „idealem neuen Römer“ zugeschrieben und nicht dem eigentlichen Initiator und Planer Pierre-Paul Riquet. In der Ingenieursliteratur des 18. Jahrhunderts wird der Kanal als ein entweder den Römern würdiges oder eben ein von den Römern nicht realisiertes Projekt geschildert, das von dem ebenbürtigen Nachfolger der römischen Kaiser nun endlich verwirklicht wird.9 Hier ist es römische Geschichte, die dem französischen König als Folie zur Selbstdarstellung dient. „Phaéton“ bildet also nicht nur für das Opernschaffen von Quinault und Lully eine Wendemarke, sondern markiert gemeinsam mit anderen Elementen eine Verschiebung für das gesamte System der politisch-kulturellen Repräsentation des Königs. Die Geschichte rückt an die Stelle der mythologischen Erzählung. Dabei wird die römisch-imperiale Geschichte zur Vorgeschichte der eigenen Geschichte des Königs, beides zusammengenommen hebt den französischen König über die anderen europäischen Monarchen und bestimmt die weitere monarchische Repräsentation. Eine solche Verknüpfung ist zunächst einmal nicht besonders originell, nach der humanistischen Geschichtsschreibung des sechzehnten Jahrhunderts liegt sie mehr als nahe.10 Allerdings sticht ein Unterschied ins Auge, der die Gewichtung verschiebt: Während im 16. Jahrhundert die Geschichtsschreibung ethnisch interessiert war und die Gallier als das französische Volk der Antike in den Vordergrund stellte, steht bei Louis XIV. ausschließlich der Monarch im Vordergrund. Bedeutungsvoll wird die Ausrichtung an der Geschichte zudem durch die Diskontinuität, die durch den zwischenzeitlich herausragenden Stellenwert des Mythos hervorgerufen wurde. Im Zusammenhang mit den absolutistischen Herrschaftspraktiken besitzt der Apollmythos nicht allein metaphorischen Charakter, die den Glanz der königlichen Herrschaft demonstrieren sollen. Anders als durch eine historisch geleitete Repräsentation der Monarchie kann durch eine mythologisch orientierte Selbstdarstellung die eigene sakrale Qualität des Königs überhöhend dargestellt werden, ohne dies in die Nähe einer Blasphemie zu rücken. Die Nähe des Apoll zu Christus, seine christologische Verwendung ebenso in literarischen Verarbeitungen wie in anderen Künsten hat, wie schon Ernst Kantorowicz in seinem zu einem locus classicus gewordenen umfangreichen Aufsatz nachgewiesen hat, den
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Chandra Mukerji: Cultural Genealogy. Method for a Historical Sociology of Culture or Cultural Sociology of History, in: Cultural Sociology (1), 2007, S. 49–71. 10 Zur französischen humanistischen Geschichtsschreibung vgl. z.B. Pascale Bourgain: L’historiographie humaniste en France, in: La storiografia umanistica 1,2. Convegno internazionale di studi Messina (22–25) 1987, Messina 1992, S. 761–792; Philippe Desan: Nationalism and History in France during the Renaissance, in: Rinascimento (2. ser., 24) 1984, S. 261–288.
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Boden für das System des französischen Königs bereitet.11 Diese Einpassung Apolls in die monotheistische christliche Kultur unterschlägt die polytheistische Herkunft des Gottes und verändert so das Bild der Antike. Zugleich wird es hierdurch möglich, Jupiter und Apoll in den künstlerischen Ausgestaltungen, die Louis XIV. darstellen, so zu vermischen, wie es auch in Quinaults Libretto geschieht. Die Sonne des Apoll-Christus, die Louis XIV. für sich in Anspruch nimmt, macht zudem seine sakrale Qualität unabhängig von den traditionellen sakralisierenden königlichen Ritualen. In diesen Ritualen sollte eine direkte Verbindung zwischen König und denjenigen, die der Zeremonie beiwohnten, geknüpft werden und der alltägliche Gang der Zeit unterbrochen werden. Roger Chartier hat mit Blick auf die kulturellen Ursprünge der französischen Revolution die Veränderungen der politischen Repräsentation untersucht und dabei betont, wie die Konzeption der Monarchie dadurch verändert wurde, dass diese öffentlichen Rituale durch die höfischen Akte ersetzt wurden: 1660 führte Louis XIV. seine letzte entrée durch, sein letztes lit de justice datiert 1673, doch schon 1610 wurden die Begräbnisrituale durch die Abwesenheit des Königs zerstört: Der König entfernt sich vom Volk.12 In Versailles dagegen ist die Welt als Ganzes präsent, der König ist, wie Louis Marin formulierte, „überall und nirgends“.13 In diesem höfischen Kosmos sind ganz folgerichtig auch die festlichen Ereignisse auf die Repräsentation des monarchischen Zentrums ausgerichtet.14 Stefan Germer analysiert in diesem Sinne die sich programmatisch verändernden Feste und die Bedeutung ihrer Berichte durch André Félibien für die politische Repräsentation. Die Festbeschreibungen der Jahre 1668 und 1674 – also schon deutlich vor dem „Phaéton“ – markieren in seiner Sicht zum einen in ihrer Schilderung von militärischen Triumphen den „Übergang von einer mythologischen zu einer historischen Begründung absolutistischer Herrschaft“ zum anderen nimmt gerade die spätere Beschreibung die „Züge einer Topographie“ der gesamten Anlage von Versailles an und repräsentiert damit den zentralen Ort der Herrschaft.15 Die problematische Differenz zwischen dem ephemeren Fest und seiner Beschreibung stellt, wie 11
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Ernst H. Kantorowicz: Oriens Augusti. Lever du Roi, in: Dumbarton Oaks Papers (17) 1963, S. 117–177, besonders S. 162ff., angesichts der umfassenden Darstellung ist die gewählte Überschrift „Lever du Roi“ nur mehrdeutig zu verstehen. Von einer Interpretation des Bildes von Joseph Werner „Louis XIV. en Apollon terrassant le serpent Python“ ausgehend wird die Zusammenführung von Apoll und Christus in Louis XIV. beschrieben in: Rudolf Braun/David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550– 1914, München 1993, hier S.116; Für die englische Dichtung der Zeit existiert eine Untersuchung, die ebenfalls auf die europaweite Präsenz der Vereinigung des antiken Gottes mit Christus hinweist: Stella P. Revard: Christ and Apollo in the Seventeenth-Century Religious Lyric, in: John R. Roberts (Hrsg.), New Perspectives on the Seventeenth-Century English Religious Lyric, Columbia 1994, S. 143–167. Roger Chartier: Les origines culturelles de la Révolution française, Paris 2000, S. 180ff. Louis Marin: Classical, Baroque: Versailles, or the Architecture of the Prince, in: Yale French Studies (80), 1991, S. 167–182, hier S. 180f. Zur sakralen Qualität des absolutistischen Herrschers vgl. schon Jürgen Freiherr von Kruedener: Die Rolle des Hofes im Absolutismus, Stuttgart 1973. Stefan Germer: Kunst, Macht, Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, die Zitate S. 240.
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Germer betont, die textliche Fassung und ihre Leser vor die Herausforderung, in der eigenen Vorstellungskraft das nur andeutbare nachzuvollziehen.16 Damit kann zwar das Fest zeitlich und auf ein weiteres Publikum ausgedehnt werden. Allerdings bleibt nicht nur, wie Germer schreibt, die Beschreibung notwendig hinter der Wirkung des Ereignisses zurück. Stattdessen wird eine entscheidende Differenz markiert, da eine Beschreibung das Ephemere betont und es als Charakteristikum des Festes manifest macht: die Exklusivität wird als Qualität des eigentlichen Festes, die die tatsächlichen Teilnehmer von einem bloßen Publikum abtrennt, diesen Außenstehenden vor Augen geführt. Die Gunst einer Teilhabe an der Herrschaft wird zugleich den höfischen Akteuren beim Fest versichert und es wird ihr in seiner Beschreibung dauerhafte Gültigkeit gegeben. Theateraufführungen und spezieller höfische Opern haben in diesem Zusammenhang besonderes Gewicht, nicht zuletzt, weil Louis XIV. in den ersten Jahren seiner Herrschaft (bis 1669) bei den Ballett-Einlagen selber als Tänzer auftrat.17 Die appropriierende Transformation18 der antiken Götterwelt im Rahmen einer Aufführung wird so zu einem ritualisierten Spiel, pointiert könnte man sagen, dass die höfische Aufführung das Spiel zu einem theatralischen Gottesdienst verwandelt. Die Wiederaufführungen der höfischen Oper außerhalb des Hofes können dann als Pendant zu den Festbeschreibungen als Nachvollzug des Ereignisses interpretiert werden, zumal jene Aufführungen an den königlichen Akademien in Paris, Rouen und Lyon. 4. Geltungsgrenzen der Antike Warum aber werden diese stark aufgeladenen Formen der Repräsentation aufgegeben zugunsten eines weniger weit reichenden und keine sakrale Qualität herstellenden historischen Systems? Ein Problem liegt in der Positionierung des Königs als Apoll innerhalb des fest gefügten mythologisch-sakralen Systems: Apoll wird, das zeigen die neueren Untersuchungen Luca Giulianis und Dagmar Grassingers, im 17. Jahrhundert allgemein als Jüngling vorgestellt, ein Torso eines muskulösen erwachsenen Apoll hingegen wurde gerade nicht zu Apoll ergänzt, sondern zu einem Krieger vervollständigt.19 Ein junger, tanzender Sonnenkönig fügt sich besser in diese Wahrnehmung als ein alternder Monarch. Ein weiterer gewichtiger Grund für
16 Ebd. S. 235. 17 Vgl. Braun/Gugerli, Macht, S. 134ff. 18 Ich verwende hier explizit die aus den Forschungen des Berliner SFB 644 „Transformationen der Antike“ entwickelte Begrifflichkeit und beziehe mich auch im Folgenden auf die dort geführten theoretischen Diskussionen. Transformation wird hier als ein reflexiver Prozess verstanden, der Aufnahme- wie Referenzkultur verändert. Appropriierend heißt dann, dass in der Transformation die Aufnahmekultur sich als Erbe der Referenzkultur konstruiert und diese ihren Praktiken angleicht. 19 Ich beziehe mich hier auf die noch unveröffentlichten Thesen des Projektes „Transformationen zu Apoll und zu Figuren seines mythischen Umfelds“, das innerhalb des Berliner SFB 644 „Transformationen der Antike“ von Dagmar Grassinger und Luca Giuliani bearbeitet wird.
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die Änderungen sind die besseren Möglichkeiten, die ein historisches System bietet, den König als den Urheber originärer Heldentaten zu präsentieren. In unserem Zusammenhang am wichtigsten scheint mir aber, dass trotz solcher eindeutiger Festlegungen das mythologische Material so viele Anknüpfungspunkte bietet, dass außerhalb des Hofes andere Deutungen und andere Bearbeitungen bevorzugt zur Geltung gelangen. Die als ausgrenzende Repräsentation beabsichtigte Exklusivität wird problematisch, der griechische Götterhimmel ist nur noch ein Theaterhimmel. Schon am Hof selber wird, betrachtet man die Oper „Phaéton“ vom Titelhelden aus, eine andere Deutung aktuell: Das Verlangen nach Ruhm ist in ihrer positiven Wendung ein geradezu notwendiges Merkmal eines Höflings. Wenn man in diesem Sinne die Oper als eine Hof-Oper betrachtet, dann verschiebt sich der theatralische Gottesdienst zu einem Lehrstück über soziale Regeln am Hof: Dem Höfling – und sei er der Sohn des Monarchen – werden die Grenzen seiner Ambitionen aufgezeigt, um die Ordnung der Welt zu erhalten. Beide Deutungen sind möglich, beide Deutungen sind aber auch nur am Hof möglich. In der Provinz, ja sogar schon bei den Aufführungen in der Hauptstadt, fällt die sakrale Deutung vollständig aus. Der antike Mythos entzieht sich der eindeutigen autoritativen Aneignung in der monarchischen Inszenierung, ganz im Gegenteil gibt er konträren und damit geradezu zwangsläufig subversiven Aneignungen viele Anknüpfungsmöglichkeiten. Die gleichnamige Komödie von Edme Boursault aus dem Jahr 1691 und die nahezu gleichzeitige Parodie auf Quinaults und Lullys Oper von Jean de Palaprat („Arlequin Phaéton“, 1692) geben hierfür ein beredtes Zeugnis, sie können viel mehr als maskiertes Spiel über höfische Kabale gelesen werden. Dass Boursaults „Phaéton“ schnell abgesetzt wird, wird in der Forschung darauf zurückgeführt, dass sich Madame de Montespan durch das Spiel angegriffen sah. Und tatsächlich folgt, wie Virginia Scott belegen konnte, Boursault zwar einerseits der dank verschiedener Aufführungen und Publikationen sehr präsenten Vorlage von Quinault/Lully, verändert aber signifikant einige Einzelheiten. Nicht nur führt er eine weitere, unbedeutendere Gottheit ins Theaterstück ein, den Gott Momus, der als eine Zwietracht säende Figur mit Kommentarfunktion skizziert werden kann. Zusätzlich aber verschiebt sich das Gefüge zwischen Phaéton und seiner Mutter Climène, die bei Boursault als die eigentlich von Ehrgeiz besessene Figur gezeichnet wird. Virginia Scott macht plausibel, dass in Boursaults Stück die zeitgenössischen Kämpfe am Hof und zwischen den Höflingsfraktionen vor allem um die Legitimierung von Kindern des Königs mit seinen Mätressen kommentiert werden.20 Schließlich ist es auch explizit seine Mutter, die am Ende des Stückes mit einer Strafrede bedacht wird.21 20 Scott, Phaethon, S. 148: „An example of how Boursault‘s play may allude to such matters is found in an Act III scene between Momus and Phaéton. Phaeton complains that Epaphus has dishonoured him by casting doubt on his parentage. Momus advises Phaeton not to question his mother, but Phaeton wants the whole universe to know that he is Apollon‘s son and that Apollon loved his mother. ,Oui, sans doute‘, answers Momus, ,tout l’Univers a scu que le Soleil a soupiré pour elle: mais qui scait si toujours elle lui fut fidele.‘ He adds that he has known
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Während in Quinaults Libretto offensichtlich aber auch erst nach der Überarbeitung durch Lully (wenn man den von Buford zitierten Berichten Glauben schenken darf22) Phaétons Fahrt mit dem Sonnenwagen noch als Ergebnis eines legitimen, positiven Ehrgeizes interpretiert werden könnte, so ist diese Deutung bei Boursault nicht mehr möglich. Virginia Scott mutmaßt, dass Boursault dort die Grenzen seiner künstlerischen Freiheit in der Behandlung eines Themas erkannte, wo es geeignet war, die königliche Repräsentation, die Person des Königs selber und nicht nur seine Mätressen anzugreifen. Sie erklärt hiermit den Verzicht auf einen Absturz des Phaéton, den Boursault in den Aufführungen seines Stückes nicht gezeigt habe (ohne dass Scott dies belegen würde). Die Erklärung stützt sie mit dem Hinweis auf gleichzeitige Libelli, in denen die Sonne des französischen Königs zu einer zerstörerischen Gefahr für die Erde wird und Louis XIV. selber als Phaëthon bezeichnet wird.23 Die verführerisch einleuchtende Verbindung lässt sich allerdings zumindest für den Druck des Stückes nicht ziehen, denn dort wird Phaéton für die letzte Szene angekündigt: „Phaéton dans un Char en l’air“. In die letzten Zeilen ist folgerichtig several mistresses of the gods ,batis d’une maniere a ne dire jamais non‘. This might well have been taken as an attack on Mme de Montespan. An even more unsettling possibility is that aspersions cast on Phaeton’s mother might have been thought to refer to aspersions cast on Louis’s mother and doubts expressed about Louis’s own paternity.” 21 Edme Boursault: Phaëton. Comédie, Paris 1694, scène dernière, S. 87f.: Jupiter fordert Phaëtons Mutter auf, sich nicht mehr der Liebe von Epaphus und Cephise entgegenzustellen; wäre ihr übermäßiger Ehrgeiz nicht gewesen, so hätte es für ihren Sohn die Liebe von Théone gegeben. 22 Norman: Touched by the Graces, S. 269 zitiert einen nahezu zeitgenössischen Bericht, in dem gesagt wird, der ursprüngliche Phaéton des Quinault sei übermäßig hart gezeichnet gewesen und erst die Überarbeitung durch Lully habe ihn menschlicher und galanter geformt: „Dans Phaëton, par exemple, il le renvoya vingt fois changer des Scenes entieres, approuvées par l’académie Françoise. Quinaut faisoit Phaëton dur à l’excès, & qui disoit de vrayes injures à Théone, Autant de rayé par Lulli. Il voulut que Quinaut fit Phaëton ambitieux, & non brutal ; & c’est à Lulli, Mesdames, que vôtre sexe doit le peu de galanterie que conserve Phaëton, qui, sans lui auroit donné de fort mauvais exemples.“ 23 Scott, Phaethon, S. 148: Although the usual events occur as the play continues, we do not see Phaeton fall from the sky. The machine to achieve this effect would have been very expensive. Yet the cost of running the production was high, 4,000 francs in extraordinary expenses per performance, so the decision not to show the fall of Phaeton may have been made on other than financial grounds. Boursault‘s decision to end his play with Jupiter, aloft on his eagle, casting the thunderbolt, may show some consciousness of the limits of royal patience, sorely tried by the increasing use in the libelles of the image of the fall of Phaeton to reflect the decline of Louis XIV. (…). One celebrated libelle makes an extended comparison between the sun and the French king, which demonstrates the disparaging uses to which his carefully-constructed allegory could be put: Le soleil ne connait jamais le repos. II en est de meme de l’ambition francaise. Le soleil est chaud et ardent; telle est la nature francaise. Le soleil domine les astres; les Francais veulent aussi dominer non seulement la terre mais les astres. Le soleil rechauffe le monde; l’argent francais le fait également. Le soleil aveugle les yeux; l’or et les belles paroles des Francais obtiennent le même résultat. On se brille au feu — comme aux Français. Les rayons du soleil penetrent dans l’intérieur du monde; les rayons de l’or francais penetrent aussi dans les plus secretes salles de conseil des Princes. Phaéton osa conduire le char du soleil. Par sa preemption il faillit embraser la terre, la mer, le ciel, et il finit misérablement. Le Roi Louis de France porte le soleil et veut executer les vastes desseins de son grand-pere. Pour cela il met a feu et a sang le monde entier. Finira-t-il aussi par se perdre?
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die Regieanweisung eingefügt „Jupiter foudroye Phaéton“ und auch textlich ist keine Rücksichtnahme zu erkennen: Phaéton hat die Ordnung der Welt gestört, er muss bestraft werden, Jupiter ist hier in seiner Entscheidung gar nicht frei.24 Den Sturz nicht zu zeigen, wäre allerdings nicht nur von der Stoffgeschichte her erklärungsbedürftig, sondern vielmehr noch in der theatralischen Situation. Denn sicherlich wäre mit teuren Theatermaschinen zu rechnen, doch umso größeres Aufsehen konnte mit ihnen auch erregt werden. Denn schon in den Aufführungen der Oper von Lully/Quinault war der technische Aspekt immer wichtiger geworden – und einem aufmerksamen Beobachter der Theaterszene in Paris, wie es die Konkurrenten um die Gunst des Publikums sein mussten, konnte das nicht entgehen und musste es Ansporn zur Nachahmung gewesen sein: Das funktionierende Spektakel der misslingenden Mobilität wird mit raffinierten Theatermaschinen verwirklicht, deren Verständnis staunenden auswärtigen Ingenieuren nachvollziehend ermöglicht wird. Erhalten hat sich der Bericht des schwedischen Hofarchitekten Nicodemus Tessin, dem 1687 bei seinem Besuch in Paris die Bühnenmaschinerie und speziell der Wagen des Phaéton durch Jean Berain erklärt wird.25 Noch drei Jahre nach der letzten Pariser Aufführung der Oper ist also ihre Bühnentechnik besonders für fachkundige Besucher ein faszinierender Gegenstand von intensiven Gesprächen. In dem Interesse für diesen sich scheinbar selbst bewegenden Wagen, deren Konstruktionszeichnungen von Jean Berain erhalten sind,26 wird das erkennbar, was Jörg-Jochen Berns so pointiert die „Herkunft des Automobils aus Himmelstrionfo und Höllenmaschine“ genannt hat.27 Die Konzentration des Interesses auf die technische Faszination, die dann in der Konsequenz auch zur Benennung von Wagen nach dem abstürzenden Göttersohn führt, wird aber im Theater des französischen Absolutismus nur durch die Desakralisierung der politischen Repräsentation und den Rückzug der Mythologie möglich.
24 Boursault, Phaéthon, S. 87: «Jupiter: A celle du destin il faut que je réponde, / C’est le Maître de tous les Dieus, / Tous demandent la mort de cet Audacieux, / Périssent comme luy tous les Ambitieux / Qui troublent le repos du Monde.» 25 Norman, Graces, S. 262: «Ce qu’il [Berain] me raconta de l’Opéra de Phaéton était très intéressant. Comment apparaissaient les nuages clairs et comment se levait ensuite le soleil qu’il a représenté en encastrant une lampe au milieu d’un demi miroir d’acier. […] Après la disparition du soleil, Phaéton est tombé. Sur le côté, Jupiter paraissait, au moyen de la foudre, faire voler la voiture en éclats. Phaéton, en remuant le pied, détachait une petite corde, ce qui faisait basculer rapidement les quatre chevaux et lui-même «culbutait» à l’aide d’une machine. Dont une des petites roues était d’un diamètre supérieur à l’autre.» 26 Eine Abbildung einer dieser Zeichnungen aus den Archives Nationales findet sich im Begleitbuch der CD: Lully, Phaéton, S. 80. 27 Jörg Jochen Berns: Die Herkunft des Automobils aus Himmelstrionfo und Höllenmaschine, Berlin 1996, passim, bes. S. 26, S. 34ff., S. 74f. die Bezugnahme auf Götterskulpturen und Triumphwagen in der Ikonographie der modernen Automobile.
Überwindung von Zeit und Raum. Die Mobilisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert Wolfgang König Die ‚Revolutionen‘ des späten 18. Jahrhunderts gehören zu den wichtigsten Mobilisierungsphasen der Menschheitsgeschichte.1 Die amerikanische Unabhängigkeit 1776 und die Französische Revolution 1789 stärkten auf lange Sicht die Stellung des Bürgers in der Gesellschaft. Insbesondere das Wirtschaftsbürgertum wurde im 19. Jahrhundert zum dynamischen Moment der gesellschaftlichen Entwicklung. Auch die um 1760 in Großbritannien einsetzende Industrielle Revolution kann man als eine weitgehende Mobilisierung der Gesellschaft begreifen, welche sich dann in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten in Europa und in weiten Teilen der Welt ausbreitete. In einem Zeitraum von knapp hundert Jahren verwandelte sich Großbritannien von einem Agrar- in einen Industriestaat. Die Arbeit spielte sich nicht mehr überwiegend im Familienverband ab, sondern in Fabriken und anderen Gewerbebetrieben. Die Mehrheit der Bevölkerung wohnte nicht mehr wie in den Jahrtausenden vorher auf dem Land, sondern in der Stadt. Die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche brachten eine Beschleunigung des Wandels. Eine Veränderungen gegenüber nicht gerade aufgeschlossene Welt gewann an Dynamik. Entwicklungen, die sich in der Zeit davor in Jahrzehnten und manchmal Jahrhunderten abgespielt hatten, vollzogen sich jetzt in wesentlich kürzeren Zeiträumen. Der Freiheitsdichter Ernst Moritz Arndt (1769–1860) brachte es – im Rückblick auf die Zeit vor und nach der Französischen Revolution – auf den Punkt: „Was damals im Schritt ging, geht jetzt im Galopp“.2 Und der Staatswissenschaftler Lorenz von Stein kleidete sein Erstaunen über die Beschleunigung des Lebens in die Worte: „Es ist, als ob die Geschichtsschreibung der Geschichte kaum mehr zu folgen im Stande sei.“3
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Mit diesem Essay fasse ich Überlegungen zusammen, die ich ausführlicher ausgebreitet habe in: Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000, und ders.: Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn u.a. 2007 sowie ders.: Wolfgang König: Wilhelm II. und das Automobil. Eine Technik zwischen Transport, Freizeitvergnügen und Risiko, in: Gunter Gebauer u.a. (Hrsg.): Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze, Frankfurt u.a. 2006, S. 179–98. Zitiert nach Reinhart Koselleck: „Neuzeit“. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Theorie), Frankfurt am Main 1979, S. 300–48, hier S. 329. Zitiert nach Hans-Peter Schwarz: Segmentäre Zäsuren. 1949–1989. Eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge, in: Martin Broszat (Hrsg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 11–19, hier S. 18.
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Die industrielle Revolution und die politischen Revolutionen beförderten oder erzwangen eine größere soziale, geistige und räumliche Mobilität. Verkehrstechnisch vollzog sich die Industrielle Revolution jedoch auf der Basis der alten Transportsysteme und mit den alten Verkehrsträgern, nämlich mit der Schifffahrt und dem Straßentransport.4 Allerdings erfuhren diese einen erheblichen Ausbau. So wuchs die Länge der schiffbaren Wasserwege in Großbritannien zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Flussregulierung und dem Bau von Kanälen um mehr als das Dreifache. Das System besser gepflegter privater Mautstraßen wurde erweitert. Die Zahl der Postverbindungen erhöhte sich beträchtlich. Allein die Stadt London verließen um 1800 täglich etwa tausend Postkutschen. Der Verkehr, vor allem der Güterverkehr, weitete sich also in der Industriellen Revolution kräftig aus. Eine Revolution des Verkehrswesens brachte jedoch erst der Einsatz der Dampfmaschine auf Schiffen und Eisenbahnen. Die Ära der Dampfschifffahrt begann im frühen 19. Jahrhundert auf den langen und viel Wasser führenden amerikanischen Flüssen.5 Die den Hudson und das Stromgebiet des Mississippi befahrenden Raddampfer leisteten – vor dem Eisenbahnzeitalter – einen wichtigen Beitrag zur Erschließung des Mittleren Westens. Auf der Nordatlantikroute tauchten die ersten Dampfschiffe um 1840 auf.6 Es dauerte bis etwa 1870, dass mehr Einwanderer die Vereinigten Staaten mit dem Dampfer als mit dem Segelschiff erreichten. Die Dampfschiffe boten mehr Raum und verkürzten die Leidenszeit der Überfahrt von mehreren Wochen auf etwa zehn Tage. Immerhin trug die Einwanderung im 19. Jahrhundert zu etwa einem Drittel zum Wachstum der amerikanischen Bevölkerung bei. Die Einwanderer brachten naturgemäß ein hohes Maß an Mobilitätsbereitschaft mit.7 Die Erschließung des Kontinents in Richtung Westen und Süden erforderte weitere Mobilität. Bis zur Gegenwart zeichnet sich die amerikanische Bevölkerung durch ein hohes Maß an Mobilität aus. Hierzu gehört auch ein Wechsel des Wohnorts. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts vermuteten ausländische Besucher, dass nur noch jeder zehnte Amerikaner am Ort seiner Geburt wohne.8 Die Amerikaner selbst schrieben sich einen Zwang zur Mobilität, einen ‚Go-go-urge‘, zu. Der betagte Dichter Walt Whitman (1819–1892) identifizierte sein fortgeschrittenes Alter vor allem an dem nicht mehr vorhandenen Wunsch nach Mobilität:
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Über Verkehr in der britischen Industriellen Revolution Derek Aldcroft/Michael J. Freeman (Hrsg.): Transport in the Industrial Revolution, Manchester 1983; W. J. Reader: Macadam. The Macadam Family and the Turnpike Roads, 1798–1861, London 1980. Zur Dampfschifffahrt auf amerikanischen Flüssen Louis C. Hunter: Steamboats on Western Rivers. An Economic and Technological History, Cambridge 1949; George Rogers Taylor: The Transportation Revolution, 1815–1860, Armonk, London 1951, S. 56–73. Vgl. Arnold Kludas: Die Geschichte der deutschen Passagierschifffahrt, 5 Bde., Hamburg 1986–90. Zur amerikanischen Mobilität Daniel J. Boorstin: The Americans. The Democratic Experience, New York 1974. Boorstin, The Americans, S. 144.
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„I know my life is nearly spent Because my want to go is went”. 9 Für die Mobilisierung der Gesellschaft gewann die Eisenbahn eine noch größere Bedeutung als das Dampfschiff. Das Eisenbahnzeitalter kann man mit der 1830 eröffneten Strecke zwischen Manchester und Liverpool beginnen lassen, welche bereits alle Charakteristika einer modernen Eisenbahnverbindung besaß.10 Der Erfolg des neuen Verkehrsmittels lässt sich am Anstieg der Eisenbahnfahrten pro Kopf der britischen Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ablesen: Unternahm 1845 eine Person durchschnittlich eine Eisenbahnfahrt im Jahr, so erhöhte sich dieser Wert bis 1896 auf an die 26 Fahrten.11 Wir wissen nicht genau, wer zu welchem Zweck auf den frühen Eisenbahnstrecken fuhr,12 die Motive für eine Eisenbahnreise dürften jedoch recht vielfältig gewesen sein; eine in der Literatur behauptete Dominanz des Berufsverkehrs lässt sich nicht belegen. Im Zeitraum bis 1870 dominierte der Kurzstreckenverkehr über Entfernungen zwischen 15 und 20 Kilometer.13 Die soziale Verbreitung der Eisenbahnreise lässt sich an der Relation zwischen den einzelnen Klassen ablesen.14 Der Anteil der in der Dritten Klasse Reisenden betrug Anfang der 1850er Jahre gut ein Drittel, übertraf in den 1860er Jahren die Erste- und Zweite-Klasse-Passagiere und belief sich gegen Ende des Jahrhunderts auf mehr als drei Viertel. Das Fahren mit der Eisenbahn dehnte sich also sozial von oben nach unten aus. In den Ballungsgebieten dürften Arbeiter die Eisenbahn wohl vor allem für den Weg zur Arbeit genutzt haben. Doch nahm auch die Freizeitnutzung mit der Zeit zu.15 In den 1860er Jahren beförderten spezielle Ausflugszüge jährlich bereits mehrere Millionen Passagiere. Der große Pionier des Massenreisens und der Tourismusindustrie war Thomas Cook (1808–1892). Als Cook 1851 Eisenbahnfahrten zur Londoner Weltausstellung organisierte, führte er extra für Arbeiter ein Ansparsystem ein. An- und Abreise erfolgten über Nacht, so dass der Sonntag für die Besichtigung der Ausstellung zur Verfügung stand. Später karrte Cook mit der gleichen Methode Arbeiter in ‚Mondscheinfahrten‘ an die Küste. Die Wochenendausflüge starteten Samstag9 Zitiert nach Donald E. Lundberg: The Tourist Business, New York 1990, S. 10. 10 Robert E. Carlson: The Liverpool & Manchester Railway Project 1821–1831, New York 1969. 11 Walter E. Weyl: The Passenger Traffic of Railways, Philadelphia 1901, S. 106. 12 Den Wissensstand zum Passagierverkehr in Großbritannien fasst David Norman Smith: The Railway and Its Passengers. A Social History, Newton Abbot u.a. 1988 zusammen; vgl. Philip S. Bagwell: The Transport Revolution from 1770, London 1974, S. 107ff. 13 Gary R. Hawke: Railways and Economic Growth in England and Wales 1840–1870, Oxford 1970, S. 51. 14 Unterschiedliche Angaben, welche aber der hier eher konservativ dargestellten Tendenz entsprechen, bei Hawke, S. 36ff.; Freeman/Aldcroft, S. 36 u. passim; Wim Blockmans (Hrsg.): Man on the Move (The Roots of Western Civilization), Hilversum 1994, S. 141; David Norman Smith, S. 19f.; Weyl, S. 176ff.; Bagwell, S. 111. 15 David Norman Smith, S. 113–44; Jack Simmons: Railways, Hotels, and Tourism in Great Britain 1839–1914, in: Journal of Contemporary History, Heft 19, 1984, S. 201–22; Jack Simmons, The Victorian Railway, New York 1991, S. 270–94 u. 300–08.
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nacht, die Rückfahrten erfolgten in der Nacht zum Montag oder bezogen auch den ‚Blauen Montag‘ mit ein. Solche Ausflugsfahrten weckten den Wunsch nach mehrtägigen Ferienaufenthalten.16 Seit etwa 1860 stellten sich englische Badeorte auf die Touristen aus der Arbeiterklasse ein. Gegen Ende des Jahrhunderts gehörten ein paar Ferientage an der See für nicht wenige Arbeiterfamilien zur Normalität. Der Erfolg des neuen Verkehrsmittels kam selbst für seine Protagonisten überraschend. Die Verbindung zwischen Manchester und Liverpool war eigentlich für den Transport von Gütern gebaut worden.17 Nach der Eröffnung übertraf aber der Personenverkehr den Güterverkehr beträchtlich. Alles spricht dafür, dass es in der Bevölkerung von den Planern übersehene Verkehrsbedürfnisse gab, welche durch das Verkehrsangebot der Eisenbahn aktiviert wurden. Ähnliche Erfahrungen machte man wenige Jahre später in Deutschland.18 Die Eisenbahnen zogen nicht nur den vorher durch die Post bedienten Verkehr an sich, sondern sie ließen ihn auf ein Vielfaches ansteigen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Über das Jahr 1838 verkehrten zwischen Frankfurt und Mainz 27.500 Personen mit der Post.19 Diese Zahl erreichte die 1841 eröffnete Taunus-Eisenbahn auf nur wenig abweichender Strecke bereits innerhalb von zwei Wochen. Insgesamt vervielfachte sich der Gesamtverkehr und der Personenverkehr der Eisenbahnen übertraf auch die optimistischsten Erwartungen ihrer Propagandisten um das Fünf- bis Zehnfache.20 Auch in Deutschland belegt der hohe Anteil der unteren Wagenklassen, dass die Eisenbahn bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verkehrsmittel breiter Volksschichten war.21 1850 überstieg der Anteil der in der Dritten und Vierten Klasse Reisenden die 80 Prozentmarke. Handwerker, Bauern und Facharbeiter nutzten in großem Umfang die Eisenbahn, und zwar nicht nur für berufliche, son16 John K. Walton, The Demand for Working-Class Seaside Holidays in Victorian England, in: The Economic History Review (34) 1981, S. 249–65; John K. Walton, The English Seaside Resort: A Social History 1750–1914, Leicester, New York 1983; Jack Simmons, The Victorian Railway, S. 294–300. 17 Robert E. Carlson, Railway Project 1821 – 1931, bes. S. 236–43. 18 Für das Folgende vor allem Klaus Herrmann: Die Personenbeförderung bei Post und Eisenbahn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Scripta Mercaturae, Heft 11, 1977, S. 3–25; zur Entwicklung der Zahl der Eisenbahnpassagiere Rainer Fremdling/Ruth Federspiel/Andreas Kunz (Hrsg.): Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835–1989, St. Katharinen 1995. 19 Herrmann, Personenbeförderung, S. 17. 20 Gust Riegels: Die Verkehrsgeschichte der deutschen Eisenbahnen mit Einschluß der heutigen Verkehrslage zum fünfzigjährigen Jubiläum der ersten preuß. Eisenbahnen, Elberfeld 1889, S. 28. 21 Aggregierte Zahlen bei Fremdling/Federspiel/Kunz, S. 518–21; vgl. außerdem: Hundert Jahre deutsche Eisenbahnen. Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Eisenbahnen. Hrsg. von der Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn, Berlin 1935; Paul Dost: Einmal Dritter Pasewalk? Wer reist in welcher Wagenklasse? Psychologische Soziologie der Wagenklassen, Krefeld 1977; Berlin und seine Eisenbahnen 1846–1896, hrsg. im Auftrage des Königlich Preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten. 2 Bde., Berlin 1896 (Reprint 1982), Bd. 1, S. 300; Wolfgang v. Hippel/Joachim Stephan/Peter Gleber/Hans-Jürgen Enzweiler: Eisenbahn-Fieber. Badens Aufbruch ins Eisenbahnzeitalter, Ubstadt-Weiher 1990, S. 144, 273– 75 u. 319f.; Riegels, Verkehrsgeschichte, S. 29 u. passim.
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dern auch für Freizeitzwecke. Auf die deutsche Öffentlichkeit machte die durch die Eisenbahn bewirkte Verkehrsrevolution einen gewaltigen Eindruck. Journalisten, Ökonomen, Intellektuelle, Schriftsteller sangen auf sie wahre Hymnen. Zu dem meist zitierten gehört der Ausruf Heinrich Heines (1797–1856) in einem 1843 verfassten Zeitungsartikel: „Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generazion darf sich rühmen, daß sie dabey gewesen. (…) Durch die Eisenbahnen wird der Raum getödtet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. (…) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.“22 Heines metaphernreiche Begeisterung für die neue Verkehrstechnik enthält ein gehöriges Maß an Übertreibung. Zwar wuchsen in Deutschland die kleinen einzelstaatlichen Netze seit den 1850er Jahren zusammen, aber weiterhin waren nicht unerhebliche Reisehindernisse zu überwinden. In seinen Erinnerungen schildert der spätere Reichkanzler Bernhard von Bülow (1849–1929), wie damals eine Reise von Frankfurt nach Hamburg und Flottbek vonstatten ging: „Kaum zehn Minuten nach Beginn der Fahrt musste ein längerer Aufenthalt in Bockenheim genommen werden. Denn Bockenheim gehörte dem Kurfürsten von Hessen, und dieser verlangte, dass in der „jüngsten kurhessischen Stadt“ (…) seiner Landeshoheit gehuldigt wurde. In Kassel war ein noch viel längerer Aufenthalt. Zwischen Münden und Göttingen bestand noch keine Schienenverbindung. Diese Strecke musste zu Wagen zurückgelegt werden. In Hannover, wo wir, wenn die Abfahrt von Frankfurt am Morgen stattgefunden hatte, gegen neun Uhr abends eintrafen, wurde die Nacht verbracht, da die Weiterfahrt erst am nächsten Morgen erfolgen konnte. Damit wollte der Staat Hannover die Reisenden zwingen, die Gasthöfe seiner Hauptstadt aufzusuchen.“23 Flottbek erreichte Bülow schließlich von Harburg aus mit dem Dampfboot. Hochgestellte wie Bernhard von Bülow unternahmen längere Reisen nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch aus privaten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts integrierte die Oberschicht längere Ferienaufenthalte, die „Sommerfrische“, in ihre Jahresplanung. Für die Ferienreisenden entstand in den Zielgebieten eine Infrastruktur touristischer Dienstleistungen. Zeitgenossen meinten bereits eine Massenbewegung ausmachen zu können. Im späten 19. Jahrhundert häuften sich die ein Reisefieber diagnostizierenden Kommentare; ihre Botschaft reichte von Enthusiasmus über Amusement bis zur Kulturkritik. Eine etwas launische Übertreibung stammt von Theodor Fontane (1819–1898) aus dem Jahr 1877: „Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massenreisen. Sonst reisten bevorzugte Individuen, jetzt reist jeder und jede. Kanzlistenfrauen besuchen einen klimatischen Kurort am Fuße des Kyffhäuser, behäbige Budiker werden in einem Lehnstuhl die Koppe hinaufgetragen, und Mitglieder einer kleinstädtischen Schützengilde lesen bewundernd im Schlosse zu Reinhardsbrunn, dass Herzog Ernst in fünfundzwanzig Jahren 50.157 Stück Wild getötet habe. (…) Alle Welt reist. So gewiß in alten Ta22 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut, Manfred Windfuhr (Hrsg.), Bd. 14,1, Hamburg 1990, S. 58. 23 Bernhard Fürst v. Bülow: Denkwürdigkeiten. 4 Bde., Berlin 1930–1931, Bd. 4, S. 30f.
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gen eine Wetterunterhaltung war, so gewiß ist jetzt eine Reiseunterhaltung. „Wo waren Sie in diesem Sommer“, heißt es von Oktober bis Weihnachten. „Wohin werden Sie sich im Sommer wenden?“ heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt.“24 Zu den beliebten Reisezielen gehörten die Seebäder. Nach englischem Vorbild entstanden um und nach 1800 an der deutschen Ostseeküste Travemünde, Heiligendamm, Warnemünde, Binz und Saßnitz auf Rügen, Heringsdorf und Swinemünde auf Usedom.25 Die zunächst nur aus Mecklenburg und Vorpommern stammenden Besucher kamen mit dem Schiff oder mit der Postkutsche. Seit den 1840er Jahren erweiterte der Bau von Eisenbahnverbindungen nach Berlin, Hamburg und Lübeck den Einzugsbereich. Allerdings dauerte es Jahrzehnte, bis auch die letzten Regionen und Orte Bahnanschluss erhielten – so Usedom erst in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre. Den Reisenden, die von Berlin aus Usedom ansteuerten, brachte die Bahn eine erhebliche Zeitersparnis. Mit Fernbahn, Postkutsche und Dampfschiff hatte die Anreise etwa 60 Stunden gedauert, durch die neue Bäderbahn schrumpfte sie auf 3 bis 5 Stunden. Ein zeitgenössisches Werk der Eisenbahnverwaltung reflektierte über die Motive des Berliner Fernverkehrs in den 1890er Jahren. Die Verfasser ordneten den Verkehr dem königlichen Hof zu, der Staatsverwaltung, dem Militär, dem höheren Bildungswesen und dem Handel, aber machten auch einen beträchtlichen Stellenwert des Sommertourismus aus. „Wenn der Mai in das Land zieht, und die Tage heisser zu werden beginnen, dann rüstet sich in Berlin alles, was eben die Mittel dazu hat oder zu haben glaubt, um auf einige Wochen die Residenz zu verlassen und irgendwo in ländlicher Stille oder im Getriebe eines modernen Bades lediglich der Gesundheit zu leben. Es dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, dass diese von Jahr zu Jahr mehr um sich greifende Sitte alljährlich Massen in Bewegung setzt, gegen die die Zahlen der Völkerwanderung winzig erscheinen.“26 Dem rückblickenden Historiker erscheinen solche Schilderungen weit übertrieben. Sie dokumentieren weniger die Mächtigkeit von Reiseströmen als vielmehr neue Reiseformen als Elemente einer allgemeinen Mobilisierung der Gesellschaft. Als Zwischenergebnis lässt sich bilanzieren: Die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche des späten 18. Jahrhunderts leiteten eine Dynamisierung der Gesellschaft ein. Hierzu gehörte neben vielem anderen auch die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und die Expansion des Pressewesens. Beide erweiterten – im buchstäblichen und metaphorischen Sinne – den Horizont. Die erfahrbare Welt beschränkte sich nicht mehr auf den kleinen Kosmos des Dorfes oder der Stadt. Neue Verkehrsmittel, an erster Stelle die Eisenbahn, vermehrten die Möglichkeiten, die erweiterten Horizonte nicht nur virtuell, sondern auch real zu erkunden. Allerdings 24 Zitiert nach Hans-Werner Prahl/Albrecht Steinecke: Der Millionen-Urlaub. Von der Bildungsreise zur totalen Freizeit, Darmstadt, Neuwied 1979, S. 151. 25 Vgl. Alexander Kalkus: Die Entwicklung des Tourismus auf der Insel Usedom von den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, Magisterarbeit TU Berlin 1994. 26 Berlin und seine Eisenbahnen, Bd. 2, S. 47–49 u. Tafel 21.
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sollte man – verglichen mit heute – den Umfang dieser Mobilisierung auch nicht überschätzen. Im Verlauf des Jahrs 1989 legte ein Bürger der Bundesrepublik insgesamt etwa 11.000 Kilometer zurück, im Jahr 1910 dürfte sich die zurückgelegte Strecke in einer Größenordnung von 700 Kilometer bewegt haben.27 Verglichen mit 1989 war dies wenig, verglichen mit einem Jahrhundert vorher ungeheuer viel. Welchen Stellenwert besaß nun das Automobil im späten 19. Jahrhundert an dieser Mobilisierung der Gesellschaft? Aus dieser Zeit gibt es durchaus Darstellungen des innerstädtischen Straßenverkehrs, welche an die Gegenwart erinnern. So notierte die Baronin Hildegard von Spitzemberg (1843–1914) am 20. Dezember 1898 in ihr Tagebuch über den Berliner Verkehr: „Das Getriebe in den Hauptverkehrsstraßen wie Leipziger- und Friedrichstraße ist förmlich betäubend; die elektrischen Wagen und die Trams bilden eine ununterbrochene Linie, Wagen aller Art, Droschken, Drei- und Zweiräder zu Hunderten fahren neben-, vor-, hinter- und oft aufeinander, das Läuten aller dieser Vehikel, das Rasseln der Räder ist ohrzerreißend, der Übergang der Straßen ein Kunststück für den Großstädter, eine Pein für den Provinzler. Behauptete doch Frau von Beulwitz, sie hätten sich anfangs gerührt umarmt, wenn sie nach solchem Übergange des Potsdamer Platzes sich gesund auf der Insel wieder fanden!“28 Bei den von der Baronin erwähnten Wagen handelte es sich allerdings um Straßenbahnen, Pferdedroschken und Pferdefuhrwerke; das im damaligen Berlin eine Rarität darstellende Automobil fand sie keiner Erwähnung wert. Überhaupt scheint es mit zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, den Automobilismus vor 1900 in die hier skizzierte Geschichte der Mobilität einzuordnen.29 Bei solchen Bemühungen handelt es sich um typische Ex-post-Interpretationen, die den gravierenden Nutzungswandel ignorieren, den das Auto in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende erfuhr. Der frühe Automobilismus vor der Jahrhundertwende lässt sich mit dem Motto charakterisieren: wenig fahren – viel basteln. Die Zuverlässigkeit der Fahrzeuge war begrenzt. Unterwegs waren Pannen und kleinere Reparaturen an der Tagesordnung. August Horch (1868–1951) gab für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – sicher mit dosierter Übertreibung – an, dass auf hundert Kilo-
27 Verkehr in Zahlen 1990. 1991. 1993. Bundesminister für Verkehr (Hrsg.). Berlin u.a. 1990. 1991. 1993. hier: 1990, S. 185. 28 Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüler: Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches. Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Göttingen 1960, S. 381. 29 Zum Automobil im Kaiserreich vor allem: Gerhard Horras: Die Entwicklung des deutschen Automobilmarktes bis 1914, München 1982; Heidrun Edelmann: Vom Luxusgut zum Gebrauchsgegenstand. Die Geschichte der Verbreitung von Personenkraftwagen in Deutschland, Frankfurt am Main 1989; Barbara Haubner: Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886–1914, Göttingen 1998; Dietmar Fack: Automobil, Verkehr und Erziehung. Motorisierung und Sozialisation zwischen Beschleunigung und Anpassung 1885– 1945, Opladen 2000; Uwe Fraunholz: Motorphobia. Anti-automobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2002; Christoph Maria Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien u.a. 2002.
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meter eine Panne käme.30 Den größten Anteil an dieser Misserfolgsstatistik dürften die Reifen besessen haben. Vor der Jahrhundertwende hielt ein Reifen einige hundert Kilometer, vor dem Weltkrieg einige tausend, und erst in den 1920er Jahren stiegen die Fahrleistungen auf etwa 20.000. Rechnet man diese Angaben auf die vier Reifen hoch, dann ist man nicht mehr weit von Horchs Pannenstatistik entfernt. Die Wagen hatten einen hohen Verbrauch, und entlang der Straßen gab es noch keine Infrastruktur. Vor dem Krieg ließ sich Benzin bei Petroleumhändlern oder in Apotheken erstehen, was bei Überlandfahrten zu Umwegen zwang. Anfangs waren mehr Stopps zum Nachfüllen des Kühlwassers erforderlich als zum Nachtanken. Auch der Ölverbrauch bewegte sich in beträchtlichen Höhen. Bevor Bosch die Hochspannungsmagnetzündung auf den Markt brachte, mussten die Batterien häufiger nachgeladen oder gewechselt werden. Nach einer Überlandfahrt nahm die Reinigung und Wartung des Fahrzeugs bis zu einen vollen Tag in Anspruch. Auf das Jahr 1905 bezogen, beschrieb Eugen Diesel (1889–1970), der Sohn des Motorenerfinders, die Arbeiten eines Autobesitzers: „Fast jeden Tag war etwas am Wagen zu tun, Ventile waren einzuschleifen, Ölkohle vom Kolben zu entfernen, das Gestänge der Abreißzündung nachzustellen, der Vergaser auseinanderzunehmen. Immer wieder war man gezwungen, sich in die Eingeweide des Wagens zu versenken, und da mußte man mit Schraubenschlüssel, Ölkanne und gelbem Schmierfett operieren, das man in Ermangelung einer Fettpresse dick auf den Zeigefinger auftragen und in zahlreiche zugängliche und unzugängliche Staufferbuchsen pressen mußte.“31 All dies verlangte technische Kompetenz und ein gehöriges Maß an Enthusiasmus. Für nüchterne Rechner, welche Aufwand-Ertrags-Relationen im Blick hatten, war das Automobil kein Thema. Für so etwas konnten sich nur Bastler begeistern und Fahrer, die Sport, Spiel und Spannung suchten. Autofahren erforderte Kraft und Geschick. Mit gutem Recht betrachteten die Zeitgenossen den Automobilismus auch als Sport im körperlichen Sinne. Die Motoren mussten angekurbelt werden, wobei es nicht gerade selten zu Unfällen kam. Das Schalten mit den unsynchronisierten Getrieben war nicht gerade einfach. Die Pedalkräfte waren hoch, und der Fahrer hatte ständig mit dem Schlaginstrument Lenkung zu kämpfen. Das lag nicht zuletzt an den Vollgummireifen bzw. den viel härter als heute aufgepumpten Luftreifen, welche die schlechten Straßenverhältnisse auf die Lenkung und den Fahrer übertrugen. In den offenen Wagen schützten sich die Insassen zumindest auf Landstraßen durch Brillen, Mäntel und Kopfbedeckungen vor dem Staub. Sicher ging es beim frühen Automobilismus auch um Mobilität. Aber es war weniger die Mobilität des Ortswechsels und der Reise – es war die Mobilität der sportlichen Bewegung, es war die körperliche Erfahrung der Geschwindigkeit, was die Automobilisten suchten. Stellt man die Technik des motorgetriebenen vierrädrigen Fahrzeugs hintan und konzentriert sich auf die Nutzungsweisen, dann hat das 30 August Horch: Ich baute Autos. Vom Schmiedelehrling zum Auto-Industriellen, Berlin 1937, S. 125–127. 31 Zitiert nach Hermann Glaser: Das Automobil. Eine Kulturgeschichte in Bildern, München 1986, S. 29.
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Automobil der Jahrhundertwende wenig mit dem heutigen Auto gemein. Den frühen Automobilismus kann man eher mit modernen ‚Abenteuer‘-Sportarten wie Gleitschirmfliegen, Rafting und Mountainbiking vergleichen.
Phaeton – Mythos, Kutsche, Automobil Gerolf Thienel Als sich Volkswagen entschloss, das erste Oberklassefahrzeug der Marke „Phaeton“ zu nennen, griff man nicht nur auf einen antiken Mythos zurück. Auch aus technikhistorischer, verkehrsgeschichtlicher Perspektive war der Name für ein Fahrzeug zur Personenbeförderung nichts Neues. Bereits vor dem Volkswagen Phaeton gab es Kutschen und andere Automobile, die man als „Phaeton“ bezeichnete. Während „Phaeton“ anfänglich einen bestimmten Fahrzeugtyp charakterisierte, steht heute bei Volkswagen dieser Begriff für ein einzelnes Modell. Im folgenden Aufsatz soll die Geschichte des „Phaeton“ und der Wandel in der Bezeichnung für ein Fahrzeug in den Mittelpunkt gestellt werden. Dabei wird versucht, Argumente zu finden, warum ein Fahrzeug den Namen eines antiken Helden trägt, der auf Grund von Selbstüberschätzung und fehlendem fahrerischen Können Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist. Wagen für den Transport von Gütern und die Beförderung von Menschen lassen sich bis ins 3. und 4. Jahrtausend vor Christius zurückverfolgen. Anhand archäologischer Funde konnten Transporthilfen zum Ziehen und Schieben sowie einfache Fuhrwerke mit Rädern rekonstruiert werden.1 Erste Wagen, die gezielter für einen Personentransport konzipiert worden waren, sind für das 14. Jahrhundert nachweisbar. Illustrationen von Schriften und Büchern zeigen einerseits Leiterwagen, deren Seitenwände mit Flechtwerk ausgefüllt sind; andererseits Wagen mit einem kastenförmigen Aufbau. Bei diesen Fahrzeugen ist der bereits an Ketten, Riemen oder Seilen aufgehängte Aufbau sichtbar. Auf diese Art und Weise sollte die direkte Weitergabe der Unebenheiten der Fahrwege an die Passagiere zu vermeiden und ansatzweise etwas „Komfort“ geboten werden.2 Diese als Kobelwagen bezeichneten Fahrzeuge wurden beispielsweise von Höfen für festliche Anlässe wie Hochzeiten angeschafft. Sie dienten der Braut und deren Gefolge zum Transport zu den Feierlichkeiten und der allgemeinen Repräsentation. Beispielsweise ließ der Wiener Hof 1447 für die Hochzeit der Herzogin Katharina von Österreich in Wien einen Brautwagen und einen Transportwagen für das Gepäck bauen. Die über den Wagen gespannte, tonnenförmige Abdeckung bestand aus rotem Tuch mit Verzierungen. In das Innere des Wagens waren verschiedene Truhen zum Sitzen und zur Aufbewahrung von Gegenständen sowie Schemel und Stühle lose gestellt 1 2
Krebs, Rudolf: Fünf Jahrtausende Radfahrzeuge, Heidelberg 1994, S. 13–27. Haupt, Herbert: Der Wagen im 14. Jahrhundert. in: Fansa, Mamoun, (Hrsg.): Der sassen speyghel. Sachsenspiegel-Recht-Alltag. Aus dem Leben gegriffen. Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit. Beiträge und Katalog zur Ausstellung. Oldenburg 1995, S.155–161, S.158. Ehrismann, Gustav (Hrsg.): Rudolf von Ems Weltchronik, Berlin 1915.
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worden.3 Am Hochzeitswagen für die Kurprinzessin Sibylla von Sachsen aus dem Jahre 1526/27 sind bereits feste Seitentüren zu finden. Weitere Schritte, besonders in Richtung Luxus, wies beispielsweise der Brautwagen von Kurprinzessin Renata von Bayern von 1568 auf. Dieser war u.a. durch Schnitzereien und Bemalungen verziert worden und unterstrich den herrschaftlichen Anspruch.4 Mit der Federung des Aufbaus und den Ausschmückungen sind bereits im 15. Jahrhundert die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen Wagen und dem als Kutsche bezeichneten Fahrzeug vorhanden. Die Bezeichnung „Kutsche“ wird auf verschiedenen Ursachen zurückgeführt; eine ist die auf den ungarischen Ort Kocs, der für seine Wagenherstellung bekannt war.5 Für das Ende des 16. Jahrhunderts ist in Johann Colers „oeconomia ruralis et domestica“ eine Kutsche datiert, die ein zu öffnendes bzw. zu schließendes Verdeck aufwies, damit man sich: „ darin fein umbsehen kann.“ 6 Die ersten Kutschen dienten hohen Herrschaften nicht nur zur reinen Fortbewegung, sondern erfüllten auch repräsentative Funktionen. Die Aufgabe des sich Zeigens und Gesehenwerdens wird auch durch die technischen Eigenschaften der Kutschen ermöglicht, da ein offener Aufbau und eine durch große Räder bedingte, erhöhte Sitzposition typisch für eine Kutsche sind. Eine Erklärung für die großen Räder ist im „Theatrum Machinarum“ von Jacob Leupold zu finden. Er argumentiert, dass: „[…] kleinere [Räder] nicht nur in alle Löcher und kleine Gruben fallen, sondern auch schwehr wieder heraus zu heben sind. Größere Räder aber, wenn die Achse höher kommet als die Höhe der Pferde ist, da die Stränge in das Kommet eingezogen, thun auch kein gut, sondern der Wagen wird öfters, wenn absonderlich die Pferde etwas tieff gehen, mit Gewalt in den Koth gedrücket.“7 Leupold stellt fest, dass jede Technik ihre spezifischen Eigenschaften aufweist und das rechte Maß zu ermitteln und umzusetzen ist.8 Die großen Räder brachten jedoch auch einen Nachteil. Sie verlagerten den Schwerpunkt deutlich nach oben, ebenso wie die an Stangen befestigten Baldachine.9 Dieser als gestalterisches Element und Wetterschutz verwendete Abschluss nach oben kam im 16. Jahrhundert auf und zeigte mit seinen Verzierungen und modischen Elementen Parallelen zur Gestaltung von Möbeln auf.10 Diesem Erscheinungsbild entspricht eine Beschreibung der Phaeton-Kutsche, die in Meyers Con3
Schmidtchen, Volker: Transport und Verkehr zu Wasser und zu Lande. In: König, Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte. Metalle und Macht 1000 bis 1600, Bd. 3, Berlin 1997, S. 497– 519, S. 515f. 4 Ebd. S. 516. 5 Krebs, Radfahrzeuge, S. 43f.; Wackernagel, Rudolf H.: Zur Geschichte der Kutsche bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, In: Treue, Wilhelm (Hrsg.): Achse, Rad und Wagen. Fünftausend Jahre Kultur- und Technikgeschichte, Göttingen 1995, S. 197–235, S. 209f. 6 Krebs, Radfahrzeuge, S.61. Schmidtchen, Transport und Verkehr, S. 519. 7 Leupold, Jacob: Theatrum Machinarum, oder Schauplatz der Heb-Zeuge, Leipzig 1725, § 91. 8 Siehe dazu auch: Rowe, Jacob: All sorts of whell-carriages, London 1734. 9 Petraca, Francesco: Das Glücksbuch, Beydeß Gutten und Boesen, Augsburg 1539, Kapitel 14 und 17. 10 Wackernagel, Kutsche, S. 205.
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versationslexikon zu finden ist: „Leichter, sehr eleganter Wagen zum Spazieren fahren, gewöhnlich etwas hochgestellt, oben entweder offen oder mit einem auf vier Säulen ruhenden zierlich Himmel versehen, jetzt veraltet.“11 Eine gleichlautende Beschreibung ist in der Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz zu finden. Er beschreibt eine Phaeton-Kutsche als offenes Fahrzeug, da es somit der Vorstellung des Sonnenwagens entspräche.12 Es sind jedoch nicht nur technische Eigenschaften und gestalterische Einflüsse, die sich negativ auf das Fahrverhalten einer Kutsche ausgewirkt haben. Die Beschaffenheit der Fahrwege und Straßen ließ zu wünschen übrig, da noch keine gezielte Wasserableitung erfolgte und die entstanden Schäden nur notdürftig ausgebessert wurden.13 Der Zustand besserte sich grundlegend erst durch die Befestigungsarbeiten und gezielte Wasserableitung nach John McAdam zu Beginn des 19. Jahrhunderts.14 Das stets in Verbindung zur Kutsche stehende Bedürfnis nach Repräsentation forcierte die Entstehung neuer Varianten und technischer Entwicklungen. Während des im 17. Jahrhundert einsetzenden Prozesses der Herausbildung verschiedener Typen entstanden technische Merkmale wie lenkbare Vorderachsen an Drehschemeln, verbesserte Federungen sowie verschiedene Rahmenkonstruktionen und Aufbauten. Den Typ Phaeton charakterisieren folgenden Merkmale: weitestgehend offener Aufbau, leicht und filigran in seinem Erscheinungsbild, hohe Sitzposition sowie häufig nur einen Sitzplatz. Der eine Sitzplatz bzw. eine kleine Sitzbank waren anfangs ausreichend, da der Herr oder die Dame die Phaeton-Kutsche mit sportlichem Anspruch selber fuhren. Aus Gründen der Sportlichkeit und gestalterischen Aspekten ist in der Regel auch auf das Verdeck verzichtet worden.15 Reiten als Statussymbol und Standeszeichen wurde seit dem 15. Jahrhundert langsam vom Fahren bzw. gefahren werden verdrängt. Trotz verschiedener Verbote seitens der Herrscher, die das Fahren untersagten,16 setzte sich die Kutsche durch.17 Der Wunsch nach bequemer, repräsentativer Fortbewegung kam im 17. Jahrhundert in zunehmendem Maße auch beim nicht-königlichen Volk auf. Die Bedeutung und den Stellenwert eines eigenen Fahrzeugs lassen sich am Beispiel Samuel Pepys (1633–1704), Staatssekretär im englischen Marineamt, Abgeordneter des Unterhauses sowie Mitglied der Royal Society, veranschaulichen. Pepys schrieb im März 1661 in sein Tagebuch, dass er von einer eigenen Kutsche 11 12 13 14 15 16
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Meyer, Joseph (Hrsg.): Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände, Hildburghausen 1839–1852. Krünitz, Johann Georg: Oeconomische Encyklopädie oder allgemeines System der StaatsStadt-Haus und Landwirtschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 112, 1809. Leupold, Theatrum, § 72f.; Furger, Andreas: Kutschen und Schlitten in der Schweiz, Zürich 1993, S. 20. McAdam, John: Remarks on the present systems of road making, London 1824. Furger, Andreas: Kutschen Europas des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Wagen-Atlas, Hildesheim 2003, S. 272–293. Böcker, Dagmar: Fortbewegungsmittel / Kutschen, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen 2004, Jahrgang 14, S.25–29, S. 25. Furger, Kutschen Schweiz, S. 20.
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träume. Arbeitsbedingt müsse er häufig eine der zahlreichen Mietkutschen benutzen, welches auf Dauer erhebliche Kosten verursache. In seinen Eintragungen zum April 1667 ist zu lesen, dass er den Besitz einer Kutsche weiterhin anstrebe und überlege, eine Abstellmöglichkeit für eine Kutsche und einen Stall zu bauen, da es ihm auch langsam peinlich sei, in einer Mietkutsche gesehen zu werden. Ende November 1668 ist es endlich so weit: Die gebrauchte Kutsche kann gekauft werden. Der Eintrag des 2. Dezember 1668 zeigt den stolzen, selbstfahrenden Besitzer: „Abroad with my wife, the first time that ever I rode in my own coach, which do make my heart rejoice, and praise God, and pray him to bless it to me and continue it.”18 Im 17. Jahrhundert entwickelte sich aus den Bedürfnissen des Adels und der Stadtbevölkerung sowie aus technischen und finanziellen Möglichkeiten die private Kutsche. Diese wird in ihrem Erscheinungsbild von der Mode geprägt. Pepys Anschaffung wurde von einer Diskussion mit seiner Frau begleitet, die keine gebrauchte, weil unmoderne, Kutsche haben wollte. Sie sah die Gefahr, trotz der eigenen Kutsche nicht der aktuellen Mode genügen zu können. Dieser Anspruch forcierte die Gestaltung der Kutschen und ließ immer neue Varianten entstehen.19 Die Phaeton-Kutsche war jedoch keine reine Männerdomäne. Friedrich Wilhelm Zachariä veröffentlichte 1754 (2. Fassung 1761) in seiner Sammelausgabe mit „Scherzhaften Epischen Poesien nebst einigen Oden und Liedern“ seine Version des Mythos. Er adaptierte die Handlung an eine Hauptakteurin namens Diana, die sich wie der antike Held eine selbstgelenkte Fahrt mit der väterlichen Kutsche wünschte.20 Auch sie erleidet das bekannte Schicksal; unter anderem durch ein sich von der Achse lösendes Rad.21 Neben allen Interpretationen des Mythos sind auch zeitgenössische Elemente und Beobachtungen mit in das Werk eingeflossen.22 Im 19. Jahrhundert kommt es durch veränderte Rahmenbedingungen zu Vereinheitlichungen im Kutschenbau. Auf der einen Seite präsentieren die Weltausstellungen, 1851 die erste in London, den Stand der Technik und auch der Mode. Auf der anderen Seite zeigen speziell im Kutschenbau die Musterbücher mit Zeichnungen das Angebot an Kutschen. Die Kunden können aus konkreten Typen auswählen. Die farbliche Gestaltung und Details der Ausstattung wurden nach ihren Wünschen und Bedürfnissen ergänzend hinzugefügt. Die Phaeton-Kutsche des 19. Jahrhunderts fällt weniger extrem aus. Die Höhe wird reduziert, das leichte und filigrane Erscheinungsbild jedoch beibehalten. In der Anordnung der Sitze verschob sich der Fahrersitz vom Platz über der Vorderachse hinter die Vorderachse und mehr in der Wagenmitte. Im hinteren Teil ist ein 18 Wheatley, Henry (Hrsg.): The diary of Samuel Pepys. Volume VII–VIII, 1667–1669, London 1893–1899. 19 Strauss, Ralph: Carriages & Coaches. London: 1912, S. 121–129. 20 Zachariä, Friedrich Wilhelm: Scherzhaften Epischen Poesien nebst einigen Oden und Liedern. Braunschweig u.a. 1751, S. 291–338. 21 Ebd. 22 Vgl. Schreiner, Sonja Martina: Phaet(h)on-mehrsprachig. Friedrich Wilhlem Zachariä: Der Phaeton (1754–1772) und Heinrich Gottfried Reichard: Phaetonius libri qunque (1780), Frankfurt/Main 2005, S. 335.
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Sitz für den Diener angebracht. Ein mit im Fahrzeug sitzender Bediensteter brachte zusätzliche Stabilität.23 Technische Realisierbarkeit sowie gestiegene Ansprüche an Wetterschutz und Fahrkomfort sorgten für eine häufige Verbreitung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten die amerikanischen Wagenund Kutschenhersteller in den immer wieder um die Vorherrschaft im Kutschengeschäft und in der Kutschenmode kämpfenden Briten und Franzosen. Das Geschäft der US-Amerikaner erhielt durch die 1876 in Philadelphia stattfindende Weltausstellung zusätzlichen Auftrieb. Die Amerikaner hatten die europäischen Typen übernommen und ihren Erfordernissen und zur Verfügung stehenden Materialien angepasst. Besonders das harte, haltbare und belastbare Hickoryholz fand bei den Kutschen Verwendung. Der Bau von Teilen wie Rädern oder auch Teile des Aufbaus nach amerikanischem Vorbild führte für die in Europa gefertigten Kutschen zur Bezeichnung „Americaine“. Normierung und Typisierung der Kutschen vor dem Hintergrund der Serienproduktion und Massenproduktion in den USA, führte auch in Europa zu niedrigeren Preisen.24 Eine der bekanntesten Kutschen mit dieser auch als Zusatz verwendeten Bezeichnung erwarb Gottlieb Daimler. Daimler baute daran seinen stehenden Verbrennungsmotor und bezeichnete das Fahrzeug als „Motorwagen“. Die verwendete Kutsche weist konstruktive Merkmale auf, die auch an Phaeton-Kutschen zu finden sind: offen, kurzer Radstand sowie ein leichter, filigran gestalteter Aufbau ohne Verdeck. Daimler benötigte für seinen Versuch ein Fahrzeug, das vom eigenen Aufbau her ihm genügend Gestaltungsspielraum bot. Sein liegender Motor, Antrieb und Lenkung benötigten viel Platz und wären an anderen Kutschentypen, die schwerer und in der Anschaffung teuer gewesen wären, nicht geeignet gewesen. Im Rahmen der Arbeiten zu diesem Artikel war die Frage entstanden, wann und wie der Name der antiken Figur an eine Kutsche gelangte. Eine eindeutige Antwort ließ sich nicht ermitteln. Es ist resümierend eine Kombination von Rückbesinnung auf den Mythos und eine Übertragung auf das aktuelle Geschehen auf der Straße. In der literarischen Auseinandersetzung mit dem Mythos bei Zachariä verunglückt die Diana aufgrund eines sich lösenden Rades. Den Kutschenfahrern erging es wie dem jungen Phaëthon. Sie verunglückten wegen technischer Mängel, unausgereifter Konstruktionen, schlechter Straßen und Wege, Selbstüberschätzung und zu hoher Geschwindigkeit. Während die optische Gestaltung der Kutschen schon früh im Mittelpunkt stand, zog die Technik erst später nach. Trotz aller Maßnahmen auf technischer Seite, in der Organisation des Verkehrs und dem erfahreneren Umgang mit einer leichten, sportlichen Kutsche verbliebt der eingeführte Name und stand eben für diesen einen Typ.
23 Furger, Andreas: Kutschen Europas des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd 1., Equipagen-Handbuch. Hildesheim 2003, S. 117–128. Ebd, S. 222ff. 24 Furger, Kutschen Europas, Bd. 1, S. 147–150. Ebd, S. 156f. Furger, Kutschen Europas, Bd. 2, S.28–35.
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1882 schrieb der „Guide de carrossier“ unter der Überschrift „Wie ein Wagen beschaffen sein muss, wenn man Selbstmord begehen will“ folgendes: „Man montiere ihn so, dass die beiden Gestelle einander sehr nahe sind. Der Wagen wird dann eine Unmenge krumme verschlungene Linien seitwärts beschreiben und starke Schaukelbewegungen machen, wenn man auf das geringste Hindernis stößt oder über eine Vertiefung fährt. Man lasse wenig Raum zwischen den Achsen in der Breitenrichtung. Der Wagen wird dann so schlingern, dass man seekrank davon werden kann. Man baue sehr leicht und nehme kurze Federn. Der Wagen wird dann so stuckern, dass den kräftigsten Leuten die Glieder ausgerenkt werden. Man verlege den Schwerpunkt der Last möglichst nach oben, in dem man die Sitze hoch anbringt. Dann werden alle die erwähnten Annehmlichkeiten von den Insassen umso stärker empfunden werden als der Wagen höher ist. Will man jetzt das auf der Zeichnung dargestellte Schauspiel genießen, so braucht man bloß das Pferd in Galopp zu versetzen. Bei dem geringsten Hindernisse werden dann die Insassen so umhergeschleudert werden, dass auch den Mutigsten der Spaß vergeht.“25 Die Zeitschrift bringt es auf den Punkt: schlechtes Fahrwerk, hoher Schwerpunkt und ein Pferd im Galopp sind gute Vorraussetzungen für einen Unfall a la Phaethon. Die heutige Produktionsstätte des Volkswagen Phaeton, die Gläserne Manufaktur in Dresden, knüpft mit der handwerklichen Fertigung eines Fahrzeugs an ein ähnliches Unternehmen des 19. und 20. Jahrhunderts an: die Firma Gläser. Der Sattler Carl Heinrich Gläser aus Erdmannsdorf bei Chemnitz gründete 1864 in der Nähe der Frauenkirche, in der Dresdner Innenstadt, eine Werkstatt für den Bau von Kutschen und Schlitten. Bereits ein Jahr später hatte Gläser einen umfangreichen Kundenstamm geschaffen und belieferte auch den Königlichen Marstall und das Königliche Oberstallamt.26 Die Phaeton-Kutsche war eines der angebotenen Modelle.27 Gläser griff bei seinen Kutschen auf die Arbeit von Emil Heuer aus dem benachbarten Radeberg zurück. Heuer, Inhaber einer Hufschmiede und Wagenbauwerkstatt, lieferte die Rohbauten, die Gläser anschließend ausstattete und lackierte.28 1898 wurde Heuer Mitinhaber der Gläserschen Werkstatt. Vier Jahre später zog sich Gläser altersbedingt aus der Werkstatt zurück und Heuer wurde Geschäftsführer der „Luxuswagenfabrik Heinrich Gläser“. Heuer lehnte das Automobil im Gegensatz zu seinem Geschäftspartner Gläser nicht ab, und stieg 1902, nach dem Tod Gläsers (und einhundert Jahre vor der Eröffnung der Gläsernen Manufaktur) in die Produktion von Automobilkarosserien ein. Die Kunden lieferten ein fahrfähiges Chassis an und ließen sich eine Karosserie anfertigen, die auf das Chassis montiert, ein vollständiges Automobil ergab. Offene Aufbauten, auch vom Typ Phaeton, sind nicht nur auf die Beliebtheit des Offenfahrens zurückzuführen, sondern auch tech25 Guide de carrossier, 1882, S. 16. 26 Mirsching, Gerhard: Automobilkarosserien aus Dresden, Leipzig 1996, S. 11f. 27 Vorlagenblatt der Luxuswagenfabrik Heinrich Gläser, Dresden, In: Mirsching, Gerhard: Automobilkarosserien aus Dresden, Leipzig 1996, S. 15. 28 Mirsching, Gerhard: Automobilkarosserien aus Dresden. Leipzig 1996, S. 12.
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nischen und technologischen Vorgaben geschuldet. Da sich häufig die Bedienelemente für Bremse und Schaltung außen befanden, blieb der vordere Teil der Karosserie ohne Verkleidung. Zudem war ein offener Aufbau mit den kleineren Flächen günstiger zu produzieren, da die Lackierung wegen langsam trocknender Lacke sehr viel Zeit in Anspruch nahm und teuer war. Anhand des Produktportfolie Gläsers ist der Schritt vom weitgehend offenen Phaeton zum geschlossenen Phaeton, zur Phaeton-Limousine, für den Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisbar. Die Firma bot für ihre Phaeton-Karosserien einen Aufbau aus festen Dach, Türen und Verglasung an, der auf den offenen Phaeton montiert werden konnte und einen besseren Wetterschutz ermöglichte.29 Drei Jahre nach Aufnahme des Automobil-Geschäfts erfolgte die erste Lieferung eines Automobils mit Gläser-Karosserie an den Sächsischen Hof. Dieser hatte bei Gläser, mittlerweile auch per Dekret zum Königlichen Hoflieferanten ernannt, ein Automobil bestellt. Besonderheit dieses Fahrzeugs waren die Anforderungen, die es zu erfüllen hatte: Platz für Fahrer und Beifahrer sowie sechs weitere Personen. Gläser lieferte einen so genannten Triple-Phaeton: ein Phaeton mit einer Sitzbank vorn sowie an der Rückseite. Dazwischen waren an den Seiten jeweils links und weitere rechts Sitze angebracht.30 Die Produktion des Volkswagen Phaeton in Dresden kann durchaus auf eine lange Traditionslinie zurückblicken. Gläsers Karosserien stellten ebenso wie das heutige Automobil ein einzigartiges Produkt dar.
29 Ebd, S. 23. 30 Ebd, S. 24; Fellmann, Walter: Sachsens letzter König. Friedrich August III, Leipzig 1992, S. 96.
Automobiler Luxus im Kontext: „Phaetons“ von 1900 bis heute Kurt Möser Um das Phänomen „Phaeton“ im Kontext der Frühgeschichte des Automobils zu verstehen, ist ein Blick auf die Auslegung von Automobilen um 1900 erforderlich. In dieser Zeit kam es zu einem fundamentalen Strukturwandel von Benzinautomobilen. Das wird etwa am Beispiel der Produkte der Fahrzeugfabrik Eisenach deutlich. Vor 1900 fertigte die Firma, die einem Rüstungskonzern angehörte, den „Wartburg-Motorwagen“. Dies war eine so genannte „Voiturette“, ein kleiner zweisitziger Wagen mit Einzylindermotor und etwa 280 kg Leergewicht. Ab 1906 verkaufte die Eisenacher Firma ihren „Dixi“-Wagen vom Typ T 25, der einen achtfach stärkeren Vierzylindermotor besaß, sechs Sitze hatte, aber auch das Drei- bis Vierfache wog. Seine Fahrgeschwindigkeit hatte sich etwa um den gleichen Faktor vervielfacht. Dieser technosoziale Wandel, auf dessen Faktoren, Agenten und Werkzeuge hier nur kursorisch eingegangen werden kann1, wurde nun in verschiedener Weise interpretiert und bewertet – etwa als nationale Differenzierung. Eugen Diesel bemerkte auf seiner Autoreise nach Italien im Jahr 1905, dass die Franzosen generell kleinere, leichtere und schwächere Motorfahrzeuge besaßen. Doch diese Auslegung befand sich nach der Jahrhundertwende generell auf dem Rückzug. „Voiturettes“ hatten zuvor nach dem Vorbild des ersten seriengefertigten Automobils, dem „Velo“ der Mannheimer Firma von Carl Benz, das dominierende Muster der Automobilauslegung dargestellt. Nach 1900 drifteten „Velo“-Typen oder leichte Voituretten eher in Marktnischen. „Aus Gründen des Renommees vergaß man das Leitbild Fahrrad, das zu einem Auto von nur 263 kg geführt hatte, und befuhr den Weg der ’schweren Wagen`“, so Theo Stillger, der ehemalige Generaldirektor des Deutschen Museums, in Anspielung auf die Ablösung der Auslegung des Benz’ “Velo“2. Das Fahrrad, das die technische Basis für Voituretten zur Verfügung gestellt hatte und die sozialen Formen der Nutzung entscheidend mitbestimmt hatte, schien als Vorbild für die Automobilkultur ausgedient zu haben. Um das neue dominante Muster zu verstehen, bietet sich ein Modell an, das die Automobilentwicklung und – die Struktur des Automobilbestandes um 1900 idealtypisch beschreibt und mit Funktionen korreliert. Danach gab es drei Auslegungen und alternative Pfade:
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Dazu Kurt Möser: Geschichte des Autos, Frankfurt 2002, S. 35–50. zit. nach Joachim Krausse: Versuch auf’s Fahrrad zu kommen. Zur Technik und Ästhetik der Fahrrad-Evolution. Zwischen Fahrrad und Fließband, absolut modern zu sein. Culture technique in Frankreich 1889 – 1937, Ausstellungskatalog, Berlin 1986, S. 59–74.
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Leichtfahrzeuge vom „Velo“-Typ, die vergleichsweise preiswert waren; Sportfahrzeuge, die auf Geschwindigkeit hin optimiert waren; Reise- und Repräsentationsfahrzeuge mit dem Primat von Luxus und Komfort
Die beiden letzteren Muster waren nun nach 1900 entscheidend auf dem Vormarsch. Zugleich stiegen der Prestigewert und der Preis der Fahrzeuge. Es gab nicht nur einen Grundtyp der Mittel- und Oberklassenfahrzeuge, sondern verschiedene. Ich schlage vor, die Trennungslinie zwischen sportlich und nicht sportlich zu ziehen, eine Unterscheidung, die sich gut operationalisieren lässt – auch wenn der „Sport“Begriff der Jahrhundertwende nicht mit dem unsrigen kongruent sein mag. Die zeitgenössischen Funktionszuschreibungen sind nicht so eindeutig; als ‚Sport‘ wird oft das beschrieben, was wir heute unter Ausflugsfahrten subsummieren würden. Die Nutzer von Motorfahrzeugen (oder zuvor Fahrrädern) verstanden sich auch dann als ‚Sportler‘, wenn sie Touren, Automobilreisen oder einfache Ausfahrten unternahmen. ‚Sportsmen‘ waren sie in ihrem Verständnis dann, wenn sie Räder oder Automobile nicht kommerziell nutzten. Die ‚Sport‘-Funktion hatte auch zunächst nicht unbedingt hohe Geschwindigkeiten zur Voraussetzung; bei sportlichen ‚Zuverlässigkeitsfahrten‘ ging es eher um Gleichmäßigkeit und pannenfreies Ankommen. Das neue Auslegungsmuster rekurrierte nun im Wesentlichen auf den zweiten Herkunftsstrang des Automobilismus, nämlich auf die Kutsche. Begrifflich wie strukturell orientierten sich Benzinautomobile an der ausdifferenzierten Typenvielfalt der Kutschen, und nicht mehr an der Velozipedkultur. „Coupés“, „Shooting Brakes“, „Limousinen“ oder „Cabriolets“ waren zunächst Kutschentypen, bevor sie Automobiltypen repräsentierten – und später dann in die Benennung von Flugzeugen diffundierten, etwa in Form von „Luftlimousinen“ oder „aerial coupés“. Im Verlauf der Automobilgeschichte gab es immer wieder Schübe der Aktivierung von alten Kutschen-Termini. Sie hatten gerade im Zug der ‚supersloanistischen‘ Ausdifferenzierung der Autokultur in den letzten 20 Jahren Konjunktur. Ein Beispiel dafür ist „shooting brake“. „Brake“, oder eher „Break“ war ein leichtes Fahrzeug zum ‚Brechen‘ junger Pferde, die sich an die Arbeit vor der Kutsche gewöhnen sollten, und eingekreuzt wurde der Jagdwagen, mit dem man zum „shooting“ fuhr und später die Beute nach Hause transportierte. Und auch der „Phaeton“ bezeichnete zunächst eine Kutsche. Immer wieder ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass der Begriff „Phaeton“ als Automobil offenbar nicht eindeutig einen Fahrzeugtyp beschreibt – wie schon eine PhaetonKutsche nicht eindeutig bestimmt war und eine einzige Zuordnung besaß. Wenn also der Name Phaeton kein klares Strukturäquivalent hatte, dann aber doch ein Funktionsäquivalent: Er bezeichnete nämlich ein Fahrzeug von hoher technischgestalterischer Qualität und hohem Nutzungsprestige. In der Äußerung Stillgers wird schon als Ursache dieser Transformation die verstärkte Festlegung von Automobilen auf Prestige, Luxus und Komfort angesprochen. In der Kutschen-Hierarchie kommt dem Phaeton-Typ eine besondere Rolle zu, nämlich eine weit oben angesiedelte. Bezeichnend sind dafür Katalogbeschreibungen von Phaeton-Kutschen aus der Zeit unmittelbar vor der Adaption der Auslegung für Automobile. So hieß es zum „King Phaeton“: „This is a large, roomy, comfortable, strong, and very
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rich-looking Carriage in the street.“3 In gleicher Weise wurde der “American SixSeat Phaeton” beschrieben: “Made throughout in the very best manner; and, for beauty of style, equal to anything of the kind.”4 Die Rolle der Technik war in dieser Auslegung wichtig, aber nicht dominant. Die Motortechnik musste perfekt sein, aber nicht aufdringlich und nicht, wie etwa bei Bugatti, die Auslegung des Wagens dominieren. Der Innenraum hingegen spielte eine große Rolle. Luxus, Geräumigkeit, Bedienautomatisierungen, aber auch die Ästhetik aufwendiger Materialien und hochwertiger Verarbeitungen zeichneten solche Fahrzeuge aus. Der Begriff Phaeton „löste sich… von einer bestimmten Karosserieform und wurde generell zum Etikett für höchsten automobilen Adel schlechthin.“5 Otto Julius Bierbaum unternahm 1902 mit einem 8 PS-Adlerwagen eine „empfindsame Reise von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein“ und beschrieb seinen Reisewagen wie folgt: „Die Form aber ist die des Phaetons. Sie wissen: Phaeton, Sohn des Helios, Patron der antiken Kutscher. Eigentlich sind es zweirädrige Wagen, die den Namen von ihm haben, und da der unsrige vier Räder hat, neige ich mich der Meinung zu, es sei ein Doppelphaeton. Aber das ist einerlei. Gewiß ist, daß die Urform dieses Wagens die Muschelform war. Von der Muschel zum Motor! Per aspera ad astra!“6 Der Phaeton gehörte damit zum Typ des großen, komfortablen Wagens – mit oder ohne Motor – ohne explizit sportliche Symbolwerte, auch wenn die tatsächlichen Leistungsdaten durchaus „sportlich“ sein konnten. Aber die Projektionswirkung war im Wesentlichen ausgerichtet auf Komfort und Repräsentation. Somit sind die kleineren und langsameren Voiturettes oder die nach dem Vorbild des Benz Velo ausgelegten Wagen vor 1900 als Motorisierung des Rades zu verstehen, die schwereren, komfortableren Phaetons als Motorisierung der Kutsche. Der Rekurs auf den Typ des Phaeton war nun nicht allein eine begriffliche Orientierung an der Kutschenauslegung, sondern auch an dem sozialen Differenzierungssystem, den ‚Klassen‘ der Pferdegezogenen Fahrzeuge. Diese bildeten ein für alle, auch Außenstehende, klar erkennbares, nach Prestige, Funktion, Repräsentationswert und Kosten hierarchisch geordnetes, mit sozialen Distinktionen klar korreliertes System, während bei dem Vorläuferstrang der Fahrräder diese Ausdifferenzierung viel weniger klar war. Sicherlich gab es auch große Preisunterschiede bei Fahrrädern, aber diese manifestierten sich weit weniger nach außen als bei Kutschen, und wenn es Hierarchien bei Rädern gab, dann waren sie eher für Experten und Teilhaber an der Radkultur erkennbar. Deshalb eigneten sich Kutschen weit eher als Objekte der Distinktion, die durch Metonymie mit ihren Besitzern verbun3 4 5 6
Carriages and Sleighs. 200 illustrations from the 1862 Lawrence, Bradley and Pardee catalog. Reprint Mineola, New York 1998, S. 12. Ebd. Beitrag von Peter Klinkenberg: Der automobile Hochadel hieß Phaeton, in diesem Band. Otto Julius Bierbaum’: Eine empfindsame Reise im Automobil von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein, Berlin 1903 (Reprint Eschborn 2000), S. 4.
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den werden konnten (und immer noch werden). Die Statusäquivalenz von Automobilen und ihren Nutzern funktionierte damit kutschenanalog. Dazu kam, dass die Transformation des Automobilismus von der Anlehnung an die Velokultur zur Anlehnung an die Kutschenkultur und ihre lange Tradition die Möglichkeit eröffnete, an einer Dignität des Historischen, Bürgerlichen, Hergebrachten, also des sozial Valorisierten, teilzunehmen – ganz im Gegensatz zum „nouveau riche“-Image der Velozipedkultur, die gerade nicht auf eine längere Tradition rekurrieren konnte oder wollte und die zur Prestigeerhöhung sozial wie ästhetisch auf das Image der Innovation mit gewissen gegenbürgerlichen Komponenten setzen musste. Ein weiterer Aspekt der Adaption des Phaeton-Begriffs ist die Mytheninflation um 1900. Gerade die technische Kultur bediente sich mythologischer, antikisierender und historisierender Anspielungen und Anleihen. Die Mythologisierung und Historisierung auch der technischen Kultur hatte nicht zuletzt auch die Aufgabe der Dignitätserhöhung und der Stärkung der Akzeptanz in einer historisch und bildungsbürgerlich bestimmten Kultur, aus denen sich die Kunden und Nutzer rekrutierten. Ein Beispiel für viele ist die Namensgebung der Benzwagen nach dem Ausscheiden des Firmengründers Carl Benz: Die von einer französischen Ingenieursgruppe um Marius Barbarou konstruierten Wagen hießen „Parsifal“. Das war nicht nur ein Rekurs auf die Welt der mittelalterlichen Rittersagen, sondern eine indirektere Anspielung, nämlich auf deren Verarbeitung etwa durch Richard Wagner. Die auf zeittypische Weise kulturell vermittelte Antike oder das historistisch gefilterte und transformierte Mittelalter boten gerade für Luxus- und Oberklassenfahrzeuge eine zielgruppenspezifische Vermittlungsfolie. Wie sah die Auslegung des automobilen Luxus- und Repräsentationspfades auf der konkreten Ebene des Artefakts aus? Hier sind vor allem drei Elemente zu nennen, nämlich erstens die Entwicklung des Innenraums, zweitens die Konfiguration der Bedienanforderungen und drittens die Entwicklung der Fahrempfindungen. Schon vor der Abschließung des Automobils, die dann in den 1920er Jahren zu einem auch von den Zeitgenossen so empfundenen Paradigmenwechsel führte, änderte sich das Raumgefühl wie auch der Raumbezug für die Insassen. Der Fahrerund Fahrgastraum verliert nach etwa 1905 seinen exponierten Charakter und wird tendenziell zum Innenraum. Während beim „Velo“- Typus die Insassen eigentlich noch keine waren, sondern eher auf als in dem Fahrzeug saßen, werden zunächst die Karosseriewände höher gezogen. Überhaupt kann hier erst von einer integralen Karosserie die Rede sein, während zuvor nur Verkleidungskomponenten auftraten. Die „Gürtellinie“ des Fahrzeugs steigt, wodurch einerseits die Insassen für die Außenstehenden weniger exponiert und sichtbar erscheinen, andererseits für die Fahrtteilnehmer ein verstärktes Innenraum- und Privatheitsgefühl geschaffen wird. Die folgende Abschließung des Innenraumes bedeutet einen Sprung in diesem schon länger anhaltenden Trend, mit dem Ergebnis der Bildung eines mobilen Privat- und Komfortraumes. Das zweite Merkmal des Luxus- und Repräsentationspfades ist eine tendenzielle Erleichterung des Fahrvorganges selber. Das betrifft einerseits die Reduktion der Maschinenbedienungsanforderungen für den Fahrer durch die Verlagerung in
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die Technik, also eine Automatisierungstendenz – etwa durch ‚Selbststarter‘ oder Zündverstellungen. Andererseits wird auch der Fahrvorgang vereinfacht und weniger kraftaufwendig – etwa durch Servounterstützungen oder Teilautomatisierungen des Schaltvorgangs. Auch wenn Luxusfahrzeuge noch länger Chauffeurwagen waren, erleichterte diese Transformation zur Mühelosigkeit den ‚Selbstfahrern‘ oder ‚Herrenfahrern‘ die Fahrzeugbedienung und beförderte den Trend zum Fahren „ohne Chauffeur“7. Wenn oben gesagt wurde, dass es keine eindeutige Struktur der Phaeton-Auslegung gab, dann ist dies zu differenzieren. Ein Kennzeichen von Phaeton-Kutschen, das auf Automobile übertragen wurde, war, dass alle Fahrtteilnehmer in Fahrtrichtung saßen. Zwei oder mehr (beim Doppelphaeton oder Dreifachphaeton) hintereinander liegende, nach vorne ausgerichtete Sitzreihen wurden zum neuen Standard des Sitzens. Diese Konfiguration löste die kutschenartige „vis-a-vis“-Auslegung ab, die auf der Konfiguration der Gesellschaftskutschen beruhte, oder die Anordnung von Längsbänken, die oft bei pferdegezogenen ländlichen „Gesellschaftswagen“ zu finden war und auch bei geräumigeren Automobilen oft vorkam. Bei der am weitesten verbreiteten „vis-a-vis“-Anordnung saßen die Reisenden einander gegenüber, was der Kommunikation untereinander förderlich, dem eigentlichen Fahren jedoch abträglich war, denn beim Chauffieren vom hinteren Sitz gab es schlechte Sichtverhältnisse und damit eine Störung der Fahrfunktion. Erst die Phaeton-Anordnung führte zu einer Wahrnehmung des Fahrerlebnisses, das den neuen höheren Geschwindigkeiten angemessen war. Ein Aspekt der ‚Phaetonisierung‘ bestand darin, dass eine Geschwindigkeitsgemeinschaft entstand. Als Strukturwandel des Artefakts Automobil nach 1900 werden die folgenden Merkmale angesehen: Neben der Sitzanordnung beider Sitzreihen für den ‚Geschwindigkeitsblick‘ sind dies eine schräggestellte Lenksäule, ein stärkerer Motor, gleichgroße, kleinere Räder, ein tieferer Schwerpunkt, die Abkehr von der Technologie des Fahrrades hin zu stabileren, schwereren Fahrgestellen und auch die Adaption eines kutschenanalogen Körpers für das Passagierabteil. Dieser Wandel war nicht unbedingt industriegetrieben, sondern die Nutzer spielten eine beträchtliche Rolle. Üblicherweise wird er als konstruktive Adaption an die erhöhten Geschwindigkeiten interpretiert, doch mindestens ebenso war dies eine Reaktion auf gesteigerte Komfort- und Repräsentationsanforderungen der Nutzer, wobei ein starker, drehmomentkräftiger Motor zur Erhöhung des Fahrkomforts eher eine Rolle spielte als tatsächlich erzielbare hohe Geschwindigkeiten. Anders als bei geschwindigkeitsbetonten Renn- und Sportwagen war die Optimierungsrichtung bei luxuriösen Automobilen nicht primär durch hohe Reisegeschwindigkeiten bestimmt. Auch die Außengestalt wurde von diesen Merkmalen determiniert; bei Phaetons trat Sportlichkeit zurück hinter gestalterische Luxussignale. Oft wird diese Transformation des Automobils mit dem ersten „Mercedes“ zusammengebracht, den die Stuttgarter Firma 1900 auf Wunsch und mit Abnahmegarantie des österreichisch-ungarischen Konsuls Emil Jellinek herausgebracht hatte, 7
So der Titel eines beliebten Lehrbuches: Filius, (A. Schmal), Ohne Chauffeur. Ein Handbuch für Besitzer von Automobilen und Motorradfahrer, Berlin 1924.
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und den er nach seiner Tochter benannte. Doch der ‚Mythos Mercedes‘ ist zu kontextualisieren. Eher stand der Phaeton – als Gattung, die, wie wir sahen, eher eine Funktion, nämlich Repräsentation und Luxus, beschreibt, und nicht bestimmte Strukturmerkmale – im Zentrum der Transformation, nicht aber der spezialisierte Renn- Mercedes.8 Und dieser Wagen war natürlich auch ein Doppelphaeton. Ich schlage deswegen eine Korrelation des Phaeton-Musters mit dem Wandel der automobilen Auslegung um 1900 vor. Die ‚Ära Mercedes‘, die ab 1901 ausgerufen wurde9, wäre damit eigentlich eine Ära des Phaetons. Unternehmen wir nun einen großen zeitlichen Sprung in die Zeit um 1930 und fragen, wie sich Luxusfahrzeuge sowohl in die am Anfang stehenden Massenmärkte – wie in Europa – oder in die bereits entwickelten – wie in den USA – einfügten. Pointiert lautet die Frage: Werden Luxusfahrzeuge zu einem Teil des Massenmarktes oder stehen sie in Opposition dazu? Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten der Distinktion und der Produktion von automobiler Qualität, nämlich das Prestige des Seriellen und das Prestige des Handwerklichen. Im ersten Fall erscheinen qualitätvolle Automobile als Exponenten der Moderne, einer rationalen Produktionsweise, die nicht nur schneller, sondern auch präziser ist und die Vagheiten und Ungenauigkeiten handwerklicher Fertigung überwindet. Massengefertigte Automobile können so als eigentliche Exponenten von Fertigungsqualität gelten; ihre Produktion ist hoch ausentwickelt und weit entfernt von den Unzulänglichkeiten handwerklichen Autobaus. Die Gegenposition betont die hohe Produktqualität und den exklusiven Einzelstückcharakter der handwerklich gebauten Fahrzeuge und setzt ihre individualisierten Eigenschaften gegen die ‚Seelenlosigkeit‘ und De-Individualisiertheit industrieller Massenproduktion. In den 1920er Jahren finden sich nicht nur diese beiden alternativen Positionen, sondern auch spezifische produktionstechnische Lösungen dafür. Die handwerkliche Position wurde typischerweise von Carl Benz vertreten, der die geringen Stückzahlen und hohe Produktqualität deutscher Wagen gegen die amerikanische Massenproduktion setzte. Für die geringen Stückzahlen war diese Produktionsweise adäquat.10 In den USA dagegen vertrat Henry Ford das Gegenmodell, indem er auf die durch perfektionierte Fertigungsmethoden erzielte hohe Qualität seines Produkts verwies und so einen außerordentlich langen, durch ständige inkrementale Verbesserungen gekennzeichneten Produktzyklus legitimieren konnte. Komfort, Luxus und Prestige sind aber Kriterien, die bei dem preiswerten Massenmodell T keine Rolle spielten – weder angebotsseitig noch konsumentenseitig. Der Wagen wurde von Henry Ford als strikt utilitäres Produkt vermarktet und von den Käufern als solches akzeptiert. Die Krise des Fordismus nach 1925 hing nun aber auch mit Henry Fords Weigerung zusammen, veränderte Konsumentenbedürfnisse, die über utilitäre Produkt8 9
Dazu Möser, Geschichte des Autos, S. 36–39. Dazu Bettina Gundler: La Mercédès. Zur Entstehung des automobilen Leitbilds am Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ulf Hashagen/Oskar Blumtritt/Helmut Trischler (Hrsg.): Circa 1903. Artefakte in der Gründungszeit des Deutschen Museums, München 2003, S. 546–547. 10 Dazu Fritz Blaich: Die „Fehlrationalisierung“ in der deutschen Automobilindustrie 1924–1929, In: Tradition, Heft 18, 1973, S. 18–33.
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qualitäten hinausgingen, zu befriedigen. Den Markt für individualisierte Fahrzeuge, für luxuriösere, nutzerangepasste und prestigeträchtigere Wagen wurde dagegen zunächst von den Brands von General Motors abgedeckt. Henry Ford und Alfred P. Sloan repräsentierten die Ästhetiken und soziotechnischen Konstruktionen der automobilen Askese und Rationalität gegen diejenigen des automobilen Überflusses. Dabei gab es nun ein prinzipielles Problem: die Kosten der Produktion solcher höherklassiger Automobile. Zwar überlebte auch der handgebaute große Wagen in den USA und konnte durch das Prestige des Handwerklichen dort zum „ultimate status symbol“ werden, wie dies James Flink beschrieb.11 Doch die eigentliche Herausforderung war die Herstellung höherklassiger Fahrzeuge im Rahmen der herausgebildeten kostengünstigeren Verfahren der Massenproduktion mit den entsprechenden economies of scale, die wiederum die Möglichkeiten höherer Profitraten eröffneten. Erzielt wurde dies seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre innerhalb des „Sloanismus“12, und zwar durch eine Kombination von Massenproduktionsmethoden für weitgehend „unsichtbare“ Komponenten wie Motoren, Getriebe oder Fahrgestellelementen13 mit der „industrialisierten Individualisierung“ durch Karosseriekomponenten, Ausstattungen und „add-ons“ verschiedener Wertigkeit – etwa durch unterschiedliche Kühlergrills, mehr Chromschmuck, andere Stoßstangen, stärkere Motoren, vor allem aber durch höhere Wertigkeiten im Innenraum, dem eigentlichen mobilen Wohnumfeld der Nutzer. In anderen Fällen konnten komplette „custom-built“-Karosserien auf relativ kostengünstige Fahrgestelle mit Großserienkomponenten aufgesetzt werden. Der Sloanismus entwickelte durch das Verfahren der Vermarktung von höherklassigen Automobilen, die weitgehend Serienkomponenten verwendeten, eine Versöhnung von hohen Stückzahlen mit dem Aufbau eines prestigeträchtigen Fahrzeugsegments – gegen das europäische Image und die konkreten europäischen Produktionsweisen des handwerklichen Baus. General-Motors – Fahrzeuge mit im Wesentlichen ähnlicher technischer Basis konnten so in verschiedenen automobilen „Klassen“ und Marktsegmenten platziert werden. Dieses Verfahren der Vereinigung von Großserienbau und individualisierenden Elementen erlaubte neben der hierarchischen auch eine zeitliche Modifizierung: Möglich wurde dadurch eine rasche optische Veränderung der Fahrzeuge und damit ein jährlicher Modellwechsel, der sich bei US-Fahrzeugen schon in den 1930er Jahren etablierte. Ein Resultat für die Konsumenten war, dass automobiler Luxus und das „keeping up“ mit den jeweils neuesten Modellen nun zunehmend massenfertigungskompatibel, bezahlbar und damit „demokratisierbar“ wurde. Dies findet eine Parallele zum Boots- und Yachtbau: Auch hier waren Massenfertigung einerseits und Prestige und Luxus andererseits kein Widerspruch. Serienbau, Bauen mit „jigs“, mit hohem Vorfertigungsgrad, mit der Massenfertigung von 11
James J. Flink: The Ultimate Status Symbol. The Custom Coachbuilt Car in the Interwar Period, in: Martin Wachs/Margaret Crawford (Hrsg.): The Car and the City. The Automobile, the Built Environment and Daily Urban Life, Ann Arbor 1987, S. 154–166. 12 Möser, Geschichte des Autos, S. 162–164. 13 William J. Abernathy: The Productivity Dilemma. Roadblock to Innovation in the Automobile Industry. Baltimore 1978.
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Einzelkomponenten – analog zu Henry Fords Diktum, seine Fabrik sei eine solche für Autoteile – waren nicht exklusiv auf die Automobilindustrie beschränkt. Solche Baumethoden, die vom industriellen Bootsbau von Fischfang-Dories übernommen wurden, zeichneten etwa den Bau von eleganten Catbooten an der US-Ostküste oder von Zedernholz-Kanus aus. Die Arbeiter dieser Werften für luxuriöse kleine Boote waren zwar im Gegensatz zu Fords Arbeitern Facharbeiter oder hochspezialisierte Handwerker, wendeten aber industrialisierte Baumethoden an und waren einem industriellen Arbeitsrhythmus unterworfen. Die Anforderung an sie, formuliert von dem berühmten Yachtkonstrukteur Nathanael Hereshoff, war: „Do it over and over, do it well, do it fast”14. Dieser Trend transformierte die amerikanischen Autos zwischen 1930 und 1960 so entscheidend, dass sie sich von den Auslegungen der europäischen Wagen entfernten – oder eher, dass die Europäer dem amerikanischen Trend nicht folgten. Denn im Licht der Entwicklung der Automobilauslegungen der letzten 30 Jahre muss dies anders dargestellt werden: nicht als amerikanische, sondern als europäische und speziell deutsche Sonderentwicklung. Die Europäer folgten nämlich dem bis heute dominanten Trend zur Automatisierung der Betätigungsfunktionen und der Luxurisierung des Innenraums und der Bedienung über Jahrzehnte nicht. Die Differenz des amerikanischen und des europäischen Luxuspfades wurde besonders evident seit den 1930er Jahren. Verglichen mit amerikanischen ‚großen‘ Wagen der Zeit zeigten die deutschen viele Merkmale von „austerity“, Kargheit und Komfortlosigkeit – bei aller gestalterischen Eleganz und beträchtlichem technischem Aufwand. Obwohl natürlich auch sie ein Teil der Kultur der „conspicuous consumption“ waren, spielten sie dies in mancherlei Hinsicht herunter: durch Verzicht auf Farbigkeit etwa, indem Grau und Schwarz dominierten, durch Verzicht auf Bequemlichkeitselemente der Bedienung, oft durch Verzicht auf gefälligeres, weicheres Design. Auch wenn die durch harte horizontale und vertikale Linien gekennzeichnete „deutsche Schule“ des Designs15 sich um 1930 wandelte, blieb eine gewisse Härte – in mehrfacher Hinsicht, etwa der der Außengestalt oder des Fahrkomforts – für deutsche Wagen kennzeichnend. Aufwand getrieben wurde eher technisch, etwa durch modernere Motorkonstruktionen und komplexere Fahrwerkskonstruktionen, und weniger in Ausstattung und Komfort. Hierdurch schon trat eine beträchtliche Differenz zwischen der deutschen Binnenmarktstruktur und der Weltmarktstruktur auf; dies war ein Symptom für differierende Repräsentationsformen in differierenden soziokulturellen Kontexten. Ein Element der Differenz war auch die Nähe von Luxusfahrzeugen zum Militärischen. Die winkligen Linien der „deutschen Schule“, die hohe Gürtellinie oder die graue Farbe brachten deutsche Luxuswagen visuell in die stilistische Nähe von Panzerautomobilen – die oft genug auf den Fahrgestellen von Luxusautomobilen aufgebaut wurden. Auch als in den 1930er Jahren weichere Linien beiderseits des Atlantiks das Automobildesign bestimmten, war dies jeweils unterschiedlich codiert: Während 14 Nach Philip Bolger: Boats with an Open Mind. 75 Unconventional Designs and Concepts, Camden 1994, S. 102. 15 Dazu Erik Eckermann/Hans Straßl: Der Landverkehr, in: Ulrich Troitzsch/Wolfgang Weber (Hrsg.): Die Technik. Von den Anfängen zur Gegenwart, Stuttgart 1987.
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die Designer amerikanischer Wagen zunehmend spielerischer, freier mit weicheren, geschwungenen Linien umgingen – typisch dafür war der einflussreiche GM-Gestalter Harley Earl, der dafür innovative Entwurfsverfahren einsetzte –, begründeten dies deutsche Gestalter rational und ernsthaft, nämlich durch Aerodynamik. Stromliniendesign wurde hier als Effizienz signalisierend legitimiert. Die neue Linienführung sollte gerade nicht als beliebig erscheinen, als pure Lust an, wie Earl forderte, „longer and lower“ Autos mit eleganter Gestalt. Die deutsche Rationalisierungsanstrengung bezüglich des Automobils blieb wirksam. Wie weit sie heute noch residual ist, bleibt zu fragen. Die deutsche Kritik an amerikanischen Luxuswagen nach 1930 beschuldigte sie neben unnötiger und unrationaler Opulenz und gestalterischen Überflusses zudem einer durchwegs „femininen“ Ausstrahlung und eines verweichlichenden Luxus. Wie weit tatsächlich der Einfluss weiblicher Nutzer eine Rolle spielte, ist umstritten.16 Das deutsche Beharren auf Effizienzausstrahlung und auf dem Primat von Technik war aber auch ein Symptom eines schlechten Gewissens gegenüber Luxus. Das ging so weit, dass die Schließung des Autos, dieser für die weitere soziale Konstruktion des Automobils außerordentlich bedeutsame Trend zum Limousinen-Innenraum, gerade in Deutschland misstrauisch gesehen wurde. In den USA dagegen vollzog sich der Wandel früher, während der 1920er Jahre: Dort waren 1919 erst knapp über 10 % der Privatwagen geschlossen, 1927 waren es schon über 82 %.17 Deutschen Produzenten, auch deutschen Nutzern war dies eher suspekt. Der Ratgeberautor Filius proklamierte: „Es wäre schade, wenn unsere wetterharten Freiluftfahrer allmählich zu Limousinenmenschen degenerieren würden, denn den wahren sportlichen Genuss des Automobilfahrens hat man immer nur im offenen Automobil.“ Und weiter: „Ein Einwand, den man gegen ihn (den Innenlenker, KM) erheben kann, ist der, daß der Lenker in so einem Wagen von der Außenwelt abgeschlossen ist.“18 Umstritten ist, ob der Druck zum geschlossenen Auto in den USA tatsächlich von Frauen initiiert worden ist, oder ob die höhere Bequemlichkeit und geringere ‚Sportlichkeit‘ auch von Männern geschätzt wurde, die das aber nicht zugaben, sondern den Kauf von geschlossenen Automobilen durch das Interesse ihrer Frauen motivierten.19 Gegen diese unerwünschte vorgebliche weibliche Sanftheit und Bequemlichkeit, gegen Verweichlichungs- und Feminisierungsfurcht setzte man also in Deutschland Härte und Sportlichkeit. Damit konnte der misstrauisch betrachtete Luxus abgemildert und legitimiert werden. Luxus für Privatleute oder Bürger schien lange Zeit nur dann erlaubt, wenn er mit Sportlichkeit verbunden war, während Repräsentation – diese ist aber gerade nicht kongruent mit Komfort! – nur für Fürsten, Regierende, Militärs und Wirtschaftsbosse legitim schien. Ein Beharren auf der Einkreuzung des Sports in die Automobilkultur hingegen war ein Prestigefak16 Virginia Scharff: Taking the Wheel. Women and the Coming of the Motor Age, New York 1991. 17 James J. Flink: The Automobile Age, Cambridge 1988, S. 213. 18 Filius, (A.Schmal): Die Kunst des Fahrens. Praktische Winke, ein Automobil oder Motorrad richtig zu lenken. Wien 1922, S. 176f. 19 Scharff, Wheel, 1988.
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tor, der in den Rahmen der „sportization“ der Industriegesellschaften, wie dies Norbert Elias und Eric Dunning beschreiben, gesehen werden muss.20 Sport, zunächst als Reaktion auf „pacified societies“ sozial implementiert, hatte um 1900 bereits einen so hohen Prestigewert gewonnen, dass er als Faktor der Aufwertung anderer gesellschaftlicher Felder eingesetzt werden konnte. Sportliche Aktivitäten bildeten ein Gegenmodell zu professionell-kommerziellen und konnten prestigefördernd wirken, wenn sie in nichtfunktional-lustvolle Aktivitäten ‚eingekreuzt‘ wurden. Das deutsche Modell einer residualen Sportlichkeit in der Automobilkultur war und ist durchaus erfolgreich, und dies bis heute. Das globalisierte Automobil nach 1990 besitzt fast universell Merkmale von Sportlichkeit, wie sie von deutschen Herstellern entwickelt und von Automobiltestern und anderen Multiplikatoren der Nutzerkulturen valorisiert wurden. Dies hat die soziale Konstruktion des gesamten Automobilspektrums, und gerade auch die Mittelklasselimousine, beeinflusst und wurde schließlich ein Exportelement. Dass die Fahrzeuge, die auf die Auslegung der „deutschen Schule“ zurückgehen – die keinesfalls nur von deutschen Herstellern stammen muss, sondern inzwischen weltweit verbreitet ist – heute durchwegs straffer gefedert sind, härtere Sitze haben und eine sportlichere Motorcharakteristik aufweisen, hat eine lange Tradition. Gegenmodelle, wie die Betonung des Komforts gegen diese Dominanz der Sportlichkeit, wie dies vor allem französische Hersteller durchzusetzen versuchten, konnten nur Nischen besetzen. Die zweite Komponente des deutschen Sonderweges seit den 1920er Jahren war eine Ingenieursrationalität, die die Vernunft der Konstruktion (in geringerem Maß auch die Erfordernisse der Produktion) über die Nutzeranforderungen setzte, und den Komfort des Fahrzeugs sowieso weit hintan setzte. Spuren dieser Ingenieursrationalität findet man, wenn man möchte, heute noch – etwa in der Bevorzugung harter Federungsabstimmung durch deutsche Hersteller, die verbesserte Kurvendynamik verbessertem Komfort durchweg vorziehen. Eine Skepsis gegen ostentativen Luxus ohne Sportkonnotation und ohne rationale Legitimation ist nach wie vor bemerkbar. Der Fachjournalismus hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt: Eine Priorisierung des Komforts statt einer Betonung der Sportlichkeit wurde und wird selbst bei Fahrzeugen der Oberklasse von den deutschen Fachjournalisten eher skeptisch betrachtet oder gar abgewertet. Außerhalb des engeren Automobiljournalismus zeigt die Bewertung von Komfort aber nun ebenfalls eine gewisse Ambiguität: Die soziale Stellung großer Fahrzeuge in Deutschland erscheint oft genug als Residuumsbereich autoskeptischer Haltungen. Skepsis gegen automobilen Luxus könnte aber auch im Kontext einer spezifischen nationalen „Neidkultur“ interpretiert werden. Erklärungsmöglichkeiten für die Skepsis gegen Luxusfahrzeuge wären etwa: der lange Schatten der Konsumskepsis, der bürgerlichen Askese, und der nicht ganz so lange Schatten der Diffamierung von „conspicuous consumption“ nach 1968. In vielen anderen Ländern hingegen sind Luxusfahrzeuge Komponenten einer gesellschaftlich akzeptierten und valorisierten Überflusskultur, und nicht Objekte, die tendenziell dem
20 Dazu Norbert Elias/Eric Dunning: Quest for Excitement, Oxford 1986.
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Druck zu einer Re-Rationalisierung und zum Herunterspielen ihres Repräsentationswertes unterworfen sind. In den USA etwa dürfen großdimensionierte Luxusautomobile vom Design und dem Auftritt her ungetarnt Wohlstand und Reichtum signalisieren. Die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten hatte sich von allen Resten einer asketischen Absetzung vom Adel, die das deutsche Bürgertum noch bewahrte, weitgehend frei gemacht. Die bürgerliche Luxusskepsis als politisches Distinktionsverfahren gegen den Adel und dessen ostentative Zurschaustellung hatte in den USA keine Bedeutung. Dies hatte Auswirkungen auf die gesamte Mobilitätskultur. Es wäre nötig, die Stellung von Luxuswagen in Großbritannien, vor allem auch in den industriellen Schwellenländern gesondert zu untersuchen; dies muss hier aus Platzgründen unterbleiben. Ein für die weitere Automobilgeschichte wichtiger Trend der Zwischenkriegszeit war aber die interne Luxurisierung von Luxuswagen – vom Selbststarter über halb- und vollautomatische Getriebe, zunächst auch von Heizungen, und bald auch schon durch elektrische Betätigungen. Die erwähnten Demokratisierungsvorgänge führten dazu, dass sich der zunächst auf die Oberklasse beschränkende Ausstattungs- und Bedienluxus, ausgehend von US-Wagen, sowohl geografisch als auch in den ‚Fahrzeugklassen‘ ausbreitete, also auch in die Fahrzeuge außeramerikanischer Hersteller diffundierte, und auch dort von oben nach unten verlief. Komfort- oder Luxuselemente wurden zeitverzögert in kleinere und billigere Wagen inkorporiert. Die Rekonstruktion solcher Kontexte war nötig, um die Markenpolitik von Volkswagen und die Ausweitung hin zum Angebot von Oberklassenfahrzeugen interpretieren zu können. Um also wieder auf den Phaeton zurück zu kommen: Mit Fahrzeugen dieser Gattung, also bequemen, luxuriösen Fahrzeugen, fanden gerade die europäischen Massenhersteller schließlich wieder den Anschluss an eine globale Fahrzeugentwicklung (die selbst wiederum auf eine globale Nachfragestruktur reagiert) in der „großen Klasse“, die bis dahin in Europa nur von Nischenherstellern wie Rolls Royce, die keine Massenfertigungsverfahren anwandten, abgedeckt wurde. Exklusive Luxusfahrzeuge im Sortiment eines durch Massenfertigung gekennzeichneten Herstellers – das ist zunächst zwar ein Widerspruch, der sich aber auflösen lässt. Dass gerade auch Massenhersteller den Luxusmarkt ‚bedienen‘, hat eine lange Vorgeschichte und nicht unkomplexe technosoziale Ursachen. Der Wandel zum Vollsortiment-Anbieter, also der Weg in die Oberklasse, hat bei Volkswagen einige Jahrzehnte gedauert. Einen Anfang kann man auf die Markteinführung größerer luftgekühlter Heckmotorwagen datieren. Fahrzeuge wie der Typ 1600 TL oder später der 411 waren gedacht für Kunden, denen auch stärkere und ausstattungsverbesserte Varianten der Grundtypen nicht mehr ausreichten. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, nach der Ablösung aller luftgekühlten Heckmotorwagen, bot Volkswagen eine nach unten – durch den Polo – und nach oben – durch den Passat – erweiterte Modellpalette bis in die Mittelklasse hinein. Die Ausdifferenzierung nach noch weiter oben, die nach 1990 erfolgte, war kein für VW exklusiver Prozess: Die meisten Hersteller, die zuvor nur auf Segmente des Automarktes gezielt hatten, taten dies auch – so etwa der Mercedes-Benz-Konzern, der sein Sortiment in die kleine und kleinste Klasse ausweitete.
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Ob diese Sortimentsausweitung innerhalb der Markenpalette stattfindet – wie im Fall des Phaeton – oder ob dafür neue Marken kreiert oder reaktiviert werden – wie etwa bei Smart oder Bugatti –, hängt von der jeweiligen firmenpolitischen Strategie ab. Eines der Argumente für die Platzierung innerhalb der Marke ist die Erwartung einer Ausstrahlung von Prestigewagen auf die übrigen Produkte, während eine Ausweitung nach unten das Risiko der Kompromittierung eines prestigeträchtigen Produkts mit sich bringt. Luxusfahrzeuge unter dem Label eines Massenherstellers kommunizieren dagegen einen Beweis für Qualität auf allen Ebenen: der Technik, der symbolischen Wertigkeit, der Fertigungsqualität. Cum grano salis vollzog der Volkswagen Konzern mit dem Prozess der Ausweitung eine allmähliche Wende vom Fordismus zum „Sloanismus“: vom Angebot eines primär funktionalen, gezielt langzeit-wertigen „engineer’s vehicle“ zum Aufbau eines Vollsortiments mit Klassenhierarchien, feinen Differenzierungen, industriell individualisierten Wagen und, nicht zuletzt, immer weiter abgekürzten Produktzyklen. Dies war ein Gegenkonzept zu langen Bauzeiten mit kaum sichtbaren Verbesserungen der Produktqualität, für das die massengefertigten Wagen Ford Model T und Volkswagen Typ 1 stehen. Der Phaeton dagegen ist ein typisches „postsloanistisches“ Produkt, adaptiert an die Marktstruktur einer Spät-Automobilgesellschaft, das die sloanistische Lösung des Dilemmas von Massenfertigung und Luxus, von der oben die Rede war, übernimmt. Ein wichtiges Vermarktungsinstrument und eine zentrale Komponente für die Bindung der Nutzer an ‚ihr‘ technisches Artefakt beruht auf Faszination. Dies ist in hohem Maß für Oberklassen- und Luxuswagen der Fall. Über eine sozusagen akzidentielle Faszination hinaus, die die automobilspezifische Mensch-Maschine-Bindung stärkt, und wohl auch konstituiert, werden solche Prozesse inzwischen ebenso konstruiert wie die Fahrzeuge selber. Intentionale symbolische Emotionalisierung kann mit Modellnamen statt Zahlenbezeichnungen beginnen, aber sehr viel weiter gehen. Eine aktive statt nur akzidenzielle Emotionalisierung war ein wichtiger Faktor in der Abkehr von einem bloß utilitär und funktional ausgerichteten Image, zu dem im Volkswagen-Konzern nicht nur der luftgekühlte Volkswagen, sondern auch seine Nachfolger Golf und Polo zählten. Emotionalere, sinnlichere – oder gezielt als sinnlich positionierte – Fahrzeuge statt bloß funktionaler Automobile, die den Konsumenten vor allem Preis-Wertigkeit boten, war das neue Vermarktungsmuster. Die gezielte Ästhetisierung der Attraktionsfaktoren des Automobils hat nun im Fall des Volkswagen Phaeton eine neue Dimension bekommen. Und zwar ist durch die Einführung einer demonstrativ handwerklichen Produktion eine zusätzliche Dimension der Prestigeerhöhung eingeführt worden. Diese conspicuous production, die das Element der Handwerkskunst und ihrer Dignität im Autobau demonstrativ (wieder-) einführt, zeichnet den Phaeton vor allen anderen Elementen aus. Eine Ästhetisierung der Produktion, die sich in der „Gläsernen Manufaktur“ in Dresden manifestiert, ist ein weiterer, möglicherweise letzter, Schritt der gezielten ästhetischen Positionierung von Automobilen. Bis dahin waren Ästhetisierungsverfahren wie die Aufwertung von Design innen und außen, die Verortung in sozialen Lebenswelten durch die Werbung, die Transformation der Fahrzeuge von Mobili-
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tätsmaschinen zu Elementen von Lebensstilen und deren Projektionen primär auf der Ebene des fertigen Produkts vor und nach dem Kauf lokalisiert. Unterstützt wurden sie durch Verfahren der Stärkung des Markenimages, beispielsweise durch Formen der Verarbeitung der Geschichte der Marke. Eine Ästhetisierung der Produktion flankiert nun solche objektbezogenen und objektexternen Ästhetisierungsvorgänge, und wie diese werden sie medial kommuniziert. Der Volkswagen Phaeton repräsentiert demnach nicht nur eine technische Avantgarde, sondern auch eine der technosozialen Positionierung: Als symbolisch handwerklich produzierter und als exemplarisch ‚supersloanistischer‘ Wagen ist er beispielhaft für eine Komplett-Ästhetisierung des Produkts Automobil und seines gesamten Markt- und Nutzerumfeldes.
Der automobile Hochadel hieß Phaeton Peter Klinkenberg Waren die ersten Automobile – notdürftig motorisierte zweisitzige Kutschen – geradezu winzig gewesen, was ihre Länge betraf, so wuchsen zumindest die Fahrzeuge für die gehobenen Käuferkreise zwischen 1900 und 1920 auf außerordentlich stattliche Formate an. Radstände bis dreieinhalb Meter waren keine Seltenheit, fünf Meter Außenlänge wurden oft übertroffen, sechs bis sieben Sitzplätze waren die Regel und sechs oder sogar acht Zylinder alsbald eine Selbstverständlichkeit. Die Begeisterung für das Automobil erfasste ab der Wende um das Jahr 1900 den gesamten Blut- und Geld-Adel Europas. Schließlich waren es im Wesentlichen diese Aristokraten, die die nötigen Finanzmittel für das neue technische Faszinosum Automobil zur Verfügung hatten und sich diesem modernen Hobby unbegrenzt widmen konnten. Motorwagen-Rennen, Rekord-Fahrten, Härteprüfungen fanden schon sehr bald regelmäßig statt. Bis 1907 waren es in Deutschland die „Herkomer-Fahrten“, die dann durch die noch strapaziöseren „Prinz-Heinrich-Fahrten“ über 2000 und mehr Kilometer ersetzt wurden. Im Taunus nahe Frankfurt am Main fand vor dem Ersten Weltkrieg jedes Jahr das „Kaiserpreis-Rennen“ statt, das die gesamte europäische Automobilindustrie zu immer neuen technischen Höchstleistungen inspirierte. Die dabei eingesetzten teuren, schweren, hubraum- und leistungsstarken Fahrzeuge unterschiedlichster Hersteller des In- und Auslandes waren oftmals für diese Rennzwecke modifizierte Phaetons. Natürlich war selbst der automobilbegeisterte deutsche Kaiser Wilhelm II. gern mit einem solchen Karosserietyp unterwegs, der sich dann später in mehr gestreckter und gestraffter Form zum „Torpedo“ beziehungsweise „Tourenwagen“ weiterentwickelte. Daher verwundert es auch kaum, dass der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im Juli 1914 bei seinem letztlich den Ersten Weltkrieg auslösenden Besuch im serbischen Sarajewo – standesgemäß, möchte man sagen in einem Phaeton ermordet wurde, einem Gräf+Stift-Doppel-Phaeton vom Typ 18/32 PS, Baujahr 1911. Der Begriff Phaeton löste sich aber schon bald von einer bestimmten Karosserieform und wurde generell zum Etikett für höchsten automobilen Adel schlechthin. Die klangvollsten Namen sind untrennbar mit ihm liiert. Schon im Jahre 1903 trat der Benz Parsifal als Doppel-Phaeton ins Rampenlicht, und ebenfalls 1903 beeindruckte der Mercedes Simplex 28/32 PS als Doppel-Phaeton allerorten. Und 1906 erregte die „August Horch u. Cie. Motorwagen-Werke Aktiengesellschaft Zwickau i/S.“ mit ihrem Doppel-Phaeton 18/22 PS Aufsehen, denn hier wurde die Motorkraft erstmalig nicht mehr per Kette, sondern per Kardanwelle auf die Hinterachse gebracht. Anno 1908 machte dann der Mercedes 39/75 PS Doppel-Phaeton mit 3,65 Metern Radstand, Sechszylindermaschine, 10,2 Litern Hubraum, 80 PS und einem Listenpreis von ungeheuerlichen 32.500 Goldmark Furore. Für sol-
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ches Geld ließ sich damals mühelos ein mehrstöckiges Großstadt-Mietshaus errichten. In dieser Nobelwelt fehlte natürlich auch die elsässische Edel-Manufaktur eines Ettore Bugatti nicht. Sein Typ 17 von 1913 war – selbstverständlich, möchte man sagen – ein Doppel-Phaeton. Und eine automobile Legende wie der silberfarbene Rolls Royce 40/50 PS Silver Ghost kam natürlich ebenfalls als majestätischer Doppel-Phaeton daher. Auch die Gebrüder Opel in Rüsselsheim hatten schon 1913 mit dem Typ 40/100 einen elitären Doppel-Phaeton im Programm, der mit seinen zehn Litern Hubraum für damals wahrlich sensationelle 100 PS gut war. Die legendäre deutsche Marke Stoewer aus Stettin legte bereits 1906 mit dem Typ P 6 einen Sechszylinder-Doppel-Phaeton mit 55 PS auf Kiel, für den die Preisliste stolze 14.000 Goldmark auswies. Im Jahre 1913 erschien dann sogar der „Große Stoewer“ F 4, dessen 8,8-Liter-Flugzeugmotor für 100 PS bürgte. Dieser elitäre Doppel-Phaeton besaß erstmalig elektrische Scheinwerfer anstelle der sonst noch üblichen Azetylengas-Beleuchtung. Auch angelassen wurde der Motor nicht mehr per Handkurbel sondern elektrisch. Noch gewaltiger kam dann später der „Stoewer Gigant 80 Sport-Phaeton“ daher. Für die schon damals europaweit bekannten Marken Benz oder Daimler waren es jahrzehntelang Selbstverständlichkeiten gewesen, Phaetons im Lieferprogramm zu haben. Die glanzvollsten Zeiten für den Phaeton begannen jedoch erst in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Mochten andere Automobile nach der Erfindung der Fließband-Fertigung auch längst billiger sein und in viel größeren Stückzahlen produziert werden, der Begriff Phaeton bleibt demgegenüber für immer mit den elitärsten Namen des Weltautomobilbaus verbunden. In Deutschland waren dies im Jahre 1924 beispielsweise Glanzlichter wie der W 3 Phaeton von Maybach, anno 1929, der Adler Standard 8 Phaeton mit seinem Achtzylinder-Reihenmotor oder der Audi Imperator Phaeton von 1928 mit seinen gewaltigen 3,62 Metern Radstand und ebenfalls AchtzylinderReihenmotor mit 100 PS. In höchste aristokratische Höhen Europas führen jedoch Namen wie Hispano-Suiza (Spanien), Isotta Fraschini (Italien), Hotchkiss (Frankreich) oder Gräf + Stift (Österreich). Sie alle pflegten das Edel-Etikett Phaeton weiter, und dies stets als Offerte an die nobelste und betuchteste Kundschaft der Welt. Diese Edel-Schmieden waren die automobilen Hoflieferanten schlechthin, wie das Beispiel Isotta Fraschini stellvertretend zeigt: Ein Elite-Fahrzeug dieser Mailänder Manufaktur der Herren Cesare Isotta und Vincenzo Fraschini – hier noch in der klassischen Phaeton-Karosserieform – besaßen beispielsweise die Königin von Rumänien, König Feisal von Irak, Prinzen und Fürsten vieler Adelshäuser Europas, zahlreiche indische Maharadschas sowie diverse Prominente wie der Papst, der italienische Faschistenführer Benito Mussolini, der legendäre Filmstar Charlie Chaplin oder der italienische Poet und Volksheld Gabriele d’Annunzio. Doch selbst dieser „Gotha“ des europäischen Automobilbau-Adels war jenseits des Atlantiks noch zu toppen. In den USA lauteten die noch heute Ehrfurcht erregenden Namen für ultimative Automobile – seien es nun grandiose geschlossene Limousinen, hochelegante Roadster oder hinreißend gestylte Coupes: Duesenberg T J Phaeton, Cord L 29 Phaeton von 1930, Franklin Series 11 Phaeton von 1926,
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Cadillac Series 341 Phaeton von 1928 mit Fisher-Karosserie, Cadillac LaSalle Series 345 Phaeton von 1930, Lincoln 5 K Dual Cowl Phaeton von 1931 oder Packard De Luxe Eight Dual Cowl Phaeton von 1928. Zu welch elitären Gipfeln ein mit dem aristokratischen Attribut Phaeton geadelter Wagen – und nur er – gelangen konnte, demonstriert dabei auf unnachahmliche Weise der Cord L 29 Phaeton. Von ihm steht heute ein Exemplar im „Museum of Modern Art“ in New York als einziges von nur „Zehn Meisterwerken des modernen Industrie-Designs“. Selbst so gegensätzliche Persönlichkeiten wie den sowjetischen Superdiktator Josef Stalin und den legendären britischen Premierminister Winston Churchill verband der Drang zu einem bestimmten Elite-Automobil. Beide ließen sich über lange Jahre hinweg in einem riesigen Packard De Luxe Eight Dual Cowl Phaeton, Baujahr 1928, chauffieren. Angesichts dieser jahrzehntelangen großartigen Phaeton-Tradition im weltweiten Automobilbau der Spitzenklasse überrascht es, dass selbst vermeintliche AutoExperten und zahllose Medienvertreter ein Projekt wie das der Oberklasse-Limousine der Marke Volkswagen lediglich mit der Sage vom griechischen Sonnengott Helios und seinem ungeratenen Sohn Phaëthon in Verbindung zu bringen wussten. Vermutlich ein Indiz für allgemeinen automobilen Kulturverlust.
Von der Wiederkehr des Phaëthon-Mythos in der „Postmoderne“ – mehr als ein mediales Intermezzo? Dirk Schlinkert „Amokfahrt in die Mythologie“ titelte „Spiegel Online“ am 12. Dezember 2001, einen Tag, nachdem der Name „Phaeton“ für die Oberklasselimousine der Marke Volkswagen bekannt gegeben und die Gläserne Manufaktur in Dresden eröffnet worden war. Man habe, so heißt es dort, „nicht so recht bedacht, dass Phaeton, der Leuchtende, als erster Amokfahrer der Welt in die Geschichte einging“. Fünf Tage später räsonierte wiederum ein „Spiegel“-Journalist unter der Headline „Mythisches Crashkid“, „ob nicht der größte und teuerste Volkswagen am Ende dem zweifelhaften Vorbild seines göttlichen Namensgebers folgt“.1 Der „Spiegel“ stand keineswegs allein.2 Eine dichte Serie von Artikeln folgte dem Aufmacher aus Hamburg.3 Der Phaëthon-Mythos erlebte mit dieser Artikelserie ein schlagartiges Comeback auf der öffentlichen Bühne. Die Journalisten verbanden das tragische Scheitern des Heliossohnes mit der Produktstrategie der Marke Volkswagen, die mit dem „Phaeton“ den ersten Schritt in das lukrative Segment der automobilen Oberklasse unternahm. Der „Volkswagen Phaeton“ vollziehe, so die Presse, wie der mythische Held einen Aufstieg in höhere Sphären, begehe eine gefährliche Grenzüberschreitung und steuere sehenden Auges in ein Fiasko. Der archaische Mythos speiste offenbar bestens ein Deutungsmuster mit tragischem Ausgang. Die Presse nutzte die uralte, bis dahin kaum mehr bekannte 1
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Christian Wüst: Mythisches Crashkid, in: Der Spiegel vom 17. Dezember 2001. Für wertvolle Hinweise danke ich Thomas Werner (Berlin), Tillmann Bendikowski (Hamburg) und Manfred Grieger (Wolfsburg). Manager Magazin Online vom 13. Dezember 2001; „Brennender Sonnenwagen“, in: Münchner Merkur vom 15. Dezember 2001; „Schöner Patron!“, in: Focus vom 17. Dezember 2001; Hubert Wolf: „Phaeton – der Urahn aller Amokfahrer“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 2001. „Crash im Himmel. Für die einen ist der Phaeton der erste UnfallChaot, für die anderen der Inbegriff herrschaftlicher Automobile“, in: AutoZeitung vom 19. Dezember 2001. „Phaeton, der nassforsche Halbstarke“ (Hessisch Niedersächsische Allgemeine vom 12. Dezember 2001); „Die neue Schröder-Sänfte“ (Manager Magazin Online vom 12. Dezember 2001); „Phaetons tragisches Ende“ (Freie Presse vom 12. Dezember 2001); „Volkswagens Fauxpas. Der Modellname steht für den ersten Amokfahrer der Weltgeschichte“ (Konrad Adam, in: „Die Welt“ am 13. Dezember 2001). Jost Nolte stellte über seinen Artikel in der „Berliner Morgenpost“ die Schlagzeile „Warum man ein neues Auto nicht Phaeton nennen sollte“. Den Reigen markiger Zitate mag Arne Stuhr aus dem „Manager Magazin Online“ (13. Dezember 2001) beschließen: „Die verhängnisvolle Fahrt des Kanzlerwagens. Bei der Namenswahl griffen die Wolfsburger wohl daneben. In der griechischen Mythologie steht „Phaeton“ nämlich für den größten Verkehrsunfall der Geschichte“.
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Erzählung des Phaëthon, um ihre Artikel kritisch aufzuladen und gegen die Produktlinienerweiterung nach oben des Automobilherstellers aus Wolfsburg auszugestalten.4 Diese Kritik bildete nicht nur die jüngste Hochkonjunktur des Phaëthon-Mythos5; sie war eine Reaktion auf ein mediales Ereignis und ist Produkt eines kommunikativen Prozesses, der seinen Zenit mit der feierlichen Produkttaufe am 11. Dezember 2001 in Dresden erreicht und nach wenigen Tagen überschritten hatte. Dieser kommunikative Prozess vollzog sich in verschiedenen Etappen, die verlässlich Auskunft geben über „postmoderne“ Kontexte und Techniken der Rezeption des Mythos vom tragischen Himmelsstürmer.6 Zwei Ereignisse produzierten im Vorfeld der Namensgebung kräftige Resonanz in den Medien: die Präsentation der Studie „Concept D“ auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt (IAA) ab dem 15. September 1999 und die Veröffentlichung erster Bilder und technischer Informationen zur Oberklasselimousine von Volkswagen Mitte Oktober 2001.7 Erste Kritik wurde laut, als Überlegungen und Planungen zur Markendehnung der Marke Volkswagen an die Öffentlichkeit drangen, und bekam weiteren Aufwind, als das „Concept D“ auf der IAA seine Premiere feierte. Die Design-Studie firmierte bis Januar 2000 unter dem Namen „Concept D“. Wenig später begegnet zum ersten Mal der Modellname „D 1“, der sich schließlich in der Berichterstattung durchsetzte. Stein des Anstoßes war in diesen Monaten weder die Bezeichnung „Concept D“ noch „D 1“, und Spekulationen über einen Modellnamen für die Oberklasselimousine passierten eher beiläufig. Nur zwei Artikel beschäftigten sich überhaupt bis zur Produkttaufe mit dieser Frage – eine verschwindend geringe Zahl angesichts von 206 Artikeln, die sich bis zum 11. Dezember 2001 mit dem Oberklasse-Projekt von Volkswagen beschäftigten. Eine zweite, mediale Welle erzeugten die ersten Fotos der Oberklasselimousine, die zusammen mit technischen Informationen am 11. Oktober 2001 kommu4
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Vgl. Franz-Rudolf Esch/Christian Brunner: Markenhistorie und Markenidentität, in: Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation. Hrsg. von Nicolai O. Herbrand/Stefan Röhrig, Stuttgart 2006, 153–179, S. 170ff. Mit Herfried Münkler und Jan Assmann verstehe ich unter „Mythos“ eine Erzählung, um sich über die eigene Gegenwart Klarheit zu verschaffen, über die Frage, wie und warum das geworden ist, was ist, und wie es in Zukunft weitergehen kann und weitergehen soll. Der Mythos ist ein narratives Deutungsmuster für die Gegenwart und Orientierungshilfe für die Zukunft zugleich. Herfried Münkler: Odysseus und Kassandra. Politik im Mythos, Frankfurt 1990, S. 7ff.; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 52f. Vgl. Stephanie Wodianka: Mythos und Erinnerung, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Hrsg. von Günther Oesterle, Göttingen 2005, S. 211– 230; Riedl, Volker: Literarische Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, Stuttgart 2000, S. 6f.; Renate Schlesier: Mythos, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von C. Wulf, Weinheim 1997, S. 1079ff. Vgl. Dirk Schlinkert: Konjunkturen eines Mythos. Der Weg des Phaëthon in das kulturelle Gedächtnis der Antike und Moderne, in: Dimensionen der Moderne. Hrsg. von Ute Schneider/ Lutz Raphael, Frankfurt 2008, S. 109–127. Empirische Evidenz für diesen Sachverhalt liefert die Analyse eines Samples von 603 Artikeln und Pressemitteilungen aus der Zeit von Februar 1999 bis Ende Mai 2002.
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niziert wurden. Die „Deutsche Presse Agentur“ (dpa) verbreitete die Nachrichten, und am 12. Oktober 2001 erschienen dann Foto und technische Details in der „Bild Zeitung“. In zwei Wochen erschienen 96 Artikel in überregionalen wie regionalen Zeitungen und Fachzeitschriften und trugen Produktfotos und „erste Fakten“ in breite Leserkreise. Eines aber war auch in dieser Phase unbekannt: Wie das neue Auto heißen sollte – ein Coup der Produktkommunikation, um Aufmerksamkeit für ein späteres, mediales Ereignis zu erzeugen: „Der Name der neuen Luxusklasse von Volkswagen“, so hieß es in der Pressemitteilung aus Wolfsburg, „wird gegen Ende des Jahres anlässlich der feierlichen Eröffnung der Gläsernen Manufaktur in Dresden bekannt gegeben“.8 Dieses Mittel entspricht der „Teaser-Technik“, die in der Produktwerbung eingesetzt wird, um die knappe Ressource „Aufmerksamkeit“ zu erhalten und zu steigern.9 Denn Unvollständigkeit produziert Spannung, in diesem Fall durch die Leerstelle des Namens in der Kommunikation für die Oberklasselimousine. Das Rätsel sollte erst zwei Monate später in Dresden gelöst werden. Diese Botschaft fand ihren Niederschlag mehrfach in der Presse: Eine Zeitung sprach sogar in der Schlagzeile vom „Namenlosen“10, eine andere vom „Rätsel aller Rätsel“11- für ungeduldige Neugier und hohe Erwartungshaltungen in der Öffentlichkeit war der Boden bestens bereitet.12 Mit dem Produktionsanlauf des Phaeton vollzog die Marke Volkswagen den Aufstieg in die automobile Oberklasse. Dieses Ereignis wurde mit einem Festakt im „Großen Garten“ in Dresden vor rund 400 Gästen in Szene gesetzt. Prominenz aus Politik und Wirtschaft und Journalisten aus dem In- und Ausland waren gela8
Pressemitteilung vom 12.10.2001: “Das Volkswagen Projekt D1 – Oberklasse in einer zeitgemäßen Dimension“. 9 Friedemann W. Nerdinger: Strategien der Werbung, in: Die Kunst zu werben. Hrsg. von Susanne Bäumler, Köln 1996, 297–307, S. 304f.; Siegfried J. Schmidt: Werbung, in: Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Jürgen Wilke, Wien 1999, 518–544; ders.: Aufmerksamkeit: die Währung der Medien, in: Aufmerksamkeiten. Hrsg. von Aleida Assmann, München 2001, S. 183–196; Georg Franck: Aufmerksamkeit: Die neue Währung?, in: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, Wien 1998, S. 49ff. 10 „Der Namenlose“, in: Berliner Zeitung vom 8. Dezember 2001. Das „Handelsblatt“ sprach am 18. Oktober 2001 von der „ersten noch namenlosen Luxus-Limousine von Volkswagen“ und vom „immer noch namenlosen Projekt D1“. Der Artikel entließ die Leser sogar mit dem Namens-Rätsel: „Der Name des D 1 (…) wird gegen Ende des Jahres im Rahmen der Eröffnung der „gläsernen Fabrik“ in Dresden bekannt gegeben, in der das Auto gebaut wird.“ 11 Frankfurter Rundschau vom 12. Dezember 2001; vgl. Dresdner Morgenpost vom 12. Dezember 2001; Neue Rheinzeitung vom 12. Dezember 2001. 12 Die kreative Wirkungsweise des „Geheimnisses“ und die Stimmungslage im Vorfeld des Produktionsanlaufs beschreibt höchst eindrücklich der Artikel von Hubert Kemper in der „Freien Presse“, der am Samstag vor der Eröffnung der Gläsernen Manufaktur erschien: „Seit beinahe einem Jahr müssen sich die Presseleute bei Volkswagen, die anfangs nicht genug über die Philosophie des neuen Luxuswagens erklären konnten, in beredtem Schweigen mühen. (…) Am Dienstag ist es jedoch soweit: Die Nobelkarossen-Schmiede wird eingeweiht. (…) Spätestens in diesem Moment wird der „D 1“ auch einen ordentlichen Namen haben. Nur eine Handvoll Vorstandsmitglieder, eingeschworen auf Schweigepflicht bis Dienstagmorgen, sind eingeweiht.“ Vgl. Dresdner Zeitung vom 7. Dezember 2001: “Der Countdown läuft.“
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den, einem zweifachen Initiationsakt beizuwohnen: Die „Gläserne Manufaktur Dresden“ startete als Fabrik mit einem für die automobile Welt einzigartigen Produktionskonzept, das industrielle Fertigungsprozesse mit hochwertiger Handarbeit verband. Und das lange bestens gehütete Geheimnis um den Namen wurde – zweiter Akt – in einer Art industrieller Modelltaufe gelüftet. Der Name war Chefsache. Es war dem Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG vorbehalten, die Öffentlichkeit über den künftigen Modellnamen zu informieren, der der neuen Oberklasselimousine eine eindeutige und im Vergleich zu den Wettbewerbern einzigartige Herkunft geben und einen Ursprung definieren sollte, von dem Identität stiftende und Image bildende Traditionslinien bis in die Gegenwart führten. In der Inszenierung der Dresdner Modelltaufe war also der erste Höhepunkt die Rede von Ferdinand Piëch. Der Vorstandsvorsitzende sprach den Namen „Phaeton“ drei Mal in französischer Aussprache aus und erläuterte die Bedeutung und die Provenienz aus der mobilen Tradition: „Der Name stammt aus dem griechischen Mythos. Diesen Namen, der übersetzt der Leuchtende heißt, trug der Sohn des Sonnengottes, der den Sonnenwagen lenken durfte. Im 18. Jahrhundert wurden wettergeschützte Kutschen für Herrenfahrer ebenfalls so genannt (…).“ Dann trat der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ans Rednerpult, und die „Festrede“ – das Finale des Taufaktes – hielt schließlich Bundeskanzler Gerhard Schröder, der als Ministerpräsident von Niedersachsen vom 17. Juli 1990 bis zum 12. November 1996 Mitglied im Aufsichtsrat der Volkswagen AG gewesen war. Der „Autokanzler“ wertete die Produkttaufe in der Gläsernen Manufaktur zum Ereignis von nationaler Bedeutung auf: Dem nach dem Bundespräsidenten höchsten politischen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland kam in den Planungen der Organisatoren die Rolle des „Testimonials“ bei der Eröffnungszeremonie zu, das den Aufstieg der Marke Volkswagen in die Oberklasse und die Taufe der Oberklasselimousine besiegelte – ein hochpolitischer und symbolträchtiger Akt, der die Aufmerksamkeit vieler Journalisten aus Presse, Funk und Fernsehen anzog. Schröder bezog sich in einer frühen Passage seiner Festrede auf den Namen „Volkswagen Phaeton“, als er von seinem Manuskript aufschaute und in freier Rede die Namenswahl auf joviale Art kommentierte: „Ach, ich bleib mal bei D 1“, und später: „Übrigens, wie das erklärt worden ist, ist ein bisschen gefährlich“, direkt an seine Vorredner gerichtet und mit einem Schmunzeln auf den Lippen: „Jedenfalls wenn es in den Fuhrpark des Bundeskanzlers soll. Diese Erklärung mit den Herrenfahrzeugen ist nicht ganz unproblematisch; jedenfalls für mich und für den ein oder anderen auch.“ Des Bundeskanzlers lakonische Bemerkungen schlugen bis in die Schlagzeilen der lokalen wie überregionalen Presse durch: Der Name „Phaeton“ sei dem Kanzler „nicht geheuer“: „Herren-Fahrzeug? Fürs Kanzleramt nicht unproblematisch“, zitierte die „Dresdner Morgenpost“. Schröder habe sich, so Bernhard Honnigfort in der „Frankfurter Rundschau“, „ein paar Frotzeleien nicht verkneifen“ können. Er weigere sich, das neue Auto „Phaeton“ zu nennen und bleibe „lieber beim schönen D 1, wie das Fahrzeug intern bis zu seiner Vergötterung hieß.“13 13 Dresdner Morgenpost vom 12. Dezember 2001; Frankfurter Rundschau vom 12. Dezember
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Schröders Rede löste unter den Journalisten erhebliche Irritationen aus und bewirkte, dass der Name „Phaeton“ in Aussprache und Bedeutung mehr und mehr ins Visier der Kritik kam. Damit geriet der gesamte, mit dem feierlichen Taufakt beabsichtigte Imagetransfer in Gefahr, denn die Presse nahm die Worte des Bundeskanzlers in Dienst für eigene Kommentare: Der „Autokanzler“, das prominenteste „Testimonial“ des Festaktes, wurde herausgelöst aus der beglaubigenden Rolle, die ihm die Organisatoren der Produkttaufe zugedacht hatten, und seinerseits zum Zeugen berufen für ein alternatives Deutungsangebot: Schröder wurde so zum „Testimonial“ und Stichwortgeber einiger Journalisten. Ein Rollentausch wurde vollzogen, den der Bundeskanzler selbst durch seine spontanen Bemerkungen ausgelöst hatte, und der Name „Phaeton“ stand seither auf journalistischer Seite im Fokus der Kritik. Das Programm der Dresdner Taufe nahm ansonsten den erwarteten Verlauf. Die Protagonisten der Feierlichkeit besichtigten vor laufenden Kameras und die Presse in ihrem Tross die Fertigungsanlagen in der Manufaktur und erreichten schließlich einen schwarzen „Volkswagen Phaeton“. Bundeskanzler Schröder stellte sich dem Blitzgewitter der Fotografen vor der neuen Oberklassenlimousine, setzte sich ans Steuer und fuhr ab. Der offizielle Teil einer Produkttaufe war damit beendet, die innerhalb weniger Stunden für erhebliche Furore in der Öffentlichkeit sorgte. Um die heftigen Reaktionen der Presse auf die Namenswahl und die kulturellen Dimensionen dieses industriellen Taufaktes besser zu begreifen, erscheint es sinnvoll, kurz auf die Ausgangslage zurückzublicken und sich auf die Suche nach Spuren und Überresten zu begeben, auf die der Fahrzeugname „Volkswagen Phaeton“ mit seiner Semantik aufsetzte. Der antike Mythos von Phaëthon war nämlich im 20. Jahrhundert in Vergessenheit geraten, und das Wissen um dessen Wurzeln und langen kulturellen Traditionen war mehr und mehr geschwunden. Zwar hatte Phaëthon früh Aufnahme gefunden in den Bestseller antiker Mythen, die Sammlung von Gustav Schwab „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ – erste Auflage 1832. Doch ist es wohl besonders dem Verlust humanistischer Bildung in Deutschland nach 1945 geschuldet, dass der Mythos über Jahrzehnte ein wenig beachtetes Nischendasein in altertumswissenschaftlichen Lexika und Handbüchern fristete.14
2001; vgl. Berliner Zeitung vom 12. Dezember 2001: „Dann sagt er, dass er den Namen „Phaeton“ nicht unproblematisch finde. Die Bezeichnung D 1 sei ihm lieber gewesen.“ (…) „Und handelt sich damit eine kleine Kritik Gerhard Schröders in Dresden ein. Denn ein Herrenfahrer will ein sozialdemokratischer Kanzler nicht sein. Nicht, wenn er einen Volkswagen bestellt hat.“ Der Spiegel vom 17. Dezember 2001: ‚„Ich bleibe bei D 1“, erklärte Schröder.“‘ Focus vom 17. Dezember 2001: „Der Name des neuen VW-Luxusmodells stiftet Verwirrung. Bei der Präsentation sprach der Vorstandsvorsitzende Ferdinand Piëch den Phaeton so aus, dass Bundeskanzler Schröder belustigt fragte: „Hat er jetzt wirklich ‚Feuilleton‘ gesagt?“ 14 Ulrich Reinhardt: Griechische Mythen in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, in: Der antike Mythos und Europa. Hrsg. von Francesca Capelleti, Berlin 1997, S. 190–228; Dirk Schlinkert: Vom Phaëthon zum Volkswagen Phaeton. Mythos, Kutsche, Automobil, in: Die Antike in der Alltagskultur der Gegenwart. Hrsg. von Martin Korenjak, Innsbruck 2007, S.
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In Europa stand der Mythos des Phaëthon im Schatten der „klassischen“, homerischen Helden um Odysseus und Achill. Und zwei kühne Himmelsstürmer hatten dem Heliossohn den Rang abgelaufen: Ikarus und Bellerophon, mythische Figuren, die paradigmatisch die Tragik menschlicher Hybris bezeugen. Sie gelten im antiken Mythos als „junge Wilde“, die – wie Phaëthon auch – aus jugendlichem Übermut zu Grenzgängern wurden, als sie mit von Menschenhand gefertigten Flügeln oder auf geflügeltem Pferd zu hoch hinaus wollten, scheiterten und ihre Tat mit dem tödlichen Sturz vom Himmel bezahlten.15 Der Mythos spielte auch in der Wissenschaft eine nur geringe Rolle und fand selten die Aufmerksamkeit der Forscher. In der Klassischen Philologie ragt die Edition der fragmentarisch erhaltenen Tragödie des Euripides durch James Diggle aus dem Jahr 1970 heraus.16 Hinzu kommen einige Beiträge, die sich aus der Perspektive der Rezeption der „Metamorphosen“ des Ovid dem Phaëthon widmeten, immerhin dem mit 428 Versen längsten Mythos innerhalb der Sammlung.17 In der Kunstgeschichte steht die Dissertation von Brigitte Jacoby aus dem Jahr 1971 allein, eine Monografie über die Ikonografie des Phaëthon-Mythos, die kaum Impulse in der Forschung setzen konnte.18 Gering war das Interesse der Archäologen19 und Kunstwissenschaftler20, gering auch das Interesse zeitgenössischer Künstler und Literaten: Von Picassos Illustration zu Ovid, die 1930 erschien, bis ins Jahr 1993 finden sich vier Belege in der Malerei, sieben Gedichte oder Kurzgeschichten und fünf Belege in Opern oder Musicals. Die letzte Fundsache datiert bei Reids „Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts“ auf das Jahr 198221, also fast 20
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303–314. Zum Niedergang des Wissens um den Mythos in Deutschland nach 1945: Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 17f. Karin Luck-Huyse: Der Traum vom Fliegen in der Antike, Stuttgart 1997, S. 39ff. (Ikarus), 77ff. (Bellerophon). James Diggle: Euripides, Phaeton, Oxford 1970. Siegmar Döpp: Die Tränen von Phaethons Schwestern wurden zu Bernstein, in: Bernstein. Tränen der Götter. Hrsg. von Michael Ganzelewski, Bochum 1996, S. 1–8; Jean Rudhardt: Le mythe de Phaëthon, in: Kernos 10 (1997), S. 83–95. Vgl. Ulrich Schmitzer: Zeitgeschichte in Ovids Metamorphosen, Stuttgart 1990. Den zentralen Rezeptionskanal antiker Mythen, die „Metamorphosen“ Ovids, hat Aby Warburg in unnachahmlicher Manier beschrieben: „Das Problem nach dem Einfluss der Antike hat im Laufe der Jahre natürlicherweise dazu geführt, die Hauptvehikel, auf denen die antike Götterwelt in die europäische einfährt, zu untersuchen. Das Hauptverkehrsbureau für reisende Götter lag offenbar jahrhunderte lang in den Händen der bewährten Firma Publius Ovidius Naso und Epigonen.“ (zit. nach Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 109). Brigitte Jacoby: Studien zur Ikonographie des Phaethonmythos, Bonn 1971. Robert Turcan: Les exégèses allegoriques des sarcophages au Phaéthon, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum, Münster 1982; Paul Zanker: Die mythologischen Sarkophagreliefs als Ausdruck eines neuen Gefühlskultes, in: Sinn (in) der Antike. Hrsg. von Karl-Joachim Hölkeskamp, Mainz 2003, S. 335–355. Vgl. Roland Chevalier : Le mythe de Phaëthon d’Ovides à G. Moreau, in : Colloque Présence d’Ovide, Paris 1982, S. 387–417 und Pierre Maréchaux : Les métamorphoses de Phaëton : étude sur les illustrations d’un mythe à travers les éditions des Métamorphoses d’Ovide de 1484 à 1552, in : Revue de l’art 90 (1990), S. 88–103. Jane D. Reid: The Oxford Guide of Classical Mythology in the Arts 1300 – 1990s, Oxford 1993, S. 888ff.
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Jahre vor dem Ereignis in Dresden. Die Diathek des Mainzer Altertumswissenschaftlers Udo Reinhardt – sie umfasst mehr als 100.000 Motive zur Rezeption antiker Mythen in der modernen Kunst – verzeichnet seit Picasso acht Belege in der Malerei und endet mit einer Installation von Hans Scheib bei einer Ausstellung im Schloss Museum Gotha 1999.22 Phaëthon war am Vorabend der Produkttaufe ein wenig bekannter mythischer Held, ein junger Mann im zweiten Glied; er war in Kunst und Literatur wie in den Altertumswissenschaften eher eine Randfigur, dessen Kenntnis in den weitläufigen Speichern des kulturellen Gedächtnisses bewahrt wurde und still gestellt war. Seine Wiederentdeckung leistete erst der Festakt in Dresden mit der Taufe des „Volkswagen Phaeton“. Eine entscheidende Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Presse-Information zu, die im Kontext der Reden in der Dresdner Manufaktur erschien. Die Presserklärung ‚Projekt D 1 von Volkswagen trägt den Namen „Phaeton“.‘ ist ein Schlüsseltext, der nicht nur die Oberklasselimousine der Marke Volkswagen in historischen Traditionen verankerte, also Identität aus der Geschichte stiftete, sondern neben der Festrede des „Autokanzlers“ auch maßgeblich dafür verantwortlich war, die Lawine der Medienkritik in Gang zu setzten.23 Die offene Flanke der PresseInformation war das Ausblenden des tragischen Endes des mythischen Helden. 24 Die Journalisten spürten es nach kurzer Recherche auf und benutzten es als Hebel, um die Debatte um die Namensgebung „Volkswagen Phaeton“ auf die Tagesordnung zu setzen und ihr in diesem „agenda setting“ einen anderen, gegenläufigen Sinn abzugewinnen.25
22 Vgl. Udo Reinhardt: Ovids Metamorphosen in der modernen Kunst, Bamberg 2001, S. 12ff. 23 Presse-Information vom 11. Dezember 2001: „Bekanntgabe des Namens der Oberklasse-Limousine von Volkswagen. Projekt D 1 von Volkswagen trägt den Namen „Phaeton“. Anläßlich der feierlichen Eröffnung der gläsernen Manufaktur in Dresden wurde heute auch der Name der Oberklasse-Limousine bekannt gegeben, die dort zukünftig in einem einmaligen Produktionskonzept hergestellt wird. Die luxuriöse Limousine, die bisher vor allem unter dem Projektnamen „D 1 von Volkswagen“ bekannt war, wird den Namen „Phaeton“ tragen. Der Name „Phaeton“, der übersetzt auch der „Leuchtende“ heißt, stammt aus der griechischen Mythologie – Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Helios, lenkte den Sonnenwagen. Daran angelehnt wurde der Begriff Phaeton zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Europa für eine populäre Karosserieform verwendet. Diese Fahrzeuge wurde vorzugsweise für Repräsentationszwecke genutzt. Der Name „Phaeton“ nimmt damit ein Thema aus der Antike auf und projiziert dieses in die Zukunft des modernen Automobils. Dieses klassische Thema des Automobilbaus spiegelt sich in der Hochwertigkeit der neuen Oberklasse-Limousine und seines Herstellungsortes wider.“ 24 Vgl. Stefan Heinemann: Grands récits nouveaux. Reflexionen zur Geschichte von Unternehmen und Marken an der Grenze von Philosophie und Ökonomie, in: Herbrand/Röhrig, Bedeutung 87: „Denn auch Sinnstiftung braucht eine korrekte Datenbasis und muss zu einem deutlichen Bild der eigenen Geschichte führen, welches objektiv-wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die Selektion von gewissen Ereignissen ist statthaft im Sinne einer ganzheitlichen Markenführung, darf aber nicht zur Unterschlagung von unangenehmen Punkten werden. Es ist im Gegenteil eine Leistung von großem Wert, die gemeinhin auch entsprechend gewürdigt wird, sich mit den schwierigen Situationen der eigenen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen.“ 25 In der Verwendung des Begriffs „Debatte“ folge ich Klaus Große Kracht: Kritik, Kontroverse,
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Denn rasch sprangen auf den rollenden Zug bundesweit zahlreiche Redakteure auf. Das Echo in der Presse war groß. Die Kommunikation ereichte den Spitzenwert aller Aktivitäten für die Oberklasselimousine: Der 11. Dezember 2001 – ein Dienstag – gehörte den Agenturen und Online-Medien, der 12. Dezember den Tageszeitungen mit 61 Artikeln, von denen immerhin 13 den kritischen Impuls aufnahmen. Die Berichterstattung zog sich über das Wochenende hin und mündete schließlich in zwei Beiträge in den Wochenzeitschriften „Spiegel“ und „Focus“, die am 17. Dezember 2002 zum Wochenbeginn erschienen. In sechs Tagen erreichte die Berichterstattung in Summe 87 Artikel nicht nur in den auflagenstärksten Tageszeitungen oder Magazinen, sondern auch in den führenden Online-Nachrichtendiensten, mithin eine echte Top-Nachricht in deutschen Leitmedien. Die Pressemitteilung hatte den Ball ins Spiel gebracht und fand breites Echo, auch in der Fachpresse. Einige Motorjournalisten nahmen freilich die Namenswahl positiv auf und betonten im Wissen um die Geschichte der Mobilität vor allem die Tradition der Edelkutschen für Selbstfahrer und der Luxusfahrzeuge26, in die die Oberklasselimousine von Volkswagen eintrat.27 In ihrer Sicht war das offenbar eine unproblematische und nachvollziehbare Positionierung der Marke Volkswagen. Die Presse-Agenturen gaben sich sachlich. Am 11. Dezember 2001 meldete dpa: „Die neue Oberklasse von Volkswagen heißt „Phaeton“. (…) Der Name „Phaeton“ stammt aus der griechischen Mythologie und bedeutet „der Leuchtende“. Auch in der Zusammenfassung, die am frühen Nachmittag um 14.15 Uhr über den Ticker lief, war der Name die „top news“: „Nach strenger Geheimhaltung lüftete Volkswagen am Dienstag den Schleier: „Phaeton“ soll die neue Luxuslimousine heißen, mit der die Wolfsburger Autobauer in die automobile Oberklasse aufsteigen wollen.“ Dann folgt ein ausführlicher Bericht über die Limousine und die Dresdner Manufaktur mit folgendem Ende: „Für seine neue Oberklasse suchte sich Europas größter Automobilkonzern mit „Phaeton“ einen Namen aus der griechischen Mythologie. Diesen Namen – übersetzt auch „der Leuchtende“ – trug der Sohn des Sonnengottes, der den Sonnenwagen lenken durfte.“ Die Agentur hatte wesentliche Informationen der Pressemitteilung von Volkswagen in die medialen Verteilungskanäle eingespeist28, ohne die Sachverhalte im Einzelnen auf Hintergründe und Glaubwürdigkeit zu prüfen oder gar zu kommentieren.29 Ganz anders „Der Spiegel“: Die Redaktion des Nachrichtenmagazins verfolgte von dem Augenblick, als der Name bekannt geworden war, eine konsequente Darstellungs- und Bewertungslinie und behandelte dieses Thema in drei Artikeln, die
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Debatte, in: Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft. Hrsg. von Jan Eckel/ Thomas Etzenmüller, Göttingen 2007, S. 262f. FAZ vom 18. Dezember 2001. Peter Klinkenberg: Churchill fuhr einen Phaeton, in: FAZ vom 20. April 2002; ders.: Die Elite der Welt fuhr „Doppel-Phaeton“, in: Nürnberger Nachrichten vom 11. Mai 2002; Heinz Horrmann: Jungfernfahrt, schwebend, in: Die Welt vom 24. Mai 2002; vgl. Phaeton-Start: Fachpresse verteilt sehr gute Noten, in: Wolfsburger Allgemeine Zeitung vom 28. Mai 2002. Vgl. Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 12. Dezember 2001; Neue Rhein Zeitung Düsseldorf vom 12. Dezember 2001 und Generalanzeiger vom 12. Dezember 2001. In diesem Stil berichteten am 12. Dezember auch die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“.
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dicht aufeinander folgten: Es begann mit dem Online-Beitrag „Die Kutsche aus dem Glashaus“ am Nachmittag des 11. Dezember 2001, tags darauf wiederum über das Internetportal Jürgen Pander mit „Amokfahrt in die Mythologie“ und schließlich in der Montagsausgabe ein Einseiter von Christian Wüst unter der Schlagzeile „Mythisches Crashkid“. Der Artikel „Die Kutsche aus dem Glashaus“ erschien etwa zeitgleich mit der dpa-Meldung und enthielt erste kritische Untertöne. Die Journalisten waren wohl im hauseigenen Archiv auf die Erzählung des Phaëthon-Mythos gestoßen und informierten ihre Leser bereits in den ersten Sätzen über das, was die Pressemitteilung ausgespart hatte: „Phaëton heißt in der griechischen Mythologie der Sohn des Sonnengottes Helios. Der lenkte den Sonnenwagen seines Vaters so ungeschickt, dass er die Erde in Brand setzte – und prompt von Zeus bestraft wurde“. Nur zwei Sätze, die in griffiger Form aus dem mythischen Erzählstoff wenige Kernelemente herauszogen und zu einem neuen Bild verdichteten30: der Sohn eines Gottes, der unfähig, den Sonnenwagen zu steuern, die Erde in Gefahr brachte und für sein Fehlverhalten von Göttervater Zeus zur Rechenschaft gezogen wurde. Bei dieser Deutung fehlte es nicht an bissiger Ironie. Doch war die Kritik noch wenig explizit, was sich allerdings am nächsten Tag gründlich änderte, als ein Phaeton, der als „erster Amokfahrer der Welt in die Geschichte einging“, in der Hamburger Redaktion geboren wurde. Die Namenswahl wurde wiederum als „TopThema“ ins Visier genommen und als kurioser Rekurs auf die Antike karikiert – gebündelt in der Schlagzeile „Amokfahrt in die Mythologie“. Die Spiegel-Redaktion reagierte auf die Pressemitteilung von Volkswagen mit einer Art von Gegendarstellung in ironisch-polemischem Jargon; sie unterfütterte ihre Deutung mit wirkungsvollen Bildern („Amokfahrt, erster Amokfahrer der Welt, Zeus als oberster Himmelspolizist und Verkehrshüter“) und persiflierte eine Vorstandssitzung, in der die Namenswahl auf „Phaeton“ gefallen sein soll31: Spekulation, Imaginationskraft 30 In der Dresdner Morgenpost informiert die Redakteurin Petra Siemon die Leser am 12. Dezember 2001 sachlich und ausführlich über den „Phaeton – Sohn des Sonnengottes“ und liefert eine Version des Mythos, der deutlich mehr erzählerische Elemente aufweist als die Darstellung des Spiegel-Reporters. Der Artikel verbindet die Informationen der Pressemitteilung mit einer sehr detailgetreuen Zusammenfassung der mythischen Erzählung Ovids: „Der Name „Phaeton“ stammt aus der griechischen Mythologie. So hieß der Sohn des Sonnengottes Helios und der Nymphe Klymene. Nach der Überlieferung des Dichters Ovid hatte Helios dem Knaben erlaubt, für einen Tag den goldenen Triumphwagen zu steuern. Doch der junge Phaeton verlor die Gewalt über die feurigen Rosse. Er geriet aus der Sonnenbahn und verursachte auf der Erde einen gewaltigen Brand. Zur Strafe erschlug Göttervater Zeus ihn mit einem Blitz. Der brennende Phaeton stürzte in den Eridanos (alter griechischer Name des Po). Seine Schwestern, die Heliaden, wurden am Ufer in Pappeln verwandelt.“ Ebenfalls ein sachliches und ausgewogenes Referat des Mythos nach Ovid liefert der Artikel „Brennender Sonnenwagen“, in: Münchner Merkur vom 15. Dezember 2001. 31 Spiegel Online vom 12. Dezember 2001: „So dachten wohl auch die Verantwortlichen bei VW, als es darum ging, die erste Oberklasse-Limousine der Marke zu benennen. Bisher hieß der Wagen nur D 1. Irgendwann, nach stundenlanger, ergebnisloser Diskussion, muss einer der Anwesenden wohl zum Mythologie-Lexikon gegriffen und schließlich den Buchstaben „P“ aufgeschlagen haben. „Phaeton, der Leuchtende“ stand da zu lesen. Wunderbar, das passt! Leider hat offenbar niemand weitergelesen. Es war ja auch schon spät.“
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und Phantasie speisten auf humorvolle, unterhaltsame Weise ein suggestives Bild in die Köpfe der Leser ein, das die Kritik am Namen in eine Kritik an den Top-Managern in der Wolfsburger Konzernzentrale ummünzte.32 Darüber hinaus rührte die so erschaffene „Spiegel“-Version des mythischen „Amokfahrers“ an die aus der Geschichte gewonnenen, semantischen Botenstoffe, die in der Gläsernen Manufaktur auf die Limousine übertragen werden sollten. Die Aktualisierung des antiken Mythos schritt zeitnah zur Produkttaufe weiter voran und schlug jetzt eine eigene Richtung ein, und zwar durch eine bemerkenswerte und höchst eigenwillige Rezeption Ovids: „Der Dichter Ovid berichtet in seinen „Metamorphosen“ vom Sonnengott Helios, der jeden Tag von feurigen Rössern gezogenen Sonnenwagen über den Himmel fuhr. Phaeton, sein Sohn, lag seinem Vater jeden Morgen in den Ohren, doch ihm einmal die Zügel zu überlassen.“ Wer um die Erzählung der „Metamorphosen“ weiß, wird an dieser Stelle aufmerken und feststellen, dass der Spiegel-Journalist nicht allein die Autorität des Ovid bemühte. Ganz im Gegenteil: Er stützte sich, womöglich gerüstet mit Schwabs „Schönsten Sagen“, auf eine ganze Schar von Kronzeugen. Eine Vielzahl antiker Autoren erfüllte offenbar ihre Rolle als Materiallieferanten und Stichwortgeber: Ovid und Nonnos, dazu kommen Spuren von Platon, Diodor, Seneca und Lucian. Diese Aktualisierung erfolgte nach dem Prinzip der Auswahl und der Vermischung von „Quellen“, deren Urheber mit der Ausnahme Ovids anonym bleiben. Und es spielte für den Journalisten keine Rolle, dass Ovid in seiner Erzählung vom Phaëthon eine Vielzahl älterer Versionen dieses archaischen Mythos verarbeitete und in seinem Sinne umformte.33 Allein die Referenz auf dessen Autorität zählte, dessen Autorität als kanonischer Autor des Phaëthon-Mythos. Doch hat der mythische „Amokfahrer“ bei genauerem Hinsehen mehr als nur den einen literarischen Vater. Um eine schlüssige, passförmige Erzählung zu erzeugen, nahm die „Spiegel“Variante zwar Anleihen bei Ovid, hat aber auch unterschiedliche und zuweilen widersprüchliche Stränge antiker Erzählungen verbunden und neu geformt. Dazu zwei Beispiele: Phaëthon habe, so heißt es im „Spiegel“, seinem Vater „jeden Morgen in den Ohren gelegen, ihm einmal die Zügel zu überlassen“. Davon findet sich in Ovids „Metamorphosen“, dem einzigen Informanten, auf den sich der Hamburger Redakteur beruft, keine Spur. Nonnos, der spätantike Epiker (um 450 n. Chr.), könnte vielleicht die Referenz dieser Stelle gewesen sein.34 Und auch über das Kernmotiv der poetischen Erzählung Ovids findet sich kein Wort: Phaëthon fordert 32 Vgl. Handelsblatt vom 12. Dezember 2001: „Der Phaeton soll Geschichte schreiben. Die Geschichte des griechischen Phaeton haben die Automanager wohl nicht gelesen.“; Auto Zeitung vom 19. Dezember 2001: „Nun wirft alle Welt VW vor, die Sage nicht zu Ende gelesen zu haben.“ 33 Vgl. Siegmar Döpp: Die Tränen von Phaethons Schwestern wurden zu Bernstein. Der PhaethonMythos in Ovids „Metamorphosen“, in: Bernstein. Hrsg. von Michael Ganzelewski, Bochum 1996, 1–8. 34 Nonnos, Diony. 38,103ff.: „(…) Rasend beherrschte der Drang ihn, die Pferde zu lenken. Er setzte sich auf die Knie des Vaters und flehte mit tränenden Augen, Flammengefährt und Himmelsgespann selbst lenken zu dürfen. Aber der Vater erlaubte es nicht. Da flehte der Jüngling inniger noch.“ Vgl. Schlinkert, Konjunkturen 121ff.
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von seinem Vater Helios einen Herkunftsnachweis, also eine Art „Vaterschaftstest“, dem sich der Sonnengott nicht entziehen kann, weil er sich eidlich dem Sohn verpflichtet hat. Der Eid ist selbst für den Gott bindend und erzwingt die Zustimmung des Vaters, so dass ein nerviges Lamentieren des Gottessohnes, von dem im „Spiegel“ die Rede ist, in dieser Erzählung keinen Sinn hat. Die Fahrt mit dem Sonnenwagen ist bei Ovid ein Mittel zum Zweck, das allein dazu dient, die Genealogie des jungen Phaëthon zu begründen und zu beweisen.35 Der Sonnenwagen, das „Gefährt“, sei – so der Autor des „Amokfahrers“ weiter – „in der Nähe des Äquators brennend zur Erde gestürzt“. Der Fokus hat sich an dieser Stelle spürbar verschoben, denn nicht mehr der Wagenlenker, sondern der Wagen spielt nun die tragende Rolle. Alles scheint auf einen einzigen Sinneffekt hinauszulaufen: den Sturz des Wagens. Vom Tod des Phaëthon erfahren wir zunächst nichts. Was aus dem jungen Fahrer – die Leitfigur Ovids – geworden ist, wird in der „Spiegel“-Variante eng verknüpft mit dem Sturz des Wagens, der zum alles überragenden Thema der journalistischen Deutung wird. Dieser Perspektivwechsel ist höchst bemerkenswert, da der „Kronzeuge“ Ovid den Wagen in seiner dramatischen Erzählung allenfalls beiläufig erwähnt, aber sehr detailreich und in etlichen Versen die Situation seines Helden schildert: Der Lenker des Wagens stürzt vom Blitz des Zeus getroffen leblos in die Tiefe, die Pferde brechen aus und sprengen auseinander, der Wagen ist zertrümmert. Phaëthon fällt wie ein Feuerball oder eine Sternschnuppe in den Fluss Eridanos, wird begraben und betrauert vom Vater, den Schwestern und dem Freund Cygnus. Ovid, der augusteische Dichter, richtete sein Augenmerk beinahe ausschließlich auf die Person des Phaëthon und dessen Scheitern aus Hybris. Diametral anders jedoch hatte der Hamburger Journalist entschieden: Er rückte den Absturz des Sonnenwagens durch eine Gleichsetzung von Person und Fahrzeug in die Mitte des Geschehens, offenbar um eine Verbindung zum „Volkswagen Phaeton“ zu bewahren, und übertrug so das tragische Scheitern durch die Technik der Überblendung von der Person auf das Fahrzeug. Es handelt sich um den geschickten Einsatz der rhetorischen Figur der Metonymie, die eine Fusion von Person und Fahrzeug erzeugte. Aber der „Spiegel“-Journalist hatte die Geschichte nicht bis zu Ende gelesen und seinem „Kronzeugen“ nicht lange genug zugehört: Denn bei Ovid müssen, um die Ordnung der Welt nach der Katastrophe wieder herzustellen, der Wagen repariert, die Rösser eingefangen werden und zu Helios zurückkehren. Wie das im einzelnen passiert, erzählt Ovid ausführlich in der Episode, als Zeus den trauernden Sonnengott mit guten Worten und massiver Drohgebärde überzeugen muss, seiner ureigensten Aufgabe nachzugehen, damit die Sonne am nächsten Morgen wieder aufgeht.36 Eine weitere Technik wird bei der Analyse anderer Presseartikel deutlich, die sich in der Ergänzung oder Erfindung von Textteilen zeigt, die überhaupt keine Grundlage in antiken Mythenerzählungen besitzen: So berichtet beispielsweise kein antiker Autor, Phaëthon, der „stolze Sohn des Sonnengottes“, sei „verglüht“ 35 Ovid, met. 2, 42ff.; Schlinkert, Phaëthon 306ff.; Schlinkert, Konjunkturen 115ff. 36 Ovid, met. 2, 381ff.
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(Handelsblatt), sei seinem Vater, dem Sonnengott, „in die Arme gefallen“ (Berliner Morgenpost), habe ihm den Sonnenwagen „abgeschwatzt“ (Handelsblatt) und sei „mit einem Himmelskörper kollidiert“ (Die Welt); ja Phaëthon begegnet sogar in der „Hessisch Allgemeinen Zeitung“ als „Sohn des Sonnengottes Apollo“. Es scheint, dass Zeugenaussagen aus der Antike ohne Rücksicht auf Raum, Ort, Autoren und historische Kontexte kombiniert und zu einer Text-Mixtur geformt wurden, die dem Leser eine originelle, eingängige und durch den klassischen Mythos „geheiligte“ Deutung der Situation mit einem Ausblick in die Zukunft präsentieren sollte37: Das tragische Scheitern wurde als kulturelles Handlungsmuster von der Figur des mythischen Helden abgeleitet und auf den „Volkswagen Phaeton“ übertragen, und zwar als ein tragisches exemplum, das sich mit dem Anspruch auf Anerkennung, Verbindlichkeit und Gültigkeit getreu der wohl bekannten Devise „nomen est omen“ in den kommenden Monaten und Jahren geradezu unausweichlich wiederholen würde. Der Mythos aus der Feder des Journalisten lieferte dem Leser eine Diagnose der Gegenwart wie auch eine Prognose für die Zukunft. Ob bei dieser Vermittlungsarbeit die gewohnten journalistischen Standards – die antiken Autoren scheinen ja bisweilen in einem „Zeugenschutzprogramm“ zu leben – hinreichend beachtet wurden, darf bezweifelt werden. Die Alternative zum Deutungsangebot, das Volkswagen bei der Dresdner Produkttaufe vorgelegt hatte, war jedenfalls konstruiert und in auflagenstarken Tages- und Wochenzeitungen und in Online-Medien kommuniziert. Zwei Textvarianten eines Mythos, die in Sprache, Inhalt und Zielrichtung kaum gegensätzlicher hätten sein können, standen nun als narrative Deutungsangebote im Widerstreit in öffentlicher Arena: „Volkswagen Phaeton“ versus „Spiegel Phaeton“. Kreativität, Phantasie, sprachliche Anpassung und Konstruktionswillen prägten die Aneignung des Mythos durch den „Spiegel“-Redakteur (und andere Journalisten)38, und die Erzählung setzt sich in diesen Bauweisen fort: „Eines Tages gab Helios nach – eine verhängnisvolle Entscheidung. Phaeton gingen die Pferde durch, ESP gab es damals noch nicht. So schleuderte der Sonnenwagen wie wild aus der Spur. (…) Und was tat Göttervater Zeus, sozusagen oberster Himmelspolizist und Verkehrshüter? Er blitze den rasenden Halbgott vom Firmament und ließ in an der Mündung des Eridanos, heute ist der Fluss unter dem Namen Po bekannt, ins Meer stürzen.“39 37 Vgl. die beiden Sätze, mit denen Adam, „VWs Fauxpas“ seine Leser entläßt: „Mythische Namenspatrone haben es offenbar in sich. Sie bringen auch denen Unglück, die nichts mehr von ihnen wissen.“ 38 Auch Hubert Kemper ließ sich in seinem Beitrag „Phaetons tragisches Ende“ für die Freie Presse vom 12. Dezember 2001 von diesem Prinzipien leiten: „Phaeton, der Sohn des griechischen Sonnengottes, endete tragisch. Er stürzte ins Meer, weil er waghalsiger als sein Vater, den Sonnenwagen steuerte und der Erde zu nahe kam.“ Auffällig ist, dass der Leser nicht darüber unterrichtet wird, worin das „tragische Ende“ bestand, ein blinder Fleck in der Mythosrezeption, der die enorme Wirkung der subjektiven Auswahl der verfügbaren Informationen verdeutlicht. Zur Technik des „Bastelns“ am Mythos vgl. Münkler, Deutschen, S 22f. 39 Arne Suhr (Manager Magazin Online vom 13. Dezember 2001) zitierte einiges sogar wörtlich aus dem Text seines Hamburger Kollegen Pander: „Laut der Sage ist Phaeton der Sohn des Sonnengottes Helios. Dieser Helios lenkte jeden Tag den von vier feurigen Rössern gezogenen
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Wieder waren Techniken der kreativen Rezeption am Werke, als der Mythos des Phaëthon jetzt auf eine deutlich breitere inhaltliche Basis gestellt wurde: Der archaische Mythos erhielt ein markantes Profil, dessen Züge und Merkmale fortan wieder und wieder begegnen. Der Text in „Spiegel Online“ wurde in der schreibenden Zunft rasch kanonisch und avancierte zu einem „Leitartikel“40 – ein Prozess, der sicher auf den Tatbestand zurückzuführen ist, dass Journalisten selbst zu den eifrigsten Konsumenten der Leitmedien gehören und eine „in-group-Orientierung“ besitzen, die stärker ist als bei anderen Berufsgruppen.41 Journalisten wandten sich dem Gegenstand nun mit auf diese Weise gespitzen Federn zu und warteten auf der Suche nach Originalität zusätzlich mit markigen Formulierungen, phantasiereichen Bildern oder mit mehr oder weniger gelehrten Einlassungen und Erweiterungen auf.42 Sonnenwagen über den Himmel. Eines Tages soll er dem Bitten seines Filius nachgegeben und ihm die Zügel des Gespanns überlassen haben. Leider gingen Phaeton die Pferde durch und ESP und ABS gab es damals noch nicht. Der Sonnenwagen geriet von der Bahn, stürzte und riss einen Schlitz in den Himmel, aus dem angeblich die Milchstraße wurde. Er selbst fiel brennend auf die Erde.“ 40 Jürgen Pander, „Amokfahrt in die Mythologie“, in: Spiegel Online am 12. Dezember 2001. Vgl. den Artikel von Hubert Wolf mit dem Titel „Phaeton – der Urahn aller Amokfahrer“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 2001), der im Stile einer Kompilation die Summe aus der bisherigen Berichterstattung zieht: „Denn Phaeton ist der Urahn aller Amokfahrer. Der Sohn des Sonnengottes Helios und der Nymphe Klymene. Er leiht sich Vaters Sonnenwagen und fährt ihn zu Schrott, was in der Konstellation „Papa, leih mir mal kurz dein Auto“, ja gern geschieht. Die Pferde gehen durch, die Erde entzündet sich, der Himmel reißt auf … Phaeton, ein Crash-Kid der Antike. Ein Symbol der Selbstüberschätzung.“ Nach vergleichbarem Muster die „Wirtschaftswoche“ am 20. Dezember 2001: „Dumm, dass Piëch die Geschichte von Phaeton offenbar nicht kannte. Tatsächlich war Phaeton der erste himmlische Crashpilot. Der lieh sich von seinem Vater Helios zunächst dessen Sonnenwagen aus, brauste damit wie ein besengter am Firmament entlang und stürzte schließlich in Äquatornähe ab und verglühte.“ Die „Auto Zeitung“ titelte am 19. Dezember 2001: „Crash im Himmel. Für die einen ist Phaeton der erste Unfall-Chaot, für die anderen der Inbegriff herrschaftlicher Automobile“. 41 Wolfgang Bergsdorf: Die Macht der Medien, in: Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Hrsg. von Klaus Hildebrandt, München 2008, S. 719–729. 42 Rudolf Heise, „Phaeton, der nassforsche Halbstarke“, in: Hessische Niedersächsische Allgemeine vom 12. Dezember 2001: „Namen Schall und Rauch? Seine neue Edelkarosse benennt VW nach einer Figur der griechischen Mythologie. Phaeton, der Sohn des Sonnengottes Apollo (sic!), hatte so lange darum gebettelt, einmal den Sonnenwagen lenken zu dürfen, bis sein Vater es zähneknirschend erlaubte. Es kam, wie es kommen musste: Phaeton verlor die Gewalt über den Wagen und hätte beinahe die ganze Welt in Brand gesetzt, wenn Zeus nicht eingegriffen hätte. Wir wünschen dem neuen Phaeton jedenfalls gute Fahrt ….“. In der „Welt“ hieß es: „Eine tragische Tour: Nach der Kollision mit einem Himmelskörper geriet das Fahrzeug aus der Bahn. Städte und Länder fielen dem Unfall zum Opfer“ („Der Nobel-Volkswagen heiß „Phaeton“, in: Die Welt vom 12. Dezember 2001). Bemerkenswert in dieser Version des Mythos sind die „Kollision mit einem Himmelskörper“ wie der „Unfall“, der die Erzählung beenden soll. Kein Wort über den Tod des jungen Wagenlenkers durch einen Blitz des Zeus, den Sturz in den Eridanus oder über die Trauer der Heliaden. Der Leser wird über den Ausgang der „tragischen Tour“ gänzlich im Unklaren gelassen wie auch über die Referenzen, derer sich der Redakteur „UM“ bedient hat. Im „Handelsblatt“ vom 12. Dezember 2001: „Der Himmelstür-
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Das Trema im Namen des mythischen Helden wurde ebenso zum Thema wie Aussprache oder Schreibweise.43 Die Journalisten recherchierten beharrlich weiter, gewannen dem Mythos immer neue Facetten ab und kombinierten ihn mit Verarbeitungen in der Kunst – der „Focus“ illustrierte den Zwölfzeiler „Schöner Patron!“ mit der Nachricht vom „ersten Totalschaden der Weltgeschichte“ mit einem Gemälde von Joseph Heintz d. Älteren.44 Auch berühmte, literarische Vorbilder wurden bemüht: Morten Kansteiner zitierte aus „Romeo und Julia“ und aus Ovids Verwandlungssagen in der „Frankfurter Rundschau“45; andere nahmen Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ zur Hand, um die Geschichte des „Himmelsstürmers“ zu erzählen, der seinem Vater „den großen Sonnenwagen abschwatzte“.46 Um den mythischen Kern, den der „Spiegel“ entdeckt und in eigener Diktion ausformuliert hatte, hatte sich in wenigen Tagen ein bunter Strauß von Geschichten entfaltet, bevor am 17. Dezember 2001, also fast eine Woche nach dem medialen Großereignis in Dresden, sich das Hamburger Magazin des Themas ein letztes Mal annahm. Kronzeuge war auch hier Ovid: „In den „Metamorphosen“ nämlich nimmt Phaeton die Rolle eines mythischen Crashkids ein. Seine Geschichte kündet von einem missglückten Höhenflug: Der ungestüme Jüngling schwatz seinem Vater Helios den Sonnenwagen ab. Doch beim wilden Himmelsritt verliert er die Kontrolle
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mer, der seinem Vater, dem Sonnengott, den großen Sonnenwagen abschwatzte“. Vgl. Adam, VW’s Fauxpas, der das Motiv vom „ersten Amokfahrer der Weltgeschichte“ in der Schlagzeile wiederholt. Arne Stuhr berichtete im „Manager Magazin Online“ (13. Dezember 2001) von „der verhängnisvollen Fahrt des Kanzlerwagens“ und von „Phaeton“, „der für den größten Verkehrsunfall der Weltgeschichte“ stehe. Jost Nolte klärt unter der Headline „Warum man ein neues Auto nicht Phaeton nennen sollte“ die Leser der „Berliner Morgenpost“ am 13. Dezember 2001 über Aussprache und Orthografie auf und referiert dann ausführlich den Mythos offenbar unter Lektüre der Erzählung Ovids. Die Aneignung Ovids erfolgt in einer Vielzahl von Details unter Abweichung vom Original. So begegnet beispielsweise „Kykonos, König in Ligurien“, der Phaeton betrauerte (gemeint ist natürlich Cygnus), und „Epaphos“ soll Phaeton herausgefordert haben mit dem „Scherz“, er sei „der Sprössling irgendeines hergelaufenen Liebhabers seiner Mutter“ oder Phaeton soll seinen Vater, den Sonnengott, sogar umarmt haben: „Sie fielen einander in die Arme“ – alles Elemente einer Erzählung, die man nur hier, aber nicht beim antiken Gewährsmann Ovid lesen kann. Im Übrigen erwähnt der Artikel mit keiner Silbe die mobilen Traditionen der Kutschen und Automobile, in die sich der „Volkswagen Phaeton“ mit der Produkttaufe einreihte. Focus vom 17. Dezember 2001. Morten Kansteiner, „Wagenlenker“, in: Frankfurter Rundschau vom 14. Dezember 2001. Kansteiners „Moral von der Geschicht“ am Ende des Artikels spricht für sich und verdient die rote Laterne der gesamten Pressekampagne um den Namen „Volkswagen Phaeton“: „Phaeton war im Po. Niemand möchte seinem Namensvetter aus dem Hause VW Vergleichbares wünschen.“ Vanessa Liertz, Stefan Winter, „Erst der Zwinger, dann die Fabrik“, in: Handelsblatt vom 12. Dezember 2001. Der Artikel schließt: „Wie erwartet, ist der Junge mit dem Steuern des Sonnenwagens überfordert. Das Prunkfahrzeug fliegt aus der Kurve, der stolze Sohn des Sonnengottes verglüht jämmerlich. Und Phöbos (sic!), der Vater, der dies alles mit ansehen musste, verhüllte sein Haupt in brütender Trauer‘“. Dass der mythische Held „jämmerlich verglüht“ ist ein Produkt der Phantasie der beiden Redakteure, die keine Referenz in antiken Texten besitzt.
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über die Rosse und setzt Himmel und Erde in Brand. Chefgott Zeus beendet den Horrortrip durch einen finalen Rettungsschuss. Er tötet Phaeton, den „Leuchtenden“, mit einem Blitz.“ Aus dem „ersten Amokfahrer der Weltgeschichte“ wurde fünf Tage später das „Mythische Crashkid“.47 Die exemplarische Bedeutung des Mythos wurde ins Feld geführt, die Oberklassestrategie von Volkswagen zu hinterleuchten und ihr wenig Aussicht auf Erfolg zu prophezeien: „So ist noch keineswegs gewiss, ob nicht der größte und teuerste Volkswagen am Ende dem zweifelhaften Vorbild seines göttlichen Namensgebers folgt.“ Der antike Mythos verband also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als Deutungsressource für eine kritische Diagnose der damaligen Situation wie eo tempore für eine pessimistische Prognose dessen, was sich bei der Produkttaufe bei der Eröffnung der Gläsernen Manufaktur in Dresden ereignet hatte. Die zitierten Artikel der Pressekampagne vom Dezember 2001 ergeben eine bizarre Mischung, die in der Rückschau nachdenklich stimmt über die Medien in ihrer Rolle und Funktion als „gatekeeper der öffentlichen Meinung“48: Der „Fall Phaeton“ bestätigt Beobachtungen, die unlängst der Politologe Wolfgang Bergsdorf in Bezug auf das Feld der „politischen Kommunikation“ in die zeithistorische Diskussion einbrachte: „Was sie (sc. die Medien) der Öffentlichkeit nahe bringen, sind nicht nur Sachverhalte, sondern oft Meinungen über Sachverhalte, sind nicht nur Daten und Fakten, sondern oft sozusagen ausgedünnte, gefilterte Informationen darüber. Informationen in diesem Sinne geben nur einen teilweisen Befund, sie nehmen – bewusst oder unbewusst, vorsätzlich oder fahrlässig – die subjektive Sicht für die objektiven Sach- und Problemzusammenhänge.“49 Vieles scheint sich mit den hellsichtigen Beobachtungen zu decken, die Laura Matthews im ersten Kapitel ihres kürzlich erschienenen Kinderbuchs „Ein Hund fürs Leben“ dem jungen John in den Mund legt. Das einschlägige Kapitel trägt den Titel „Wahrheit und Lüge“: „Ihr habt bestimmt davon gehört, aber Zeitungsleute erzählen immer alles falsch. (…) Manchmal machen sie einfach nur Fehler, aber meistens erzählen sie eine Geschichte eben so, wie sie sie erzählen wollen, oder so, wie andere sie hören wollen. Ich dachte darüber nach und merkte, dass es stimmte. Auf jeden Fall gefällt den Leuten immer die verrückteste von allen Geschichten am besten, zumindest solange sie sie glauben können. (…) Manchmal muss man den Leuten eben einfach erzählen, was sie hören wollen.“50 Das Pendel schlug bald zurück. Mit der Zeit verstummte die Kritik und mit der Weltpremiere des „Volkswagen Phaeton“ auf dem Genfer Automobilsalon im März 2002 und der Markteinführung mit Welthändlertreffen und den Testfahrten, die im Mai und Juni 2002 stattfanden, war sie praktisch beendet. In 128 vor dem 1. März veröffentlichten Artikeln wird der Name noch von knapp einem Viertel negativ erwähnt; in 207 Artikeln der kommenden drei Monate nur noch elf Mal. Das Ruder hatte sich in sechs Monaten gewendet, und seither herrscht Stille um den Namen. 47 48 49 50
Wüst, Crashkid, in: Spiegel vom 17. Dezember 2001. Goße Kracht, Kritik S. 263. Bergsdorf, Macht S. 721. Laura S. Matthews: Ein Hund fürs Leben, Hamburg 2007, Zitate S. 7, 11.
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Der Mythos scheint wieder der Vergessenheit anheim gefallen zu sein, wohl ein deutlicher Hinweis auf die geringe Halbwertzeit von Nachrichten und das kurzatmige Gedächtnis der Medien zwischen verantwortlicher Vermittlertätigkeit und kommerziellen Interessen. Die Marke Volkswagen verband bei der feierlichen Eröffnung der Gläsernen Manufaktur in Dresden mit der Bezeichnung „Phaeton“ ihre Ursprünge im exklusiven Fahrzeugbau mit einem der ältesten Mythen der europäischen Kultur. Vehikel der rituellen Taufe waren die Reden und die Pressemitteilung, die dem Newcomer im Segment der Oberklasse den Namen gaben. Eine weitere Traditionslinie – und damit die zweite Energiequelle des Namens – bildeten Bausteine aus der mobilen Tradition, also der Kutschenbau und die Karosserieformen in frühen Automobilen.51 Das Prinzip der Auswahl steuerte diesen Akt der Namensgebung, und die Geschichte bildete das symbolische Kapital, um die Reputation der neuen Oberklasselimousine zu formen und aufzuladen. Pressemitteilung und Reden wirkten bei diesem Transfer wie feinporige Filter, die die Geschichte auf wenige Aspekte fokussierten. Mit dem archaischen Mythos, der den Namen spendete, mit dem Kutschenbau und dem frühen Automobilbau, die Mobilität, Exklusivität und Fortschritt verbürgten, wurden Stoffe aus dem Reservoir der Geschichte gehoben, angeeignet und in ein neues, semantisches Netz eingewoben. Eine lange Tradition von der Antike bis in die Gegenwart wurde im Sinne eines automobilen Stammbaums konstruiert, der dem „Volkswagen Phaeton“ in Dresden in die Wiege gelegt wurde. Die Geschichte barg das genealogische Erbgut, das der Oberklasselimousine von Volkswagen Ursprung und Herkunft gab und deren Image vor allem im Unterschied zu den Wettbewerbern im Markt profilieren und dauerhaft für die Zukunft stabilisieren sollte – ein veritabler Akt der Sinn-Produktion aus historischen Traditionen und ihrer Implementierung im kommunikativen Gedächtnis. Dieser Akt der Sinnstiftung provozierte massiven Widerspruch in der Presse, die ein kritisches Deutungsangebot produzierte und in breite Kreise der Öffentlichkeit trug. Stoff des Gegenentwurfs war der antike Mythos in den Lesarten „Amokfahrer“ und „mythisches Crashkid“, ein von Journalisten und Redaktionen konstruiertes „Gegen-Sinnangebot“, das einen mehr oder weniger kontrovers ausgetragenen Meinungsstreit eröffnete und eindrucksvoll von einer „diskursiv vitalen Öffentlichkeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft der „Postmoderne“ zeugt.52 Die medialen Ereignisse nach der Markteinführung des „Volkswagen Phaeton“ im Dezember 2001 belegen beispielhaft die kulturelle Schlagkraft eines archaischen Mythos. In „Moderne“ wie „Postmoderne“ hat der Mythos seine zumindest reflexive Bedeutung bewahrt. Er ist nach wie vor ein Medium, das gegenüber Geschichte und Vergessen widerständig ist, da er in der Lage ist, aus den Speichern des kulturellen Gedächtnisses wiederzukehren, wenn er durch Impulse der Gegenwart angestoßen wird. So kennzeichnet den Phaëthon-Mythos im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Zustand der Latenz, der mit der Fahrzeug-Taufe in der 51 Schlinkert, Konjunkturen 124ff. 52 Jürgen Habermas, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Mai 2007, S. 13. Zum Begriff „Postmoderne“: Hermann W. van der Dunk: Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2000, Bd. 2, S. 578ff.
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Gläsernen Manufaktur in Dresden ein vorläufiges Ende fand, als der „Volkswagen Phaeton“ antrat, das Erbe des Phaëthon-Mythos und der Fahrzeuge vom Typ „Phaeton“ in Anspruch zu nehmen: Phaëthon wurde im Dezember 2001 von einer lange vergessenen Randfigur im Kosmos antiker Mythen zum „Referenzobjekt“ von Unternehmen und Medien und belegt durch seine Wiederkehr nachdrücklich die „paradigmatische“ Qualität des griechischen Mythos.53 Die Debatte und der kommunikative Wettstreit um die Deutung der Figur des Phaëthon nach der Produkttaufe in Dresden zeigen, dass der tragische Teil des Phaëthon-Mythos nicht einfach zu tilgen ist, dass er weder aus dem Wissenshaushalt der Gegenwart zu löschen noch durch geschickte Sprachregelungen zu bändigen ist. Der Mythos, so könnte man sagen, „läuft und läuft und läuft …“. Sein ambivalentes, zuweilen subversives Potenzial ist jederzeit re-aktivierbar, da er von seiner Attraktivität als Sinnstifter nichts verloren hat; denn er liefert narrative Figuren, um die Gegenwart schlüssig zu deuten und die Suche nach Orientierung zu unterstützen.54 Es ist eine Aufgabe des Historikers, so genannte „klassischen“ Mythen zu behandeln als soziale Konstruktionen, die einem Ereignis der Gegenwart „Sinn“ gaben und geben. „Mythen-Fabrikanten“ (Roland Barthes) bedienen sich des kulturellen Wissens, das in Texten oder in Archiven analoger wie digitaler Art gespeichert ist. Wissenschaftler, Kommunikationsstrategen in Unternehmen oder Meinungsbildner in Redaktionen eignen sich als Vermittler und Interpreten einen Mythos für ihre Zwecke an und formulieren aus dem im kulturellen Gedächt eingelagerten, mythischen Rohstoff narrative Deutungsangebote, die auf eine Nachfrage ihrer Gegenwart reagieren oder erst Nachfrage in Form von „folgenreicher Aufmerksamkeit“ (Siegfried J. Schmidt) schaffen. „Jede Rezeption ist“, wie Jan Assmann sagt55, „Instrumentalisierung“, und dieser Akt der Wiederaneignung ist stets mit einer radikalen Selektion und mit einer strikten Reduktion von Komplexität verbunden, bis die vorgefundene Erzählung zu einer griffigen, passförmigen Kurzgeschichte von exemplarischer Bedeutung geworden ist, die in diesem und wohl nur in diesem aktuellen, zeithistorischen Kontext Bedeutung besitzt und sinnvoll erscheint. In diesem Prozess beweist der Mythos seine ureigenste Qualität als diskursiver „Sinn“-Träger: die „Einpassungskapazität“ (Karl-Joachim Hölkeskamp) in höchst vielfältige Kontexte, mit der ein Mythos als kulturelle Deutungsreserve seine Dauer in der Zeit erwirbt und über Jahre und Jahrhunderte zu behaupten vermag. Denn er versteht es wie keine andere Textsorte, durch ein besonderes Anpassungsvermögen und durch besondere Elastizität zu überleben: Der Mythos ist wie ein Chamäleon, das die Farbe unablässig wechselt in Gefahren- oder Kampfsituationen, und es benutzt seine Körperfarbe zur Kommunikation und sendet deutliche 53 Walter Burkert: Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: Mythos in mythenloser Gesellschaft. Hrsg. von Fritz Graf, Stuttgart 1993, S. 14; Schlesier, Mythos 1080. 54 Jörg Barberowski: Erinnerung und kollektives Gedächtnis, in: ders., Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S. 159–173 und Münkler, Deutschen, S. 26f. Vgl. Schlinkert, Konjunkturen 126f. 55 Jan Assmann: Mythos und Geschichte, in: Mythen in der Geschichte. Hrsg. von Helmut Altrichter, Freiburg 2007, S. 27.
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Signale, die seine Zeitgenossen lesen, verstehen und nutzen, um Situationen der Gegenwart zu bewältigen und sich für die ein oder andere Handlungsoption zu entscheiden. Antike Mythen sind nicht nur Geschichten, sondern haben auch eine Geschichte. Auf dem Weg zum Kern der tragischen Erzählung wird das verfügbare oder aufgefundene Wissen um den Mythos wie durch ein engmaschiges Sieb gefiltert. Denn der Akt der Erinnerung bedeutet niemals ein simples Abrufen oder ein bloßes Wiederfinden oder Wiedererkennen. Erinnern ist vielmehr stets Re-Interpretation, um Bedeutung zu schaffen und Orientierung zu finden, also ein höchst kreativer und konstruktiver Prozess der „Sinnstiftung“ im Wortsinne. Und dabei spielen der Rückgriff auf das kulturelle Wissen und die Spurensuche nach vergangenen Deutungsmustern wie dem Mythos eine ebenso wichtige Rolle wie die bewusste oder unbewusste Anpassung des kulturellen Rohstoffes an die aktuelle Situation und Sprache beim Akt des Wiedererzählens. Anpassung heißt Auswahl, und die „Mythosaktualisierung“56 im kommunikativen Gedächtnis bringt auch im Fall des Phaëthon ein mehr oder minder bewusstes Vergessen mit sich, bevor der Mythos im neuen Format wieder in Archiven, Bibliotheken oder Datenbanken eingespeichert wird.57 In dieser Perspektive erscheint der durch die Produkttaufe in Dresden am 11. Dezember 2001 ausgelöste kommunikative Wettstreit um den „Volkswagen Phaeton“ als ein mediales Strohfeuer, das zwar über einige Tage eine breite öffentliche Wirkung über die publizistischen Leitmedien erzielte, aber auf mittlere Sicht kaum dauerhafte Spuren hinterlassen hat. Es scheint, dass das Fallbeispiel des „Volkswagen Phaeton“ einen Wesenszug des Mythos zwischen Erinnern und Vergessen aufweist, den der Soziologe Karl Mannheim 1928 in seinem Essay „Das Problem der Generationen“ trefflich beschrieben hat58: „In der für uns in erster Reihe sichtbaren, reflexiv gemachten Kulturebene liegen nur jene Elemente, die im Laufe des Lebensprozesses irgendwo und irgendwann selbst problematisch geworden sind, wobei gar nicht gesagt ist, dass das einmal reflexiv und problematisch Gewordene nicht wieder ins Aproblematische, zum unangetasteten Lebensfonds zurückzusinken vermag“. Die Debatte um den „Volkswagen Phaeton“ und seinen Namen ist offenbar nach diesem kulturellen Muster zusammen mit dem Phaëthon-Mythos aus dem kommunikativen Gedächtnis verschwunden, ist zum „unangetasteten Lebensfonds“ geworden, während die Oberklasselimousine der Marke Volkswagen mit dem Schriftzug „Phaeton“ am Heck weiterhin auf den Straßen unterwegs ist.
56 Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hrsg. von Dieter Rieger/Stephanie Wodianka, Berlin 2006. 57 Werner Müller-Funk: Erzählen und Erinnern, in: Geschichtsdarstellung. Hrsg. von Vittoria Borsó, Köln 2004, S. 159f; Tillmann Bendikowski: Vergesst das Erinnern, in: Die Zukunft der Erinnerung. Hrsg. von Manfred Grieger/Dirk Schlinkert, Wolfsburg 2009, S. 99–110. 58 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Hrsg. von Kurt H. Wolff, Darmstadt S. 534. Vgl. Ute Daniel: Generationengeschichte, in: Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 530ff.
Autorenverzeichnis Peter Habermehl, *1955, Priv.-Doz. Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Antikerezeption in der modernen Literatur; antiker Roman; Publikationen: Perpetua und der Ägypter oder Bilder des Bösen im frühen afrikanischen Christentum, Berlin 22004; mit B. Seidensticker, Unterm Sternbild des Hercules. Antikes in der Lyrik der Gegenwart, Frankfurt 1996. Christiane Hansen, *1982, Studium der Germanistik und Anglistik in Freiburg und Glasgow, Erstes Staatsexamen 2006, seit Anfang 2007 Dissertation zur Rezeption des Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur. Thomas Haye, *1966, Professor an der Universität Göttingen und Direktor des Zentrums für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. Publikationen: Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Köln 1997; Humanismus in Schleswig und Holstein. Eine Anthologie lateinischer Gedichte des 16. und 17. Jahrhunderts mit deutscher Übersetzung, Kommentierung und literarhistorischer Einführung, Kiel 2001; Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin 2005. Karl-Joachim Hölkeskamp, *1953, Professor für Alte Geschichte am Historischen Seminar der Universität zu Köln; Publikationen: Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte, München 2004; mit J. Rüsen, E. Stein-Hölkeskamp, Sinn (in) der Antike, Mainz 2003; mit E. Stein-Hölkeskamp, Erinnerungsorte der Antike: Die römische Welt, München 2006. Gerlinde Huber-Rebenich, *1959, Professorin für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit in Jena. Forschungsschwerpunkte: Ovid-Rezeption in textbegleitender Druckgraphik. Publikationen: Das Motiv der ,Witwe von Ephesus‘ in lateinischen Texten der Antike und des Mittelalters, Tübingen 1990; mit W. Ludwig, Humanismus in Erfurt, Rudolfstadt 2002; mit S. Lütkemeyer, H. Walter, Ikonographisches Repertorium zu den Metamorphosen des Ovids. Die textbegleitende Druckgraphik, Berlin 2004. Andrea von Hülsen-Esch, *1961, Professorin für Kunstgeschichte in Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: mittelalterliche Buchmalerei; Bühnenbilder vom 16. bis 19. Jahrhundert; Ikonologie und Methodik sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Publikationen: Romanische Skulptur in Oberitalien als Reflex der kommunalen Entwicklung im 12. Jahrhundert. Untersuchungen zu Mailand und Verona, Berlin 1994; mit Jean-Claude Schmitt, Die Me-
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Autorenverzeichnis
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Autorenverzeichnis
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rath, Albert Schirrmeister und Stefan Schlelein (Transformationen der Antike Bd. 11), Berlin 2009. Dirk Schlinkert, *1965, Dr., Historiker in der Historischen Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft, Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der TU Braunschweig; Publikationen: Ordo senatorius und nobilitas. Die Konstitution des Senatsadels in der Spätantike, Stuttgart 1996. Von der Reklame zum Marketing, in: Schilling, A. (Hg.), Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann, Hamburg 2002, 8–17; mit M. Grieger, Werkschau 1. Fotografien aus dem Volkswagenwerk 1948– 1975, Wolfsburg 2004; Vom Phaëthon zum Volkswagen Phaeton. Mythos, Kutsche, Automobil, in: Martin Korenjak (Hrsg.): Die Antike in der Alltagskultur der Gegenwart, Innsbruck 2007, 303–314. Bernd Seidensticker, *1939, emeritierter Professor für Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Archaische und klassische griechische Literatur und Rezeption der Antike in der deutschen Literatur. Publikationen: mit P. Habermehl, Unterm Sternbild des Hercules. Antikerezeption in der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart, Frankfurt 1996; Aischylos, Orestie in der Übersetzung von Peter Stein, München 1997; mit R. Krumeich und N. Pechstein, Das griechische Satyrspiel, Darmstadt 1999. Gerolf Thienel, *1973, M.A., Studium der Neueren/Neuesten Geschichte, Technikgeschichte und Politikwissenschaft in Dresden, freiberuflicher Technikhistoriker, Forschungsschwerpunkte: Technikgeschichte, Verkehrsgeschichte.