Perspektiven zum Sterben: Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova? 3515101896, 9783515101899

Wie wollen wir sterben? Diese Frage steht im Mittelpunkt zahlreicher Diskurse und Publikationen: Was ist ein 'guter

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German Pages 206 [210] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Ars moriendi nova: Überlegungen zu einer neuen Sterbekultur
I. STERBEN IN GESCHICHTE UND GEGENWART ENTWICKLUNGEN FÜR INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT
II. ARS MORIENDI HEUTE? KURZKOMMENTARE ZUM ESSAY DER HERAUSGEBER
Nachwort
Biografische Notizen zu den Autorinnen und Autoren
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Perspektiven zum Sterben: Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova?
 3515101896, 9783515101899

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Daniel Schäfer / Christof Müller-Busch / Andreas Frewer (Hg.)

Perspektiven zum Sterben Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova?

Medizin-Philosophie Franz Steiner Verlag

ars moriendi nova - band 2

Daniel Schäfer / Christof Müller-Busch / Andreas Frewer (Hg.) Perspektiven zum Sterben

ars moriendi nova geschichte philosophie praxis Herausgegeben von: Andreas Frewer Christof Müller-Busch Daniel Schäfer Band 2

Daniel Schäfer / Christof Müller-Busch / Andreas Frewer (Hg.)

Perspektiven zum Sterben Auf dem Weg zu einer Ars moriendi nova?

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der NoMaNi-Stiftung Köln. Umschlagabbildung

Herausgeber

Robert Pope: „Nutrition“ (1990). Mit freundlicher Genehmigung der Robert Pope Foundation (Canada) Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Schäfer Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Universität Köln Joseph-Stelzmann-Str. 20, Geb. 42 50931 Köln Prof. Dr. med. Christof Müller-Busch Rüsternallee 45 14050 Berlin Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A. Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Glückstraße 10 91054 Erlangen

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10189-9

Inhalt

Vorwort Neue Kunst des Sterbens? Zur Kultur der Medizin am Lebensende ..................... 9 Daniel Schäfer, Andreas Frewer, Christof Müller-Busch Ars moriendi nova. Überlegungen zu einer neuen Sterbekultur ........................... 15

I. Sterben in Geschichte und Gegenwart Entwicklungen für Individuum und Gesellschaft ........................................... 21 Héctor Wittwer Kann die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Sterbens leisten? .................................................................................. 27 Jean-Pierre Wils Ars moriendi: Über das Verhältnis von Weltanschauung, Recht und Moral ...... 39 Norbert Fischer Bestattungskultur zwischen Moderne und Postmoderne ..................................... 53 Joachim Wittkowski Ars moriendi durch Erziehung? Zur Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer ................................................ 63

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Inhalt

Klaus Feldmann Sterbekultur in der modernen Gesellschaft Soziologische Perspektiven zur Ars moriendi nova ............................................ 77 Stephan Völlmicke Tatort Fernsehen. Die mediale Inszenierung des Todes im Kriminalfilm und der soziale Umgang mit Sterben ................................................................... 89 Stefan Dreßke Das Hospiz als Einrichtung des guten Sterbens Eine soziologische Analyse der Interaktion mit Sterbenden ............................. 103 Jan Joerden Strafrechtliche Rahmenbedingungen der Sterbekultur Begrifflich-systematische Fragen des Rechtsschutzes am Lebensende ............ 121 Eva Schildmann, Jan Schildmann Leitlinien zur palliativen Sedierungstherapie als Beitrag zur Sterbekultur Eine systematische Auswertung unter besonderer Berücksichtigung ethischer und kommunikativer Herausforderungen am Lebensende ................. 133

II. Ars moriendi heute? Kurzkommentare zum Essay der Herausgeber ............................................ 149 Monika Müller Ars vivendi nova: Überlegungen zu einer neuen Lebenskultur ......................... 151 Friedemann Nauck Ars moriendi heute? Neue Sterbekultur aus Sicht der Palliativmedizin ............ 155

Inhalt

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Reiner Sörries Der Tod ist der Feind des Lebens, oder: Vom Irrtum, das Sterben könne eine Kunst sein ............................................... 159 Fritz Roth Der Tod gehört zum Leben ................................................................................ 163 Traugott Roser Ars moriendi nova aus Sicht von Theologie und Spiritual Care ....................... 171 Austra Reinis Ars moriendi nova: Sterbebegleitung als Ehrenamt in der Kirchengemeinde? ................................. 181 Joachim Wittkowski Sterben für alle? ................................................................................................. 185 Stefan Dreßke Ars moriendi nova – eine Kultur- und Gesellschaftstechnik der Sterbekontrolle ............................................................................................. 191 Daniel Schäfer, Christof Müller-Busch, Andreas Frewer Sterbekultur(en): Differenzierung und Pluralismus am Lebensende? Versuch einer Zusammenführung ...................................................................... 195 Nachwort Sterbekultur und Sterbekunst Können wir im 21. Jahrhundert noch sterben lernen? ........................................ 199 Biografische Notizen zu den Autorinnen und Autoren ..................................... 203

Neue Kunst des Sterbens? Zur Kultur der Medizin am Lebensende Vorwort Andreas Frewer, Christof Müller-Busch, Daniel Schäfer Wie wollen wir sterben? Diese Frage steht im Mittelpunkt zahlreicher Diskurse und Publikationen: Was ist ein ‚guter Tod‘ für den individuellen Patienten, was versteht unsere Gesellschaft darunter? 1 Welche ‚Sterbekultur‘ hat die Gegenwart? 2 Wie können Heilkunde, Palliativmedizin, Geschichte, Ethik und weitere Disziplinen zu einer fruchtbaren Diskussion über die Gestaltung am Lebensende beitragen? Diese einleitenden Fragen nach einer neuen ‚Kunst‘ des Sterbens sollen in Betrachtung eines Kunstwerks und seiner Bezüge zur Sterbekultur erläutert werden. Das Titelfoto des vorliegenden Bandes wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Der Künstler Robert Pope3 hat 1990 ein eher kühles Krankenhaus-Bild gestaltet: Das Werk in Öl auf Leinwand trägt den kurzen Titel ‚Nutrition‘ – Ernährung. Kann mit dieser Illustration die ‚Sterbekultur‘ der Gegenwart gespiegelt werden? Die überwiegende Mehrzahl der Menschen wünscht sich ein Lebensende zuhause, im Kreis der eigenen Familie, mit nächsten Angehörigen und Freunden. Pope hat in seinem Bild die realiter leider sehr viel häufigere Form angedeutet: Ein Patient liegt im Krankenhaus, die Aussicht ist in mehrerlei Hinsicht schwierig. Am Himmel zieht eine Front dunkler Wolken auf; der Horizont zeigt die Skyline von Wolkenkratzern, die sich als schwarze Silhouette im Hintergrund abzeichnen. Die dargestellte Szene im Innenraum wirkt ebenfalls zunächst eher neutral: Das Krankenzimmer ist nur wenig von medizinischem Inventar geprägt, lediglich der Infusionsständer mit den hängenden Flüssigkeitsbeuteln illustriert die stationäre Versorgung. Ernährung steht noch in einer weiteren Form im Mittelpunkt: Einer der beiden Besucher, die am Krankenbett sitzen, gibt dem Kranken Nahrung. Durch die Darstellung eines Kuchenstücks im Vordergrund des Bildes wird dieser 1 2 3

Siehe u.a. Wittwer et al. (2010), Ridder (2010), Terzani (2010) und Borasio (2011). Zum vielschichtigen Begriff der ‚Sterbekultur‘ aus unterschiedlichen Perspektiven siehe etwa Heller (2000), Hänisch (2008), Saalfrank (2009), Roth (2011), Groschopp (2011) und Bethesda/Dialog Ethik (2012). Robert Pope (1956–1992) studierte Naturwissenschaften und absolvierte eine Ausbildung am Nova Scotia College of Art and Design in Canada. Mitte Zwanzig erkrankte er an Krebs und widmete sein künstlerisches Schaffen in der folgenden Dekade den Themen Krankheit und Heilung, vorwiegend mit Bildern über Krebspatienten und Medizin. Im Alter von 36 Jahren starb Pope im Rahmen der Behandlung. Vgl. Pope (1991) und Murray (1994).

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Andreas Frewer, Christof Müller-Busch, Daniel Schäfer

Aspekt dem Titel des Werkes gemäß ins Zentrum gerückt. Etwas ‚aseptisch-keimfrei‘ erscheint nicht nur das unversehrte Tortenstück, das womöglich gar nicht dem Kranken gereicht werden kann, sondern auch die gesamte Atmosphäre – die Gestaltung strahlt nüchterne Sachlichkeit aus. Der Kranke erhält Nahrung, er ‚wird gefüttert‘; diese intime Handlung wird im Krankenzimmer wie auf einer Bühne inszeniert. Pope hat das durch eine möglicherweise erst auf den zweiten Blick klar erkennbare Darstellung unterstrichen: Nicht nur am Fenster sind Vorhänge zu sehen, auch am linken Bildrand befindet sich ein differenziert gemalter Vorhang mit Faltenwurf. Hier erfolgt eine gewisse Distanzierung von der dargestellten Szenerie; jedes Detail wird ins Rampenlicht einer imaginären Bühne gestellt: Welches Drama spielt sich im Klinikzimmer ab? Die noch recht junge Person könnte ernsthaft oder sogar infaust erkrankt sein. An dieser Stelle rückt die Biographie des Künstlers ins Zentrum des Geschehens: Robert Pope erhielt als Mittzwanziger die Diagnose Morbus Hodgkin. Über zehn Jahre konnte der Lymphdrüsenkrebs in Schach gehalten werden, dann starb der Künstler im Alter von nur 36 Jahren an den Nebenwirkungen invasiver Therapien. Die Besucher könnten die Eltern des Patienten sein; es sind eine männliche und eine weibliche Person erkennbar. Das ‚Füttern‘ ist eine positive, wenn auch für das Alter und die vermeintlich gute Allgemeinsituation etwas merkwürdige Handlung: Möchte oder kann der Patient nicht mehr selbständig essen? Die Spannung zwischen der Nahrungsgabe durch die Besucher und den Infusionen – wohl nicht nur eine Nährlösung, sondern auch Chemotherapie oder Schmerzmittel – wird durch den Titel des Werks hervorgehoben. Gibt es noch Hoffnung auf eine Heilung, oder ist es eher eine lindernde, palliative Therapie? Ein weiterer Aspekt verdient besondere Beachtung: Der geometrisch strukturierte Blick nach draußen – sind es Fenster-‚Kreuze‘? – wird an einer Stelle überdeckt durch den davor angebrachten Fernseher. Auf dem Bildschirm ist eine Person erkennbar, möglicherweise ein Nachrichtensprecher. Hierbei sind vielschichtige Interpretationen denkbar: Hat der Kranke vor kurzem unangenehme Neuigkeiten erhalten, etwa ‚breaking bad news‘ in Bezug auf die schlechte Prognose oder ein erfolgtes Rezidiv seiner Erkrankung? Wie ist die Szenerie des Besuchs bei laufendem Fernseher zu beurteilen? Soll diese prominente Stelle des ‚nahen Fernsehers‘ vor dem ‚Fenster ohne Aussichten‘ die limitierte Lebensperspektive des Patienten andeuten? Wird hier zudem der generelle Einfluss von Medien auf die Situation des Patienten oder die gesellschaftliche Wahrnehmung von Krankheit, Sterben und Tod symbolisiert? Sicherlich bezieht sich Nahrung nicht nur auf die physische Dimension, sondern meint auch ‚nährende‘ Gemeinschaft, vielleicht sogar religiöse und spirituelle Aspekte.4 Die dunklen Wolken können nicht nur die hereinbrechende Nacht, sondern gleichzeitig auch auf drohendes Unheil und den 4

Murray (1994) schreibt zudem über Pope: „He liked to quote Hippocrates: ‚Let food be your medicine‘“. Pope versuchte während seiner Krankheit auch eine makrobiotische Ernährung, vertraute bei der Therapie aber auf die Schulmedizin. Die zahlreichen ethischen Aspekte, die mit ‚Nutrition‘ verbunden sind – etwa auch die künstliche Ernährung per Sonde und ihre Einstellung – können an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.

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nahen Tod des Kranken hindeuten. Hat Pope – um es zuzuspitzen – hier möglicherweise auch eine Art postmodernes letztes (Abend-)Mahl der drei Mitglieder umfassenden Familie gemalt? Selbstverständlich bleibt zwischen Interpretation und Projektion zu einem gewissen Grad auch Spekulation; der Künstler hat keinen direkten Kommentar zu diesem Werk hinterlassen, aber stets eine offene Auslegung der Bilder angestrebt. Kunst und Medizin wurden die beiden entscheidenden und eng verbundenen Themen seiner langen Krankheitsphase. Er starb viel zu früh, aber mit dem Erlös seiner Werke – beeindruckende hundert widmen sich der Darstellung von Krebs, Medizin und Heilung – wurde eine Stiftung gegründet, die künstlerische wie auch wissenschaftliche Projekte unterstützt und damit den Austausch zu den ‚Medical Humanities‘ fördert.5 Was sagt das Bild zur ‚Sterbekultur‘? Gerade in der eher kühl-distanzierten Darstellung liegt durchaus kritisches Potenzial zur Spiegelung des Umgangs mit Sterben und Tod in unserer Zeit: Eigentlich möchte fast jeder Mensch die letzte Lebensphase in einem möglichst individuellen Bereich verbringen und ‚seinen eigenen Tod‘, nicht den der Medizin sterben; wie oft wird dies jedoch durch die Strukturen eines Krankenhauses unmöglich gemacht? Welche seelischen und spirituellen Dimensionen bleiben trotz oder gerade wegen der Macht der modernen Medizin ausgeblendet? Pope hat in seinen Bildern häufig Elemente wie eine Blume oder einen Vogel integriert, die neben symbolischer Bedeutung eine klare Nähe zur Natur darstellen. Im Bild Nutrition wird nicht zufällig die ‚Unwirtlichkeit der Großstadt‘ gezeigt; äußere Landschaften der Hochhäuser, die – wie der Patient im übertragenen Sinne – bereits ‚an den Wolken kratzen‘, korrespondieren mit den inneren Seelenlandschaften des (tod-)kranken Patienten. 6 Pope hat hier mit klaren Kontrasten ein Bild im Stile amerikanischer Strömungen der neuen Sachlichkeit gemalt; es lässt sich am ehesten dem (Neo-)Realismus (‚American Scene‘) zuordnen, wie er in der wirklichkeitsnahen Malerei seit Edward Hopper (1882–1967), Charles Sheeler (1883–1965) und Georgia O’Keeffe (1887–1986) international bekannt wurde. Ist die kühle Sachlichkeit des Bildes symptomatisch für den nüchternen Umgang mit Sterben und Tod in Medizin und Gesellschaft der Gegenwart? Sicherlich spiegelt das Bild nicht nur die individuelle Situation eines Kranken und seiner Familie, sondern zeigt auch vorhandene Wünsche und problematische Perspektiven. Die Kunst7 kann eine wichtige Brücke bauen zur realen Lebenssituation und den Bedürfnissen sterbender Menschen wie auch zur Heilkunst als ‚Ars medica‘: Was haben die enormen Errungenschaften in Naturwissenschaft und Technik sowie die Fortschritte in der Heilkunde für die Gestaltung des Lebensendes bewirkt? 5 6 7

Wir danken Herrn Prof. T. Jock Murray, MD, Professor of Medical Humanities (Dalhousie University, Halifax, Canada), Kurator in der Stiftung, herzlich für die gute Zusammenarbeit. Siehe u.a. Dehm-Gauwerky (2006) sowie Illhardt (2010). Auf die Dimensionen von Kunsttherapie sowie die Bedeutung von Imagination auch für therapeutische Prozesse kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Zur Rezeption von künstlerischer Darstellung etwa im Bereich der Debatten zur Palliativmedizin siehe punktuell Fernández-Shaw Toda (1997) und Rhondali et al. (2009) sowie Richard (1995).

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Andreas Frewer, Christof Müller-Busch, Daniel Schäfer

In welcher Weise tragen Medizin und Humanwissenschaften in der Gegenwart zu einem gelingenden Sterben bei? Der grundlegende Wandel von gesellschaftlichen Vorstellungen in Bezug auf das Lebensende erfordert aus Sicht der Herausgeber des vorliegenden Bandes und der neuen Buchreihe die Implementierung einer neuen Sterbekunst im Sinne der ‚Ars moriendi nova‘8 Hospizbewegung und Palliativmedizin haben in den letzten Jahrzehnten international wichtige Impulse gegeben für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Sterben und Tod wie auch zur praktischen Umsetzung des therapeutischen Ziels, menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. Der vorliegende Band versucht, verschiedene Perspektiven zur gegenwärtigen Sterbekultur zusammenzuführen und möchte eine Diskussion anregen über Desiderate dieser neuen Sterbekunst. Die Struktur des vorliegenden Bandes sieht daher zunächst einen Übersichtsartikel der Herausgeber mit grundlegenden Überlegungen zu den Umrissen und Zielen der Ars moriendi nova vor. Selbstverständlich soll diese neue Sterbekunst keineswegs ein mittelalterliches Modell aus seinem Kontext greifen oder auch nur theoretische Vorannahmen zu einem einstmals theologisch-religiös verstandenen Konzept unkritisch übernehmen. Eine philosophisch-anthropologisch sinnvolle Reflektion des menschlichen Sterbens muss zudem in die historisch-sozialen und medizinisch-praktischen Bereiche der Lebensgestaltung als Ars vivendi eingebettet sein. Dies strebt auch der vorliegende Band durch die Gliederung im Anschluss an den einleitenden Essay an: Zunächst werden im ersten Abschnitt geschichtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Sterben und Tod als Grundlagen dargestellt. Artikel aus Philosophie, Ethik, Geschichte, Psychologie, Soziologie, Recht und Medienwissenschaften fächern die interdisziplinären Perspektiven auf. Dabei werden Entwicklung und Gegenwart der Sterbekultur analysiert sowie zentrale Bezüge zu Hospizbewegung und Palliative Care hergestellt. Im zweiten Abschnitt wird die Frage nach einer Ars moriendi nova zugespitzt durch kürzere Kommentare und Diskussionsbeiträge zum Essay der Herausgeber. Auch hier ist ein breites Spektrum verschiedener Gebiete vertreten, von der Theologie, Palliativmedizin und Bestattungskultur bis hin zu Sozialwissenschaften, Thanatopsychologie und Spiritual Care. Was könnten die Chancen und Möglichkeiten einer neuen Sterbekunst sein? Aber auch: Gibt es Risiken oder Nebenwirkungen im Umgang mit Sterbebegleitung bzw. ‚Sterbekontrolle‘? Zum Schluss dieser durchaus kontroversen Diskussion nehmen die Herausgeber nochmals Stellung in Bezug auf die Strömungen und Positionen im Diskurs zum Lebensende: Lässt sich trotz Pluralismus und Differenzierung das Ziel eines ‚kultivierten‘ Umgangs am Lebensende erreichen? Hierzu möchte der vorliegende Band beitragen, wie es auch das Nachwort mit einer Zusammenfassung wesentlicher Perspektiven abschließend ausführt. Im Anhang finden sich biografische Notizen zu den Autorinnen und Autoren, um die wissenschaftlichen und persönlichen Kontexte der Beiträge transparent zu machen. 8

Vgl. u.a. Schäfer (1995), Imhof (1998). Keeley (2001), Leget (2007) sowie Rüegger, (2006), Müller-Busch (2001) und Hilt et al. (2010).

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Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen Geschichte, Ethik und Palliativmedizin in Köln, Erlangen-Nürnberg und Berlin. Wir danken der NoMaNi-Stiftung für die freundliche Förderung des Projekts, besonders Herrn Dr. Christian Hick sei für die Unterstützung herzlich gedankt. Allen Autorinnen und Autoren möchten wir Dank sagen für die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Aufsätze und Kommentare. Jock Murray, Arzt und Professor für Medical Humanities in Halifax (Canada) ist in besonderer Weise für die Robert Pope Foundation engagiert und hat dankenswerterweise weitere Hinweise gegeben sowie die Genehmigung zum Abdruck des Titelbildes erteilt. Dem Steiner Verlag in Stuttgart, speziell Katharina Stüdemann und Thomas Schaber, möchten wir ebenfalls unseren Dank aussprechen für die gute Zusammenarbeit und die Umsetzung der Gestaltungswünsche. Erlangen, Berlin und Köln, im Frühjahr 2012

Andreas Frewer Christof Müller-Busch Daniel Schäfer

Literatur Bethesda/Dialog Ethik (Hrsg.): Abschieds- und Sterbekultur. Gestaltung der letzten Lebensphase mit und in Organisationen. Bethesda-Pflegeresidenz. Bern u.a., Peter Lang, 2012. Borasio, Gian Domenico: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun sollen. Wie wir uns darauf einstellen. München, C.H. Beck, 2011. Dehm-Gauwerky, Barbara: Inszenierungen des Sterbens – innere und äußere Wirklichkeiten im Übergang. Eine psychoanalytische Studie über den Prozess des Sterbens anhand der musiktherapeutischen Praxis mit altersdementen Menschen (Kulturanalysen, Bd. 3). Münster, Tectum-Verlag, 2006. Erben, Christina: Sterbekultur im Krankenhaus und Krebs. Handlungsmöglichkeiten und Grenzen sozialer Arbeit (Edition Neuer Diskurs, Bd. 5). 2., veränderte Auflage. Oldenburg, Paulo-Freire-Verlag, 2010. Groschopp, Horst (Hrsg.): Barmherzigkeit und Menschenwürde. Selbstbestimmung, Sterbekultur, Spiritualität. Berlin, Humanistische Akademie Berlin, 2011. Fernández-Shaw Toda, Mariá: Ars moriendi. Images of death in Spanish art. European Journal of Palliative Care 4, H. 5 (1997), S. 164–168. Frewer, Andreas/Bruns, Florian/Rascher, Wolfgang (Hrsg.): Hoffnung und Verantwortung. Herausforderungen für die Medizin. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 3. Königshausen & Neumann, Würzburg, 2010. Hänisch, Ingrid von (Hrsg.): Trauerprozesse. Gibt es eine neue Kultur des Abschiednehmens? Dokumentation der gemeinsamen Fachtagung der Stiftung menschwürdiges Sterben und der Theodor-Springmann-Stiftung am 07.09.2007 in Berlin. Berlin, 2008. Heller, Andreas (Hrsg.): Kultur des Sterbens. Bedingungen für das Lebensende gestalten (Palliative care und organisationales Lernen, Bd. 2). 2., erweiterte Auflage. Freiburg im Breisgau, Lambertus-Verlag, 2000.

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Andreas Frewer, Christof Müller-Busch, Daniel Schäfer

Hilt, Annette/Jordan, Isabella/Frewer, Andreas (Hrsg.): Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit. Geschichte – Theorie – Ethik (Ars moriendi nova, Bd. 1), Stuttgart, Franz Steiner, 2010. Illhardt, Franz Josef (2010): Bilder vom Sterben in der Ars moriendi. Meditation der Endlichkeit als Vision der Unsterblichkeit. In: Hilt et al. (2010), S. 77-97. Imhof, Arthur E.: Die Kunst des Sterbens. Wie unsere Vorfahren sterben lernten. Stuttgart 1998. Keeley, Paul: Now and at the Hour of Our Death. The Ars moriendi and Modern Dying. European Journal of Palliative Care 8 (2001), S. 208–211. Kennett, Cynthia/Harmer, Lynn/Tasker, Marion: Bringing the arts to the bedside. European Journal of Palliative Care 11, H. 6 (2004), S. 254–256. Leget, Carlo: Retrieving the ars moriendi tradition. Medicine, Health Care and Philosophy 10 (2007), S. 313–319 Müller-Busch, H. Christof: Freiheit zum Tod und Grenzen ärztlicher Hilfe beim Sterben. Palliativmedizin im Spannungsfeld zwischen Lebens- und Sterbehilfe. Dortmund, Humanitas-Verlag, 2001. Murray, T. Jock: Reflections. Illness and Healing: The Art of Robert Pope. Humane Medicine. Health Care. A Journal of the Art and Science of Medicine 10, H. 3 (1994), S. 199–208. Pope, Robert: Illness and healing: Images of cancer. Hantsport, N.S. Lancelot Press, 1991. Rhondali, Wadih/Barmaki, Mario/Filbet, Marilène: The value of art therapy – case studies from France. European Journal of Palliative Care 16, H. 1 (2009), S. 26–30. Richard, Birgit: Todesbilder. Kunst Subkultur Medien. München, Wilhelm Fink Verlag, 1995. Ridder, Michael de: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. München, DVA, 2010. Roth, Fritz: Das letzte Hemd ist bunt. Die neue Freiheit in der Sterbekultur. Frankfurt/M., New York, Campus, 2011 Rüegger, Heinz: Das eigene Sterben. Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. Saalfrank, Eva: Innehalten ist Zeitgewinn. Praxishilfe zu einer achtsamen Sterbekultur. Freiburg im Breisgau, Lambertus Verlag, 2009. Schäfer, Daniel: Texte vom Tod. Zur Darstellung und Sinngebung des Todes im Spätmittelalter. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 570. Göppingen, KümmerleVerlag, 1995. Terzani, Tiziano: Das Ende ist mein Anfang. Ein Vater, ein Sohn und die große Reise des Lebens. 14. Auflage. München, Deutsche Verlags-Anstalt, 2010. Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Metzler, 2010.

Ars moriendi nova Überlegungen zu einer neuen Sterbekultur Daniel Schäfer, Andreas Frewer, Christof Müller-Busch In welcher Form ereignet sich der Tod in unserer Gesellschaft, wie wollen wir sterben? Was ist als ‚Sterbekunst‘ im Sinne einer Unterstützung und Begleitung von Menschen am Lebensende sinnvoll und umsetzbar? Der Begriff Ars moriendi findet sich seit etwa zwanzig Jahren immer wieder in Buch- und Aufsatztiteln, mehrheitlich jenseits einer rein historischen Perspektive (Literatur-, Pastoraltheologie-, Sozialgeschichte), die vorwiegend Texte und Sterbekulturen des 14. bis 18. Jahrhunderts im Fokus hat. Häufig erscheint Ars moriendi als „Modellbegriff“ (Illhardt), mitunter gar „Suggestivformel“ (Wils) für eine idealisierte, in die Vergangenheit projizierte und ästhetisierte ‚Sterbekunst‘ mit pauschaler Kritik an einer derzeit allzu medikalisierten Sterbepraxis. Mit einer solchen anachronistischen Indienstnahme oder gar Usurpation von Geschichte hat das folgende Plädoyer nichts gemein; zu unterschiedlich sind Sterbebedingungen, medizinische, soziale und kulturelle Parameter im 15. und 21. Jahrhundert, auf die eine ahistorische Ars moriendi sich beziehen müsste. Vielmehr soll das Attribut nova deutlich machen, dass wir neue Formen des Umgangs mit Sterben und Tod einüben sollten, die mit den Bedingungen des gegenwärtigen und absehbar zukünftigen Ablebens nicht nur konform gehen, sondern sie gestalten und verbessern. Wir gehen dabei von einem Desiderat notwendiger Vorbereitungen und Rahmenbedingungen aus, die derzeit längst nicht immer erfüllt werden, aber durchaus erfüllt werden können und sollten, um Sterben in unserem Kulturkreis subjektiv und objektiv zu erleichtern, soweit dies möglich ist. Bevor konkrete Vorschläge für die Gestaltung einer solchen Sterbekultur gemacht werden, soll im Sinne einer Darstellung des Ist-Zustands eine knappe Analyse der gegenwärtigen Umstände und Trends erfolgen, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit. 1. Sterben, Tod und Trauer in der Gegenwart Sterben und Tod einschließlich des Umgangs mit den Toten sind Themen ersten Ranges, die seit Menschengedenken mit kulturellen Techniken verschiedenster Art bearbeitet und – bestenfalls – auch bewältigt werden. Dabei ist u.a. zwischen eigenem und fremdem Sterben, zwischen verschiedensten Todesarten sowie zwischen Selbst- bzw. Fremdbestimmung über den Todeszeitpunkt und den Umgang mit der Leiche zu differenzieren. Im Unterschied zu weniger entwickelten Ländern sterben in westeuropäischen, insbesondere deutschsprachigen Ländern fast

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90 % der Menschen in einem Alter von 60 Jahren und darüber, die meisten davon an chronischen Erkrankungen; schätzungsweise drei Viertel erleben bis 48 Stunden vor ihrem Tod bewusst einen Sterbeprozess und können eventuell Einfluss auf Ort und Umstände des Sterbens nehmen. Doch klaffen Wunsch und Wirklichkeit des Sterbens weit auseinander: Nach früheren Umfragen (Deutschland 1987, 1993) ist der Wunsch nach häuslichem Sterben verbreitet (75-90%), wenngleich diese Rate in den Wochen vor dem Tod gegebenenfalls niedriger ist. Doch die Realität sieht (ungeachtet großer regionaler Unterschiede) anders aus: Während der Anteil an Todesfällen in Krankenhäusern und Kliniken eher zu sinken scheint (Enquête-Kommission 2005: 42-45%), dürfte der Anteil der Menschen, die in weiteren stationären Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheimen oder Hospizen sterben, weiter zunehmen (15-25%). Nur noch 25-30% der Sterbefälle erfolgen zu Hause oder außerhalb von Institutionen. Alleinstehende, Hochaltrige und insbesondere Frauen sterben häufiger in Alten- und Pflegeheimen als Personen, die in festen Beziehungen leben. Menschen in ländlicher Umgebung sterben häufiger zu Hause als solche in städtischer. Auch die zum Tode führenden Erkrankungen wirken sich auf den Sterbeort aus: Patienten mit Krebserkrankungen sterben beispielsweise etwas seltener in einer stationären Einrichtung als solche mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Sterben ist nicht nur ein Ereignis, das vorwiegend Hochaltrige betrifft und deshalb öffentlich weniger wahrgenommen wird als früher, sondern es ist auch aufgrund der sich wandelnden Todesursachen und der medizinischen Versorgung oft ein langwieriger Prozess, dem schon eine längere Pflegebedürftigkeit vorausgeht. Aufgrund der demographischen Entwicklung, aber auch durch veränderte soziale Beziehungen und Rollen stehen für diese größere Aufgabe weit weniger privates Pflege- und Begleitungspotenzial zur Verfügung als früher, so dass die Inanspruchnahme (semi-)professioneller Hilfe oft unvermeidlich ist. Darüber hinaus sind die hohen Gesundheitskosten in den letzten Monaten bzw. im letzten Jahr vor dem Tod zumindest bei den Nicht-Hochaltrigen ein bedeutender ökonomischer Faktor. Der heute weit verbreitete Wunsch nach einem ‚raschen Tod‘ wird oft kombiniert mit dem nach einem aktiven, gesunden ‚Leben bis zuletzt‘. Die viel wahrscheinlichere Entwicklung zu Abhängigkeit, chronischer Hinfälligkeit und Siechtum ohne hinreichende Möglichkeit der Verwirklichung von Lebenszielen bleiben im gesunden Leben häufig ausgeblendet oder werden bewusst abgelehnt. Sterben ist mit vielfältigen und komplexen Problemen verbunden. Neben Schmerzen, variablen Symptomen und körperlichen Veränderungen erleben die Betroffenen und deren Angehörige auch psychische, soziale und spirituelle Herausforderungen, die mit sehr unterschiedlichen subjektiven Bedürfnissen (z.B. Nähe bestimmter Menschen, aber auch Alleinsein) einhergehen. Dennoch dominiert in der Außenwahrnehmung das somatische Leiden. Sterben geschieht dementsprechend häufig unter medizinischer Aufsicht, zumal palliative Maßnahmen, die für eine Kontrolle von Beschwerden, belastenden Symptomen und insbesondere körperlichen Schmerzen erforderlich sind, gesellschaftlich eingefordert wer-

Überlegungen zu einer neuen Sterbekultur

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den. Diese Aufgaben werden inzwischen im Idealfall hocheffektiv erfüllt, beanspruchen allerdings auch entsprechenden Raum – örtlich, zeitlich und ökonomisch. Nach dem Ableben stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit der Leiche. Abgesehen von dem in Deutschland eher seltenen Fall einer klinischen, anatomischen oder forensischen Sektion folgt die Bestattung meist innerhalb kurzer Zeit; sie wird fast immer von Unternehmen organisiert und durchgeführt, unter deren Anleitung der Abschied von den Toten mit einer derzeit stark zunehmenden Vielfalt an Möglichkeiten gestaltet wird. Jenseits der Bestattungszeremonie sind öffentliche Trauerrituale kaum mehr üblich – die zukünftige Bedeutung von diversen Internet-Angeboten wird sich herauskristallisieren. Eine Privatisierung der Trauer ist unübersehbar, auch wenn Angebote von Trauergruppen, -cafés etc. diesem Trend entgegenwirken. Die Kremierung verdrängt zunehmend die Beerdigung. Als neues Element der Funeralkultur imponiert insbesondere die anonyme Bestattung. Die Bereitschaft, für den eigenen oder fremden Todesfall materielle und nicht-materielle Mittel zu investieren, scheint insgesamt zu sinken. Die Kosten für den Tod müssen niedrig sein, der Trend zur Billigbestattung hält an. Demgegenüber äußert sich bei Teilen der Bevölkerung ein starker Wunsch, nicht nur für das eigene Sterben und die Vererbung des Besitzes nach dem Tod, sondern auch für die Bestattung im Detail zu sorgen und damit Autonomie und womöglich programmatische Selbstinszenierung über den Tod hinaus zu demonstrieren. Der Wandel von Bestattungsriten und Erinnerungskultur spiegelt damit beispielhaft gesamtgesellschaftliche Trends zur Säkularisierung, Liberalisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Ökonomisierung und Technisierung. Diese kurze Bestandsaufnahme dokumentiert nicht nur eine deutliche Interdependenz zwischen Sterben, Tod, Trauer und dem aktuellen gesellschaftlichen Kontext, sondern insbesondere den rapiden Wandel, der jenseits aller biologischen Konstanten in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Umgang mit den letzten Dingen vonstattenging. Die ‚longue durée‘ der mitteleuropäischen Sterbe- und Todeskultur als ein für große Teile der Bevölkerung verbindliches Gesamtkonzept scheint abzubrechen, genauso wie dies bei anderen soziokulturellen Institutionen (Ehe, Familie, Geschlechterrollen etc.) zu beobachten ist. Ein Ersatz für dieses Gesamtkonzept ist angesichts des allgemeingesellschaftlichen Pluralismus, aber auch der Vielfalt und Heterogenität von Einstellungen gegenüber dem Tod, von Sterbesituationen im Kontext medizinischer Versorgung und von Umgangsformen mit der Leiche derzeit nicht denkbar. Ein Minimalkonsens besteht wahrscheinlich in der prinzipiellen Annahme einer besonderen Schutzwürdigkeit von Sterbenden und gerade Verstorbenen, aus der moralphilosophisch ein Anspruch auf bzw. die Pflicht zur Unterstützung abgeleitet werden kann. Aber schon die Frage, wo und wie in dieser Schutzwürdigkeit ‚Würde‘ (ein zentraler und vieldimensionaler Begriff in der Sterbediskussion) zum Ausdruck kommt, wird zu unterschiedlichen Antworten führen, je nachdem, ob damit überwiegend Selbstbestimmung, professionelle Fürsorge, soziale Integration oder gar Einklang mit einem transzendenten Prinzip umschrieben wird. Ein Symptom für den fortgeschrittenen Dissens ist,

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dass anstelle ethischer Normen zunehmend gesetzliche Regelungen kritisiert oder eingefordert werden. Erschwert wird ein Konsens auch durch die sukzessive Ausweitung der betroffenen Gruppe: Nicht nur Bedürfnisse von Sterbenden, sondern auch von Schwerkranken, Dementen und selbst von Menschen mit einem prognostizierten Leiden werden in der Sterbe-Debatte thematisiert. Dabei wird oft das Sterben bzw. der Tod vom Problem zum ultimativen Hilfsmittel umgedeutet; umstritten ist dann allerdings die Beurteilung der Zustände, Hilfsmöglichkeiten und Ängste vor dem eigentlichen Sterben. Die seit fast 40 Jahren mit rezidivierender Heftigkeit anhaltenden Debatten um Sterbehilfe, Sterbebeistand und Sterbebegleitung und das verhältnismäßig große ehrenamtliche Engagement in diesen Bereichen lassen nicht allein auf ein – historisch mehr oder weniger kontinuierliches – tremendum und fascinosum des Todes für die Bevölkerung schließen, sondern auch vermuten, dass der Veränderungsprozess noch lange nicht abgeschlossen ist oder wenigstens zu einem befriedigenden Zwischenergebnis geführt hat. 2. Auf der Suche nach neuen ‚Sterbekulturen‘ Wie ist dieser Aporie beizukommen? Wir gehen davon aus, dass in einer demokratischen (Medien-)Gesellschaft Veränderung vor allem durch Wissen und Bildung im weitesten Sinne bzw. durch die Meinungsführerschaft von Prominenten und peer groups geschieht; erst in zweiter Linie wird sie durch Verordnungen und Gesetze (‚von oben‘) erreicht. Wie das Beispiel der Aufklärung um die Organspende zeigt, sind aber gerade bei diesem Thema deutliche Widerstände gegen eine Beschäftigung mit dem eigenen Sterben und Tod vorhanden. Natürlich ist gerade auch in diesem Bereich ein grundsätzliches Recht auf Nicht-Wissen und Nicht-Auseinandersetzung zu konzedieren. Andererseits ist es für eine Risikogesellschaft (Beck) wie der unseren charakteristisch, Gefahren zu thematisieren und soweit als möglich Prophylaxe zu betreiben. Eine ‚Prävention des Sterbens‘ im eigentlichen Sinne ist zwar dauerhaft nicht möglich, wohl aber eine Vorbeugung gewisser Umstände des Sterbens, die man vermeiden möchte. Dass daran ein reges Interesse besteht, zeigt die große Anzahl an Patientenverfügungen, die bereits existieren, und die inzwischen erfolgte rechtliche Regelung ihres Status. Über diesen ‚Präventionsgedanken‘ ist möglicherweise eine partielle Überwindung der individuellen und sozialen Thanatophobie erreichbar, die sich in vielen Vermeidungsstrategien (Tabuisierung, Banalisierung) oder kompensatorischen Visionen (Athanasiophilie, Transhumanismus) zeigt. Unser Vorschlag zu einer Neuorientierung der Debatte jenseits der Grabenkämpfe zwischen Sterbehilfe-Befürwortern und -Gegnern orientiert sich zwar nicht inhaltlich, aber methodisch am Prinzip der überlieferten Ars moriendi, die als Gebrauchsliteratur an der Schwelle zur Neuzeit schichtübergreifend einen hohen Verbreitungsgrad hatte. Wir möchten daher mentale, visuelle, pädagogische und pragmatische Möglichkeiten der Vorbereitung möglichst vieler Menschen auf

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das Sterben und auch einen differenzierten Umgang mit der eigenen Leiche thematisiert wissen. Es soll dabei von einer weltanschaulich neutralen Basis ausgegangen werden, die notwendige, aber nicht hinreichende Argumente für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod legt, weshalb zusätzliche Elemente – etwa (moral)philosophische Normen oder religiöse Werte – individuell darauf aufgebaut werden können. Sinngebung oder Sinnlosigkeit von Sterben, Tod und Jenseitsglaube werden deshalb hier nicht primär erwogen, auch wenn derartige Deutungen bei diesen Themen implizit immer mitschwingen und natürlich auch Konsequenzen für die Sterbepraxis haben können. Ein wesentlicher Bestandteil spätmittelalterlicher Sterbekunst war die sachbezogene Aufklärung über Gefährdungen im Sterben, über den Sinn des Todes und das zukünftige Schicksal. Eine heutige mentale Vorbereitung auf den eigenen Tod könnte zunächst darin bestehen, dass man nicht nur dessen Gewissheit, sondern auch die Wahrscheinlichkeiten, so oder anders alt zu werden und zu sterben, grundsätzlich zur Kenntnis nimmt bzw. sie vermittelt bekommt. Niemand kennt im Voraus sein Sterben oder die Umstände des Todes; so ist es trotz guter und rechtzeitiger Vorbereitung – einschließlich Testament, Betreuungsvollmacht und Patientenverfügung – möglich, dass vieles anders kommt. Es ist trotzdem durchaus sinnvoll, sich zunächst die wahrscheinliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit klar zu machen und sich dabei zu vergegenwärtigen, dass zu einem langen Leben heutzutage in der Regel auch ein langes Sterben gehört (Imhof). Hilfreich ist aber auch das empirische Wissen, dass die heutigen Empfindungen von Schrecken, Abscheu und Sehnsucht nach einem raschen Tod nicht mit denjenigen im Alter oder im Prozess des Sterbens übereinstimmen müssen. Lebenslanges Lernen und eine Offenheit gegenüber neuen Einstellungen sind hier in besonderem Maße gefordert anstelle einer (zu) frühen Festlegung auf erwünschte oder gar erzwungene Lebens- und Sterbeformen, z.B. in Form einer Zurückweisung von Hilfsangeboten und einer pauschalen Forderung nach (assistiertem) Suizid. Diese Haltung setzt allerdings ein hohes Kohärenzempfinden (Antonovsky) voraus, also die Fähigkeit und Bereitschaft, auch widrige Lebensumstände als stimmig und handhabbar wahrzunehmen, sich mit ihnen zu versöhnen (Frankl) und nicht nur Gesundheit, Schönheit und Wohlstand als alleinige Lebensgrundlagen anzunehmen. Auch hinsichtlich der Umstände nach dem eigenen Tod sind Wissen und Bewusstseinsbildung von Vorteil, denn eine verantwortungsvolle Vorbereitung in Absprache hilft den betroffenen Angehörigen, stellvertretende Entscheidungen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu treffen sowie die notwendigen Formen und Orte für Trauer zu finden. Visuelle Elemente waren bei der Umsetzung der pastoraltheologischen Ars moriendi in die populäre Bilder-Ars von entscheidender Bedeutung. Auch bei der Bewältigung heutigen Sterbens sind sie wichtig, und dies nicht nur im emotionalen Bereich: „Nur Bilder ermöglichen Vorstellung und Verstehen, und Verstehen ist der erste Schritt zum Be-Greifen. […] Vorstellbarkeit ist Voraussetzung für Akzeptanz. Wer sich Sterben in all

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Daniel Schäfer, Andreas Frewer, Christof Müller-Busch seinen Dimensionen (nicht nur in seinen psychologischen Phasen) nicht vorstellen kann, kann es auch nicht akzeptieren“ (Illhardt).

Der geeigneten Imagination des Sterbens kommt also eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung von Abwehr und Angst zu. Leider vermitteln moderne Medien zum größten Teil nur spektakuläre Bilder gewaltsamen und raschen Sterbens durch Mord, Totschlag oder Unfälle, die in der Realität relativ selten sind. Nur das Sterben von Bekannten oder Verwandten, die uns gewissermaßen vorausgehen, gibt uns die Möglichkeit, andere (Vor-)Bilder aufzunehmen und unser Denken, Fühlen und Handeln für den körperlichen bzw. geistigen Zerfall und den eigenen Tod zu öffnen. Auch der regelmäßige Gang über den Friedhof oder durch einen Friedwald kann helfen, über Sterblichkeit und den Umgang mit der Leiche konkret nachzudenken. Viel schwieriger ist es, das heute immer noch verbreitete und in verschiedenen Dimensionen sich manifestierende einsame Sterben (Elias) zu imaginieren. Künstlerische und literarische Darstellungen könnten hier weiterhelfen. In jedem Fall besteht die Gefahr, dass Bilder Schrecken und Abwehr anstelle einer produktiven Auseinandersetzung hervorrufen. Spätestens dann wird kompetente Hilfe zur Bewältigung fremden und eigenen Sterbens benötigt. Neben den äußeren Bildern, die durch gelegentliche Sterbebegleitung auf uns einwirken, können aber auch innere aufgegriffen werden, z.B. alltägliche Vorstellungen von Todesangst (verbreitet u.a. beim Fliegen), aber auch positive Konnotationen vom Ende des Lebens, etwa wenn wir hin und wieder das Gefühl haben, bereits jetzt genug gelebt zu haben, ‚lebenssatt‘ zu sein: Vor allem der letztgenannte Eindruck könnte wirksam helfen, wenn es darum geht, ein reales Ja zum Sterben zu finden anstelle einer Lebensverlängerung um jeden Preis. Aber auch hier – wie beim Kohärenzempfinden – spiegelt sich die Einstellung zum Leben insgesamt in der modernen Sterbekunst wider, nämlich einer Kunst, anstelle eines vielfältigen ‚Noch mehr‘ ein überzeugtes ‚Genug‘ zu setzen. Das pädagogische Anliegen der traditionellen Ars moriendi ist bereits in dem Begriff der Kunst (ars) enthalten, die nach mittelalterlicher Vorstellung wie ein Handwerk erlernbar und lehrbar ist, einerseits mit Hilfe einer Textsammlung, andererseits durch das imaginierte Vorbild Christi und der Heiligen. Heutige Sterbepädagogik kann auf verschiedenen Ebenen ansetzen: Neben dem traditionellen Individualstudium mit Hilfe von Büchern und anhand von Vorbildern (Sterbende/ Sterbebegleitung) sind Hinfälligkeit, Sterben und Tod – ähnlich wie Sexualität – ein Thema, das auch in den verschiedenen Schulformen und Altersstufen behutsam vermittelt werden kann: zunächst als Schicksal von anderen (Freunden, Verwandten), dann auch als eigene Disposition, mit der sich jeder Mensch grundsätzlich auseinandersetzen wird. Besichtigungen von und Praktika in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Friedhöfen und Krematorien, aber auch einschlägige Lektüre im Fachunterricht Deutsch und Fremdsprachen können Diskussion und Nachdenken anregen; da es um somatisch-biologisch-soziales Wissen und Wissensumsetzung geht, sollte dieses interdisziplinäre Sujet nicht wie bisher (wenn überhaupt) auf den Religions- oder Ethikunterricht beschränkt bleiben. Schwieriger wird es sein, das Thema in die Erwachsenenbildung zu implementieren; hier wird am ehesten

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der individuelle Zugang durch ein Betroffensein als Angehöriger möglich sein. Ziel der Sterbepädagogik sollte es sein, über das Wissen um Umstände des Sterbens und notwendige ‚präventive‘ Maßnahmen hinaus zur Bildung von Bewusstsein und zu einer eigenen Meinung anzuleiten. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn dieses Wissen auch positiven Einfluss auf das Leben im Sinne einer Ars bene vivendi hat, einer Kunst, die eigenes und fremdes Leben hochschätzt und auf dieser Basis lebenslang zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheiden und sich für Solidarität mit den Hilfsbedürftigen entscheiden lernt, zu denen man irgendwann selbst zählt. Entsprechend den pädagogischen Anliegen hatte die spätmittelalterliche Ars moriendi – trotz eines hohen normativen Anteils – eminent pragmatische Züge: Das ursprüngliche Hauptanliegen war eine konkrete Verbesserung der Sterbeseelsorge, z.B. mit Hilfe einschlägiger Texte in volkssprachlicher Übertragung. Auch moderne Sterbekunst sollte sich nicht auf persönliche Analyse, Reflexion und Meditation beschränken, die für viele Menschen ungewohnt sind oder gar elitär wirken können, sondern ihnen konkrete Hilfestellungen anbieten und damit auf die breite Bevölkerung zugehen: Lebensversicherungen („Wenn ich 100 bin, fahre ich dann immer noch spontan in die Berge?“) oder soziale Organisationen (Beispiel ‚1000Fragen-Projekt‘ der Aktion Mensch) haben bewiesen, dass öffentliche Darstellung bzw. ‚Werbung‘ geeignet ist, auch für schwierige Themen zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Es geht nicht um sensationslüsterne Enttabuisierung, sondern darum, normales Sterben und Tod (einschließlich Suizid) mehr als bislang zu einem Gesprächsthema zu machen: Worüber auf der Straße und in Talkshows gesprochen wird, darüber kann auch leichter privat verhandelt werden. Trotz aller professionellen Vorbehalte gegen ‚Checklisten‘ sollte es auch Angebote geben, die in Kürze die wichtigsten Punkte bzw. Fragen anstoßen – Bestatter bieten sie schon im Blick auf die Formalien und den Umgang mit der Leiche nach einem Todesfall an. Doch über die Verbesserung von Kommunikation und die Thematisierung zu erwartender Probleme hinaus ist auch eine konkrete Verbesserung der Begleitung Sterbender und Trauernder notwendig; sie geschieht im Spannungsfeld von notwendiger Professionalität und wünschenswerter Alltäglichkeit, von Abschiednehmen und vorsichtiger Teilhabe der Sterbenden am sozialen Leben zur Vermeidung ihrer vorzeitigen Isolation und Vereinsamung. Das kann teilweise auch im Voraus besprochen werden. Doch nicht nur Sterben und Trauern, sondern auch die entsprechende Begleitung benötigen Zeit: Dies ist die vielleicht schwierigste und aufwändigste Investition innerhalb der ‚Sterbeprävention‘. Gerade Medizinstudierende, Ärztinnen und Ärzte, aber auch möglichst viele Menschen aus der Gesellschaft sollten sich um angemessene Formen des Umgangs mit schwierigen Prognosen und tödlichen Erkrankungen bemühen. Die Mitteilung sehr ernster Diagnosen (‚Breaking bad news‘) und die Kommunikation mit Schwerkranken wie auch Sterbenden ist ein außerordentlich wichtiges Feld, das für die Sterbekultur von besonderer Bedeutung ist. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, aber auch Sensibilität und Professionalität sollten bei der Betreuung von Menschen am Lebensende zu Kernbestandteilen einer Sterbekultur gehören. Dies setzt angemessene

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Formen der Aus- und Weiterbildung wie auch menschliche Kompetenzen und ökonomische Ressourcen voraus. Expertise und Zeit werden auch benötigt bei der individuellen Bearbeitung ethischer und juristischer Problemfelder, sei es für oder gegen Sterbenlassen, Hospiz, palliative Sedierung oder aktive Sterbehilfe: Auch die Befürworter letzterer machen deutlich, dass ein Entschluss erst nach einer Kaskade von Pro- und Kontra-Überlegungen erfolgen kann. Schwierige Entscheidungen am Sterbebett erfordern neben der Zeit auch die Nachsicht (Wils) der Nicht-Betroffenen, denn es geht letztlich nicht um eine Erfüllung ethischer Standards, sondern um die Wahrung von Personalität – wobei sowohl der Wunsch, auf eine bestimmte Weise zu sterben, als auch der, sich diesbezüglich nicht entscheiden zu müssen, als persönliche Einstellung respektiert werden muss. Das ‚Gelingen‘ eigenen und fremden Sterbens ist allerdings nicht von der maximalen Umsetzung der Patientenautonomie und auch nicht nur von suffizienter Palliativmedizin, rechtzeitiger Ausfertigung von Patientenverfügung, Betreuungsvollmacht und Testament sowie Anordnungen für die Bestattung abhängig – all das gehört natürlich auch dazu –, sondern in erster Linie von einer lebenspraktischen Auseinandersetzung mit dem Ende, die nicht ohne Not abgekürzt werden sollte. Sich trotz der Fülle der Lebensaufgaben Zeit dafür zu nehmen, sich durch ein gutes Leben rechtzeitig auf das Sterben vorzubereiten, ist heute mehr denn je sinnvoll und notwendig. Literatur Antonovsky, Aaaron: Health, stress, and coping. New perspectives on mental and physical well-being. San Francisco, Jossey-Brass, 1979. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1986. Elias, Norbert: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1986. Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages: Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit. Bundestag Drucksache 15/5858, 2005. Frewer, Andreas/Eickhoff, Clemens (Hrsg.): „Euthanasie“ und die aktuelle SterbehilfeDebatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik. Frankfurt/M., New York, Campus, 2000. Frewer, Andreas/Fahr, Uwe/Rascher, Wolfgang (Hrsg.): Patientenverfügung und Ethik. Beiträge zur guten klinischen Praxis. Jahrbuch Ethik in der Klinik (JEK), Bd. 2. Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009. Hilt, Annette/Jordan, Isabella/Frewer, Andreas (Hrsg.): Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit. Geschichte – Theorie – Ethik. Stuttgart, Franz Steiner, 2010. Illhardt, Franz Josef: Ars moriendi – aktuelle Wiederentdeckung. In: Wittwer et al. (2010), S. 170–174. Illhardt, Franz Josef: Bilder vom Sterben in der Ars moriendi. Meditation der Endlichkeit als Vision der Unsterblichkeit. In: Hilt et al. (2010), S. 77–97. Imhof, Arthur E.: Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute. Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte, Bd. 22. Köln u.a., Böhlau, 1991.

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Müller-Busch, H. Christof: Freiheit zum Tod und Grenzen ärztlicher Hilfe beim Sterben. Palliativmedizin im Spannungsfeld zwischen Lebens- und Sterbehilfe. Dortmund, Humanitas-Verlag, 2001. Neitzke, Gerald/Frewer Andreas: Sedierung als Sterbehilfe? Zur medizinethischen Kultur am Lebensende. Ethik in der Medizin 16, H. 4 (2004), S. 323–333. Ridder, Michael de: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin. München, DVA, 2010. Schäfer, Daniel: Texte vom Tod. Zur Darstellung und Sinngebung des Todes im Spätmittelalter. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 570. Göppingen, KümmerleVerlag, 1995. Schäfer, Daniel: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Kultur der Medizin, Bd. 10. Frankfurt/M., New York, Campus, 2004. Wils, Jean-Pierre: Ars moriendi. Über das Sterben. Bibliothek der Lebenskunst. Frankfurt/M., Insel, 2007. Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Metzler, 2010.

I. STERBEN IN GESCHICHTE UND GEGENWART ENTWICKLUNGEN FÜR INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT

Kann die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Sterbens leisten? Héctor Wittwer 1. Die gegenwärtige Situation Wohl nie zuvor hat sich die soziale Welt in den entwickelten Staaten so rasant und so grundlegend verändert wie in der Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dies gilt auch für den individuellen und sozialen Umgang mit Sterben und Tod. Die Bräuche und Konventionen, die noch bis vor wenigen Jahrzehnten den Umgang mit den Sterbenden und den Toten verbindlich geregelt hatten, sind fast vollständig verschwunden. Der Anblick einer Witwe in Trauerkleidung dürfte hierzulande für viele Menschen ein ebenso ungewöhnliches Erlebnis sein wie der Besuch eines Grabes auf dem Friedhof. Mit Ausnahme der Beisetzung sind so gut wie alle Todesrituale aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Die Gründe für diesen Wandel im Einzelnen zu erforschen ist Aufgabe der Soziologie, nicht der Philosophie. Allerdings kann man auch ohne empirische Belege einige von ihnen mit großer Sicherheit angeben. An erster Stelle steht zweifellos die Abnahme der Bedeutung der christlichen Kirchen für die Lebensführung. Lange Zeit waren die Kirchen die unangefochtenen Autoritäten in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod. Sterbe- und Trauerrituale waren eingebettet in den Zusammenhang geteilter religiöser Überzeugungen und des Gemeindelebens. In dem Maße, in dem dieser Rahmen verloren geht, verlieren auch die den Ritualen entsprechenden sozialen Regeln an Verbindlichkeit. Weitere Gründe sind die Zunahme der sozialen Mobilität und eine allgemeine Tendenz zur Pluralisierung der Lebensweisen. Reinhard Brandt hat den Prozess des Verschwindens der alten, christlich geprägten Kultur des Sterbens folgendermaßen beschrieben: „In den europäischen Ländern gab es bis tief ins 20. Jahrhundert Sondertraditionen, in denen die Todesrituale aufbewahrt waren. Nur in gemeinsamen Zeremonien läßt sich der Tod so gut wie die Geburt und Hochzeit herausstellen; fehlen die entsprechenden Bindungen, vernichtet sich der ausdifferenzierte Todeskult von selbst zum biologischen, privat erlittenen und privat gefühlten Faktum. In bestimmten Gegenden wurden früher die Uhren angehalten, die Spiegel verhängt oder das Fenster geöffnet, solange sich der Tote noch im Hause befand. Es gab ‚harte‘ Trauer für engste Verwandte mit Kleidervorschrift und genauer Festlegung der Trauerzeit, mit sozialer Kontrolle der Vergnügungen; es war festgelegt, wie in welcher Gemeinde geläutet wurde, wie der Sarg aussah, wer ihn trug. Diese Bräuche sind inzwischen unbekannt und durch nichts ersetzt – der Tod findet keinen verbindlichen Ausdruck mehr. Der Zivilisationsfortschritt liegt paradoxerweise in der Regression von Bräuchen zur Beliebigkeit. Es ist

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Héctor Wittwer gleichgültig, was man tut, weil Tun und Lassen in der allgemeinen Kenntnislosigkeit folgenlos bleiben.“1

Brandts Charakterisierung ist sicherlich überspitzt; außerdem kann man ihr entgegenhalten, dass viele Menschen nach neuen Umgangsweisen mit Sterben und Tod suchen und dass sie dabei einen erstaunlichen Erfindungsreichtum unter Beweis stellen.2 Dennoch wird man kaum leugnen können, dass Brandts Beschreibung im Großen und Ganzen unsere gegenwärtige Situation treffend beschreibt. Während also auf der einen Seite die christlich geprägte Kultur des Sterbens und des Todes im Verschwinden begriffen ist, werden in den hoch entwickelten Staaten Menschen immer häufiger mit Problemen am Lebensende konfrontiert, für die noch keine allgemein anerkannten Lösungen bereitstehen. Dies gilt etwa für den Umgang mit Patienten im permanenten vegetativen Zustand und mit Hirntoten, für die Organexplantation bei Verstorbenen, das Problem der aktiven Sterbehilfe oder auch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Menschen heute nicht mehr zu Hause im Kreis der Familie, sondern in Krankenhäusern oder Hospizen stirbt. Somit scheint die gegenwärtige Lage durch eine wachsende Diskrepanz zwischen der sich ausbreitenden Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit im Umgang mit Sterben und Tod und den steigenden Anforderungen am Lebensende gekennzeichnet zu sein. Einerseits wird nicht mehr mittels sozialen Drucks dafür gesorgt, dass sich Menschen in bestimmter Weise verhalten, wenn sie mit Sterben oder Tod konfrontiert sind. Andererseits müssen bestimmte Fragen in Bezug auf das Lebensende eindeutig beantwortet sein, wenn verhindert werden soll, dass die Gefühle einiger Menschen verletzt oder gar der soziale Frieden gefährdet wird. Daher muss, wie so oft, in vielen Fällen das Recht an die Stelle treten, die durch den Verlust der Sittlichkeit frei geworden ist. Es ist verständlich, dass angesichts dieser Situation die Frage aufgeworfen wird, ob es möglich und sinnvoll ist, eine neue ‚Kultur des Sterbens‘ zu etablieren. In dem vorliegenden Beitrag soll geprüft werden, ob die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Sterbekultur leisten kann. Dazu muss zunächst geklärt werden, wie der Begriff der Kultur in diesem Zusammenhang sinnvollerweise verstanden werden könnte. 2. Wie ist die Frage nach einer neuen ‚Kultur des Sterbens‘ zu verstehen? Wie so viele andere Begriffe auch ist der Begriff der Kultur vieldeutig. Unter anderem bezeichnet er in einem weiten, technisch-philosophischen Sinne alle menschlichen Tätigkeiten und deren Produkte einschließlich der sozialen Institu-

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Brandt (2004), S. 22f. Ein Beispiel dafür ist die Vervielfältigung der Bestattungsweisen. Neben die tradierten Formen der Beisetzung auf dem Friedhof und der Kremierung treten immer mehr neue Weisen, mit dem Leichnam umzugehen, z.B. die Korallenriff-Bestattung, die Resomation oder die Diamantierung; vgl. dazu Groß et al. (2010).

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tionen. Der Gegensatz der Kultur in diesem weiten Sinne ist die Natur.3 Wenn nach der Möglichkeit einer neuen Sterbekultur gefragt wird, kann offensichtlich nicht Kultur in diesem weiten Sinne gemeint sein, denn eine Kultur des Sterbens und des Todes in diesem Sinne gibt es, solange menschliche Gemeinschaften existieren. Auch der individualisierte, privatisierte, unverbindliche oder desorientierte Umgang mit Sterben und Tod ist – im weiten Sinne des Wortes – Kultur. Die Natur hat uns Menschen nicht vorgegeben, wie wir uns angesichts unseres eigenen Todes und des Todes anderer zu verhalten haben. Daher können wir gar nicht umhin, mit diesem Problem auf eine nicht natürliche und insofern kulturelle Weise umzugehen. Wenn man den durch den Gegensatz zur Natur definierten Kulturbegriff zugrunde legt, kann daher die Frage nach einer neuen Kultur des Sterbens gar nicht sinnvoll gestellt werden. Diese Frage muss also auf Kultur im engeren Sinne abzielen. Während die Kultur im weiten Sinne nur in der Einzahl existiert, ist es ein wesentliches Kennzeichen der Kultur im engeren Sinne, dass es verschiedene Kulturen gibt. Man spricht etwa in Bezug auf historische Epochen von antiken, frühneuzeitlichen oder modernen Kulturen oder im Hinblick auf ihre geografische Lage von zentralafrikanischen, skandinavischen oder ostasiatischen Kulturen. Dabei bezeichnet der Begriff der Kultur eine für eine Gemeinschaft charakteristische Menge von typischen Überzeugungen, Konventionen und Verhaltensweisen. Kultur umfasst die herrschende Religion ebenso wie die geteilten moralischen Überzeugungen, Bräuche, Rituale und Höflichkeitsformen, die Art, sich zu kleiden, oder die Eigenheiten der lokalen Küche. Kultur in diesem engeren Sinne besteht zum großen Teil aus Verhaltensweisen, die sich von selbst verstehen. Sie regelt das Zusammenleben von Gemeinschaften auf verbindliche Weise und stellt deren Mitgliedern ein Reservoir von angemessenen Reaktionen auf bestimmte Widerfahrnisse zur Verfügung. Wie eine Heirat vorzubereiten und zu vollziehen ist, wie ein Kind nach der Geburt in die Gemeinschaft aufzunehmen ist, wie ein Mensch sich im Sterben zu verhalten hat und wie andere auf seinen Tod zu reagieren haben, wird von den unterschiedlichen Kulturen zwar mehr oder weniger detailliert, jedoch immer auf verbindliche Weise vorgegeben. Somit erfüllt Kultur im engeren Sinne einerseits eine Entlastungsfunktion: Sie nimmt den Einzelnen die Last bestimmter Entscheidungen ab, weil durch die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln der Gemeinschaft bereits festgelegt ist, wie ‚man‘ sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat. Andererseits beschränkt sie dadurch die Freiheit der Individuen, weil diese nicht einfach nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden dürfen, wie sie sich unter bestimmten Umständen verhalten. Solange die Individuen sich den Inhalt der innerhalb ihrer Kultur geltenden sozialen Regeln so sehr zu eigen gemacht haben, dass sie diese in aller Regel freiwillig befolgen, ist die Kultur in sich gefestigt. Sobald die Einzelnen die sozialen Normen nur noch widerwillig oder gar nicht mehr einhalten, weil sie diese als Beschränkungen ihrer Freiheit auffassen, setzt der Prozess der Auflösung der Kultur im engeren Sinne ein. 3

Vgl. dazu den Überblick bei O. Schwemmer (2010).

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Wenn man von dem engeren Kulturbegriff ausgeht, lässt sich die ‚neue Kultur des Sterbens‘ in etwa folgendermaßen charakterisieren: Eine neue Sterbekultur würde die Gesamtheit der Verhaltensweisen umfassen, die hinreichend vielen Mitbürgern als angemessen gegenüber Sterben und Tod beurteilt würden, sowie die Überzeugungen, die jenen Verhaltensweisen zugrunde lägen. Eine solche Sterbekultur würde an die Stelle der gegenwärtigen heterogenen Umgangsweisen mit dem Lebensende treten und gewährleisten, dass das Verhalten aller Beteiligten am Lebensende wieder verbindlich geregelt wäre, ohne dass es dazu rechtlicher Normen bedürfte. Die neue Kultur des Sterbens könnte zwei Funktionen erfüllen. Erstens würde sie die Individuen von schwierigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Lebensende entlasten. Zweitens wäre sie möglicherweise geeignet, das Sterben in dem Sinne zu erleichtern, dass sie zu einer größeren Akzeptanz der Sterblichkeit im Allgemeinen und des einzelnen Todes im Besonderen beitrüge. – Selbstverständlich sind diese Bemerkungen zum Begriff der neuen Sterbekultur nicht mit dem Anspruch einer Definition derselben verbunden. Stattdessen sollen sie die postulierte Ars moriendi nova nur so weit eingrenzen, dass es möglich wird, die Frage zu beantworten, ob die Philosophie einen Beitrag zu dieser neuen Kultur des Sterbens und des Todes leisten kann. 3. Kann die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Sterbens leisten? Kultur im engeren Sinne besteht zum großen Teil aus Selbstverständlichkeiten. Wo es sich für die allermeisten Mitglieder einer Gemeinschaft von selbst versteht, dass sie sich in bestimmten Situationen auf eine ganz bestimmte Weise zu verhalten haben, weil sie innerhalb ihrer Gemeinschaft von der Angemessenheit dieses Verhaltens überzeugt sind, dort leben Menschen in einer Kultur im engeren Sinne. Wenn dies richtig ist, dann kann die Titelfrage des vorliegenden Beitrags folgendermaßen präzisiert werden: Kann die Philosophie einen Beitrag dazu leisten, dass es in modernen Gesellschaften wie der bundesdeutschen am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eine Menge von Verhaltensweisen gegenüber Sterben und Tod gibt, die von der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger für angemessen oder gar verbindlich gehalten und daher regelmäßig praktiziert werden? Auf den ersten Blick scheint die Philosophie dazu nicht geeignet zu sein, weil sie zwei Eigenheiten aufweist, die der Beförderung einer Kultur im engeren Sinne nicht zuträglich sind: Erstens lässt sie grundsätzlich nichts als selbstverständlich gelten; und zweitens gehört der Dissens wesentlich zur Philosophie. Diese beiden charakteristischen Merkmale der Philosophie sollen im Folgenden näher erläutert werden. Eines der wesentlichen Merkmale der Philosophie besteht darin, dass sie grundsätzlich kritisch verfährt. Wer auf redliche Weise philosophiert, für den ver-

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steht sich prinzipiell keine philosophische Aussage von selbst.4 Die Einschränkung ‚prinzipiell‘ besagt dabei, dass es keine philosophische Annahme gibt, die immun gegenüber Einwänden wäre. Freilich können innerhalb einer bestimmten philosophischen Untersuchung nicht alle Voraussetzungen zugleich in Frage gestellt werden. Jeder Gedankengang muss von mindestens einer Voraussetzung ausgehen, die in ihm nicht in Zweifel gezogen wird. Dies gilt selbst für die sokratische Methode der Befragung, weil der platonische Sokrates in aller Regel ohne Begründung voraussetzt, dass sich bestimmte Untersuchungsgegenstände, wie etwa die Gerechtigkeit, durch die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen definieren lassen. Wie ein Blick auf Wittgensteins Lehre von den Familienähnlichkeiten zeigt, versteht sich diese Annahme nicht von selbst. Auch Descartes’ Methode des radikalen Zweifels ist nicht voraussetzungslos. Sie setzt unter anderem voraus, dass ein Mensch die Existenz seines eigenen Körpers sinnvollerweise infrage stellen kann. Diese Beispiele sollen zweierlei verdeutlichen. Einerseits können in einer philosophischen Untersuchung niemals alle Annahmen zugleich bezweifelt werden. Selbst im Extremfall muss sie von mindestens einer gehaltvollen Voraussetzung ausgehen, und sei es nur der Satz vom Widerspruch oder der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Andererseits kann grundsätzlich jede philosophische Annahme kritisch geprüft werden. Davon sind selbst die Sätze vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten nicht ausgenommen. Zweitens gehört der Dissens wesentlich zur Philosophie. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass Philosophen häufig rechthaberischer als ihre Kollegen aus anderen Fächern sind, sondern er ergibt sich aus einer anderen Eigenheit der Philosophie. Vergleicht man die Philosophie mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, dann fällt auf, dass es in der Philosophie im Gegensatz zu fast allen anderen Wissenschaften beinahe keinen Kanon allgemein anerkannter Lehrmeinungen und auch kaum einen eindeutig feststellbaren Fortschritt gibt. In Fächern wie der Chemie, der Archäologie oder der Biologie ist unstrittig, dass bestimmte ältere Theorien falsch und somit überholt sind. Der wissenschaftliche Fortschritt ist über sie hinweggegangen. Von Interesse sind sie nur noch für Wissenschaftshistoriker. Ganz anders verhält es sich in der Philosophie. Die Schriften Platons, Aristoteles’, Descartes’, Kants oder anderer Klassiker sind nicht nur von philosophiehistorischem, sondern auch von systematischem Interesse, und zwar deshalb, weil ihre Lehren nicht einfach durch den Erkenntnisfortschritt widerlegt worden sind.

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Die Einschränkung auf philosophische Aussagen ist nötig, weil es zahlreiche andere Aussagen gibt, welche die Philosophie mit den ihr eigenen Methoden überhaupt nicht sinnvollerweise bezweifeln kann. Dazu zählen alle konstatierenden Aussagen über Ereignisse, Dinge und Zustände in der Welt. Ob die Berliner Mauer am 9. November 1989 ‚fiel‘, ist keine philosophische Frage, ob Berlin ca. dreieinhalb Millionen Einwohner hat, ebenso wenig. Ferner gehören zu der Menge der Aussagen, die philosophisch nicht sinnvollerweise in Frage gestellt werden können, alle gesicherten Erkenntnisse der anderen Wissenschaften. Dies schließt freilich nicht aus, dass sich die Philosophie in kritischer Absicht mit den Grundbegriffen dieser Disziplinen beschäftigt.

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Diese Tatsache, die Vertretern anderer Disziplinen oft überaus befremdlich erscheint und sie zuweilen dazu veranlasst, der Philosophie vorschnell den Titel einer Wissenschaft abzusprechen, ergibt sich daraus, dass es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum Methoden gibt, die es gestatten würden, überkommene philosophische Lehren auf objektiv unbezweifelbare Weise zu bestätigen oder zu widerlegen. Philosophische Argumentationen können aus mehreren Gründen niemals den gleichen Grad an Evidenz erreichen wie Experimente, Quellenfunde oder Berechnungen. Erstens lassen sich philosophische Streitfragen in aller Regel nicht allein auf empirischem Wege entscheiden. Ob beispielsweise der Mensch die Fähigkeit hat, frei zu entscheiden, oder ob alle seine Entscheidungen durch strikte natürliche Verlaufsgesetze determiniert sind, kann nicht rein empirisch geklärt werden. Zwar spielen Tatsachen für die Beantwortung dieser Frage eine Rolle. Entscheidend ist aber die begriffliche Interpretation und Einordnung dieser empirischen Befunde. Insofern ist das Problem der Willensfreiheit in erster Linie ein metaphysisches Problem.5 Besonders deutlich wird diese Eigenart der Philosophie, wenn man sich evaluativen und normativen Fragen zuwendet. Ob etwa der kategorische Imperativ, der Grundsatz des größten Glücks der größten Anzahl oder irgendein anderer Grundsatz das Prinzip der Moral ist und ob diese überhaupt auf einem einzigen Prinzip beruht, diese begrifflichen und normativen Fragen lassen sich offensichtlich nicht empirisch beantworten. Ein weiteres Beispiel: Wer die Frage, ob sich die Abtreibung oder die Todesstrafe ethisch rechtfertigen lassen, durch Umfragen oder andere empirische Untersuchungen zu beantworten versucht, der zeigt damit nur, dass er die Frage nicht verstanden hat. Diese zielt nämlich nicht darauf ab, zu ermitteln, ob bestimmte Menschen die Abtreibung oder die Todesstrafe billigen oder verurteilen. Vielmehr sollen die normativen Gründe angeführt werden, die für und gegen diese Handlungsweisen und damit auch für und gegen ihre Billigung sprechen. Da nun zahlreiche grundlegende Annahmen der Philosophie einer empirischen, logischen oder mathematischen Überprüfung gar nicht zugänglich sind, kommt der Einsicht, den persönlichen Vorlieben und der religiösen oder areligiösen Einstellung der Philosophierenden eine viel größere Bedeutung für den Inhalt der von ihnen vertretenen Thesen zu als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Wenn, um auf das Beispiel zurückzukommen, der Streit zwischen Kantianern und Utilitaristen empirisch, formallogisch oder mathematisch entscheidbar wäre, dann wäre er auch längst entschieden worden. Da er aber prinzipiell nicht auf den drei genannten Wegen entschieden werden kann, dauert er nun schon seit Jahrhunderten an. Ob der Einzelne sich der einen oder der anderen Schule anschließt, hängt aus demselben Grunde nicht nur von der Stärke der Argumente ab, die beide Seiten vorbringen, sondern auch von seinem Temperament, seinen vorphilosophischen Überzeugungen und Neigungen und nicht zuletzt davon ab, ob er gläubig oder ungläubig ist.

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Vgl. dazu G. Keil (2007), S. 34ff.

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Aus den genannten Gründen führt die Beschäftigung mit philosophischen Fragen in der Regel nicht dazu, dass die Überzeugungen der Beteiligten homogener werden. Im Gegenteil: Aufgrund ihres kritischen und dissensfördernden Charakters leistet die Philosophie eher einer Heterogenisierung und Individualisierung der Überzeugungen Vorschub. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in Diktaturen, die sich auf bestimmte Ideologien der Gemeinschaftlichkeit gründen, die Philosophie stets mit besonderem Misstrauen beobachtet oder gar in ihrer Ausübung beschränkt wird. Halten wir folgendes vorläufiges Ergebnis fest: Für die Philosophie versteht sich grundsätzlich keine philosophische Annahme von selbst, und der Dissens gehört wesentlich zum Philosophieren. – Was haben diese Feststellungen mit der Frage zu tun, ob die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Sterbens leisten kann? Im Allgemeinen lässt sich zunächst feststellen, dass die Philosophie ungeeignet erscheint, zur Etablierung allgemein verbindlicher Verhaltensweisen beizutragen, weil sie grundsätzlich keine Verbindlichkeit anerkennt, die nicht in Frage gestellt werden dürfte. Dazu ist sie umso weniger geeignet, als die Uneinigkeit untrennbar mit der philosophischen Praxis verbunden ist. Als kritische Praxis benötigt sie zwar, um gedeihen zu können, ein kulturelles Umfeld, in dem Zweifel und Meinungsverschiedenheiten geduldet werden. Aus den genannten Gründen dürfte sie selbst aber kaum imstande sein, allgemein anerkannte Orientierungspunkte für eine bestimmte Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. In ihrer Allgemeinheit mögen diese Behauptungen noch etwas vage klingen. Sie konkretisieren sich, wenn man sie auf die Themen ‚Sterben‘ und ‚Tod‘ bezieht. Man kann ein beliebiges Problem der philosophischen Thanatologie herausgreifen – in jedem Fall wird man wieder auf die zwei genannten Eigenheiten der Philosophie stoßen: In ihr kann grundsätzlich jede philosophische Annahme in Frage gestellt werden, und es herrscht bis heute keine Einigkeit über irgendein thanatologisches Problem. Diese Behauptungen sollen anhand einiger Beispiele belegt werden. In Bezug auf das Ende des Lebens erscheint denjenigen, die sich noch nie mit der Philosophie des Todes beschäftigt haben, wohl keine Annahme selbstverständlicher als diejenige, dass der Tod in aller Regel schlecht für den Betroffenen ist. Der platonische Sokrates hat die Richtigkeit dieser Auffassung jedoch bezweifelt und angedeutet, dass der Tod zumindest für die Philosophierenden vielmehr etwas Gutes sein kann: die Trennung der Seele vom Leib. Epikur und sein Anhänger Lukrez haben die Annahme, dass der Tod ein Übel ist, aus ganz anderen Gründen ebenso radikal in Frage gestellt. Die Thesen dieser drei Denker widerstreiten einer geläufigen Meinung über den Tod. In dieser Hinsicht stellen sie keine Ausnahmen dar, wie sich an einem weiteren, aus der Gegenwart stammenden Beispiel zeigen lässt: Außerhalb akademischer Kreise käme wahrscheinlich niemand auf den Gedanken, dass Patienten im permanenten vegetativen Zustand, dem sogenannten Wachkoma, tot sind. Da ihr Hirnstamm unversehrt ist, sind ihre Körper imstande, alle wesentlichen Lebensfunktionen von sich aus aufrechtzuerhalten: Sie atmen, ihr Herz schlägt, sie regulieren ihre Temperatur usw. Daher können sie, ausreichende künstliche Ernährung und Pflege vorausgesetzt, jahre-

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lang – im allgemein geläufigen Sinne des Wortes – weiterleben. Diese so selbstverständlich erscheinende Annahme wird jedoch seit etwa vierzig Jahren von etlichen Autoren bestritten.6 Sie vertreten die Auffassung, dass der menschliche Tod mit dem Ende der personalen Existenz zusammenfällt. Dabei gehen sie von einem durch den englischen Philosophen John Locke geprägten Verständnis des Begriffs ‚Person‘ aus: Personen sind nur die Wesen, die über bestimmte kognitive und praktische Fähigkeiten verfügen, wie etwa Selbstbewusstsein, Erinnerungen an die eigene Vergangenheit und Handlungsfähigkeit. Gemäß diesen Voraussetzungen sind Wachkomapatienten tatsächlich tot. Wie diese beiden Beispiele verdeutlichen, sind selbst die grundlegendsten Meinungen über Sterben und Tod nicht gegen philosophische Kritik gefeit. Jede noch so verbreitete und durch jahrhundertealte Tradition gestützte Annahme über das Ende des menschlichen Lebens ist grundsätzlich der philosophischen Prüfung ausgesetzt. Statt Menschen in ihren Überzeugungen über Sterben und Tod zu bekräftigen, sorgt die philosophische Beschäftigung mit diesen Themen häufig dafür, dass diejenigen, die vorher gefestigte Haltungen zum Lebensende hatten, verunsichert werden. Dies bestätigt sich immer wieder in Seminaren über die Philosophie des Todes: Viele Studierende sind durch die philosophischen Zweifel an den geläufigen Meinungen über den Tod ausgesprochen verstört. Dies führt in manchen Fällen sogar so weit, dass der Begründungszusammenhang zwischen Argumenten und Überzeugungen absichtlich aufgelöst wird. Beispielsweise erscheint einigen Humes Kritik an der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele völlig schlüssig, und dennoch halten sie an der Überzeugung fest, dass es eine Seele gibt und dass diese unsterblich ist. Andere akzeptieren Epikurs Argumente für die These, dass der Tod kein Übel sein kann, und versichern auf Nachfrage, dass sie trotzdem weiterhin von der Schlechtigkeit des Todes überzeugt sind. Leider kann die Beschäftigung mit der philosophischen Thanatologie auch zu diesem durchaus nicht wünschenswerten Ergebnis führen. Statt Orientierung zu geben, kann sie verwirrend und verunsichernd wirken. Das gilt auch für den dissensfördernden Charakter der Philosophie. Zu keinem einzigen Problem der Philosophie des Todes gibt es eine allgemein anerkannte philosophische Lehre. Wohin man auch schaut, herrscht Uneinigkeit. Ist der Tod immer schlecht? Ja, sagen die einen; nein, sagen die anderen. Sind Leichen tote Menschen oder Sachen? Beide Auffassungen werden vertreten. Ist das Hirntodkriterium, sei es als Teil- oder als Ganzhirntodkriterium, der angemessene Maßstab für die Bestimmung des menschlichen Todes? Diese Annahme wird von den einen ebenso vehement vertreten, wie sie von anderen bestritten wird. Wie verhält es sich mit der Zulässigkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid? In Bezug auf diese Frage werden alle möglichen Auffassungen vertreten. Manche halten sie für moralisch verboten, andere für erlaubt, einige in bestimmten Fällen sogar für geboten. Aus diesen wenigen, aber aussagekräftigen Beispielen dürfte hervorgegangen sein, dass man von uns, den akademischen Vertretern des Fachs Philosophie, kei6

Vgl. beispielsweise K. G. Gervais (1986), S. 171ff.; J. P. Lizza (2006), S. 17 und öfter.

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ne einhellige Antwort auf irgendeine das Ende des menschlichen Lebens betreffende Frage erwarten darf. Unter Philosophen herrscht nicht einmal Einigkeit darüber, ob man überhaupt sinnvoll über den Tod sprechen kann. Unter diesen Voraussetzungen scheint die Hoffnung, dass die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Kultur des Sterbens leisten könne, unbegründet zu sein. Wenn eine Kultur des Sterbens geteilte Überzeugungen über den Tod und über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Tötens und des Sterbenslassens voraussetzt, wenn eine Kultur – wie ich früher behauptet habe – zum großen Teil aus Selbstverständlichkeiten besteht, dann wird man von der Philosophie keine Unterstützung bei der Etablierung einer neuen Sterbekultur erhoffen dürfen. Die bisher angestellten Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass die Titelfrage dieses Beitrags verneint werden muss. Ist dieses Resultat unvermeidlich, oder kann man den möglichen Beitrag der Philosophie zu einer neuen Sterbekultur auch zuversichtlicher beurteilen, wenn man von einem anderen Verständnis des Begriffs ‚Kultur‘ ausgeht? Dieser Frage möchte ich im abschließenden Abschnitt nachgehen. 4. Eine neue Sterbekultur als Kultur der Reflexion Sofern man unter Kultur im engeren Sinne ein System innerhalb einer Gemeinschaft geteilter Überzeugungen und als angemessen oder verbindlich geltender Verhaltensweisen versteht, muss die Frage, ob die Philosophie einen Beitrag zu einer neuen Sterbekultur leisten kann, verneint werden. Man kann dem Begriff der Kultur jedoch auch eine andere Bedeutung geben. Wenn man davon ausgeht, dass ein hohes Maß von Individualisierung und Heterogenität ein charakteristisches Merkmal aller modernen Gesellschaften ist und dass die entsprechenden Prozesse der Individualisierung und der Pluralisierung im Rahmen solcher Gesellschaften unumkehrbar sind, dann kann die verloren gegangene Kultur des Sterbens im Sinne einer Menge von als selbstverständlich geltenden Verhaltensweisen im Angesicht von Sterben und Tod ohnehin nicht wiederbelebt werden. Somit kann das Ziel einer Erneuerung der Sterbekultur nicht darin bestehen, einen neuen, allgemein verbindlichen Rahmen für den Umgang mit Sterben und Tod zu schaffen. Eine Alternative zu dieser sowieso nicht realisierbaren Wiederversittlichung scheint mir in der Verbreitung und Steigerung der Reflexivität in Bezug auf Sterben, Tod und Sterblichkeit zu bestehen. Versteht man unter einer neuen Kultur des Sterbens einen öffentlichen, reflektierten und informierten Umgang mit den Problemen am Ende des menschlichen Lebens, dann kann die Philosophie sehr wohl einen Beitrag zur Erneuerung der Sterbekultur leisten. Eines der Probleme, auf welche die Forderung nach einer neuen Kultur des Sterbens reagiert, besteht darin, dass viele Menschen nicht wissen, wie sie gedanklich mit der Tatsache, dass sie sterblich sind, mit dem Sterben und mit dem Tod umgehen sollen. Die religiösen Interpretationen haben für sie ihre Überzeugungskraft verloren und eine Leerstelle hinterlassen. Aus den bereits genannten Gründen kann die Philosophie diese Leere nicht einfach mit neuen Überzeugun-

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gen ausfüllen. Sie kann jedoch Hilfe dabei leisten, sich überhaupt auf geistige Weise mit dem Sterben, dem Tod und der Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Sie kann die aus der Geschichte und der Gegenwart der Philosophie bekannten Probleme systematisieren und vermitteln. Sie kann die Argumente, die jeweils pro und kontra bezüglich einer bestimmten Auffassung vorgetragen werden, darstellen und analysieren. Auf diese Weise könnte es ihr gelingen, ein Reservoir an geistigen Werkzeugen anzubieten, aus dem die Einzelnen dann allerdings nach ihrer eigenen Einsicht auswählen müssen. Diese etwas abstrakt klingende Auffassung lässt sich anhand eines Beispiels erläutern. Viele Menschen gehen, ohne jemals gründlich darüber nachgedacht zu haben, davon aus, dass Unsterblichkeit wünschenswert ist, sei es in der Form der Fortexistenz der Seele oder als körperliche Unsterblichkeit. Die Beschäftigung mit der Philosophie kann ihnen dabei helfen, sich mit dieser unreflektierten Überzeugung auseinanderzusetzen. Wenn sie beispielsweise Bernard Williams’ Argumente für die Langeweile der körperlichen Unsterblichkeit kennenlernen,7 werden sie herausgefordert, ihre eigene Auffassung mit guten Gründen zu verteidigen oder sie zu revidieren. Entscheidend ist dabei nicht, ob sie an ihrer Überzeugung festhalten oder nicht, sondern dass sie überhaupt eine reflektierte, auf der Kenntnis möglicher Einwände beruhende Haltung zu der Frage, ob Unsterblichkeit wünschenswert ist, gewinnen. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Art der Verbreitung und der Steigerung der Reflexivität in Bezug auf das Lebensende besonders für Bildung in all ihren Formen anbietet: für den Schulunterricht in den Fächern Ethik oder Philosophie, für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, Radio- und Fernsehsendungen. In allen diesen Bereichen können Philosophierende einen Beitrag zu einer als Kultur der Reflexion verstandenen Kultur des Sterbens leisten. Dadurch könnten sie auch dazu beitragen, dass immer mehr Menschen nicht unvorbereitet sterben, sondern dass sie sich gedanklich bereits mit dem Faktum der Sterblichkeit auseinandergesetzt haben. Freilich darf man den möglichen Beitrag der Philosophie zu einer neuen Kultur des Sterbens nicht überschätzen. Weil der Dissens wesentlich für die Philosophie ist, wird die Öffentlichkeit von der Philosophie zu keinem einzigen praktischen Problem eine einhellige Stellungnahme erhalten. Eines wird die Öffentlichkeit aber sehr wohl von den Philosophierenden erwarten dürfen: Sie können darlegen, welche Argumente sich überhaupt für die Handlungsoptionen anführen lassen und worin die Stärken und die Schwächen dieser Argumente bestehen. Diesen bescheidenen Beitrag zu einer neuen, reflexiven Kultur des Sterbens sollte man nicht gering schätzen.

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Vgl. B. Williams’ bekannten Aufsatz (1978).

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Literatur Brandt, Reinhard: ‚Den Tod aber statuiere ich nicht‘. In: K. P. Liessmann (Hrsg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit. Wien, 2004, S. 20– 44. Gervais, Karen Grandstrand: Redefining Death. New Haven/London, 1986. Groß, Dominik/Ziefle, Martina/Schäfer, Daniel: Bestattungsformen – Wandel in der Moderne. In: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2010, S. 266–276. Keil, Geert: Willensfreiheit. Berlin/New York, 2007. Lizza, John P.: Persons, Humanity, and the Definition of Death. Baltimore, 2006. Schwemmer, Oswald: Kultur. In: H. J. Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. 2., erweiterte Auflage, Bd. 2, Hamburg, 2010, Sp. 1335–1340. Williams, Bernhard: Die Sache Makropulos: Reflexionen über die Langeweile der Unsterblichkeit. In: Ders., Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972. Stuttgart 1978, S. 133–162. Wittwer, Héctor: Philosophie des Todes. Stuttgart 2009. Héctor Wittwer/ Schäfer, Daniel / Frewer, Andreas (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, 2010

Ars moriendi: Über das Verhältnis von Weltanschauung, Recht und Moral Jean-Pierre Wils 1. Eine persönliche Bemerkung vorab Der lauter werdende Ruf nach einer neuen Sterbekultur gehört zu den untrüglichen Zeichen eines Unbehagens. Eine Ars moriendi nova legt nahe, dass es einen Verlust gegeben hat, den Verlust einer traditionellen Sterbekultur. Woraus dieser Verlust jedoch genau besteht, ist ganz und gar nicht evident. Dass er irgendwie mit der ‚Moderne‘ zu tun hat, leuchtet zwar unmittelbar ein, aber genau diese scheinbare Evidenz sollte uns skeptisch machen. Der Schlüssel der Modernitätskritik passt momentan nämlich auf nahezu alle Türen, die an den Scharnieren der Nostalgie und der Zukunftsangst befestigt sind. Ich glaube, dass wir kaum einen Grund haben, uns nach den Sterbeumständen vormoderner Menschen zurückzusehnen. Alleine schon die nahezu vollständige Abwesenheit von schmerzlindernden Mitteln – ein banaler Sachverhalt – sollte uns zu denken geben. Aber auch die Vorstellung, Menschen seien zumindest im behütenden Rahmen religiöser Überzeugungen gestorben, ist ergänzungsbedürftig. Wir sind oft fixiert auf das Trostpotenzial von Religionen, vergessen aber – gegenwartstypisch – deren Angstpotenzial. Die alte Ars moriendi war nicht in letzter Instanz eine Angstbewältigungsstrategie. Nicht der Trost-, sondern der Drohkosmos religiöser Jenseits- und Strafvorstellungen gehörte zu ihren stärksten Motiven. Dennoch kann man kaum leugnen, dass sich Transformationen im Umfeld der Sterbepraktiken ereignet haben, die zu Irritationen und Verunsicherungen führen. Das deutlichste Kennzeichen einer solchen Veränderung lässt sich an den neuen Begräbnisriten ablesen. Die Beerdigungspraktiken und die Friedhöfe nachchristlicher Provenienz sind augenfällig anders als ihre traditionellen Vorformen. Der Verstorbene als Individuum steht nun im Mittelpunkt, seine (behauptete) unverwechselbare Andersheit will ultimativ gewürdigt werden. Die Grabstätten mit ihrer Vielfalt an nicht-orthodoxer Symbolik spiegeln diese Andersheit unmittelbar wider. In Beerdigungsangelegenheiten herrscht ein heiterer Non-Konformismus. Jene Praktiken sind mittlerweile zu Wettbewerben der Originalität geworden. Es „scheint“ die „‚longue durée‘ der mitteleuropäischen Sterbe- und Todeskultur“, wie die Autoren des Essays behaupten, nicht „abzubrechen“, sie ist abgebrochen. Gleichzeitig nimmt die Fürsorglichkeit im Umgang mit den Sterbenden nicht ab, sondern zu. Die ethischen Diskussionen über das Sterben sind nicht Ausdruck von Moralverlusten, wie immer wieder beschworen wird, als vielmehr die Folge gestiegener Sensibilitäten und das Ergebnis einer Personalisierung von Sterben

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und Tod. Eine solche Personalisierung führt unweigerlich zu einer wachsenden Pluralisierung der ethischen Überzeugungen. Diese Pluralisierung birgt aber ein Konfliktpotenzial. 2. Weltanschauungsneutralität in der Ars moriendi nova? In ihrem Essay „Ars moriendi nova: Überlegungen zu einer neuen Sterbekultur“ wird von den Autoren Daniel Schäfer, Andreas Frewer und Christoph MüllerBusch in Hinblick auf die vorliegende Publikation die Thematisierung „mentale[r], visuelle[r], pädagogische[r] und pragmatische[r] Möglichkeiten der Vorbereitung möglichst vieler Menschen auf das Sterben“ in Aussicht gestellt. Daran schließt sich folgender Satz an: „Es soll dabei von einer weltanschaulich neutralen Basis ausgegangen werden, die notwendige, aber nicht hinreichende Argumente für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod legt, weshalb zusätzliche Elemente – etwa (moral)philosophische Normen oder religiöse Werte – individuell darauf aufgebaut werden können. Sinngebung oder Sinnlosigkeit von Sterben, Tod und Jenseitsglaube werden deshalb hier nicht primär erwogen, auch wenn derartige Deutungen bei diesen Themen implizit immer mitschwingen und natürlich auch Konsequenzen für die Sterbepraxis haben können.“1

In diesem Zitat schwingt ein Stufenmodell mit, das meiner Ansicht nach nicht, wie auf den ersten Blick ersichtlich, aus zwei, sondern aus drei Ebenen besteht. Die „weltanschaulich neutrale Basis“ enthält die „notwendigen“ Argumente für die „Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod“; „zusätzliche Elemente“ moralphilosophischer oder wertereligiöser Natur – die zweite Ebene – stellen „hinreichende Argumente“ für diese Konfrontation mit dem eigenen Tod zur Verfügung; eine dritte Ebene, die ich die „metaphysisch-weltanschauliche“ nennen möchte, sollte eher nicht thematisiert werden, obwohl ihr Einfluss auf die Sterbepraxis ausdrücklich hervorgehoben wird. Die zweite Ebene unterscheidet sich deutlich von der dritten: Jene enthält ethische Sachverhalte, nämlich „Normen“ und „Werte“, während auf der letzteren Ebene typische Elemente weltanschaulicher Provenienz zu verzeichnen sind: Sinn-Fragen, sogenannte „letzte Fragen“. Dieses Stufenmodell ist bemerkenswert, denn es trennt die neue Ars moriendi, die Ars moriendi nova, von der alten. Letztere war nämlich in nahezu jeder Hinsicht metaphysisch-weltanschaulicher Abkunft. Man müsste das Stufenmodell geradezu umstülpen, um die alte Ars moriendi angemessen verstehen zu können. Sie fußte nämlich auf einem weltanschaulichen Fundament und beruhte auf dem Glauben an die Nach-Welt, an das Jenseits der irdischen Existenz. Der Gläubige war ein Leben lang mit einer Jenseitswarnung konfrontiert: Wer des Himmels teilhaftig werden wollte, müsste in der Sterbestunde für eine sittlich einwandfreie Verfassung sorgen. Als Versicherung gegen die Folgen eines plötzlichen Todes, der einem die Chance zu einer Selbsterforschung in moralischer Hinsicht nicht mehr bieten konnte, wollte man vorbereitet sein – eben durch Techniken der 1

Siehe in diesem Band S. 15–23.

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Selbstuntersuchung, durch das Aufspüren, Finden und Bekennen der Sünden in der Aussicht auf Vergebung.2 Die religiöse Überzeugung oder der Himmels- und Höllenglaube bildeten die Grundlage dieser Technik. Ohne diese Überzeugung lässt sich die traditionelle Ars moriendi nicht begreifen. Jener Glaube ist die notwendige Voraussetzung für die „Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod“. Auf der zweiten Ebene stoßen wir auch hier auf eine moralisch-religiöse Welt, die von Tugenden, Verhaltensregeln und rituellen Praktiken geprägt ist; deren Wahrheit muss angeeignet und deren Verbindlichkeit eingeübt werden. In der Sterbevorbereitung prägt sich diese Wahrheit in ein ganzes Panorama von Rücksichten aus, die in den Anleitungen und Bilderkatalogen der Ars moriendi zusammengefasst und auf das Maß einer operationalisierbaren Selbstbefragung reduziert werden müssen. Die mögliche dritte Ebene des (alten) Modells, die Ebene der weltanschauungsneutralen Argumente, lässt sich nur sehr schwer markieren. Weltanschauungsneutralität ist in der alten Ars moriendi natürlich ein komplettes Fremdwort. Sie ist geradezu undenkbar. Nur mittels einer Übertragung kann man an dieser Stufe festhalten. Unabhängig von religiösen Auffassungen und von moralischen Kodifizierungen sind nur die physiologischen Bedingungen des Sterbens und die raum-zeitlichen Umstände. Für die medizinischen Kenntnisse gilt diese Unabhängigkeit bereits nur noch in einem eingeschränkten Sinne. Das alte Modell ist somit faktisch zweistufig. Das dreistufige Modell, das die Autoren vor Augen haben, hat natürlich einen ganz bestimmten Hintergrund – die Tatsache nämlich, dass wir in einer weltanschaulich pluralisierten und kulturell heterogen gewordenen Gesellschaft leben und sterben. Diese Pluralisierung und Heterogenität betreffen die Riten, die moralischen Normen und die weltanschaulichen Deutungen gleichermaßen. Das Recht hat die Funktion, inmitten dieser Heterogenität für die allgemeingültige Verbindlichkeit von grundrechtlichen und moralischen Elementarstandards zu sorgen. Diese Allgemeingültigkeit kann ihrem Wesen nach also nur auf einer weltanschauungsneutralen Grundlage beruhen. Eine Formulierung aus dem Essay passt aber auf den ersten Blick nicht in das Schema. Wie soll man sich nämlich eine Auseinandersetzung mit dem „eigenen Tod“ vorstellen, die auf einer weltanschauungsneutralen Basis beruht und für diese Auseinandersetzung die „notwendigen“, wenn auch nicht hinreichenden Argumente zur Verfügung stellt? Man könnte geradezu die Gegenposition vertreten, die besagt, dass die Befassung mit dem eigenen Tod immer eine ausgeprägt weltanschauliche Komponente enthält, wobei unter „Weltanschauung“ sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Auffassungen verschiedenster Herkunft verstanden werden können. Aber die besagte Formulierung bekommt einen anderen Sinn, wenn man den Fehler nicht begeht, das Adjektiv „eigen“ mit „individuell“ zu verwechseln. Dann nämlich besagt sie in eine Frage gegossen: Wie lässt sich der Streit zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen vermeiden, die jede für sich in Anspruch nehmen, für das Kollektiv ihrer Anhänger eine verbindliche Antwort oder Anleitung für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod zu besitzen? Insofern eine sol2

Vgl. Imhof (1998); Wils (2007).

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che Weltanschauung einen systematischen bzw. substanziell ausgearbeiteten und meistens auch einen systemischen bzw. institutionellen Charakter hat, ist Weltanschauungspluralität kein Sachverhalt, den man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Vielleicht sind es seltener die Riten mit ihrem weltanschauungsimprägnierten Repertoire, die zu Kollisionen führen, als vielmehr die moralischen Regeln im Umgang mit dem Sterben, die Konflikte hervorrufen können, insofern sie weltanschaulicher und religiöser Herkunft sind. 3. Zwei ethische Paradigmen Diese Spannung kann man anhand einer moralischen Haltung verdeutlichen, die gemeinhin die der ‚Selbstsorge‘ genannt wird. Es ist hier nicht der Ort, die historischen Wurzeln dieser Tugend zu thematisieren und ihre Renaissance in den gegenwärtigen Ethiken des guten Lebens zu bewerten. Die Selbstsorge betrifft in der antiken Ethik eine Praxis des Subjekts, die aus verschiedenen Techniken der Askese besteht, wobei ‚Askese‘ hier am besten als eine Technik der Selbstkontrolle und der Selbstformung bzw. Selbstbildung verstanden werden kann. Michel Foucault muss als prominenter Anwalt dieser Moralphilosophie und als Propagandist ihrer Wiederkehr gelten. In den Praktiken der Selbstsorge, die von der Gesundheit, dem Sex, der Freundschaft bis zu der Haltung zum Tode reichen, konstituiert sich gewissermaßen ein Subjekt, das sich selbst, wie Foucault formuliert, „als Zweck seines Daseins“ setzt. Dieses Subjekt möchte eine innere Stabilität erhalten, die es gegen die Wechselfälle des Lebens wappnet. Immer wieder hat Foucault darauf hingewiesen, dass die Selbstsorge nicht mit moralischer Regelkonformität verwechselt werden dürfe. Es „scheint mir“, schreibt er, „dass dieser philosophischen Askese, dieser selbstpraktischen Askese keine Unterwerfung des Individuums unter das Gesetz zugrunde liegt. Ihr Prinzip ist die Bindung des Individuums an die Wahrheit. Bindung an die Wahrheit und nicht Unterwerfung unter das Gesetz – das scheint mir einer der wesentlichen Aspekte dieser philosophischen Askese zu sein.“3

An anderer Stelle nannte Foucault jene Selbstpraktiken „die Gestalt einer Selbstkunst“, die „von einer moralischen Gesetzgebung relativ unabhängig“4 gewesen sei. Und diese Askese habe nicht den Nimbus von Buße, Abwehr und Versagung. Man könne sie nicht „im Sinne einer Moral des Verzichts“ auffassen, „sondern in dem einer Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen“.5 Diese permanente Arbeit an der eigenen Existenz huldigt dem Ideal einer Stilisierung des Lebens, das man allerdings nicht mit der gegenwärtigen Lebensstilpropaganda verwechseln darf. Jene Stilisierung bedeutet eine harte Arbeit an der eigenen Subjektkonstitution, an der Wahrhaftigkeit des eigenen Lebens und an der 3 4 5

Foucault (2004), S. 405. Foucault, Die Sorge (2005), S. 828. Foucault, Die Ethik (2005), S. 876.

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Authentizität des Daseins. Nicht zuletzt in der Haltung, die angesichts des eigenen Todes gewonnen werden muss, wird das Profil dieser Askese deutlich. Souveränität und Kontrolle über die eigenen Passionen und Bedürfnisse stehen im Vordergrund, und dies betrifft auch die Sterbegestaltung. Zu Recht hat Foucault darauf hingewiesen, dass wir es hier – wie übrigens in der gesamten antiken Ethik – nicht so sehr mit moralischen Regeln zu tun haben, die unseren Gehorsam verlangen, als vielmehr mit Übungen und Praktiken, die eine angemessene Lebensführung und Sterbeübung bezwecken. Vor diesem Hintergrund lassen sich die schwerwiegenden Folgen der christlichen Umdeutung und Neubestimmung dieser Askese besser verstehen. Lange vor Foucault hatte bereits Paul Rabbow auf diese Transformation der „Seelenführung“ hingewiesen, die mit einer wachsenden, heilstheologisch legitimierten Feindschaft gegenüber dem Leib einherging, die der Antike weitestgehend fremd war.6 Foucault kennzeichnet die christliche Differenz angesichts der antiken Ethik der Selbstsorge folgendermaßen: „Demgegenüber wird die christliche Askese, wie mir scheint, eine ganz andere Funktion haben: die Funktion des Verzichts. Aber auf dem Weg zum Selbstverzicht macht sie einem besonders wichtigen Moment Platz […], nämlich dem Geständnis, dem Bekenntnis, nämlich dem Moment, in dem sich das Subjekt in einer wahren Rede objektiviert. […] Mir scheint, dass es in der heidnischen Askese, in der philosophischen Askese, in der selbstpraktischen Askese während der von mir behandelten Epoche, darum geht, zu sich selbst als Zweck und Gegenstand einer Lebenstechnik, einer Lebenskunst zu gelangen. Es geht darum, zu sich selbst zu gelangen, und zwar vermittelt über jenes wesentliche Moment, das nicht in der Objektivierung seiner selbst in einer wahren Rede, sondern in der Subjektivierung einer wahren Rede in einer von sich selbst durchgeführten und sich selbst zum Gegenstand habenden Praxis und Übung besteht.“7

Verzicht bedeutet hier nicht nur Entsagung. Entsagung – die Tugend der Selbstkontrolle und des Weniger – war auch in der antiken Ethik bekannt. Aber während letztere die Askese als Mittel einer Konstitution des Selbst begriff, drehte sich die christliche Askese um „Selbstverzicht“, um Selbstaufgabe.8 Das Selbst unterwirft sich der Regel. Das Bekenntnis oder das Geständnis wird zur fundamentalen Technik der Selbst-Entäußerung. Das strikte Suizidverbot, das im Christentum etabliert wird, ist die Speerspitze einer religiösen Ethik, die sich der „Subjektivierung“ widersetzt. Selbstverzicht impliziert selbstverständlich den Verzicht auf die Selbsttötung und somit auch auf jegliche Technik der Lebensverkürzung. Die Erinnerung an die beiden Ethik-Typen, die hier kurz umrissen wurden, hatte lediglich die Funktion, uns auf das Aufeinanderprallen der alten mit der neuen Ars moriendi hinzuweisen. Die Ars moriendi nova kann man getrost als die Wiederkehr des antiken Paradigmas der Selbstsorge bezeichnen. 9 Wir leben in einer nachchristlichen Situation, in der zahlreiche Elemente der antiken Lebenskunst – zugegebenermaßen nicht selten (aber längst nicht immer) in trivialer Verwandlung – sich wieder Gehör verschaffen. Menschen wollen (idealiter) Autoren 6 7 8 9

Rabbow (1954). Foucault (2004), S. 406. Vgl. Wils (1990), S. 222–320. Vgl. Borasio (2011); Jox (2011); Körner (2011).

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ihrer Lebensführung sein, und diese Souveränität hat unter anderem zur Folge, dass sie ihr Sterben nicht gänzlich an Dritte aushändigen wollen. Sie entziehen sich zunehmend der moralischen Maßgabe des christlichen Paradigmas und nehmen für sich in Anspruch, den Sterbeprozess zum Gegenstand individueller Wertungen und selbst gewählter Prozeduren zu machen. Natürlich unterscheidet sich die heutige Situation erheblich von der Welt, in der die Ethik der Selbstsorge einst entstanden ist. In der Antike war diese Ethik, wie Foucault offen zugibt, die Angelegenheit bzw. das Privileg von Eliten. Heute ist die Renaissance der ‚Lebenskunst‘ tendenziell ein Sachverhalt, der größere Bevölkerungsschichten erfasst, weshalb es erlaubt ist, von einer nachchristlichen Situation zu sprechen, obwohl der Einfluss des christlichen Paradigmas keineswegs verschwunden ist. Ein weiterer Unterschied betrifft die Stabilität dieses neuen Paradigmas. Lebenskunst, Selbstsorge und Ars moriendi sind heute Gegenstand unterschiedlicher, sich teils widersprechender moralischer Auffassungen, sozialer Praktiken und in Anspruch genommener Riten. Man könnte mit einem gewissen Recht sogar behaupten, dass die alte Ars moriendi ihrerseits eine Option innerhalb der Vielfalt der neuen Ars moriendi geworden ist. Genau dieser Optionscharakter – der Anspruch, wählen zu können – bereitet erhebliche Schwierigkeiten, denn er führt zu einer Vervielfältigung der Standpunkte, zu Praktiken, die sich nicht widerspruchslos kombinieren lassen, so dass ein verbindlicher Mindestrahmen gefunden werden muss. Die Grundstufe der „Weltanschauungsneutralität“, von der die Autoren in ihrem Modell sprechen, betrifft genau dieses Problem. 4. Ferndiagnosen statt Empirie Die Heterogenität der Standpunkte in Angelegenheiten der ‚Lebenskunst‘ spiegelt ihrerseits die sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Art und Weise wider, wie tatsächlich gestorben wird (und gestorben werden sollte). Die Diagnosen – vor allem jene älteren Datums – lassen manchmal eine radikale Signatur10 erkennen, die das Ergebnis einer geradezu strukturellen Empiriearmut darstellt und für die Beteiligten an den realen Sterbeprozessen manchmal einem Affront gleicht. Solche Diagnosen könnte man auch risikoreiche Ferndiagnosen nennen, weil sie oft in einer großen Distanz zu den wirklichen Verhältnissen erfolgen. Ebenso oft bleibt unklar, welche nun die Schlussfolgerungen seien, die man ihnen entnehmen müsste. Vehemente Modernitätskritik geht hier Hand in Hand mit einem tiefen Pessimismus über die Realitäten des Sterbens. Als Beispiel wählen wir hier eine Passage, die der Antiquiertheit des Menschen von Günther Anders entnommen ist. In dem Abschnitt mit dem Titel „Die Antiquiertheit des Sterbens“ finden wir folgende Sätze: „Aber keine Übertreibung ist es zu behaupten, dass immer weniger von uns einfach an Lebensmüdigkeit oder Altersschwäche sterben. Einfache Sterbefälle sind bereits altertümliche Raritäten. Zumeist wird der Tod hergestellt. Gestorben wird. Nicht Sterbliche sind wir Heuti10 Vgl. Ariès (1989); Virilio (1989).

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gen, primär vielmehr Ermordbare. Sofern wir nicht durch Napalm, Radioaktivität oder Gas umgebracht werden […], werden wir in verchromte Sterbefabriken verlagert. In diesen werden wir zwar nicht umgebracht (umgekehrt wird unser Sterben durch bewundernswerte Manipulation hinausgezögert); aber während dieser Verzögerungszeit werden wir doch so fest in den Apparat eingeschaltet, dass wir zu dessen Teil, unser Sterben zum Teil der Apparatfunktionen und unser Tod zum momentanen Binnenereignis innerhalb des Apparats wird.“11

Dieser Text stammt aus dem Jahre 1979 und mobilisiert eine Unmenge Ressentiments und Klischees über das Sterben in der Gegenwart. Starben Menschen früher tatsächlich überwiegend an Altersschwäche und Lebensmüdigkeit? Waren dies „einfache Sterbefälle“? Was heißt es, der Tod werde heute „hergestellt“ und Sterben sei auferlegt? Abgesehen von der sprachlichen Entgleisung, welche in der Behauptung enthalten ist, wir seien „Ermordbare“ geworden, stellt auch Anders’ Behauptung, das Sterben sei nunmehr ein „Binnenereignis des Apparats“, kaum eine nennenswerte Information bereit, die es erlauben würde, die These zu überprüfen. Ebenso schwerwiegend ist die Vagheit, mit der uns der Text hinsichtlich der erforderlichen (moralischen) Schlussfolgerungen im Ungewissen lässt. Das Zitat ist gewissermaßen exemplarisch für eine ideologisch durchtränkte Analyse der Verhältnisse. Uns wird hier ein teilweise realitätsresistentes Gefüge von Ideen präsentiert, mittels dessen seine Anhänger zu globalen Beschreibungen und ebenso globalen Werturteilen schreiten. Etwas unvorsichtig könnte man eine solche Ideologie auch ‚Weltanschauung‘ nennen. Bei Wilhelm Dilthey werden drei Kennzeichen einer Weltanschauung genannt: „Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Zwecksetzung“. 12 Weltanschauungen beanspruchen jedenfalls für das Ganze unseres Lebens, Wissen, Evaluationen oder Wertungen und Ziele zu liefern. Ihre generalisierenden Aussagen zwingen sie zu einer einseitigen Beschreibung der Wirklichkeit – die Wirklichkeitserkenntnis, die sie präsentieren, ist, gemessen am Maßstab sachlicher Angemessenheit, oft defizitär. Ebenso einseitig und unangefochten von Zweifeln und von der Notwendigkeit einer genaueren Begründung beansprucht ihre Lebenswürdigung, alternativlos und anfechtungslos zu sein. Schließlich verlangen sie, die Lebensziele, die sie verwalten, anzuerkennen bzw. ihre Zwecksetzung zu internalisieren. Günther Anders betreibt Kulturpessimismus als Weltanschauung. Weltanschauungsneutralität impliziert vor diesem lediglich in Umrissen skizzierten Hintergrund also zweierlei: einmal die Bereitschaft zu komplexen und nuancenreichen Beschreibungen der Wirklichkeiten, in denen wir leben, und darüber hinaus die Fähigkeit, die Heterogenität der Ethiken des guten Lebens und der Ethiken des guten Todes wahrzunehmen und diese Unterschiedlichkeit als ein Problem anzuerkennen.

11 Anders (1982), S. 247. 12 Dilthey (1961), S. 104.

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5. Eine Gratwanderung Vom Standpunkt einer Weltanschauung aus ist nämlich die Wahrnehmung der Weltanschauungsgebundenheit anderer Ethiken des guten Todes mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dieser Blick hat nämlich auf Dauer eine gewisse Relativierung der eigenen Position zur Folge. ‚Relativierung‘ ist aber nicht identisch mit Relativismus. Sie bedeutet aber immerhin, dass die eigene Position als ein Standpunkt unter anderen „comprehensive doctrines“ (John Rawls) wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung wird also zur Konsequenz haben, dass dieses Phänomen – die pure Mehrzahl religiöser und weltanschaulicher Standpunkte – als ein Problem empfunden wird, das der Bewältigung bedarf. Ich wiederhole: Aus der internen Perspektive einer Weltanschauung folgt keineswegs zwangsläufig die externe Wahrnehmung ihrer Standortgebundenheit. Anderen Weltanschauungen wird dagegen gerne Standortgebundenheit attestiert. Aber es lässt sich eben auf Dauer nicht vermeiden, dass auch der eigene Standpunkt, also die interne Perspektive, mit dem Sachverhalt der Standpunktgebundenheit assoziiert wird. Weltanschauungsneutralität in einem schwachen Sinne bedeutet in diesem Falle also, den internen Standpunkt hin und wieder verlassen zu können zugunsten einer externen, also einer objektivierenden Position. Und diese Sichtweise betrifft auch die eigene Positioniertheit. Dies scheint in Fragen des Sterbens bzw. im Umgang mit Fragen über den eigenen Tod aber sehr schwer zu sein. Thomas Nagel schreibt dazu: „Der objektive Standpunkt ist einfach ungeeignet, den subjektiven Wert des Faktums, dass jeder – auch man selbst – unvermeidlich stirbt, wirklich in sich aufzunehmen. Im Hinblick auf den Tod besteht in Wahrheit keine Möglichkeit, die radikale Kollision der beiden Standpunkte zu überwinden.“13

Die Kollision, die Nagel hier beschreibt, ist zunächst eine Wahrnehmungskollision. Es gibt offenbar einen Riss zwischen der Wahrnehmung des eigenen Todes einerseits und der Wahrnehmung dieses Todes aus einer externen Perspektive bzw. aus der Perspektive der Wahrnehmung des Todes Dritter andererseits. Insofern wir auf den eigenen Tod notwendigerweise aus einer internen Perspektive schauen und wir – zweitens – diese Eigenwahrnehmung in religiösen oder weltanschaulichen Kategorien zum Ausdruck bringen, scheint bereits die gerade beschriebene Weltanschauungsneutralität in einem schwachen Sinne mit starken Vorbehalten konfrontiert zu sein. Nagel beschreibt in folgender Passage noch einmal das Wahrnehmungsproblem, das bereits der hier geforderten schwachen Weltanschauungsneutralität zugrunde liegt: „Die subjektive Einstellung steht deutlich im Mittelpunkt des alltäglichen Lebens, während die objektive sich ursprünglich als eine Form der erweiterten Verständigung entwickelt: Einen beträchtlichen Teil dessen, was sie einem Menschen enthüllt, kann er sich für seine subjektiven Ziele zunutze machen. Doch sobald sie weit genug vorangeschritten ist, vermag die objektive Perspektive die gesetzten Ziele auch zu unterminieren. Begreife ich mich objektiv als eine kleine, kontingente und höchst transitorische Seifenblase in der unermesslichen 13 Nagel (1992), S. 397.

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Lauge des Universums, erzeugt dieser Gedanke eine Einstellung, die an Indifferenz grenzt. […] Der externe Standpunkt und die Aussicht unseres Todes erzeugen im Leben tatsächlich einen Verlust des Gleichgewichts.“14

In den Fragen des Sterbens bzw. in Angelegenheiten des eigenen Todes scheint der Partikularismus der Standortgebundenheit unhintergehbar zu sein. Weltanschauungsneutralität rückt damit in großer Ferne. Aber wir sollten die Hoffnung nicht ganz aufgeben. Weitere Differenzierungen sind aber dazu nötig. An erster Stelle muss die kompakte Beschreibung dessen, was eine Weltanschauung ist, aufgeschnürt werden. Wir erinnern uns. Eine Weltanschauung umfasst drei Komponenten: (Umfassendes) Wissen über die Wirklichkeit, die Bewertung dieser Realität und die Formulierung von (letzten) Lebenszielen, von Zwecken oder Sinnannahmen. An dieser Stelle kann die Frage kaum vermieden werden, ob dieser dreifache Leistungskatalog in der Gegenwart überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen darf. Kann es tatsächlich unter den Bedingungen komplexer und ausdifferenzierter Gesellschaften noch eine Weltanschauung (und somit auch eine Religion) geben, die auf konsistente und kohärente Art allen drei Aufgaben gleichermaßen gewachsen ist? Die Antwort lautet „nein“, es sei denn, man lässt sich auf eine simplifizierende, reduktive Wirklichkeitswahrnehmung ein. Es ist natürlich nicht verboten, sich in die Sonderwelt einer einfachen Weltanschauung zurückziehen, und die heutige Renaissance von Religion vollzieht sich nicht selten unter diesen Vorzeichen. Wer sich aber dieser Vereinfachung verweigert, wird die drei Komponenten bis zu einem gewissen Grad trennen müssen. Wenn wir die zweite Komponente, also die Bewertungskomponente, ‚Moral‘ nennen und die Lebensziel-Komponente die Komponente des ‚existenziellen Sinns‘, können wir Weltanschauungsneutralität hier als die Fähigkeit bezeichnen, ‚moralische‘ Fragen von ‚existenziellen‘ Fragen zu trennen. Solange wir moralische Fragen existenzialisieren, werden wir sie mit einer Hypothek ‚letzter‘ Fragen (und Antworten) belegen, die moralische Konflikte unlösbar machen. In diesem Zusammenhang gibt uns Thomas Nagel einen weiteren Hinweis auf die vorsichtige Schlichtung des nur auf den ersten Blick unvermeidbaren Konflikts zwischen der internen und der externen Perspektive. Seiner Meinung nach ist es die Moral selber, die zwischen beiden Perspektiven vermittelt und den Konflikt zu reduzieren vermag. „Eine der uns zu Gebote stehenden Strategien der Vermittlung der beiden Einstellungen miteinander bleibt die Moral, denn sie sucht nach einer Lebensform für das Individuum, welche die Gleichwertigkeit anderer Individuen bejaht und damit auch aus der Außenperspektive akzeptiert werden kann. Die Moral ist eine Möglichkeit, unsere auf Distanz gegangene Objektivität wieder zur Teilnahme zu veranlassen. Sie erlaubt eine objektive Affirmation subjektiver Werte in dem Maße, in dem diese mit den entsprechenden Ansprüchen anderer zu vereinbaren ist. […] Der allerallgemeinste Effekt der objektiven Einstellung sollte […] Bescheidung sein: ein Stil deines Denkens, der berücksichtigt, dass du nicht wichtiger bist, als du bist, und dass die Tatsache, dass dir etwas wichtig ist oder dass es gut oder schlecht wäre, wenn dir etwas Bestimmtes widerführe, ein Faktum von lokaler Bedeutung ist. Solche Bescheidung könnte unvereinbar erscheinen mit uneingeschränkter Versenkung ins Leben und in die Freu14 Nagel (1992), S. 361 und 363.

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Jean-Pierre Wils den und Werte, die dieses Leben ermöglicht. Sie könnte nach lähmender Befangenheit klingen oder nach Selbstverleugnung und Askese. Dem muss aber nicht so sein. Bescheidung erschafft ja nicht unsere Unsicherheit, sondern verleiht ihr nur einen positiven Gehalt. Das Problem wurde durch unsere Fähigkeit zu einer externen Auffassungsweise unserer selbst erzeugt; wir können es also gar nicht loswerden und haben nach irgendeiner Einstellung zu suchen, die ihm Rechnung trägt. Bescheidung ist nun die Mitte zwischen nihilistischer Distanzierung und blindem Eigendünkel.“15

Die Moral ist demnach eine Instanz der Vermittlung, denn sie knüpft die interne Perspektive (die Perspektive der ersten Person) an die externe Perspektive (die Perspektive der dritten Person). Moral – so könnte man schlussfolgern – ist die Fähigkeit, die eigene Perspektive aus der Perspektive Dritter zu sehen und die Perspektive Dritter als Perspektive der (jeweils) ersten Person. Im Sprachspiel der Moral bleiben wir alle auf unhintergehbare Weise erste Personen, aber wir sind gleichzeitig fähig, die Perspektive der dritten Person einzunehmen. Diese phänomenologische Beschreibung des Sprachspiels der Moral hat aber schwerwiegende Konsequenzen: Sobald wir Moral existenzialisieren und mit letzten Fragen identifizieren, sind wir dabei, sie zu vernichten. Wir zerschlagen den Dialog zwischen der ersten und der dritten Perspektive. Wir verwechseln auf dramatische Art und Weise vorletzte Fragen (die Fragen der Moral) mit letzten Fragen, mit den Fragen existenzieller Lebensziele. Wer Moralfragen bzw. ethische Konflikte, die in säkularisierten und pluralisierten Gesellschaften, die sich einer religiösen Oberdeutung entziehen (müssen), gelegentlich unvermeidlich sind, mit päpstlichen Prädikaten wie „Kultur des Todes“ oder „Diktatur des Relativismus“ konfrontiert, vergiftet das Gespräch und drangsaliert die Moral. Offenbar wird hier der Anspruch der Moral, der von Nagel so trefflich beschrieben wurde, verkannt. Wenn Moral tatsächlich eine „Lebensform für das Individuum [ist], welche die Gleichwertigkeit anderer Individuen bejaht“ (Nagel), hat dies in komplexen und weltanschaulich heterogenen Gesellschaften wie der unseren zur Folge, dass wir Moralfragen de-existenzialisieren müssen, so schwer dies in Fragen des Sterbens auch sein mag. Weltanschauungsneutralität ist dann zunächst ein ‚kalter‘ Begriff für diese schwierige Aufgabe. Gleichzeitig scheint Weltanschauungsneutralität aus der Binnenperspektive solchermaßen typisierbarer Gesellschaften ein konstitutives Merkmal moralischer Diskurse zu sein. Wenn die ‚Gleichwertigkeit‘ der Individuen als Kernaussage der Moral in solchen Kontexten verteidigt werden muss, dann impliziert jene Egalität Weltanschauungsneutralität – die Fähigkeit und Bereitschaft, in einigen zentralen Bereichen der Moral sich nicht auf partikuläre Weltanschauungsgründe zu verlassen oder sich nicht auf sie zu versteifen. Aber auch die weltanschauliche Neutralität des Staates kommt dieser Forderung entgegen. An dieser Stelle sollte in aller Kürze, gleichsam als Auffrischung des Gedächtnisses, auf ihre Grundlagen und auf ihren Kerngehalt hingewiesen werden. Staatliche Neutralität in religiös-weltanschaulichen Angelegenheiten muss, so Stefan Huster, „als verfassungstheoretischer und verfasssungsrechtlicher Schlüs15 Nagel (1992), S. 383f.

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selbegriff bezeichnet werden“16. Sie ist das Resultat eines Prozesses der Neutralisierung religiöser Wahrheitsansprüche, wie sie typisch für die Entwicklung moderner westlicher Staaten ist. Nun sind sowohl die Grundlegung als auch die Interpretation dieser staatlichen Neutralität strittig. Was die Grundlegung betrifft, wären hier verschiedene Verfassungsnormen zu nennen: Die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (GG Art. 4, Abs. 1); das Diskriminierungsverbot (GG Art. 3, Abs. 3), das sich u. a. auf „religiöse“ Anschauungen bezieht, und GG Art. 140, der sich seinerseits auf die Artikel 136 und 137 der Weimarer Reichsverfassung bezieht. Ersterer verbietet jeglichen religiösen Zwang (Abs. 4) und letzterer verbietet die Existenz einer „Staatskirche“ (Abs. 1). Die staatliche Neutralität bildet demnach ein aus verschiedenen Verfassungsnormen zusammengesetztes Prinzip, dessen Reichweite und Interpretation im Einzelnen unklar sind und, wie bereits gesagt, Gegenstand heftiger Kontroversen. Das Neutralitätsprinzip bzw. das Neutralitätsgebot umfasst jedoch nicht bloß religiöse und weltanschauliche Auffassungen (mitsamt ihren Wahrheitsbehauptungen) und Praktiken im strikten Sinne, sondern erstreckt sich bis zu einem gewissen Grade auch auf ethische Auffassungen. Hier gilt es allerdings zu unterscheiden zwischen ethischen und moralischen Normen. Bislang haben wir die Prädikate ‚ethisch‘ und ‚moralisch‘ bzw. die Bereiche der Ethik und der Moral synonym gebraucht. Im Zusammenhang mit dem Neutralitätsgebot des Staates gilt es jedoch zwischen beiden zu unterscheiden. Damit ist nicht die (ebenfalls richtige) Unterscheidung zwischen Ethik als „Reflexionstheorie der Moral“ (N. Luhmann) und Moral als Objekt der Theorie gemeint, sondern die Unterscheidung zwischen Ethik als dem Bereich des ‚guten Lebens‘, der letzten Endes in der Zuständigkeit des Individuums liegt, und Moral als dem Bereich sozialer und rechtlicher, eventuell strafrechtlich relevanter Regelgebung. Ethische Normen beziehen sich also auf Fragen des guten Lebens, die einen individuellen, obzwar nicht gänzlich privaten Charakter besitzen und sich der gesetzlichen Lenkung und Kontrolle deshalb entziehen. Moralische Normen dagegen regeln das öffentliche Zusammenleben. Sie sind teilweise mit Grundrechten verbunden, aber ebenso mit Verpflichtungen, die soziale Verbindlichkeiten regeln ohne Ansehen der Person. Ihre Sanktionierung geschieht nicht im ‚forum internum‘ der Beteiligten, sondern unterliegt in einzelnen Bereichen der strafrechtlichen Verfolgung. Das Neutralitätsgebot des Staates in freiheitlich-liberalen Gesellschaften schützt die Vielfalt ethischer Überzeugung bzw. die Vielfalt der Optionen in Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung. Insofern dieses Gebot eine öffentlichkeitsrelevante, verfassungsinhärente Lizenz ethischer Vielfalt etabliert, muss es seinerseits als eine moralische Angelegenheit betrachtet werden. Die religiös-weltanschauliche und ethische Neutralität des Staates ist also ihrerseits Ausdruck der politischen Moral. Strittig bleiben im Einzelnen die Grenzen zwischen den Sphären der Ethik und der Moral. In der Regel, aber längst nicht immer, neigen Menschen mit starken religiösen Überzeugungen traditionellen Ursprungs zu einer Verringerung des Umfangs der Ethik 16 Huster (2002), S. 23.

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bzw. zu einer Ausdehnung der Reichweite der Moral. Wesentlich ist aber der Sachverhalt, dass die beschriebene Neutralität des Staates Weltanschauungsvielfalt und ethischen Pluralismus zwar schützt, die Bürger aber gleichzeitig dazu auffordert, in den Kernbereichen einer egalitär verfassten Moral diese zu de-existenzialisieren. Wichtig in der ganzen Diskussion über die Neutralität des Staates ist auch eine andere Unterscheidung – die Unterscheidung zwischen Begründungs- und Wirkungsneutralität. Was die Wirkungsneutralität betrifft, kann natürlich kein Gemeinwesen garantieren, dass ihre Beschlüsse für alle Bürger die gleichen Wirkungen zeitigen bzw. dass alle Gesetze für die Gesamtheit der Adressierten gleiche Folgen haben. Anders formuliert: Alle religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, die in einem modernen Staat anwesend sind, können nicht in den Folgen bzw. in den Auswirkungen der Gesetze gleichermaßen berücksichtigt bzw. gewürdigt werden. Begründungsneutralität aber kann gleichwohl verlangt werden: In Hinblick auf die unterschiedlichen ‚Überzeugungen‘ religiöser und weltanschaulicher Herkunft muss der Staat bei der Begründung seiner Maßnahmen auf einen exklusiven (argumentativen) Rückgriff auf bestimmte Religions- oder Weltanschauungssysteme verzichten. Er muss seinen Maßnahmen, gerade weil sie politischer Natur sind, eine öffentlich wirksame, d.h. eine auf der Reziprozität der Argumentationen beruhende Begründung zukommen lassen. Der „öffentliche Vernunftgebrauch“ 17 (Jürgen Habermas) verlangt einen Übersetzungsvorbehalt hinsichtlich jener Argumente, die unmittelbar (und deshalb un-vermittelbar) religiös-weltanschaulicher Natur sind.18 Und dies geschieht deshalb, „weil keine Überzeugung und keine Lebensform einen Anspruch darauf haben kann, dass die politische und gesellschaftliche Ordnung in einer Weise eingerichtet wird, die ihren Bedürfnissen in besonderer Weise entgegenkommt.“19

Diese letzte Feststellung gilt auch in den Angelegenheiten einer Ars moriendi nova. Selbstverständlich ist es strittig, wie inhaltlich die Bedürfnisse verschiedener weltanschaulicher Standpunkte in Fragen der Sterbehilfe und der Sterbegestaltung angemessen berücksichtigt werden können. Angemessen heißt, verträglich mit den Standpunkten anderer. Deutlich ist aber geworden, in welcher Form dies zu geschehen hat. Es ist die Form der Moral. Damit sind die Probleme noch längst nicht gelöst. Aber wir wissen wenigstens, wie schwer es war, dorthin zu gelangen, und wir wissen, in welcher Sprache wir uns dort verständigen müssen: in der Sprache der Moral, die ebenso wie ihr Objekt – die Moral – von Gegenseitigkeit geprägt ist.

17 Habermas (2005), S. 151. 18 Eine solche Forderung dürfte relativ leicht angesichts der „kulturkompatiblen Religionen“ (Waldhoff (2010), S. 24) zu erheben sein, jedoch erheblich schwieriger bei ihren kulturfeindlichen Varianten. Vgl. Roy (2010). Eine gute Studie zu dem gesamten Themengebiet liefert Polke (2009). 19 Huster (2004), S. 13.

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Literatur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Sterbens (1979). In: Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München, C.H. Beck, 1982, S. 247. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München, dtv, 1989. Borasio, Gian Domenico: Über das Sterben. Was wir wissen. Was wir tun sollen. Wie wir uns darauf einstellen. München, C.H. Beck, 2011. Dilthey, Wilhelm: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In: Die Philosophie des Lebens. Stuttgart/Göttingen, 1961, S. 81– 124. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/1982). Frankfurt/M., Suhrkamp, 2004. Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Schriften [Dits et Ecrits]. Bd. 4, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2005, S. 875–902. Foucault, Michel: Die Sorge um die Wahrheit, in: Schriften [Dits et Ecrits]. Bd. 4, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2005, S. 823–836. Habermas, Jürgen: Religion in der Öffentlichkeit. In: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M., Suhrkamp, 2005, S. 119–153. Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Tübingen, Mohr Siebeck, 2002. Huster, Stefan: Der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates – Gehalt und Grenzen. Berlin, De Gruyter, 2004. Imhof, Arthur E.: Die Kunst des Sterbens. Wie unsere Vorfahren sterben lernten. Stuttgart 1998. Jox, Ralf J.: Sterben lassen. Über Entscheidungen am Ende des Lebens. Hamburg, Edition Körber-Stiftung, 2011. Körner, Torsten: Probeliegen. Geschichten vom Tod. Frankfurt/M., Scherz, 2011. Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1992. Polke, Christian: Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2009. Rabbow, Paul: Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954. Roy, Olivier: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. München, Siedler, 2010. Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung. München, 1989. Waldhoff, Christian: Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates? Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag. München, C.H. Beck, 2010. Wils, Jean-Pierre: „Ästhetische Güte“. Philosophisch-theologische Studien zu Mythos und Leiblichkeit im Verhältnis von Ethik und Ästhetik. München, Wilhem Fink, 1990. Wils, Jean-Pierre: ars moriendi. Über das Sterben. Frankfurt/M., Insel, 2007.

Bestattungskultur zwischen Moderne und Postmoderne Norbert Fischer 1. Aufbruch in die Moderne: Die technische Feuerbestattung Sterben, Tod und Trauer zwischen Moderne und Postmoderne – das ist die Geschichte einer höchst ambivalenten Entwicklung. Einerseits unterlag sie dem Diktum von Rationalität und Technik: Krematorien haben den Bestattungsvorgang seit dem späten 19. Jahrhundert funktionalisiert und beschleunigt. Damit repräsentieren sie den pragmatischen, „entzauberten“ Umgang mit dem Tod. Auf der anderen Seite gab es gegenläufige Tendenzen: Aus den Bestattungsplätzen wurden romantische Park- und Waldfriedhöfe – Kulissen für einen ausufernden Grabmalkult und Fluchtpunkt bürgerlicher Trauerkultur. Im frühen 21. Jahrhundert spitzen sich die Gegensätze zu: Der hohe Anteil von namen- und zeichenlosen Rasenbeisetzungen (sogenannte anonyme Bestattung) bildet einen neuen Höhepunkt im pragmatischen Umgang mit den Toten und scheint das Ende jeglicher postmortaler Erinnerungskultur anzukündigen. Demgegenüber und fast zeitgleich entfaltet sich ein breites Spektrum neuer, individualistischer Bestattungskultur, die den Friedhof teilweise verlässt, dabei die Tradition der naturlandschaftlichen Bestattungen weiterführt, und deren Erscheinungsformen zwischen Baumbestattungen und Aschediamanten oszillieren. Grundlegende Voraussetzung dieser Entwicklungen sind Feuerbestattung und Aschenbeisetzung. Der Bau der ersten Krematorien in Deutschland im späten 19. Jahrhundert markiert eine zentrale Zäsur in der Geschichte der Bestattungskultur. Es ist eine Zäsur, deren Folgen bis heute nicht nur fortwirken, sondern sich verstärkt haben. Feuerbestattung und Krematorien sind die Ausdrucksformen des modernen, technisierten Umgangs mit dem Tod. Das Krematorium vereint erstmals wichtige Etappen der Bestattung in einem einzigen Gebäude: Es ist Verwahrort für Leichen, Ort der Trauerfeier und Ort der Einäscherung. Einige Krematorien sind mit ihren Kolumbarien (Urnennischen) darüber hinaus auch Beisetzungsorte. Das Krematorium funktionalisierte die Bestattung durch einen möglichst reibungslosen, ineinandergreifenden Ablauf. Die Anfänge der modernen Feuerbestattung hingen mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker in Erscheinung tretenden Industrialisierung und Urbanisierung und den daraus resultierenden infrastrukturellen Problemen in den Städten zusammen. Die Einäscherung wurde als hygienische und kostengünstige Lösung der Raumprobleme auf städtischen Friedhöfen propagiert. Dabei war es ein in sich verwobenes Faktorenbündel aus Bevölkerungswachstum, Raumnot auf den Friedhöfen und wachsender Sensibilität für hygienische Prob-

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leme, das den Bau der ersten technischen Krematorien ermöglichte. Auf allgemeine Weise begünstigend wirkten der technische Fortschritt und vor allem die gesellschaftliche Säkularisierung, also der wachsende Bedeutungsverlust der Kirchen. Hinzu kamen nicht zuletzt eine berufsspezifische Interessenpolitik, etwa von Hygienikern, Medizinern und Ingenieuren, die die Feuerbestattung unterstützte. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich in Deutschland seit den 1870er-Jahren eine in Vereinen organisierte Feuerbestattungsbewegung. Aber konservatives Bürgertum und Kirchen, vor allem die katholische (die die Feuerbestattung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren verbot), bildeten ernstzunehmende gesellschaftliche Gegner. Dennoch entstanden die ersten deutschen Krematorien in Gotha (1878), Heidelberg (1891) und Hamburg (1892). Um 1910 gab es bereits 20 Krematorien in Deutschland. Allerdings blieb die Feuerbestattung vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend Angelegenheit einer schmalen Schicht innerhalb des aufgeklärten Bürgertums. Für die weitere Geschichte der Feuerbestattung sollte es von großer Bedeutung sein, dass sie auch in breiten Arbeiterkreisen Fuß fassen konnte. Dies geschah im Wesentlichen nach dem Ersten Weltkrieg. Nun erwies sich die Feuerbestattung als ein entscheidender Baustein der Rationalisierung im kommunalen Bestattungswesen. Durch gezielte Gebührensenkungen gelang es den Kommunen, die Einäscherungszahlen deutlich zu steigern und die Krematorien besser auszulasten. Anfang der 1930er-Jahre gab es in Deutschland bereits über 100 Krematorien. Dieser Aufwärtstrend der Feuerbestattung hat sich bis heute fortgesetzt – mit allerdings nach wie vor deutlichen regionalen Unterschieden und einem starken Stadt-Land-Gefälle. 2. Asche als Signum: Zur Miniaturisierung der Grabstätten Darüber hinaus veränderte die Feuerbestattung das Erscheinungsbild der Friedhöfe im Allgemeinen und der Grabstätten im Besonderen. Da Aschengräber erheblich weniger Raum als Erdgräber benötigen, läuteten sie die bis heute anhaltende Miniaturisierung der Grabstätten ebenso ein wie deren Serialisierung. Die effizientere Nutzung des Raums war Element jener Rationalisierungsprozesse, die spätestens seit den 1920er-Jahren auch die Friedhöfe erfasste – eine Entwicklung, die mittlerweile in der das Einzelgrab auflösenden, anonymen Rasenbeisetzung eine weitere Steigerung erfahren hat. Unter anonymer Beisetzung versteht man die vom Verstorbenen oder dessen Angehörigen verfügte Beisetzung in einer gemeinschaftlichen Anlage ohne individuelles Grabzeichen und ohne Möglichkeit zur individuellen Grabpflege. Sie ist, von Ausnahmen abgesehen, gleichzusetzen mit Aschenbeisetzung. Die Asche wird – häufig in Sammelbeisetzungen – in einer zweckentsprechend kleinen Urne unter zunächst ausgestochenen und dann wieder eingesetzten quadratischen Rasensoden bestattet. Der exakte Beisetzungsort der einzelnen Urne innerhalb dieser Anlage ist nur der Friedhofsverwaltung bekannt. Häufig von einem Denkmal geschmückt, ist die Gesamtanlage gartenästhetisch meist ansprechend gestaltet. Ihre Bezeichnung variiert: Geläufig sind unter anderem „Urnengemeinschaftsanlage“, „Urnenhain“, „Anonymer Urnenhain“, „Urnen-

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gemeinschaftshain“ oder auch schlicht „Rasenfriedhof“. Am Denkmal oder in den Randbereichen besteht in der Regel die Möglichkeit, Blumenschmuck zu hinterlegen. Inzwischen haben sich vielfältige Mischformen der Rasenbestattung entfaltet: beispielsweise mit gemeinsamen Namenstafeln oder mit kleinen Gedenkplatten, die in die Rasenfläche eingelassen werden. Ein bedeutsamer Grund für die wachsende Popularität der anonymen Bestattung sind die geringen Kosten, resultierend vor allem aus dem Verzicht auf Grabstein und Grabpflege. Weitere Aspekte verweisen auf gesellschaftliche Veränderungen: nachlassende familiäre Bindungen und die wachsende Mobilität machen das traditionelle, für mehrere Generationen angelegte Familiengrab zu einem Anachronismus. Andere, aus dem Ausland bekannte Formen der anonymen Beisetzung, wie das freie Verstreuen der Asche außerhalb der Friedhöfe, sind in Deutschland in den einzelnen Bundesländern gesetzlich untersagt. Allerdings gibt es auf einigen Friedhöfen sogenannte Aschestreuwiesen. Darüber hinaus ist die seit den 1970erJahren regulär praktizierte, zuvor als Privileg für Seeleute bekannte Seebestattung als eine Sonderform der anonymen Beisetzung zu betrachten. Bei der Seebestattung wird die Urne auf offener See versenkt und löst sich nach einer gewissen Zeit auf. Einen individuellen Erinnerungsort gibt es nicht, allerdings sind – ähnlich der anonymen Rasenbestattung – Gemeinschaftsdenkmäler bekannt (zum Beispiel an der Ostsee in Travemünde für das Seebestattungsgebiet der Lübecker Bucht). 3. Zwischen Baumbestattung und Aschediamant: Neue Bestattungskultur in der mobilen Gesellschaft Wurde auf diese Weise die Asche einerseits zum Symbol des pragmatischen Umgangs mit dem Tod, so andererseits auch zur Grundlage fast aller Varianten der innovativen, bisweilen als ‚alternativ‘ bezeichneten Bestattungskultur in der Postmoderne. Entscheidend ist die – im Vergleich zur Körper-(Erd-)Bestattung – hohe Mobilität der Asche, die flexible Beisetzungsmöglichkeiten erlaubt und der Bestattungskultur neue Räume eröffnet. Die Asche kann an fast jeden Bestattungs- und Erinnerungsort verbracht oder auch geteilt werden sowie verschiedene Bestattungs- und Erinnerungsorte generieren. Die Aschenbeisetzung hat sich damit als sepulkrales Signet der mobilen Gesellschaft erwiesen. Thomas Klie hat die aktuelle Bestattungskultur in drei unterschiedliche Kategorien eingeteilt.1 Diese modifizierend kann unterschieden werden zwischen dem miniaturistisch-anonymisierenden Code (Beispiel: die bereits erläuterte anonyme Rasenbestattung), dem naturnah-ökologischen Code (Beispiel: Baumbestattung) und dem performativen Code (Beispiel: Aschediamant). Die derzeit bedeutendste Entwicklung zeigt sich mit der zweiten Kategorie und wird im Allgemeinen als 1

Klie (2008), S. 7–9. Bei Klie heißt der erste Code „anonymisierend-altruistischer“ Code, der zweite „naturreligiös-ökologischer“ Code, der dritte „ästhetisch-performativer“ Code. Aus semantischen Gründen und einer besseren Verständlichkeit wegen wurden die Begriffe hier geändert.

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Naturbestattung bezeichnet. Ihre bekannteste Variante ist die Baumbestattung im freien Wald, die unter ihren privatwirtschaftlichen Vermarktungsnamen ‚Friedwald‘ und ‚Ruheforst‘ geläufig geworden ist.2 Allein die Friedwald GmbH betreibt seit der Eröffnung der ersten Anlage im Jahr 2001 derzeit über 40 Baumbestattungsanlagen mit insgesamt bisher rund 25.000 Beisetzungen. Dabei werden Bäume in bestehenden Wäldern genutzt, sie sind Grabstätte und Grabzeichen zugleich. Je nach Anbieter und lokalen Bedingungen ist es möglich, persönliche Erinnerungszeichen, zum Beispiel Namenstafeln, anzubringen. Im Übrigen ist die Bestattungsfläche im Wald als solche nicht auf den ersten Blick zu erkennen, da sie möglichst naturbelassen wirken soll. Ein weiteres Beispiel für Naturbestattungen ist der Berg-Naturfriedhof ‚Ruheberg‘ in Oberried (Schwarzwald). Eröffnet am 20. Oktober 2006, wurde die von der Kommune getragene landschaftliche Anlage im Frühjahr 2010 erweitert. Auf diesem Berg-Naturfriedhof mit seinem Mischwaldbestand können einzelne Urnengrabhaine oder sogenannte Friedhaine erworben werden. Bei letzteren handelt es sich um Gruppen von zwölf Urnengräbern um einen Baum, die von beliebigen sozialen Gruppierungen (Vereine, Freundeskreise u.ä.) genutzt werden können. Diese Varianten der Naturbestattungen schränken die bisher fast monopolartige Stellung der klassischen Friedhöfe für die Bestattungskultur ein. Damit wird die Sepulkralkultur von der „Exterritorialisierung moderner Gesellschaften“ erfasst (Helmut Willke).3 Die Idee eines Begräbnisplatzes in der freien Landschaft verweist auf Natursehnsucht und ökologisches Bewusstsein. Zum Hintergrund für die wachsende Popularität schreibt Gerold Eppler: „Unbestreitbare Voraussetzung für den Zuspruch der Friedwälder ist ein besonderes Waldbewusstsein. Dieses Bewusstsein lässt sich als romantische Natursehnsucht beschreiben und ist überwiegend bei der Stadtbevölkerung anzutreffen. […] Der Bevölkerung der Städte […] gilt der Wald mittlerweile als Synonym für Natur. Er ist für sie quasi die Gegenwelt zur technisierten, lärmenden, hektischen und schnelllebigen Großstadt.“4

Ein auf den klassischen Friedhof bezogenes Beispiel für den naturnahökologischen Code ist die 2010 eingeweihte ‚Wildblumenwiese‘ auf dem Friedhof von Ahrensburg (Schleswig-Holstein). Sie dient in ihren Randbereichen als Aschenbeisetzungsanlage. Im Übrigen wird die Baumbestattung inzwischen unter verschiedenen Namen auch auf regulären Friedhöfen angeboten. Im Jahr 2006 wurde auf dem Hamburg-Ohlsdorfer Friedhof der sogenannte ‚Ruhewald‘ angelegt – eine zunächst rund zwei Hektar große verwilderte Fläche. In der Nähe von 80 markierten Bäumen können hier Aschenbeisetzungen stattfinden. Zum entsprechenden Beisetzungsbaum gehört eine in der Nähe aufgestellte pultartige Tafel, auf der die Art des Baumes und die Namen der Beigesetzten verzeichnet sind. Auch sonst werden Aschenbeisetzungsflächen auf Friedhöfen immer häufiger naturlandschaftlich gestaltet. Auf dem Hauptfriedhof Karlsruhe wurden seit 2003 neuartige landschaftliche Bestattungsflächen vor allem für Aschenbeisetzungen 2 3 4

Rüter (2011); Assig (2007). Willke (2001), S. 72. Eppler (2005), S. 7–11.

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geschaffen. Landschaftlicher Bezugspunkt der Anlage ist ein von Granitblöcken eingefasster Wasserfall, dem sich ein trocken gefallenes Bachbett als Symbol für das versiegende Leben anschließt. Daneben prägen Felssteine, geschwungene Wege, alter Baumbestand und Rasenflächen diese Beisetzungslandschaft. Den hier Bestatteten wird auf unterschiedlich gestalteten gemeinschaftlichen Erinnerungsmalen aus Stein und Holz – darunter ein mehrere Meter langer bearbeiteter Eichenstamm – gedacht. In vielerlei Form bahnt die Aschenbeisetzung den Weg für neue sepulkrale Ausdrucksformen. Dies zeigen die seit 2000 auf dem Friedhof im saarländischen Riegelsberg sowie – seit 2008 – auf dem Hauptfriedhof Saarbrücken eingerichteten sogenannten Urnenpyramiden. Sie enthalten Kammern für eine oder mehrere Urnen, die Kammertür verzeichnet Namen und Daten der Verstorbenen. Nach Ablauf der individuell zu wählenden Ruhefristen für die Kammer wird die Urne auf Dauer ins Pyramideninnere verbracht. Zu den aktuellen Tendenzen der Urnenbeisetzung gehört die Renaissance der Kolumbarien. Diese in antiker Tradition stehende offene Beisetzung von Aschenurnen in Fächern beziehungsweise Nischen war in der Frühzeit der Feuerbestattung allgemein üblich.5 Gegenwärtig werden Kolumbarien beispielsweise in alten Friedhofskapellen, aber auch in genutzten (z.B. St. Jakobi in Lübeck) oder nicht mehr genutzten Kirchen (z.B. Allerheiligenkirche in Erfurt) eingerichtet.6 In der St.-Konrad-Kirche in Marl-Hüls werden die Urnen von einheitlich gestalteten Wandflächen aufgenommen. Im Anschluss an die 15-jährige Ruhezeit wird die Asche in einem Sammelgrab innerhalb der Kirche beigesetzt. Der Urnenraum in der Kirche ist tagsüber geöffnet, um regelmäßiges Totengedenken zu ermöglichen. 4. Patchwork-Zeremonien und neue soziale Gruppierungen Der neue Umgang mit dem Tod führt zum „Bestattungsritual im Übergang“,7 das die Partikularisierung der Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur eingeläutet hat. Entstanden sind Patchwork-Zeremonien, in denen selbstbestimmte Elemente einen höheren Stellenwert gewinnen und neben traditionelle Elemente treten. Der eigene Aktionsspielraum der Trauernden erhöht sich gegenüber festen liturgischen Elementen.8 Die wahlweise und vielfältige Anordnung von Versatzstücken neuer und alter Zeremonien zeugt von hohem Kombinationspotenzial. Dies kann ein persönlich gestaltetes und angelegtes Totenkleid ebenso umfassen wie die Bemalung des Sarges, eigene Reden und eigene musikalische Darbietungen. Damit sind die Patchwork-Rituale nicht zuletzt Zeichen des Übergangs: „Sie manifestieren den Übergang von dem prekär gewordenen religiösen Bestattungsritual hin zu einem neuen Ritual; ein Übergang, der geprägt ist von Suchbewegungen und Ex5 6 7 8

Fischer (2001), Kapitel 3. Sörries (2008), S. 26–28. Caduff (2000), S. 158–161. Ebd., S. 159.

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perimenten ... Doch jede einzelne Bestattung mit nicht-delegierten Elementen, so gering und verborgen diese auch sein mögen, ist immer auch Teil dieser gegenwärtig stattfindenden, kollektiv-gesellschaftlichen Arbeit am Bestattungsritual.“9 Zugleich wird damit deutlich, dass die Traditionen des bürgerlichen Zeitalters an normativer Kraft verlieren, ohne dass sie vollständig aufgegeben werden. Diese Traditionen waren verknüpft mit langwährenden, identitätsstiftenden sozialen Strukturen wie Familie, Konfession, soziale Gruppe beziehungsweise Schicht. Je nach historischer Epoche waren auch weitere gesellschaftliche Kollektive eingebunden: Nachbarschaften, Bruderschaften, Handwerkerzünfte, Genossenschaften, Arbeitervereine und Gewerkschaften. Aber diese gesellschaftlichen Strukturen haben in den vergangenen Jahrhunderten nach und nach ihre Bedeutung für die Bestattungskultur verloren. Begleiterscheinung dieses Prozesses ist die wachsende Entkirchlichung. Vor allem im städtischen Raum wurden kirchliche Zeremonien zunehmend reduziert, ersetzt oder gänzlich aufgegeben. Immer mehr Trauerfeiern werden von weltlichen beziehungsweise freien Trauerrednern begleitet. Gesellschaftliche Re-Spiritualisierungstendenzen sind häufig im esoterischen Bereich angesiedelt. Statt institutionalisierter Bindungen sind es heute eher offene, teils temporäre gesellschaftliche Formationen, die sich auf die Zeremonien und Orte der Bestattungskultur auswirken. Dies zeigt der Trend zu neuen Gemeinschaftsgrabanlagen. Ein bekanntes Beispiel ist der ‚Garten der Frauen‘ auf dem Hamburg-Ohlsdorfer Friedhof. Er wurde 2001 eingerichtet und zeigt sich einerseits als Ort der Erinnerung an bedeutende Hamburgerinnen, deren historische Grabmäler hier – versehen mit Erläuterungstafeln – museal aufgestellt wurden. Auf der anderen Seite dient die Anlage in der Tradition der Genossenschaftsgrabanlagen zugleich Bestattungen, deren Ort mit gemeinschaftlichen Grabmälern markiert wird.10 Ein markantes neueres Beispiel bilden Grabanlagen für Anhänger bestimmter Fußballvereine. Auf dem Hauptfriedhof Altona in Hamburg begann man 2007 mit der Anlage des stadionähnlich gestalteten ‚HSV-Friedhofs‘: Drei ‚Tribünenränge‘ dienen der Aufnahme der einzelnen Gräber für Anhänger des Hamburger SV. Die Fläche, die mit Unterstützung des Vereines angelegt wurde, befindet sich direkt gegenüber dem HSV-Stadion.11 Die genannten Beispiele künden von einem allgemeinen Trend in der Grabstättenkultur: Bestimmte soziale Gruppen erhalten auf den Friedhöfen ihre Räume, die einer besonderen Gestaltung im Sinne einer ‚corporate identity‘ unterliegen und in die das Einzelgrab integriert wird. Damit verlieren die traditionellen sozialen Institutionen (Familie, Nachbarschaft, Kirche) ihre Bedeutung für die Entwicklung der Bestattungskultur in der Postmoderne, und neue, von größerer Wahlfreiheit geprägte Gruppierungen rücken tendenziell an ihre Stelle.

9 Ebd., S. 160–161 (Zitat S. 161). 10 Bake (2006). 11 Herzog (2011); ders. (2005).

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5. Pluralisierung von Bestattungs- und Erinnerungsorten Die Aschenbeisetzung ermöglichte das zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer häufiger zu beobachtende Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Erinnerungsort andererseits – eine der bedeutsamsten und folgenreichsten Entwicklungen postmoderner Bestattungskultur. So lässt sich feststellen, dass Tod, Bestattung und Trauer ihre feste Verortung verloren haben. Zu den jüngsten Entwicklungen einer ‚mobilen Erinnerungskultur‘ gehört dabei der Aschediamant. Diese Art der Teilbestattung der Asche ist in Deutschland zwar untersagt, kann aber über einen Hersteller seit 2005 in der Schweiz praktiziert werden. Der Aschediamant, der mit einem bestimmten, von nur wenigen Fachleuten beherrschten Verfahren in einem mehrtägigen Verfahren aus dem Kohlenstoff der Asche produziert wird, kann unter anderem als Schmuckstück am Körper getragen werden. Die übrigen Teile der Asche werden regulär bestattet. Der Aschediamant zählt im Kategoriensystem von Thomas Klie zum performativen Code. Er setzt „vor allem auf die Inszenierungsqualitäten, die die letzte Lokalisierung bzw. Dislokation der Leiche“ zu zeigen vermag. Und über die Folgewirkungen heißt es: „Damit verlagern sich die bestattungskulturellen Semantiken radikal: von der dauerhaften Repräsentation [auf dem Friedhof] [hin zur]… Imaginationskraft der Überlebenden.“12 Die Aschenreste bieten hier vielfältiges Potenzial, mit anderen Elementen von Trauer und Erinnerung kombiniert zu werden. Als „ebenso miniaturisierte wie mobile und dauerhafte Verdichtung“ lassen sie sich im Kontext der Erinnerungskultur flexibel einsetzen.13 Auch andere Varianten postmoderner Trauer- und Erinnerungskultur haben sich vom Bestattungsort gelöst. Zu ihnen zählt ‚public mourning‘, also die Trauer im öffentlichen Raum. Kreuze am Straßenrand als Erinnerungsorte für Verkehrsopfer gehören ebenso dazu wie Trauer- und Erinnerungsstätten für bekannte Persönlichkeiten. Kreuze am Straßenrand und vergleichbare Memorials bilden einen individuell-schöpferischen Akt der Trauer- und Erinnerungsarbeit in einer mobilen Gesellschaft, deren Symbol die Straße ist. Solche Memorials sind zumeist temporärer Natur und manchmal nur wenige Wochen oder Monate, manchmal mehrere Jahre zu sehen.14 Auch das Medium Internet hat seit Beginn der 1990er-Jahre neue Ausdrucksformen von Trauer und Erinnerung hervorgebracht, die unabhängig vom Bestattungsort sind.15 Die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten zeigt, wie rasch sich der Umgang mit Tod und Trauer den neuen Medien der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Mit der Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, werden Privatheit und Öffentlichkeit in eine neue Beziehung gebracht. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-)Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik und Erinne12 13 14 15

Klie (2008), S. 9–10. Mädler (2008), S. 73. Aka (2007). Gebert (2009).

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rungsobjekte. „Virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes … stellen daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungsund Trauerkultur dar“, heißt es in einer der frühen wissenschaftlichen Studien zu diesem Phänomen.16 Die Gründe für die Einrichtung und Nutzung virtueller Gedenkseiten verweisen auf die partikularisierten Lebenswelten der postmodernmobilen Gesellschaft – zum Beispiel die häufig weite Distanz zwischen Grabstätte und Wohnort der Hinterbliebenen. Eine Familiengrabstätte auf einem klassischen Friedhof, wie sie aus dem bürgerlichen Zeitalter bekannt ist, macht kaum Sinn, wenn die Generationen weit voneinander entfernt leben. Stattdessen rückt im Internet die Erinnerungsfunktion als kommunikative Ebene in den Mittelpunkt. Nach Ansicht des Schweizer Soziologen Hans Geser, der sich ebenfalls frühzeitig mit diesem Phänomen befasste, können virtuelle Gedenkstätten als „Frühindikatoren einer neuen Todeskultur“ betrachtet werden. Es gibt Geser zufolge „... aus theoretischer Sicht sehr wohl einige Gründe, um in ihnen die Embryonalform einer durchaus evolutions- und verbreitungsfähigen neuen Todeskultur zu sehen, die den Bedürfnissen einer komplexen, mobilen, pluralisierten, individualisierten und säkularisierten Gesellschaft in vielerlei Weise entspricht.“17 Zu diesen Gründen zählt der Bedeutungsverlust herkömmlicher, lokal gebundener Formen der Bestattungs- und Trauerkultur, wenn der Verstorbene zum Kreis hochmobiler Personen mit wechselhafter Lebensgeschichte zählt. Im Übrigen ermöglicht das virtuelle Totengedenken neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod, die die bisherige, bipolare Ausrichtung der Trauerfeiern (Redner/Trauergemeinschaft) auflöst und es gestattet, unabhängig von vorgegebenen Räumen neue Formen der emotionalen Anteilnahme zu mobilisieren.18 6. Resümee Die Bestattungs- und Erinnerungskultur durchläuft gegenwärtig eine grundlegende Zäsur, die einer ‚Entfesselung‘ gleicht. Jahrzehntelang eingeschliffene feste Strukturen sind aufgebrochen und überwunden worden. Die neuen Orte und Zeremonien der Bestattungskultur sind in der Regel individualistischer als die bisher vertraute reglementierte Routine. Die Bestattungskultur des frühen 21. Jahrhunderts oszilliert zwischen neumodellierten Räumen des klassischen Friedhofs und multipel inszenierten Gedächtnislandschaften im öffentlichen Raum bei zunehmender Dominanz und Formenvielfalt der Aschenbeisetzungen. Nicht zuletzt zeigt sich dabei eine tendenzielle Pluralisierung – im engeren Sinn ein Auseinanderdriften – von Bestattungs- und Erinnerungsorten. Aus gesellschaftlicher Perspektive verlieren die bislang in der Bestattungskultur dominanten sozialen Institutionen (Familie, Kirche u.a.) immer stärker ihre bisherige Bedeutung. An ihre Stelle treten neue, freiere soziale Formationen. 16 Schwibbe/Spieker (1999), S. 220. 17 Geser (2000), S. 233. 18 Ebd., S. 233–235, 238.

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Literatur Aka, Christine: Unfallkreuze. Trauerorte am Straßenrand. Münster 2007. Assig, Sylvie: Waldesruh statt Gottesacker. Der Friedwald als neues Bestattungskonzept. Stuttgart 2007. Bake, Rita: Der Garten der Frauen auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg. In: Ewig – Forum für Gedenkkultur 2 (2006), S. 20. Caduff, Corina: Bestattungsritual im Übergang. Zu Mischformen von delegierter und nicht-delegierter Bestattung. In: Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod (Hrsg.: Stapferhaus Lenzburg; Red.: Sibylle Lichtensteiger). 2. Auflage, Baden 2000, S. 158 –161. Creating Identities: Die Funktion von Grabmalen und öffentlichen Denkmalen in Gruppenbildungsprozessen. Kassel 2007. Eppler, Gerold: Zurück zu den Wurzeln – Die praktischen Seiten eines Mythos. In: Friedhof und Denkmal 50, H. 1 (2005), S. 7–11. Fischer, Norbert: Neue Inszenierungen des Todes: Über Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert. In: Dominik Groß u.a. (Hrsg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Frankfurt/New York 2011, S. 125–144. Fischer, Norbert: Inszenierte Gedächtnislandschaften: Perspektiven neuer Bestattungsund Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert. Online-Publikation unter: http://www.aeternitas.de/inhalt/forschung; http://www.aeternitas.de/inhalt/forschung/fischer/quellen/studie.pdf Fischer, Norbert: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt 2001. Fischer, Norbert/Herzog, Markwart (Hrsg.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden. Stuttgart 2005. Gebert, Katrin: Carina unvergessen: Erinnerungskultur im Internetzeitalter. Marburg 2009. Gerhardt, Andrea: ‚Ex-klusive Orte‘ und normale Räume. Versuch einer soziotopologischen Studie am Beispiel des öffentlichen Friedhofs. Norderstedt 2007. Geser, Hans: Virtuelle Gedenkstätten im World Wide Web. Entsteht im Internet eine neue Todeskultur? In: Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod (Hrsg.: Stapferhaus Lenzburg; Red.: Sibylle Lichtensteiger). 2. Auflage, Baden 2000, S. 228–239. Grabkultur in Deutschland – Geschichte der Grabmäler (Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur). Berlin 2009. Groß, Dominik et al. (Hrsg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Frankfurt/New York 2011. Hänisch, Ingrid von/Hohmann, Evelyne (Hrsg.): Trauerprozesse: Gibt es eine neue Kultur des Abschiednehmens? Berlin 2007. Herzog, Markwart: Trauer- und Bestattungsrituale der Fußballvereinskultur. Totenmemoria – Ahnenbiographien – Stadionbegräbnis – Performance. In: Norbert Fischer/Markwart Herzog (Hrsg.): Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden. Stuttgart 2005, S. 181–210. Herzog, Markwart: „Wahre Leidenschaft kennt keinen Abpfiff“: Postmortale Inszenierung, Memorialisierung und Verewigung in Fangemeinschaften des Vereinsfußballs. In: Dominik Groß et al. (Hrsg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Frankfurt/New York 2011, S. 163–188. Herzog, Markwart/Fischer, Norbert (Hrsg.): Totenfürsorge. Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination. Stuttgart 2003. Klie, Thomas (Hrsg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung. Stuttgart 2008.

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Neue Kultur im Umgang mit Tod und Trauer – Dokumentation einer Fachtagung am 25.11.1998 in Wuppertal (Hrsg.: Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen; Red.: Paul Timmermanns). Düsseldorf 1999. Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod (Hrsg.: Stapferhaus Lenzburg; Red.: Sibylle Lichtensteiger). 2. Auflage, Baden 2000. Leben mit den Toten. Manifestationen gegenwärtiger Bestattungskultur (Hrsg.: Kunstamt/Heimatmuseum Reinickendorf). Frankfurt/M. u.a. 2008. Mädler, Inken: Urne als Mobilie. In: Thomas Klie (Hrsg.): Performanzen des Todes. Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung. Stuttgart 2008. Nohl, Werner/Richter, Gerhard: Friedhofskultur und Friedhofsplanung im frühen 20. Jahrhundert. Bestatten, Trauern und Gedenken auf dem Friedhof. Königswinter 2000. Raum für Tote – Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Unter Mitarbeit von Norbert Fischer, Barbara Happe, Barbara Leisner, Helmut Schoenfeld, Reiner Sörries. Braunschweig 2003. Robertson-von Trotha, Caroline Y. (Hrsg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung. Baden-Baden 2008. Roland, Oliver (Hrsg.): Friedhof – Ade? Die Bestattungskultur des 21. Jahrhunderts. Mannheim 2007. Rüter, Stefanie: Friedwald – Waldbewusstsein und Bestattungskultur. Münster u. a. 2011. Schäfer, Julia: Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft. Perspektiven einer alternativen Trauerkultur. Stuttgart 2003. Schwibbe, Gudrun/Spieker, Ira: Virtuelle Friedhöfe. In: Zeitschrift für Volkskunde 95, H. 2 (1999), S. 220–245. Sörries, Reiner: Alternative Bestattungen. Formen und Folgen. Ein Wegweiser. Frankfurt/M. 2008. Sörries, Reiner: Neue Heimat Kirche. Begräbniskirchen und kirchliche Bestattungsinstitute. In: Friedhof und Denkmal 53, H. 1 (2008), S. 26–28. Stefenelli, Norbert (Hrsg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Wien u.a., 1998. Willke, Helmut: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 2001. Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas: Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010.

Ars moriendi durch Erziehung? Zur Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer Joachim Wittkowski Erziehung, die weitgehend mit Pädagogik gleichgesetzt werden kann, „faßt im allgemeinen Verständnis alle Vorgänge zusammen, durch die der nachfolgenden Generation die Wertvorstellungen und Verhaltensnormen einer Gesellschaft vermittelt werden.“ 1 Durch Erziehung wird der heranwachsende Mensch in seiner geistigen und charakterlichen Entwicklung befähigt, „sich sozial zu verhalten und als selbständiger Mensch eigenverantwortlich zu handeln.“2 Die anthropologische Prämisse jeglicher Erziehung besteht in der Vorstellung, dass der Mensch unfertig zur Welt kommt und durch Erziehung zu seiner Vollendung geführt werden kann bzw. muss. Dies vollzieht sich im Didaktischen Dreieck, bestehend aus dem Zögling (Educandus), dem Erziehungsziel und daraus folgenden Erziehungsinhalten sowie aus dem Erzieher (Educator). Durch das Erziehungsziel, das in einem gesellschaftlich-politischen Bezugsrahmen steht, ist Erziehung ihrem Wesen nach wertorientiert und insofern normativ. Erziehungsideologien (z.B. antiautoritäre Erziehung) können je nach historischer Situation und Kulturkreis unterschiedlich sein. Eine vollkommen ideologiefreie Erziehung ist kaum vorstellbar. Selbst die Postmoderne Pädagogik, die sich gegen jede Form einer wertorientierten Erziehung richtet und Erziehung letztlich auf eine individuelle Sozialisation reduzieren will, macht eben diese wertfreie Individualisierung zu ihrer Ideologie. Ein zentrales Erziehungsziel des westlichen Kulturkreises ist die Erlangung von Mündigkeit. „Der zu Erziehende soll die Verhaltenserwartungen (d.h. Normen oder Erziehungsziele) seiner sozialen Umwelt kennen, beurteilen, ggf. als begründet anerkennen und erfüllen lernen.“3 Dies ist der Hintergrund, vor dem Unterricht bzw. Unterrichtung zu sehen sind. Die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten ist die operative Umsetzung von Erziehung. Dabei kann man zwischen absichts- und planvoller Einwirkung durch die Schule und andere Einrichtungen (intentionale Erziehung) einerseits und unbeabsichtigten, pädagogisch nicht gezielt eingesetzten Maßnahmen andererseits (funktionale Erziehung) unterscheiden.

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Nickel (2000), S. 419. DIE ZEIT (2005), S. 297. Ebd.

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Die Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer (USTT)4 ist eine Sonderform des Unterrichts und damit auch der Erziehung im Allgemeinen, und sie weist folglich auch deren allgemeine Merkmale auf. Im Laufe der Geschichte war vor allem die informelle Beschäftigung mit Fragen nach Sterben, Tod und Verlust stets ein bedeutender Bestandteil von Folklore, mündlicher Überlieferung, Ritualen, Literatur, Kunst und Religion.5 Der Ursprung von USTT im heutigen Verständnis liegt am Beginn der 1970er Jahre, als in den Vereinigten Staaten ausgehend von der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ (‚death awareness movement‘) zunächst die Organisationen ‚Foundation of Thanatology‘ und ‚Ars Moriendi‘ gegründet und wenig später die Fachzeitschrift Death Education (heute: Death Studies) von Hannelore Wass, einer deutschstämmigen Immigrantin, ins Leben gerufen wurde.6 Angestrebt wurde eine Spezialisierung und Professionalisierung der Todesthematik analog der Entwicklung in den Bereichen Sexualität, Gesundheit, Ernährung u.a. In diesem Kapitel werden im Anschluss an eine allgemeine Kennzeichnung der USTT deren Prämissen offen gelegt, die dann im abschließenden Abschnitt als Ausgangspunkt für kritische Überlegungen dienen. Innerhalb dieses Rahmens grundsätzlicher Aspekte werden die verschiedenen Arten der USTT, deutschsprachige Kursangebote sowie empirische Befunde zur Wirkungsweise formeller USTT dargestellt. Eine einführende Übersicht über die vorliegende Thematik findet sich bei Durlak (2003), eine Zusammenstellung von Annahmen und Grundsätzen der USTT bieten Corr et al. (1992). 1. Allgemeine Kennzeichnung der Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer Im weitesten Sinne bezeichnet USTT alle erzieherischen Maßnahmen und Erfahrungen mit Bezug zu Sterben, Tod und Trauern, durch die ein Lernender in irgendeiner Weise ein Verständnis davon erhält, was es mit diesen Vorgängen bzw. Sachverhalten auf sich hat. Kernthemen sind Einstellungen zu Sterben und Tod, der Prozess des Sterbens einerseits und des Trauerns andererseits sowie die Begleitung und Betreuung von Menschen, die von Sterben und Tod direkt oder indirekt betroffen sind, aber auch Euthanasie, Abtreibung, künstliche Verlängerung des Lebens und Suizid.7 Im engeren Sinne steht USTT für alle planvollen und zielgerichteten Veranstaltungen, die den Teilnehmenden Kenntnisse über die Todesthematik vermitteln und/oder ihren Umgang mit Sterbenden und Trauernden durch den Abbau von Ängsten erleichtern (sollen). In der englischsprachigen Lite-

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Mit ‚Unterrichtung über Sterben‘ ist hier nicht die (in erster Linie medizinische) Aufklärung von Patienten über eine infauste Prognose (‚breaking bad news‘) gemeint; der Begriff soll vielmehr, wie im Folgenden dargelegt, die formelle wie informelle Unterweisung umschreiben. Noppe (2007). Doka et al. (2011); Huck/Petzold (1984), S. 501ff. Kalish (1981), S. 288; Sofka (2007); Wass (2003a).

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ratur hat sich ungeachtet seiner Missverständlichkeit der Begriff ‚Death Education‘ etabliert. An der USTT kann man vier Dimensionen unterscheiden:8 die kognitive bzw. intellektuelle Dimension (rationale Analyse und Strukturierung des Merkmalsbereichs sowie Vermittlung entsprechender Kenntnisse); die affektive Dimension (Gefühle mit Bezug zur Todesthematik); die Dimension des Verhaltens bzw. Handelns; die wertorientierte Dimension (Bewertung des Lebens und seines Verlusts). Das übergeordnete Ziel der USTT ist weitgehend identisch mit dem Ziel der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ in den Vereinigten Staaten, nämlich durch die Entwicklung einer persönlichen Lebensanschauung, welche das Wissen um die (eigene) Endlichkeit einschließt, die Lebensqualität des Individuums und seiner Bezugspersonen zu verbessern.9 Für Gordon und Klass (1979) besteht eines der wichtigsten Ziele der USTT im Erwerb der Fähigkeit, Werturteile über Fragen im Kontext von Sterben, Tod und Trauer zu fällen. Im Einzelnen führen Corr et al.10 sechs Ziele der USTT auf: 1. Bereicherung des eigenen Lebens durch ein umfassenderes Selbstverständnis, das die Akzeptanz von Stärken und Schwächen als endliches Wesen einschließt. 2. Informieren und Anleiten des Individuums bei seinem Umgang mit der Gesellschaft (z.B. die Betreuung am Lebensende betreffend). 3. Vorbereitung des Individuums auf seine öffentliche Rolle als Bürger (z.B. mit Blick auf Patientenverfügung, assistierten Suizid, Organspende). 4. Vorbereitung und Unterstützung des Individuums in seiner beruflichen Rolle/ Tätigkeit (z.B. als Krankenschwester). 5. Verbesserung der Fähigkeit, offen und unbefangen über todbezogene Themen zu sprechen. 6. Unterstützung des Individuums bei der Erkenntnis, dass und in welcher Weise die Entwicklung während der gesamten Lebensspanne in Wechselwirkung mit todbezogenen Themen steht. Diesen Zielen entsprechend wird der (erhoffte) Nutzen der USTT darin gesehen, den Teilnehmenden ihre Kontrollmöglichkeiten und deren Grenzen, ihre Verletzlichkeit versus Widerstandsfähigkeit sowie die Frage nach dem Sinn ihres Lebens und seiner Qualität bewusst zu machen.11 Ein weiterer eher handwerklicher Nutzen der USTT kann darin bestehen, die Kommunikation zwischen Sterbenden und ihren Angehörigen zu verbessern, auf Wege zur Verlängerung eines lebenswerten Lebens aufmerksam zu machen und Symptome der Trauer erkennen zu können.12 USTT richtet sich an Privatpersonen mit einer frühen und unbewältigten Traumatisierung, an Privatpersonen, die aktuell mit Sterben und Tod konfrontiert sind, an Personen, die beruflich mit Sterben und Tod befasst sind, an Halbprofes8 9 10 11 12

Corr (2003); Corr et al. (2009), S. 8ff. Noppe (2007); Wass (2003b). Corr et al. (2009), S. 10f. Ebd., S. 12f. Leviton (1977).

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sionelle (z.B. Ehrenamtliche in der Hospizarbeit) sowie an allgemein Interessierte zur Befriedigung von Neugier und des Wunsches nach einem tieferen Verständnis der Todesthematik.13 Bereiche von Zielgruppen sind das Gesundheitswesen einschließlich Medizin, Pflege, Psychotherapie, Theologie, Anthropologie, Soziologie, Kunst, Geschichtswissenschaft, Philosophie und Ethik. 2. Prämissen und (implizite) Annahmen der Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer Unter einer Prämisse versteht man die Voraussetzung, von der aus in einem logischen Schluss eine Folgerung abgeleitet wird. Insbesondere in den Geisteswissenschaften sind Prämissen Annahmen, denen man zustimmen kann, jedoch ist dies nicht zwingend notwendig. Im Idealfall wird die Prämisse explizit benannt, so dass jedermann den Gedankengang von ihr zur Schlussfolgerung nachvollziehen kann. In den Geisteswissenschaften ebenso wie in den empirisch orientierten Sozial- und Verhaltenswissenschaften gibt es immer wieder verborgene, d.h. nicht offen dargelegte Annahmen als Ausgangspunkt für Forschungsvorhaben. Anliegen des sogenannten Kritischen Denkens in der Psychologie ist es, in einem ersten Schritt derartige implizite Annahmen und Wertvorstellungen aufzuzeigen, und in einem zweiten Schritt alternative Annahmen zu entwickeln.14 Der USTT liegt eine Reihe von Annahmen zugrunde, die aufeinander aufbau15 en. Die erste Annahme besteht darin, dass Sterben – das eigene und dasjenige anderer Menschen –, der Verlust von Bezugspersonen durch den Tod, der Anblick von Toten und ihre Bestattung Bestandteile des Lebens sind; diese Ereignisse widerfahren nahezu jedem Menschen, und das Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens sowie des Lebens von Angehörigen ist mit Beginn des Jugendalters jedem Menschen mit normaler geistiger Entwicklung gegeben. Die zweite Annahme besagt, dass die Beschäftigung mit der Todesthematik in Gedanken und Handlungen dazu beiträgt, ein reicheres, von einem umfassenderen Verständnis auch der eigenen Möglichkeiten und Grenzen bestimmtes Leben zu führen. Im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit werde der Mensch befähigt, seinem Leben einen Sinn zu geben, und dies wiederum ermögliche es ihm, ein produktiveres Leben zu führen. Die dritte Prämisse besteht in der Behauptung, die Todesthematik unterliege im westlichen Kulturkreis einer Tabuisierung. Dies wird durch die Allegorie vom Pferd auf dem Esszimmertisch illustriert:16 Während eines festlichen Abendessens in größerem Kreise befindet sich ein Pferd auf dem Tisch. Jeder in der Tischgesellschaft sieht es mit Befremden, aber keiner spricht darüber. Alle fühlen sich in

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Kalish (1981), S. 288. Siehe Slife/Reber/Richardson (2005). Corr (2003); Corr et al. (2009), S. XXI, 1, 10; Gilbert/Murray (2007); Noppe (2007). Siehe Kalish (1981), S. 2ff.

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unbestimmter Weise unwohl, und die Gesellschaft löst sich bald nach dem Ende der Mahlzeit auf. Aus diesen Prämissen wurde nun von den Begründern der USTT die Schlussfolgerung abgeleitet, die Negation der Todesthematik lasse sich durch Unterrichtsveranstaltungen überwinden. Wenn dies auf der persönlich-individuellen, der institutionellen und der gesellschaftlichen Ebene gelinge, werde das Leben zunächst für den Einzelnen, indirekt aber auch für die Gesellschaft als Ganze an Qualität gewinnen. 17 Dies ist der Ausgangspunkt der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ und zugleich das zentrale Motiv jeglicher USTT (vgl. auch deren Ziele in Abschnitt 1). 3. Arten der Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer 3.1 Informelle Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer Beschäftigung mit Sterben, Tod und Verlust, die nicht nach didaktischen Gesichtspunkten geplant und auf ein Lehrziel ausgerichtet ist, findet mehr oder weniger spontan zuhause, in der Schule oder in anderen sozialen Kontexten (z.B. der Kirche) statt, wenn es einen Anlass (‚teachable moment‘) dazu gibt. Darüber hinaus üben aber auch die Medien und besonders das Fernsehen (z.B. in den Vereinigten Staaten durch die Sendereihe Dealing with death), das Internet und die Popmusik Einfluss im Sinne informeller USTT aus.18 Der Familie als der sozialen Struktur, innerhalb derer sich das Weltbild von Kindern und Jugendlichen ausbildet, dürfte besondere Bedeutung zukommen.19 So kann der Tod eines Haustiers den Anlass für Gespräche zwischen Eltern und Kind über das Sterben und das Totsein bieten, und das Beerdigungsritual kann durch seinen Modellcharakter bestimmte Werte und Normen vermitteln. In ähnlicher Weise kann die Trauer über den Tod einer bekannten Persönlichkeit (z.B. Prinzessin Diana) wirken, wenn sie via Fernsehen weltweit sichtbar wird. Massenhafte Tötungen von Kindern oder Jugendlichen im Rahmen von Amokläufen werden in den Schulen spontan zum Anlass genommen, die Todesthematik aufzugreifen. Wass (2003b) sieht in der Schule die wahrscheinlich wirksamste gesellschaftliche Einrichtung für die öffentliche Unterweisung über Sterben, Tod und Trauer. Hinweise auf die Verbreitung informeller und formeller USTT in Deutschland finden sich bei Wittkowski.20

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Huck/Petzold (1984); Wass (2003b). Corr et al. (2009), S. 7; Noppe (2007); Wass (2003a). Gilbert/Murray (2007). Wittkowski (2003), S. 277f.

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3.2 Formelle Unterrichtung über Sterben, Tod und Trauer Geplante, auf die Erreichung von Lehrzielen ausgerichtete und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluierte Seminare, Kurse, Workshops etc. werden in den Vereinigten Staaten in Primar- und Sekundarschulen sowie an nahezu allen Universitäten angeboten.21 Darüber hinaus werden sie in der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften nahezu aller entsprechenden Einrichtungen in Kanada und dem Vereinigten Königreich durchgeführt.22 Ihre Inhalte sind u.a. die Entwicklung des Todeskonzepts beim Kind, Einstellungen zu Sterben und Tod und ihre Veränderung im Laufe des Lebens (Angst einerseits, Akzeptieren andererseits), Erleben und Verhalten Sterbender und Trauernder, die Begleitung Sterbender und Trauernder, Suizid und Suizidprävention, ärztlich assistierter Suizid sowie ethische Fragen in diesem Kontext. Besondere Beachtung verdienen formelle Unterrichtsveranstaltungen für Kinder. Es gibt zwei didaktische Formen formeller Unterrichtsveranstaltungen zur Todesthematik, die selbstverständlich auch kombiniert durchgeführt werden. Ausbildungsprogramme, die Kenntnisse vermitteln, entsprechen dem kognitiven Aspekt des hier relevanten Erlebens. Wesentliche Inhalte solcher Kurse sind: der Verlauf des Sterbeprozesses (sogenannte Phasen-Lehren); die Bedeutung eines Lebensrückblicks für den Umgang mit dem eigenen Sterben bei alten Menschen; medizinische Aspekte unheilbarer Krankheiten; intrapsychische Verarbeitungsund Anpassungsprozesse bei Sterbenden, Angehörigen und Helfern; die Mehrdimensionalität des Erlebens gegenüber Sterben und Tod; Erscheinungsformen des Trauerns und ihre Funktionen, auch mit Blick auf die Unterscheidung zwischen pathologischer und ‚normaler‘ Trauer; Stellenwert von Ritualen im Rahmen des Trauerprozesses. Diese Inhalte werden durch einschlägige Literatur, durch Vorträge sowie durch audio-visuelle Materialien vermittelt. In der Regel gehört auch die Diskussion ethischer Fragen zu den Themen kenntnisvermittelnder Ausbildungsprogramme. Erfahrungsbezogene Ausbildungsprogramme entsprechen dem affektiven Aspekt des Erlebens gegenüber Sterben und Verlust. Dabei geht es darum, den Teilnehmenden ihre Ängste mit Blick auf ihr eigenes Sterben und ihren eigenen Tod bewusst zu machen und Möglichkeiten der Bewältigung dieser Ängste aufzuzeigen. Dies ist eng gekoppelt an die Klärung der eigenen Lebensperspektive und die Überprüfung eigener Wertmaßstäbe. Auch die Frage der Sinngebung nimmt in erfahrungsbezogenen Ausbildungsprogrammen eine wichtige Stellung ein. Diesen Zielsetzungen und Inhalten entsprechend werden vielfältige didaktische Methoden eingesetzt, die eine intensive Beschäftigung mit Sterben, Tod und Verlust stimulieren sollen (z.B. Filme mit Selbstberichten unheilbar Kranker; Besuch von Friedhöfen und/oder Beerdigungsunternehmen; Verfassen des eigenen Testaments; Verfassen der eigenen Todesanzeige und/oder des eigenen Nachrufs). Im Übrigen sind moderierte Gruppendiskussionen und Rollenspiele (z.B. Helfer – Sterbender) 21 Doka (2003). 22 Downe-Wamboldt/Tamlyn (1997).

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die tragenden didaktischen Elemente erfahrungsbezogener Kurse für den Umgang mit Sterbenden und Trauernden. Die Ausbildungsprogramme können grundsätzlich Wirkungen in folgenden Bereichen haben: im kognitiven Bereich (in erster Linie durch einen Zuwachs an Kenntnissen und eine differenziertere Sichtweise); im affektiven Bereich (hauptsächlich durch einen gelasseneren Umgang mit der Todesthematik, prinzipiell aber auch durch eine Intensivierung von Angst und Unsicherheit); im Bereich manifesten Verhaltens (z.B. durch mehr Kongruenz in verbalem und nonverbalem Verhalten); darüber hinaus sind Wirkungen auf die Persönlichkeit insgesamt (wie sie etwa durch umfassende Persönlichkeitsinventare operationalisiert werden) möglich. 4. Deutschsprachige Unterrichtsveranstaltungen Wittkowski und Krauß (2000) haben 18 deutschsprachige Beschreibungen von Kursen für den Umgang mit Schwerstkranken hinsichtlich ihrer konzeptionellen Merkmale, ihrer Ansprüche, ihrer Inhalte und ihrer didaktischen Methoden anhand eines differenzierten Merkmalskatalogs evaluiert. Die Kursbeschreibungen weisen in Konzeption, Inhalten und Methoden große Unterschiede auf, und wissenschaftliche Kriterien werden bei ihrer Entwicklung und Evaluation nur teilweise angewandt. Die Autoren gelangen zu folgenden Schlussfolgerungen, die zugleich Perspektiven für die zukünftige Arbeit bei der Entwicklung und Durchführung von Kursen für den Umgang mit Sterbenden beinhalten: 1. Angesichts großer Unterschiede ist eine Vereinheitlichung hinsichtlich Konzeption, Inhalten und Methoden wünschenswert. 2. Die empirische Klärung der Wirkung, die eine Verbindung erkenntnisvermittelnder und erfahrungsbezogener Komponenten auf die Teilnehmenden hat, sollte in zukünftigen Kurskonzeptionen berücksichtigt werden. 3. Als Ergänzung zur intrapsychischen Ebene sollte die Ebene des manifesten Verhaltens stärker berücksichtigt werden. 4. Die Kurse sollten stärker als bisher auf die individuellen Bedürfnisse und Probleme der jeweiligen Teilnehmenden abgestimmt sein. 5. Die Wirksamkeitskontrolle auf der Ebene der jeweils einzelnen Kursdurchführung ist verbesserungsbedürftig; dies betrifft sowohl die Untersuchungsverfahren als auch Nachfolge-Befragungen über längere Zeiträume. 6. Dringend erforderlich ist eine Evaluationsforschung, die auch der Frage nachzugehen hat, welche Effekte Kurse für den Umgang mit Schwerstkranken überhaupt auf ihre Teilnehmer haben können. Neuere Unterrichtsveranstaltungen, die in der vorstehenden Evaluationsstudie nicht berücksichtigt sind, wenden sich an Studierende der Medizin, an Ärzte sowie an hauptberufliche Pflegekräfte. Das an der Selbständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig entwickelte Kursprogramm „Kompetenter begleiten: Sterbende und ihre Angehöri-

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ge“ ist nach einem umfangreicheren Programm für helfende Berufe (Krauß, 2001) an die Möglichkeiten und Bedürfnisse von Studierenden der Medizin in den Anfangssemestern angepasst, standardisiert und bezüglich Akzeptanz und Wirksamkeit überprüft worden. Es setzt sich aus einem zwölfstündigen Selbsterfahrungsteil und einem ebenso langen Kompetenzteil zusammen und stellt damit eine Verbindung von Inhalten dar, die nach derzeitigem Kenntnisstand eine gute Gewähr für positive bzw. erwünschte Effekte bietet.23 Die beiden Kursteile werden jeweils im Block an zwei aufeinander folgenden Tagen mit höchstens zwölf Studierenden von zwei dafür geschulten Kursleitern durchgeführt. Methodisch setzt der Kurs auf Vielfalt und Abwechslung zwischen Kleingruppenarbeit, stillem Gestalten, studentischer Moderation, Filmdarbietungen mit Fallbeispielen, Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen, Sterbemeditation, Rollenspielen und videogestützten Gesprächsanalysen. Die Teilnehmenden erhalten schrittweise ein ausgearbeitetes Kursmanual. Sie reflektieren über ihre bisherigen Erfahrungen mit Trauerritualen im Krankenhaus, über den eigenen Aufklärungswunsch bei infauster Prognose und über das Berufsbild des Arztes in den Medien. Die Ergebnisse der bisherigen Wirkungsprüfung des Kurses „Kompetenter begleiten: Sterbende und ihre Angehörige“ sind ermutigend. Unter anderem zeigte sich ein Langzeiteffekt im Vergleich zur Ausgangslage und zu Kontrollgruppen in der Abnahme der Angst vor Sterben und Tod wichtiger Bezugspersonen, gemessen mit dem Fragebogeninventar zur mehrdimensionalen Erfassung des Erlebens gegenüber Sterben und Tod (FIMEST). 24 Bemerkenswert ist die differenzielle Wirkung des Kursprogramms: Die Angst vor Sterben und Tod anderer Personen nahm stärker ab als die Angst vor dem eigenen Sterben und dem eigenen Tod.25 Darin kann man die Erreichung eines entscheidenden Interventionsziels sehen. Denn erst nach Abbau der Angstbarriere ‚Angehörigenverlust‘ bzw. ‚Patientenverlust‘ sind junge, meist wohlbehütete Medizinstudenten bereit und in der Lage, sich eingehender auf das Thema einzulassen. Studierende ohne Vorerfahrung profitierten zusätzlich von dem Kursangebot, da sie im FIMEST den vergleichsweise größten Zuwachs an Akzeptanz des eigenen Sterbens und des eigenen Todes aufwiesen. Einen weiteren aktuellen Beitrag zur Fort- und Weiterbildung von Ärzten stellt das Kommunikationstraining dar, das im Anschluss an die wissenschaftliche Begleitforschung zu dem Jenaer Modellvorhaben „Patienten als Partner – Tumorpatienten und ihre Mitwirkung bei medizinischen Entscheidungen“ entwickelt wurde.26 Es enthält folgende Module bzw. Themen für Trainingseinheiten: 1. 2. 3. 4.

Modelle der Arzt-Patient-Beziehung Arzt-Patient-Kommunikation bei partizipativer Entscheidungsfindung Setting – Nonverbale Kommunikation Wunsch nach Supportivtherapie/Alternativverfahren

23 24 25 26

Zu Einzelheiten siehe Schröder/Wittkowski (2008). Wittkowski (1996). Vgl. auch Krauß (2001). Van Oorschot et al. (2007).

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5. 6. 7. 8. 9. 10.

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Dreierbeziehung: Arzt – Patient – Angehörige Prognose- und Risikokommunikation Wunsch nach Sterbehilfe Patientenverfügung Interprofessionelle Kommunikation I: Kollegiale Kommunikation Interprofessionelle Kommunikation II: Ethikkonsile

Das „Hamburger Kursprogramm zur Förderung psychosozialer Kompetenzen in der Palliativversorgung“27 schließlich ist für die Leiter von Kursen konzipiert, an denen (angehende) Ärzte und (angehende) Pflegekräfte teilnehmen; das Programm ist also gleichermaßen für Angehörige dieser Berufsgruppen in der Ausbildung wie auch mit Berufserfahrung geeignet. Abgesehen vom Thema ‚Überbringen schlechter Nachrichten‘ sind die Lernziele und Kursmodule für Ärzte und Pflegende identisch. Allerdings gibt es auf der Ebene einzelner Übungen (z.B. Gesprächsbeispiele) eigenständige Versionen für die beiden Berufsgruppen. Das Hamburger Kursprogramm hat sieben Lernziele und daraus abgeleitete Themenbereiche, welche die übergeordneten Grundsätze der Palliativmedizin konkretisieren. An didaktischen Methoden werden Kurzvorträge, Gruppendiskussionen, Paar- und Kleingruppengespräche, Stillarbeit, Rollenspiele und Imaginationsübungen eingesetzt. Die Evaluation erfolgt sowohl qualitativ als auch quantitativ. Vorläufige Ergebnisse zeigen Verbesserungen im vertiefenden Nachfragen und aktiven Zuhören an.28 5. Wirkungsweise formeller Unterrichtsveranstaltungen über Sterben, Tod und Trauer Untersuchungen zu den (kurzfristigen) Effekten von Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen zu Sterben und Tod konzentrieren sich auf die Frage, ob die Kursteilnahme eine Verminderung der Angst vor Sterben und/oder Tod bewirkt. Die Befundlage ist sowohl mit Blick auf einzelne Studien als auch mit Blick auf Metaanalysen uneinheitlich. Durlak und Riesenberg (1991) fanden bei einer Metaanalyse von 47 Studien mäßige bis große Effektstärken im kognitiven Bereich (Kenntniszuwachs), geringe Effektstärken im affektiven Bereich (Abnahme der Angst vor Sterben und/oder Tod) und im Bereich der Persönlichkeit sowie mäßige bis große Effektstärken im Bereich des manifesten Verhaltens. Ferner zeigte sich, dass die Angst vor Sterben und Tod durch kenntnisvermittelnde Kurse erhöht, durch erfahrungsbezogene Kurse hingegen vermindert wurde. 29 Im Gegensatz dazu ergab eine andere Metaanalyse von 62 Studien,30 dass die entsprechenden Kurse die Angst der Teilnehmenden vor Sterben und Tod generell steigern. Dabei wirken kenntnisvermittelnde Veranstaltungen stärker angstinduzierend als erfah27 28 29 30

Lang et al. (2007). Lang et al. (2006). Siehe auch Knight/Elfenbein (1993). Maglio/Robinson (1994).

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rungsbezogene Kurse. Die Frage dauerhafter langfristiger Wirkungen von Unterrichtsveranstaltungen insbesondere auch auf das manifeste (professionelle) Verhalten der Teilnehmenden ist nach wie vor weitgehend offen.31 Über Veranstaltungen speziell für die Begleitung (bei unauffällig verlaufendem Trauerprozess) und/oder für die Beratung Trauernder (bei hohem Risiko eines abnormen Trauerverlaufs) liegen kaum Erkenntnisse vor. Dies ist insofern bemerkenswert, als eine große Zahl von Personen mit unterschiedlichster fachlicher Grundausbildung in diesem Bereich tätig sein dürfte. 6. Kritische Reflexionen Anknüpfend an Abschnitt 2 kann man an der USTT eine instrumentelle und eine ideologische Dimension unterscheiden, die jedoch bei der praktischen Durchführung miteinander vermengt sind; bei der informellen USTT ist es der ideologische Aspekt, bei der formellen USTT ist es der instrumentelle Aspekt, der im Vordergrund steht. Formelle USTT als Gesamtheit aller Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Verbesserung professionellen und ehrenamtlichen Handelns bei der Begleitung Sterbender und Trauernder kann nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Sie liegt im Interesse der Betreuer wie der Betreuten und entspricht der ethischen Maxime, vermeidbaren Schaden so gering wie möglich zu halten. Im Unterschied dazu kann man Zweifel an informellen Maßnahmen hegen, die nach Art einer Heilslehre auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielen und missionarische Züge annehmen können. Die dritte Prämisse aus Abschnitt 2 (Tabuisierung der Todesthematik) kann nämlich als fraglich gelten. Dass die Todesthematik im öffentlichen Raum kaum in Erscheinung tritt, besagt wenig, denn dies gilt auch für viele andere Themen, die um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren. Jugend, Schönheit, Erfolg und Reichtum schneiden da besser ab als Alter, Krankheit und Armut. Gleichwohl steht zu vermuten, dass viele Menschen jenseits der Lebensmitte über Fragen im Kontext von Sterben und Tod (z.B. Patientenverfügung in Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht, Organspende, Tötung auf Verlangen bzw. assistierter Suizid, Testament, Begräbnis) mit Personen ihres Vertrauens sprechen. Dass dies nicht beim Einkauf an der Wursttheke geschieht, dürfte nachvollziehbar sein. Umfrageergebnisse zur Häufigkeit und Differenziertheit, mit der die Menschen in Deutschland über derartige Fragen mit einem anderen Menschen sprechen, gibt es nach Kenntnis des Verfassers nicht. Der Wert bzw. Nutzen von USTT ist umstritten. Es gibt radikale Befürworter und ebensolche Gegner, kaum aber gemäßigtere Skeptiker. Ethische Bedenken richten sich speziell gegen USTT von Kindern wegen der Möglichkeit der Induzierung von Angst und Besorgnis.32 31 Durlak (1978–79); Sofka (2007). 32 Sofka (2007); Wass (2003a).

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Wie sinnvoll wäre eine verstärkte informelle USTT zur Intensivierung des Bewusstseins der (eigenen) Endlichkeit? Sie wäre wenig sinnvoll, weil sie kaum wirksam wäre, und dies aus folgendem Grund. Aus der Persönlichkeitspsychologie sind seit langem zwei Formen des Umgangs mit bedrohlichen Informationen bzw. Gedanken bekannt: ein die unangenehmen Gefühle eher zulassender Typ (‚sensitizer‘) und ein sie eher (bewusst) unterdrückender oder (unbewusst) verdrängender Typ (‚repressor‘).33 Würde nun die Todesthematik als gesellschaftliches Thema forciert, würde dies bei den ‚Zuwendern‘ das bestätigen, was ohnehin bereits vorhanden ist, während es von den ‚Vermeidern‘ nicht zur Kenntnis genommen würde. Eine verstärkte informelle USTT zur Intensivierung des Bewusstseins der (eigenen) Endlichkeit würde somit nicht mehr bewirken, als bereits vorhanden ist. Die ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘, deren Anliegen insbesondere die informelle USTT außerhalb des Gesundheitswesens – d.h. in Schulen und Universitäten, in den Kirchen, in gesellschaftlichen Interessengruppen wie der Hospizbewegung – ist, scheint ein sehr nordamerikanisches Phänomen zu sein, das überdies auf einen kleinen Kreis von Intellektuellen mit Affinität zu den sozialwissenschaftlichen Fächern beschränkt sein dürfte. Unter der Voraussetzung, dass Individualität und Selbstverwirklichung zentrale Werte des westlichen Menschen in der Postmoderne sind,34 mag die zweite Annahme aus Abschnitt 2 zutreffen, das daraus abgeleitete Bedürfnis nach einer Intensivierung des Todesbewusstseins kann man jedoch für viele europäische Länder (Skandinavien, die romanisch geprägten Länder des Südens) nicht ohne weiteres erkennen. Für die deutsche Bevölkerung mit ihrer verbreiteten Neigung, kulturelle Strömungen von jenseits des Atlantiks bereitwillig – um nicht zu sagen: unkritisch – aufzunehmen, mag dies in Ausschnitten anders sein. Die Verhältnisse in anderen Teilen der Erde (Asien, Südamerika) können von hier aus nicht beurteilt werden. Hinsichtlich der ubiquitären Verbreitung der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ über Länder und Bevölkerungsschichten hinweg scheinen jedenfalls Zweifel angebracht. Literatur Byrne, D.: Repression-sensitization as a dimension of personality. In: B.A. Maher (Hrsg.): Progress in experimental personality research. Vol. 1, New York, Academic Press, 1964. S. 169–220. Corr, C.A.: Death education for adults. In: I. Corless/B.B. Germino/M.A. Pittman (Hrsg.): Dying, death, and bereavement. A challenge for living. New York, Springer, 2003, S. 43–60. Corr, C.A./Nabe, C.M./Corr, D.M.: Death & dying, life & living. Belmont, CA, Wadsworth, 2009. Corr, C.A. et al.: International Work Group on Death, Dying, and Bereavement. A statement of assumptions and principles concerning education about death, dying, and bereavement. Death Studies 16 (1992), S. 59–65. 33 Byrne (1964). 34 Vgl. Gronemeyer (1993), S. 20ff.

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Sterbekultur in der modernen Gesellschaft Soziologische Perspektiven zur Ars moriendi nova Klaus Feldmann 1. Einleitung: Shameful Death Während die traditionalen Kulturen mit dem frühzeitigen Tod kämpften, wird in einer modernen, reichen Gesellschaft das zu lange und die Betroffenen und ihre Bezugspersonen belastende Sterben zunehmend zum Problem. Dieses Problem wird selbst unter hospizlicher oder palliativer Betreuung nicht ausreichend gelöst1 und ist in vielen Fällen als ‚shameful death‘2 zu bezeichnen. McNamara und Rosenwax3 beziehen sich zwar in ihrer harten Kritik der real existierenden ‚Sterbekultur‘ auf Australien, doch es gibt keinen zureichenden Grund, sie nicht auf Europa und Nordamerika auszudehnen. Die vielfältigen psychischen, physischen und sozialen Belastungen vieler Menschen am Lebensende werden ungenügend berücksichtigt, aufgefangen und gemildert. In den lückenhaften offiziellen Berichten wird oft geschönt, vertuscht und ignoriert – ein harter Beweis für die Verdrängungsthese. So ist es nicht erstaunlich, dass Sterben von vielen als sozialer und kultureller Abstieg gefürchtet wird. Sterben als Dekultivierung, Dehumanisierung und Dezivilisierung ist ein gesellschaftlicher Schambereich. Doch für die herrschenden Subsysteme Wirtschaft und Politik handelt es sich um ein nebensächliches Problem, da die Hauptbetroffenen als Wähler und Konsumenten spätestens mit ihrem physischen Ende ‚verschwunden‘ sind. 2. Sterben Um sich den Spielraum der Kultivierung von Sterben und Tod vor Augen zu führen, wird eine semantische Feldbetrachtung der Erörterung vorangestellt. Drei dreigeteilte Kategorien ermöglichen Differenzierung: 1. Sterben, Tod und Postmortalität 2. Eigenes Sterben, Sterben der anderen und allgemeines oder kollektives Sterben 3. Physisches, psychisches und soziales Sterben

1 2 3

Vgl. Lawton (2000); Dreßke (2005). Kellehear (2007), S. 213ff. McNamara/Rosenwax (2007).

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Klaus Feldmann

Die erste Kategorisierung hilft, eine Basisdifferenz zwischen traditionalen Kulturen und der modernen Gesellschaft zu erkennen. In der modernen Gesellschaft steht das (prämortale) Sterben im Zentrum, in traditionalen Kulturen Tod und Postmortalität. Auch die zweite Kategorisierung zeigt den bedeutsamen Wandel in einer weiteren Perspektive: vom Tod der anderen bzw. von der Beschäftigung mit dem postmortalen Leben und Sterben der Kollektivmitglieder zum prämortalen Sterben des Individuums. Diese Neujustierung steht in Verbindung mit Veränderungen in den Vorstellungswelten des allgemeinen oder kollektiven Sterbens. Die dritte Kategorisierung erleichtert die theoretische und empirische Erfassung vielfältiger Phänomene. Ein wichtiger Aspekt ist die von soziokulturellen Bedingungen abhängige Verlängerung des physischen, psychischen und sozialen Sterbens. Dadurch ergeben sich neue Kultivierungsprobleme und -chancen. (prämortales) Sterben

(physischer) Tod

Postmortalität

Eigenes Sterben

Patientenverfügung, eigenes Sterben

Organspende, Suizid

Grab, Werk

Sterben des Anderen

Sterbebegleitung

Gewissheit/Ungewissheit

Trauer, Erinnerungskultur (privat, öffentlich)

Kollektives Sterben

Sterbewiderstand (Ethnie, Sprache, Kultur etc.)

Gewissheit/Ungewissheit

Erinnerungskultur (Wissenschaft, Kunst, Religion etc.)

Tabelle 1: Kultivierung von Sterben und Tod

In Tabelle 1 werden gemäß der Kombination von erster und zweiter Kategorisierung Beispiele für Kultivierung gegeben. Die Tabelle ist von hochkulturellen Konzepten der Vergangenheit gerahmt. Wissenschaft, Technologie, Ökonomie und Medien bleiben implizit, obwohl sie das Geschehen entscheidend bestimmen – vor allem die Medien, wobei hier die ökonomische und technologische Steuerung der Medien nicht diskutiert werden kann. Was wir wissen, wissen wir über die Medien, meinte Luhmann. Man kann auch sagen: In der Regel wird moderne Kultivierung medial aufbereitet und vermittelt. Dies trifft einerseits zu, andererseits sind sowohl das eigene Sterben als auch die Postmortalität weitgehend privatisiert, so dass nur ein kleiner Teil in das Mediengeschehen gerät. Allerdings wird über das Internet zunehmend die Privatisierung in neue Formen der Öffentlichkeit umgewandelt. Eine weitere Einschränkung der Medialisierungsthese ergibt sich aus der Kommunikation mit ‚Sterbepraktikern‘: Ärzte, Krankenschwestern, Hospizmitarbeiter und andere Sterbedienstleister teilen mit, wie und was Sterben ‚wirklich‘ ist. Es gehört zur Selbstbeschreibung ihrer Institutionen und Organisationen und entspricht den Erwartungen der meisten Empfänger, dass sie über das ‚wirkliche‘ Sterben Auskunft geben. ‚Tatsächlich‘ bzw. ‚sozialwissenschaftlich‘ handelt es sich nicht um eine Beschreibung des ‚wirklichen‘ Sterbens. Es werden Kon-

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struktionen angeboten, ebenso wie die Medien Nachrichten bringen, deren naive und normale Empfänger diese Nachrichten für ein gutes Abbild von Wirklichkeit halten. Die überbordende Hospiz- und Palliativliteratur, die von manchen als Teil des Medienfeldes gesehen wird, begünstigt bei den Zielgruppen semantische und konstruktive Rahmensetzungen im Sterbefeld. prämortal

postmortal

Physisches Sterben

Palliativmedizin, Hospiz, Hochleistungsmedizin

Abweichende, pathologische Vorstellungswelten

Psychisches Sterben

Gang in die Demenz, Suizid, spiritual care

Seelenreise, Jenseitsexistenz

Soziales Sterben

Sterbebegleitung von Dementen, Wachkomapatienten, Hospiz, politische Repression

Werkpflege, Erinnerungskultur, Kommunikation mit physisch oder sozial Toten

Tabelle 2: Kultivierung nach Sterbeformen und Prä- oder Postmortalität

Tabelle 2 soll zeigen, dass verschiedene Optionen der Kultivierung bestehen, die nach den Sterbeformen und der Einteilung in prä- und postmortale Phasen kategorisiert werden können. In der Tabelle wird ein weiter Begriff von Sterben verwendet, so dass auch politischer Widerstand, der zu Folter, Gefängnis, Diskriminierung und vielleicht auch zu frühzeitigem Tod führt, einbezogen werden kann. Die beiden Tabellen vermitteln fälschlicherweise das Bild einer ruhigen Parallelität der Formen. Doch Kultivierung des Sterbens vollzieht sich in Konflikten und Kontroversen: – Sowohl der angeblich nicht manipulierte Vollzug des ‚natürlichen‘ bzw. medikalisierten Sterbens wird als Kultivierung angesehen, als auch der Abbruch durch Suizid, Beihilfe zum Suizid oder aktive Sterbehilfe.4 – Sowohl der Gang in die Demenz als auch die Verweigerung der persönlichen Demenzentwicklung durch Suizid stellen Formen der Kultivierung dar. – Sowohl die Inanspruchnahme einer High-Tech-Medizin als auch die Ablehnung jeder Art von medizinischer Behandlung sind kulturell relevante Entscheidungen. 3. Kultur Der zweite Zentralbegriff in dem Konstrukt Sterbekultur eröffnet höchst heterogene Reflexionsfelder. Hat oder ist die moderne Gesellschaft Kultur? Der Kulturbegriff ist zwar äußerst beliebt, jedoch auch höchst schillernd und vieldeutig. So kann eine ‚Kultur des Todes‘ als ideal gewünscht oder auch als teuflische Erfindung verdammt werden. Der Begriff ‚Kultur des Sterbens‘ ist ebenfalls nicht eindeutig. 4

Vgl. Norwood (2009).

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Während Kultur eher ein Kollektivbegriff ist, wird Kultivierung auch für Individuen verwendet. Kultivierung, Zivilisierung, Humanisierung und Rationalisierung (im Sinne von rationaler Gestaltung möglichst vieler Bereiche) sind verwandte Begriffe. Die Verwendung von Zivilisierung ist in wissenschaftlichen Diskursen vor allem mit dem Prozess der Zivilisation von Norbert Elias verbunden. Zivilisierung wird inhaltlich somit stark durch die abendländische oder westliche Kultur geprägt. Humanisierung erscheint dagegen universaler und nicht kulturspezifisch belastet, auf Verfassungs- und Menschenrechte wie Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit gerichtet. Wenn man allerdings recherchiert, ist angewandte Humanisierung hauptsächlich mit partikularen Bereichen verbunden: Humanisierung der Lebenswelt, des Alltags, der Arbeit, des Strafvollzugs etc. Kultivierung könnte man als Begriff verstehen, der Zivilisierung, Humanisierung und Rationalisierung zusammenführt. Doch faktisch wird der Begriff ähnlich dem Konstrukt Humanisierung undifferenziert auf verschiedenste Bereiche bezogen, z.B. Markt, Alltag, Krankenhausserien im Fernsehen usw. Kultivierung kann relativ wertneutral verwendet werden, was freilich unüblich ist. Die Bewertung der Kultivierung wird von verschiedenen Standpunkten, z.B. religiösem Weltbild, Gruppenbezug oder Konvention, durchgeführt. Neben hypermodernen wissenschaftlich, technologisch, esoterisch und anderweitig ‚fundierten‘ Kulturvorstellungen und handlungen existieren traditionelle, archaische und atavistische oft in der gleichen Region oder Stadt. Kultivierung wird in der modernen Gesellschaft sowohl auf individueller Ebene als auch auf kollektiven Ebenen realisiert. Als idealtypischer Wert gilt in der modernen Gesellschaft – zumindest für Eliten –, dass den Individuen möglichst große Kultivierungsspielräume gegeben werden, wobei die faktischen Realisierungschancen macht- und kapitalabhängig sind. In diesem Text wird Kultivierung nicht im strengen Sinn definiert, sondern es werden Konstruktionen, Re- und Dekonstruktionen angeboten. Eine vorläufige Bestimmung einer avancierten modernen Kultivierung könnte die Elemente reflexive Zivilisierung, personal fokussierte wissenschaftliche Steuerung und Vernetzung gesellschaftlicher Bereiche enthalten. 4. Kultivierung des Sterbens Kultivierung des Sterbens ist ein das ganze Leben und alle institutionellen und lebensweltlichen Bereiche durchziehendes Geschehen. Thematisierung und Ausführung einer solchen Kultivierung erschließen sich freilich in der modernen Gesellschaft nicht ohne Analyse, denn im Vergleich zu traditionalen Kulturen sind Sterben und Tod vielfältig ‚zersplittert‘ und diffundiert. Die Kultivierung des Sterbens findet in vielen Feldern statt, in denen Institutionen, Professionen und Unternehmen um Kunden konkurrieren. Kultivierung von Sterben und Tod wird heute selektiv und zielgruppenorientiert proklamiert: Erstens wirken noch alte religiöse Vorstellungen, z.B. der Ars moriendi verschiedener Religionen; doch auch neues Heil, mehr oder minder wissenschaftlich, religiös, politisch, ökonomisch und medial aufbereitet, wird auf

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Märkten angeboten: Hospiz, Pallativmedizin, Trauerarbeit, Selbsthilfegruppen, Beratungsliteratur, Internetforen, Esoterik. Doch Kultivierung ist ein lebenslanger Prozess. Folglich sollte man die erste Phase der Sozialisation betrachten. 5. Sterbesozialisation Die Primärgruppe und Basisinstitution ist die Familie. Die familienzentrierte Form der Kultivierung des Sterbens erfolgt nur mehr selten, da Familienmitglieder in den ersten 20 Lebensjahren eines Menschen kaum noch sterben. Erwachsene erleben häufig erst mit 40 oder 50 Jahren den Tod der Eltern. Wird der Mangel an Primärerfahrung durch Sekundärerfahrung kompensiert? Die Medien sind Begleiter von früher Kindheit an; sie bringen Sterben und Tod ins Haus wie auch in das Bewusstsein der Kinder. Es entsteht also ein breites, heterogenes, allerdings verzerrtes Wissen aufgrund vielfältiger Selektionsvorgänge. Jedenfalls erfolgt die Sterbesozialisation in der Kindheit mehr durch Medien als durch familiäre Erfahrungen. In Kindergarten und Grundschule wird das Thema Sterben und Tod nur marginal eingebracht. Auch in der Peer-Kommunikation und in den vielfältigen Gesprächen mit Erwachsenen entsteht ein mediengeprägtes Bewusstsein von Sterben und Tod, da fast alle Beteiligten ihre Sterbe- und Todeskonstruktionen hauptsächlich medial konstruiert geliefert bekommen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die Schule ein bedeutsamer Einflussbereich in der Formung der Lebens- und Sterbevorstellungen – Hort einer militaristischen und nationalistischen ‚Ars moriendi‘. Inzwischen wird in den westlichen Schulen kaum noch explizite Ars moriendi betrieben, da Sterben und Tod einerseits medikalisiert, andererseits medialisiert und privatisiert sind.5 6. Kultivierung durch Verdrängung? Die meisten Menschen sind am Thema Sterben und Tod interessiert, wollen jedoch wie Woody Allen beim eigenen Sterben ‚nicht dabei sein‘. Doch entgegen diesen Wünschen hat sich das Sterben in den vergangenen 30 Jahren in den hoch entwickelten Ländern verlängert. Allerdings steigt wahrscheinlich der Anteil derjenigen, die das eigene Sterben nicht oder kaum mehr erleben, wobei repräsentative, empirische Untersuchungen fehlen. Übrigens besteht oft zwischen Patient und Arzt ein stillschweigender Konsens, dass das Sterben ‚vermieden‘ werden soll. Es wird bis zum letzten Tag kurativ gehandelt.6 Man kann also sagen, dass die Motivation moderner Menschen primär auf das Vermeiden des physischen Todes und der unerwünschten Weisen des Sterbens 5 6

Vgl. Feldmann (2010a). Vgl. Jakobsson et al. (2006).

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gerichtet ist, nicht auf Gestaltung und Kultivierung des Sterbens. An diese These lässt sich eine grundsätzliche Überlegung anschließen. Freud und andere haben auf die ‚anthropologische Tatsache‘ der Verdrängung der Vorstellung des eigenen Sterbens hingewiesen. Geht man von dieser These aus, die durch psychologische Untersuchungen, vor allem der ‚terror management theory‘,7 erhärtet wird, dann ist Kultivierung immer mit Verdrängung verbunden gewesen. Diese allgemeine anthropologische Verdrängungsthese ist allerdings soziologisch und auch alltagspraktisch nicht so bedeutsam, wie es erscheint. Denn es handelt sich ja nur um eine tendenzielle Einstellungs- und Verhaltenssteuerung, die durch soziokulturellen Einfluss verstärkt oder vermindert, ja wahrscheinlich auch fast ganz außer Kraft gesetzt werden kann. Hier kann Kultivierung des Sterbens ansetzen. Personen können diese Tendenz verstärken, d.h. Vorstellungen des eigenen Sterbens radikal verdrängen, so dass sie auch in der Endphase trotz eindeutiger Aussagen der behandelnden Ärzte an der unbegrenzten Selbstverständlichkeit ihres diesseitigen Weiterlebens festhalten. Sie können sich aber auch in Offenheit und Gelassenheit gegenüber dem eigenen Sterben trainieren, z.B. in einer Art ,coolness‘ oder Härte, die dann in früheren Zeiten vor allem im Krieg ihre Erprobung fand. Für moderne Menschen ist allerdings Verdrängung eine alltägliche Angelegenheit, da die Überfülle an kulturellen Stimulierungen nur durch rigorose Selektion und flexible Prioritätensetzung zu bewältigen ist. In diesem kulturellen Beschleunigungsspiel stehen Sterben und Tod mit vielen anderen Bereichen in Konkurrenz. So werden auch die dominanten populären und hochkulturellen Diskurse zu Sterben und Tod von der Medialisierung geprägt, da sie ansonsten kaum Aufmerksamkeit fänden. 7. Diskurse Wenn man im Internet Treffer zu ‚Sterbekultur‘ und ‚culture of dying‘ analysiert, entsteht schnell ein Bild von den wichtigen Diskursen. Hochkulturell dominant sind die Themen Palliativmedizin und Hospiz und die traditionelle religiöse und spirituelle Beschäftigung mit Sterben und Tod. Eine lebenslange Ars moriendi dagegen entspricht wohl nicht den Wünschen und Vorstellungen im populär- und hochkulturellen Mainstream. Abweichende Formen des Sterbens werden nicht mit Kultivierung verbunden: Unfall, gewaltsames Sterben, Suizid, aktive Sterbehilfe, Todesstrafe. Die Verbindung von Medialisierung und Medikalisierung wird in den Diskursen zur Kultivierung des Sterbens kaum besprochen. Interessanterweise tauchen die im Gedächtnis von Milliarden verweilenden großen globalen Sterbeereignisse, z.B. Zweiter Weltkrieg, Lady Diana, 11. September, Tsunami oder Genozide, unter dem Thema Kultivierung nicht auf. Die hochkulturellen und wissenschaftli-

7

Solomon et al. (2004).

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chen Diskurse zur Gestaltung des individuellen Sterbens verlaufen getrennt von der Gestaltung des kollektiven Sterbens. 8. Das gute Sterben Menschen wollen in ihrem privaten Kulturraum sterben, zu Hause und von Bezugspersonen umgeben. Die meisten verbringen ihre letzten Tage in Organisationen, also entfremdet und kollektiviert. Sie sind Opfer einer säkularen Religion des ‚natürlichen Sterbens‘, die dogmatisch Lebenslänge und technische Versorgung als Hochziele setzt. Diesen unerwünschten Endzustand antizipierend und verdrängend, konzipieren viele Menschen in den reichen Staaten das ‚gute Sterben‘ so wie den ‚guten Krieg‘ – am besten vermeiden, nicht stattfinden lassen. Für eine Minderheit ist dies eine realistische Sichtweise, sie erlebt das eigene Sterben (fast) nicht: Der schnelle, unerwartete Tod erfasst sie. Doch die Mehrheit muss das verlängerte Sterben ertragen. Die Regel ist somit nicht nur die Vermeidung der Vorstellung des eigenen Sterbens, sondern auch der prospektiven Thematisierung des eigenen guten Sterbens. Eine traditionelle oder moderne Ars moriendi hat in der modernen Gesellschaft wenige Anhänger. Allerdings entwickelte sich eine wachsende Bewegung gegen diese Vermeidungshaltung seit den 1960er Jahren, als deren Pionierinnen Elisabeth KüblerRoss und Cicely Saunders genannt werden. Der Aufstieg der Hospizbewegung und in der Nachfolge der Ausbau der Palliativmedizin haben einen gewaltigen Anstoß zur Kultivierung des Sterbens bewirkt. Diese Bewegung hätte ohne die vielen freiwilligen Mitarbeiter nicht eine solche Breitenwirkung erreicht. Dies hat u.a. auch Stiftungen und Sponsoren angeregt, sich diesem zentralen Thema zu widmen. Ein Beispiel stellt das Projekt on Death in America (PDIA) dar.8 Durch Hospize und Palliativmedizin erfolgte eine neue Institutionalisierung des Sterbens. Eine Grundlage dieser Bewegung ist die Annahme, dass die Begleitung des Sterbens anderer die Wahrscheinlichkeit des eigenen ‚guten Sterbens‘ erhöht. Palliativ- und Hospizsprecher verkünden in der Öffentlichkeit – auch wenn sie nicht offensichtlich mit Religionsgemeinschaften verbunden sind – die Botschaft des ‚guten Sterbens‘. Auch von anderen Institutionen wird diese Botschaft verkündet, von der Religion selbstverständlich, aber auch von Recht und Politik. In modernen Demokratien garantiert das Recht zwar Meinungs- und Weltanschauungsfreiheit, doch die Handlungsfreiheit wird eingeschränkt. Wenn jemand Beihilfe beim Suizid oder aktive Sterbehilfe wünscht, dann wird ihm dies nur von wenigen Rechtssystemen zugestanden, d.h. diese Person ist zur Erfüllung ihrer Wünsche nach einem eigenwilligen ‚guten Sterben‘ auf den Graubereich angewiesen, wie dies in Zeiten der nach heutiger vorherrschender Sichtweise mangelhaften Kultivierung für die Abtreibung der Fall war. 8

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Mit Bourdieu kann man die herrschende Ideologie des ‚guten Sterbens‘ als ‚doxa‘ und ‚illusio‘ im Rahmen des medizinischen Feldes identifizieren. Die immer stärker ‚evidenz-basierte‘ Rhetorik des ‚guten Sterbens‘ dient der Legitimation und dem Management des institutionalisierten medikalisierten Sterbens. Lofland meinte schon vor über 30 Jahren, dass neben den offiziellen Verkündigungen und ‚Untersuchungen‘ die individualisierten, unübersichtlichen, fluiden und kulturell ‚unrealisierten‘ Skripte der in Organisationen Sterbenden existieren.9 Zusätzlich gibt es Sterbende, die nicht oder nur peripher vom medizinischen Feld erfasst werden und folglich auch in geringerem Maße dieser Ideologie unterworfen sind. Sicher wäre es naiv, diese Personen als freie Konsumenten auf den Märkten der Sterbe- und Todesdeutungen zu bezeichnen. Diese heterogene ‚Restmenge‘ ist bisher kaum untersucht worden, ihre Formen der Kultivierung des Sterbens sind somit im Großen und Ganzen wenig bekannt. Untersuchungen und Berichte geben nur begrenzte Einblicke in das Geschehen.10 Aufgrund der dominanten Medikalisierung läuft die Kultivierung des Sterbens derzeit in Übereinstimmung mit der abendländischen Weltsicht dualistisch ab: Die Kultivierung des Körpers übernimmt die Medizin, und die Kultivierung der ‚Seele‘ wird privatisiert. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass Seelen bzw. psychische Systeme in der Endphase medikalisiert werden und dass Gedanken und Gefühle von Medienerfahrungen gemischt mit biografischen und medizinischen Details besetzt werden. ‚Seelenexzellenz‘ ist wohl ein seltenes Ereignis, da es sich ökonomisch, politisch und medizinisch um einen Randbereich handelt. In der hochkulturellen Öffentlichkeit kursieren auch fast nur Medienbeispiele für das aktuelle ‚gute Sterben‘.11 Damit soll nicht gesagt werden, dass keine berichtenswerten realen ‚kreativen‘ Kultivierungen des Sterbens existieren; sie gelangen nur selten durch die Filter der Medien- und Kommunikationsgesellschaft. 9. Übergangsgestaltung Das soziale Leben (und Sterben) vollzieht sich in Übergangsritualen, in Positionsund Rollenwechseln, in Statusgewinn und -verlust und war in den meisten Kulturen mit dem physischen Tod keineswegs beendet. Der Tod wurde als Übergang von der Gemeinschaft der Lebenden zu der Gemeinschaft der Toten verstanden und zelebriert. In der modernen Gesellschaft pluralisieren und privatisieren sich diese Übergangsvorstellungen. Das psychische und soziale Sterben wird von vielen antizipiert, und es wird ein diesseitiger Übergang gefürchtet, die Einweisung in ein Alten- oder Pflegeheim oder ein psychophysischer ‚Zerfall‘ in der eigenen Wohnung. Aber die Vorstellungen richten sich nach wie vor auch auf die Postmortalität. Bedeutsam war und ist für viele Menschen der Basisübergang von einer Realität, 9 Lofland (1978), S. 49. 10 Vgl. Gibson (2011); Chan (2011). 11 Vgl. Green (2008), S. 10ff.

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in der man als physische, psychische und soziale Identität existierte, in eine Realität, in der man selbst nur mehr als soziale Restperson für begrenzte Zeit weiterlebt. Den Übergang und damit dieses soziale Weiterleben, vor allem als Mitbewohner im psychischen System von Bezugspersonen, zu gestalten, war immer ein Motiv – der Sterbenden und der Überlebenden. Krebs, AIDS und andere chronische zum Tod führende Erkrankungen sind für eine Übergangsgestaltung, eine moderne Ars moriendi, gut geeignet. Allerdings wird dies nur von ‚Auserwählten‘ genutzt, d.h. Personen mit überdurchschnittlichem sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital inszenieren und beschreiben ihr Sterben. Kardinal Bernhardin aus Chicago verfasste nicht nur ein Buch über seine Krankheit, sondern trat während seiner Sterbephase mehrfach in der Öffentlichkeit auf. Professor Morrie Schwartz schrieb einen Bestseller und verbreitete Informationen über sein Sterben in einem Film.12 Deutsche Beispiele für die Vermarktung des eigenen Sterbens lieferten der Strafrechtsprofessor Peter Noll (Diktate über Sterben und Tod, 1982), der Schriftsteller Fritz Zorn (Mars, 1977), der Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann (Das Leben ist der Ernstfall, 2009) und andere bekannte Personen. Menschen, denen eine derartige Verwertung des eigenen Sterbens nicht ermöglicht wird, versuchen, den Übergang anders zu gestalten. Hier können nur wenige Beispiele geboten werden. – Eine Person wählt ein anonymes Begräbnis, um den Bezugspersonen die für diese lästige Grabpflege zu ersparen oder um eine üble Nachrede aufgrund mangelhafter Grabpflege zu vermeiden. – Eine Person verkürzt zwar ihr Leben, gestaltet dies jedoch so, dass es offiziell nicht als Suizid verbucht wird, um nicht als krank oder verrückt in der Erinnerung der Überlebenden zu verbleiben. – Eine Person widmet sich intensiv der Akkumulation von ökonomischem, sozialem und/oder kulturellem Kapital, instrumentalisiert ihren Körper, vielleicht auch ihr psychisches System, zerrüttet ihre Gesundheit und verkürzt ihr Leben, um für andere auch nach ihrem Tod eine bedeutsame, erinnernswerte Person zu bleiben. Die vielfältigen real existierenden Formen der Ars moriendi, der Kunst der Übergangsgestaltung oder der Pflege der sozialen Postmortalität warten noch auf ihre Erforschung. 10. Trauer als Kultivierungschance Wie schon gesagt, wurden die bedeutsamsten Leistungen der Kultivierung des Todes auf die postmortale Phase bezogen durchgeführt. Diese Phase wird heute reduktionistisch meist unter Trauer subsummiert. In einigen archaischen oder traditionalen Kulturen galt die folgende Erkenntnis: Ein sterbender oder toter Mensch reißt abhängig von seiner Kapitalstärke Lebendiges mit in den Tod. Diese Annahme wurde unterschiedlich ‚realisiert‘. In 12 Vgl. Green (2008), S. 13f.

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manchen Kulturen wurden die Gegenstände von toten Leitfiguren zerstört, ihre Sklaven und die Abhängigen getötet. In gemilderter Form wurden den mit dem Toten eng Verbundenen soziale Teilhabechancen genommen: Sie durften die Wohnstätte nicht verlassen oder nur bestimmte Räume zu bestimmten Zeiten aufsuchen. All diese Regelungen gelten in der modernen Gesellschaft nicht. Doch die Sterbe- und Todesbehaftung der Bezugspersonen ist nicht verschwunden. Angehörige von Sterbenden oder Trauernde werden teilweise gemieden und ihnen wird signalisiert, dass sie bestimmte Teilhabechancen nicht wahrnehmen sollten. Trauer ist eine Form von psychischem und sozialem Sterben.13 Im Extremfall stirbt die trauernde Person auch physisch frühzeitig oder fällt aus sozialen Kontexten heraus. Die kollektiven Normen und Institutionen sind stark geschwächt, doch individuelle, informelle und subkulturelle Normierungen und Erwartungen gestalten das Geschehen, ermöglichen eine Kultivierung. Für Trauernde gibt es viele, z.B. nach Todesart spezialisierte Selbsthilfegruppen, Therapien und Aktionsangebote. Doch es ist anzunehmen, dass der überwiegende Teil der trauernden alten Menschen im traditionellen privaten Raum verbleibt, der freilich – wie schon vermittelt – allmählich über die Medien, vor allem das Internet, in neue Formen der Öffentlichkeit und der Vergemeinschaftung übergehen wird. Neben der privaten Trauer, die derzeit nur zögernd in die mediale Öffentlichkeit einfließt, gibt es kollektive Trauer, die über die Medien zu nationalen oder sogar internationalen Ereignissen hochstilisiert werden kann: Präsident Kennedys Ermordung war ein frühes Beispiel, in neuerer Zeit Lady Dianas Unfall. Eine andere Form von kollektiver Gestaltung von Sterben und Tod ergibt sich bei unerwarteten tragischen Vorfällen, die sich z.B. durch Terrorakte oder durch Naturkatastrophen (Tsunami) ergeben. Millionen, die nur über die Medien an den Ereignissen teilnehmen, werden doch emotional betroffen, ja bei vielen kommt es zu weitergehenden Handlungen wie Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, Gestaltung von Trauerstätten, Spenden, Kauf von Devotionalien etc. An diesen Beispielen lässt sich erkennen, dass Primär- und Sekundärrealität zwar analytisch getrennt werden können, sich jedoch im Bewusstsein und im Handeln der Menschen vermischen. 11. Zukunft der Kultivierung des Sterbens Der positive Trend der hospizlichen und palliativen Betreuung ist bisher ungebrochen, wobei er freilich an ökonomische und personelle Grenzen stoßen wird. Außerdem werden sich bei der Ausweitung von hospizlicher und palliativer Betreuung Bürokratisierung und Routinisierung verstärken. Neben eher positiven Entwicklungserwartungen sollten die Schattenseiten nicht vergessen werden. Die soziale Ungleichheit des Lebens und Sterbens hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zugenommen, und auch dieser Trend ist ungebrochen. 13 Feldmann (2010b), S. 241ff.

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Wenn man von der globalen Betrachtung wieder zu den reichen Staaten zurückkehrt, gibt es unterschiedliche Szenarien. Die Ungleichheit der quantitativen Lebenserwartung und der Lebens- und Sterbequalität wird auch in diesem inzwischen krisengeschüttelten Bereich weiter zunehmen. In der Regel werden Diskussionen über die Kultivierung der legalen und illegalen Formen der Gewalt, der Lebensminderung und des Tötens aus Diskursen über Ars moriendi oder Sterbekultur ausgeblendet. Abweichende Formen des Sterbens, z.B. Suizid, wurden zwar in manchen Kulturen für spezifische Gruppen und Situationen vorgeschrieben und damit kultiviert, doch in den dominanten westlichen Diskursen wird Suizid als Kandidat für eine Kultivierung nach wie vor abgelehnt.14 Dagegen wird an einer Kultivierung der Lebensminderung (Sklaverei, Ausbeutung) und des Tötens (Krieg, Todesstrafe) seit Jahrtausenden gearbeitet, und auch moderne Demokratien setzen derzeit und in absehbarer Zukunft gewaltige Ressourcen ein, um staatliche und private Aktionen der Lebensminderung und der Tötung unter geregelten und überwachten Bedingungen zu gestalten. Auch die Beteiligung an der lokalen und globalen Lebenszerstörung und an der Ausrottung von Arten könnte in Zukunft im Rahmen einer weit gefassten Ars moriendi thematisiert werden. Literatur Chan, W.: Reviving sociability in contemporary cultural practices and concepts of death in Hong-Kong. In: S. Conway (Hrsg.): Governing Death and Loss. Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 63–70. Clark, D.: A history of the Project on Death in America: programmes, outputs, impacts. In: S. Conway (Hrsg.): Governing Death and Loss. Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 81–88. Dreßke, S.: Sterben im Hospiz. Frankfurt/M., Campus, 2005. Feldmann, K.: Kultivierung des Suizids im Zeitalter der Medikalisierung. In: C.Y. Robertson-von Trotha (Hrsg.): Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Baden-Baden, Nomos, 2008, S. 171–192. Feldmann, K. Ars moriendi im 21. Jahrhundert. In: E. Nairz-Wirth (Hrsg.), Aus der Bildungsgeschichte lernen. Wien, Löcker, 2010, S. 177–194 (= 2010a). Feldmann, K.: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick. 2. neu bearb. Aufl., Wiesbaden, VS-Verlag, 2010 (= 2010b). Gibson, M.: Death and community. In: S. Conway (Hrsg.): Governing Death and Loss. Oxford, Oxford University Press, 2011, S. 15–26. Green, J.W.: Beyond the good death. The anthropology of modern dying. Philadelphia, University of Pennsylvania Press, 2008. Jakobsson, E. et al.: The Turning Point: Clinical Identification of Dying and Reorientation of Care. J. Palliative Medicine 9, H. 6 (2006), S. 1348–1358. Kellehear, A.: A social history of dying. Cambridge, Cambridge University Press, 2007. Lawton, J.: The dying process. Patient's experiences of palliative care. London, 2000. Lofland, L.H.: The craft of dying: the modern face of death. Beverly Hills, 1978. 14 Vgl. Feldmann (2008).

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McNamara, B./Rosenwax, L.: The mismanagement of dying. Health Soc. Rev. 16 (2007), S. 373–383. Norwood, F.: The maintenance of life. Preventing social death through euthanasia talk and end-of-life care – lessons from the Netherlands. Durham, Carolina Academic Press, 2009. Solomon, S./Greenberg, J./Pyszczynski, T.A.: The cultural animal: Twenty years of terror management theory and research. In: J. Greenberg, S. L. Koole, T.A. Pyszczynski (Hrsg.): Handbook of experimental existential psychology. New York, 2004, S. 13– 34.

Tatort Fernsehen Die mediale Inszenierung des Todes im Kriminalfilm und der soziale Umgang mit Sterben Stephan Völlmicke 1. Das Problem Kein Thema betrifft uns alle – früher oder später – so sehr wie der Tod. In der (post-)modernen Gesellschaft haben sich die Rahmenbedingungen des Sterbens und des Todes im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften deutlich verändert. Der Tod wird in unserer Gesellschaft strukturell verdrängt,1 das konkrete Sterben dem alltäglichen Blick entzogen. Daher wird der Tod (besonders die Antizipation des eigenen Endes) zunehmend bei der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit ausgeblendet, oder er wird als ein Tabu erlebt, das sich in Verdrängung des Begriffs sowie in Banalisierung und Bagatellisierung des Todes manifestiert. Stattdessen erfahren Menschen das Sterben heute größtenteils medial: Der Tod existiert für viele Menschen nur in seiner Reproduktion. Vor allem in Film und Fernsehsendungen ist der Tod als visuelles Phänomen omnipräsent und begleitet kontinuierlich das Leben der Zuschauer. Der rezeptive Umgang mit dem immateriell reproduzierten Tod ist den meisten Menschen deshalb vertrauter als der ‚reale‘ Tod.2 Ganze Genres leben davon, dass Menschen ermordet und anschließend auch oft in der Rechtsmedizin präsentiert werden. Der Zuschauer hat es folglich mit einer veritablen Paradoxie zu tun: auf der einen Seite strukturelle Verdrängung des Todes im persönlichen Umfeld (der eigenen ‚realen‘ Lebenswelt), und auf der anderen Seite ein ‚Totenboom‘ in den

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Die Verwendung der bisherigen Verdrängungsthese wird – wie in der neueren deutschen Soziologie auch – vom Autor abgelehnt. Der Begriff der strukturellen Verdrängung soll in dieser Arbeit als Metapher für eine weitreichende (institutionelle) Auslagerung des Todes aus der Lebenswelt des modernen Menschen stehen (vgl. Knoblauch (2007), S. 191). Damit verbunden ist eine pragmatische, rationalisierte, technische, nüchterne und auf ökonomische Effizienz bedachte Art des Umgangs mit Sterben und Tod. Diese ist durch die aus den jeweiligen gesellschaftlich relevanten Teilsystemen deutlich hervorgehenden Todesbilder bedingt, die sich aufgrund der zugehörigen Handlungslogiken beispielsweise in einer Verwissenschaftlichung, Ökonomisierung und Medikalisierung des Todes usw. manifestieren können. In der Summe führen diese unterschiedlichen Umgangsformen der Teilsysteme mit Sterben und Tod konkret im Alltag und der Lebenswelt der Individuen zu einer strukturellen Verdrängung des Todes. Vgl. Richard (1995), S. 67.

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Medien (der eigenen ‚medialen‘ Lebenswelt).3 Im Folgenden wird versucht, diesen – wie sich zeigen wird, nur vordergründigen – Widerspruch zu entschlüsseln, um zu zeigen, dass die fiktionale Darstellung des Todes im Fernsehen auf spezifische Weise zu unserem alltäglichen Umgang mit Sterben und Tod in der Gesellschaft korrespondiert. Dabei sollen drei Fragen im Mittelpunkt stehen: 1. Wie sieht beim Großteil der Bevölkerung das Wissen über den ‚realen‘ Tod im Kontext der Lebenswelt vermutlich aus? 2. Wie hat sich die Darstellung von Tod im Fernsehkrimi verändert, speziell in der ARD-Reihe Tatort? 3. Lässt sich ein konkreter Zusammenhang zwischen der Darstellung von Toten in der Krimireihe und dem lebensweltlichen Umgang mit Sterben und Tod feststellen? Für die Beantwortung der Fragen soll zunächst ein kleiner Exkurs zur Modellierung und zum Verständnis der Begriffe Fernsehen, Lebenswelt und Kultur vorangestellt werden. 2. Fernsehen im Kontext von Lebenswelt und Kultur Fernsehen ist von zentraler Bedeutung für die meisten Menschen, die es erreicht, also auch für die Kultur, in der wir leben.4 Fernsehsendungen können als Medien der Kommunikation betrachtet werden, wenn sie rezipiert und verstanden werden: „Soll die Kommunikation mit dem Rezipienten gelingen, muss im Prozess des Filmemachens bereits auf mögliche Erwartungen des Publikums sowie auf kognitive und emotionale Fähigkeiten der Rezipienten Bezug genommen werden. Fernsehtexte […] erhalten somit ihre Bedeutung erst in der Interaktion mit ihren Zuschauern.“5

Diese Interaktion steht nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern findet in historischen, ökonomischen, juristischen, kulturellen und sozialen Kontexten statt, die sich konkret auf die Fernsehtexte auswirken.6 Fernsehen trägt somit zur symbolischen Verständigung der Gesellschaft über sich selbst bei und reproduziert zugleich Kultur.7 Da die Produktion einer Bedeutung durch den Rezipienten nicht unabhängig von jenen Kontexten gesehen werden kann, ist auch die Darstellung des Todes im Fernsehen an sie gebunden, sonst wären die entsprechenden ‚Fernsehtexte‘ nicht anschlussfähig. Deshalb muss das mediale Darstellungsspektrum von Tod vor dem Hintergrund dieser Kontexte betrachtet werden. Für die Bedeutungsproduktion der Zuschauer ist vor allem der Kontext ihrer Lebenswelt zentral, deren Semantik sie auf die textuelle, mediale und soziokultu-

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Die Begriffe ‚reale‘ und ‚mediale‘ Lebenswelt werden hier nur verwendet, um diese beiden Erfahrungswelten terminologisch und im theoretischen Modell handhabbar zu machen. Vgl. Jurga (1999), S. 2. Mikos (2003), S. 53. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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relle Ebene von Film- und Fernsehtexten anwenden.8 Die Lebenswelt ist der Ort, an dem die Menschen die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit vollziehen.“9 Laut Mikos kann die Lebenswelt somit bestimmt werden als die „subjektive sinnhafte Erscheinungsform des Wissens von der Welt, die im Rahmen der täglichen Lebenspraxis intentional die Handlungen der Subjekte steuert“10 und in der sich das Subjekt seine Welt erschließt. Sie stellt den für den Alltag relevanten Ausschnitt von Kultur dar, also den common sense. Damit definiert sie die Rahmenbedingungen alltäglicher Erfahrungen: 11 Weil Menschen in kollektiven Lebensformen sozialisiert und kulturell integriert werden, handeln sie innerhalb ihres lebensweltlichen Horizonts. Die Strukturen der Lebenswelt legen somit auch die Formen von Intersubjektivität und Verständigung fest.12 Deshalb müssen Medien den lebensweltlichen Kontexten verhaftet bleiben, wollen sie im „Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation Sinn machen, weil Verständigung nur innerhalb der lebensweltlichen Horizonte möglich ist.“13 In individualisierten und pluralisierten Gesellschaften wird diese Verhaftung durch die fortschreitende Entgrenzung lebensweltlicher Kontexte jedoch immer schwieriger. Dieses Problem wird in den Medien mit Standardisierungen beantwortet, die sich an generalisierten Mustern lebensweltlicher, allgemein verständlicher Zusammenhänge orientieren: „Die Lebenswelt ist somit für die Film- und Fernsehtexte von enormer Bedeutung, weil sie das Bezugssystem darstellt, auf das sich Rezipienten beziehen.“ 14 Damit Fernsehsendungen als Kommunikationsmedien funktionieren, müssen Fernsehtexte wie die Tatorte deshalb laufend kontextuelle Veränderungen in Bezug auf Sterben und Tod aufgreifen und Darstellungen vom Tod bereitstellen, die zumindest partiell mit der Lebenswelt der Rezipienten korrespondieren. Zwischenfazit Die Theorie der Lebenswelt verdeutlicht, dass unsere Konstrukte von Sterben und Tod und unser Umgang damit auf soziokulturell vermittelten Grunderfahrungen, Werten und Normen basieren und so Perspektiven entstehen, aus denen Sinn produziert wird. Aus den Rahmenbedingungen moderner Gesellschaften ergeben sich spezifische Todesverständnisse und Todesdeutungen, die im Kontext von Lebenswelten gebündelt und akzentuiert werden. Daher sollen im Folgenden der Wissens- und Sinnhorizont, der Bezugs- und Orientierungsrahmen sowie der Handlungs- und Erfahrungsraum in Bezug auf Sterben und Tod erörtert werden, in denen sich die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft im Alltag bewegen. 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. ebd., S. 57. Berger/Luckmann (2003), S. 19. Mikos (1992), S. 532. Vgl. Welter (1986), S. 168ff. Vgl. Habermas (21988), S. 573. Mikos (2003), S. 58. Vgl. ebd.

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3. Der ‚reale‘ Tod im Kontext der Lebenswelt Die moderne Privatsphäre umfasst oft nur noch wenige Menschen der Kernfamilie; Angehörige oder Bekannte von Verstorbenen lehnen Beileidsbesuche und Teilnahme an Begräbnissen immer häufiger ab. Dieser Umstand soll als Privatisierung des Todes bezeichnet werden.15 Vielfach wird auch erwartet, dass Trauernde ihre Trauer nicht öffentlich durch Kleidung oder andere Symbole zeigen. Diese Unterdrückung von Trauerbekundungen in der Öffentlichkeit kann als Affektkontrolle des Todes bezeichnet werden. 16 Durch den Rückzug in ihre Intimsphäre verlieren Menschen außerdem oft die soziale Fähigkeit, eine emotionale Anteilnahme für Ereignisse zu entwickeln, die außerhalb der eigenen Familie liegen. Diese Tendenz soll als Verlust der emotionalen Anteilnahme am Tod anderer, außerhalb der privaten Lebensumgebung stehender Menschen beschrieben werden. Die Tatsache, dass heute ca. 85% der Menschen in Institutionen wie Krankenhäusern und Heimen sterben, kann als Bürokratisierung und Institutionalisierung des Todes bezeichnet werden. 17 Verbunden damit ist die technisch-hygienische Rationalität im Umgang mit den Sterbenden und Toten18 in diesen Institutionen. Durch das technikorientierte, hochorganisierte und strategisch-instrumentelle Handeln in Naturwissenschaften und Medizin wird eine radikale Versachlichung des Lebens und des Todes herbeigeführt. Zusätzlich findet durch die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit in der heutigen Medizin zwangsläufig eine Reduzierung des sterbenden Menschen auf seine physische Disposition statt. Der Tod wird weitgehend nur noch naturwissenschaftlich definiert.19 Diese Entwicklung in der Medizin spiegelt Technozentrismus wider und ist eine von vielen Ursachen für die mangelnde sinnhafte Antizipation des Todes in der heutigen Gesellschaft.20 Die eigene Berührung von Toten und der persönliche Umgang mit ihnen sind bei den meisten Angehörigen unerwünscht und äußerst selten. Die Toten werden von professionellem Personal auf die Bestattung vorbereitet. Dieses soll als Segregation des Todes bezeichnet werden. Auch das Sterben wird aufgrund der Verlängerung von Lebenszeit, geringer Kindersterblichkeit, kleiner Kernfamilien und das Sterben vieler Menschen in Institutionen selten von den Angehörigen selbst erlebt. Die konkrete Wirklichkeit des Todes wird damit den betroffenen Hinterbliebenen entzogen. Dieses soll als Verlust der Primärerfahrung des Todes21 bzw. als Desozialisierung des Todes22 beschrieben werden. Die Reduktion persönlicher Zuwendung, Medikalisierung und Technisierung führen also insgesamt zu einer Entfremdung vom Tod.

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Vgl. Brandt (2004), S. 23; Kahl (2007), S. 152. Vgl. Happe (2000), S. 741. Vgl. Daxelmüller (1996), S. 151; Feldmann (2004), S. 162. Vgl. Chun (2000), S. 54; Feldmann (1997), S. 151. Vgl. Pennington (2001), S. 74. Vgl. Nassehi/Weber (1989), S. 240. Vgl. Feldmann (1990), S. 112; Fischer (1997), S. 38. Vgl. Richard (1995), S. 37.

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Auch die Kommunikation über Tote hat sich durch Institutionalisierung, Erfahrungsentzug und Segregation stark verändert. Dieser Umstand soll als Kommunikationsdefizit in Bezug auf Sterben und Tod beschrieben werden.23 Begräbnisse und Totenkulte sind in modernen Gesellschaften periphere Ereignisse. Die deutlich zunehmende anonyme Beisetzung gilt als neuer Höhepunkt dieser Entzauberung des Todes.24 Außerdem gibt es keine allgemein verbindlichen Trauerrituale mehr, wofür der Begriff der Verkümmerung von Ritualen steht. 25 Traditionelle Formen der Sinngebung des Todes wie die Religion geraten damit immer mehr ins Abseits. Der Verlust des Jenseitsglaubens in der modernen Gesellschaft hat dabei zu einem gravierenden Sinngebungsproblem geführt, und der Tod ist damit zu einem sinnfremden, sinnentleerten oder sinnlosen Leiden geworden.26 Rationales Denken, das dem Zweck-Mittel-Schema folgt, hat sich auch im Umgang mit Tod durchgesetzt. 27 Diese Logik führte letztlich zu einer Verdinglichung bzw. Profanisierung des Todes.28 Ein allgemein gültiges symbolisches Todesbild kann in einer solchen Kultur nicht mehr entstehen, und somit kann sich auch kein einheitliches Todesverständnis mehr ausbilden.29 Für die Summe all dieser Entwicklungen wird gern das Schlagwort der strukturellen Verdrängung des Todes verwendet. Die hier skizzierte soziologische Modellierung der modernen Lebenswelt in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod soll später den nun zu erörternden medialen Erfahrungen als Kontrastfolie gegenüber gestellt werden. 4. Der mediale Tod im Kontext der Lebenswelt Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht werden das Wissen vom und die Erfahrungen mit medialem Sterben und Tod laufend in die Lebenswelt integriert, denn die Medien und besonders das Fernsehen sind heute zentrale Elemente der Lebenswelt und mächtige Agenturen einer symbolisch vermittelten Realität. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Sozialisation durch Medien und Mediatisierung des Todes können Medien(-inhalte) als „Bestandteile von Sinnwelten“30 der Rezipienten betrachtet werden. In Anlehnung an ein berühmtes Zitat Luhmanns31 können heute sogar Lebenswelten als Medienwelten32 charakterisiert werden. Als das bedeutendste Kommunikationsmittel unserer mediatisierten Welt gilt zwar das 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Baumann (1994), S. 197. Vgl. Fischer (2001), S. 3. Vgl. Lorenz (2000), S. 34. Vgl. Feldmann (2004), S. 66. Vgl. Chun (2000), S. 51. Vgl. Pöhlmann (1991), S. 45. Vgl. Nassehi/Weber (1989), S. 71. Hitzler (1989), S. 34. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“; Luhmann (21996), S. 9. 32 Baacke et al. (1990), S. 80.

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Fernsehen, doch unbestritten ist, dass „Medien aller Art den Lebenszyklus von Heranwachsenden in allen Situationen begleiten als symbolisch über Zeichen und Zeichensysteme allgegenwärtige Sozialisationsagenturen“ 33 und diese somit in Medienwelten aufwachsen.34 Die Medien stellen auf diese Weise neue Zugänge zu Wissensbeständen, Orientierungen, Erfahrungen und Erlebnissen her und werden durch ihre unterschiedliche Nutzung zu Bestandteilen verschiedener Sinnwelten. Dies wirkt sich nachweislich auf unser individuelles Wissen und unsere Wirklichkeitsdefinitionen, Meinungen, Gefühle und Argumente aus.35 „Medien bilden […] ein Feld oder Felder der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die wiederum Wirklichkeit schafft.“36 So etwa glauben viele Fernsehzuschauer zu wissen, wie es in der Rechtsmedizin aussieht. Aus einer Mischung von Alltagswissen und medialer Wirklichkeit, die der eigenen Erfahrung entzogen ist, konstituiert sich eine Wirklichkeit neuen Typs. Fernsehdarstellungen liefern damit Wirklichkeitsmodelle, die man durchaus als „soziale Realität“37 bezeichnen kann. Die Wirklichkeitsmodelle des Fernsehens können bisweilen „sogar noch glaubwürdiger sein als die Realität vor unserer Tür.“38 Das trifft besonders dann zu, wenn wir die inszenierte Realität (wie beispielsweise der Toten in der Rechtsmedizin) nicht durch Primärerfahrungen kennen. Wenn die Lebenswelt die subjektiv sinnvolle Erscheinungsform des Wissens von der Welt ist und sie sich durch kulturelle Reproduktion und Sozialisation erschließt, dann ist es in einer Mediengesellschaft unabdingbar, die Wirklichkeitsentwürfe des Todes, die Medien liefern, als Bestandteil der Lebenswelt zu betrachten, denn Lebenswelt ist als Einheit zu begreifen, die inhaltlich die unterschiedlichen Erfahrungswelten, also die ‚reale‘ und die ‚mediale‘ Lebenswelt, bündelt und integriert. 5. Die Veränderung der audiovisuelle Darstellung des Todes am Beispiel Tatort In einer strukturell-funktionalen Filmanalyse habe ich die audiovisuellen Veränderungen bei der Darstellung des Todes in der Fernsehreihe Tatort über einen Zeitraum von 40 Jahren analysiert.39 Der Tatort eignet sich durch seine nunmehr 42-jährige Laufzeit und das zudem gleichbleibende Format als einzige Krimireihe für eine Analyse langfristiger Veränderungen in der filmischen Gestaltung des Todes. Bei der Auswahl von 81 WDR- und NDR-Tatorten aus den Jahren 1970 bis 2010 wurden insgesamt 273 Sequenzen mit Leichendarstellungen, bestehend aus 2.220 Einstellungen in 273 Filmprotokollen erhoben und ausgewertet. Analysiert wurden unter anderem die Anzahl der Sequenzen, in denen Leichen dargestellt werden, die Einstellungslän33 34 35 36 37 38 39

Vollbrecht (2003), S. 13. Vgl. Bachmair (2007), S. 69. Vgl. Krotz, (2001), S. 200. Bachmair (2007), S. 69. Früh (1994), S. 14. Kunkel (1998), S. 111. Vgl. Völlmicke (2012).

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gen der Leichenabfilmungen, die Einstellungsgrößen der Kamera, die Geräusche und Musik bei der Leichendarstellung sowie die Handlungsorte der Sequenzen. Die Kategorien der Kameraarbeit wurden für die Analyse zusätzlich spezifiziert, um untersuchen zu können, in welcher Art und Weise die Leiche konkret abgefilmt wurde. Wird die Leiche durch die Maske verändert, sind also Blut, Gewaltspuren wie Einschusslöcher, Hämatome und Verwesungserscheinungen zu sehen, wurde die Ausprägung beispielsweise als ‚Leiche Spezialeffekt‘ definiert. Ist das Gesicht der Leiche deutlich zu erkennen, wurde die Ausprägung als ‚Leiche‘ betitelt. Diese Ausprägungen wurden unterschieden von weiteren Aspekten – die Leiche liegt auf der Seite, sie liegt im Hintergrund, das Gesicht der Leiche ist nicht zu erkennen usw. Darüber hinaus wurde eine Frequenzanalyse medizinischer Termini innerhalb der Dialoge in den Sequenzen durchgeführt. Die Analyse auf der Ebene der Ästhetik und Gestaltung zeigt, dass sich die Art der Leichenabfilmung innerhalb von 40 Jahren signifikant verändert hat und dass (fiktive) Leichen inzwischen sehr direkt, detailliert und intensiv dargestellt werden. So beweist der Vergleich der vier Tatort-Dekaden (1970–1980; 1981–1990; 1991–2000; 2001– 2010), dass sich die filmische Distanz zu den Leichen im Tatort im Laufe von vier Jahrzehnten enorm verringert hat. Die wichtigsten Charakteristika der aktuellen Leichendarstellungen im Tatort: Es ist erkennbar, dass die Dauer (Einstellungslängen) und die Häufigkeit (Anzahl der Einstellungen) sowie die Anzahl der Sequenzen innerhalb von 40 Jahren signifikant zugenommen haben. Der Darstellung von Leichen wird heute somit deutlich mehr Sendezeit zur Verfügung gestellt als in früheren Dekaden. Die Leichenabfilmungen finden zu 88% mit der Ausprägung ‚Leiche‘ und ‚Leiche Spezialeffekt‘ statt. Das bedeutet, dass die Leiche für den Zuschauer sehr direkt und deutlich zu erkennen ist und dass dem Zuschauer zusätzlich Verletzungen, Hämatome usw. in Form von Spezialeffekten präsentiert werden. Dabei sind die mittleren Einstellungslängen bei dieser Art der Abfilmungen in der vierten Dekade (2001–2010) doppelt so hoch wie in der ersten Dekade (1970–1980). Die Leiche ist somit für den Zuschauer sehr lange in dieser direkten Abfilmung zu sehen. Diese Entwicklung wird weiterhin durch die Verwendung der großen Einstellungsgrößen ‚Nah‘, ‚Groß‘ und ‚Detail‘ unterstützt. 64% aller Leichenabfilmungen im vierten Intervall werden mit diesen großen Einstellungsgrößen gefilmt. In früheren Dekaden wurde meistens (88%) mit den Einstellungsgrößen ‚Weit‘ bis ‚Halbnah‘ gefilmt. Die filmische Distanz zu den Leichen hat sich insofern enorm verringert. Heute fokussiert die Kamera die Leiche, führt sehr nah an das Gezeigte heran und beschränkt sich nicht mehr wie in früheren Intervallen auf distanzreiche Einstellungen bzw. auf indirekte Verweise. Die Kamera rückt dabei, räumlich gesehen, näher an den Toten heran als es unter natürlichen Umständen für einen Unbeteiligten möglich wäre. Vor dem Hintergrund der filmisch-gestalterischen Mittel ist das ein klares Indiz für eine ‚sensationellere‘ Darstellung der Toten. Zusammenfassend ist im Bereich der Kameraaktivität eine offensichtliche Tendenz zu immer längeren und gleichzeitig sehr nahen, distanzarmen Todesdarstellungen zu belegen, die eine bis dahin ungewohnte, sehr direkte und detailreiche Perspektive auf den toten Körper offeriert. Um die Distanz zum Geschehen zu mindern und die Wahrnehmung der Bilder affektiv aufzuladen,

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werden zudem 69% aller Leichenabfilmungen musikalisch unterstützt. Zusätzlich erhält der Zuschauer weitere Eindrücke von der Leiche, indem er diese oftmals auf Leichenfotos während der Ermittlungen ein weiteres Mal präsentiert bekommt. Daneben sind sehr häufig Leichenrequisiten zu sehen. Der Anteil an Abfilmungen von Särgen, Leichenwagen und vor allem Leichentüchern erreicht im vierten Intervall (2001–2010) ihren bisherigen Höhepunkt. Ebenfalls werden zunehmend die Requisiten der Ermittlungsarbeit der Polizei in den Fokus der Kamera gerückt. Bei den Orten der Abfilmungen fällt besonders auf, dass die Rechtsmedizin als Handlungsort ab den 1990er Jahren ein fester Bestandteil im Tatort geworden ist. Sowohl in der Anzahl der Sequenzen als auch in den Häufigkeiten der Einstellungen und der Gesamtzeit der Leichenabfilmung in der Rechtsmedizin lässt sich erkennen, dass die Abfilmung der Leiche bezogen auf alle Leichenabfilmungen einen enormen Stellenwert bekommen hat. Dabei werden die Leichen innerhalb der Rechtsmedizin zu einem überwiegenden Anteil von 81,6% mit der Ausprägung ‚Leiche‘ und ‚Leiche Spezialeffekt‘ und mit den großen Einstellungsgrößen ‚Nah‘, ‚Groß‘ und ‚Detail‘ gefilmt. Für den Zuschauer ist der Tote somit auch in der Rechtsmedizin sehr direkt, ohne große Distanz und visuell intensiv wahrnehmbar. In diesem Kontext sind besonders die gestiegenen Redeanteile der Pathologen und der damit verbundene deutliche Anstieg an medizinischem Fachvokabular hervorzuheben. Die Ergebnisse der Frequenzanalyse medizinischer Termini bestätigen eindeutig, dass im Tatort die Redebeiträge der Pathologen in vier Jahrzehnten zugenommen haben und dass das medizinische Vokabular (medizinische Fachtermini) innerhalb der Leichenabfilmung eine hohe Relevanz erlangt hat. Aufgrund der Kombination von Handlungsort Rechtsmedizin, den gestiegenen Redeanteilen der Rechtsmediziner, der signifikanten Steigerung der medizinischen Termini sowie der gestiegenen Anteile an Requisiten der Ermittlungsarbeit ist eine eindeutige Verwissenschaftlichung bzw. Medikalisierung im Umgang mit den Toten im Tatort zu konstatieren. Die Todesdarstellungen sind somit über vier Jahrzehnte immer mehr in einen naturwissenschaftlich geprägten Kontext gerückt. Dieser Trend ist auch in anderen Fernsehformaten deutlich zu beobachten.40 Rechtsmediziner sind die neuen Stars des Krimigenres. Die Zunahme von Rechtsmedizinern und Naturwissenschaftlern in US-amerikanischen (z.B. CSI-Reihe, Crossing Jordan) und auch deutschen Serienkrimis ist innerhalb des letzten Jahrzehnts auffallend. Dabei haben sich die Rollen der Rechtsmediziner selbst auch in Vorabendserien (z.B. ZDF-Reihe Soko) oder den erfolgreichen Samstagabendkrimis im ZDF (z.B. Stubbe – Von Fall zu Fall, Rosa Roth, Kommissarin Lucas, Ein starkes Team, Das Duo oder Bella Block) von der Statistenrolle zur Nebenrolle und in einigen Fällen sogar zu Hauptrollen (z.B. Der einzige Zeuge) entwickelt.

40 Neben Film- und Fernsehserien sind Rechtsmediziner als Protagonisten in jüngster Zeit auch zunehmend in den Bestsellerlisten der Krimiliteratur präsent (siehe die Millionenerfolge von Kathy Reichs, Patricia Cornwell und Simon Beckett). Auch hier verfolgt der Leser die realistische und sehr detailreiche forensische Aufklärungsarbeit durch Rechtsmediziner.

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„Seit geraumer Zeit ist der Rechtsmediziner, der am Tatort beherzt in den Eingeweiden des Opfers stochert und während der Leichenöffnung ungerührt in seine Butterstulle beißt, ein fester Topos innerhalb des Genres.“41

Rechtsmediziner erleben somit einen regelrechten Boom. „Sie zeigen, was zuvor nur einem Spezialpublikum zugemutet werden durfte: Leichen, Obduktionen, Balsamierungen und Bestattungen.“42 Im Blick auf fiktionale Fernsehangebote weist Tina Weber besonders auf die zunehmende Vielfalt von Todesdarstellungen in jüngster Zeit hin43 und konstatiert besonders für US-amerikanische Serienformate, dass die Beschäftigung mit Leichen immer mehr zur eigentlichen Handlung der Serien wird. Dabei gleichen sich alle Formate, indem sie „[...] explizit den Tod, tote Körper und das Sterben fokussieren. [...] So werden in vielen Szenen detaillierte Beweisaufnahmen am toten Körper, das Nachstellen eines Tathergangs oder die Rekonstruktion des konkreten Sterbemoments gezeigt. [...] Diese neuen, differenzierenden Entwicklungen bedeuten eine einschneidende Sichtbarmachung des Todes in Fernsehbildern.“44

So hat sich im Fernsehen in den letzten Jahren – ganz im Gegensatz zur strukturellen gesellschaftlichen Verdrängung – geradezu eine „Geschwätzigkeit des Todes“45 und vor allem der Toten in allen Spielarten entwickelt. Wie passen diese Entwicklungen nun zusammen? Inwiefern korrespondieren die auf den ersten Blick derart gegensätzlichen Entwicklungen des ‚Totenbooms‘ im Fernsehen und der strukturellen Verdrängung des Todes in der Gesellschaft miteinander? 6. Zum Zusammenhang von medialem ‚Totenboom‘ und struktureller Verdrängung des Todes Der soziale Kontext und der Umgang mit Sterben und Tod in diesem Kontext, in denen Zuschauer leben, haben einen erheblichen Einfluss auf ihren Umgang mit den Darstellungen des Todes im Fernsehen. Unmittelbare Erfahrungen, aus denen sich maßgeblich ihr Wissen, ihre Emotionen und ihre Sinngebung speisen, können sie nur innerhalb ihrer Lebenswelt machen. Dabei werden freilich Erfahrungsmuster miteinbezogen, die in Medientexte eingegangen sind. Besonders dann, wenn Vergleichsmöglichkeiten im eigenen Umfeld fehlen wie bei der Rechtsmedizin, können mediale zu realen Erfahrungsmustern werden. Deshalb wird im Folgenden versucht, die Darstellung des Todes, wie sie sich in der sozialen Praxis der Rezipienten positioniert, in lebensweltlichen Bezügen des Todes im Tatort wiederzufinden. Dafür wird nach Indizien gesucht, die Aufschluss darüber geben, wie und warum die Todesdarstellungen im Tatort in der Lebenswelt von Rezipienten verhaftet sind. 41 42 43 44 45

Brunst (2005), S. 57. Macho (2007), S. 23. Weber (2008), S. 212. Weber (2007), S. 542. Nassehi, zitiert nach Hetzel (2007), S. 160.

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Die zunehmende Darstellung von Leichen in der Rechtsmedizin korrespondiert auf verschiedene Weise mit der ‚realen‘ Lebenswelt der Rezipienten. Es ist nicht nur der visuelle Reiz des Ungewohnten, der den Rechtsmediziner und die Leiche vermehrt in den Mittelpunkt der Handlung rückt, sondern auch die streng anatomische Betrachtung des toten Körpers. Der Rechtsmediziner ermittelt an der Materie eines zum Gegenstand gewordenen Menschen – ein Indiz für das primär naturwissenschaftliche Todesbild in der Gesellschaft. Außerdem korrelliert die ausgeprägte Leichendarstellung in der Rechtsmedizin insofern mit der ‚realen‘ Lebenswelt der Rezipienten, als eine technisch-hygienische Rationalität im Umgang mit den Toten gezeigt wird. Die durch medizintechnische Verfahren geschuldete Reduzierung des Menschen auf seine physische Disposition korrespondiert mit der distanzlosen Präsentation von Leichen in der Rechtsmedizin. Geht man von einem zunehmend rationalen und naturwissenschaftlichen Todesbild in der Gesellschaft aus, dann ist die filmische Darstellung der Rechtsmedizin also genau der Ort, mit dem die Rezipienten die oben genannten Aspekte des Umgangs mit Sterben und Tod assoziieren können. Somit stehen die Todesdarstellungen ganz offensichtlich in Beziehung zu den lebensweltlichen Horizonten der Rezipienten. Ein weiterer Aspekt ist erwähnenswert: Durch die Desozialisierung des Todes und den Verlust von Primärerfahrungen mit ihm fehlen vielen Rezipienten in der eigenen Lebenswelt Anknüpfungspunkte für eine sinnvolle Antizipation des Todes. Außerdem hat der Tod durch den Verlust tradierter Deutungsmuster an ‚Bedeutung‘ verloren. Infolge der Dekonstruktion des Todes in der Gesellschaft wird er gleichsam ‚nackt‘, schmucklos und jeder Bedeutung entkleidet. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob dem Tod im Tatort ebenfalls weniger Bedeutung beigemessen wird. Wenn das Wissen um Sterben und Tod sowie die Erfahrung mit dem Tod anderer Grundlage für die Bedeutung ist, die die Rezipienten den Todesdarstellungen zuweisen, dann darf angenommen werden, dass sie dies heute eher aus einer rationalen, sachlichen und naturwissenschaftlichen Perspektive tun. Eine logische Konsequenz daraus wäre, dass der fiktive Tod immer schockierender bebildert werden kann. Machen Zuschauer in ihrer ‚realen‘ Lebenswelt keinerlei Erfahrungen mit dem Tod und vor allem mit Toten, aus denen sich ihr Wissen, ihre Emotionen und ihr Sinn speisen kann, dann können Todesdarstellungen immer drastischer werden, ohne große Emotionen zu wecken, denn der Tod behält seine primär rationale, sachliche Qualität. Auch in dieser Hinsicht korrespondieren die Todesdarstellungen im Fernsehen mit der ‚realen‘ Lebenswelt der Rezipienten. Aufgrund der langjährigen Mediensozialisation vieler Zuschauer liegt schließlich die Vermutung nahe, dass die Rezeption medialer Todesdarstellungen inzwischen denselben Erlebnis- und Wirklichkeitsstatus haben kann wie die Erfahrungsbildung im persönlichen Bereich. Dies kann dazu führen, dass die Darstellung einer Leiche in der Rechtsmedizin als realistisch, also der Realität nachgebildete Darstellung, empfunden wird. Obwohl die meisten Rezipienten selbst noch kein Mordopfer gesehen haben, gehen sie vermutlich davon aus, dass eine Leiche in der realen Rechtsmedizin und der Umgang mit ihr genauso aussieht, wie sie im

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Tatort dargestellt wird: Die Darstellung gewinnt für den Zuschauer die Qualität einer sozialen Realität. Das Wissen von und die Erfahrungen mit dem medialen Tod sind somit zum Bestandteil der Lebenswelt vieler Rezipienten geworden; die medialen Erfahrungen mit Sterben und Tod, die die Rezipienten in ihre Lebenswelt integrieren, entsprechen zum größten Teil ihrer rationalen, sachlichen und naturwissenschaftlichen Betrachtung des Todes. In diesem Punkt verdoppeln sich gleichsam ihre Erfahrungen, denn die ‚reale‘ Lebenswelt wird von medialen Erfahrungen konstant flankiert und muss daher als zusätzliche, sinnstiftende Erscheinungsform des Wissens von der Welt in Bezug auf Sterben und Tod betrachtet werden. Ich vermute also, dass die audiovisuelle Darstellung von Leichen und der Umgang mit Toten in der Rechtsmedizin in immer dezidierteren Formen mittlerweile fest in der Lebenswelt der Rezipienten verhaftet ist, weil die Todesdarstellungen in unmittelbarer Beziehung zu den ‚realen‘, lebensweltlichen Horizonten der Zuschauer stehen und gleichzeitig Teil ihrer (‚medialen‘) Lebenswelt sind. Somit sind sie zugleich Basis für und Ergebnis von Bedeutungsproduktionsprozessen der Zuschauer. 7. Resümee Im vorliegenden Beitrag habe ich versucht, drei Fragen nachzugehen: Im ersten Schritt wurde auf die Frage, wie das Wissen der Allgemeinheit über Sterben und Tod heute aussehen könnte, zunächst mit einer kleinen soziologischen Strukturanalyse die Lebenswelt vieler Mitglieder der Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Sterben und Tod nachgezeichnet. Dann wurde versucht, die aus den Medien resultierenden Erfahrungen und das durch Mediensozialisation erlangte Wissen vom Umgang mit Sterben und Tod kommunikationstheoretisch als Bestandteil der Lebenswelt zu fassen, in die der mediale Tod integriert wird. Die Wirklichkeitsentwürfe des Todes in den Medien wurden dabei als mögliche soziale Realität der Lebenswelt der Rezipienten charakterisiert. Im Anschluss daran wurden auf die Frage, wie sich Darstellung von Tod im Fernsehkrimi verändert hat, Ergebnisse einer eigenen Filmanalyse zum Wandel der Darstellung des Todes in der Reihe Tatort präsentiert. Sie zeigen, dass sich sozialer Wandel in Fernsehinhalten widerspiegelt und diese sich damit selbst verändern. In der Annahme, dass Medien den lebensweltlichen Kontexten verhaftet bleiben, um im Rahmen der gesellschaftlichen Kommunikation ‚Sinn zu machen‘, und aufgrund der Vermutung, dass der Tatort vielfach als ein die gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegelnder Krimi ‚angesehen‘ wird, wurde davon ausgegangen, dass die audiovisuelle Darstellung des Todes im Tatort in enger Beziehung zur Lebenswelt der Zuschauer steht und ihr verhaftet ist. In einem letzten Schritt wurde versucht, Indizien für mögliche Korrespondenzen zwischen den Todesdarstellungen im Tatort und der Lebenswelt der Rezipienten zu ermitteln. Dabei zeigte sich, dass die moderne Lebenswelt gleichsam eine ideale Grundlage für immer direktere, intensivere und ausgeprägtere Darstellungen des Todes im Tatort ist, denn in der Lebenswelt geht die Fähigkeit zur sinn-

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haften Antizipation des Todes immer mehr verloren. Damit wurde deutlich, dass die Gründe für die zunehmenden und drastischeren Todesdarstellungen im Fernsehen nicht ausschließlich auf ihren hohen Unterhaltungswert und ökonomische Faktoren (Einschaltquoten) zurückzuführen sind, sondern dass die sich wandelnden lebensweltlichen Kontexte der Rezipienten, speziell die gesellschaftlichen Veränderungen im Umgang mit Sterben und Tod, vermutlich einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise der Todesdarstellungen im Fernsehen haben. Der Tod im Fernsehen und dessen Gestaltung ist also eng mit dem Tod in der Gesellschaft verflochten, der eine ist ohne den anderen nicht mehr denkbar. Die Erzählungen vom Tod in den Medien sind symbolische Objektivationen von Tod. Als diese kommt ihnen eine besondere Rolle im gesellschaftlichen Kommunikationsprozess zu: Sie thematisieren die in der Gesellschaft vorherrschenden Definitionen von Tod. Fernsehsendungen, die vom Tod handeln, haben keine Bedeutung an sich, sondern erhalten lediglich ein Bedeutungspotenzial, das die Zuschauer in ihrer Rezeption und Aneignung mit eigenen Bedeutungen versehen. Da Fernsehtexte ihre Welten nur in Bezug auf das Wissen der Zuschauer konstruieren können, ist das Wissen um den Tod die Grundlage für die Bedeutung, die die Rezipienten den Todeserzählungen zuweisen. Im Prozess symbolischer Vermittlung stehen die Darstellungsweisen von Tod in den Fernsehtexten stets in spezifisch gesellschaftlichen Kontexten und sind als symbolische Objektivationen Ausdruck derselben. ‚Tod im Fernsehen‘ und ‚Tod in der Realität‘ haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun, auf den zweiten Blick jedoch ist auch der fiktive Tod im Film immer ein Produkt des Umgangs mit dem Tod in der Gesellschaft und umgekehrt. So hat jede Zeit ihre Todeserzählungen. Literatur Baacke, Dieter/Sander, Uwe/Vollbrecht, Ralf: Lebenswelten sind Medienwelten. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1990. Bachmair, Ben: Mediensozialisation: Entwicklung von Subjektivität in medialen und kulturellen Figurationen. In: Dagmar Hoffmann/Lothar Mikos (Hrsg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion. Wiesbaden, VS Verlag, 2007, S. 67–92. Baumann, Zygmunt: Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien. Frankfurt/M., Fischer Verlag, 1994. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main, Fischer, 192003. Brandt, Reinhard: Den Tod aber statuiere ich nicht. In: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit. Wien, Zsolnay, 2004, S. 20–44. Brunst, Klaudia: Forensik. Verweste Wasserleiche? Egal, die Stulle muss dabei sein. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 31 (7. 8.2005), S. 57. Chun, Sun-Young: Verstehbarkeit und Kommunikabilität des Todes in der modernen Gesellschaft und Kultur. Frankfurt/M., Peter Lang Verlag, 2000. Daxelmüller, Christoph: Tod und Gesellschaft – Tod im Wandel. Regensburg, Schnell & Steiner, 1996.

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Feldmann, Klaus: Tod und Gesellschaft. Eine soziologische Betrachtung von Sterben und Tod. Frankfurt/M., Peter Lang Verlag, 1990. Feldmann, Klaus: Sterben und Tod. Sozialwissenschaftliche Theorien und Forschungsergebnisse. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1997. Feldmann, Klaus: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick. Opladen, Westdeutscher Verlag, 2004. Fischer, Norbert: Wie wir unter die Erde kommen. Sterben und Tod zwischen Trauer und Technik. Frankfurt/M., Fischer Verlag, 1997. Fischer, Norbert: Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt, Sutton Verlag, 2001. Früh, Werner: Realitätsvermittlung durch Massenmedien. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1994. Fuchs, Werner: Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M., Suhrkamp Verlag, 1969. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp Verlag, 21988. Happe, Barbara: Zwischen Anonymität und Individualität. Zur zeitgenössischen Bestattung in Deutschland. In: Stadt und Grün 11 (2000), S. 747–754 (online: http://archiv.patzerverlag.de/Portals/4/Archiv/SUG/SUG_2000_11.pdf). Hetzel, Andreas: Todesverdrängung? Stationen einer Deutungsgeschichte. In: Petra Gehring/Marc Rölli/Maxime Saborowski (Hrsg.): Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, S. 158–170. Hitzler, Ronald: Sinnwelten. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1988. Jurga, Martin: Fernsehtextualität und Rezeption. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1999. Kahl, Antje: Das Design bestimmt das Bewusstsein? Die neue Sichtbarkeit im Bestattungswesen. In: Thomas Macho/Kristin Marek (Hrsg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München, Fink Verlag, 2007, S. 151–164. Knoblauch, Hubert: Der Tod der Moderne. In: Dominik Groß/Andrea Esser/Brigitte Tag (Hrsg.): Tod und toter Körper: Der Umgang mit dem Tod und der menschlichen Leiche am Beispiel der klinischen Obduktion. Kassel 2007, S. 189–200. Krotz, Friedrich: Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Opladen, Westdeutscher Verlag, 2001. Kunkel, Andreas: Fernsehleben. Mediennutzung als Sozialisationsfaktor. München, Fischer Verlag, 1998. Lorenz, Anne: Das Tabu ums Sterben ist noch nicht gebrochen. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 275 (25.11.2000), S. 34. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen, Westdeutscher Verlag, 2 1996. Macho, Thomas: Die neuen Totentänze. In: Endlich. Tod – kein Tabu mehr. TAZ-Journal, H. 2 (2007), S. 20–24. Mikos, Lothar: Fernsehen im Kontext von Alltag, Lebenswelt und Kultur. In: Rundfunk und Fernsehen 40, H. 4 (1992), S. 528–543. Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz, UVK, 2003. Nassehi, Armin/Weber, Georg: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1989. Pennington, Margot: Memento mori. Eine Kulturgeschichte des Todes. Stuttgart, Kreuz, 2001. Pöhlmann, Horst: Der Tod in der säkularisierten Gesellschaft: Eine Analyse aus theologischer Sicht. In: Randolph Ochsmann (Hrsg.): Lebens-Ende. Über Tod und Sterben in Kultur und Gesellschaft. Heidelberg, Asanger, 1991, S. 37–48. Richard, Birgit: Todesbilder. Kunst Subkultur Medien. München, Wilhelm Fink Verlag, 1995.

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Vollbrecht, Ralf: Aufwachsen in Medienwelten. In: Karsten Fritz/Stephan Sting/Ralf Vollbrecht (Hrsg.): Mediensozialisation. Opladen, Westdeutscher Verlag, 2003, S. 13–24. Völlmicke, Stephan: 40 Jahre Leichenshow – Leichenschau. Die Veränderung der audiovisuellen Darstellung des Todes im Fernsehkrimi TATORT vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels im Umgang mit Sterben und Tod. Frankfurt/M. u.a., Peter Lang, 2012 (im Druck). Weber, Tina: Codierung des Todes. Zur filmischen Darstellung von Toten in der amerikanischen Fernsehserie „Six feet under“. In: Thomas Macho/Kristin Marek (Hrsg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München, Wilhelm Fink Verlag, 2007. Weber, Tina: Die Domestizierung des Todes. Totendarstellungen in „Six Feet Under“. In: Sascha Seiler (Hrsg.): Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen. Köln, Schnitt – der Filmverlag, 2008, S. 202–212. Welter, Rüdiger: Der Begriff der Lebenswelt. München, Wilhelm Fink Verlag, 1986.

Das Hospiz als Einrichtung des guten Sterbens Eine soziologische Analyse der Interaktion mit Sterbenden Stefan Dreßke 1. Von der Kritik am Sterben zur Institutionalisierung eines ‚Lebens bis zuletzt‘ In der Institutionen-Landschaft ist das Hospiz verhältnismäßig jung: Das erste Hospiz im modernen Sinne wurde 1967 in London gegründet, 19 Jahre später das erste in Deutschland (Aachen).1 Erst seit den letzten zehn Jahren hat es als spezielle Einrichtung für das ‚gute Sterben‘ im Gesundheitssystem Fuß gefasst. Das Hospiz ist allerdings keine Organisation, die einfach zu erklären wäre, obwohl die Aufgabe, die es zu bewältigen hat, einfach erscheint. Es geht schließlich – funktional zugespitzt – nur um das Sterben, nichts anderes ist zu erledigen. Das ist auch der Grund, warum das Hospiz als eine ‚unwahrscheinliche‘ Institution erklärungsbedürftig ist, denn in westlichen Gesellschaften darf, wer noch halbwegs aktiv und gesund ist, nicht sterben. Sterben ist weitgehend ausgeklammert, alle Vorkehrungen haben das Gegenteil, ein längeres und gesünderes Leben, zum Ziel. Der Tod ist aufgrund seiner Unvermeidbarkeit höchstens hinzunehmen. Noch problematischer ist das aktive Handeln auf den Tod zu. Am Sterben zu arbeiten, birgt immer auch das Risiko, den Tod herbeizuführen. Insofern muss eine Organisation für Sterbende Vorkehrungen treffen, um nicht dem unentwegten Verdacht einer Tötung ausgesetzt zu sein. Jedenfalls ist zu beobachten, dass das Hospiz die Idee des guten Sterbens auf sich zog und sich in der öffentlichen Meinung einer hohen Wertschätzung erfreut. Das Hospiz entwickelte sich von einer marginalen Einrichtung zum festen Bestandteil des Gesundheitssystems und wurde sogar Ideengeber und Vorbild für eine medizinische Spezialdisziplin, die Palliativmedizin. Die Genese eines Organisationstyps, der ausschließlich dem Sterben gewidmet ist, hat in der Kritik am Sterben im Krankenhaus der 1960er Jahre – im Kontext einer allgemeinen Medizinkritik2 – ihren Ursprung. Darin wird die „Einsamkeit der Sterbenden“3 beklagt und zuviel Apparatemedizin bzw. Therapien bis zum Lebensende bemängelt. Bemängelt wird auch ein unzureichendes Schmerzmittelregime, das zwischen Un1

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Dieser Beitrag profitiert sehr von der Zusammenarbeit und den regen Diskussionen mit Prof. Dr. Gerd Göckenjan, insbesondere von der gemeinsamen Arbeit an einem Vortrag zur Professionalisierung der Palliativmedizin auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft der Soziologie 2010 in Frankfurt/M. Vgl. Illich (1977). Vgl. Elias (1982).

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tervorsorgung und Überdosierung laviert: Vor der unmittelbaren Finalphase werden Sterbenden Schmerzmittel vorenthalten, und während der Finalphase werden sie in einen komatösen Zustand versetzt. Der Tenor der Kritik richtet sich aber nicht gegen einzelne medizinische Verfahren, sondern ist allgemeiner auf der Ebene des Existenziellen angesiedelt. Die Forderung lautet: Dem Sterben müsse wieder Humanität und Würde verliehen werden, und die Person des Sterbenden und sein Wille müssen anerkannt werden. Dieser Kritik folgten auf konzeptioneller Ebene Lösungsvorschläge in Form einer Theorie zur Verbesserung des Sterbens, die das medizinische Monopol angreift. Weite Verbreitung findet ab den 1970er Jahren in Nordamerika und ab den 1980er Jahren in Deutschland die psychologische Deutung des Sterbens durch Elisabeth Kübler-Ross (1969): Sterben ist nicht nur physiologisches Versagen, das Sterben der Organe, sondern ein persönlicher Reifungsprozess, in dem die Befindlichkeiten des Sterbenden nachgefragt werden. Die Reife des Sterbens ist dann erlangt, wenn – nach einem Kampf gegen das Sterben – Konflikte gelöst und letzte Dinge erledigt werden, Biographie sinnvoll gebündelt ist, Abschied gesagt wird und der Sterbende friedlich, seinen Tod akzeptierend, entschlafen kann. Die Reifungsvorstellung findet seinen Widerhall im Ersetzen des Sterbegedankens durch den Lebensgedanken. Das neue Motto für den Umgang mit dem Sterben ist nun ‚Leben bis zuletzt‘, popularisiert von Cicely Saunders,4 einer weiteren Pionierin der Sterbeverbesserungsbewegung. Die Richtung dieser ab den 1960er Jahren formulierten Sterbeverbesserungstheorie ist zunächst sowohl anti-institutionell als auch anti-professionell. Medizinische Zumutungen und Krankenhausroutinen verhindern sowohl Reifungsprozesse als auch ein ‚Leben bis zuletzt‘. Am besten lassen sich die neuen Sterbevorstellungen zu Hause im Kreise der Angehörigen verwirklichen, mit der nötigen Zeit und Ruhe zur Einkehr und in einer Umwelt, die weitestmöglich Normalität und Alltag gestattet. Die neuen Sterbevorstellungen wurden in Deutschland während der 1980er Jahre von Sterbebegleitungsinitiativen ausprobiert, die auf bürgerschaftlichem Engagement beruhten. Diese Hospizinitiativen der Klein- und Mittelstädte, oft unter Leitung von Theologen, führten zu einer institutionellen Transformation: Das Ziel der Einrichtung stationärer Hospize mobilisierte die ehrenamtlichen Mitglieder, und die Bewegung für das gute Sterben wurde am Laufen gehalten. Aus der ursprünglich institutionsfernen häuslichen Sterbebegleitung entstand ein neuer Institutionstyp: eine Einrichtung nur für das Sterben! Die Sterbekritik treibt in neue Lösungsformen, die am Ende wieder institutionell und damit professionalisierbar sind. Politik, Krankenhaus- und Wohlfahrtsverbände reagierten allerdings skeptisch bis ablehnend. Sie sahen in den ‚Sterbekliniken‘ während der 1970er und 80er Jahre dunkle Sterbeghettos und einen „Schritt hin zur Euthanasie“, wie etwa das Kommissariat der deutschen Bischöfe auf eine Anfrage des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit im Jahre 1978 reagierte.5 Dass sich dennoch 4 5

Saunders/Baines (1991). Vgl. Seitz/Seitz (2002), S. 293–296.

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der neue Einrichtungstyp durchsetzte und die Gesundheitspolitik umschwenkte, ist besonders dem Lebensgedanken zuzuschreiben, der die Abgrenzung zur aktiven Sterbehilfe und zur Vorstellung der Aussonderung Sterbender impliziert. Das Hospiz entwickelte sich zu einer krankenhausfernen Alternative, die zunächst nur auf geringem Niveau institutionalisiert war. Hospize wurden von Spendengeldern finanziert und befanden sich bis Anfang der 2000er Jahre außerhalb des Sozialversicherungssystems. Als Großeinrichtung konnten sie sich nie durchsetzen; oft nur mit vier bis sechs Betten ausgestattet, manchmal in Privathäusern oder als Teil kirchlicher Einrichtungen von Ordensschwestern betrieben, haben sie in der Regel eine Kapazität von 10 bis 16 Betten. Das Hospiz präsentierte sich damit als ein institutioneller Lösungsvorschlag angesichts der öffentlichen Kritik am Sterben im Krankenhaus. Das trieb die Ärzteschaft in die Enge und delegitimierte das bisherige ärztliche Vorgehen der Sterbeorganisation, da nun auf eine Alternative verwiesen werden konnte. Einige Ärzte nahmen die Kritik positiv auf und initiierten in den Krankenhäusern nach dem Vorbild der Hospize nur mit wenigen Betten versehene Palliativeinheiten, die zunächst in den 1980er und 90er Jahren als Modellvorhaben neben der Normalversorgung eingerichtet wurden. 6 Im Zuge dieser praktischen Lösung wurden Hospize in die Versorgungsketten integriert. Der rhetorische Hinweis auf den Hospizgedanken lieferte in der Frühphase der Palliativstationen die ideologische Anbindung an das gute Sterben. Inzwischen scheint das Hospiz nicht mehr die einzige Leuchtturmeinrichtung des guten Sterbens zu sein, sondern Bestandteil der sich zunehmend ausbreitenden Vernetzung von Einrichtungen der Palliativversorgung unter der Dominanz des Medizinischen. Die Frage nach der Umsetzung der neuen Ideen des guten Sterbens im Hospiz wird auf zwei Ebenen untersucht. Zum einen werden sich die Ideen des guten Sterbens in der konkreten Sterbeorganisation niederschlagen. In der Arbeit mit und am Patienten wird Sterben als Interaktionsleistung sichtbar gemacht; man formuliert Erwartungen und Rollen. In Anlehnung an die Arbeiten von Anselm Strauss und Mitarbeitern 7 wird in zwei Schritten die soziale Organisation der Hospizarbeit extrahiert, einmal aus der Perspektive der Pflege (Abschnitt 2), zum anderen aus der Perspektive der Medizin (Abschnitt 3). Für die zentrale Frage dieses Beitrages nach dem konkreten Geschehen und den Handlungsketten der Organisation von Sterbeverläufen muss zum anderen auch auf Sterbediskurse eingegangen werden, auf die das Hospiz reagiert (Abschnitt 4). Das Hospiz als Spezialeinrichtung für die Organisation des Lebensendes nimmt gesellschaftliche Sterbeideale auf und repräsentiert in der Öffentlichkeit zentrale Symbolisierungen und Motive des Sterbens als gutes Sterben (Abschnitt 5).

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Bundesministerium für Gesundheit (1997). Strauss et al. (1985).

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2. Pflege und die Arbeit an der Identität von Sterbenden Das Hospiz ist genauso wie andere Sozialisationsinstitutionen zu analysieren. Als zu lösendes Problem ist das Sterben definiert, wofür ein Mitarbeiterstab – Pflegekräfte und Ärzte – zuständig ist, der mit seinen Mitteln und Techniken den Zweck der Einrichtung, das heißt Unterbringung, Behandlung und Pflege bis zum Tod, erfüllt. Hospizpatienten müssen als Sterbende schon etikettiert sein; das übernehmen die vorgeschalteten Behandlungsinstitutionen. Patienten müssen sich an die Rahmenbedingungen gewöhnen, das heißt auch, sie übernehmen Organisationsroutinen und -anforderungen. Dieser Beitrag geht davon aus, dass das Hospiz den Sterbenden als eigenständige Figuration hervorbringt, die sich von anderen ähnlichen Figurationen wie derjenigen des Kranken und des Pflegebedürftigen unterscheidet. Der moralische Status des Patienten als Sterbender ist ein Ergebnis fortlaufender Interaktionen, in denen die vom Personal vergebenen Identitätszuweisungen verhandelt werden. Die Erfüllung der Rolle als Sterbender folgt einem konzertierten Handlungsprogramm von Pflege und Medizin. Da Sterben vornehmlich als eine irreversible körperliche Verschlechterung gilt, beinhalten Zuweisungen an Identität Zuweisungen an den Körper und Deutungen des Körpers. Die Normen des guten Sterbens werden sich demzufolge auch in den Körperpraktiken niederschlagen müssen. 2.1 Teilnehmende Beobachtungen in Hospizen Untersucht wurde die Hospizarbeit durch teilnehmende Beobachtungen in zwei Einrichtungen mit einer Kapazität von 14 bis 16 Betten über jeweils zwei Monate.8 In beiden Hospizen arbeiten hauptamtliche Pflegekräfte und eine Sozialarbeiterin sowie ehrenamtliche Begleiterinnen, Zivildienstleistende und Praktikanten. Die medizinische Versorgung wird von niedergelassenen Ärzten mit einer palliativen Spezialisierung gesichert. Die Aufenthaltsdauer der meisten Patienten betrug weniger als zwei Wochen, es wurden aber auch einige Patienten begleitet, die sich über zwei Monate im Hospiz aufhielten, bis sie dort verstarben. Während des Beobachtungszeitraums wurden lediglich vier Patienten nach Hause entlassen. Die Trägerschaft der Einrichtungen (ein Hospiz hat einen kirchlichen Träger, das andere ist eigenständig und nicht konfessionell gebunden) spielte keine Rolle für die Organisation der Sterbeverläufe; zentral ist vielmehr die Verpflichtung des Personals gegenüber der – durch die ,Hospizideologie‘ gesicherten – Pflegepraxis. Interviews in sechs weiteren Hospizen mit der Leitung und mit Pflegekräften ergaben den Eindruck, dass die kommunikativen und medizinisch-pflegerischen Dimensionen der Hospizversorgung weitgehend ähnlich sind. Die Hospizuntersuchungen wurden durch weitere Beobachtungsstudien in drei Krankenhausstationen der Normalversorgung sowie in vier Palliativstationen im Rahmen des DFG-geförderten Projekts Sterberolle und Patientenrolle in der Palliativversor8

Vgl. Dreßke (2005).

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gung (Projektleiter: Prof. Dr. Gerd Göckenjan) flankiert. Im Zentrum der Inhaltsanalyse des erhobenen Materials standen Interaktionen zwischen Personal und Patienten, in deren Verlauf sich die Patientenkarriere während des Aufenthalts im Hospiz konstituiert. Es soll gezeigt werden, wie Pflegende und Ärzte mit dem Ziel arbeiten, das gute Sterben herbeizuführen, und welche Verantwortung den Patienten dabei zufällt. Dass das gute Sterben ein gemeinsam verpflichtendes Arbeitsziel ist, soll an zwei Patientenkarrieren deutlich gemacht werden. Begonnen wird mit der Darstellung und Analyse eines kondensierten Fallverlaufs, der eine aus Sicht des Hospizes erfolgreiche Arbeit präsentiert. Frau Lorenz9 ist sehr schmächtig, 75 Jahre alt und hat einen Lungentumor. Sie hält sich 22 Tage im Hospiz auf. Laut Dokumentation des Krankenhauses, aus dem sie überwiesen worden ist, hat sie keinen Appetit, ist bettlägerig und vollständig blind, wie bei der Pflegeübergabe am Aufnahmetag berichtet wird. Es stellt sich jedoch heraus, dass sie tatsächlich mit Appetit in der Wohnküche gegessen hat. Auch „kann sie mehr sehen, als man denkt“, so eine Krankenschwester bei der Pflegeübergabe am dritten Tag. Frau Lorenz ist über ihre todbringende Krankheit aufgeklärt, aber sie spricht nicht darüber. Am ersten Tag weint sie und sagt: „Ich will noch leben, ich will noch leben.“ Ein wichtiges Anliegen ist ihr die Wohnung. Ihr Enkel, der engen Kontakt zu ihr hält, verspricht ihr, die Wohnung nicht aufzulösen. Zu ihrem Sohn hat sie keinen Kontakt, was sie bedauert, aber sie will ihn auch nicht anrufen. Ihr Enkel, der auch keinen Kontakt zum Vater hat, kümmert sich um sie. Am fünften Tag kommt dann doch ihr Sohn zu Besuch, begleitet wird er vom Enkel und dessen Kindern. Es gibt ein kleines Familienfest. Die herumtollenden Kinder sind zwar „nicht diszipliniert“, das Personal schreitet aber nicht ein. Frau Lorenz lebt sich schnell im Hospiz ein und entwickelt ihre täglichen Routinen. Sie sitzt gern bei offener Tür ihres Zimmers in einem Sessel und raucht Zigaretten. Sie ist eine „freundliche Frau, die sehr dankbar ist“, so wird sie von einer Krankenschwester eingeschätzt. Sie hat gern Leute um sich und hört gern Fernsehen. Die Pflegekräfte und der Zivildienstleistende kommen immer mal auf ein Schwätzchen zu ihr, auch, um selbst Zigaretten zu rauchen. Ihre Pflege bereitet in den folgenden Tagen bis zu ihrem Tod keine großen Schwierigkeiten. Sie ist nie Tagesgespräch. Am vierten Tag bekommt sie Sauerstoff, und ab und zu ist ihr übel, aber das sind normale Probleme im Hospiz und ist beherrschbar. Schmerzen leidet sie jedenfalls keine. Sie beginnt dann auch im Sessel die Nacht zu verbringen, den ihr der Enkel von Zuhause bringt. Die Familie, insbesondere der Enkel, besuchen sie regelmäßig, wenn auch manchmal nur kurz. Einmal allerdings wird sie von ihrer Familie noch enttäuscht, als ein geplanter Ausflug abgesagt wird. Eine Woche später holt sie die Familie ab, damit sie noch einmal in ihrer geliebten Wohnung sein kann. Am Tag danach stirbt Frau Lorenz. Bei den Pflegeübergaben wird ihre Sterbestunde geschildert: Während der Übergabe zum Frühdienst klingelt Frau Lorenz. Die Krankenschwester trifft sie im Sessel sitzend an, wie üblich. Zu ihr kann Frau Lorenz noch sagen: „Mir ist so blümerant.“ Dann stirbt sie nach zwei Minuten mit einem Lächeln im Gesicht. Bei der Pflegeübergabe wird noch resümiert: „Sie ging schnell von dannen.“ Nach dem Tod wird die Leiche präsentabel hergerichtet. Sie wird angezogen und ihr Körper mit einem bunten Tuch bedeckt; das Gesicht ist weiterhin sichtbar. Erinnerungsstücke, Bilder und Kerzen werden auf dem Nachttisch sowie Blumen und eine Kerze vor das Patientenzimmer gestellt. Die Angehörigen verabschieden sich noch am Vormittag. Auch die Pflegekräfte gehen während der Früh- und der Spätschicht in das Patientenzimmer, um sich ebenfalls zu 9

Alle Eigennamen wurden geändert.

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Stefan Dreßke verabschieden. Am späten Nachmittag wird schließlich der Leichnam von einem Bestattungsunternehmen in einem Holzsarg abgeholt.

2.2 Identität anerkennen Die zuwendende und an die Persönlichkeit des Patienten gerichtete Pflege ist die Spezialität des Hospizes. Pfeffer erkennt hier den Zwang zur „strukturellen Nähe“ zwischen Personal und Patienten,10 Eschenbruch meint mit „therapeutischer Narrativierung“ 11 Ähnliches: Pflegeinteraktionen versuchen kleine, signifikante Erlebnisse zu schaffen, die – zusammengenommen – eine Geschichte des Patienten während der Zeit im Hospiz ergeben und die dem Patienten ein Gesicht verleihen. Die Aufmerksamkeit, die den Patienten gegeben wird, ist auch eine Entschädigung für das mehr oder minder klaglose Aufgeben der Krankenrolle, die eine Rückkehroption wäre. Zunächst ist das Sterben noch so weit wie möglich hinauszuschieben, Patienten sollen schließlich „nicht zum Sterben ins Hospiz kommen, sondern um noch einmal aufzuleben“, wie Pflegekräfte immer wieder betonen. Die schwerkranken Patienten werden im Hospiz mit einem Identitätskorsett ausgestattet, mit einer Fassade, die ihr Selbst repräsentiert.12 Das Hospiz ist darauf spezialisiert, bürgerliche Identität, wo es nur möglich ist, anzuerkennen und wiederherzustellen. Mit der Versorgung und Pflege dehnen sich die „Territorien des Selbst“ 13 zunehmend aus. Patienten können alte Rollen aktualisieren; bei Frau Lorenz sind es die der Mutter und Großmutter. Zentral dafür sind die zuwendenden Pflegepraktiken, die nicht nur die Hygiene allein, sondern auch das Wohlfühlen zum Ziel haben. Das Hospiz ist ein Ort des ruhigen Arbeitens, in dem pflegerische Tätigkeiten mit den Geschichten der Patienten gekoppelt werden. Das Identitätskorsett ist allerdings nicht umsonst zu haben. Es ist gebunden an Identitätsäußerungen und Identitätswünsche der Patienten und an ihr Bestreben, Identitätszuweisungen selbst aktualisieren zu wollen. Gefordert werden Reziprozitätsleistungen auch von den Patienten, nämlich auf die Angebote des Personals einzugehen. Um von der Hospizpflege profitieren zu können, müssen Patienten also schon mit einer – wenn auch nur minimalen – Identitätsausstattung in das Hospiz kommen. Dabei helfen mitgebrachte Gegenstände, die auf Gewohnheiten und die Biographie hinweisen sowie Ausdruck ihres moralischen Befindens sind. Auch Frau Lorenz hängt weiterhin am Leben, obwohl sie doch nur noch kurze Zeit leben wird und das auch weiß. Damit positioniert sie sich als Person mit Hoffnungen, Bedürfnissen und Ansprüchen. Das Personal hat dann die Möglichkeit, auf diese Äußerungen der Persönlichkeit zu reagieren und weitere Äußerungen herauszulocken. Frau Lorenz erhält dadurch diese einzigartige Stellung der freundlichen, zufriedenen und immer zu einem Plausch bereiten, aber auch nach10 11 12 13

Pfeffer (2005), S. 106. Eschenbruch (2005), S. 189ff. Goffman (2002). Goffman (1974), S. 54ff.

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denklichen alten Frau. Eine andere Episode illustriert die Notwendigkeit der Reziprozität: Herr Linke leidet an einem stark schleimenden und mitunter übel riechenden Mundbodenkarzinom. Er wird von einem Pfleger durch das Hospiz geführt. Später berichtet der Pfleger, dass er sich vor Herrn Linke geekelt hat. Nach dem Spaziergang gibt ihm der Patient jedoch dankbar die Hand. Diese Geste erwidert der Pfleger und überwindet seine Ekelgefühle.

Die Pflege von Patienten mit übel riechenden äußeren Karzinomen, insbesondere im Gesichtsbereich, stellt das Personal, obwohl dies nicht selten vorkommt, immer wieder vor besondere Herausforderungen. Das Ziel der Aktualisierung von Identität ist gefährdet, wenn persönliche Identität der Patienten hinter dem Ekelerregenden zu verschwinden droht. In der Episode von Herrn Linke ist es dessen Dankbarkeit, durch die er seine Ansprüche darstellt, als Person wahrgenommen zu werden, und die auch vom Pfleger aufgenommen werden. Solche Episoden sind mitunter im Pflegeteam kolportierte Wendepunkte der Identitätskarrieren. So betrachtet eine Krankenschwester ältere Fotos und sagt zur Dienstübergabe: „Wie Herr Linke aussah, ein schicker Mann!“ Die Vorstellung von der alten Identität wird auch nach einem längeren Gespräch mit einer anderen Krankenschwester wiederbelebt, die im Team resümiert: „Herr Linke hat immer die totale Power gehabt.“ 2.3 Scheitern der Anerkennung von Identität Die für das Pflegeverständnis tragischeren Geschichten sind jedoch jene, die von Patienten handeln, die eigentlich die mentalen und auch körperlichen Fähigkeiten hätten, Dimensionen von Persönlichkeit zu präsentieren, dies aber aus unterschiedlichen Gründen nicht tun. Solche Patienten „starren wortlos an die Wand“, und es fällt den Pflegekräften schwer, einen Zugang zu ihnen zu finden. Ein Beispiel ist Frau Caspar, eine bettlägerige Patientin, die an Brust- und Hautkrebs leidet und deren Metastasen fast den gesamten Oberkörper überwuchern. Aufgrund des geschätzten Gewichts von 150 Kilogramm muss die Patientin von vier Pflegekräften versorgt werden, wenn sie gelagert wird. Nachdem sie vom Sohn besucht worden ist, verhält sie sich abwesend, geht keinen Kontakt zu den Pflegekräften ein und erwidert nicht einmal Blicke. Sie leidet an ihrem stark beschädigten Körper, für den sie sich augenscheinlich schämt. Die Atmosphäre während der Pflegetätigkeiten ist angespannt. Stumm verrichtet das Personal seine Arbeit, es kann keinen persönlichen Kontakt zur Patientin aufbauen.

Aus der Sicht des Personals ist dies kein gutes Sterben und seine Arbeit an der Identität der Patientin nicht erfolgreich. Die Pflegekräfte bekommen keine Anknüpfungspunkte und Hinweise für die Ausstattung von Identitätsdimensionen. Auch aus dem Besuch des Sohnes entwickeln sich keine weiteren identitätsaktualisierenden Episoden – im Gegenteil: Anschließend reagiert die Patientin erst recht nicht mehr. Nicht einmal stellvertretende Deutungen sind mehr möglich, nur noch Bedauern und Mitleid. Eine große Anzahl solcher Patienten würde die Arbeitsrationale und die Gefühlsordnung des Hospizes beschädigen.

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Auch Patienten, die in einem sehr schlechten Gesundheitszustand kommen, kaum ansprechbar oder dement sind und nach kurzem Aufenthalt von wenigen Tagen, manchmal nur Stunden, sterben, sind aus der Sicht des Personals eine Fehlbelegung. Diese Patienten werden gut nach den Regeln der Hospizpflege versorgt, aber sie laufen nur mit. Zu ihnen bauen die Pflegekräfte keine besondere Beziehung auf, es entwickelt sich keine gemeinsame Geschichte, in der diese Patienten eine eigene Kontur bekommen. Diese Patienten könnten genauso gut im Krankenhaus oder im Pflegeheim versorgt werden – zumindest würde man ihnen so die Anstrengungen eines weiteren Transports ersparen. Am Ende gibt es nur die Legitimation, dass Patienten eben sterbend sind und deshalb auch in das Hospiz gehören, wie ein Pfleger in Bezug auf eine stark demente Patientin formuliert: „Ist der Patient erst mal bei uns angekommen, dann ist er auch richtig am Platze.“ 2.4 Aberkennen von Identität – Zuweisen von Würde Sterben ist allerdings gerade das Gegenteil von Identitätszuweisung und Identitätsaktualisierung, Sterben ist das Aufgeben von Pflichten und Rechten sozialer Mitgliedschaft und das Verlassen sozialer Rollen. Insofern werden auch im Lauf des Aufenthalts im Hospiz Identitätsdimensionen abgegeben. Dem Personal widerstrebt es – entsprechend seinem humanen Versorgungsideal –, Identität willentlich abzuerkennen. Stattdessen wird der Körper, dessen Gesundheitszustand sich zunehmend verschlechtert, zu einem Mediator von Deutungen des Sterbens. Dieselben Pflegetätigkeiten, die Identität unterstützen, signalisieren auch die abnehmenden körperlichen und mentalen Fähigkeiten. Der Alltag der Patienten wird zunehmend von körperlichen Verschlechterungen bestimmt und damit auch von pflegerischen Verrichtungen. Dabei werden die stigmatisierenden Effekte von Pflege und Medizin möglichst minimiert: Die Schnabeltasse wird zunächst nur für das Bett gebraucht, statt in eine Windel wird in eine Bettpfanne ausgeschieden oder die Windel wird nur untergelegt, aber nicht geschlossen, Blasenkatheter werden möglichst ganz vermieden. Die konzentrierte Pflege begleitet die gesundheitliche Verschlechterung, wodurch sich das Sterben nicht nur körperlich, sondern auch als soziale Praxis vermittelt. Pflege und Medizin reagieren ganz allgemein immer auf Körperzeichen; im Hospiz fällt allerdings die Dichte der pflegerischen Tätigkeiten auf, mit denen der sterbende Körper beobachtet, gedeutet und behandelt wird. Stigma reduzierende Praktiken richten sich allerdings nicht notwendigerweise auf die Wiederherstellung personaler Identität, sondern auf den Erhalt der Würde des Patienten und auf die Aufrechterhaltung von Pietät. Beides, Würde und Pietät, beziehen sich auf üblicherweise geteilte Normen und Werte. Im Sterbeverlauf werden Patienten zunehmend bewusstseinsgetrübt, und das Ansprechen und Aktualisieren ihrer Identität fällt schwerer. Die Orientierung auf Pietät und Würde ersetzt die Orientierung auf individualisierende Identitätsdimensionen. Insofern wird der sterbende Patient auch im Hospiz entindividualisiert. Pietät und Würde manifestieren sich im vorsichtigen, fast enthaltsamen Gebrauch medizinischer

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Technik und in der sukzessiven Minimierung pflegerischer Zumutungen, etwa beim Waschen und bei der Kontrolle der Ausscheidungen. Die Orientierung auf Würde und Pietät entfaltet sich dann nach dem Tode in Gänze. Zwar werden beim Herrichten des Leichnams und bei Verabschiedungszeremonien auch persönliche Eigenschaften thematisiert, insbesondere wenn die Patienten etwas jünger sind und längere Zeit im Hospiz verbracht haben, aber die Symbolisierungen richten sich dominierend an das Kollektiv, in dem der Patient aufgeht. 3. Palliativmedizin und die Arbeit am friedlichen Sterben Sterbeorganisation ist im Hospiz ein wechselseitiges Verweisen von Deutungen des körperlichen Zustands und von den kommunikativen Abfederungen der Härten und Zumutungen. Nicht immer, eigentlich eher selten, verläuft das Sterben so friedlich wie bei Frau Lorenz. Das gute Sterben unterliegt vielfältigen Risiken und Unwägbarkeiten durch starke Schmerzen, Unruhe, Verwirrung, Angst, schlecht zu behandelnde Wunden oder durch die Qual der Agonie der Todesstunde. Der Tod kann sehr plötzlich eintreten, überraschend für Personal und Angehörige, das Sterben kann sich aber auch hinziehen und die Geduld des Personals und der Angehörigen auf die Probe stellen. Für viele dieser Probleme hat auch die beste Pflege keine Lösung, vielmehr sind hier palliativmedizinische Maßnahmen nachgefragt. Am Beispiel der Patientin Frau Pfeifer, die fünf Wochen im Hospiz gepflegt wird, werden die Wirkungen der medizinischen Verfahren auf die Sterbeorganisation dargestellt. 3.1 Stabilisierung und Verschlechterung der Gesundheit Frau Pfeifer ist 75 Jahre alt und hat ein Rektumkarzinom sowie Metastasen in den Knochen. Im Krankenhaus ist sie kurz vor der Aufnahme in das Hospiz gestürzt und hat deshalb Frakturen im linken Oberschenkel. Die Pflegekräfte schätzen sie am Aufnahmetag als „schwach und sehr weit weg“ ein. Trotzdem wird sie in den Stuhl mobilisiert und bekommt leichte Kost. Frau Pfeifer ist bettlägerig und etwas verwirrt. Aufgrund des Verwirrtseins schätzt eine Krankenschwester am dritten Tag ein, dass Frau Pfeifer sterben wird. Die Ärztin wird konsultiert und es wird, weil die Patientin „total abgeschossen“ ist, die Schmerzmitteldosis reduziert. Frau Pfeifer trinkt nicht sehr viel, deshalb werden während der Nächte Flüssigkeitsinfusionen gegeben. Nach der ersten Infusion geht es ihr besser, sie ist nicht mehr verwirrt. Schließlich ist sie mit Hilfe einer Pflegekraft in der Lage, mit einem Rollator auf die Toilette zu gehen. Frau Pfeifer trinkt am vierten Tag selbst, sie sei „schlagfertig“ und überhaupt „fitter“, wird bei der Pflegeübergabe gesagt. Sie hat auch weniger Schmerzen, trotz der geringeren Schmerzmitteldosis. Am fünften Tag wird sie im Rollstuhl zum Friseur im Hause gefahren. Bis zum achten Tag geht es Frau Pfeifer besser, dann verstärken sich die Schmerzen, die auch Schmerzmittel nicht ganz beseitigen können. Frau Pfeifer äußert am neunten Tag, wie auch in den folgenden Tagen den Wunsch, bei Bewusstsein zu bleiben. Die Schmerzmitteldosis wird also nicht weiter erhöht. Ihr Gesundheitszustand schwankt: Sie trinkt weniger und ist wieder etwas verwirrter, trotz der künstlichen Flüssigkeitszufuhr nachts. Gegen ihre Übelkeit bekommt sie ein Medikament. Am zehnten Tag beobachten die Pflegekräfte einen verbesserten Zustand, obwohl sie nun „schwächer“ ist. Eine Krankenschwester spricht die künstliche Flüs-

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Stefan Dreßke sigkeitszufuhr an. Sie sagt: „Frau Pfeifer isst und trinkt nichts, dann brauchen wir ihr auch keine Infusion zu geben. Hauptsache, sie hat keine Schmerzen.“

Viele Dimensionen des Versorgungsverlaufs und der pflegerischen Abläufe von Frau Pfeifer gleichen denen von Frau Lorenz. Die Pflegemaßnahmen allein helfen allerdings nicht weiter, um den Zustand von Frau Pfeifer zu stabilisieren und um Identitätsäußerungen sicherzustellen. Medizinische Interventionen wie die intravenöse Flüssigkeitszufuhr und Schmerzmittel sind notwendig. Jetzt erst kann Frau Pfeifer von der zuwendenden Pflege profitieren. Dabei markiert die künstliche Flüssigkeitszufuhr sowohl die Stabilisierung als auch die Verschlechterung. In den ersten Tagen ihres Hospizaufenthalts werden die Infusionen gerade deswegen von den Pflegekräften vorgeschlagen und von der Ärztin angeordnet, weil Frau Pfeifer nichts trinkt. Die nächtlichen Infusionen orientieren sich an Leben, Alltag und Identität. Mit derselben Begründung, nämlich, dass die Patientin nichts trinkt, wird dann die Beendigung der künstlichen Flüssigkeitszufuhr angeordnet. Der Organismus ist nun so geschwächt, dass Flüssigkeitsgaben eine körperliche Belastung sind – das ist palliativmedizinisches Basiswissen. Der Indikator dafür ist das mangelnde Durstgefühl. Die Hospizpflege hat bis jetzt für einen stabilen Zustand gesorgt, der nun nicht weiter optimiert werden kann. Mit der Beendigung der künstlichen Flüssigkeitszufuhr verändert sich die Deutung der Patientenkarriere. Aus einer Patientin, deren Zustand verbessert werden konnte, wird eine Sterbende. 3.2 Schmerzfreiheit und Bewusstheit Am elften Tag hat Frau Pfeifer am Vormittag nicht gegessen und ist inkontinent. Bei der Übergabe wird gesagt: „Es geht ihr schlechter als gestern.“ Am 15. Tag ist sie „psychisch komisch“ und unruhig. Sie klingelt nach dem Pflegepersonal, um sich aus keinem ersichtlichen Grund „hin und her bringen zu lassen.“ Auf der Toilette ist sie kurzatmig, und sie wird nun sitzend im Toilettenstuhl gewaschen und nicht wie üblich im Bad.

Die Sterbedefinition braucht nicht offen ausgesprochen zu werden, der Zustand von Frau Pfeifer spricht für sich. Ihre Schmerzen lassen sich jedoch nicht zufriedenstellend behandeln, schließlich ist es der Wunsch der Patientin, bei Bewusstsein zu bleiben. Parallel zu den pflegerischen Handlungsvollzügen entfalten sich nun verstärkt medizinische Interventionen. Anschließend kommt es zu mehreren Krankenhausaufenthalten, eigentlich unüblich für Hospizpatienten. In den nächsten Tagen ist Frau Pfeifer dreimal im Krankenhaus. Zunächst wird am 15. Tag die Schmerzursache abgeklärt. Bei der Röntgenuntersuchung stellt sich heraus, dass die Fraktur zwar geheilt ist, aber die Knochenmetastasen haben sich vermehrt. Beim zweiten Aufenthalt am 17. Tag wird eine palliative Strahlentherapie durchgeführt. Am nächsten Tag jedenfalls hat Frau Pfeifer weniger Schmerzen, ist etwas munterer und isst Eis mit Früchten. Fünf Tage später lehnt sie eine weitere Bestrahlung aufgrund der damit verbundenen Schmerzen ab. Gesundheitlich geht es ihr immer schlechter, allerdings behält sie ihre positive Stimmung bei, kann die Grundpflege im Bett genießen und lächelt die Krankenschwester dabei „verschmitzt“ an. Statt der Bestrahlung zur Behandlung der Schmerzen soll nun eine Operation an der Hüfte durchgeführt werden, „eine Zementierung der Knochen“. Diesem größeren Eingriff stehen die Pflegekräfte skeptisch gegenüber. Ein Pfleger sagt: „Nicht, dass sie auf dem Tisch bleibt.“ Am 25. Tag geht sie jedenfalls für zwei Tage ins Krankenhaus. Die Operation wird

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erfolgreich durchgeführt und sie kommt wohlbehalten ins Hospiz zurück. Tatsächlich taucht das Problem der Schmerzen im Folgenden nicht mehr auf.

Die Versorgung von Frau Pfeifer zeigt die unterschiedlichen Strategien der Ärztin und der Pflegekräfte, zwischen Schmerzfreiheit und Bewusstheit zu balancieren. Beides sind Wünsche der Patientin, und beides gehört zu den Merkmalen des guten Sterbens. Die Ärztin nimmt diese Wünsche durch eine Krankenhausbehandlung auf. Die Bestrahlung und die Operation der Knochen stellen weitgehende Schmerzfreiheit her und sichern Bewusstheit. Aus der Perspektive der Pflege sind mit den Krankenhausaufenthalten allerdings unangemessene Zumutungen verbunden und die Gefahr des schlechten Sterbens in einer Intensivabteilung. Schmerzen zuzufügen ist nur mit einem kurativen Therapieziel legitim, nicht aber in der Sterbephase. 14 In der Definition des Zustandes der Patientin unterscheiden sich Ärztin und Pflegekräfte: Für die Ärztin gibt es noch etwas zu tun, sind Verbesserungen möglich, und sie geht das Risiko einer Operation ein. Trotz des verhältnismäßig hohen Behandlungsaufwandes wird Frau Pfeifer nicht die Krankenrolle zugewiesen. Die Operation kann nur durchgeführt werden, weil sie bereits eine Hospizpatientin ist und ohnehin bald sterben wird. Als Kausalbehandlung folgt die Schmerzbehandlung aber einer kurativen Orientierung: Sowohl die Bestrahlung als auch die Operation orientieren sich an der Schmerzursache, das heißt an den Metastasen, die zu behandeln sind. Palliativ ist allerdings die Intention, Schmerzen zu lindern und das Sterben zu erleichtern. Die Pflegekräfte sehen sich dagegen als Anwälte eines Sterbeverlaufs mit möglichst wenigen medizinischen Eingriffen. Ein Krankenhausaufenthalt hat einen ungewissen Ausgang und fragwürdige Wirkung auf die Lebensqualität. Unter Umständen werden die Kräfte der Patientin sinnlos verausgabt. Andererseits sind die Argumente des Pflegepersonals schwach, denn medikamentös lassen sich die Schmerzen eben nicht in den Griff bekommen, will man die Bewusstheit aufrechterhalten. Insofern ist in diesem Falle das Potenzial für einen offenen Konflikt gering, zumal die Ärztin mit der Patientin Absprachen getroffen hat und ihre Behandlungshoheit durchsetzt. 3.3 Sterben Nach der Operation verschlechtern sich der kognitive und emotionale Zustand von Frau Pfeifer. Ihre Stimmung wird schlechter und wechselhaft, sie verweigert viele Pflegemaßnahmen und ist desorientiert. Eine Krankenschwester kommentiert am 29. Tag ihren Zustand: „Es ist eine Quälerei, das ganze Leben, so wie es jetzt ist.“ Frau Pfeifer selbst bemerkt ihre Desorientierung und Unruhe und leidet darunter. Die Pflegekräfte befürchten: „Sie ist so desorientiert, dass sie zugebrettert werden muss.“ Es wird ein Psychopharmakon intravenös verabreicht. Schmerzen hat sie nun keine mehr, sie ist aber zunehmend abwesender. Am 32. Tag starrt Frau Pfeifer vor sich hin, sagt nichts mehr und lehnt eine umfassende Grundpflege ab. Nur die notwendigsten Pflegemaßnahmen werden jetzt durchgeführt. Auf das Eincremen des Gesichts reagiert sie aber positiv und gibt kurzfristig ihren starren Blick auf. Am 36. Tag stirbt sie während des Frühdienstes; eine Krankenschwester ist bei ihr. Frau Pfeifer hat eine bro14 Streckeisen (2001).

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Stefan Dreßke delnde Atmung, und die Krankenschwester versucht, den Schleim abzusaugen, dabei sitzt die Patientin an der Bettkante und erleidet einen Krampfanfall. Eine andere Krankenschwester erklärt später, Frau Pfeifer habe gegen den Tod gekämpft.

Nach dem Krankenhausaufenthalt findet wieder die übliche Hospizversorgung statt. Der mentale und der körperliche Zustand von Frau Pfeifer werden immer schlechter, und es wird nun nichts mehr dagegen unternommen. Das Personal reagiert mit vorsichtiger Pflege und mit pharmakologischer Behandlung in sanfter Anpassung an den körperlichen Zustand. Das Leiden kann zwar abgemildert, aber nicht ganz genommen werden; immerhin werden keine Schmerzen mehr beobachtet. Gegen ihre Desorientierung wird Frau Pfeifer zunehmend sediert, ohne sie aber in gänzliche Bewusstlosigkeit fallen zu lassen. Mit der Ruhigstellung des Patientenkörpers wird nun der Sterbeverlauf dirigiert. Der Tod selbst ist nicht schön, so zumindest empfindet es die Krankenschwester. In den Todesminuten begehrt der Körper noch einmal auf und fordert zu umfangreichen und hektischen Maßnahmen auf, etwas, das eigentlich zu vermeiden ist. Das Ziel, Schmerz zu lindern und gleichzeitig das Bewusstsein zu erhalten, lässt sich nicht immer gleich gut erreichen. Bei Frau Pfeifer etwa sind die mentalen Kapazitäten noch so gut vorhanden, dass eine Bewusstseinseintrübung nicht hinnehmbar ist, vor allem, weil sie den Wunsch nach Wachheit wiederholt formuliert. So muss also nach anderen Lösungen gesucht werden, die dann Behandlungen im Sinne des Konventionell-Kurativen sind. Am Ende hat diese Strategie Erfolg: Der Schmerz wird nach dem letzten Krankenhausaufenthalt behoben, und der mentale und körperliche Zustand gleichen sich zunehmend an: Desorientierung und Schwäche werden als Leiden wahrgenommen, die eine zunehmende Sedierung legitimieren, so dass der Sterbeverlauf bis auf die Todesstunde als sukzessives Dahinscheiden gesteuert werden kann. 4. Idealisierungen des Sterbens Die Sterbeverläufe von Frau Lorenz und Frau Pfeifer sind beides Extreme mit verhältnismäßig wenigen medizinischen Interventionen auf der einen Seite und zahlreichen auf der anderen Seite. Insbesondere das Geschehen bei Frau Pfeifer zeigt, dass das Sterben gesteuert wird, und zwar nach den Vorstellungen eines natürlichen Verlaufs, bei dem der körperliche Zustand, Identitätsdimensionen und die sozialen Anbindungen in ihren graduellen und stetigen Abwärtstrends aufeinander verweisen. Vermieden werden plötzliche Verschlechterungen. Entsprechend der Typologie von Sterbevorstellungen nach Walter15 lassen sich die einzelnen Dimensionen der Sterbeorganisation als traditionelles, individuelles und medizinisch korrektes Sterben beschreiben.

15 Walter (1996).

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4.1 Traditionelles Sterben: Abschied von der Gemeinschaft Die ideologischen Einstellungen des Hospizes schließen an die Kritik des Sterbens im Krankenhaus der 1950er und 60er Jahre an, die sich wiederum an traditionellen Sterbevorstellungen des 19. Jahrhunderts orientierte.16 Im Zentrum steht die Totenbettszene, in der sich die Familie noch einmal um den Sterbenden versammelt, um Abschied zu feiern. Totenbettszenen und Trauerrituale sind identitätsstiftend für das Hospiz. Angehörige werden zu Besuchen ermuntert und haben die Möglichkeit, im Gäste- oder im Patientenzimmer zu übernachten. Unter Umständen werden Pflegekräfte zu einer zeitlich befristeten Ersatzfamilie, zumindest zu signifikanten Bezugspersonen. Patienten dürfen, wenn es nur irgendwie möglich ist, nicht allein sterben. Besonders gelungen ist das Sterben, wenn ein Angehöriger anwesend ist, ansonsten stellen Pflegekräfte Gemeinschaft um den Sterbenden her. Die Orientierungen auf Transzendenz und Humanität setzen sich in der zeremonialen Ordnung durch, im Abschied am Totenbett, in den Gästebüchern und den Verabschiedungsritualen im Pflegeteam. Die Gemeinschaftsorientierung repräsentiert das Hospiz auch als offene und öffentliche Gesamtorganisation: Eingeladen wird zu Eröffnungen von Kunstausstellungen und zu Jahresfeiern. Das Hospiz versteht sich als Bildungseinrichtung, die von Schülern und Auszubildenden besucht wird und in der sich Therapeuten und Pflegekräfte fortbilden. Zentral dabei ist das Selbstverständnis als karitative Einrichtung, die sich dem Dienst an Menschen in einer außergewöhnlichen Problemsituation widmet. Sterben und Versorgung von Sterbenden ist etwas Besonderes, und die Existenzialität des Sterbens wird immer betont. Mit solchen Veranstaltungen wird demonstriert, dass die Versorgung Sterbender nicht in einem gesellschaftlichen Sonderbereich stattfindet. 4.2 Individuelles Sterben: Abschied vom Selbst Die traditionelle Sterbevorstellung ist ein ideologisches Korsett, in das die Vorstellung des individuellen Sterbens eingebettet ist. Dabei nimmt das Hospiz Identitätsnormen der reflexiven Moderne auf. 17 Demnach hat sich der Einzelne bis zum Schluss zu behaupten, seine Identität zu definieren und unter Umständen ‚zu erfinden‘. Das Hospiz greift solche Vorstellungen auf, indem es die Individualität der Patienten betont und in der konkreten Pflegearbeit hervorlockt. Im Hospiz stirbt eine Person mit ihrer eigenen Biographie ihren eigenen Tod, heißt es immer wieder.18 Patienten werden in ihren Persönlichkeiten bestärkt, aber nicht nur das: Sie dürfen und sollen ihrer Trauer und Freude, ihren Hoffnungen und Ängsten Ausdruck verleihen. Das Hospiz hat eine eigene Kommunikationskultur entwickelt, in der Gefühle und der moralische Status kontinuierlich beobachtet, abge-

16 Vgl. Ariés (1976). 17 Beck/Beck-Gernheim (1994), Giddens (1991). 18 Zum Beispiel Student (1993).

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fragt und gedeutet werden. Das Sterben wird noch einmal als ein letzter und bedeutsamer Höhepunkt inszeniert und das Leben noch einmal gebündelt. Verbunden sind diese Vorstellungen insbesondere mit den von der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross formulierten Sterbephasen.19 Sterben ist ein persönlicher Entwicklungsprozess hin zu innerer Reife. Die aus dem religiösen Kontext entliehenen Motive der Läuterung und Prüfung werden in esoterische Wissensbereiche integriert. Zentral sind das subjektive Erleben und eigene Deutungen, die zur Akzeptanz des Todes führen. Dafür werden auch Äußerungen des Körpers hinzugezogen. So wurde der finale Krampfanfall von Frau Pfeifer als Kampf gegen den Tod und als schlechtes Sterben gedeutet, wohingegen Frau Lorenz lächelnd, also im Einverständnis mit ihrem Schicksal dahingeschieden ist. Sterben wird als Phase im Lebenslauf definiert mit dem Entwicklungsziel des letzten großen Selbst-Entwurfs. Vom Leben loslassen ist von den Patienten selbst gesteuert und unterliegt ihrer Souveränität. Allerdings sind die Patienten mit dieser Entwicklungsaufgabe nicht allein gelassen. In der Verpflichtung, ihre Selbstauflösung gleichsam freiwillig zu betreiben, werden Sterbende durch das Hospizpersonal unterstützt. 4.3 Medizinisch korrektes Sterben: Abschied vom Körper Die Arbeit, das Leben loszulassen, kann der Patient zwar auch im Schlaf oder im Zustand eingetrübter Bewusstheit verrichten;20 für die neuen Sterbenormen ausschlaggebend ist jedoch seine Bewusstheit. Obwohl der Körper mit der zunehmenden Verschlechterung seines Zustands die Ursache für das Sterben ist, darf er nicht vom Sterben ablenken. Das medizinisch angestrebte Ziel ist das symptomfreie Sterben, wofür der Körper des Patienten eng überwacht wird, wenn Ernährung, Ausscheidung, Körpergefühl, Atmung und Kognition kontrolliert werden. Körperäußerungen werden auf das Sterben hin gedeutet, das Sterben medikalisiert. Für die medizinische Organisation des Sterbens zentral ist die Palliativmedizin, die sich aus dem Kontext einer problematisch gewordenen kurativen Normalversorgung heraus professionalisierte. Üblicherweise organisiert die Kurativmedizin die Sterbephase als ein Therapieverzicht, als eine Phase des Abwartens und Nichts-mehr-tun-Könnens, was bei einer längeren Sterbedauer regelmäßig zu einer fehlgeleiteten Organisation der Finalphase führt. 21 Mit der Palliativmedizin entstehen neue therapeutische Möglichkeiten durch eine umfangreiche und durchgreifende Basisversorgung, insbesondere mit Beatmungsgeräten, Ernährungssonden und intravenösen Flüssigkeits- und Pharmaka-Gaben. Diese neuen Pflegeund Behandlungschancen in der Verwaltung von Patientenkörpern sind in jedem Pflegeheim und Hospiz anwendbar. Aus einem Therapieverzicht wird ein Therapiewechsel. Aus der internen Sicht der Medizin sichert die Palliativmedizin Behandlungskontinuität, indem sie erlaubt, medizinische Interventionen entspre19 Kübler-Ross (1969), (1994). 20 Vgl. Jonen-Thielemann (1997). 21 Dreßke (2008); Göckenjan/Dreßke (2002); Glaser/Strauss (1974); Wehkamp (1999).

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chend dem Gesundheitszustand ‚herunterzufahren‘. Die Palliativmedizin definiert sich auf diese Weise nicht durch den Therapieabbruch kurativer Maßnahmen, über den qua Überweisung aus der Kurativstation in die Palliativversorgung entschieden wird, sondern durch die Vermittlung sanfter Verfahren. Palliativmedizin ist gewissermaßen die ungewöhnliche medizinische Profession des Abwartens auf den Tod und hat das ‚Nichts-mehr-tun-Können‘ in medizinische Kunst transformiert. 5. Das Hospiz als Lösungsform für das soziale Problem des Sterbens Die Institutionalisierung des Sterbens durch Hospiz und Palliativmedizin ist eine typische Lösungsform in der funktional differenzierten modernen Gesellschaft für ein soziales Problem. Das Hospiz ist erfolgreich, weil Idealisierungen des guten Sterbens aufgegriffen und weiterentwickelt worden sind, die dann tatsächlich realisiert werden. Im Zentrum der Sterbevorstellungen steht das natürliche Sterben als Abwärtsentwicklung des körperlichen Zustandes, das um soziale und kommunikative Dimensionen erweitert wird. Damit ist Sterben auf das Leben orientiert und nicht auf den Tod. Sterben ist ausgefüllt mit Aufgaben und Tätigkeiten, mit Rechten und Pflichten. Sterben ist harte Arbeit, gestaltete Zeit und hat Akteure – Sterbende und ihre spezialisierten Helfer. Konkret ist Sterben ein Problem der Medizin, Sterbeverläufe an progredient verlaufenden chronischen Krankheiten zu organisieren. Die Ausdehnung des Sterbens, also die Zeit zwischen der Erkenntnis, dass der Patient ‚austherapiert‘ ist, und seinem Tod, ist für die Medizin eine Leerstelle gewesen. Palliativmedizin bietet die Chance, diese Leerstelle mit neuen Deutungen und Verfahren zu belegen und professionalisierte Problemlösungskompetenz zu demonstrieren. Sterben wird also weiterhin unter einem medizinischen Regime betrieben und nicht etwa anderen Experten überlassen. Eine Spezialinstitution für das Sterben bietet weiterhin einen Vorteil im Hinblick auf die Markierung der Grenze von Leben und Tod: Beim zunehmenden Fortschritt der Medizin und bei zunehmend längeren Sterbeverläufen werden diese Grenzen immer weniger deutlich bestimmbar.22 Die Medizin macht die Lebensdauer disponibel, und der Todeszeitpunkt wird zum Artefakt ihrer Interventionen sowie zum Ergebnis sozialer Aushandlungen und Vereinbarungen. Für die Öffentlichkeit muss diese Grenze jedoch gut konturiert sein, der ‚richtige‘ Todeszeitpunkt gewinnt immer mehr an Bedeutung: Weder darf Leben ‚künstlich‘ verlängert noch frühzeitig beendet werden. Beides sind Eingriffe in das Naturhafte, ersteres ist zwar hinnehmbar, aber immer weniger akzeptabel, letzteres verstößt gegen das Tötungsverbot. Hospiz und Palliativmedizin sind nun symbolische und tatsächliche Orte, in denen die medizinischen Eingriffe in einem Deutungsrahmen stattfinden, in dem die Willkürlichkeit der Lebensdauer und des Todeszeitpunktes ausgeblendet wird. In diesem geschützten Kontext kann die Medizin das Notwendige tun, um nicht akzeptierbares Leid beim Sterben zu verringern, und dabei hin22 Vgl. Lindemann (2002); Schneider (1999).

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nehmen, dass Leben unter Umständen verkürzt wird – das juristisch Entscheidende ist nur, dass nicht die Absicht besteht, das Leben zu beenden. Das medizinisch zu bearbeitende Problem beim Sterben ist nicht der Tod, sondern die Qualen seines Verlaufs, der dann im Notfall verkürzt werden darf – dafür hat die Palliativmedizin Lizenz und Mandat. Das Tötungsverbot wird damit de facto in Einzelfällen unterlaufen. Die Beteiligten sind allerdings durch die ideologisch gefestigte Denkfigur des Lebensgedankens und die Herstellung des konkreten Sterbens als friedlichen Verlauf vor juristischen Eingriffen geschützt. Im Hospiz werden so die Unsicherheiten des langen Sterbens bearbeitet und gleichzeitig das Tötungsverbot auf gesamtgesellschaftlicher Ebene symbolisch gestärkt.

Literatur Ariés, Philippe: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. Wien, Hanser, 1976. Aulbert, Eberhard/Zech, Detlev: Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart, Schattauer, 1997. Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Riskante Freiheiten. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1994. Bundesministerium für Gesundheit: Palliativeinheiten im Modellprogramm zur Verbesserung der Versorgung Krebskranker. Baden-Baden, Nomos, 1997. Dreßke, Stefan: Sterben im Hospiz. Frankfurt/M., Campus, 2005. Dreßke, Stefan: Identität und Körper am Lebensende. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 32, H. 3/4 (2008), S. 109–129. Elias, Norbert: Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1982. Eschenbruch, Niklas: Therapeutische Narrativierung als handlungsleitende Haltung in der Hospizpflege. In: Hubert Knoblauch/Arnold Zingerle (Hrsg.): Thanatosoziologie. Berlin, Duncker und Humblot, 2005, S. 189–207. Giddens, Anthony: Modernity and self-identity. Cambridge, Polity Press, 1991. Glaser, Barney/Strauss, Anselm: Interaktion mit Sterbenden. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1974. Göckenjan, Gerd/Dreßke, Stefan: Wandlungen des Sterbens im Krankenhaus und die Konflikte zwischen Krankenrolle und Sterberolle. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27, H. 4 (2002), S. 80–96. Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1974. Goffman, Erving: Asyle. Frankfurt/M., Suhrkamp, 1972. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. München, Piper, 2002. Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1977. Jonen-Thielemann, Ingeborg: Die Terminalphase. In: Eberhard Aulbert/Detlev Zech (Hrsg.): Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart, Schattauer, 1997, S. 678–686. Kübler-Ross, Elisabeth: On death and dying. New York, Macmillan, 1969. Kübler-Ross, Elisabeth: Verstehen, was Sterbende sagen wollen. Stuttgart, Kreuz, 1994. Lindemann, Gesa: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin. München, Wilhelm Fink, 2002. Pfeffer, Christine: „Ich hab‘ gar nicht gemerkt, wie ich da rein gezogen wurde“. In: Hubert Knoblauch/Arnold Zingerle (Hrsg.): Thanatosoziologie. Berlin, Duncker und Humblot, 2005, S. 103–125.

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Strafrechtliche Rahmenbedingungen der Sterbekultur Begrifflich-systematische Fragen des Rechtsschutzes am Lebensende Jan C. Joerden 1. Unterschiedliche Rechtsgüter „Wer einen Mensch tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ So lautet § 212 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuches. Die Strafe kann in besonders schweren Fällen (§ 212 Abs. 2 StGB) sogar bis zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe gehen. Liegen darüber hinaus bei der Tötung sogenannte Mordmerkmale vor (z.B. Habgier oder Heimtücke), ordnet das Gesetz auf jeden Fall lebenslange Freiheitsstrafe an (vgl. § 211 StGB). Und selbst dann, wenn der Täter „durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt“ wurde, sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor (vgl. § 216 StGB, ‚Tötung auf Verlangen‘, eine Vorschrift, die bekanntlich auch im Kontext der sogenannten ‚Sterbehilfe‘ eine zentrale Rolle spielt). Durch die hohe Strafandrohung für die Tötung einer anderen Person macht der Gesetzgeber deutlich, welchen erheblichen Stellenwert er dem Schutz des Rechtsgutes Leben beimisst. Dies findet seine Entsprechung darin, dass sogar bei (qualifizierter) Einwilligung des Getöteten nicht etwa – wie sonst im Recht bei wirksamer Einwilligung des Opfers (volenti non fit iniuria) – Straffreiheit des Täters angenommen, sondern dieser wegen der schon genannten ‚Tötung auf Verlangen‘ bestraft wird. Demgegenüber sieht das Gesetz nur für bestimmte Handlungen gegenüber einem Leichnam überhaupt eine Bestrafung vor. Insbesondere wer den „Körper […] eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 168 StGB; sogenannte ‚Störung der Totenruhe‘). Jede von § 168 StGB nicht erfasste andere Behandlung eines Toten bleibt straflos.1 Damit wird klar, dass der Gesetzgeber das Rechtsgut der Totenruhe, bei dessen Schutz es zudem eher um Rechte der Angehörigen oder der Gesellschaft gehen dürfte als um die des Verstorbenen, jedenfalls als deutlich weniger wichtig einschätzt als das Rechtsgut des Lebens. Ein solcher erheblich unterschiedlicher Schutz der be1

Von der Vorschrift über die sogenannte Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener gem. § 189 StGB kann hier abgesehen werden, weil sie das Andenken des Verstorbenen schützt, nicht aber unmittelbar die Integrität des Leichnams. Entsprechendes gilt für die Vorschrift des § 130 StGB, insbesondere Abs. 3, in dem die sogenannte Auschwitz-Lüge erfasst wird, da hier der Schutz des öffentlichen Friedens im Vordergrund steht.

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troffenen Rechtsgüter lässt sich nun aber nur dann plausibel machen, wenn zum einen eine substanzielle Differenz zwischen den beiden Rechtsgütern besteht; das ist indes selbstverständlich schon deshalb der Fall, weil das eine Rechtsgut einen lebenden Menschen, das andere dagegen einen toten Menschen voraussetzt. Zum anderen bedarf es aber für die unterschiedliche Bewertung der Rechtsgüter auch einer klaren Grenze dafür, wann das Rechtsgut Leben (noch) gegeben ist und wann man es lediglich mit dem Rechtsgut der Totenruhe zu tun hat. Denn ohne eine solche klare Grenze, d.h. bei einem gleitenden Übergang vom Rechtsgut Leben zu dem der Totenruhe, müsste insbesondere auch mit einem gleitenden Übergang der Strafhöhe gerechnet werden. Es liegt auf der Hand, dass eine solche klare Trennung zwischen den geschützten Rechtsgütern eine auch begriffliche Zäsur erfordert, die herkömmlich durch den sogenannten Todesbegriff hergestellt wird. Nur wenn ein klarer Todesbegriff feststeht, kann man sagen, dass lebensbeendende Maßnahmen als Tötung mit hoher Strafe bedroht sind, eben deshalb, weil sie lebensbeendend wirken, während Verhaltensweisen nach dem Lebensende, die (nur) gegen den Leichnam gerichtet sind, allenfalls dann (relativ milde) Strafe verdienen, wenn und weil sie die Totenruhe stören, jedenfalls aber nicht mehr deshalb strafbar sind, weil sie das Leben eines Menschen beenden. 2. Rechtliche Grenzziehung Eine solche begriffliche Zäsur zwischen Leben und Nicht-mehr-Leben hat allerdings etwas Gewaltsames, wie jeder klare Begriff etwas Gewaltsames hat, weil er eine (möglichst scharfe) Grenze zieht zwischen dem, was von dem Begriff noch erfasst wird, und dem, was von ihm nicht mehr erfasst wird; und dies, obwohl die der Grenzziehung zugrunde liegenden tatsächlichen Umstände jene scharfe Grenzziehung nicht immer auch in derselben Weise klar abbilden. So wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Übergang vom Leben zum Tod oftmals ein prozesshaftes Geschehen ist, das sich kaum durch eine deutlich abgrenzbare Zäsur kennzeichnen lässt. Dies ändert aber nichts daran, dass das Recht entscheiden muss, ob ein Mensch (noch) lebt und daher von §§ 211 ff. StGB strafrechtlich geschützt ist, oder ob er nicht mehr lebt und daher allenfalls noch (indirekt) von § 168 StGB geschützt wird.2 Man mag daher – etwa in Anlehnung an Foucault – dem Recht zwar insgesamt den Vorwurf nicht ersparen, stets ein Ausdruck von Gewaltanwendung zu sein, eben indem es Entscheidungen fällt, respektive die Kriterien für diese Entscheidungen zur Verfügung stellt. Man sollte sich aber auch darüber im Klaren sein, dass dann, wenn es schon im Begriff des Rechts erfasst ist, dass bei seiner Anwendung gewaltsam agiert wird, die Gewaltsamkeit bei der Entscheidung zur Frage des Übergangs vom noch garantierten (strafrechtlichen) Lebensschutz zu dessen Beendigung jedenfalls nicht in prinzipieller Hinsicht über

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Ähnliche Überlegungen gelten auch im Zivilrecht, da z.B. klar sein muss, ob der Erbfall nun eingetreten ist oder nicht.

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diese dem Recht stets immanente Gewaltsamkeit hinausgeht. Denn zu entscheiden ist nun einmal die ureigenste Aufgabe des Rechts. Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass das Recht die Kriterien für das Ende des Lebens einfach willkürlich bestimmen dürfte. Zwar wäre es rein theoretisch denkbar, die Beendigung des Lebens gesetzlich auf den Zeitpunkt der Vollendung z.B. des 65. oder 100. Lebensjahres festzulegen und damit zugleich den strafrechtlichen Lebensrechtsschutz aus § 211 ff. StGB zu beenden, indem man alle Menschen nach Erreichung dieses Lebensalters für tot erklärt.3 Darin läge aber ersichtlich eine rechtliche Regelung, die nichts mehr mit zentralen ethischen Vorstellungen unserer Gesellschaft zu tun hätte und daher der sittlichen Verankerung in der Gesellschaft entbehrte, weil der Übergang vom Leben zum Tod nichts mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters zu tun hat, sondern mit anderen (im Folgenden noch näher zu erörternden) natürlichen, biologischen Gegebenheiten. Ebenso wäre es theoretisch denkbar, das Lebensende gesetzlich erst weit über den Tod im herkömmlichen Sinn hinaus auf einen Zeitpunkt, z.B. zwei Jahre nach dem Absterben aller Zellen des Verstorbenen, zu verlegen und zumindest bestimmte Formen eines näher zu beschreibenden Umgangs mit dem verbliebenen Körper damit (auch noch) als Tötung zu qualifizieren und dementsprechend zu bestrafen. Dass solche Überlegungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, wird deutlich, wenn man jene Beschreibungen von Naturvölkern in Erwägung zieht, die ihre Angehörigen nach deren (biologischem) Tod weiterhin als ‚anwesend‘ betrachten und mit ihnen ‚kommunizieren‘.4 3. Recht als Schutz der Freiheit Soll das Recht jedoch nicht in dem soeben skizzierten Sinne willkürlich agieren, aber gleichwohl eine möglichst klare Grenze ziehen, dann muss es sich an den biologischen Gegebenheiten zumindest orientieren. Es hat bei der begrifflichen Ab- und Eingrenzung dieser biologischen Gegebenheiten gleichwohl gewissermaßen sein eigenes ‚Recht‘, indem es – ähnlich wie bei einer Realdefinition – auf den mit ihm verfolgten Sinn und Zweck Rücksicht nehmen darf und muss. Allerdings ist diese Ausrichtung der rechtlichen Grenzziehung auf Zweckmäßigkeit 3

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In mancher Hinsicht kommt einem solchen Vorgehen das angebliche (vormalige) Verhalten bestimmter Inuitgruppen nahe, wenn diese ihre alten Angehörigen auf einer ins Meer treibenden Eisscholle platzierten und sie so dem Tod überantworteten. Wobei allerdings viel dafür spricht, dass dies wohl eher selten so praktiziert wurde; vgl. dazu Kjellström (1974/75). – Allgemein zum Senizid (Altentötung) vgl. auch Elwert (1994), S. 270ff., Prinz (2010), S. 131. Vgl. etwa Prinz (2010), S. 131: „In Madagaskar wird einmal im Jahr das Fest der ‚Umwendung des Toten‘ (Famadihana) begangen, bei dem die Toten der Familie aus dem Familiengrab geholt, in Matten gewickelt und in freudiger Prozession zum Wohnhaus der Familie getragen werden. Dann wird drei Tage […] gefeiert, wobei die Leichen der Verstorbenen, schön eingewickelt, von einem Ehrenplatz im Wohnzimmer aus das Treiben beobachten fen.“ Zur Vorstellung von ‚lebenden Leichnamen‘ und ‚Untoten‘ vgl. auch Prinz (2010) und Schott (2007); allgemein zum Glauben an eine Fortexistenz nach dem Tode vgl. Frenschkowski (2010).

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nicht einfach auf irgendwelche beliebigen (externen) Zwecke erweiterbar (etwa den, möglichst viele Organe für die Transplantation zu gewinnen),5 sondern nur auf den zentralen Zweck des Rechts, der sich daraus herleitet, wozu Recht überhaupt da ist: Es steht für den Schutz der gleichen Freiheit aller Individuen in einer Gesellschaft vor der Freiheitsausübung der jeweils anderen Gesellschaftsmitglieder, 6 d.h. der wechselseitigen Freiheitsbegrenzung aller gegenüber allen. Vornehmster und eigentlicher Zweck des Rechts ist demnach Freiheitsschutz.7 Die Verfolgung dieses Zwecks ist aber nur dort denkbar und sinnvoll, wo überhaupt die Möglichkeit zur Freiheitsausübung besteht. Wo keine Freiheitsausübung mehr möglich ist, ist umgekehrt die Zuschreibung eines Freiheitsrechts sinnlos und daher auch entbehrlich. Diese These setzt keinen ‚Freiheitsbeweis‘ in dem Sinne voraus, dass (naturwissenschaftlich) zunächst erwiesen sein müsse, dass der Mensch ‚frei‘ sei, bevor man ihn als frei behandeln könne. Sie fordert lediglich, dass dort, wo (Entscheidungs-)Freiheit vorausgesetzt wird, diese auch (durch das Recht) zu schützen ist. Verzichtet man auf die Annahme, (Entscheidungs-)Freiheit sei möglich, ist auch die Institution des Rechts obsolet, ebenso wie die Aufstellung von Pflichten sinn- und zwecklos ist, wenn man nicht die Freiheit zu ihrer Erfüllung voraussetzt.8 Deshalb kann es bei der zu schützenden Freiheit nur um Handlungs- (und Unterlassungs-)Freiheit gehen. Diese muss sich allerdings nicht notwendig auf äußere Handlungen beziehen, sondern kann auch ‚innere Handlungen‘ betreffen, wie insbesondere das Denken. Selbst wer körperlich vollständig gelähmt ist und keinen Kontakt mehr zur Außenwelt aufnehmen kann, kann unter Umständen noch über seine ‚Denkbewegungen‘ entscheiden. 9 Dabei will ich hier gar nicht die schwierige Frage klären, ob er oder sie sich überhaupt willentlich entscheiden kann, (an Bestimmtes) zu denken, oder ob dies lediglich mit einem geschieht. Wer immer jedoch den Eindruck hat, man könne sein Denken einem Gegenstand zuwenden oder es von ihm abwenden, muss immer schon voraussetzen, dass hier etwas freiwillig vorgenommen wird, weil andernfalls gar nicht gehandelt würde, sondern sich nur etwas ereignete.

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Dann wäre allerdings für die Todesdefinition eine Altersangabe deutlich vor dem biologischen Tod vorzugswürdig. Vom Schutz der Gesellschaftsmitglieder vor solchen Personen, die nicht der betreffenden Gesellschaft angehören, sei hier einmal abgesehen, zumal man fragen kann, ob gegenüber diesen ein Rechtsverhältnis im engeren Sinne überhaupt besteht. Kant hat dies so formuliert: „Das angeborne Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ (Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 6, S. 237). Ultra posse nemo obligatur. Vgl. zum Zusammenhang dieses Satzes mit dem Problem der Willensfreiheit im Kontext strafrechtlicher Verantwortlichkeit auch Joerden (2011b), S. 286f.; Wittwer (2011). Dafür sprechen zumindest Beobachtungen der Gehirntätigkeit mittels Computertomographie bei Patienten mit locked-in-Syndrom. Vgl. Tamburrini (2012).

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4. Gehirnaktivität als Lebenszeichen Wenn man daher einmal davon ausgeht, dass zumindest im rechtlichen Kontext so etwas wie menschliche Entscheidungsfreiheit vorauszusetzen ist und es dem Recht gerade um den Schutz dieser Entscheidungsfreiheit geht und gehen muss, dann wird klar, dass hierfür ein biologisches Substrat vorhanden sein muss, in dem freie Entscheidungen mit Handlungswirksamkeit (im weitesten Sinne) vollzogen werden können.10 Betrachtet man den menschlichen Körper daraufhin, wo ein biologisches Substrat, in dem solche Entscheidungen stattfinden, sein könnte, so kommt dafür nur das Gehirn in Frage. Denn man kann sich den Ausfall eines jeden Körperteils vorstellen, ohne dass es dadurch zur kompletten Einbuße der (Entscheidungs-)Freiheit käme: Auch wer vollständig gelähmt ist, kann noch denken. Umgekehrt ist bei (vollständigem) Ausfall des Gehirns sicher keine Freiheit zur Entscheidung mehr gegeben. Dem entspricht, dass jeder zur Not auf ein Organ verzichten würde (solange seine Lebensfähigkeit durch die Transplantation eines Ersatzorgans gewährleistet würde), nicht aber auf sein Gehirn. Denn damit endete seine Entscheidungsfreiheit, und zwar selbst dann, wenn man ihm ersatzweise das Gehirn einer anderen Person transplantierte, weil dann diese Person künftig die Entscheidungen träfe und jedenfalls nicht mehr die bisherige. Wenn demnach mit dem Gehirn dasjenige (biologische) Substrat gefunden ist, in dem sich – falls man sie als möglich voraussetzt – die freie Entscheidung abspielt, dann wird auch die besondere Schutzwürdigkeit des Gehirns plausibel und damit auch das Kriterium für deren Grenzen: Diese Schutzwürdigkeit endet mit dem Ausbleiben jedweder Gehirnaktivität, weil damit das Substrat für eine (mögliche) freie Entscheidung wegfällt. Solange dagegen noch die biologischen Voraussetzungen für das Fließen von Gehirnströmen gegeben sind, sollte man zumindest aus tutioristischen (also von der Vorsicht geleiteten) Gründen davon ausgehen, dass wenigstens rudimentär noch die Möglichkeit zum Denken und damit von Freiheitsausübung gegeben sein könnte. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird man nie genau wissen, doch gebietet es der hohe Wert des Rechtsgutes Leben, hier nicht verfrüht (etwa schon mit Ausfall des Bewusstseins) das Leben und damit den Lebensrechtsschutz für beendet zu erklären. 5. Zum Gesamthirntodkriterium Dem entspricht die zumindest im Strafrecht herrschende Auffassung,11 den Gesamthirntod (d.h. den Ausfall des Gehirns inkl. Hirnstamm) als maßgebliches To10 Auch muss hier offen bleiben, wie sich die Freiheit in diesem biologischen Substrat ‚manifestiert‘. Das ist auch letztlich gar nicht die hier zu stellende Frage, weil die Voraussetzung von Freiheit (wie oben kurz erläutert) nur durch die normative Perspektive gefordert wird, die man notwendig einnehmen muss, wenn man menschliches Verhalten durch Pflichten steuern will. 11 Vgl. etwa Lackner/Kühl (2011), vor § 211 Rdn. 4 mit weiteren Nachweisen; kritisch zu dieser Position allerdings z.B. Wolf (1999). Aus philosophisch-ethischer Perspektive eingehend zur

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deskriterium zu bestimmen und nicht etwa den gegebenenfalls schon vorher eintretenden Ausfall (nur) des Großhirns für entscheidend zu halten.12 Zwar endet mit Ausfall des Großhirns die Möglichkeit zur Kommunikation mit der Außenwelt definitiv, doch kann nicht mit der notwendigen Sicherheit gesagt werden, dass in den verbleibenden Teilen des Gehirns nicht doch noch Denkbewegungen im weitesten Sinne stattfinden. Natürlich bedarf es für die Feststellung des sogenannten Gesamthirntodes genauer naturwissenschaftlich-medizinischer Messmethoden dafür, ob nach menschlichem Ermessen der Gesamthirntod auch tatsächlich eingetreten ist.13 Ob dies immer gewährleistet ist, ist eine Frage, die an die medizinische Wissenschaft zu stellen ist und jedenfalls nicht von einer normativen Wissenschaft wie dem Recht beantwortet werden kann, die diese Möglichkeit vielmehr als gegeben voraussetzen muss.14 Sollte sich herausstellen, dass eine solche Möglichkeit zur sicheren Feststellung des Gesamthirntodes nicht existiert, müsste das Gesamthirntodkriterium allerdings aufgegeben werden. Bezieht man mithin das Todeskriterium – man kann auch sagen: den Begriff des Todes – auf den Zweck des Rechts, Freiheitsausübung zu schützen, dann lässt sich das Kriterium des Gesamthirntodes durchaus plausibel machen. Damit ist aber auch klargestellt, dass dieses Kriterium nicht etwa abhängig ist von dem Zweck, transplantierbare Organe zu gewinnen.15 Dies wäre allerdings ein Zweck der reinen Interessenverrechnung, der in keinem Fall geeignet wäre, deswegen den Lebensrechtsschutz zu einem Zeitpunkt zu beenden, zu dem das Leben eigentlich noch andauern würde.16 Hat man das Todeskriterium aber von diesem Odium befreit, kann es unvoreingenommen diskutiert und gegebenenfalls akzeptiert werden. Mit der Fixierung des Endes des Lebensrechtsschutzes auf den Eintritt des Gesamthirntodes ist auch klargestellt, dass Eingriffe, die den Eintritt dieses Ereignisses zeitlich ‚nach vorn‘ ziehen, als Lebenszeitverkürzung und damit als strafbare Tötung (Totschlag, Mord, Tötung auf Verlangen etc.) angesehen werden müssen. Eingriffe nach dieser Zäsur sind deshalb, auch dann, wenn dabei an sich lebenswichtige Organe (wie insbesondere das Herz) entnommen werden, keine Tötungen; hier kann es allenfalls noch um den Schutz der Totenruhe und des Andenkens Verstorbener, also um (gegebenenfalls strafrechtlich bewehrte) Pietäts-

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Problematik und mit gegenüber dem Hirntodkriterium kritischer Tendenz Stoecker (2010) und (2011b). Zu Vorschlägen für eine entsprechende Vorverlegung des Todeszeitpunkts für das Strafrecht vgl. z.B. Dencker (1992) und dazu Joerden (1993). Vgl. zu den medizinischen und technischen Voraussetzungen der Hirntodfeststellung etwa Russegger (1999) sowie Oduncu (2011), jeweils mit weiteren Nachweisen. In rechtlicher Hinsicht kann es allerdings durchaus um die Normierung angemessener medizinischer Standards zur Feststellung des Hirntodes gehen, die bisher etwa in Europa keineswegs einheitlich sind; vgl. Joerden (2007), S. 132f. Das war ja auch historisch betrachtet nicht etwa das alleinige Ziel der Hirntod-Konzeption, sondern es ging auch um die Feststellung des Zeitpunktes, zu dem ein Abschalten technischer Apparate zur Funktionserhaltung des menschliches Körpers ethisch und rechtlich zulässig erscheint; vgl. Hoff/in der Schmitten (1994), S. 157, mit weiteren Nachweisen. Das wäre im Lichte der neuesten Rechtsprechung des BVerfG zu § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz a.F. zudem auch verfassungswidrig; vgl. BVerfGE NJW (2006), S. 751ff.

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pflichten gehen. Dass man gleichwohl die Entnahme von Organen zumindest in Deutschland17 von der vorangehenden Einwilligung (oder der von den Angehörigen gemutmaßten Einwilligung) des Spenders abhängig macht, lässt sich demnach jedenfalls nicht mehr als Ausdruck des Lebensrechtsschutzes interpretieren. Denn ein solches Argument ginge im Hinblick auf die Regelung des § 216 StGB, die sogar bei ausdrücklichem und ernstlichem Verlangen des Opfers die „Tötung auf Verlangen“ für rechtswidrig erklärt, offenkundig fehl. Vielmehr geht es hier um ein angemessenes Fortwirken eines Persönlichkeitsrechts, das es umfasst, mit darüber zu bestimmen, was mit dem eigenen Körper nach dem Tode geschieht – ähnlich wie bei einem Testament über das eigene Vermögen. 6. Zu anderen Ansätzen Es gibt – oder besser gesagt: es gab, weil das Gesetz inzwischen geändert wurde18 – in Japan einen in diesem Zusammenhang interessanten Ansatz in der Gesetzgebung, wonach die jeweilige Person selbst darüber entscheiden konnte, welcher Todesbegriff auf sie zutreffen solle; verkürzt beschrieben: durch entsprechende letztwillige Verfügung konnte festgestellt werden, dass man sich für tot erkläre, wenn der Gehirntod eintreten würde. Man konnte aber auch den eigenen Tod von dem Eintritt des Endes des vollständigen Organismusversagens oder aller Zellfunktionen abhängig machen. Diese auf den ersten Blick das Problem eines ‚allgemein verbindlichen‘ Todeskriteriums vermeidende Lösung ist jedoch nur scheinbar eine Lösung. Sie mag für den Kontext der Transplantation von lebenswichtigen Organen individuelle Klarheit bringen und läuft damit im Grunde auf die individuelle Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung zu solchen Transplantationen – im Übrigen im Ergebnis ähnlich wie in Deutschland – hinaus, löst aber nicht wirklich die grundsätzliche Problematik, ab wann denn nun ein Mensch nicht mehr getötet werden und dementsprechend auch kein Tötungsdelikt mehr vorliegen kann. Denn die Regelung bezog sich nur auf den Kontext der Transplantationsmedizin. Will man das hier favorisierte Gesamthirn-Kriterium als Todeskriterium weiter absichern, so kann man über die obige Argumentation hinaus noch darauf hinweisen, dass andere Konzeptionen auf argumentativ kaum lösbare Probleme stoßen. Insbesondere die These, der Tod und damit das Ende des Lebensrechtsschutzes trete erst dann ein, wenn alle Zellen des betreffenden Menschen aufgehört haben zu existieren, ist in ihren Konsequenzen kaum schlüssig aufrecht zu erhalten. Und zwar wäre bei Zugrundelegung einer solchen (oder auch einer zeitlich davorliegenden)19 Zäsur nicht verständlich zu machen, weshalb dann nicht gerade alles dafür zu tun wäre, zumindest funktionsfähige Teile des (hirntoten) Körpers – etwa das Herz – in einen anderen Körper zu verpflanzen, um auf diese 17 Beispielsweise in Österreich gilt demgegenüber die sogenannte Widerspruchslösung. 18 Vgl. Kawaguchi (2011). 19 Etwa der Ausfall des ‚Organisationszusammenhanges‘ des Körpers o.ä.

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Weise den – ja per definitionem noch nicht Verstorbenen – möglichst lange am Leben zu erhalten. Ein solches Vorgehen wäre nur konsequent, wenngleich man sich damit die eher kontraintuitive Annahme einhandeln würde, dass nicht nur derjenige weiterlebt (und vollen Lebensrechtsschutz genießt), der Empfänger des transplantierten Herzens ist, sondern auch der Spender dieses Herzens, da er ja mangels vollständigen Zelltodes noch nicht verstorben wäre. Vollends problematisch würde diese Konzeption dann, wenn man nun auf diese ‚beiden Personen‘ die Tötungsdelikte in Anwendung bringen wollte (‚Doppelmord‘ bei Tötung des Organempfängers?). 7. Emotionale Probleme mit der Hirntodkonzeption und ein Verfahrensvorschlag Akzeptiert man einmal das Gesamthirntod-Kriterium als maßgebende Zäsur für das Lebensende und damit den Lebensrechtsschutz, so bleiben doch gleichwohl nicht in Abrede zu stellende emotionale Widerstände und Bedenken, die nicht nur nach den Thesen der Verfechter eines späteren Zeitpunktes für den Todeseintritt, sondern vor allem auch in der Praxis bei Angehörigen und Pfleger/innen von Hirntoten gegeben sind. Spricht doch der äußere Anschein bei Hirntoten, deren Atmung und Kreislauf von entsprechenden technischen Apparaturen aufrecht erhalten werden, eher dafür, dass diese noch lebendig, wenn auch bewusstlos sind:20 Die Haut ist rosig und durchblutet, der Körper atmet, es finden Haar- und Nagelwachstum sowie Stoffwechselvorgänge statt, gelegentlich auch Bewegungen der Gliedmaßen; eine hirntote Frau ist sogar in der Lage, ein Kind auszutragen21 etc. Dies alles macht deutlich, dass es emotional außerordentlich schwer ist, einen ‚nur‘ Hirntoten für tot zu halten, selbst wenn die besten theoretischen Gründe dafür sprechen mögen. Doch kann dies letztlich nicht dafür entscheidend sein, wie man den Zeitpunkt des Endes des Lebensrechtsschutzes festlegt. Denn, „[O]b ein Mensch lebt oder tot ist, kann nicht davon abhängen, ob andere ihn als lebendig oder tot sehen oder sehen wollen.“22 Das führt indes nicht daran vorbei, dass man diese emotionale Situation der Angehörigen auch bei den maßgeblichen rechtlichen Regelungen angemessen berücksichtigen muss.23 Denn bei der Explantation zum Zwecke der Organübertragung sind die Angehörigen oftmals schlicht emotional überfordert, unter dem Eindruck einer solchen Situation überhaupt eine Entscheidung über die Organent20 Vgl. auch Stoecker (2011a), S. 106, mit weiteren Nachweisen. 21 Zum Fall des sogenannten Erlanger Babys aus strafrechtlicher Sicht näher Hilgendorf (1993). 22 Birnbacher (1994), S. 38; das Hirntodkriterium (pragmatisch) verteidigend auch Birnbacher (2007). 23 Ich bin angesichts der kaum noch überschaubaren Literatur zu dem Thema nicht sicher, ob die nachfolgenden Vorschläge früher schon einmal von anderen Autoren entwickelt wurden. Mir ist dazu nichts bekannt, aber ich reklamiere vorsorglich auch kein ‚Erstgeburtsrecht‘ für diese Thesen. – Kliemt (2011), S. 466, schlägt übrigens vor, den Angehörigen im Rahmen einer eventuellen Widerspruchslösung akzeptanzfördernde Anreize wie die Übernahme der Beerdigungskosten bei Organentnahme zu bieten.

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nahme zu treffen, die aber andererseits möglichst schnell getroffen werden muss, um das Organ noch transplantierbar zu halten. Dem sollte meines Erachtens auch das Recht angemessen Rechnung tragen. Zwar sollte es grundsätzlich dabei bleiben, wie es de facto (nicht unbedingt aber auch de iure erforderlich) in der Regel in Deutschland praktiziert wird, dass den nächsten Angehörigen ein Vetorecht eingeräumt wird, selbst dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten seine Einwilligung in die postmortale Organentnahme erklärt hat. Im Übrigen aber sollte die Berechtigung zur Organentnahme sich nur auf eine explizite Einwilligungserklärung des Organspenders stützen dürfen.24 Die in Deutschland bisher geltende ‚erweiterte Zustimmungslösung‘ wäre demnach auf eine ‚Zustimmungslösung mit Vetorecht der nächsten Angehörigen‘ einzuschränken, um den Angehörigen die emotionale Bürde einer positiven Entscheidung zu nehmen. Der Einwand, der gegen eine solche Lösung erhoben werden dürfte, liegt auf der Hand: Es würden voraussichtlich noch weniger Organe zur Transplantation zur Verfügung stehen. Dabei erscheint es zudem auch nicht sehr wahrscheinlich, dass eine gegebenenfalls flankierend eingeführte ‚Erklärungslösung‘, bei der z.B. mit jeder Passausstellung um eine Stellungnahme zu einer eventuellen Organspende nach dem Tode ersucht wird, mehr Organspenden generieren würde. Denn man wird schon aus verfassungsrechtlichen Gründen (Menschenwürde) auch die Möglichkeit offen halten müssen, ‚die Aussage zu verweigern‘; und für diese Möglichkeit werden sich vermutlich relativ viele Personen entscheiden. Diese Probleme bringen aber nur (indirekt) zum Ausdruck, dass die Organspende (auch post mortem sowie die zu Lebzeiten erklärte Bereitschaft zu ihr) eine altruistische, supererogatorische (über die Pflicht hinausreichende) Handlung ist, die nicht erzwungen werden sollte, aber eine Belohnung verdient. Bloße Dankbarkeit des Organempfängers mag dazu als Motivation für viele unzureichend sein, zumal diese Dankbarkeit von dem toten Organspender nicht mehr erlebt wird. Darin zeigt sich, dass die Stimulierung von Spendenbereitschaft eine gesellschaftliche Aufgabe ist, für deren Erfüllung man auch über ein pekuniäres Anreizsystem nachdenken sollte. So könnte man ein System der Entlastung von Abgaben (z.B. Krankenkassenbeiträge) und/oder von Steuern25 in Erwägung ziehen, das denjenigen zugutekäme, die ihre Bereitschaft zur postmortalen Organspende erklären (und aus physischen Gründen dafür in Betracht kommen). Dabei müsste ein jederzeitiger ‚Ausstieg‘ möglich sein, allerdings unter Rückerstattung der bereits zugeflossenen, respektive durch Steuerabschreibung ersparten Mittel. Eine entsprechende Konsequenz hätte bei der Einlegung eines Vetos durch die nächsten Angehörigen zu erfolgen (wobei man darüber nachdenken sollte, ob man daher nur erbberechtigten Angehörigen ein Vetorecht einräumen sollte). 24 Insofern im Ergebnis ähnlich Wolf (1999), allerdings hinsichtlich des Todeszeitpunkts mit anderer Ausgangsthese (noch kein Tod bei Eintritt des Gesamthirntodes), wodurch ein Spannungsverhältnis zu § 216 StGB entsteht. 25 Hierbei muss allerdings immer beachtet werden, dass es letztlich nicht sein kann, dass die Abzugsmöglichkeit dazu führt, dass die Bereitschaft reicher Bürger zur Organspende höher belohnt wird als die armer Bürger.

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Man mag gegen dieses Modell einwenden, dass damit eine bestimmte Form des Organhandels eingeführt würde. Mir erscheint dieser Einwand indes nicht sehr stichhaltig zu sein, 26 weil eben kein „freier Organmarkt“ etabliert würde, sondern nur der Staat, oder – ähnlich wie bei der Blutspende – von ihm autorisierte Hilfsorganisationen, die Spendenbereitschaft durch von vornherein festgelegte Geldbeträge unterstützt. Dabei könnte man zudem an eine (begrenzte) Rückforderung der dem Staat entstandenen Kosten von den Organempfängern, respektive deren Versicherungen, denken. 8. Ausblick Der soeben skizzierte Vorschlag für eine Änderung der Rechtslage zur Ermöglichung und Förderung von Organspenden nach dem Tode ist nur ein Beispiel für ‚flankierende‘ gesetzliche Maßnahmen, die dazu dienen könnten, die harte, aber – wie mir scheint – unvermeidliche Zäsur durch den Gesamthirntod als dem entscheidenden Kriterium für das Ende des strafrechtlichen Lebensrechtsschutzes in der Praxis ‚erträglicher‘ zu machen. Doch auch in anderen Hinsichten bedarf es einer Weiterentwicklung des strafrechtlichen Rahmens beim Schutz von Leben und Würde am Lebensende. Wie bei der Organspende sollten dabei – soweit ermittelbar – der Wille des Betroffenen und dessen Achtung noch stärker angemessene Berücksichtigung finden. Wichtige aktuelle Schritte in diese Richtung sind hier die mit Wirkung vom 1. September 2009 erfolgte rechtliche Festschreibung der Möglichkeiten zu einer wirksamen Patientenverfügung in §§ 1901 a ff. BGB sowie die Lockerung des Verbots der sogenannten aktiven Sterbehilfe in manchen Fällen durch die neueste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wenngleich hier eine gesetzliche Regelung schon aus Gründen der Beachtung der Gewaltenteilung den Vorzug vor einer lediglich richterlichen Rechtsfortbildung verdient hätte.27 Literatur Birnbacher, Dieter: Einige Gründe, das Hirntodkriterium zu akzeptieren. In: Johannes Hoff/Jürgen in der Schmitten (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 28–40. Birnbacher, Dieter: Der Hirntod – eine pragmatische Verteidigung. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 15 (2007), S. 459–477. Dencker, Friedrich: Zum Erfolg der Tötungsdelikte. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 12 (1992), S. 311–315.

26 Einmal ganz davon abgesehen, dass das vom Recht weitgehend aufrecht erhaltene Tabu des Organhandels ohnehin auf unsicheren ethischen Füßen steht; vgl. dazu Joerden (2003), S. 179ff. 27 Näheres dazu bei Joerden (2011a) sowie Uhlig/Joerden (2011), jeweils mit weiteren Nachweisen.

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Elwert, Georg: Altern im interkulturellen Vergleich. In: Paul B. Baltes/Jürgen Mittelstraß/Ursula M. Staudiger (Hrsg.): Alter und Altern: Ein interdisziplinärer Studientext zur Gerontologie. Berlin, Walter de Gruyter, 1994, S. 260–282. Frenschkowski, Marco: Glaube an eine Fortexistenz nach dem Tod. In: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2011, S. 203–214. Hilgendorf, Eric: Zwischen Humanexperiment und Rettung ungeborenen Lebens – Der Erlanger Schwangerschaftsfall. In: Juristische Schulung 33 (1993), S. 97–103. Hoff, Johannes/in der Schmitten, Jürgen: Kritik der „Hirntod-Konzeption“. In: Dies. (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1994, S. 153–252. Joerden, Jan C.: Tod schon bei „alsbaldigem“ Eintritt des Hirntodes? In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 13 (1993), S. 268–271. Joerden, Jan C.: Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts. Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 2003. Joerden, Jan C.: Rechtliche und ethische Aspekte des Todesbegriffs. In: Dominik Groß/Andrea Esser/Hubert Knoblauch/Brigitte Tag (Hrsg.): Tod und toter Körper. Der Umgang mit dem Tod und der menschlichen Leiche am Beispiel der klinischen Obduktion. Kassel, Kassel University Press, 2007, S. 127–134. Joerden, Jan C.: Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe und der Knobe-Effekt. In: Manfred Heinrich/Christian Jäger/Hans Achenbach/Knut Amelung/Wilfried Bottke/Bernhard Haffke/Bernd Schünemann/Jürgen Walter (Hrsg.): Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag. Berlin, Walter de Gruyter, 2011 (= 2011a), S. 593–607. Joerden, Jan C.: Strafe. In: Ralf Stoecker/Christian Neuhäuser/Marie-Luise Raters (Hrsg.): Handbuch Angewandte Ethik. Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2011 (= 2011b), S. 283–290. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten (1797), hier zitiert nach der Akademie-Textausgabe, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u.a. Berlin, Walter de Gruyter, ab 1900, Bd. 6, S. 203–494. Kawaguchi, Hirokazu: Beginn und Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes in Japan. In: Jan C. Joerden/Andrzej J. Szwarc/Keiichi Yamanaka (Hrsg.): Das vierte deutschjapanisch-polnische Strafrechtskolloquium der Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung. Posen, Wydawnictwo Poznanskie, 2011, S. 152–164. Kjellström, Rolf: Senilicide and Invalidicide among the Eskimos. In: Folk: Dansk etnografisk tidsskrift 16/17 (1974/75), S. 117–124. Kliemt, Hartmut: Transplantationsmedizin. In: Ralf Stoecker/Christian Neuhäuser/MarieLuise Raters (Hrsg.): Handbuch Angewandte Ethik. Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2011, S. 463–467. Lackner, Karl/Kühl, Kristian: StGB, Kommentar. 27München, Beck, 2011. Oduncu, Fuat: Hirntod – medizinisch. In: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2011, S. 98–103. Prinz, Armin: Leiche – ethnologisch. In: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hrsg.): Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar, J. B. Metzler, 2011, S. 129–132. Russegger, Lothar: Der Hirntod als Universaltod – eine medizinisch-ethische Gratwanderung. In: Jan C. Joerden (Hrsg.): Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin. Bloß ein Mittel zum Zweck? Heidelberg, Springer, 1999, S. 283–288.

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Leitlinien zur palliativen Sedierungstherapie als Beitrag zur Sterbekultur Eine systematische Auswertung unter besonderer Berücksichtigung ethischer und kommunikativer Herausforderungen am Lebensende1 Eva Schildmann, Jan Schildmann 1. Hintergrund Die Mehrheit der Menschen in Deutschland stirbt nicht plötzlich und unerwartet. Empirische Untersuchungen wie die in sechs Europäischen Ländern durchgeführte EURELD-Studie2 belegen vielmehr, dass Ärzte und Patienten diesbezüglich vor schwierigen Entscheidungen hinsichtlich des Umgangs mit den zur Verfügung stehenden medizinisch-technischen Möglichkeiten stehen. Die Gestaltungsmöglichkeiten am Lebensende haben sich nicht zuletzt durch den Auf- und Ausbau der Palliativmedizin in Deutschland deutlich verbessert. Ein prominentes Beispiel für den Beitrag der Palliativmedizin zur Verbesserung der letzten Lebensphase ist die Entwicklung der palliativen Sedierungstherapie (PST). Die Indikation zur PST in der letzten Lebensphase wird in der Regel bei Symptomen beziehungsweise Krankheitszuständen gestellt, die durch keine andere medizinische Maßnahme kontrolliert werden können. 3 In der aktuellen Leitlinie der European Association for Palliative Care wird PST definiert als der „überwachte Einsatz von Medikamenten mit dem Ziel einer verminderten oder aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit), um die Symptomlast in anderweitig therapierefraktären Situationen in einer für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter ethisch akzeptablen Weise zu reduzieren“.4 Der in der Literatur ebenfalls häufig verwendete Begriff ‚terminale Sedierung‘ impliziert eine kontinuierliche Sedierung in der letzten Lebensphase bis zum Tod des Patienten.5 In Abgrenzung dazu wird mit dem Begriff der PST eine intermittierende oder kontinuierliche Behandlungsform bezeichnet, deren Indikation im Rahmen der Therapieevaluation regelmäßig überprüft werden muss. 1 2 3 4 5

Dieser Beitrag basiert auf einer überarbeiteten und erweiterten Seminararbeit der Erstautorin für den Master´s of Science Studiengang in Palliative Care am King´s College London. Van der Heide et al. (2003). De Graeff/Dean (2007). Cherny/Radbruch (2009); Übersetzung durch Alt-Epping et al. (2010). Im vorliegenden Beitrag wird aus Gründen der gebotenen Kürze und Lesbarkeit zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet. Gemeint sind stets beide Geschlechter.

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Empirische Untersuchungen zeigen, dass der Anteil der Patienten in der letzten Lebensphase, bei denen eine PST durchgeführt wird, erheblich variiert.6 Die unterschiedliche Ausführung der PST, insbesondere mit Blick auf die Sedierungstiefe (leichte versus tiefe Sedierung) und die zeitliche Ausdehnung (intermittierend versus kontinuierlich), das unterschiedliche Beschwerdeprofil der in den verschiedenen Gesundheitseinrichtungen behandelten Patienten, der Kenntnisstand sowie die Einstellungen der behandelnden Ärzte sowie kulturelle Unterschiede werden als Gründe hierfür genannt.7 Die Indikationsstellung und Entscheidungsfindung hinsichtlich der PST wirft neben klinisch-medizinischen auch ethische und kommunikative Fragestellungen auf. Im Mittelpunkt medizinethischer Analysen steht die konzeptuelle Abgrenzung und die ethische Bewertung der PST auch im Vergleich zu anderen ärztlichen Handlungen am Lebensende (z.B. Tötung auf Verlangen).8 Der Wille des Patienten und sein Recht auf Selbstbestimmung sowie die Abwägung von Nutzen und Schaden der für die Behandlung von ‚unerträglichem Leiden‘ zur Verfügung stehenden Maßnahmen sind zentral für die ethische Bewertung. Darüber hinaus ist eine genaue Erfassung der Maßnahmen, die im Kontext von PST durchgeführt werden, relevant für die medizinethische Bewertung. Eine kontinuierliche tiefe Sedierung bis zum Tod des Patienten in Verbindung mit der Begrenzung der Zuführung von Flüssigkeit und Ernährung unterscheidet sich unter ethischen Gesichtspunkten erheblich von einer zeitlich befristeten und oberflächlichen Sedierung, im Rahmen derer sowohl die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit als auch die Kommunikation wenigstens eingeschränkt möglich sind. 9 Die Umsetzung ethischer Prinzipien in der klinischen Praxis im Kontext der PST stellt weiterhin hohe Anforderungen an die kommunikativen Kompetenzen der behandelnden Ärzte und der weiteren beteiligten Gesundheitsprofessionen. Ein Beispiel hierfür ist die Aufklärung des Patienten beziehungsweise des Stellvertreters und die Gestaltung der Entscheidungsfindung. Angesichts dieser komplexen Herausforderungen ist es wenig überraschend, dass die PST Gegenstand von Leitlinien ist, die das Ziel haben, eine gute klinische Praxis gerade auch in schwierigen Situationen zu unterstützen.10 Unter Leitlinien sind in diesem Zusammenhang Anweisungen oder Empfehlungen zu verstehen, die Ärzte und die Vertreter anderer Gesundheitsberufe bei Entscheidungen über die Versorgung des Patienten unterstützen sollen. Leitlinien werden nach ihrer Entwicklung in der Regel von Institutionen (z.B. Krankenhaus) oder Organisationen (z.B. Fachgesellschaft) formal verabschiedet und veröffentlicht. Während die Mehrheit der Leitlinien klinisch-medizinische Fragestellungen zum Gegenstand hat, stellt die Entwicklung von Leitlinien für klinisch-ethische Fragestellungen einen Schwerpunkt der Arbeit in klinischen Ethikkomitees dar.11 Die Gestaltung 6 7 8 9 10 11

Fainsinger et al. (2000); Morita (2004); Sykes/Thorns (2003). De Graeff/Dean (2007); Sykes/Thorns (2003); Miccinesi et al. (2006). Raus et al. (2011). Neitzke/Frewer (2004). Cherny/Radbruch (2009). Vollmann (2010).

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der letzten Lebensphase ist häufig Gegenstand solcher klinisch-ethischer Leitlinien.12 Leitlinien zu PST enthalten neben klinisch-medizinischen Inhalten auch Empfehlungen zum Vorgehen bei ethischen und kommunikativen Problemstellungen.13 In dieser Arbeit werden PST-Leitlinien, die in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Inhalte zu ethischen und kommunikativen Herausforderungen vorgestellt und diskutiert. Im Mittelpunkt der komparativen Analyse steht zum einen der Prozess der Erstellung der Leitlinien unter besonderer Berücksichtigung ihres interdisziplinären klinisch-ethischen Charakters. Zum anderen werden die Leitlinien hinsichtlich ihrer Empfehlungen zu ethischen und kommunikativen Aspekten der Indikationsstellung und Entscheidungsfindung über die PST analysiert. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt auch mit Blick auf den möglichen Beitrag von PST-Leitlinien zur Gestaltung des Sterbens in der modernen Medizin. 2. Methoden Die Auswahl von Leitlinien zur PST erfolgte auf der Grundlage einer Literaturrecherche in den Datenbanken MEDLINE, EMBASE, PsycINFO, CINAHL und Cochrane library. Die Literaturrecherche in den Datenbanken erfasst den Zeitraum von 1950 bzw. Beginn der Datenbank bis November 2008. In Ergänzung dazu wurden die Literaturverzeichnisse der durch diese Datenbankrecherche identifizierten Artikel ausgewertet. Maßgeblich für die Entscheidung über den Ein- beziehungsweise Ausschluss einer Publikation für die weitere Auswertung waren neben vorab definierten inhaltlichen und formalen Relevanzkriterien eine englisch- oder deutschsprachige Veröffentlichung der Leitlinie, die in den genannten Datenbanken aufgeführt ist.14 Die vergleichende Auswertung der PST-Leitlinien unter methodischen Gesichtspunkten erfolgte unter Anwendung ausgewählter Kriterien des AGREE (Appraisal of guidelines for research & evaluation)-Instruments.15 Mit Hilfe dieses Instruments kann die Qualität von Leitlinien im Sinne der prädiktiven Validität, also der Wahrscheinlichkeit, dass eine Leitlinie ihr Ziel erreichen wird, bewertet werden. Das Instrument umfasst sechs Domänen, denen insgesamt 23 Kriterien zugeordnet sind. Jedes der 23 Items bezieht sich auf einen Teilaspekt der Qualität

12 Eine Übersicht über deutschsprachige klinisch-ethische Leitlinien bietet das Internetportal: Ethikberatung im Krankenhaus: http://www.ethikberatung.uni-goettingen.de/?zeige=leitlinien. php&rubrik=Leitlinien. 13 Strech/Schildmann (2011). 14 Die Ausführungen zum methodischen Vorgehen einschließlich der Auswahl relevanter Arbeiten wurden aus Platzgründen deutlich gekürzt. Informationen zum Suchalgorithmus, den Einund Ausschlusskriterien und der Auswahl der Arbeiten können bei den Autoren angefordert werden. 15 AGREE (2001).

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einer Leitlinie und ermöglicht die Bewertung auf einer Skala von 1 bis 4.16 In Ergänzung zu den vorstehend genannten methodisch relevanten Kriterien erfolgte der Vergleich der Leitlinien unter Berücksichtigung ethisch und kommunikativ relevanter Inhalte. Der Schwerpunkt der inhaltlichen Auswertung liegt hierbei auf den jeweiligen Empfehlungen zur Indikationsstellung für PST sowie der Aufklärung und Entscheidungsfindung über die Maßnahme. 3. Ergebnisse Die Datenbankrecherche führte zu insgesamt 431 Ergebnissen. Nach der Auswertung der Abstracts wurde der Volltext von 11 potentiell relevanten Artikeln detailliert untersucht. Fünf Publikationen enthalten Empfehlungen zur PST entsprechend der vorab definierten Ein- und Ausschlusskriterien.17 Die Auswertung der Literaturverzeichnisse dieser Arbeiten erbrachte keine zusätzliche relevante Arbeit. Die ausgewählten fünf Leitlinien wurden im Zeitraum zwischen 2003 und 2007 veröffentlicht. Es handelt sich im Einzelnen um eine internationale Leitlinie unter Beteiligung der European Association of Palliative Care (EAPC), zwei nationale Leitlinien aus den Niederlanden beziehungsweise Japan sowie zwei weitere Leitlinien, die auf der Ebene einzelner Gesundheitsregionen bzw. Krankenhäuser in Kanada und den Vereinigten Staaten entwickelt wurden. Entsprechend ihrer jeweiligen Herkunft werden die fünf Richtlinien in der vorliegenden Arbeit folgendermaßen bezeichnet: ‚Internationale Leitlinie‘, 18 ‚Niederländische Leitlinie‘, 19 ‚Japanische Leitlinie‘, 20 ‚Gesundheitsregionsleitlinie‘ 21 und ‚Krankenhausleitlinie‘.22 3.1 Erstellung der Leitlinien Die Erstellung sämtlicher Leitlinien erfolgte multi- bzw. interdisziplinär, wobei sich die Zusammensetzung hinsichtlich der beteiligten Professionen unterscheidet. Die Erstellung der ‚Internationalen Leitlinie‘ erfolgte ausschließlich unter Beteiligung von Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen und Pflegenden. Dagegen umfasste die Arbeitsgruppe zur Entwicklung der ‚Gesundheitsregionsleitlinie‘23 und 16 Detaillierte Informationen zum AGREE-Instrument beziehungsweise zu dem von der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) in Kooperation mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität (ÄZQ) herausgegebenen deutschsprachigen Instrument finden sich unter: www.delbi.de. 17 De Graeff/Dean M (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005). 18 De Graeff/Dean (2007). 19 Legemaate et al. (2007). 20 Morita et al. (2005). 21 Braun et al. (2003). 22 Schuman/Abrahm (2005). 23 Braun et al. (2003).

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der ‚Krankenhausleitlinie‘24 auch Pharmazeuten.25 In vier Arbeitsgruppen waren Medizinethiker26 und in zwei Fällen27 auch Juristen vertreten. Patienten wurden bei der Erstellung der Leitlinien nicht einbezogen. Die Erstellung der ‚Japanischen Leitlinie‘ erfolgte unter Einbeziehung hinterbliebener Angehöriger.28 Das methodische Vorgehen bei der Formulierung der Empfehlungen wird lediglich in der ‚Japanischen Leitlinie‘ erläutert.29 In diesem Fall wurde die DelphiMethode zur Ermittlung eines Konsenses zwischen den an der Erstellung der Leitlinie Mitwirkenden eingesetzt. Der Mangel an qualitativ hochwertigen klinischen Studien als Grundlage für Empfehlungen zum klinischen Vorgehen wird in allen ausgewerteten Leitlinien thematisiert. Allerdings werden die Kriterien für die Auswahl der den Empfehlungen zugrunde gelegten klinischen Daten in keiner Leitlinie detailliert expliziert. In Bezug auf die den Empfehlungen zu ethischen und kommunikativen Aspekten zugrunde gelegten normativen Prinzipien und empirischen Daten liegen keine Informationen vor. 3.2 Indikationsstellung und Entscheidungsfindung In Bezug auf die in den Leitlinien genannten Grundlagen für die Indikationsstellung sowie die Empfehlungen zur Aufklärung und Entscheidungsfindung bestehen neben Gemeinsamkeiten in einigen Punkten auch deutliche Unterschiede. Eine Gemeinsamkeit aller Leitlinien ist die Begrenzung der Anwendung der PST auf die Gruppe der Patienten mit einer unheilbaren Krankheit. Weiterhin wird eine kontinuierliche tiefe Sedierung übereinstimmend nur im Fall einer kurzen Lebenserwartung empfohlen, wobei die hierfür angegebenen Zeitspannen leicht divergieren.30 Die Vorgehensweise zur Bestimmung der Lebenserwartung und die damit verbundenen Herausforderungen werden lediglich in der ‚Japanischen Leitlinie‘ thematisiert.31 Als indikationsbegründende Symptome werden in den Leitlinien am häufigsten Delir oder Unruhe, Dyspnoe und Schmerzen sowie allgemeine „körperliche Symptome“ genannt. „Unerträgliches Leiden“ wird in drei Leitlinien als Indikationsgrundlage für PST genannt, 32 wobei der Begriff nur in der ‚Internationalen‘ und der ‚Japanischen Leitlinie‘ definiert wird.33 Die Indikationsstellung beziehungsweise die Prüfung der hierfür relevanten Gründe soll entsprechend der Empfehlung in drei Leitlinien unter Einbeziehung des Patienten beziehungsweise 24 25 26 27 28 29 30

Schuman/Abrahm (2005). Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005). Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005). Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). Morita et al. (2005). Morita et al. (2005). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005). 31 Morita et al. (2005). 32 De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). 33 De Graeff/Dean (2007); Morita et al. (2005).

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dessen Stellvertreter sowie der Familie und aller Mitglieder des Behandlungsteams erfolgen.34 PST im Fall von psychischem oder existenziellem Leiden wird in drei Leitlinien als außergewöhnliche Grundlage für eine Indikationsstellung angesehen.35 Detailliertere Angaben zum Vorgehen bei der Indikationsprüfung in diesen Situationen sind in den betreffenden Leitlinien nicht enthalten. Tabelle 1 (s. Anhang zu diesem Beitrag) enthält eine Übersicht der relevanten Aussagen zur Definition von und Indikationsstellung bei PST. Aufklärung und informierte Einwilligung als Voraussetzungen für die Durchführung der PST sind Gegenstand aller ausgewerteten Leitlinien. Hinsichtlich des Umfangs und des Inhalts der Ausführungen zum Vorgehen bei der Aufklärung und Entscheidungsfindung unterscheiden sich die Leitlinien. So benennen die ‚Internationale‘, ‚Niederländische‘ und ‚Japanische Leitlinie‘ konkrete Inhalte, die im Verlauf des Aufklärungsgesprächs von ärztlicher Seite angesprochen werden sollen. Beispiele hierfür sind unerwünschte Wirkungen oder auch die zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen. Diese vorstehend genannten drei Leitlinien empfehlen außerdem, die PST als eine Handlungsoption möglichst frühzeitig und – sofern möglich – direkt mit dem Patienten zu besprechen.36 In der ‚Gesundheitsregionsleitlinie‘ und der ‚Krankenhausleitlinie‘ wird als Voraussetzung für die Durchführung einer PST jeweils gefordert, dass der Patient oder dessen Stellvertreter sich gegen Maßnahmen der Wiederbelebung ausgesprochen hat.37Die drei anderen Richtlinien empfehlen, Entscheidungen über die Wiederbelebung mit dem Patienten beziehungsweise dessen Stellvertreter separat zu erörtern.38 Die zuletzt genannten Leitlinien empfehlen weiterhin, Entscheidungen über die Durchführung beziehungsweise Begrenzung anderer lebenserhaltender Maßnahmen, insbesondere die Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung intravenös und/oder über eine Sonde unabhängig von der Entscheidung für PST zu diskutieren. In Bezug auf die Gestaltung der Entscheidungsfindung fordern drei Leitlinien neben der Berücksichtigung des Patientenwillens auch einen Konsens zwischen der Familie beziehungsweise den Nächsten des Patienten sowie den Mitgliedern des Behandlungsteams.39 Mit Ausnahme der ‚Gesundheitsregionsleitlinie‘ wird in allen Dokumenten auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen Überprüfung der Indikation zur PST verwiesen.40 Zwei Richtlinien geben exakte Zeitintervalle für die Überprüfung an, 41 eine Richtlinie fordert, dass das Behandlungsteam angemessene Intervalle für die Überprüfung festlegt.42 Alle Leitlinien legen fest, wel34 35 36 37 38 39 40

De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). De Graeff/Dean (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005); Schuman/Abrahm (2005). 41 Morita et al. (2005); Schuman/Abrahm (2005). 42 De Graeff/Dean (2007).

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che Aspekte der Entscheidungsfindung in der Patientenakte dokumentiert werden sollten.43 Tabelle 2 (s. Anhang) enthält eine Zusammenfassung der Aussagen zur Aufklärung und Entscheidungsfindung in den ausgewerteten Leitlinien. 4. Diskussion Die komparative Analyse der fünf ausgewerteten PST Leitlinien zeigt Übereinstimmungen, aber auch deutliche Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung der Leitlinien und in Bezug auf die enthaltenen Empfehlungen zu ethischen und kommunikativen Aspekten der PST. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Auswertung zunächst unter Berücksichtigung möglicher Anforderungen an qualitativ hochwertige interdisziplinäre klinisch-ethische Leitlinien diskutiert. In einem zweiten Teil werden ausgewählte Empfehlungen zur Indikationsstellung und Entscheidungsfindung unter ethischen und kommunikativen Gesichtspunkten kritisch beleuchtet. Im abschließenden Teil wird unter Berücksichtigung der zuvor diskutierten Anforderungen an Inhalt und Methodik von klinisch-ethischen Leitlinien der mögliche Beitrag von PST-Leitlinien zur Handlungspraxis am Lebensende erörtert. 4.1 Erstellung von PST-Leitlinien In der medizinischen Fachliteratur liegen wenige Daten aus klinischen Studien zur PST vor. Vor diesem Hintergrund beruht eine Vielzahl der klinisch-medizinischen Empfehlungen in den untersuchten Leitlinien auf Expertenmeinungen. Der Mangel an empirischen Daten wird als Limitation in allen ausgewerteten Leitlinien reflektiert. Die Einbeziehung von Experten verschiedener Gesundheitsprofessionen (z.B. Ärzte, Pflegende, Pharmazeuten) kann in dieser Hinsicht als ein Versuch gewertet werden, das vorhandene, auf Erfahrungen beruhende Wissen im Rahmen der Leitlinienerstellung zusammenzutragen. Neben klinisch-medizinischen Aspekten betreffen die PST-Leitlinien, wie dargelegt, allerdings auch ethische und kommunikative Aspekte. Während auch für diesen Teil der Leitlinien empirische Daten von Bedeutung sind, beruhen ethisch begründete Positionen oder Empfehlungen auf normativen Prinzipien. Im Vergleich zu den Vertretern der verschiedenen Gesundheitsprofessionen wurden Medizinethiker oder Juristen als Experten für normative Fragestellungen vergleichsweise selten in die Erstellung von PST Leitlinien involviert. Selbstverständlich führt die Teilnahme der genannten Disziplinvertreter nicht automatisch zu einer Verbesserung der Qualität der Leitlinien aus ethisch-normativer Perspektive. Es fällt allerdings auf, dass im Unterschied zum Mangel an klinisch-empirischen Daten als Grundlage für entsprechende Empfehlungen die Grundlagen ethisch relevanter Empfehlungen sowie die in die43 De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003); Schuman/Abrahm (2005).

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sem Zusammenhang bestehenden Herausforderungen in den ausgewerteten Leitlinien nicht einmal problematisiert wurden. Darüber hinaus ist der Mangel an ethischen Begründungen für die in den Leitlinien enthaltenen ethisch-normativen Empfehlungen als weitere Limitation zu nennen. Beispiele für ethisch kontroverse, normative Setzungen in den Leitlinien, die nicht diskutiert werden, sind die Begrenzung der Indikationsstellung auf somatisches Leiden. Die PST bei psychischem oder existenziellem Leiden wird in den Leitlinien nur in Ausnahmesituationen als angemessen bewertet (siehe 4.2). Auch die jeweiligen Empfehlungen zur Begrenzung von Ernährung und Flüssigkeit im Kontext von PST werden unter ethischen Gesichtspunkten kaum diskutiert. Unterschiedliche moralische Bewertungen der vorstehend genannten und weiteren Empfehlungen können aus guten Gründen erfolgen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Explizierung des Vorgehens zur Konsensfindung und insbesondere der Umgang mit Differenzen von besonderem Interesse für die Einschätzung der Qualität von PST-Leitlinien.44 4.2 Ethische und kommunikative Aspekte der Indikationsstellung und Entscheidungsfindung bei PST Die Indikation zur PST hat weitreichende, auch aus ethischer Perspektive relevante Folgen. Die erwünschte Linderung von Leiden ist mit der Reduktion von Bewusstsein und einer Einschränkung von Kommunikationsfähigkeit verbunden. Weiterhin ist bei einer tiefen Sedierung die orale Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung nicht mehr möglich. Angesichts solcher und weiterer Konsequenzen der PST stehen die Grundlagen für die Indikationsstellung im Zentrum aller ausgewerteten PST-Leitlinien. „Unerträgliches Leiden“ wird in drei der ausgewerteten Leitlinien als Grundlage45 für die Indikationsstellung der PST genannt, wobei das Fehlen einer Definition von ‚Unerträglichkeit‘ in einer der drei Leitlinien46 sowie der Mangel an konkreten Empfehlungen zur Bestimmung dieses Kriteriums die Anwendbarkeit in der klinischen Praxis einschränkt. In drei Leitlinien47 wird existenzielles Leiden als außerordentliche Grundlage für eine Indikation zur PST benannt. Die Grundlage für diese Differenzierung und die Implikationen für die Feststellung von existenziellem Leiden als qualifizierendes Kriterium für PST werden nicht näher ausgeführt. Die Unterscheidung von somatisch begründeten Leiden wie Schmerz oder Luftnot und existenziellem Leiden als Kriterien für die Durchführung einer PST ist wenigstens ohne eine detaillierte Begründung problematisch. Nicht zuletzt mit Blick auf die große Bedeutung von existenziellem und psychischem Leiden für den Wunsch von Patienten nach Tötung auf Verlangen beziehungsweise Bei-

44 45 46 47

Winkler (2005). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). Legemaate et al. (2007). De Graeff/Dean (2007); Morita et al. (2005); Braun et al. (2003).

Leitlinien zur palliativen Sedierungstherapie

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hilfe zum Suizid erscheint eine weitere Ausgestaltung der PST-Leitlinien in Bezug auf diese Problemstellung notwendig.48 Die in den Leitlinien geforderte Einbeziehung des Patienten im Rahmen der Indikationsstellung und Entscheidungsfindung erscheint vor dem Hintergrund der individuell unterschiedlichen Abwägungen von Nutzen und Schaden sinnvoll und notwendig. Während es Aufgabe des Arztes ist, die Wirksamkeit der PST angesichts der vorliegenden Krankheitssituation zu prüfen, muss die Bewertung der mit der PST assoziierten erwünschten und unerwünschten Wirkungen aus der Perspektive des Patienten erfolgen.49 Im Blick auf die notorischen Unsicherheiten bei Stellvertreterentscheidungen angesichts von Einwilligungsunfähigkeit einerseits und die sich in vielen Fällen bereits abzeichnende Möglichkeit der PST im späteren Verlauf einer Erkrankung andererseits erscheint die in drei Leitlinien50 empfohlene frühzeitige Information und vorausverfügte Entscheidung hinsichtlich PST als eine wichtige Maßnahme im Sinne des ‚advance care planning‘ zur Förderung selbstbestimmter Entscheidungen am Lebensende.51 Im Unterschied zur geforderten (frühzeitigen) Einbeziehung des Patienten beziehungsweise des rechtlichen Stellvertreters erscheint die ethische (und rechtliche) Grundlage für die Einbeziehung Angehöriger sowie der verschiedenen Mitglieder des Behandlungsteams und die Suche nach einem Konsens als Grundlage für Entscheidungen über die PST allerdings fraglich. Das Einholen von Informationen bei den oben genannten Gruppen kann relevant für die Indikationsstellung und/oder die Eruierung des mutmaßlichen Willens des Patienten bei fehlender Selbstbestimmungsfähigkeit sein. Der geforderte Konsens aller Beteiligten ist nach erfolgter Indikationsstellung zur PST und Zustimmung des Patienten (oder Stellvertreters) allerdings begründungsbedürftig und strikt zu trennen von der in den Leitlinien berechtigterweise empfohlenen psychosozialen Unterstützung von Angehörigen sowie der Mitglieder des Behandlungsteams. 4.3 PST-Leitlinien als Beitrag zur Sterbekultur: Chancen und Anforderungen Die PST bildet bei schwerem Leiden in der letzten Lebensphase eine wichtige Handlungsoption. Allerdings stellen die Indikationsstellung und Entscheidungsfindung Ärzte, Patienten sowie die weiteren Beteiligten vor zahlreiche ethische und kommunikative Herausforderungen. Die Entwicklung von Leitlinien zur PST kann auch als Antwort auf den Bedarf an Orientierung bei diesen Herausforderungen verstanden werden. Eine Normierung der PST durch Leitlinien bietet nicht nur die Möglichkeit, medizinische Standards zu formulieren, sondern kann die Qualität der Versorgung von Patienten in der letzten Lebensphase auch unter Gesichtspunkten der Ethik und Kommunikation verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die ethischen und kommunikativen Herausforderungen am Lebens48 49 50 51

Dees et al. (2011). Marckmann/Sandberger/Wiesing (2010). De Graeff/Dean (2007); Legemaate et al. (2007); Morita et al. (2005). Detering/Hancock/Reade/Silvester (2010).

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Eva Schildmann, Jan Schildmann

ende allerdings auch so bearbeitet werden, dass inhaltliche und methodische Standards der betroffenen Fachgebiete berücksichtigt werden. Klinisch-ethische Empfehlungen können nicht analog zur Erstellung von klinisch-medizinischen Leitlinien, etwa auf der Grundlage von klinischen Studien, formuliert werden. Normative Setzungen in den untersuchten PST-Leitlinien, wie etwa die Eingrenzung der PST auf somatisches Leiden oder die Abgrenzung zu anderen Handlungsoptionen am Lebensende (z.B. Tötung auf Verlangen, ärztliche Assistenz zur Selbsttötung) müssen unter ethischen Gesichtspunkten reflektiert werden. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Anwendung solcher Leitlinien in Gesellschaften, die wie die in Deutschland und anderen Ländern durch einen Wertepluralismus charakterisiert sind. Empirische Untersuchungen belegen, dass etwa mit Blick auf die Bewertung unterschiedlicher Handlungen am Lebensende deutliche Unterschiede zwischen den moralischen Einstellungen der Vertreter unterschiedlicher Gesundheitsberufe und anderen Teilen der Bevölkerung bestehen.52 Nicht zuletzt aus diesem Grund müssen Leitlinien zur Ethik und Kommunikation am Lebensende interdisziplinär unter Beteiligung von Vertretern normativer und empirischer Disziplinen erarbeitet werden. Beispiele für ein entsprechendes Vorgehen bietet das Vorgehen in klinischen Ethikkomitees und interdisziplinären klinisch-ethischen Arbeitsgruppen.53 Unabhängig davon, ob die entsprechenden Empfehlungen unter Federführung von Vertretern der Medizin, Medizinethik oder anderer Disziplinen formuliert werden, müssen bei der Erstellung klinisch-ethischer Leitlinien am Lebensende Minimalanforderungen aus normativen und empirischen Disziplinen eingehalten werden. Die Formulierung entsprechender methodischer und methodologischer Kriterien ist Gegenstand aktueller Arbeiten im interdisziplinären Gebiet der empirischen Medizinethik.54 Zusammen mit Arbeiten zu inhaltlichen Fragestellungen der klinischen Ethik am Lebensende bilden solche methodischen Arbeiten eine wichtige Grundlage für fundierte klinisch-ethische Leitlinien zur PST und zu anderen Handlungen in der letzten Lebensphase. Literatur AGREE Collaboration: Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation (AGREE) instrument. www.agreetrust.org (2001). Alt-Epping, B./Sitte, T./Nauck, F./Radbruch, L.: Sedierung in der Palliativmedizin – Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung. In: Zeitschrift für Palliativmedizin 11 (2010), S. 112–122. Braun, T.C./Hagen, N.A./Clark T.: Development of a Clinical Practice Guideline for Palliative Sedation. In: Journal of Palliative Medicine 6, H. 3 (2003), S. 345–350. Cherny, N.I./Radbruch, L.: EAPC recommended framework for the use of sedation in Palliative Care. In: Palliative Medicine 23, H. 7 (2009), S. 581–593.

52 Vollmann (2003). 53 Neitzke/Wördehoff/Diemer/Müller (2009). 54 Vollmann/Schildmann (2011).

Leitlinien zur palliativen Sedierungstherapie

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Dees, M.K./Vernooij-Dassen, M.J./Dekkers, W.J./Vissers, K.C./van Weel, C.: ‚Unbearable sufferingǥ: A qualitative study on the perspectives of patients who request assistance in dying. In: Journal of Medical Ethics 37 (2011), S. 1–8. De Graeff, A./Dean, M.: Palliative sedation therapy in the last weeks of life: A literature review and recommendations for standards. In: Journal of Palliative Medicine 10, H. 1 (2007), S. 67–85. Detering, K.M./Hancock, A.D./Reade, M.C./Silvester, W.: The impact of advance care planning on end of life care in elderly patients: randomised controlled trial. In: British Medical Journal 340, c1345 (2010), S. 1–9. Fainsinger, R.L./Waller, A./Bercovici, M./Bengtson, K./Landman, W./Hosking, M. et al.: A multicentre international study of sedation for uncontrolled symptoms in terminally ill patients. In: Palliative Medicine 14 H. 4 (2000), S. 257–265. Legemaate, J./Verkerk, M./van Wijlick, E./de Graeff, A.: Palliative sedation in the Netherlands: Starting-points and contents of a national guideline. In: European Journal of Health Law 14, H. 1 (2007), S. 61–73. Marckmann, G./Sandberger, G./Wiesing, U.: Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 135 (2010), S. 570–574. Miccinesi, G./Rietjens, J.A./Deliens, L./Paci, E./Bosshard, G./Nilstun, T./Norup, M./van der Wal, G.: EURELD Consortium. Continuous deep sedation: physicians' experiences in six European countries. In: Journal of Pain and Symptom Management 31, H. 2 (2006), S. 122–129. Morita, T.: Differences in physician-reported practice in palliative sedation therapy. In: Support Care Cancer 12, H. 8 (2004), S. 584–592. Morita, T./Bito, S./Kurihara, Y./Uchitomi, Y.: Development of a clinical guideline for palliative sedation therapy using the Delphi method. In: Journal of Palliative Medicine 8, H. 4 (2005), S. 716–729. Neitzke, G./Frewer, A.: Sedierung als Sterbehilfe? Zur medizinethischen Kultur am Lebensende. In: Ethik in der Medizin 16 (2004), S. 323–333. Neitzke, G./Wördehoff, D./Diemer, W./Müller, J./Wernstedt, T.: Sedierung am Lebensende: Eckpunkte für einen verantwortungsvollen Umgang. In: A. Simon/J. Schildmann/J. Vollmann J. (Hrsg): Klinische Ethik. Campus, Frankfurt/M., 2009, S. 185– 210. Raus, K./Sterckx, S./Mortier, F.: Is continuous sedation at the end of life an ethically preferable alternative to physician-assisted suicide? In: American Journal of Bioethics 11, H. 6 (2011), S. 32–40. Vollmann, J./Schildmann, J. (Hrsg): Empirische Medizinethik: Konzepte, Methoden und Ergebnisse. Münster, LIT, 2011. Schuman, Z.D./Abrahm, J.L.: Implementing institutional change: an institutional case study of palliative sedation. In: Journal of Palliative Medicine 8, H. 3 (2005), S. 666– 676. Strech, D./Schildmann, J.: Quality of ethical guidelines and ethical content in clinical guidelines. The example of end-of-life decision making. In: Journal of Medical Ethics 37 (2011), S. 390–396. Sykes, N./Thorns, A.: The use of opioids and sedatives at the end of life. In: The Lancet Oncology 4, H. 5 (2003), S. 312–318. van der Heide, A./Deliens, L./Faisst, K./Nilstun, T./Norup, M./Paci, E./van der Wal, G./van der Maas, P.J.: EURELD consortium: End-of-life decision-making in six European countries: descriptive study. In: Lancet 362 (2003), S. 345–350. Vollmann, J.: Sterbebegleitung. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 2. 2. überarbeitete Auflage, Berlin, Verlag Robert Koch-Institut, 2003.

144

Eva Schildmann, Jan Schildmann

Vollmann, J.: The Implementation Process of Clinical Ethics Consultation: Concepts, Resistance, Recommendations. In: J. Schildmann/ J.S. Gordon, J. Vollmann (Hrsg): Clinical Ethics Consultation. Theories and Methods, Implementation, Evaluation. Farnham, Ashgate Publishers, 2010, S. 91–106 Winkler, E.C.: The ethics of policy writing: how should hospitals deal with moral disagreement about controversial medical practices? In: Journal of Medical Ethics 3, H. 10 (2005), S. 559–566.

Lebenserwartung für kontinuierliche tiefe Sedierung

Zielgruppe

Definition der PST

Terminologie

Leitlinie

Die Verwendung von Sedativa, um unerträgliche, therapierefraktäre Symptome dadurch zu lindern, dass das Bewusstsein des Patienten eingeschränkt wird Patienten mit einer fortschreitenden, unheilbaren Krankheit und einer Lebenserwartung von Tagen bis maximal einigen Wochen; vor allem anwendbar auf Krebspatienten, könnte aber auch auf andere unheilbare Krankheiten übertragbar sein Die Krankheit sollte irreversibel und fortgeschritten sein, die Lebenserwartung sollte Stunden oder wenige Tage betragen

‘Internationale Leitlinie’ Palliative Sedierungstherapie

Lebenserwartung 1 bis 2 Wochen

Patienten in der letzten Lebensphase

Beabsichtigte Einschränkung des Bewusstseins eines Patienten in dessen letzter Lebensphase mit dem Ziel, Leiden zu lindern

‚Niederländische Leitlinie‘ Palliative Sedierung

Geschätzte Lebenserwartung von einigen Tagen oder Wochen

(1) Die Verwendung von Sedativa, um Leiden dadurch zu lindern, dass das Bewusstsein des Patienten eingeschränkt wird, oder: (2) Beabsichtigte Aufrechterhaltung einer Bewusstseinseinschränkung, die durch die Symptombehandlung ausgelöst wurde. Erwachsene Patienten mit unheilbarem Krebs, die palliativmedizinisch behandelt werden

Palliative Sedierungstherapie

‚Japanische Leitlinie‘

Der Tod muss nahe bevorstehen (innerhalb von Tagen)

Die Intention, unter bestimmten Umständen absichtlich tiefen Schlaf zu induzieren und aufrechtzuerhalten, aber nicht absichtlich den Tod zu verursachen: (1) um das durch ein oder mehrere refraktäre Symptome ausgelöste Leiden zu lindern, wenn alle anderen verfügbaren Maßnahmen gescheitert sind und wenn der Patient offensichtlich dem Tode nahe ist, oder (2) um tiefe Verzweiflung (wie spirituelle Verzweiflung) zu lindern, die durch spirituelle, psychologische oder andere Maßnahmen nicht behandelbar ist, und wenn der Patient offensichtlich dem Tode nahe ist. Patienten mit einer unheilbaren Krankheit

Palliative Sedierung

‚Gesundheitsregionsleitlinie‘

Tabelle 1: PST: Terminologie, Definitionen und Indikationsstellung

Der Tod steht nahe bevor

Die Verwendung von Medikamenten zur Induktion einer Sedierung, um das schwere Leiden eines im Sterben liegenden Patienten zu lindern, das trotz anderer intensiver Maßnahmen nicht zu kontrollieren ist Patienten mit einer schweren, irreversiblen, lebensbedrohlichen Krankheit, wie fortgeschrittenem Krebs, terminalem Organversagen, fortgeschrittener HIVInfektion (AIDS), fortgeschrittener neuromuskulärer Krankheit oder fortgeschrittener Demenz

Palliative Sedierung

‚Krankenhausleitlinie‘

Symptome/ Zustände als Bgründung für PST

Vorgehen bei Beurteilung der Krankheitssituation

Definition ‚unerträgliches Leiden‘

Leitlinie

Am häufigsten Delirium und/oder Unruhe, Dyspnoe, Schmerzen und Übelkeit/Erbrechen. Bei psychologischem oder existenziellem Leiden sollte PST nur unter außergewöhnlichen Umständen und nur nach Rücksprache mit Experten dieser Fachrichtung initiiert werden

‘Internationale Leitlinie’ Vom Patienten als Symptom/Zustand definiert, den er nicht erleiden möchte. Stellvertretende Beurteilung durch die Familie des Patienten und/oder Betreuungspersonen, wenn der Patient nicht in der Lage ist, sich mitzuteilen Systematischer und integrativer Prozess unter Einbeziehung des Patienten oder des von ihm benannten Stellvertreters und/oder der Familie des Patienten sowie aller Mitglieder des Behandlungsteams

„Refraktäre Symptome, die zu unerträglichem Leiden führen“. Am häufigsten Schmerzen, Dyspnoe und Delirium

Gründliche Beurteilung der Situation des Patienten, wobei Informationen des Patienten, seiner Familie und des Behandlungsteams einbezogen werden

‚Niederländische Leitlinie‘ Keine Definition

Zum Beispiel Delirium, Dyspnoe, exzessive Bronchialsekretion, Schmerzen, Übelkeit/Erbrechen, Erschöpfung, Konvulsion/Myoklonie. Angst, Depression und psychologisches bzw. existenzielles Leiden sind als alleinige Indikationsgrundlage für eine kontinuierliche, tiefe Sedierung außergewöhnlich. Die Angemessenheit einer PST sollte sehr sorgfältig geprüft werden

Gründliche Beurteilung therapierbarer Komponenten und psychosozialer sowie umgebungsbedingter Faktoren, die zur Verträglichkeit beitragen könnten. Prüfung möglicher zeitlich begrenzter Behandlungen, die möglicherweise effektiv sein könnten. Angabe von Details bezüglich der Methoden und Hilfsmittel für die Beurteilung

Wenn der Patient das Leiden als unerträglich beschreibt; wenn der Patient nicht in der Lage ist, sich mitzuteilen: Die Familie des Patienten und das Behandlungsteam haben ausreichend Grund zu der Annahme, dass der Patient das Leiden als unerträglich einstufen würde (unter Berücksichtigung seiner Wertvorstellungen)

‚Japanische Leitlinie‘

Leitlinien lassen sich am besten auf physische Symptome anwenden Die Rolle der palliativen Sedierung bei existenziellem Leiden ist weniger eindeutig und erfordert eine genauere Untersuchung

Nicht ausgeführt

Keine Definition

‚Gesundheitsregionsleitlinie‘

Nicht ausgeführt

Keine Definition

‚Krankenhausleitlinie‘

Verbale Einwilligung des Patienten und/oder seiner Familie einholen (ggf. Zurückgreifen auf frühere Gespräche oder schriftliche Belege, die die Wertvorstellungen, Wünsche oder Weisungen des Patienten nahelegen). Details der Themen, die im Gespräch angesprochen werden sollen. Zu erwartende Notfälle, die eine PST erforderlich machen könnten, im Voraus besprechen Aktive Einbeziehung des Patienten oder des von ihm benannten Stellvertreters und/oder der Familie des Patienten sowie aller Mitglieder des Behandlungsteams. Entscheidung auf der Grundlage eines Konsens Mit dem Patienten oder seinem Stellvertreter und/oder der Familie sowie mit allen Mitgliedern des Behandlungsteams separat besprechen

Aufklärung und Einwilligung

Lebenserhaltende Behandlung (z.B. Ernährung, Flüssigkeit, Wiederbelebungsmaßnahmen)

Entscheidungsfindung

‚Internationale-Leitlinie‘

Leitlinie

Informationen des Patienten, der Familie des Patienten und des an der Behandlung beteiligten Fachpersonals. Optimale Übereinstimmung aller Beteiligten Mit dem Patienten oder seinem Stellvertreter besprechen

Informierte Einwilligung durch den Patienten oder seinen Stellvertreter. Details der Themen, die im Gespräch angesprochen werden sollen. Die Möglichkeit einer PST im Voraus besprechen

‚Niederländische Leitlinie‘

Medizinische Interventionen, die dem Behandlungsziel (Linderung des Leidens) widersprechen, sollten vor der Sedierung diskutiert werden. Das Behandlungsteam sollte die Einwilligung des Patienten und dessen Familie einholen, keine Wiederbelebungsversuche durchzuführen

Informierte Einwilligung durch den Patienten oder „begründete Annahme, dass der Patient eine Sedierung wünschen würde“ unter Berücksichtigung seiner Wertvorstellungen und früher geäußerter Wünsche sowie Einwilligung der Familie des Patienten. Details der Themen, die im Gespräch angesprochen werden sollen. Wünsche bezüglich einer PST im Voraus abklären Übereinstimmung innerhalb des Behandlungsteams (+ informierte Einwilligung durch den Patienten und dessen Familie, siehe oben) Multidisziplinäre Fallbesprechung als Grundlage wünschenswert

‚Japanische Leitlinie‘

Voraussetzung für PST ist, dass sich der Patient oder dessen Stellvertreter definitiv gegen Wiederbelebungsmaßnahmen ausgesprochen hat

Keine Angabe

Informierte Einwilligung: Gespräch mit der Familie des Patienten und, wann immer möglich, mit dem Patienten selbst. Berücksichtigung der klinischen, ethischen und rechtlichen Auswirkungen dieser Behandlungsstrategie

‚Gesundheitsregionsleitlinie‘

Tabelle 2: Aufklärung und Entscheidungsfindung bei PST

Voraussetzung für PST: Zustimmung zum Verzicht auf folgende lebenserhaltende Maßnahmen: Herzdruckmassage, Defibrillation, endotracheale Intubation, mechanische Beatmung, Einsatz blutdrucksteigernder Substanzen. Bei Vorliegen eines implantierten Defibrillators muss dieser deaktiviert werden

Einbeziehung des Hausarztes Alle im Behandlungsteam sollten den Zweck der Vorgehensweise und deren ethische, fachliche und rechtliche Grundlagen verstehen

Informierte Entscheidungsfindung: Besprechung der Risiken und des Nutzens einer palliativen Sedierung mit dem Patienten oder einem Stellvertreter

‚Krankenhausleitlinie‘

II. ARS MORIENDI HEUTE? KURZKOMMENTARE ZUM ESSAY DER HERAUSGEBER

Ars vivendi nova: Überlegungen zu einer neuen Lebenskultur Monika Müller Weniger der Ars moriendi als vielmehr einer Ars vivendi möchte ich das Wort reden – ergänzend, neu in den Blick nehmend. Zu leben ist die Kunst In der vorgestellten Ars moriendi nova geht es um ein (volks)pädagogisches Anliegen, eine ‚Sterbepädagogik‘, die mittels Methoden Wissen vermitteln und Bewusstsein bilden will. Jemand, der sie gelernt hat, möge ein „reales Ja zum Sterben finden, […] nämlich eine Kunst, anstelle eines vielfältigen Noch mehr ein überzeugtes Genug zu setzen“, heißt es da (S. 20). Glaubt man, dem Großen des Todes durch Vorbereitung die Gewalt nehmen zu können? Glaubt man, durch erlernbare Methoden der Macht des Todes auch nur einen seiner Stacheln ziehen zu können? Überfordert dies nicht? Sind wir denn nicht grundsätzlich auf Leben angelegt? Strebt Leben nicht blind nach Leben? Will Leben nicht genuin ein Länger, ein Mehr, ein Öfter? Ist dies nicht sogar ein in unsere Physis mit eingewobener, genetisch verankerter Lebensauftrag? Ich möchte daher einer Ars vivendi das Wort reden. Wie kann man sterben lernen, wenn man vielleicht nie gelernt hat zu leben? Wenn man im Zaudern und Zögern stecken geblieben ist? Wenn man unter Lebensabwehrblähungen oder Lebensgeschmacksodbrennen leidet? Wenn man sich im „hätte ich doch“ und „wäre ich doch“ eingerichtet hat? Und umso tragischer erlebt, wenn das eigene Lebensskript das Leben-Nehmen nie gelernt hat und fatalistisch, reglos, fühlarm feststellt: „So war es, und nur so habe ich es gekonnt!“ Ich möchte dazu aufrufen, dass wir – wir, die wir alle jetzt und hier Sterbende sind – uns das Leben nehmen, uns das Leben in Fülle nehmen, bevor wir es nicht mehr können. Das ist nicht etwa der Aufruf zum kollektiven und resignativen Suizid, auch nicht der Appell zum rücksichtslosen Genießen, sondern der Appell zur Lebensaneignung. Das Leben zu kosten, zu schmecken in seinem Sosein, in seiner Tiefe und Fülle. Sich dieses Leben, das uns gegeben, geliehen, geschenkt ist, zu eigen machen in einem neuerlichen, eigenständigen Akt. Mit dem Leben nur zurecht zu kommen, ist weit weniger als zu leben.

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Monika Müller

Ab-Bildung versus Ein-Bildung Als Methode der Ars moriendi werden Bilder vorgeschlagen: „nur Bilder ermöglichen Vorstellungen und Verstehen […]“ (Illhardt). Allüberall werden heutzutage Ausstellungen, Bücher, Filme zu Sterben, Tod und Trauer angeboten, der Markt quillt über, in Kursen, an Schulen und Akademien werden Methoden praktiziert und diskutiert. Wir brauchen keine Sterbeimagination, keine so genannte Sterbemeditation – wir brauchen das Schauen dessen, was ist. Die Abläufe des Lebens und die Erscheinungen der Natur bieten genug Abbilder der Vergänglichkeit und des Unwesentlichen. Schauen wir uns um, überall ist bereits hier und jetzt im wirklichen Leben wirkliches Sterben. Lernen wir wieder sehen, lehren wir wieder Schauen. Das wirkliche Leben lehrt uns alles, der wirkliche Hof, der wirkliche Wald, nicht (nur) der Friedhof, der Friedwald, deren regelmäßige Besuche die neue Ars moriendi fordert. Mit diesen Zuschreibungen werden möglicherweise künstliche Friedensassoziationen erzeugt, nämlich als ob Tod friedlich sei. Ist die Bewegungslosigkeit der verstorbenen Körper, der übrig gebliebenen Hüllen ein Beweis für Frieden? Was wissen wir vom Tod? Woher kommt die Gewissheit, dass er friedlich sei? „Wir wissen nichts von diesem Hingehen, das nicht mit uns teilt“, heißt es bei Rilke, „von dem Hinübergleiten zu den unbekannten Schatten“. Was wir brauchen sind Vorbilder, Menschen in der Öffentlichkeit, Staatsmänner, Wissenschaftler, Künstler, Geistliche, die ihr Leben gehen, schauen und ihr Schauen reflektieren. Es bedarf nicht der Methoden einer Ars moriendi, keines handhabbaren Zelebrierens von Sterben, keines Willens zu einem letzten ästhetischen Akt im Sterben. Wir brauchen stille, sich nicht darstellende Weise und Zeugen, die mit Mut ans Ende ihrer selbst gehen. Der Ruf des Lebendigen Folgen wir dem Ruf des Lebendigen, dann lernen wir es ausreichend, das Sterben. Das Leben ist einer dauernden und fortschreitenden Verlusterfahrung mitgeprägt. Was wir gerade noch waren und hatten oder – besser – zu sein glaubten und zu haben meinten, verrinnt. Ziele, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Hoffnungen, Vertrauen – alles ist einem dauernden Wechsel unterworfen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede Zelle stirbt und macht dem nächsten Gedanken, Gefühl, Gewebe Platz. „[…] das Echo eines fossilen Herzschlags In den Kolibris bin ich, im Flug Hirschblick und Wolfsschleichen die Liebkosung, der Schrei und die Barmherzigkeit der Tod sind in mir wie alles andere […] ich bin, Trilobit und Frau

Ars vivendi nova: Überlegungen zu einer neuen Lebenskultur

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Vorzeichen und Spur, ein Tropfen liebend in allem“1

Der Tod ist dann nicht das Andere, was noch kommt, sondern das, was schon die ganze Zeit ist. „Das Seufzen alles Geschaffenen“, wie der Römerbrief (8,26) es beschreibt, oder der leichtfüßige Mitgeher in dem Bilderbuch Ente, Tod und Tulpe zeugen von der dauernden Anwesenheit im Hiesigen, nicht nur außen, sondern auch innen. Der Tod „wagt zu weinen, mitten in uns“, wenn wir uns – noch oder schon – mitten im Leben meinen, auch das weiß Rilke mit uns. Verstehen und bewältigen Verstehen und bewältigen – zwei Begriffe, die den Essay für eine neue Ars moriendi durchziehen. Ist Sterben verstehbar? Ist Sterben zu be-wältigen? Bewältigung heißt etymologisch nichts anderes als gewaltsam in Griff zu bekommen. Sterben ist doch bestenfalls erlebbar, ersterbbar. Entzieht man sich nicht möglicherweise dem Skandal des ‚Sterbenmüssens‘, der Fremdheit des Todes und der grundsätzlichen Untröstlichkeit durch eine Thanato-Didaktik und durch Thanato-Experten? Wird hier nicht der Tod als intellektuelles Konzept bedacht, das Widerständigkeit und Furcht abbauen soll? Kann es sein, dass hier eine neue Tabuisierung stattfindet? Eine Tabuisierung, die durch Bemalen von Särgen, Ersinnen neuer Rituale, hospiz-architektonische Ästhetizismen, weichgezeichnete Totenantlitze und Gestalten von symbolträchtigen RaumMitten den Schrecken zu domestizieren sucht? Ich möchte einer ars vivendi das Wort reden Wahrscheinlich geht es aber weder um das Eine noch um das Andere. Beide ‚Künste‘ sind nicht gegenteilig. Alles, was ich im Leben vor dem Sterben lerne, alles was ich hier empfinde und bedenke, wirkt in die letzte Lebenszeit – das Sterben – hinein. Warum eine künstliche Grenze? Er-leben wir das Leben! Bis zum Schluss, der nicht für alle ein Hinüberfallen ins Nichts ist. „Leben; wohl dem, der es spendet Freude, Kinder, täglich Brot, doch das Beste, was es sendet, ist das Wissen, das es spendet, ist der Ausgang, ist der Tod.“ (Theodor Fontane)

1

Ulrikka Gernes: Der Ruf des Lebendigen. In: Schreibheft. Zs. f. Literatur, Heft 76 (2011), S. 3.

Ars moriendi heute? Neue Sterbekultur aus Sicht der Palliativmedizin Friedemann Nauck Brauchen wir eine Ars moriendi nova, also eine neue Sterbekultur, wie es die Autoren des Essays anregen, und was genau soll sie beinhalten? Oder – wie Monika Müller antwortet – doch eher eine ‚Ars vivendi nova‘, also Überlegungen zu einer neuen Lebenskultur? Es ist spannend zu verfolgen, wie die Autoren des Essays die Begründungen für eine neue Sterbekultur entwickeln. Doch kann diese Form der Sterbekultur die Fragen und die Ängste lösen, die mit Tod und Sterben einhergehen? Ich denke schon, dass es richtig ist und einer Gesellschaft gut tut, die sich immer mehr mit dem Weiter, Höher, Schöner befasst, darüber nachzudenken, ob es nicht doch auch zum Leben und zu einer guten Lebenskultur dazugehört, sich mit dem Sterben und der Frage nach einer Kultur des Sterbens zu befassen. Dies gilt auch – und vielleicht sogar in besonderer Weise – für die Medizin und die damit befassten Berufsgruppen, die trotz der Verlagerung des Sterbens in die Institutionen erst sehr zögerlich durch die Etablierung der Hospizidee und der Palliativmedizin begonnen haben, über Sterben Tod und Trauer neu nachzudenken. Ob es dazu einer Ars moriendi nova bedarf, die strukturell stark an der Ars moriendi des Mittelalters orientiert ist, oder ob nicht doch eher andere Wege für eine Kultur des Lebens und des Sterbens in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gefunden werden müssen, bleibt abzuwarten. Wenn man, wie die Autoren des Essays, sich das Prinzip der überlieferten Ars moriendi des Mittelalters zum Vorbild nimmt, so muss man sich doch fragen, ob sich in der mittelalterlichen Kultur tatsächlich allgemeine Kriterien für einen guten Tod finden lassen, die sich in eine moderne Sterbekultur integrieren ließen und es auch sollten. Um den Nutzen wie auch den Zweck der mittelalterlichen Sterbekunst verstehen zu können, müssen zunächst die geschichtlichen Hintergründe dargestellt und die Begriffe Ars vivendi und Ars moriendi definiert sowie ihre Entwicklung beschrieben werden.1 Während die politischen Entwicklungen und existenziellen Probleme durch zahlreiche Seuchen – wie etwa der Pest – (mit)geprägt wurden, stand die Arsmoriendi-Thematik doch eher in Zusammenhang mit der Rolle der Kirche, insbe1

Siehe hierzu die Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen mit dem Titel: „Ars moriendi“. Mittelalterliche Sterbekunst als Vorbild für eine neuzeitliche Sterbekultur, vorgelegt von Stefanie Christiane Marr, Göttingen 2011.

156

Friedemann Nauck

sondere mit der von ihr dominierten Sinngebung von Krankheit und sehr deutlich mit den Behandlungs-, Versorgungs- und Sterbebedingungen, die von gesellschaftlicher Herkunft und individuellen finanziellen Ressourcen abhängig waren. Seit dem 14. Jahrhundert gingen die Priester immer mehr dazu über, ‚die Lebenden für den Tod zu disponieren‘ – hauptsächlich die Armen. Ob eine Ars moriendi nova darauf zurückgreifen sollte? Die mittelalterliche Ars vivendi und Ars moriendi unterschieden sich deutlich. So war der Grundgedanke der Ars vivendi ein gottgefälliges Leben, um eine glückliche, sichere Sterbestunde zu erlangen. Dies erreicht der gläubige Christ durch Askese und Weltverzicht. Die Entwicklung der Ars moriendi lässt sich anhand verschiedener im 15. Jahrhundert erschienener Sterbebüchlein nachvollziehen, in denen Sterbehelfern der Verlauf einer guten Sterbestunde erläutert wird. Hier erhält man einen Einblick in die Denkweise des Mittelalters in Bezug auf Lebensgestaltung und den zu erwartenden Tod. Anhand der Handschrift 80 Cod. Ms. theol. 147, die im Besitz der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen ist und ein Speculum artis bene moriendi enthält, vergleicht Stefanie Christiane Marr in ihrer Dissertation den Stellenwert dieses anonymen Göttinger Textes mit den beiden bedeutendsten Sterbebüchern des Mittelalters, dem De arte bene moriendi von Johannes Gerson und der Kunst des heilsamen Sterbens von Thomas Peuntner. Die Resultate ihrer Arbeit lassen es fraglich erscheinen, ob man die Inhalte mit der heutigen Sterbekunst, wenn wir denn überhaupt von einer solchen sprechen, vergleichen kann. Kann eine Integration der Ars moriendi-Prinzipien oder eine Ars moriendi nova überhaupt helfen, ein neues Todes- und damit auch ein neues Lebensbewusstsein zu schaffen, und lässt sich hier eine Verbindung zur Hospizbewegung und zur Palliativmedizin ziehen, die in der Linderung von Schmerzen und anderen körperlichen Symptomen eine große Rolle spielt, jedoch auch die genannten spirituellen und psychologischen Aspekte integriert? Die Autoren des Essays über die Ars moriendi nova erwähnen, dass heutzutage einerseits die medikalisierte Sterbepraxis angeprangert wird und andererseits kaum jemand bereit sei, sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Rasch soll der Tod eintreten. Den Prozess des Sterbens als eine wichtige und vielleicht notwendige Zeit der Auseinandersetzung, der Bewusstseinsbildung und damit der Vorbereitung auf den Tod zu akzeptieren, scheint nicht modern zu sein. Dazu passt, dass Trauerrituale in der mitteleuropäischen Gesellschaft zunehmend keinen Raum mehr haben oder so individualisiert werden, dass sie nicht mehr den Charakter von Ritualen haben. Ist nicht eher ein sich immer weiter auffächernder Pluralismus von Kriterien für den Umgang mit dem Verstorbenen, der Leiche und der Bestattung gewünscht als eine gesellschaftliche Normierung im Sinne einer präskriptiven Ars moriendi nova? Wenngleich die moderne Palliativmedizin seit einiger Zeit neue Maßstäbe in der Begleitung Sterbender setzt, verstummen die Rufe nach standesrechtlicher Enttabuisierung der ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung oder Legalisierung der Euthanasie nicht. Der Euthanasie-Begriff wurde in der griechischen Antike geprägt, im christlichen Mittelalter geriet der Begriff jedoch in Vergessenheit und wurde

Neue Sterbekultur aus Sicht der Palliativmedizin

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erst in der Renaissance und der frühen Neuzeit wiederentdeckt. Hospizliche und palliative Behandlung und Begleitung sollen in der heutigen Zeit eher Antworten auf die Frage nach aktiver Sterbehilfe geben. Hier gehen die Autoren des Essays nicht näher auf die drängenden Fragen ein, inwieweit die Ars moriendi nova auch diese Formen der Sterbehilfe und insbesondere die Euthanasie umfassen sollte. Was ist in der heutigen Zeit der ‚schöne‘, der ‚gute‘ Tod? Sowohl die Institutionalisierung von Sterben und Tod als auch die medizinische Kunst mit immer besseren Möglichkeiten von Diagnostik und Therapie haben dazu beigetragen, dass wir uns von früheren Todesbildern verabschiedet haben. Letzteres hat dazu geführt, dass unklar ist, was zum Konzept des natürlichen Todes – der Tod kommt von Natur aus, unabhängig vom Einwirken des Menschen – gehört. Todesbilder sind neben den allzeit modernen Einflüssen Krieg, Gewalt und Unfall auch durch die neuen Möglichkeiten der Medizin – das so genannte Sterben ‚an Schläuchen‘ mit der Angst vor einer ‚Übertherapie‘ am Lebensende – und durch die Medien geprägt. Eine Ars moriendi nova muss im 21. Jahrhundert auch Aspekte beinhalten, die die Medizin neu erlernen muss. Hierzu gehört, ein Sterben auch unter begonnener Maximaltherapie zu gestalten, sobald deutlich wird, dass es nicht um eine Lebensverlängerung mit guten Aussichten für ein Weiterleben geht, sondern um Sterbeverlängerung, vielleicht sogar mit hohem Leidensdruck für die Betroffenen und ihre Zugehörigen. Hier geben die Grundsätze der Bundesärztekammer wichtige Hinweise, die jedoch bei weitem nicht ausreichen, diese neue medizinische Kunst im Rahmen einer Ars moriendi nova, die all die ethischen, psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen beinhaltet, ausreichend zu entwickeln. Sterben ist und bleibt eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Eine neue Sterbekunst wird und sollte aus meiner Sicht keine Anleitung zum ‚richtigen‘ Sterben geben, sondern es sollten in unserer Gesellschaft die Bedingungen für das Sterben so verbessert werden, dass Menschen nicht mehr aus Angst vor einem unschönen Tod aktive Sterbehilfe einfordern. Dazu müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auch eine flächendeckende qualitativ hochwertige hospizliche und palliative Betreuung in den ambulanten und stationären Kontexten beinhaltet, auch und gerade in den Bereichen, in denen Medizin intensiv betrieben wird. Hier sind Ärzte und die weiteren professionell in der Medizin Tätigen gefordert, sich weiterzubilden, nicht nur in den medizinischen, sondern auch in den vielen ethischen, sozialen und spirituellen Fragen. Wenn wir Sterben und Tod zum Gesprächsthema machen, ermutigen wir uns selbst wie auch unsere Patienten und deren Angehörige zur Auseinandersetzung mit ihren Vorstellungen von einem zufriedenen und erfüllten Leben und auch mit der eigenen Sterblichkeit und dem Tod. Das stellt eine Möglichkeit dar, das Sterben (wieder) in den Alltag zu integrieren, um die Angst vor dem eigenen Tod zu lindern, um seine persönliche Lebens- und Sterbekunst zu finden. Bereits heute gibt es dazu durchaus Konzepte in Kunst und Kultur wie die Heidelberger Ausstellung LebensKunstSterben, um eine breite Öffentlichkeit in allen Altersstufen für das Thema im Sinne einer Verknüpfung von Ars vivendi und Ars moriendi nova zu interessieren und zu sensibilisieren. In Göttingen haben

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Friedemann Nauck

wir neben der Ausstellung LebensKunstSterben zahlreiche Aktionen und Zusatzveranstaltungen organisiert, um das Thema ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken.2 Verschiedene Institutionen haben sich miteinander vernetzt und ein breit gefächertes Programm zu fachlichen und spirituellen Themen mit kulturellen Veranstaltungen an verschiedenen Standorten in Göttingen in den Bereichen Wissenschaft – Kultur – Spiritualität entwickelt. Ziel der Veranstaltungsreihe ist es, Berührungsängste mit dem Thema ‚Leben und Sterben‘ altersübergreifend abzubauen. Exemplarisch seien hier die Veranstaltungen Gottes- und Todesvorstellungen von Kindern, Nellie Goodbye, ein Theaterprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene, der Film Emmas Glück und der Wunsch zu sterben mit anschließender Diskussion sowie ein Workshop zur Thematik Patientenverfügung genannt. Unsere Hoffnung dabei ist, die Augen und Herzen zu öffnen für die LebensKunstSterben und so eine Veränderung im Umgang mit Sterben und Tod schon zu guten Lebenszeiten zu bewirken, denn das Leben beginnt und endet jeden Tag aufs Neue.

2

Vgl. www.lebenskunststerben-goettingen.de.

Der Tod ist der Feind des Lebens oder: Vom Irrtum, das Sterben könne eine Kunst sein Reiner Sörries Die Konzeption einer Ars moriendi nova beruht auf der Überzeugung ihrer Autoren, es gäbe im Hinblick auf das Sterben ein „Desiderat notwendiger Vorbereitungen und Rahmenbedingungen“ (S. 15). Die Feststellung von Defiziten in der Sterbe- und Trauerkultur ist indes nicht neu, und sie wurde populär spätestens durch die Ausstellung Die letzte Reise. Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern, die 1984 im Münchner Stadtmuseum gezeigt wurde. Missstände in der Sterbeund Trauerkultur waren für die Museumsverantwortlichen ausschlaggebend, diesem Thema bundesweit erstmalig eine eigene Ausstellung zu widmen. Es ist kein Zufall, dass der Zeitpunkt der Ausstellung mit dem Aufkommen der Hospizbewegung Mitte der 1980er Jahre zusammenfällt. Die Direktoren des Münchner Stadtmuseums, Christoph Stölzl, und des Diözesanmuseums in Freising, Peter Steiner, die gemeinsam die Ausstellung initiierten, schrieben über diesen Anlass in ihrem Vorwort zum Ausstellungskatalog: „Der Tod ist ins Gerede gekommen. Allerorten beklagt man heute das anonyme Sterben in der Klinik, die Verdrängung des Todes. Als Ursachen sind der Schwund des Religiösen, die Lockerung der Familienbande, die Auflösung gewachsener Lebenszusammenhänge, die Verstädterung und Einigelung auf Kleinstgruppen oder Isolierte genannt worden.“ Was hier populär und breitenwirksam an die Öffentlichkeit gebracht wurde, war in intellektuellen Kreisen wiederum schon früher Thema. Man erinnere sich an Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen (1982) von Norbert Elias oder Die Nemesis der Medizin (1975) von Ivan Illich. Beklagt wurde auch die ‚Thanatokratie‘ der Ärzte, die angeblich das Sterben zu einem technokratischen Akt verkommen ließen. Wie immer man sich zu den echten oder vermeintlichen Kollateralschäden der modernen Medizin verhalten mag, offenkundig wurde ein Dilemma zwischen Wunsch und Wirklichkeit, wie man sterben möchte und wie man vielleicht tatsächlich stirbt. Schon die Münchner Ausstellungsmacher entschieden sich für den Wunsch und wollten Glauben machen, man könne eine Verbesserung der Sterbe- und Trauerkultur durch die Rückbesinnung auf alte Traditionen und Sitten erreichen. Bei ihrem nostalgischen Rückgriff vorwiegend auf das 19. Jahrhundert hatten sie jedoch vielleicht zu wenig bedacht, unter welch schlechten hygienischen Bedingungen und oft ohne ärztlichen Beistand man früher starb. Indem die Verfasser der Ars moriendi nova – „wenn auch nicht inhaltlich, aber methodisch“, wie sie

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Reiner Sörries

sagen (S. 18) – auf die (spät-)mittelalterliche Ars moriendi zurückgreifen, scheinen sie ebenfalls dem Charme der Nostalgie erlegen zu sein. Ars moriendi, meist euphemistisch mit Sterbekunst wiedergegeben, klingt gut und vermittelt den Eindruck, man könne Sterben zu einer künstlerischen Performance werden lassen. Als übrigens der Künstler Gregor Schneider dies angekündigt und präzisiert hatte, er wolle einen Menschen in einem eigens dafür gebauten Raum in einem Museum öffentlich sterben lassen, hagelte es Proteste von Kirche bis Politik. Aber vielleicht ist das bei der Ars moriendi nova auch nicht gemeint, und dennoch befinden sich ihre Verfechter in einem Irrtum, denn die MittelalterArs taugt ohne ihren religiösen Bezug nicht als methodisches Vehikel für eine moderne … – ja was eigentlich? Sterbevorbereitung? Und wozu? Soll man sich wirklich darauf vorbereiten, dass alles wahrscheinlich doch anders kommt als man denkt? Ist es wirklich „sinnvoll, sich zunächst die wahrscheinliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit klar zu machen“ (S. 19)? Macht es wirklich Sinn, sich auf die verschiedenen Alternativen der Sterbewahrscheinlichkeiten und Sterbemöglichkeiten einzustellen, wo doch sowieso alles anders kommt? Man kann sich verschiedene Möglichkeiten des Lebens vorstellen und Alternativen ausmalen, z.B. das Leben auf dem Lande oder in der Stadt, das Single-Sein oder das Leben in einer Partnerschaft, vielleicht auch beim Verlauf einer Krankheit mit einem guten oder einem weniger guten Ende, aber selbst bei diesen ‚einfachen‘ Dingen des Lebens wird unsere Vorstellungskraft von der Wirklichkeit meist korrigiert. Und das gilt wohl erst recht für das Sterben, weil es etwas vom Leben völlig Verschiedenes ist, denn es mündet in den Tod, und der ist schlechthin nicht vorstellbar, denn der Tod ist das ganz ANDERE. Das ANDERE kann man nicht imaginieren und deshalb auch nicht lernen. Das war bei der Mittelalter-Ars übrigens schon anders. Imaginiert wurde ja streng genommen nicht das Sterben, sondern die Versuchungen und Tröstungen, denen der Sterbende ausgesetzt ist. Und diese waren in der damaligen Gedankenwelt eben völlig real: Dämonen und Engel, Teufel und Heilige. Die Mittelalter-Ars ist deshalb eine Abbildung von Wirklichkeit und nicht von NichtGewusstem. Da wir Heutigen zumeist über den Zielpunkt des Sterbens nichts wissen, von religiös und esoterisch gestimmten Menschen einmal abgesehen, ist es entsprechend schwierig, einen Lehrplan für eine Death Education aufzustellen. Doch sind die bisherigen Anmerkungen gar nicht mein Hauptanliegen. Den Weg dorthin öffnet Monika Müller mit ihrer Kritik an einer Ars moriendi nova, der sie vielmehr das Konzept einer Ars vivendi nova entgegensetzt. Und ihre Argumente, die sie in Fragen fasst, sind nicht schlecht: „Glaubt man, dem Großen des Todes durch Vorbereitung die Gewalt nehmen zu können? Glaubt man, durch erlernbare Methoden der Macht des Todes auch nur einen seiner Stacheln ziehen zu können?“ Die Antwort im Sinne der Autorin kann nur NEIN sein, und dem schließe ich mich an, ebenso dem JA, das auf die Frage Müllers folgen muss: „Sind wir nicht grundsätzlich auf Leben angelegt? Strebt Leben nicht blind nach Leben?“ Das größte Problem der Ars moriendi nova ist, dass sie eine Versöhnung mit dem Tod anstrebt; Müller dagegen wehrt sich mit Recht gegen „künstliche Frie-

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densassoziationen“. Sie nennt explizit Friedhof und Friedwald; hinzufügen möchte man das nette Seniorenheim mit dem Namen ‚Haus Abendfrieden‘ oder den ‚Friedjuwel‘ zur permanenten Präsenz des Verstorbenen bei den Angehörigen. Alles ist so friedlich, und die Ars moriendi nova soll uns darauf einstimmen. Stattdessen sollen wir uns nach Müller auf das Schauen der Wirklichkeit konzentrieren, die genug Abbilder der Vergänglichkeit und des Unwesentlichen bereithält. Konnte ich Müller bis hierhin in ihrer Kritik an einer Ars moriendi nova folgen, so scheiden sich unsere Wege, wenn sie schreibt: „Der Tod ist dann nicht das Andere, was noch kommt, sondern das, was schon die ganze Zeit ist.“ Es ist schon klar, dass das ganze Leben kleine und große Verlusterfahrungen und Tode bereithält, und dennoch ist in meiner Vorstellung der Tod nicht da, denn er ist doch das ganze ANDERE! Unvorstellbar, unbegreifbar, durch keine Ars moriendi, durch keine Meditatio mortis, durch keine Death Education erlernbar, nicht erfahrbar. Daran ändern auch die Nahtoderfahrungen nichts. Es kommt uns zu leicht von den Lippen, zu sagen, der Tod sei ein Teil des Lebens, wie es heute in einem vielstimmigen Chor vom Hospizverein bis zum Esoterikseminar erschallt. Ob das Sterben ein Teil des Lebens ist, darüber kann man lange streiten. Sollte man das Sterben zum Leben rechnen, dann wäre das noch eine gewisse Berechtigung für eine Ars moriendi nova, aber dieser Lernprozess führt nirgendwo mehr hin. Allenfalls in das ganz ANDERE, das sich völlig unserer Erfahrbarkeit, Wahrnehmbarkeit und Visualisierung entzieht. Vielleicht so, als würde man bei der Führerscheinprüfung nur den theoretischen Teil ablegen, nicht aber den praktischen. Die Fahrerlaubnis erhält man trotzdem nicht. Jeder Tod ist quasi ein Fahren ohne Fahrerlaubnis. Nur ist dieser Vergleich viel zu banal, weshalb ich mich gleich dafür entschuldige. Treffender und unmissverständlich drückt es das Alte Testament aus. Der Tod ist das ganz ANDERE, er ist das GEGENTEIL von Leben, er bedeutet in letzter Konsequenz GOTTESFERNE. Und auch im Neuen Testament ist Christus nicht gekommen, um mit dem Tod zu versöhnen, sondern ihn zu überwinden: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“, heißt das Credo, angestrebt ist nicht ein versöhnlicher Ausgleich mit dem Tod. Auch die mittelalterliche Ars moriendi wollte nicht mit ihm versöhnen, sondern ihn in der Hoffnung auf Auferstehung und durch den Beistand der Heiligen und Sterbepatrone überwinden helfen. Insofern ist die Ars moriendi nova vom Ziel her das Gegenteil der Mittelalter-Ars. Allein die Methode der Visualisierung in der bebilderten Ausgabe, der sog. Bilder-Ars, ist vergleichbar, aber die Illustration stand bei der Ars moriendi keineswegs im Vordergrund; entscheidend waren die Inhalte, und die Bilder nur ein Vehikel. Ohne gläubig sein zu müssen, kann man von der Bibel lernen, dass der Tod der Feind des Lebens ist, und deshalb gleicht das Sterben einer Niederlage. Es ist deshalb gut, wenn die Ärzte in diesem Sinne ihrem Ethos, Leben zu erhalten, verpflichtet bleiben. Wir brauchen nicht mehr Sterbebegleiter, sondern verantwortlich denkende Mediziner. Wobei es nicht nur um medizinische Erfolge gegen Krankheit und (frühzeitigen) Tod geht, sondern auch um das Festhalten an der Einzigartigkeit des menschlichen Lebens. Eine Versöhnung mit dem Tod trägt in

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sich latent die Gefahr, in das Lebensende einzuwilligen. Dies verdeutlicht eine Passage in dem Essay zur Ars moriendi nova: Es gäbe auch „positive Konnotationen vom Ende des Lebens, etwa wenn wir hin und wieder das Gefühl haben, bereits jetzt genug gelebt zu haben, ‚lebenssatt‘ zu sein: Vor allem der letztgenannte Eindruck könnte wirksam helfen, wenn es darum geht, ein reales Ja zum Sterben zu finden […]“ (s.o. S. 20). In seiner Erzählung Der moderne Tod (erschienen in deutscher Übersetzung 2001) ließ der schwedische Schriftsteller Carl-Henning Wijkmark bereits in den 1970er Jahren eine Expertengruppe in geheimer Runde darüber diskutieren, wie den ‚Alten‘ und volkswirtschaftlich unnützen Senioren die Einwilligung in einen gesellschaftspolitisch wünschenswerten Frühtod schmackhaft gemacht werden kann. Jede Form einer Verharmlosung des Todes oder seiner Beherrschbarkeit durch Erlernen notwendiger Einsichten in die Endlichkeit des eigenen Lebens trägt in sich die Gefahr der Euthanasie, der Einsicht in die Notwendigkeit der Lebensverkürzung aus höherem Interesse. Das soll den Entwerfern der Ars moriendi nova nicht unterstellt werden, aber mir scheint, ihr Konzept könne einer solchen Ideologie Vorschub leisten. Der Tod muss in unserer Vorstellung der Feind des Lebens bleiben, damit das Leben einzigartig und unverwechselbar bleibt, und zwar jedes einzelne. Die kritische Stellungnahme zu einer Ars moriendi nova wendet sich nicht gegen Forderungen und Vorschläge für eine Verbesserung der Begleitung sterbender und trauernder Menschen, dies kann nur unterstrichen werden, aber hier ist auch in den letzten 25 Jahren viel geschehen. Und ich sehe weitere Bemühungen zur Optimierung in diesem Bereich. Und viele von ihnen neigen wie die Ars moriendi nova dazu, den Tod zu verharmlosen, indem sie ihn instrumentalisieren und methodisch verfügbar machen wollen. Der viel zitierte, Elisabeth Kübler-Ross zugeschriebene Satz „Sterben ist nur wie Umziehen in ein neues Haus“ zeigt genau diese Tendenz, die mich unruhig werden lässt, weil sie den Unterschied zwischen Leben und Nicht-Leben relativiert.

Der Tod gehört zum Leben Fritz Roth Jedes Jahr begegnen mir tausende Menschen, die trauern. Ich möchte aus der Perspektive des ‚Praktikers‘ einen Beitrag zur Ars moriendi leisten. Ich werde von meinen Erfahrungen berichten und natürlich Vorschläge machen, wie aus meiner Sicht eine Sterbekultur aussehen müsste, die das Wohl der Trauernden im Blick hat. Anders als viele Kolleginnen und Kollegen meiner Branche wurde ich nicht in ein Bestattungshaus hineingeboren. Ich habe diesen Beruf für mich gewählt. Wenn jemand den Beruf des Bestatters ergreift, ist die Frage nach dem Warum natürlich naheliegend. Um diese Frage, die mir übrigens sehr häufig gestellt wird, zu beantworten, möchte ich Ihnen erzählen, wann und in welcher Form mir der Tod das erste Mal begegnete. Ich bin auf einem Bauernhof im Bergischen Land aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, starb meine Großmutter. Nachdem die Tote von ihren Schwiegertöchtern angezogen worden war, kam sie ins ‚gute Zimmer‘, in den Raum der Weihnachtsfeste und großen Familienfeiern. Jeder, der bei ihr sein wollte, konnte sie anfassen, den Tod berühren, sehen und riechen. Das Leben im Haus ging weiter! Trauer war eine Sache der Gemeinschaft. Der Tod gehörte ins Alltagsleben. Der Tod war im wahrsten Sinne des Wortes ein ständiger Begleiter, der die Menschen an ihre eigene Sterblichkeit erinnerte und so das Gefühl vermittelte, dass Lebenszeit etwas sehr Kostbares war. Ich versuche, Menschen Mut zu machen, sich ihre Toten und die damit verbundenen Gefühle von niemandem stehlen zu lassen. Ich ermuntere sie, die mit dem Verlust entstehenden Bedürfnisse nach Ausdruck dieser Gefühle anzunehmen. Wenn ich liebe, trage ich eine ‚rosa-rote‘ Brille, die mir auf einmal neue Blickwinkel eröffnet. In der Trauer trage ich eine ‚schwarz-rote‘ Brille, die mir neue Einblicke auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens vermittelt. So kann ich in meiner Trauer entdecken, was wirklich wertvoll, oder besser: voller Werte ist. In der Trauer spüre ich, wie wertvoll Gemeinschaft und auch Gemeinde ist. Trauer braucht, wenn wir ehrlich sind, im Regelfall keine Seminare und Therapien. Trauer braucht – wie auch die guten Stunden des Lebens – Gemeinschaft. Trauer braucht Mit-Menschen. Trauer ist das gleiche Gefühl, das wir sonst im Leben Liebe nennen. Ich kann nur um jemanden trauern, wenn ich eine Beziehung zu ihm hatte. Und wenn ich um einen Menschen trauere – und ich verstehe hierbei Trauer und Liebe mit all ihren guten und schlechten Schattierungen und Ausprägungen –, dann muss ich das auch selbst ausdrücken können und sollte es nicht an Dritte delegieren. Wenn

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der Tod in eine Beziehung tritt, spüren wir die Quintessenz des Hoheliedes der Liebe: „... aber die Liebe höret nimmer auf.“ Die Liebe hört auch nicht auf, wir nennen sie jetzt nur anders: Trauer. Und heute? Heute werden den Menschen ihre Toten gestohlen. Der diensthabende Arzt verständigt die Angehörigen. Wenn überhaupt, dann bleibt zum Abschied vom Vater, Bruder und Opa nur ein kurzer Blick im gekachelten Keller der Klinik oder in der Sterilität der Friedhofskapelle. Bestatter, Pfarrer und Friedhofsverwaltung stellen Fragen. Die Hinterbliebenen sollen Antworten geben, und zwar schnell. Wann soll der Verstorbene beerdigt werden? Wie? Und wo? Die Dienstleistungs- bzw. Entsorgungsmentalität, die an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod herrscht, aber auch der Kult, den wir um Höchstleistung und ‚ewige‘ Jugend veranstalten, haben dazu geführt, dass viele den Tod nur noch vom Hörensagen kennen. Ein weiterer Grund liegt in unserem Konsumverhalten, unserem Glauben, alles ersetzen, neu kaufen zu können. Wir leben, als gäbe es keine Grenzen. Der Tod ist eine natürliche Grenze. Weil er nicht abzuschaffen ist, muss man ihn tabuisieren und totschweigen, damit sich möglichst niemand beim stetigen Konsum gestört fühlt. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr sehen Kinder und Jugendliche 250.000 Tote im Fernsehen, aber sie wachsen auf, ohne zu wissen, was Tod bedeutet, ohne einen verstorbenen Verwandten oder Freund noch einmal gesehen zu haben. Wir dürfen den Tod nicht nur in den erschreckenden Bildern der täglichen virtuellen Welten wahrnehmen, sondern wir müssen uns des Todes auch in der Realität bewusst sein. Memento mori Leider viel zu oft spricht in einer kalten Trauerhalle ein Pfarrer, zu dem oft nur ein distanziertes Verhältnis besteht, mehr weg-tröstende als Mut machende Worte; dann verschwindet der Sarg hinter einem schweren Samtvorhang. Das war‘s! Mit einem unbeholfenen „Kopf hoch, das Leben geht weiter“ verabschieden sich Freunde und Verwandte, lassen die Trauernden mit ihrem Schmerz und ihrem Leid alleine zurück. Möchten Sie sich auf diese Art von einem geliebten Menschen verabschieden? Nur wenn wir den Tod als Tatsache akzeptieren, ist es uns möglich, ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen. Der Tod begrenzt das Leben. Mein Ziel ist es, den Tod zurück ins Alltagsleben zu holen. Ich fordere deshalb eine radikale Erneuerung unserer Bestattungskultur. Ich will Ihnen ein Beispiel geben, damit Sie einen Eindruck davon bekommen, was passiert, wenn in Deutschland jemand stirbt. Katharina Kampmann (84) ist ziemlich fit für ihr Alter, sie schafft es problemlos einzukaufen, zu kochen, für sich zu sorgen. Mit ihrer Tochter Carina hält sie telefonisch Kontakt. Pünktlich jeden Samstag um 9:30 Uhr klingelt das Telefon. Ein Fernplausch nach dem Frühstück. Ein festes Ritual. Als am letzten Samstag das Telefon stumm bleibt, hat Carina gleich ein ungutes Gefühl. Sie bittet den Hausmeister, nach ihrer Mutter zu sehen. Der Hausmeister findet Katharina

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Kampmann in ihrem Bett. Sie ist in der Nacht gestorben, der Arzt trägt Herzversagen in den Totenschein ein. Noch bevor Carina sich ins Auto setzt, verständigt sie einen Bestatter. Der Bestattungsunternehmer holt die Tote ab, sargt ein, regelt die Behördengänge, textet die Traueranzeige und organisiert die Trauerfeier. Im Nachhinein betrachtet nahm er Carina Kampmann das Heft völlig aus der Hand. Er drängte zur schnellen Auswahl eines Sarges, kleidete ihre Mutter in ein Totenhemd und empfahl, sich den Leichnam nicht noch einmal anzuschauen. Der Kollege gab Carina den Rat, ihre Mutter so in Erinnerung zu behalten, wie sie zu Lebzeiten war. Erst als Carina darauf bestand, ihre Mutter noch einmal zu sehen, öffnete der Bestatter in der Leichenhalle kurz vor der Beerdigung noch einmal den Sarg. Ein richtiger Abschied war das nicht. Carina Kampmann bereut noch heute, dass sie sich für den Abschied nicht mehr Zeit genommen hat. Sie hätte gerne einige Stunden am Totenbett ihrer Mutter gesessen. Hätte sich gerne in der Wohnung ihrer Mutter, wo jeder Sessel, jede Tasse, jedes Bild voll schöner Erinnerungen steckt, mit dem Verlust und der Trauer auseinandergesetzt. Das Schicksal von Carina Kampmann steht stellvertretend für das Schicksal vieler trauernder Angehöriger in Deutschland. Trauer hat bei uns keine Heimat mehr. Bestatter und Behörden schreiben vor, wie man mit dem Verlust eines geliebten Menschen umzugehen hat. Kaum einer rät den Trauernden, die zu ihm kommen, sich Zeit zu lassen, den Toten zunächst noch in den eigenen vier Wänden, in vertrauter Umgebung zu behalten. Denn es gilt: Räume, die gut sind für die guten Stunden, sind dreimal so gut für die schweren Stunden. Es ist für mich ein großes Anliegen, die Toten wieder in Bereiche des alltäglichen Lebens, also nach Hause und in die Kirche zu holen. Ich halte es für eine verpasste Chance, dass wir unsere Toten aus der Kirche verbannen. Während wir die Messe feiern, liegt der Verstorbene vielleicht drei Straßen weiter in der Friedhofskapelle. Es fällt schwer, in einer solchen Feier Trost, Hoffnung und Perspektive zu vermitteln, wenn der, den wir betrauern, nicht Teil der Gemeinschaft ist. Stellen Sie sich zum Vergleich einen Taufgottesdienst vor, bei dem der Täufling nicht über das Taufbecken gehalten würde. Das wäre undenkbar; genauso verfährt aber die Kirche mit ihren verstorbenen Gemeindemitgliedern. Leider. Die Kirche könnte stattdessen durch das ‚nach Hause holen‘ des Verstorbenen die himmlische Heimat der Seele erfahrbar machen. Sie wäre wieder Heimat für die guten und die schweren Stunden des Lebens. Dann könnte nach einer Trauerfeier das Vergängliche aus der Kirche weggetragen werden, weil in der vorangegangenen Messe die Gemeinde spüren konnte, dass das Beseelte, das, was einen Menschen zur Persönlichkeit werden ließ, an dem Ort aufgehoben ist, an den wir alle glauben und nach dem wir uns sehnen. Der Trauernde braucht Zeit, um seine Toten von der Verstandesebene auf die Herzensebene zu überführen. Und der Trauernde braucht einen Raum, wo er seine Gefühle leben kann, denn Trauer braucht eine Heimat.

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Der Trauer eine Heimat geben Im „Haus der menschlichen Begleitung“ schlagen wir Angehörigen vor, den Toten in seiner Lieblings- bzw. Alltagskleidung zur letzten Ruhe zu betten. Nahe Angehörige ermuntern wir, bei der Totenwäsche behilflich zu sein. Der Verstorbene wird in einem hellen, freundlichen Raum aufgebahrt, seine Angehörigen und Freunde können Stunden, wenn sie es wünschen, auch Tage mit dem Toten zusammen sein, sie können den Toten berühren, ihm Gegenstände, die ihm wichtig waren, als Beigaben in den Sarg legen. Die Trauernden können Musik hören, Lesen, Schweigen, Reden, Schreien, Lachen. Erlaubt ist alles, was nicht gegen die guten Sitten verstößt. Bei uns trauern die Menschen ohne Vorschriften. Wenn man jemanden liebt, lässt man sich ja auch nicht diktieren, wie man dieses Gefühl ausleben soll. Trauer ist für mich eine besondere Form der Liebe. Trauerliebe, wie ich sie nenne, verlangt deshalb eine besondere Form des Ausdrucks. Jeder Trauernde sollte die Chance haben, sein ganz individuelles Abschiedsritual zu entdecken. Es ist an der Zeit, die starren Wege, die uns die konventionelle Bestattungskultur vorschreibt, zu verlassen und endlich wieder die Trauernden in den Mittelpunkt zu stellen. Je früher wir anfangen ‚hinzuschauen‘, desto besser sind wir darauf vorbereitet, im Trauerfall die richtigen Entscheidungen zu treffen und mit unserer Trauer vernünftig umzugehen. Wer seinen Ehepartner, seinen Vater, seine Mutter, sein Kind oder einen guten Freund verliert, muss sein Leben neu ordnen. Der Verlust eines geliebten Menschen hinterlässt eine Lücke. Was hätte man noch alles zusammen erleben können, was wollte man dem Verstorbenen nicht alles noch sagen. Es sind die verpassten Chancen, vielleicht sogar die Trauer über unserer eigenes, manchmal ungelebtes Leben, die wehtun. Der Tod zeigt uns, wie schnell die Zeit vergeht, wie unwiederbringlich vieles im Leben ist. Noch einmal: Trauer ist gleich Liebe. Verliebte tragen oft eine rosarote Brille, die die Welt in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Trauer gibt uns eine schwarzrote Brille in die Hand. Meine Aufgabe als Bestatter ist es, den Trauernden diese Brille aufzusetzen, ihnen vielleicht dabei zu helfen, sie etwas zu putzen. Das beste Putzmittel sind die eigenen Tränen. Tränen sind das Reinigungsmittel der Seele, mit dem man wieder Sehender wird. Jeder Tod ist in meiner Gedankenwelt für den, der damit leben muss, wie eine Amputation. Es wird ihm etwas abgeschnitten, was wie selbstverständlich Bestandteil seines Beziehungsgeflechtes war: der alte Vater, das Kind, die Partnerin ... Wenn einem Menschen ein Bein amputiert wird, dann kommt er im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Tritt, verliert das Gleichgewicht und liegt auf dem Boden. Was dieser Mensch dann nicht braucht, das sind all die Ratschläge derer, die meinen, ihn trösten zu müssen. Oft sind solche Ratschläge mehr Schläge als Rat. Was ein solcher Mensch aber braucht – und das ist auch meine Bitte an Seelsorger, Bestatter und an alle, die an dieser Schnittstelle des Lebens arbeiten – ist eine ‚Krücke‘. Eine Krücke im positiven Sinn, die einfach da ist, an der sich der Trauernde hochziehen kann, mit der er seine Situation stabilisieren kann, die ihn aus-

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hält mit all seinen Aggressionen und seiner Verzweiflung. Eine Krücke, die Mut macht, seinen Weg zu finden und das Leben wieder zu lernen. Eine Krücke gibt nicht den Weg vor. Sie gibt dem Amputierten die Chance, Lebenskrisen in Perspektiven zu wandeln, zu entdecken, was er vielleicht bisher falsch gemacht hat, zu sehen, wofür er blind geworden war. Dann werden aus derartigen ‚Krücken‘ wahre ‚Gehhilfen‘, die solange mitgehen, wie ihre Begleitung benötigt wird. Trauern ist ein langer, manchmal lebenslanger Prozess. Ein solcher Prozess endet nicht nach sechs Wochen. Und an der Seele bleibt – wie bei jeder Amputation – immer eine Narbe zurück. Diese Narbe tut auch nach langer Zeit weh, mal weniger, mal stärker. Und es ist wichtig, dass über diese Narben geredet wird und sie nicht totgeschwiegen werden. Trauern bedeutet Gefühle zeigen. Wenn ich in einer solchen Situation des Verlustes nicht Gefühle zeigen, ja, weinen kann und darf, in welcher Situation sollte ich es denn sonst tun können? Gleichzeitig bedeutet trauern aber auch, danke zu sagen. Wenn dieser Mensch nicht gelebt hätte, wäre die Welt anders – unabhängig davon, ob er nur einen Wimpernschlag im Mutterleib gelebt hat oder ob er hundert Jahre alt geworden ist. Wenn in einer solchen Stunde dann das, was diesen Menschen beseelt hat und was von ihm ausgegangen ist, als Erinnerung in den Herzen der Anwesenden verankert wird, dann besteht die Chance, aus einer Trauerfeier eine Geburtstagsfeier werden zu lassen. In einem solchen Moment kann eine neue Lebendigkeit geboren werden. Dieses Jahr werden in Deutschland voraussichtlich rund 900.000 Menschen sterben. Sicher haben einige von ihnen ganz ähnliche Wünsche für ihre Trauerfeier. Und ganz sicher wird für deren Angehörige der Weg zur ewigen Ruhe ihrer Lieben steinig, denn sie werden über Vorschriften und Dogmen stolpern, die dem letzten Willen im Wege stehen. Auch die standardisierten Friedhöfe sind mir ein Dorn im Auge: Grabsteine aus grauem, braunem oder schwarzem Marmor, poliert und mit geschwungener Oberkante verziert. Dann Stein für Stein aufgestellt in Reih und Glied. Der Volksmund spricht: „Ordnung ist das halbe Leben“, und Bestatter, Friedhofsgärtner und Verwaltungsbeamte finden, dass das auch im Tode so sein sollte. Wie starr und unbeweglich das System mittlerweile ist, fällt immer dann auf, wenn tatsächlich mal etwas anderes als ein genormtes Grab verlangt wird. Häufig geschieht das, wenn jemand aus einem anderen Kulturkreis auf einem deutschen Friedhof bestattet werden soll. Ich möchte, dass wir uns von den Steinwüsten verabschieden. Konformismus erstickt jede Kreativität. Jeder Mensch ist einzigartig. Leider ist davon bei einem Spaziergang über die meisten Friedhöfe nicht mehr viel zu spüren. Im krassen Gegensatz zu einer lebendigen Trauerkultur steht die anonyme Bestattung – in meinen Augen eine Bankrotterklärung unserer Kultur des Erinnerns. Leider erleben wir Anonymität und Konformismus heute überall. Im Alltag werden wir reduziert auf Kundennummern, Personalnummern und PIN-Codes. Namen sind nicht mehr gefragt. Für mich ist einer der schönsten Gedanken aus der Bibel: „Ich habe dir einen Namen gegeben und bei diesem Namen werde ich dich rufen.“ Beim Namen – nicht bei der PIN-Nummer.

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Fritz Roth

Trauer ist Liebe Mittlerweile sind von zehn Verstorbenen, für die ich die Trauerfeiern halte, sieben bis acht Kirchenmitglieder. Die Angehörigen sagen: „Herr Roth, bitte begleiten Sie uns in dieser Zeit und helfen Sie uns, selber zu gestalten und zu ‚begreifen‘.“ Ich trete ganz bewusst nicht als Theologe auf, aber ich versuche, in diesen Augenblicken Rituale zu finden, die auch nachvollzogen werden können. Ich schaue zum Beispiel im Rahmen einer Trauerfeier zurück und frage: Was ist von diesem Menschen ausgegangen? Was hat er bewegt? Wo hat er Spuren und Gedanken in dieser Welt zurückgelassen? Wodurch kann ich glauben, dass Tod niemals Tod ist? Solche Betrachtungen treffen für den Ärmsten der Armen wie für den Generaldirektor zu, für den Erwachsenen oder Greis wie auch für das Kind, das im Mutterleib verstorben ist. Begreifen ist etwas sehr Sinnliches und nichts Mentales. Wir haben es verlernt zu b-e-g-r-e-i-f-e-n. Mental verarbeiten wir auch mittlerweile den Tod. All das, was einen bewegt, was man ausdrücken möchte, lässt man sich im Trauerfall häufig aus der Hand nehmen und von anderen ausdrücken. Denken Sie nur an die standardisierten Traueranzeigen oder die oft lieblos heruntergeleierten Trauerreden. Trauer ist Liebe, und wenn sie verliebt sind, dann schreiben Sie ihre Liebesbriefe ja auch selbst, oder schicken Sie etwa einen Stellvertreter, wenn sie eine Liebeserklärung machen? Wer den Unterschied zwischen tot und lebendig begreifen will, muss hinschauen. Das, was uns Menschen ausmacht, was uns beseelt, lebendig sein lässt, liegt nicht im Sarg und steckt in keiner Urne. Wenn man wirklich mal in die Asche rein greift, dann bekommt der Gedanke „Staub bist du und zu Staub wirst du wieder werden“ eine ganz neue Dimension. Das, was im Sarg liegt oder sich in der Urne befindet, ist tote Materie. Das, was die Persönlichkeit eines Menschen ausgemacht hat – und hier möchte ich Bonhoeffer zitieren –, „… ist mit mir am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Aber wie begreift man? Helfen Sie dabei, Ihren verstorbenen Verwandten zu waschen, ziehen Sie ihm seine normale Kleidung an, bauen oder gestalten Sie den Sarg oder die Urne. Überlegen Sie, welche Rituale passen. Gestalten Sie die Trauerfeier, sorgen Sie dafür, dass daraus eine Lebensfeier wird. Die Feier einer neuen Verbindung, einer neuen Lebendigkeit und damit einer Neubeseelung, einer Neubelebung auch von Glauben. Beim Trauergespräch setze ich mich mit den Angehörigen an den Sarg und stelle Fragen wie zum Beispiel: Was ging von diesem Leben aus, das noch spürbar ist? Dann weiß man schließlich auch, dass es das Vergängliche ist, was man beerdigt und weggibt. Dabei wird aus dem Glauben fast eine Gewissheit. Ich erkenne, dass das, was dieser Mensch bewegt hat, mich auch weiterhin auf meinem Lebensweg begleiten wird. Vielleicht wird es in zehn oder 15 Jahren normal sein, dass Tote auf ihrem letzten Weg in die Kirche zurückkehren und auch in Großstädten wieder Leichenzüge durch die Straßen ziehen. Ich hoffe auch, dass unsere Toten in Zukunft wieder durch ‚vertraute‘ Hände beerdigt werden, Hände von Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn, und nicht durch Fremde oder seelenlose Versenkungsapparate. Ich träume davon, dass

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auch die Beerdigungen ‚in aller Stille‘ der Vergangenheit angehören und das nachfolgende Zusammensitzen und gemeinsame Essen wieder Normalität wird. Ich träume davon, dass Trauernde wieder in die Gemeinde integriert werden und dass Sterben, Tod und Trauer nicht mehr totgeschwiegen werden. Ich träume davon, dass der Tod wieder zu einem Begleiter wird, der uns spüren lässt, welch ein kostbares Geschenk das Leben ist.

Ars moriendi nova aus Sicht von Theologie und Spiritual Care Traugott Roser In ihrem Plädoyer für eine neue Sterbekultur greifen Daniel Schäfer, Andreas Frewer und Christof Müller-Busch Absicht, Methodik und Praxis der mittelalterlichen Ars moriendi auf. Schon der Titel des Plädoyers beschreibt die drei Themenfelder, in denen sich die Herausforderung stellt: 1. ‚Ars‘, die ‚Kunst‘ des Sterbens, 2. ‚Sterben‘ als ein pluriperspektivisch zu beschreibendes Phänomen, und 3. das ‚Neue‘ – also aktuell beobachtbare Trends und erwartbare Verschiebungen im gesellschaftlichen Umgang mit Sterben und Tod. In diese Logik fügt sich mein Kommentar ein, wiederum in dreifacher Weise: a) aus der Perspektive evangelischer, genauer: Praktischer Theologie, b) aus der Perspektive von Spiritual Care in Gestalt von Seelsorge, und c) aus der Perspektive eines (un-)mittelbar Betroffenen, der sich dem Sterben im Raum des Privaten stellen muss. Daraus ergibt sich eine Matrix, die versucht, das Thema zu systematisieren, indem thesenhaft neun Aspekte benannt werden, ohne sie im Detail zu begründen. 1a) ‚Ars‘ des Sterbens: Resonanzen aus der Praktischen Theologie Der Begründer der Praktischen Theologie als wissenschaftlicher Disziplin, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, hat in seiner Kurze[n] Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1811 erstmals veröffentlicht,1 danach gefragt, wozu es Theologie überhaupt gibt.2 Schleiermacher führt dabei den Begriff der Kunstregeln ein, auf den auch eine Ars moriendi verweist. „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche […] nicht möglich ist.“ Kunst ist ein von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Wirtschaft und Technik, Ökonomie und Politik zu unterscheidender Bereich. In der Kunst kommt – wie in der Religion – Individuelles zur Geltung in der Bezogenheit auf Allgemeines, auf 1 2

Schleiermacher (1910/1993), S. 2. Vgl. Birkner (1996), S. 285–305.

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soziale Zusammenhänge. Die Kunst des Sterbens vollzieht sich genau in diesem Raum zwischen Allgemeingültigkeit und individueller Ausgestaltung. Wie Schleiermacher die Disziplin der Praktischen Theologie dazu verpflichtet, Mittel und Wege zu bestimmen, die das Allgemeine (bei ihm das Wesen des Christentums) immer wieder aufs Neue praktisch realisieren helfen, so geht es bei der Ars moriendi darum, Mittel und Wege zu beschreiben, wie sich Sterben immer wieder aufs Neue praktisch realisiert. Insofern handelt es sich um eine Kunst als „Wissen des Könnens“3, um ein handlungsorientiertes Wissen, das auch normativ bestimmt ist, indem Kunstregeln kunstgerecht anzuwenden sind. Das ist nicht mechanisch leistbar, sondern künstlerischer Produktion vergleichbar: Wie in den ‚höheren Künsten‘ erfordert „das richtige Handeln in Gemäßheit der Regeln immer noch ein besonderes Talent“4, die Fähigkeit also, die Kenntnisse entsprechend der konkreten Situation zur Anwendung zu bringen und kreativ, ja mitunter in künstlerischer Freiheit schöpferisch mit ihnen umzugehen. Die Kunst des Sterbens (insbesondere der Sterbebegleitung) ist damit niemals nur Handwerk, aber sie ist auch nicht frei von handwerklicher Kunstfertigkeit. 1b) Ars moriendi als Thema von Spiritual Care Christliche Seelsorge fühlt sich von jeher den Kranken und Sterbenden verpflichtet. Wie im Essay der Herausgeber mehrfach explizit gemacht, hatte die mittelalterliche Ars moriendi ihre Heimat in der Seelsorge, und zwar in didaktischer Absicht, die sich sowohl auf den einzelnen Sterbenden richtete wie auch auf den Seelsorger. Die Kunst der Sterbebegleitung bedurfte der Unterweisung, um kunstgerecht praktiziert zu werden: Gerade in der Zeit der Reformation samt ihren gedanklichen und gesellschaftlichen Umbrüchen kam es zu Unsicherheiten des rechten Verhaltens angesichts des Sterbens. Die bislang auf Sünde, Buße, Gericht, Strafe und Gnade ausgerichteten Vorstellungen, die in der überkommenen BilderArs anschaulich wurden, konnten angesichts der Lehre von einem gnädigen Gott, der den Sünder rechtfertigt, statt ihn zu strafen, nicht mehr ohne Weiteres verwendet werden. Die Kunst der Sterbebegleitung im Protestantismus orientierte sich deshalb in der (nach-)reformatorischen Zeit weitgehend am KatechismusUnterricht, an der individuellen Aneignung, Bekräftigung und Vergewisserung der Rechtfertigungslehre als Vermittlung von Trost und Zuversicht. Der Angst vor den Widerfahrnissen jenseits der Sterbestunde sollte mit dem kräftigen Bekenntnis des Glaubens begegnet werden. Die Ars moriendi dieser Zeit war die situations- und kunstgerechte Anwendung der evangelischen Lehre in der Sterbebegleitung, die durch Visitationen und Hilfsmittel den Seelsorgern nahegebracht werden sollte, damit sie den Sterbenden nicht im Ungewissen lassen mussten.5

3 4 5

Grözinger (1987), S. 173. Schleiermacher (1910/1993), S. 102, Zusatz zu § 265. Vgl. Resch (2006); Reinis (2007).

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Die Unterscheidung zwischen einer mittelalterlichen Ars moriendi und einer Ars moriendi nova in diesem Band spiegelt sich wider in der Differenz zwischen der Seelsorge der Reformationszeit und der Gegenwart. Heutiger Seelsorge liegt die didaktische Absicht fern. Die historische Perspektivierung macht aber darauf aufmerksam, dass seelsorgliche Sterbebegleitung mitunter auf spirituelle Vergewisserung ausgerichtet sein kann. Durch die Begegnung mit einem Seelsorger als Repräsentanten einer bestimmten Religionsgemeinschaft – und dem damit verbundenen impliziten Wahrheitsdiskurs – kann sich der Sterbende aufgefordert fühlen, sich von Geltungsansprüchen der Kirche(n) zu distanzieren oder das eigene Verhältnis dazu zu bestimmen („Gell, wir glauben doch alle an denselben Gott, Frau Pfarrerin!“ – „Ich kann mit der Kirche schon lange nichts mehr anfangen, warum jetzt?!“). Das Angebot von Seelsorge, das unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft allen Menschen gilt, eröffnet den Raum für den Einzelnen, die eigene Spiritualität und ihre Bedeutung für die Situation von Krankheit und Sterben zur Sprache zu bringen, zu explizieren und als eine möglicherweise verschüttete Quelle neu zu erschließen. Auf diese Weise wird der Sterbende zum spirituellen Akteur. Die Frage nach der Wahrheit ist dann nicht eine Frage nach einer absoluten, allgemein gültigen Wahrheit, sondern die Suche nach einer Gewissheit, ob die individuelle Spiritualität (z.B. das individuelle Wertesystem) sich jetzt für den Einzelnen als wahr erweist, also verlässlich und tragfähig in der Sterbesituation ist. Auch hier kann eine Bekenntnisleistung erfolgen, nämlich ein Bekenntnis zur eigenen Biografie und den darin gelebten Wertund Glaubensvorstellungen. Entsprechend sind Gespräche von Seelsorgern mit Sterbenden häufig über längere Passagen biografisch orientiert. Dies entspricht dem Plädoyer für eine Ars moriendi: Der Anspruch an Kunst ist immer auch die Auseinandersetzung mit Wahrheitsansprüchen, was in der Gegenwart mitunter in kritischer Absicht als Provokation zu einer Positionsbestimmung geschieht. Der Einzelne wird als spiritueller Akteur auch zum Autor, zum Künstler. Seelsorge hat das Ziel, ihn dabei zu unterstützen und das eigene Sterben als Bestandteil des eigenen Lebens zu gestalten. 1c) Die persönliche Perspektive des Sterbens Dies gilt auch für das eigene Leben im Angesicht des Todes. In der Tätigkeit des Seelsorgers wie jedes anderen professionellen Begleiters beim Sterben gehört es zu den Kunstregeln, die eigenen Ressourcen, Bedürfnisse und Nöte zu reflektieren. Die immer wiederkehrende Konfrontation mit dem Sterben anderer verlangt nach der Fähigkeit, Erlebtes und Fremdes deutend in den eigenen Lebenshorizont einzuordnen, sich ‚einen Reim‘ darauf zu machen und eigene Wahrheitsansprüche herausfordern zu lassen. Nicht selten werden durch das Sterben anderer auch eigene Erfahrungen wachgerufen, die mit Ängsten oder Idealisierungen verbunden sind. Zu einer Ars moriendi gehört deshalb die Bereitschaft, sich durch die ‚Kunst des Sterbens anderer‘ herausfordern, zu einer auf die eigene Person bezogene Po-

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sitionsbestimmung provozieren zu lassen, oder einfacher: sich selbst als mit Gewissheit Sterbender zu generieren. 2a) Sterben aus der Perspektive Praktischer Theologie „Das Individuum […] ist das eigentliche Opfer des Todes. Indem das Ich zum reflektierenden Wissen gelangt, gelangt es zum Wissen seines notwendigen Untergangs.“6 Biblischen Texten als primärer Referenzquelle christlicher Theologie ist dieses Wissen inhärent. Sie sind Zeugnisse, denen in der Theologie ein Wahrheitsanspruch für die Lebensdeutung und Lebensführung von Christen zugestanden wird. Dazu gehören Aussagen wie die Erkenntnis, dass der Tod die natürliche Grenze des geschöpflichen Lebens ist. Aber Sterben wird nicht allein durch die Kreatürlichkeit des Lebens schon als positiv oder negativ gewertet. Gutes Sterben wird in den Erzählungen zentraler biblischer Figuren qualifiziert durch die Attribute „alt und lebenssatt“ (Gen 25,8; Hi 42,17 oder Dtn 34,7). Das Erreichen eines hohen Alters in verhältnismäßig guter Verfassung gilt als Ausweis von Segen, der sich auf den sozialen Kontext überträgt, wenn das Sterben mit der Möglichkeit von Abschiednehmen und Versöhnung verbunden ist. Demgegenüber kennen biblische Texte ein Sterben, das zu früh ins Leben einbricht und nicht akzeptiert wird. Sowohl alt- wie auch neutestamentliche Auferweckungserzählungen (1 Kön 17, 17–24; 2 Kön 4,18–37; Joh 11,1–45 u.a.) heben den Tod von Kindern und jungen Menschen auf, motiviert durch die Trauer der Angehörigen. Die biblischen Texte stehen in ihrer Summe – und trotz der prinzipiellen Akzeptanz – der Endlichkeit kreatürlichen Lebens skeptisch gegenüber: Der Tod ist ein Feind des Menschen – aber der Tod ist der letzte Feind, der gerade nicht den Sieg behält (1. Kor. 15,55– 57).7 Sterben wird im Horizont des Gottesglaubens gedeutet. Grundlegend ist die Aussage in Röm 6,23: „Der Tod ist der Sünde Sold“. Das Sterben betrifft nicht nur die Beziehung zwischen den Menschen, sondern auch die Gottesbeziehung. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Sterben Jesu: In den Passionsberichten verdichten sich die biblischen Vorstellungen im Sterbensschrei des Gottverlassenen (Mk 15,34). Insgesamt eignet den biblischen Texten ein nüchtern realistisches Verständnis des Sterbens. Endlichkeit wird zwar akzeptiert, stellt aber ein menschliches und theologisches Problem dar, das als Leid erfahren wird. Eine Befriedung und Befreundung mit dem Tod ist aus biblischer Perspektive nicht gegeben. Der unverzichtbare Beitrag der christlichen Theologien zum Diskurs über das Sterben in der Gegenwart ist dieser nüchterne und realistische Blick. Er schützt vor Tendenzen, die auch in Palliative Care gegeben sind, einen ‚schönen Tod‘ für machbar und herstellbar zu halten. Selbst dort, wo dank guter Symptomkontrolle Schmerzfreiheit eintritt, bleibt der Schmerz der Trennung und des Getrenntseins – 6 7

Weizsäcker (1977), S. 146. Vgl. Honecker (1990).

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von der eigenen Zukunft, vom eigenen Partner und mitunter auch der Schmerz der Gottesferne. Der Beitrag von Theologie, Philosophie und den geisteswissenschaftlichen Disziplinen in den Debatten um das Sterben der Gegenwart ist darum nicht zuletzt die orientierende Verortung aktueller Entwicklungen in ihren geschichtlichen Zusammenhang, die Erinnerung archaischer Erfahrungen und anthropologischer Konstanten. Dies wehrt einer Ökonomisierung und Rationierung durch Reduktion des Sterbens auf medizinische Fragen am Lebensende. Neben der biblisch begründbaren und menschlicher Erfahrung entsprechenden Skepsis gegenüber dem Sterben als Fatum gibt es aber auch die Verheißung eines Sterbens, das als ‚lebenssatt‘ qualifiziert ist. Psalm 91 schließt in Vers 16 sogar mit der Gottesrede an den Beter: „Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.“ Ein als friedlich erlebtes Sterben, das ein qualitativ langes Leben abrundet, kann als Segen empfunden werden, vom Sterbenden und seiner Umgebung. 2b) Sterben und Lebenssättigung: Aufgabe von Spiritual Care Heutiges Sterben angesichts der Möglichkeiten von Intensiv- bis Palliativmedizin nötigt den Einzelnen in einem höheren Grad zur Selbstverantwortung, die die Umstände seines eigenen Sterbens frühzeitig – etwa durch umfassende Vorsorgeplanung – regeln muss. In der Befähigung dazu liegt eine wachsende Aufgabe beratender und seelsorglicher Tätigkeit, die angesichts der Medikalisierung und Individualisierung des Sterbens immer wieder an Grundeinsichten erinnern wird: Bei der Sterbephase handelt sich um eine besondere Phase des Lebens; der sterbende Mensch ist ein unverwechselbares Individuum, dessen Würde im institutionellen und gesellschaftlichen Kontext zu schützen ist. Gerade der Hinweis der Herausgeber auf Lebenssattheit, der durch die biblischen Texte inhaltlich bestimmt werden kann, wirft die Frage auf, ob der Sterbende seine Situation als Lebenssattheit empfinden mag. Nach der biblischen Bestimmung ist dies die Fähigkeit des Rückblicks auf ein ‚erfülltes‘ Leben, das als gesegnet gewertet werden kann, also Biographiearbeit im Horizont des individuellen Glaubens. Zur Lebenssattheit gehört das Wissen, geordnete Verhältnisse zu hinterlassen. Auch hier kann Seelsorge im Verbund mit anderen Professionen, insbesondere der Sozialarbeit, einen Beitrag leisten, indem inmitten der medizinisch-pflegerischen Versorgungsstrukturen immer wieder Freiräume für die Klärung des ‚Nachlasses‘ geschaffen werden. Explizit handelt Seelsorge ‚lebenssättigend‘ in Form rituellen Handelns, wenn der Segen sinnlich – und unter Umständen unter Verwendung symbolischer Nahrung – Sättigung zuspricht. Es ist der Kern christlicher Seelsorge, die Rechtfertigungslehre, diese abstrakt anmutende Verkündigung der bedingungslosen Annahme, in leibliche Zeichen und biographisch-konkrete Situationen zu übertragen. Nicht selten stellt sich erst nach einer rituellen Handlung inmitten des Familien- und Freundeskreises das Gefühl der Akzeptanz des Sterbens und des Friedens ein.

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2c) Sterben im privaten Leben des Seelsorgers Die Reflexion verlangt es vom Autor, das Sterben als Thema des Privaten nicht auszuklammern, sondern explizit zu machen. Dazu gehört in meinem Fall, das Sterben in meinem unmittelbaren Umfeld zu beleuchten, verbunden mit der Frage, ob sich auch bei mir durch die gemachten Erfahrungen eine Art ‚Lebenssättigung‘ einstellen konnte. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, möchte ich exemplarisch benennen, was es mir leichter macht, das Sterben geliebter Angehöriger in mein eigenes Handeln integrieren zu können. Die Erfahrung des Todes meines Vaters nach 30 Jahren schwerer Herzkreislauferkrankung, die einen geradezu typischen Verlauf mit wiederkehrenden Krisen und nachfolgend jeweils reduzierter gesundheitlichen Verfassung nahm, ist mir Herausforderung. Es gelang nicht, ihn bis zuletzt in einem für ihn menschenwürdigen Zustand, frei vor allem von quälendem Durst und dem Verlangen nach kühlender Flüssigkeit zu erhalten. Auf der Intensivstation lag er nackt inmitten einer rein technischen Umgebung, obwohl sein Tod unmittelbar absehbar war. Als immer auf Privatheit achtender und Würde bedachter Mann war er im Sterben völlig auf das Dasein eines Intensivpatienten reduziert, und ich frage mich bis heute, weshalb wir – mich eingeschlossen – nicht in der Lage waren, ihm den Komfort basaler Palliativbetreuung zukommen zu lassen. Das Funktionieren des medizinischen Apparats war zu mächtig, obwohl Palliativbetreuung längst im Haus etabliert war. Seitdem ist mir bewusst, dass Palliativmedizin auch für kardiologische Patienten verstärkt werden muss. Mein Lebenspartner starb wenige Monate später infolge einer onkologischen Erkrankung. Bei ihm war über den gesamten Verlauf von zwei Jahren palliatives Denken und Handeln auf Seiten des begleitenden Personals der ‚Normalstation‘ präsent und leitend. Ihm war es nicht erst in der Sterbephase möglich, ein eigenes Leben bis zuletzt zu führen. Die Pflegekräfte und Ärzte, Seelsorgerinnen und zuletzt der Physiotherapeut ermöglichten ihm, dass er, obschon erst 46 Jahre alt, durch und durch gesättigt sein Leben bis zum Ende leben konnte. Dank der Haltung und Achtsamkeit einer menschlich denkenden medizinischen Versorgung starb er völlig schmerzfrei – und trank trotz eines Ileus dank einer abführenden Magensonde bis zuletzt literweise kühlende Getränke. Die Behandlung quälender Symptome hat mit der Achtung vor der Person zu tun. Alle Berufsgruppen und auch die Angehörigen sind aufgerufen, Quälendes ernst zu nehmen, weil es den Menschen klein macht, wo er Größe braucht, in der Begegnung mit dem eigenen Tod. 3a) Nova – das Neue und die alte Theologie Eine Ars moriendi nova fragt nach dem Neuartigen des Sterbens in der Gegenwart. Die Aufgabe der Praktischen Theologie ist es dabei, als Kulturwissenschaft einen Beitrag kultureller Selbstvergewisserung zu leisten.

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Dies sei anhand des Themas eines angemessenen Umgangs mit dem Leichnam angedeutet, den Fritz Roth in seinem Beitrag ausführlicher behandelt. Der Abschied von gesetzlich eng gefassten oder durch Konventionen vorgegebenen Normen hat zu einer neuen Freiheit und vor allem zu einem bewussten Umgang mit dem Leichnam geführt. Gleichwohl benennen auch die Herausgeber Trends, die mitunter auch skeptisch stimmen: die Übernahme der Trauerkultur durch Unternehmen (und die damit einhergehende Ökonomisierung der Trauerkultur), das Fehlen öffentlicher Trauerrituale, die Zunahme anonymer Bestattung, den Trend zur Billigbestattung bis hin zum Phänomen plastinierter Leichen in den Körperwelten. Die Herausgeber formulieren: „Der Wandel von Bestattungsriten und Erinnerungskultur spiegelt damit beispielhaft gesamtgesellschaftliche Trends zur Säkularisierung, Liberalisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Ökonomisierung und Technisierung“ (vgl. S. 17). Aus meiner Sicht stellt sich den Religionsgemeinschaften hierzulande samt ihren karitativen Einrichtungen – wie Diakonie und Caritas, aber auch der jüdischen Chewra Kadisha oder den wohltätigen Organisationen muslimischer Gemeinden – die Aufgabe, öffentlich sichtbarer zu werden: nicht nur als konkrete Repräsentation von Trauerkultur, sondern auch, weil sie eine über die Jahrhunderte hinweg leistungsfähige Betreuung und Versorgung von Menschen in einer individuellen Notsituation ermöglicht haben. Leider ist dies innerhalb der Religionsgemeinschaften so selbstverständlich erfolgt, dass das Bewusstsein für den Schatz kulturellen Wissens nicht nur bei den ‚Laien‘ verlorengegangen ist, sondern auch bei den ‚Profis‘. Dies führt dazu, dass die Marginalisierung der eigenen Kultur durch die oben geschilderten Trends bejammert wird, ohne sich stärker zu profilieren und sich kreativ mit den eigenen Traditionen im Markt zu behaupten. Es wundert mich, dass gerade die kirchlichen Sozialträger sich nicht als moderne und traditionsbewusste Bestatter betätigen, was ja durchaus in Übereinstimmung mit der eigenen Geschichte wäre, gehörte die Versorgung der Toten – gerade auch der nicht zur eigenen Religionsgemeinschaft gehörenden Toten! – doch zum Kernbestand christlicher Liebestätigkeit in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Einen Lichtblick stellt die Reaktion mancher Kirchen auf das Phänomen ‚Friedwald‘ dar. Es ist gelungen, dieses Konzept in christliche Friedhofskultur zu integrieren, solange der Name des Verstorbenen am Baum der Urnenbestattung erkennbar ist. Mancher Friedwald ist längst in kirchlicher Trägerschaft. Der Kern christlicher Trauerkultur, das Gedächtnis des Toten in Gestalt seines Namens, lässt sich mit der auf die Natur bezogenen Spiritualität aufs Beste verbinden. 3b) Das Neuartige an Spiritual Care Auch die Seelsorge ist durch das Neuartige einer Ars moriendi in Gestalt von Palliative Care gefordert. Das Neuartige ist ja vor allem der ganzheitliche Ansatz, in dessen Zentrum die Bedürfnisse und Ressourcen des Patienten und seiner Angehörigen stehen. Der ganzheitliche Ansatz bedeutet das multiprofessionelle Zu-

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sammenarbeiten aller Berufsgruppen einschließlich der ehrenamtlich zur Betreuung Berufenen. Auch die Integration stationärer und ambulanter Versorgungsstrukturen ist eine zentrale Aufgabe (obgleich noch häufig eine Herausforderung) von Palliative Care. Neuartig ist es dabei für Seelsorge, dass sie aufgerufen ist, sich in dieses Versorgungsnetzwerk zu integrieren. Bislang ging es Seelsorgern gut damit, dass sie nicht zum ‚System‘ gehörten und sich frei und unabhängig darin bewegen konnten. Dies war sogar verfassungsrechtlich gut begründet durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit, das einem Menschen auch in einer öffentlichen Einrichtung wie einem Krankenhaus zusteht. Der Besuch des Seelsorgers wie die Teilnahme an Gottesdiensten im Krankenhaus sind ein Ausdruck dieser Religionsfreiheit. Indem nach palliativmedizinischer Auffassung Spiritualität nun aber integraler Bestandteil des Lebens auch im Angesicht des Todes ist, bedarf es einer Integration von Spiritual Care in das Gesamtkonzept der Versorgung am Lebensende. Dies hat dazu geführt, dass Seelsorger sich zunehmend am Teamgeschehen beteiligen, bis hin zur Teilnahme am Dokumentationswesen, sofern dies unter der Bedingung seelsorglicher Vertraulichkeit möglich ist. Aber Seelsorge erlebt auch, dass Spiritual Care durchaus einer Dimension des Handelns der anderen Berufsgruppen entspricht und zudem die Frage der in Spiritual Care Tätigen eine Frage der Qualität des Handelns darstellt, sowohl der Qualifikation wie auch der Nachprüfbarkeit. Eine Ars moriendi nova bringt für Seelsorge als qualifiziertem Ansprechpartner für Spiritual Care die neuartige Herausforderung, die eigene Rolle in und gegenüber Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens transparent und nachvollziehbar zu bestimmen. 3c) Das Neue am eigenen Sterben Die letzte Perspektive ist eine geradezu banale, aber dennoch unverzichtbare. Das Sterben stellt in jedem menschlichen Leben eine neue Erfahrung dar. Neu heißt in diesem Fall: fremd und unbekannt, mit allem, was Unbekanntes und Fremdes an emotionalen Reaktionen auslöst: Angst und Neugier, Pioniergeist und Vermeidungsstrategien. Für mich bedeutet dies, dass ich mir bei aller Kunstfertigkeit, bei aller Vertrautheit mit Sterbesituationen anderer bewusst bleiben muss, dass es eine Uneinholbarkeit gibt. Der Andere ist mir immer voraus. Ich bleibe in einer steten Distanz – und dies zum gegenseitigen Schutz, denn das fascinosum des Todes kann für Sterbebegleiter auch die Verlockung mit sich bringen, in eigenem Interesse dem Sterbenden zu nahe zu treten, sich an seiner Erfahrung geradezu zu berauschen. Die Distanznahme gilt auch mir selbst als kritische Aufgabe: Die Begleitung anderer will ich nicht als Teil meiner Vorbereitung auf das eigene Sterben verstehen und ausnützen. Nicht das Sterben anderer, sondern meine eigene Lebensfüh-

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rung sind die Basis meiner eigenen Form einer Ars moriendi. Und auch für mich wird das eine neue Erfahrung sein, wie für jeden Menschen.

Literatur Birkner, Hans-Joachim: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm. In: Ders. (Hrsg.): Schleiermacher-Studien (SchlA 16). Berlin/New York 1986, S. 285–305. Grözinger, Albrecht: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der praktischen Theologie. München, Kaiser, 1987. Honecker, Martin: Einführung in die theologische Ethik. Berlin/New York 1990. Resch, Claudia: Trost im Angesicht des Todes. Frühe reformatorische Anleitungen zur Seelsorge an Kranken und Sterbenden. Tübingen/Basel, Francke, 2006. Reinis, Austra: Reforming the Art of Dying. The ars moriendi in the German Reformation (1519–1528). Aldershot, Ashgate, 2007. Roser, Traugott: Spiritual Care: Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge. Ein praktisch-theologischer Zugang. Mit einem Geleitwort von Eberhard Schockenhoff. Stuttgart, Kohlhammer, 2007. Schleiermacher, Friedrich D.: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hrsg. von Heinrich Scholz. 3. kritische Ausgabe, Leipzig 1910 (neuerlich erschienen in der Bibliothek Klassischer Texte der WBG, Darmstadt 1993). Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der Tod. In: Ders.: Der Garten des Menschlichen. München 1977, S. 145–166.

Ars moriendi nova: Sterbebegleitung als Ehrenamt in der Kirchengemeinde? Austra Reinis Es kann leicht einem jeden von uns passieren, dass wir in die Lage kommen, einem Sterbenden helfen zu müssen. Der Sterbende kann ein naher Angehöriger oder eine Angehörige sein oder auch jemand, der keine Familie mehr hat, die ihm oder ihr in den letzten Tagen des Lebens beisteht. Er oder sie kann sich zu Hause, im Pflegeheim oder auch im Krankenhaus befinden. Er oder sie mag bei vollen oder weniger vollen Geisteskräften sein. Für mich als lutherische Christin, die sich historisch mit der Ars moriendi oder ‚Sterbekunst‘ der Reformationszeit befasst hat, stellt sich die Frage: Wie kann ich als Christin heute einem sterbenden Menschen beistehen? Wie kann ich überhaupt wissen, was ich tun soll und welche Hilfe angemessen ist? Welche Hilfe kann ich von meiner Kirchengemeinde erhalten? Wie die Herausgeber dieses Bandes in ihrem Essay hervorgehoben haben, gab es bereits im Mittelalter Anleitungen zur Sterbeseelsorge, die heute unter dem Begriff ‚Ars moriendi‘ bekannt sind. Eine Internetrecherche zeigt, dass es auch heute Bücher gibt, welche zur Sterbevorbereitung und Sterbeseelsorge anleiten. Darüber hinaus gibt es die Hospizbewegung in Deutschland, welche sich als Ziel setzt, Menschen mit Würde im Sterben zu begleiten und ihnen bis dahin ein möglichst volles Leben zu ermöglichen. Diese Bewegung besteht aus unabhängigen Hospizvereinen, oft in kirchlicher Trägerschaft. Mitglieder dieser Vereine unterziehen sich einer entsprechenden Ausbildung und stellen sich, in der Regel ehrenamtlich, zur Verfügung, wo es der Begleitung von Sterbenden bedarf – in Krankenhäusern, Pflegeheimen und oft auch zu Hause bei den Sterbenden. Die Ausbildung in der Sterbebegleitung berücksichtigt in der Regel folgende Schwerpunkte: Man denkt über den eigenen Umgang mit Tod und Sterben nach, man bespricht die eigenen Erfahrungen mit Tod und Sterben, man macht sich mit den fünf Phasen des Sterbens vertraut und man lernt, mit Sterbenden zu kommunizieren und ihre physischen, psychologischen und spirituellen Bedürfnisse wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Als Christin freue ich mich über die ständig wachsende Anzahl der Hospizvereine in Deutschland und wünsche es mir, in jeder Kirchengemeinde neben einem Besuchsdienst, welcher ältere Gemeindeglieder zu Geburtstagen besucht, auch einen Hospizdienst zu sehen, welcher Sterbebegleitung anbietet. Um eine breitere Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzeugen, könnten Mitarbeiter eines solchen Hospizdienstes zusätzlich einzelne Elemente ihrer Ausbildung in der Kirchengemeinde in Bibelarbeiten, Diskussionsabenden und Gesprächskreisen ver-

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mitteln. Pfarrer/-innen könnten die christliche Sterbekunst in Predigten thematisieren und sie mit Gedanken über eine christliche Ars vivendi oder Lebenskunst verbinden. Ein solcher Umgang mit Tod und Sterben in der Kirchengemeinde würde „Fragen nach Sinn- bzw. Sinnlosigkeit des Sterbens, des Todes und des Glaubens“ aufgreifen, welche die Autoren des Essays mit Absicht ausgeklammert haben. Er würde Menschen die Gelegenheit bieten, sich gemeinsam mit christlichen Vorstellungen über den Sinn des Lebens und des Sterbens auseinanderzusetzen. Er könnte die Angst vor dem Tod mindern und Menschen zu einer fröhlichen Ars vivendi motivieren, zu welcher die Gewissheit gehört, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, dass man von ihm etwas lernen kann und dass er ein Übergang in eine weitere, ganz andere Lebensphase ist. Sicher würde dieser Umgang mit Tod und Sterben auch zu einer „konkrete[n] Verbesserung der Begleitung Sterbender und Trauernder“ führen. Denn, wie der Autor einer mittelalterlichen Ars moriendi einst schrieb: „[K]ein sterbender Mensch soll allein bleiben, sondern versehen sein mit andächtigen Leuten, die ihn mit gute[m] [Trost] und Lehre können ansprechen, auf beständigen Glauben, auf Geduld [im Sterben], auf Andacht und guter […] Hoffnung zu Gott.“1 Der obengenannte Vorschlag spricht alle vier von den Herausgebern in ihrem Essay beschriebenen Anliegen der Ars moriendi an: das mentale (die eigene Sterblichkeit bewusst wahrnehmen), das visuelle (lernen, wann, wo, wie man stirbt, sich ein Bild des eigenen wahrscheinlichen Todes machen), das pädagogische (eine eigene Kunst des Sterbens entwickeln und sie mit einer Lebenskunst verbinden) und das pragmatische („normales Sterben und Tod [...] zu einem Gesprächsthema machen“). Ganz konkret für mich als lutherische Christin bedeutet ein solcher Umgang mit Tod und Sterben, dass ich eine genauere Vorstellung davon gewinne, wie ich einem sterbenden Familienmitglied in Zukunft beistehen und wie ich mit ihm kommunizieren und ihm helfen kann. Zusätzlich könnte ich getrost sein, dass es Menschen in der Gemeinde gibt, die mir gegebenenfalls mit Rat und Tat beistehen. Literatur Böke, Hubert. Buch vom LEBEN und vom STERBEN: Ein christlicher Wegbegleiter. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009. Jeden Tag bist du mir nahe . . . Sterben Tod Bestattung Trauer: Eine evangelische Handreichung für Menschen, die trauern und für die, die sie in ihrer Trauer begleiten. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus, 2009. Mauder, Albert. Die Kunst des Sterbens: Eine Anleitung. 3. Aufl. Regensburg, Verlag Friedrich Pustet, 1973. Sterzik, Sibylle/Bürger, Frank (Hrsg.): Evangelisches Themenheft Tod und Abschied. Berlin, Wichern-Verlag, 2010.

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Weil, Ernst (Hrsg.): Die deutsche Übersetzung der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1470 (facsimile reprint). München-Pasing 1922, S. [n]r.

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Weil, Ernst (Hrsg.): Die deutsche Übersetzung der Ars moriendi des Meisters Ludwig von Ulm um 1470 (facsimile reprint). München-Pasing 1922. Internetadressen: Hospizverein Marl e.V. Martin-Luther-Straße 14 45768 Marl Telefon: 02365/5096946 E-Mail: [email protected] Web: www.hospizverein-marl.de Internet-Plattform „Seelsorge im Alter“ Diakonisches Werk Württemberg Heilbronner Str. 180 70191 Stuttgart Tel.: 0711/1656-203 Fax.: 0711/1656-49203 E-Mail: [email protected] Web: www.seelsorge-im-alter.de

Sterben für alle?1 Joachim Wittkowski 1. Zum mehrdeutigen Gebrauch von Begriffen Die Auswirkungen, welche die Verwendung unscharfer Begriffe, insbesondere die Gleichsetzung oder Verwechslung von ‚Sterben‘ und ‚Tod‘, haben kann, sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden.2 Hier soll es um die Begriffe ‚der Tod‘ und ‚Sterbekunst‘ gehen. Unlängst sprach ein hoher kirchlicher Würdenträger in einem hochschulöffentlichen Vortrag von seinem Erleben am Totenlager eines bestimmten Menschen. Dort sei er „dem Tod“ begegnet. Was soll man sich unter dieser Äußerung vorstellen? Was genau hat der Vortragende mit seinen äußeren, möglicherweise aber auch nur mit seinem inneren Auge gesehen? In unserem Kulturkreis verbinden sich mit dem Begriff ‚der Tod‘ – eine politisch korrekte, nicht-sexistische Fassung scheint noch nicht gebräuchlich zu sein – Vorstellungen vom Knochenmann, von der umhüllten Gestalt mit der Sense in der Hand, vom Fährmann über den Styx, ferner vielleicht von Dunkelheit und Kälte. Obwohl der personifizierte Tod vereinzelt auch als Freund oder gar als Liebhaber dargestellt worden ist, ist seine Gestalt ganz überwiegend mit dem Gefühl der Bedrohung und des Unheimlichen verbunden. Ist es das, was der eingangs erwähnte Referent erlebt hat? Bei nüchterner Betrachtung, wie es etwa vor Gericht üblich ist, kann man an einem Totenlager einzig und allein eben diesen Toten, den Leichnam, sehen; alles weitere ist kulturell geprägte Deutung, die über das konkret Fassbare hinaus geht. Wenn nun statt der sachlichen Bezeichnung ‚Leichnam‘ der Begriff ‚der Tod‘ verwendet wird, bedeutet dies, eine negativ getönte emotionale Aufladung des ursprünglich eher neutralen Sachverhalts einzuführen. Aus dem konkret fassbaren Toten wird der unfassbare, dunkle und kalte Tod. Im Essay der Herausgeber ist von ‚Sterbekunst‘ als der „Unterstützung und Begleitung von Menschen am Lebensende“ die Rede. Gemeint ist offenbar die Kunst der Sterbebegleitung, d.h. es geht um das Sterben anderer. Man kann ‚Sterbekunst‘ aber auch auf das Erleben und Verhalten während des eigenen Sterbens 1

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Diese Anmerkungen zu dem einleitenden Essay der Herausgeber des Sammelbandes Ars moriendi nova sind in zweifacher Hinsicht ganz und gar unabhängig: Sie sind von keinem der anderen Diskussionsbeiträge angeregt oder beeinflusst worden, und sie beziehen sich inhaltlich nicht auf Aussagen anderer Diskussionsbeiträge, etwa im Sinne von Zustimmung, Ablehnung oder ‚Richtigstellung‘. Wittkowski (2011).

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beziehen. In diesem Fall geht es um das Ergebnis eines langen Prozesses des ‚Vordenkens‘. Es geht hier um die mentale Beschäftigung mit der zukünftigen Situation des eigenen Sterbens, die dazu führt, im Bedarfsfall bestimmte Entscheidungen (z.B. die Verlängerung des eigenen Lebens betreffend) rasch und mit subjektiver Sicherheit treffen zu können. ‚Der Tod‘ bedeutet zum einen Totsein, d.h. die Abwesenheit von Leben in seiner psycho-physischen Dimension. ‚Der Tod‘ kann zum anderen eine kulturgeschichtlich geprägte Gestalt bezeichnen. Mit Blick auf das Sterben ist es zweckmäßig, den Bezug auf die eigene Person (‚mein Sterben‘) und den Bezug auf andere Menschen (‚dein Sterben‘) zu unterscheiden. Werden diese Unterscheidungen nicht vorgenommen, besteht die Gefahr der gedanklichen Vernebelung, aus der Desorientiertheit und aus dieser wiederum Angst resultiert. Die Angst vor dem Sterben wie auch vor dem Verlust des Lebens (dem Totsein) ist unvermeidlicher Bestandteil der Conditio humana. Zusätzliche Angst aufgrund unscharfer Begriffe oder emotional aufgeladener Bilder ist hingegen vermeidbar. 2. Sterbepädagogik als wesentlicher Bestandteil einer Ars moriendi nova Die Autoren des Essays propagieren das Einüben neuer Formen des Umgangs mit Sterben und Tod. „Wir möchten daher mentale, visuelle, pädagogische und pragmatische Möglichkeiten der Vorbereitung möglichst vieler Menschen auf das Sterben und auch einen differenzierten Umgang mit der eigenen [sic!] Leiche thematisiert wissen“ (s.o. S. 19). Dabei soll das Attribut nova deutlich machen, „dass wir neue Formen des Umgangs mit Sterben und Tod einüben sollten.“ Für das „Desiderat notwendiger Vorbereitungen und Rahmenbedingungen“ werden drei Motive erkennbar: 1. Prävention, 2. „Bewältigung von Abwehr und Angst“, 3. Hilfestellung bei der Verwirklichung eines ‚guten Lebens‘. 3. Fragen und Einwände Der Essay der Herausgeber ist inhaltlich differenziert und hinsichtlich seiner weltanschaulichen Ausrichtung ausgewogen und wohltuend neutral. Gleichwohl bietet er Ansatzpunkte für grundsätzliche Fragen und Bedenken. (1) Wer ist „wir“? Gibt es außer den Autoren eine gesellschaftliche Gruppierung, die das Anliegen einer Sterbepädagogik vertritt? Wenn es sie geben sollte, welches Interesse hat sie an einer neuen Sterbekultur? Der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ in den Vereinigten Staaten ähnlich hat sich die Hospizbewegung hierzulande die Forderung nach einer wiederbelebten Sterbekultur auf ihre Fahne geschrieben. Mindestens in der Vergangenheit hatten Teile der (nordamerikanischen) Hospizbewegung im Umfeld von Elisabeth Kübler-Ross den Charakter einer feministischen Emanzipationsbewegung mit Anklängen an eine Quasi-

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Religion.3 Was aber war das Motiv? Bei dem Ziel, anderen Menschen zu helfen, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse zu befriedigen statt jener des Adressaten. Das muss die Hilfe nicht zwingend entwerten, man sollte es aber offen aussprechen. (2) Der Forderung nach einer neuen Sterbepädagogik liegt die implizite Annahme zugrunde, diese kollektive Interventionsmaßnahme werde für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt verbesserte Lebensbedingungen bewirken. Die Stichhaltigkeit dieser Annahme ist keineswegs belegt, und man darf bezweifeln, ob die möglichen Auswirkungen der geforderten Intervention im Detail durchdacht sind.4 Das Ziel, einer Person und erst recht einer ganzen Gesellschaft zum Glück bzw. zu einem ‚guten Leben‘ zu verhelfen, ist mit vielfältigen theoretischen Fragen belastet.5 Interventionen können auch negative Auswirkungen haben, wie Beispiele aus der Psychotherapie im Allgemeinen und der Trauertherapie6 im Besonderen7 zeigen. (3) Die Forderung nach einer neuen Sterbekultur beruht ferner auf der impliziten Annahme, auch Erwachsene seien nicht nur erziehungsfähig, sondern erziehungsbedürftig. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche ist es evident, dass sie die Normen ihrer Kultur sowie grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben müssen, die ihnen ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Was aber berechtigt dazu, Erwachsene erziehen zu wollen? Als Erwachsener kann und soll sich jeder den Weg zu seinem Glück selbst suchen. Dass es dazu Angebote geben kann, ist legitim; inwieweit diese Angebote missionarischen Charakter haben können, ist die Frage. Aus meiner Sicht wäre es angemessener, mit Blick auf Erwachsene nicht von ‚Pädagogik‘ oder ‚Erziehung‘ zu sprechen, sondern von ‚Bildung‘. Veranstaltungen zum Thema ‚Sterbekultur‘ wären dann Teil der ‚Erwachsenenbildung‘. (4) Wie auch bei der ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘ in den Vereinigten Staaten beruht die Idee des Einübens neuer Formen des Umgangs mit Sterben und Tod auf der unausgesprochenen Vorstellung der Optimierung von Lebensqualität. Auch wenn die Menschen mit Blick auf letzte Dinge nach eigenem Urteil mit sich ganz zufrieden sein sollten, könnte man ihnen immer noch zu einer Steigerung ihres Wohlbefindens (dem ‚Gold Standard‘) verhelfen. Was legitimiert eine Person oder eine gesellschaftliche Gruppierung zu einem solchen Anspruch? (5) Die Forderung nach einer neuen Sterbekultur richtet sich an alle Menschen eines gegebenen Kulturkreises, im vorliegenden Fall etwa an die Menschen im deutschsprachigen Raum. Dieser Mangel an Differenzierung trägt den natürlichen Unterschieden zwischen den Menschen nicht Rechnung. So kann man während des menschlichen Lebenslaufs verschiedene Entwicklungsaufgaben unterscheiden.8 Dazu zählen in der Adoleszenz (13–17 Jahre) die körperliche Reifung 3 4 5 6 7 8

Klass/Hutch (1985/86). Vgl. Slife et al. (2005) mit Bezug auf Psychotherapie im Einzelfall. Slife/Williams (1995). Currier et al. (2008). Strupp et al. (1977). Havighurst (1972); Newman/Newman (1975).

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und die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, in der Jugend (18–22 Jahre) die Ablösung von den Eltern, internalisiertes moralisches Bewusstsein und die Berufswahl, im frühen Erwachsenenalter (23–30 Jahre) die Bindung an einen Partner und die Etablierung im Beruf, im mittleren Erwachsenenalter (31–50 Jahre) das Aufziehen von Kindern und die berufliche Karriere, im späten Erwachsenenalter (51 Jahre und älter) das Akzeptieren des eigenen (gelebten) Lebens sowie die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Diese keineswegs zwingende normative Strukturierung des Lebenslaufs mag verdeutlichen, dass es je nach Lebensabschnitt unterschiedliche Schwerpunkte gibt, und dass die Todesthematik nachvollziehbar nicht zu den Schwerpunkten des Jugendalters sowie des frühen und mittleren Erwachsenenalters gehören muss. Eine andere Differenzierung ergibt sich aus den Persönlichkeitstypen des ‚Zuwenders‘ bzw. ‚Vermeiders‘.9 Ersterer neigt dazu, auf bedrohliche Informationen mit aktiver Auseinandersetzung zu reagieren; ein ‚Zuwender‘, der die Diagnose ‚Krebs‘ erhält, wird sich sogleich Kenntnisse über seine Krankheit aneignen. Im Unterschied dazu wird ein ‚Vermeider‘ die Diagnosemitteilung ignorieren. Übertragen auf die Idee einer Sterbepädagogik führt dies zu der Frage, welchen Sinn es hätte, jenen Teil der Bevölkerung, der zur Abwehr unangenehmer und bedrohlicher Sachverhalte neigt, zu einer gedanklichen Beschäftigung mit der Todesthematik anzuregen. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Tendenz zur Vermeidung nicht als Defizit aufgefasst werden darf. Zuwendung und Vermeidung sind lediglich unterschiedliche Arten des Umgangs mit psychischer Belastung; keine ist besser oder schlechter als die andere. (6) Die Idee des Einübens neuer Formen des Umgangs mit Sterben und Tod gründet schließlich auch auf der impliziten Annahme, es bestehe ein entsprechendes Bedürfnis bei einem nennenswerten Teil der hiesigen Bevölkerung. Dies ist keineswegs erwiesen. Möglicherweise besteht eine Analogie zu den inzwischen legendären Jahren 1968ff., als ein kleiner und elitärer Teil der Bevölkerung, nämlich Studierende aus meist gut bürgerlichem akademischem Milieu, den Arbeitern vermitteln wollte, dass und in welcher Weise ihre Arbeitsbedingungen zu verändern seien – und auf Unverständnis stieß. 4. Sterben für einige! Wie ihre amerikanische Schwester, die ‚Bewegung des Todesbewusstseins‘, steht auch die hiesige Idee einer Ars moriendi nova mit der Sterbepädagogik als ihrem Kern im Verdacht einer ideologischen Einfärbung. Laut Lexikon bezeichnet Ideologie Vorstellungen zur Interpretation der Welt in einer von Interessen geleiteten und damit verfälschenden Sichtweise. Der Verdacht der Ideologisierung ergibt sich aus einem pauschalen Heilsversprechen (Verminderung von Angst, ein besseres Leben für alle) sowie aus der Existenz impliziter Annahmen, die wegen ihrer Unausgesprochenheit nicht erörtert oder gar begründet werden. Im Unterschied 9

Byrne (1964).

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dazu wäre ein bescheideneres und rational fundiertes Angebot an zeitgemäßer Sterbekultur im reichlich gefüllten Schaufenster des gesellschaftlichen Gemischtwarenladens durchaus zu begrüßen.

Literatur Byrne, D.: Repression-sensitization as a dimension of personality. In: B.A. Maher (Hrsg.): Progress in experimental personality research. Vol. 1, New York, Academic Press, 1964, S. 169–220. Currier, J.M./Neimeyer, R.A./Berman, J.S.: The effectiveness of psychotherapeutic interventions for bereaved persons: A comprehensive review. In: Psychological Review 134 (2008), S. 648–661. Havighurst, R.J.: Developmental task and education. 3. Auflage, New York, McKay, 1972. Klass, D./Hutch, R.A.: Elisabeth Kübler-Ross as a religious leader. In: Omega: Journal of Death and Dying 16 (1985–86), S. 89–109. Newman, B.M./Newman, P.R.: Development through life. A psychosocial approach. Homewood, Ill, Dorsey, 1975. Slife, B.D./Williams, R.N.: What´s behind the research? Discovering hidden assumptions in the behavioral sciences. Thousand Oaks, CA, Sage, 1995. Slife, B.D./Yancher, S.C./Reber, J.S.: Introduction: Thinking critically about critical thinking. In: B.D. Slife/J.S. Reber/F.C. Richardson (Hrsg.): Critical thinking about psychology. Hidden assumptions and plausible alternatives. Washington, DC, American Psychological Association, 2005, S. 3–14. Strupp, H.H./Hadley, S.W./Gomes-Schwarz, B.: Psychotherapy for better or worse: The problem of negative effects. New York 1977. Wittkowski, J.: Sterben – Ende ohne Anfang? In: J. Wittkowski/H. Strenge (Hrsg.): Warum der Tod kein Sterben kennt. Neue Einsichten zu unserer Lebenszeit. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, S. 29–104.

Ars moriendi nova – eine Kultur- und Gesellschaftstechnik der Sterbekontrolle Stefan Dreßke Das Lebensende wird in der Regel nicht ohne das Leben zu denken sein. Beide Themen sollen hier in einem dichotomen Verhältnis verstanden werden, aus dem sich vielfältige Spannungen, Widersprüche und Konflikte ergeben. Diese können auf einer allgemeinen Ebene durch folgende Stichworte charakterisiert werden: Auf der Seite des Lebens stehen (1.) Tötungsverbot und (2.) Lebensverlängerung, auf der Seite des Lebensendes (3.) das Wissen um diese Endlichkeit und (4.) die Notwendigkeit, Lücken im sozialen Netz zu schließen, die durch den Tod von Gesellschaftsmitgliedern gerissen werden. Gesellschaftlichkeit, also Ordnung, Kontinuität und stabile Erwartungen, wird durch den Tod gestört; der Tod selbst ist wiederum eine konstante Erwartung, auf deren Grundlage sich gesellschaftliches Miteinander orientiert. Das komplexe Wechselverhältnis von Leben und Lebensende muss deshalb in soziale Praktiken, Diskurse, Rituale und institutionelle Lösungen überführt werden. Zur Debatte stehen die Todeskontrolle und die Verhandlung der Grenze von Leben und Tod. Aus einer soziologischen Perspektive wäre eine Ars moriendi nova eine Kultur- und Gesellschaftstechnik der Konventionalisierung des Sterbens in der modernen Gesellschaft. Die normativen Dimensionen des Sterbens ergeben sich dabei aus den faktischen Bedingungen, unter denen Sterben stattfindet. Hier soll es nun um die Rahmenbedingungen gehen, in denen solche konkreten und kontrovers diskutierte Themen wie Sterbehilfe, Todesstrafe, unheilbare Krankheiten, Friedhofskultur, Abtreibung, Palliativmedizin, Sterbebegleitung, Verkehrsunfälle, Umgang mit dem Leichnam, Ernährungssonden, Sedativa, Vorsorgeuntersuchungen oder Sterbeversicherungen diskutiert werden können. 1. Tötungsverbot und Todeskontrolle Das Tötungsverbot ist die zentrale Rahmenbedingung, die die Reziprozität menschlichen Miteinanders sichert. Nur besondere Umstände und Begründungen setzen das Tötungsverbot außer Kraft, und das auch nur zeitweise und auf bestimmte Personen und Personengruppen begrenzt. Seine illegitime Übertretung wird mit harten Sanktionen bestraft. Im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung monopolisiert der Staat das Recht zu töten und übernimmt die Todeskontrolle. In diesem Sinne ist Sterbekunst auch Staatskunst, Kunst der Führung von Menschen und Politik. Keine Sterbedebatte wird also um Machtverhältnisse und Interessensoptimierung herumkommen. Der moderne demokratische Staat hat die Auf-

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gabe, seine Bürger zu schützen, und zwar im Sinne einer Optimierung des Lebens und einer Ausdehnung der Lebensdauer. Im Bereich der Todeskontrolle sind solche kontroversen Diskussionen wie Abtreibung, Sterbehilfe und Todesdefinitionen angesiedelt. Vermieden werden soll ein durch Menschen herbeigeführter gewaltsamer Tod. Die Todeskontrolle ist weitgehend an die Medizin delegiert und wird durch das Recht sanktioniert. 2. Lebensverlängerung und die Wertschätzung des Lebens Der Tod wird als nicht willkommen angesehen; alle gesellschaftlichen Anstrengungen richten sich auf Lebenserhalt, Lebensverlängerung und Todesvermeidung – nicht nur als Staatsaufgabe. Leben ist das höchste Gut, und vielfältige Sicherheitsvorkehrungen machen das Überleben von notwendigen Gefährdungen wahrscheinlich. Als Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts wird jedenfalls die Ausdehnung der Lebenserwartung gesehen; inzwischen ist der Alterstod zur Normalerwartung geworden. Sterben ist unerwünscht und die Kommunikation mit Sterbenden mit Peinlichkeit behaftet; diese befinden sich in einer negativ bewerteten und marginalisierten Rolle. Daran ändern auch Aufwertungen nicht viel, wie etwa das Motto, dass man von ihnen lernen könne. Leitwissenschaft der Sicherung des Lebens ist die Medizin, die den Tod in den Kontext von Gesundheit und Krankheit gebracht hat und das Sterben als körperliches Ereignis sieht – als Problem der Körperoptimierung. Mit der Ausdehnung des Lebens dehnt sich auch das Sterben aus, und die Grenze zwischen Leben und Tod wird im Zuge des technologischen Fortschritts unsicher. Sterbeverläufe werden ausgehandelt und zunehmend Gegenstand der Übersetzung zwischen lebensweltlichen Interessen und institutionellen Expertenkalkülen. Dass nicht einfach nur gestorben wird, sondern ‚sterben gelassen‘ wird, deutet auf einen intervenierenden Handlungsmodus, der zwar nicht notwendigerweise Leben verlängert, aber immerhin doch Natur zu beherrschen sucht und das Sterben sozialisiert. 3. Wissen um die Endlichkeit des Lebens und konkrete Erfahrungen des Sterbens Wir stehen zwar auf der Seite des Lebens, das Leben wird aber immer schon von seinem Ende her gedacht. Daraus ergibt sich eine allgemeine Reziprozitätsnorm, sich um Sterbende zu kümmern, denn es ist gewiss, selbst zu sterben und auf Unterstützung angewiesen zu sein. Das Wissen um das Lebensende geht als Hintergrunderwartung in den Alltag und in die Organisation von Lebensläufen ein. Die Erwartung des friedlichen Alterstodes und des Sterbens in generativer Reihenfolge nimmt allerdings zumindest für die Jüngeren die Notwendigkeit, sich um das Lebensende ernsthafte Gedanken zu machen. Sterben ist für sie weitgehend aus dem Alltag ausgeklammert und nicht Gegenstand konkreter sozialer Erfahrungen. Die These von der Verleugnung oder der Verdrängung des Sterbens trifft also

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nicht das Problem. Problematisch wird die Nichtbeschäftigung mit dem Tod allerdings, wenn die Garantien des Alterstodes und der generativen Reihenfolge des Sterbens nicht erfüllt werden. Insbesondere für den Tod in den jüngeren Lebensaltern gibt es wenig soziale Vorkehrungen, und die starken emotionalen Belastungen müssen von den Familienangehörigen weitgehend allein getragen werden. Vorkehrungen für das Sterben wird man erst im höheren Alter treffen müssen. Das Wissen um den Tod verliert seine Abstraktheit, wenn es sich durch die eigene Erfahrung von Krankheit und Gebrechlichkeit und durch das Sterben von nahestehenden Personen konkretisiert. Sterbevorbereitung ist Lebensbilanzierung, Nachdenken über die eigene Endlichkeit und Kontemplation über das ‚Leben nach dem Tod‘. Sterbevorbereitungen sind aber auch ganz praktisch Verfügungen, Testamente und Beerdigungsvorbereitungen sowie etwas, das durchaus vergessen wird: Kenntnisse über Experten und Institutionen, die Sterben und Tod zum Gegenstand haben, um Sterbeumstände gegebenenfalls selbst in die Hand nehmen zu können und nicht den Experten allein zu überlassen. 4. Ausgliederung und die Notwendigkeit, Lücken zu schließen Menschen, die sterben, hinterlassen eine Lücke im sozialen Netz. Die Vakanz der von ihnen eingenommenen Positionen führt zu Störungen normaler Abläufe. Je größer ihre Bedeutung für das gemeinschaftliche Leben ist und je mehr sie an signifikanten Knotenpunkten gestanden haben, desto problematischer wird das Gemeinschaftsleben, wenn sie nicht mehr da sind. Vorkehrungen für den Todesfall zu treffen bedeutet dann das Aufrechterhalten von Kontinuität, Ordnung und dem reibungslosen Ablauf gesellschaftlichen Lebens. Auch hier haben moderne Gesellschaften einen Zivilisationsfortschritt gemacht. Der Alterstod macht das Sterben erwartbar, so dass frühzeitig Vorkehrungen für Nachfolgen getroffen werden können und man sich mit dem Tod zurecht finden kann. Der Tod ist dann nicht mehr eine Störung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sondern vorwiegend ein emotionales Problem in den Familien. Der Alterstod dämpft aber auch weitgehend emotionale Belastungen, da er häufig mit der Vorstellung der Erlösung von langandauernden Leiden verbunden ist. Der Austritt aus dem Arbeitsleben und der Wegfall aktiver Familienrollen sind dabei die ersten Schritte zur Ausgliederung aus dem aktiven Gesellschaftsleben. Die größte Bedrohung des eigenen Sterbens scheint dann allerdings nicht die vollständige Auslöschung zu sein, also der Tod selbst, sondern das verfrühte soziale Sterben, während man noch lebt, insbesondere in Folge von Krankheit. Sterbevorkehrungen haben also zu balancieren zwischen dem funktionalen Erfordernis, soziale Lücken zu schließen, und der Gefahr der Marginalisierung der Sterbenden. Der Einzelne sieht diese Gefahr für das eigene Sterben, das deshalb möglichst schnell vonstattengehen soll. Das plötzliche Sterben konterkariert jedoch die Bemühungen der Hinterbliebenen, Lücken zu schließen, und bedeutet für sie starke emotionale Belastungen. Kulturtechniken des Sterbens werden sich an gesellschaftlich vorgegebenen Sterbeszenarien und an den Interessen und Anschauungen der jeweiligen Akteure

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orientieren. Sterben ist im Wesentlichen institutionell geleitet; Alltags- und Lebenswelt orientieren sich an arbeitsteiligen Expertenlogiken und nicht vice versa. In diesem Sinn ist eine Kunst des Sterbens für den Alltagsmenschen die Kunst des Navigierens in Institutionen und die Kunst des Verhandelns von Zuweisungen. Erst daraus ergibt sich dann, so scheint mir, die Kunst der Fürsorge für sich und andere und der Kontemplation über den eigenen Tod.

Sterbekultur(en): Differenzierung und Pluralismus am Lebensende? Versuch einer Zusammenführung Daniel Schäfer, Christof Müller-Busch, Andreas Frewer „Wir brauchen eine neue Sterbekultur“ – dieses Zitat stammt nicht aus dem einführenden Essay der Herausgeber, sondern vielmehr wörtlich von einem emeritierten Kollegen, der von menschlichen Tragödien in einem an sich gut geführten Pflegeheim berichtete und in diesem Zusammenhang seinerzeit recht undifferenziert und emotional auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Akzeptanz der Tötung auf Verlangen (‚aktive Sterbehilfe‘) hinwies. Dieses Ereignis bildete einen der Ausgangspunkte für die Konzeption dieses Bandes, nicht nur rein wissenschaftliche Expertisen zu dem komplexen Thema zu erbitten, sondern – weil eigene Erfahrung und Betroffenheit eine wichtige Rolle bei seiner Beurteilung bildet – auch persönliche, allerdings gut begründete Stellungnahmen ausgewiesener Expert/-innen. Der einführende Essay, der allen eingeladenen Kommentatoren zuging und dessen Inhalt nachträglich nicht verändert wurde, sollte sie dazu stimulieren; als ebenfalls persönlich formulierter Vorschlag konnte und sollte er nicht eine erschöpfende Darstellung der Problematik sowie umfassende Lösungsansätze entwickeln, sondern vor allem Impulse setzen. Dieses Vorhaben ist aus Sicht der Herausgeber erstaunlich gut gelungen: Die einzelnen Beiträge bilden eine differenzierte, vielseitige, kritische und zum Teil emotional geführte Debatte ab, die die Situation und wesentliche Positionen unserer deutschen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert widerspiegeln. Ausdrücklich bedanken wir uns deshalb bei allen Diskutanten, deren besonderer Einsatz zu diesem eindrucksvollen Ergebnis beigetragen hat. Der nachfolgende Schlusskommentar kann und will nicht auf sämtliche (Gegen-)Argumente und Entwürfe im Sinne einer ausführlichen Stellungnahme eingehen, sondern greift vielmehr einzelne heraus, die unserer Ansicht nach besonders geeignet sind, Grundzüge und -probleme der aktuellen Debatte um ‚Sterbekulturen‘ zu beleuchten. 1. Ars moriendi und Death education – von Bildern (auch) in professionellen Köpfen Als Autoren des Essays und zugleich Herausgeber eines Sammelbandes, der in der neuen Buchreihe Ars moriendi nova erscheint, suchten wir kritischen Anschluss an den seit den 1980er Jahren wieder in Mode gekommenen und – auch aus unserer Sicht vielfach missbrauchten – Begriff Ars moriendi. Allerdings ging es uns nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der historischen Ars moriendi und deren lebensweltlichen Kontext, die uns gut bekannt sind, son-

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dern lediglich um die Frage, inwieweit diese überkommene Sterbekunst, die zugleich Anleitung zur Sterbebegleitung und zur persönlichen Sterbevorbereitung war, aufgrund ihres methodischen Vorbilds und ihrer Breitenwirksamkeit sinnvollerweise Anregungen für den aktuellen Umgang mit pluralistischer Sterbekultur und deren möglichen Defiziten geben kann. Dass die inhaltlichen Gegensätze weit überwiegen, wurde gleich zu Beginn betont; dennoch scheint unser Vorschlag bei einigen Diskutanten mehr oder weniger mit der traditionellen Ars moriendi identifiziert worden zu sein, gerade auch hinsichtlich des weltanschaulichen Kontextes, des Todesverständnisses und des damit verbundenen moralischen Drucks, der seinerzeit auf die Sterbenden ausgeübt wurde. Ars moriendi scheint außerdem für etliche ein Reizwort zu sein, mit dem sich eine – gut verständliche – Aversion gegen den kaum mehr überschaubaren ‚Sterbekunst-Markt‘ der letzten 25 Jahre verbindet. Haben wir also den falschen Namen gewählt? Ist der Begriff ‚Ars di‘ für gegenwärtige und zukünftige Diskussionen schlichtweg ‚verbraucht‘, weil er lediglich „nostalgische“ Vorstellungen von mittelalterlichem Sterben evoziert – oder auch unbrauchbar, weil Sterben keine ‚Kunst‘ sein kann und Erwachsene nicht erzogen werden können? Abgesehen von berechtigten inhaltlichen Einwänden zeigt die Verbindung, die etwa Joachim Wittkowski zwischen unserem Vorschlag und der US-amerikanischen ‚Death-education-Bewegung‘ herstellt, dass man als Autor eines Beitrags zur Sterbediskussion stets Gefahr läuft, mit etwas oder jemandem identifiziert zu werden – ob man nun die einschlägige Bezeichnung bzw. Person erwähnt oder nicht. Natürlich gibt es Parallelen zur historischen Ars moriendi und zur ‚Death education‘, doch missionarischer Eifer im Blick auf Lebensoptimierung oder gar ideologische Hintergründe, wie sie beispielsweise bei Kübler-Ross zu finden sind, sollten bei uns gerade weitestgehend ausgeschlossen sein – obwohl der kluge Beitrag von Jean-Pierre Wils (s.u. S. 39-51) deutlich macht, dass es so etwas wie weltanschauliche Neutralität in der Diskussion um Sterbekulturen nicht geben kann. Auch wenn Monika Müller eindrucksvoll gegen „Sterbeimagination“ und (Vor-)Bilder argumentiert, zeigen diese Beispiele vermeintlicher Rezeption doch einmal mehr, dass wir alle ohne Bilder und Schablonen in unseren Köpfen nicht denken können. Umso sinnvoller ist es, sie offenzulegen und mit ihnen konstruktiv (und nicht im Sinne von Feind-Bildern) umzugehen. 2. Zwischen Distanz und Nähe – vom Pluralismus der Meinungen Die engagierte Diskussion über den Essay offenbart geradezu paradigmatisch die Vielfalt von persönlichen Meinungen zur Sterbediskussion, hier speziell zur Notwendigkeit oder Überflüssigkeit einer angeleiteten Auseinandersetzung mit dem zukünftigen Sterben. Auf der einen Seite steht die Ansicht, dass eine Annäherung an den Tod als den „ganz ANDEREN“, den größten Feind oder ‚unsichtbaren Begleiter‘ des Lebens, weder angemessen noch möglich ist; ihn zu ‚befrieden‘ hieße, ihn zu „verharmlosen“ (Sörries). Und in der Tat gibt es in Gegenwart

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und Vergangenheit – man vergleiche entsprechende Verhaltensweisen in Thomas Manns Zauberberg sowie die einschlägigen Diskussionen zwischen Castorp und Settembrini – gefährliche Formen der Annäherung an den Tod, seien es täuschende Euphemismen, verfrühte Akzeptanz bei sich selbst und anderen oder gar missbräuchliches „Berauschen“ an der Erfahrung Sterbender bei deren Begleitung (Roser). Eine geradezu professionelle Distanz ist also offensichtlich nicht nur zum Sterbenden, sondern auch zum Sterbeprozess einschließlich aller nachfolgenden Ereignisse erforderlich. Diese für westliche Kulturen so typische Distanz, dieser ‚nüchterne Blick‘ kann aber auch zu dem führen, was die naturwissenschaftliche Medizin bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisiert hat: zum Kampf gegen den objektivierten Tod bis zum äußersten, ohne Rücksicht auf den Sterbenden, denn Sterben war nach dem Ethos dieser Ärzte eine „Niederlage“ nicht nur des Lebens (Sörries), sondern vor allem der Heilkunst und oft auch des Heilers. Zu dieser fragwürdigen Ethik sollten wir nicht mehr zurückkehren. Auf der anderen Seite wird aus der Praxis heraus die Notwendigkeit betont, den Tod im toten Menschen wortwörtlich zu „begreifen“, also die extreme Distanz zu einem aus der Gesellschaft „verdrängten“ Tod zu überwinden und auf diese Weise erst Trauer gelingen zu lassen (Roth). Aber abgesehen davon, dass die These von der Verdrängung des Todes in der Forschung inzwischen sehr umstritten ist (vgl. Völlmicke, S. 89), scheint sich hier schlechterdings eine Rekultivierung und Normierung des schönen bzw. ‚guten Todes‘, vom ‚guten Sterben‘ im Hospiz bis zur ‚guten Bestattung‘ im ‚Friedwald‘, anzubahnen, bei der – soziologisch gesehen – bestimmte Rollen konstruiert und implizit eingefordert werden, die keineswegs allen Menschen zuträglich sind. 3. Gefahr oder Chancen – Aufklärung nur für Empfängliche? Sehr ernst zu nehmen ist die Warnung des Psychologen Wittkowski, eine aufoktroyierte Beschäftigung mit dem Tod könne insbesondere aufgrund emotional aufgeladener Bilder und unscharfer Begrifflichkeiten, aber auch durch sachbezogene Aufklärung Angst auslösen oder vermehren, statt sie zu mindern; hinsichtlich dieser ‚unerwünschten Nebenwirkungen‘ scheinen außerdem gravierende Unterschiede zwischen der Auseinandersetzung mit dem Sterben anderer und dem eigenen Lebensende zu bestehen. Dieser Punkt berührt ein Kernproblem der Debatte um Autonomie, wie sie etwa in der angloamerikanischen Medizinethik seit mehr als dreißig Jahren gefordert wird: die Fiktion vom mündigen Patienten. Mehr noch als der (schwerkranke) Patient wird der Sterbende von einem Verlust seiner Identität bedroht, die für die Wahrung seiner Autonomie Voraussetzung ist. Deshalb ist auch eine sachbezogene Vorbereitung auf den Tod innerhalb der Sterbephase schwer vorstellbar. Wittkowski zufolge gilt dies teilweise auch für weitere Lebensphasen und Persönlichkeitstypen, nicht nur wegen potentieller Angstauslösung, sondern auch aufgrund fehlender Betroffenheit früherer Altersstufen sowie genereller Unterschiede im Umgang mit bedrohlichen Informationen (‚sensitizer‘ vs. ‚repressor‘; vgl. S. 73). Doch ungeachtet dieser ernstzunehmenden Ge-

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fahren und Hindernisse wird man bei lebenswichtigen Angelegenheiten dennoch Aufklärung – so schonend und optimal abgestimmt wie möglich – versuchen; dies gilt für jede Form von Gefahrenabwehr und für medizinische Prävention genauso wie für die von uns so genannte ‚Sterbeprävention‘, wobei von „Optimierung der Lebensqualität“ noch lang keine Rede sein kann. Denn die im ersten Teil unseres Essays geschilderten Probleme sind real und bedürfen nach unserer Ansicht aufgrund ihrer erheblichen Bedeutung einer kompetenten Auseinandersetzung, teilweise auch Entscheidung in breiten Bevölkerungsschichten, genauso wie man dies in vielen anderen wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten von geschäftsfähigen und mündigen Bürgern erwartet. Psychische Mechanismen können dies in bestimmten Lebensphasen und -situationen zweifelsohne verhindern; umso wichtiger scheint uns eine wiederholte und eben nicht nur auf das höhere Lebensalter begrenzte Aufklärung. 4. Sterben anderer oder eigener Tod – Gefahren der Professionalisierung Die oben schon angesprochene und in den Kommentaren teilweise eingeforderte Unterscheidung zwischen Sterbebegleitung und persönlicher Sterbevorbereitung, zwischen „mein Sterben“ und „dein Sterben“ (Wittkowski) ist methodisch und psychologisch zwar sinnvoll, geht aber an der Realität thanatologischer Laien vorbei, die früher (wie das Beispiel der historischen Ars moriendi zeigt) genauso wie heute mit dem fremden Sterben auch das zukünftige eigene konnotieren. Zumindest ehrenamtliche Helfer der Hospizbewegung werden dazu angehalten, ihr Verhältnis zum eigenen Sterben zu bedenken, bevor sie andere begleiten (Reinis). Viele Argumentationen der angesprochenen Thanato-Experten spiegeln ein hohes Maß von Vertrautheit mit der Materie, die bei der großen Mehrheit der Bevölkerung, teilweise auch der Ärzteschaft nicht generell vorausgesetzt werden kann. Vielmehr erleben wir immer noch ein erschreckendes Maß an Hilflosigkeit und Uninformiertheit beim Umgang mit schlechten Prognosen und Menschen, die davon betroffen sind. Von daher scheint uns der Eindruck einiger, dass bereits genügend getan wurde und wird, um Sterbevorbereitung und -begleitung zu ermöglichen und Trauer zu erleichtern, an der breiten Realität vorbeizugehen: Jeweils nur Bruchteile der Bevölkerung profitieren von Hospiz und Palliativmedizin, gestalten postmoderne Trauerformen und partizipieren an alternativen Bestattungsinnovationen. Der deutsche Alltag sieht leider noch anders aus, und darauf zielt die Idee einer breiten und verständlichen, öffentlichen Diskussion um ‚Sterbekulturen‘, mag man sie nun Ars moriendi nova nennen oder nicht, jenseits eines professionalisierten und zunehmend medikalisierten Umgangs mit dem Tod. Es genügt nicht, allein die gesellschaftlichen Bedingungen des Sterbens zu verbessern (Nauck), man muss auch mit vielen Menschen darüber reden und ihnen auf diese Weise überdies Gelegenheit geben, sich mit den „arbeitsteiligen Expertenlogiken“, der „Kunst des Navigierens in Institutionen“ und der „Kunst des Verhandelns von Zuweisungen“ (Dreßke) auseinanderzusetzen, wie sie für die Moderne und Postmoderne typisch sind.

Sterbekultur und Sterbekunst Können wir im 21. Jahrhundert noch sterben lernen? Nachwort Christof Müller-Busch, Daniel Schäfer, Andreas Frewer Der Umgang und die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod sind wesentliche Elemente einer Kultur: Handlungen, Bilder und Erinnerungen im Zusammenhang mit der Begleitung Sterbender, sowie Kulte um Trauer und Tod, die zugleich erschüttern, prägen und faszinieren. Die Art, wie Sterbende und Trauernde begleitet werden, kann durchaus als Gradmesser für das kulturelle und zivilisatorische Niveau einer Gesellschaft angesehen werden. Die Konfrontation mit der Grenze zum Tod ist eine existenzielle Erfahrung, die das Leben des Einzelnen, aber auch das von Gemeinschaften wesentlich bestimmt. Die Frage nach einer persönlichen Sterbekunst beinhaltet zudem die Einschränkung, dass wir für den Weg bis an die Schwelle zum Tod niemals aus einer eigenen Erfahrung des Sterbens Kraft schöpfen können, sondern uns bleibt nur die Möglichkeit, uns durch die Begegnung mit anderen Sterbenden und ihre Begleitung vorzubereiten. Für den Weg an die Grenze zum Tod als dem ‚todsicheren‘ letzten Experiment und letzten Moment des Lebens gibt es kein empirisches Wissen. Und doch sind ‚Memento mori‘ und ‚Ars moriendi‘ Herausforderungen, die unser Leben ständig begleiten. In den letzten hundert Jahren sind im Kampf gegen den Tod nicht nur die Möglichkeiten, das Leben zu verlängern, unvorstellbar gewachsen, sondern es wurden erstmals auch Methoden entwickelt, mit denen die Menschheit als Gattung insgesamt ausgelöscht werden kann. Der Tod ist nicht mehr nur Schicksal des Einzelnen, sondern Bedrohung der Menschheit insgesamt geworden. Dies erfordert nicht nur ein Nachdenken über die eigene Sterblichkeit, sondern auch darüber, wie wir als Gesellschaft mit unseren Möglichkeiten gegen den Tod, aber auch ‚für den Tod‘ umgehen wollen. Der Tod ist in den industrialisierten Ländern in der Regel kein plötzliches Ereignis. In Deutschland sterben jährlich ca. 850.000 Menschen, das sind ein Prozent der Bevölkerung – und dies unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Die Vorbereitung auf den Tod spielt gesamtgesellschaftlich keine Rolle. Weder in der Gesundheits- noch in der Sozialpolitik, weder bei den Bildungsausgaben noch in der öffentlichen Kommunikation wird ein Sterben in Würde, werden Tod und Trauer explizit bzw. angemessen berücksichtigt. Weniger als zehn Prozent der Verstorbenen sterben einen Tod, den sich die meisten Menschen wünschen: den Sekundentod, unvorhergesehen, möglichst im Schlaf, ohne Ankündigung und

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ohne dass es in der Sterbephase zu einer medizinischen Intervention kommt. Die meisten gesunden Menschen wünschen sich einen solchen Tod ohne Abschied, zumindest einen, der nicht durch eine lange Abschieds- oder Trauerphase bestimmt wird: nicht leiden, niemanden belasten. Doch nur die wenigsten bekommen diesen Tod, und es kann durchaus auch die Frage gestellt werden, ob es wirklich ein gutes Sterben ist, wenn der Tod so ohne Abschied eintritt. Wir haben es heute dagegen immer mehr mit langen Sterbeverläufen zu tun, durch die gerade der Abschied für das Leben, für die Überlebenden bedeutsam wird, wenn sie mit dem Verlust von Menschen, mit Todesarten, Trennung, Trauer und Neubeginn – oft wenig erfahren und unvorbereitet – konfrontiert werden. Nicht der Tod hat sich verändert, sondern die Bedingungen im Umgang mit dem Sterben. Die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen das Sterben heute stattfindet, haben Sterben, Tod und Trauer zu einem Bewältigungsproblem werden lassen, für den es unterschiedliche Zuständigkeiten gibt und das möglichst wenige belasten soll. Es ist weniger die Vorbereitung auf ein gutes Sterben und das Jenseits, die das Leben der meisten Menschen heute bestimmt, als der Versuch, im Leben für sich selbst, aber auch für andere möglichst wenig Tod zuzulassen. Dazu gehört z.B. die besondere Scham, mit der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit heute empfunden wird. Die Scham, als alter und kranker Mensch andere zu belasten, vermeintlich ‚nichts mehr wert zu sein‘, ist der Hauptgrund, dass manche Menschen in den Industrienationen verstärkt darüber nachdenken, ob es nicht besser ist, dem Leben zum ‚richtigen Zeitpunkt‘ selbst ein Ende zu setzen. So finden Forderungen nach einem gesetzlichen Anspruch auf Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid, nach einem ‚Recht auf den eigenen Tod‘ größere Akzeptanz als das Recht auf angemessene palliative Begleitung und psychosoziale Hilfe im Altsein und Sterben. Die Bedingungen des Sterbens haben sich in den letzten 150 und besonders in den letzten 50 Jahren grundlegend gewandelt. Mit dem Fortschritt der modernen Medizin wurde in den industrialisierten Ländern das Sterben aus den familiären, nachbarschaftlichen und sozialen Zusammenhängen gelöst und in Krankenhäuser und Pflegeheime ausgelagert. Sterben und Tod werden seither weitgehend zugunsten eines auf Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Ungestörtheit und Erwerbsfähigkeit konzentrierten Lebens tabuisiert. In zahlreichen Bereichen der Gesellschaft findet Sterben keine hinreichende Beachtung. Viele Menschen erleben Sterben und Tod ohne religiösen und spirituellen Bezug. Der Umgang mit Sterbesituationen ist nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in vielen Bereichen der Medizin immer noch ein Tabuthema, das die Begegnung, die Kommunikation und den Dialog mit Menschen zu diesem Thema außerordentlich erschwert. Es sind nicht mehr die Krankheiten, die in ihrem natürlichen Verlauf zum Tode führen, sondern Zeitpunkt, Ort und Art des Sterbens werden wesentlich von Handlungen und Entscheidungen bestimmt, die für alle, die daran beteiligt sind, eine große Herausforderung darstellen. Über die Zuständig- und Verantwortlichkeiten sowie die Werte und Prinzipien, die diese Handlungen und Entscheidungen betreffen, bestehen unterschiedliche, teilweise kontroverse Meinungen. Sterben wird von vielen nicht mehr als autonome ‚Leistung‘ am Ende des Lebens verstan-

Sterbekultur(en): Differenzierung und Pluralismus am Lebensende?

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den, sondern als eine von Interessenskonflikten geprägte Ausnahmesituation, deren menschliche und moralische Zumutbarkeit auch mit Belastungen verbunden ist. Die Bedingungen des Sterbens sind wichtiger geworden als die Beschäftigung mit Fragen nach dem Sinn des Sterbens und die Auseinandersetzung mit dem Tod als einem zentralen Punkt für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Angebote, das Sterben zu verbessern, ihm einen Raum zu geben, es zuzulassen, sind heutzutage vielfältig und unterschiedlich. Dabei geht es durchaus um die Entwicklung einer neuen Kunst des Sterbens innerhalb der Möglichkeiten unserer Sterbekultur. Teilweise enthält sie alte Rezepte, auf die in vergangenen Jahrhunderten schon Montaigne und andere Philosophen hingewiesen haben, dann aber auch die besonderen professionellen Angebote, die Sterben, Tod und Trauer unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart erträglicher und annehmbarer zu machen versuchen und hier durchaus auch auf einen Bedarf stoßen. Die Angebote reichen von einer guten Erziehung durch spezielle Programme zu Sterben, Tod und Trauer über die Möglichkeit, in speziellen Einrichtungen mit professioneller Begleitung sterben zu können oder zu dürfen, bis zum öffentlichen Sterben oder zur selbstbestimmten Wahl des Todeszeitpunktes z.B. durch Tötung auf Verlangen oder assistierten Suizid. Die praktischen Handlungsoptionen des modernen Sterbens werden von kulturellen und anthropologischen Bedingungen, vor allem aber von den medizinischen und rechtlichen Möglichkeiten bestimmt. Dabei findet in weiten Bereichen eine Professionalisierung statt: Sterben soll in Hospizen, Palliativeinrichtungen, durch ambulante Palliativversorgung, ehrenamtliche Sterbebegleitung, durch Patientenverfügungen, Vollmachten, Vorschriften, (Advance) Care Planning, professionelle Aufklärung und Symptomkontrolle, aber auch in sogenannten Sterbehilfeorganisationen besser ‚gemanaged‘ werden. Andererseits geht es aber auch darum, traditionelle oder sogar antike Ideen der ‚Sterbekunst‘ wieder umzusetzen, um sich der Bedeutung und dem Sinn eines ‚guten Todes‘, eines würdigen Sterbens erneut anzunähern, dem Sterben wieder mehr Raum im Leben zu geben. Wenn eine Ars moriendi nova auch eine Bedeutung für das Miteinander der Menschen haben soll, dann sollte darauf geachtet werden, dass die Bewusstheit der eigenen Sterblichkeit, aber auch der Todesbedrohung der Menschheit als Gesamtheit durch die von ihr geschaffenen Vernichtungsmöglichkeiten, durch eine achtsame Kultur des Umgangs mit Sterben und Tod in allen gesellschaftlichen Bereichen gefördert wird. Die dialogische Orientierung am ‚Du‘ ist wichtige Grundlage einer Humankultur, die auch Hilfsbedürftigkeit anerkennt. Einen Ansatz hierzu stellt die Umsetzung der „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen“ dar, die inzwischen von über 400 Institutionen in Deutschland verabschiedet wurde. Dazu gehört auch, dass die permanente mediale Präsenz von Sterben und Tod, durch die der Tod nicht mehr als individuelles Schicksal wahrgenommen wird, sondern als fremdes Faszinosum mit Erlebnis- und Unterhaltungswert konsumiert wird, abgelöst wird durch eine systematische Aufnahme des Themas Lebens- und Sterbekunst in alle Bildungs- und Ausbildungspläne. Schließlich sollten an allen Orten des Sterbens im häuslichen Bereich, in Kliniken, Pflegeheimen und Spezialeinrichtungen die Bedingungen des Sterbens

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durch eine sorgsame palliative Begleitung verbessert werden, so dass Sterbeerfahrung als stimmiger Teil des eigenen Lebens angenommen werden kann. Sterben gehört zum Leben, es darf nicht verlagert werden. Keiner stirbt für sich allein.

Biografische Notizen zu den Autorinnen und Autoren Stefan Dreßke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwesen (Abt. 2 für Sozialpolitik, Recht und Soziologie) im Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel. Nach einem Soziologiestudium in Berlin und London wurde er mit einer medizinsoziologischen Studie zu Sterbepraktiken im Hospiz promoviert; weitere Forschungsschwerpunkte sind Schmerzversorgung, Behinderung und Rehabilitation. Klaus Feldmann ist Professor i.R. am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover. Er studierte an der Universität Wien und wurde dort promoviert. Zunächst Assistent und Hochschuldozent für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Hannover, wurde er 1980 Professor für Soziologie an der Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte sind die Thanatosoziologie sowie die Soziologie der Bildung und Erziehung. Norbert Fischer ist Sozial- und Kulturhistoriker und außerplanmäßiger Professor an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Beirat für Grundlagenforschung des Instituts für Sepulkralkultur (Kassel) und im Beirat des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland e.V., Redaktionsmitglied der Zeitschrift Friedhof und Denkmal sowie Mitherausgeber der Kasseler Studien zur Sepulkralkultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Gegenwart des Umgangs mit dem Tod, Landschaftsgeschichte und Landschaftstheorie sowie räumlicher Wandel und Verstädterungsprozesse im 20. Jahrhundert. Andreas Frewer studierte Philosophie, Medizingeschichte und Humanmedizin, wurde an der FU Berlin promoviert und erwarb den European Master of Bioethics (Leuven, Nijmegen, Padua, Basel). Er habilitierte sich für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Als Arzt arbeitete er in der Nephrologie/Inneren Medizin, Notaufnahme, Intensivmedizin und Hämato-Onkologie am Virchow-Klinikum/ Charité in Berlin. 2002 erhielt er den Ruf an das Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin Hannover, 2007 an das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte sind Klinische Ethik, das Lebensende sowie Medizin und Menschenrechte. Jan C. Joerden ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, insbesondere Internationales Strafrecht und Strafrechtsvergleichung sowie Rechtsphilosophie an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg und wurde 1985 im Fach Rechtswissenschaften an der Universität Erlangen-Nürnberg promoviert. Im Jahre 1987 habilitierte er sich ebenda mit einer Untersuchung zum strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriff. Weitere seiner Forschungsschwerpunkte sind Medizinstrafrecht, Ethik und Juristische Logik.

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Biographische Notizen

Monika Müller leitet seit 20 Jahren die Ansprechstelle im Land NordrheinWestfalen zu Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung in Bonn. Nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Pädagogik war sie lange in der Erwachsenenbildung tätig. Als Supervisorin und Therapeutin für integrative Gestalt orientierte Verfahren begleitet sie Menschen in Verlustsituationen und (spirituellen) Krisen. Im Zentrum für Palliativmedizin am Malteserkrankenhaus Bonn und der Universität Bonn führt sie zahlreiche Kurse durch. Außerdem ist sie Mitherausgeberin des neuen Fachmagazins LEIDfaden für Krisen, Leid und Trauer. Christof Müller-Busch wurde nach einem Studium der Humanmedizin in Hamburg promoviert, erwarb dort die Anerkennung als Facharzt für Anaesthesiologie und habilitierte sich an der Universität Witten-Herdecke (2004 außerplanmäßiger Professor). Er war langjährig leitender Arzt der Abteilung für Anaesthesiologie, Schmerztherapie und Palliativmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus BerlinHavelhöhe sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (2006-10). Seine Forschungsschwerpunkte sind Palliativmedizin, Lebensqualität bei Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen, künstlerische Therapien in der Palliativmedizin, Entscheidungskriterien und -konflikte am Lebensende, palliative Sedierung, Euthanasie und Ethik sowie Qualitätsentwicklung in Palliativmedizin und Hospizbetreuung. Friedemann Nauck ist ausgebildeter Krankenpfleger sowie Facharzt für Anaesthesiologie mit den Zusatzbezeichnungen „Spezielle Schmerztherapie“ und „Palliativmedizin“. Seit 2006 ist er Lehrstuhlinhaber der W3-Professur Palliativmedizin und Direktor der Abteilung Palliativmedizin im Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin der Universitätsmedizin Göttingen. Langjährig Herausgeber der Zeitschrift für Palliativmedizin, amtiert er seit 2010 als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. In der Forschung liegen seine Schwerpunkte in der Versorgung am Lebensende (Versorgungsforschung), Symptomkontrolle und Schmerztherapie bei Krebspatienten sowie in den Bereichen Patientenverfügungen und Ethische Entscheidungsfindung, Autonomie und Vertrauen, Qualitätssicherung und Dokumentation in der Palliativmedizin. Austra Reinis ist Associate Professor, History of Christianity, an der Missouri State University, Springfield, Missouri, USA. Sie studierte Betriebswirtschaft an der University of California, Berkley (B.S. Business Administration), Lettische Sprache an der Stockholms Universitet (M.A. Latvian Language and Linguistics) und Theologie am Princeton Theological Seminary und Pacific Lutheran Theological Seminary (1990 Master of Divinity). Im Jahr 2003 wurde sie am Princeton Theological Seminary mit einer Studie zur christlichen Sterbeseelsorge (ars moriendi) im Mittelalter und in der Reformationszeit promoviert. Seitdem forscht sie über die Predigtkultur der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie.

Biographische Notizen

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Traugott Roser ist Professor für Spiritual Care am Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin der Universität München sowie Palliativbeauftragter der Augustinum gGmbH. Er studierte Evangelische Theologie in Erlangen, München und Gettysburg (USA) und wurde in Theologischer Ethik promoviert. Im Jahr 2006 habilitierte er sich in Praktischer Theologie an der LMU München mit einer Arbeit zu Spiritual Care. Er war sechs Jahre lang Seelsorger auf der Palliativstation der Klinikums München-Großhadern und verbrachte ein Forschungsjahr an der McGill University Montreal (Kanada). Forschungsschwerpunkte sind Spiritual Care, Seelsorgetheorie sowie die Thematisierung von Krankheit, Trauer und Sterben im Film. Fritz Roth ist Bestatter und Trauerbegleiter. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft arbeitete er zunächst als Unternehmensberater. 1983 übernahm er das Bestattungshaus Pütz in Bergisch Gladbach. Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit ist sein „Haus der menschlichen Begleitung“ in Bergisch Gladbach, das u.a. die Private Trauer Akademie, die „Villa Trauerbunt“ für trauernde Kinder und die Gärten der Bestattung – Deutschlands ersten privaten Friedhof – integriert. Mit vielen Mitgliedschaften und Engagements, u.a. in der International Work Group of Death, Dying and Bereavement (IWG; London/Ontario) und der Association for Death, Education and Counseling (ADEC; Hartford, USA), ist er auch international aktiv. Daniel Schäfer ist außerplanmäßiger Professor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln. Er studierte Medizin und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und wurde dort in beiden Fächern promoviert. Im Jahr 2004 habilitierte er sich in Köln mit einer Studie zur frühneuzeitlichen Geriatrie. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Todes, Geschichte und Ethik der Gynäkologie und Geburtshilfe sowie die Thematisierung von Medizin in der Literatur. Eva Schildmann ist Fachärztin für Innere Medizin und Mitarbeiterin an der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, HELIOS Klinikum BerlinBuch; sie arbeitet seit Eröffnung der Abteilung für Palliativmedizin (2010) auf der Palliativstation beziehungsweise im palliativmedizinischen Konsildienst. 2011 erwarb sie den Master of Science in Palliative Care am King’s College London. Arbeitsschwerpunkte sind die Unterstützungsmöglichkeiten für Angehörige in der letzten Lebensphase, systematische Übersichtsarbeiten in der Palliativmedizin sowie Kommunikation am Lebensende. Jan Schildmann leitet die NRW-Nachwuchsforschergruppe „Medizinethik am Lebensende: Norm und Empirie“ am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum. Im Anschluss an das Studium der Humanmedizin absolvierte er die Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin. 2010 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu klinisch-ethischen Herausforderungen ärztlicher Handlungen am Lebensende. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind

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Biographische Notizen

die Konzepte und Methoden ‚Empirischer Medizinethik‘ sowie ausgewählte Themen der Forschungsethik (u.a. ethische Aspekte klinischer Studiendesigns, Personalisierte Medizin in der Onkologie). Reiner Sörries ist Direktor des Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur in Kassel und außerplanmäßiger Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Nach einem Studium der Evangelischen Theologie, der Christlichen Archäologie und Kunstgeschichte war er Mitarbeiter am Institut für Historische Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte sind Friedhof, Bestattungs- und Sepulkralkultur. Stephan Völlmicke ist wissenschaftlicher Koordinator des DFG-Graduiertenkollegs „Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisierten Welt“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er studierte Kommunikationswissenschaft, Politik und Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wurde über die Veränderungen der Todesdarstellungen in der Krimireihe TATORT promoviert. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Mediale Todesdarstellungen, Filmtheorie und -analyse sowie Kommunikationstheorien. Jean-Pierre Wils ist Ordinarius für Soziale, politische Philosophie und Kulturphilosophie an der Philosophischen Fakultät der Radboud Universität Nijmegen (NL). Er studierte Philosophie und Theologie in Leuven (B) und Tübingen, wo er promoviert wurde (1987) und sich habilitierte (1990). Er war langjähriger Direktor des Zentrums für Ethik der Universität Nijmegen und Dekan der Fakultät der Religionswissenschaften von 2006 bis 2010. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Politik des Gesundheitswesens, Politische Philosophie der Moderne, Topographien der Politischen Philosophie (Stadt, Garten, Wüste). Joachim Wittkowski ist promovierter Diplom-Psychologe und gehört als außerplanmäßiger Professor der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg an. Seit 1988 ist er als forensischer Sachverständiger und Gutachter in freier Praxis tätig. Einer seiner Forschungsschwerpunkte gilt Fragen zu Sterben, Tod und Trauer (Thanatopsychologie). Er gehört dem Herausgeberstab der Zeitschrift Omega: Journal of Death and Dying an und ist aktives Mitglied der International Work Group on Death, Dying and Bereavement. Héctor Wittwer ist Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Philosophie und Lateinamerikanistik in Berlin und Lille. 2001 wurde er für seine Arbeit Selbsttötung als philosophisches Problem promoviert, 2007 habilitierte er sich für das Fach Philosophie. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie des Todes sowie zur Ethik des Tötens und Sterbenlassens vorgelegt. Weitere Schwerpunkte seiner Forschung liegen in der Normativen Ethik, der Theorie der praktischen Rationalität und der Rechtsphilosophie.

Annette Hilt / Isabella Jordan / Andreas Frewer (Hg.)

Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit Ars moriendi nova – Band 1

Die Medizin ist nicht nur Technik oder Kunst, das Leben und die Gesundheit angesichts von Krankheit und Tod zu erhalten bzw. wiederherzustellen, sondern strebt eine Praxis der Lebensführung an, die mit der Unvermeidbarkeit von Leiden und Sterben umzugehen lernt. Als meditatio vitae et mortis kann sie zu einem Feld der Reflexion über das Menschsein par excellence werden. Die zunehmenden Möglichkeiten von Anti-Aging, Plastischer Chirurgie und Enhancement stellen dabei die Fragen nach Grenzen einer humanen Heilkunde wieder neu, noch dazu, wenn – wie in transhumanistischen Utopien und kryonischer Praxis – die Möglichkeit der Verschiebung oder gar Überwindung menschlicher Endlichkeit in Aussicht gestellt wird. Medizin, Gesellschaft und Sterbekultur der Gegenwart müssen auf die Herausforderungen reagieren. Annette Hilt / Isabella Jordan / Andreas Frewer (Hg.) Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit

In diesem Themenfeld liegt der Schwerpunkt des Bandes: Die Autoren reflektieren Endlichkeit und Unsterblichkeit in der Medizin aus historischer, philosophischer, sozialwissenschaftlicher wie auch ethischer Perspektive.

329 Seiten mit 7 Farb- und 9 s/w-Abbildungen. Kart. ISBN 978-3-515-09714-7

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Aus dem Inhalt Diskursgeschichte: Endlichkeit und Unsterblichkeit im historischen Spiegel: mit Beiträgen von D. Schäfer, K. Thiele-Dohrmann, A. Frewer, F. J. Illhardt, G. Rüve Diskursanalysen: Sterblichkeit und Transhumanismus im Spiegel sozialer Phänomene: mit Beiträgen von R. Heil, I. Jordan / A. Frewer, O. Krüger, T. Junge, B. Richard Diskursperspektiven: Endlichkeit und Unsterblichkeit im Spiegel der Ethik: mit Beiträgen von A. Hilt, K. Ohnsorg / C. Rehmann-Sutter, I. Jordan, P. Strasser, D. Baltes / A. Fritz, A. Frewer

Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de

Klaus Bergdolt / Ingo F. Herrmann (Hg.)

Was ist Gesundheit? Impulse. Villa Vigoni im Gespräch – Band 3

Die Gesundheit stellt nicht nur in der westlichen Gesellschaft ein heiß begehrtes Gut dar. Schwierig erscheint dennoch ihre Definition. Die Beiträge des kleinen Bandes, der auf ein Symposium der Villa Vigoni im Herbst 2009 zurückgeht, zeigen, was man in verschiedenen Epochen mit dem durchaus schillernden Begriff verband. Historiker, Philosophen, Philologen, Sozialwissenschaftler, Ärzte und Patienten versuchen Antworten zu geben. Gesundheit erweist sich dabei nie als bloße Worthülse. Hinter aller Subjektivität gibt es offensichtlich zeitunabhängige Konstanten, zu denen etwa die berechtigte Hoffnung auf ein erträgliches Morgen gehört. Dennoch ist der Begriff, der in Medizin, Politik und Ökonomie einen so wichtigen Platz einnimmt, erstaunlich vieldeutig, was nicht zuletzt mit der Weltanschauung, dem persönlichen Umfeld und der kulturellen Verwurzelung des Individuums zusammenhängt. Ärzte, Pflegepersonal, Politiker und nicht zuletzt auch Patienten dürften hier interessante Anregungen finden. Klaus Bergdolt / Ingo F. Herrmann (Hg.) Was ist Gesundheit? 152 Seiten. Kart. ISBN 978-3-515-09836-6

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Aus dem Inhalt DVFKPLWW: Hippokrates und Galen über die Grundlagen der Gesundheit | JJDOLPEHUWLELIILQR: Beziehungen zwischen Krankheit und Gesundheit bei Seneca | J DXPOOHUDIUDQN: Interkulturelle Aspekte des Gesundheitsbegriffs | NSHWHUMDQNULIW: „Gesundheit“ in der mittelalterlichen Lebenswelt | GOLSSL: „Gesundheit“ im Großherzogtum Toskana | LPDFOHDQ: The idea of health in the Italian Renaissance | KVFKRWW: Gesundheit in der deutschen Romantik | PVWROEHUJ: Verständnis und Erfahrung von „Gesundheit“ in der medikalen Laienkultur des 17. Jahrhunderts | JFDWDODQR: Der kranke Königssohn im Wilhelm Meister | PJDGHEXVFKERQGLRLI KHUUPDQQ: Gesundheit in Zeiten der Individualisierten Medizin | LIKHUUPDQQ / PJDGHEXVFKERQGLR: Was versteht der Schwerkranke unter „Gesundheit“?

Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de

Wie wollen wir sterben? Diese Frage steht im Mittelpunkt zahlreicher Diskurse und Publikationen: Was ist ein ‚guter Tod‘ für den individuellen Patienten, was versteht unsere Gesellschaft darunter? Welche ‚Sterbekultur‘ hat die Gegenwart? Autoren aus Medizin, Philosophie, Theologie, Psychologie, Soziologie, Geschichte, Ethik, Palliativmedizin, Hospizbewegung und weiteren Gebieten diskutieren im vorliegenden Band eine sinnvolle und menschenwürdige Gestaltung am Lebensende. Der Vorschlag der Herausgeber zu einer „Ars moriendi nova“ als neue Sterbekultur wird interdisziplinär eingebettet und mit Bezug zur gesellschaftlichen Praxis erörtert.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ars moriendi nova Herausgegeben von: Andreas Frewer Christof Müller-Busch Daniel Schäfer

ISBN 978-3-515-10189-9