Commentatio mortis: 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi 9783666530784, 3525530781, 9783525530788


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German Pages [408] Year 2006

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Commentatio mortis: 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi
 9783666530784, 3525530781, 9783525530788

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Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch, Matthias Köckert, Christopher Tuckett und Steven McKenzie

Band 214

Vandenhoeck & Ruprecht

Manuel Vogel

Commentatio mortis 2Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi

Vandenhoeck & Ruprecht

Janka Kira Salome Zippora Jolanthe

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-53078-1 ISBN 13: 978-3-525-53078-8

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG-Wort.

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck- und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

tota enim philosophorum vita commentatio mortis est Cicero, Tusculanae disputationes 1,74

Vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2003/2004 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen. Sie erscheint hiermit unverändert im Druck. Die inzwischen erschienene Dissertation von Frederik Lindgård (Paul’s Line of Thought in 2 Corinthians 4:16–5:10, WUNT 2.189, Tübingen 2005) habe ich in der Theologischen Literaturzeitung rezensiert (ThLZ 131/2006, 378f) und alles Nötige dort gesagt. Mein Dank gilt Herrn Prof. Dr. Jens-W. Taeger (†) für die Erstellung des Erstgutachtens, sowie dafür, dass er mich nach Abschluss meiner Tätigkeit am Institutum Judaicum Delitzschianum (IJD) für ein Jahr als sein Assistent beschäftigt und mir damit den Freiraum verschafft hat, meine Habilitationsschrift vor Antritt des Pfarrvikariats im Herbst 2003 fertigzustellen. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Dietrich-Alex Koch, der das Zweitgutachten verfasst hat. Ihm und Herrn Prof. Dr. Matthias Köckert danke ich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments. Auch Herrn Prof. Dr. Folker Siegert möchte ich an dieser Stelle herzlich danken: Er hat mir in den Jahren der Mitarbeit am Münsteraner Josephus-Projekt stets Zeit für die Arbeit an meinem Habilitationsthema gelassen. Nicht zuletzt freut es mich, dass mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Klaus Berger (Heidelberg), meinen Werdegang bis heute mit freundlichem Interesse begleitet. Aus Heidelberger Zeiten haben sich freundschaftliche Verbindungen außerdem erhalten zu Dr. habil. Peter Busch, Dr. Gabriele Faßbeck, Dr. Markus Sasse, Dr. Peter Soellner samt Familie, sowie zu Prof. Dr. Jürgen Zangenberg. Der VG-Wort sage ich meinen Dank für die Förderung der Drucklegung aus den Mitteln des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft. Herrn Christoph Spill vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht bin ich äußerst dankbar für so manche freundliche, geduldige und findige Nothilfe bei der Erstellung der Druckvorlage.

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Vorwort

Da diese Arbeit in Münster/Westf. entstanden ist, verbinde ich mit ihrer Publikation einen dankbaren Rückblick auf sieben glückliche Jahre in dieser Stadt. Dass es glückliche Jahre waren, verdanke ich maßgeblich einem Kreis von Kolleginnen und Kollegen, die mit mir das Interesse am Neuen Testament teilten und pflegten: Dr. Jan Dochorn, Martin Dorn, Dr. Martin Faßnacht, Dr. Joachim Jeska, Dr. Stefan Lücking, PD Dr. Angelika Reichert, Dr. Susanne Schewe, Dr. Martin Schmidl und PD Dr. Thomas Witulski. In schöner Erinnerung ist mir außerdem die Zusammenarbeit mit Dr. Heinz Schreckenberg, der nimmermüde Woche für Woche an den Sitzungen der Josephus-Arbeitsgruppe teilgenommen hat. Von seiner profunden Kenntnis der josephischen Textgeschichte und Textkritik habe ich viel gelernt. Dass ich so gern an das IJD zurückdenke, liegt außerdem an Maria Arnhold, Uta Bültermann, Siggi Frank, Ludger Hamm, Volker Kircheis, Heike Scharbaum und Ulrike („Bella“) Wohlrab, geb. Kämpf. Nurmehr die Klinke in die Hand gab ich mir mit Dr. Cor de Vos, Tobias Pfeifer und Gregor Buss. An der Nennung eines weiteren Namens liegt mir in besonderer Weise: Dr. theol. Jürgen U. Kalms (†). Er war der erste, der mir die damals noch fremden Straßen von Münster auf gemeinsamen Spaziergängen ein wenig vertraut gemacht hat. Mit ihm habe ich mein erstes westfälisches Bier bei Pinkus-Müller getrunken. Er fehlt mir als Kollege und als Freund. Ein Wort zur Widmung: Sie gilt meiner geliebten Frau und unseren wunderbaren Töchtern. Frankfurt/Main, im Juni 2006

Manuel Vogel

Inhalt I. Einführung ................................................................................................10 1. Die These.............................................................................................10 2. Zur Forschungsgeschichte...................................................................15 2.1 Der traditionelle Auslegungstyp ..........................................................15 2.2 Der polemisch-dogmatische Auslegungstyp .......................................18 2.3 Der polemisch-agonistische Auslegungstyp ........................................22 2.4 Der polemisch-existentiale Auslegungstyp .........................................23 2.5 Bisherige Ansätze einer apologetischen Auslegung ............................24 3. Die soziale Konstruktion von „Tod“ und „Leib“ ................................29 Exkurs: Die 1. Pers. Plural in 2Kor 4,1–5,10 ......................................34 II. Antike Wahrnehmungen des Todesproblems...........................................45 1. Einführung...........................................................................................45 2. Rhetorik ...............................................................................................47 2.1 Einführung ...........................................................................................47 2.2 Rhetorische Lehrwerke ........................................................................49 2.3 Progymnasmata....................................................................................57 2.4 Grabreden.............................................................................................63 2.5 Exemplasammlungen...........................................................................74 2.6 Zusammenfassung ...............................................................................84 3. Biographie ...........................................................................................86 3.1 Einführung ...........................................................................................86 3.2 Griechische Biographie: Plutarch, Vitae Parallelae............................87 3.3 Römische Biographie: Sueton, Kaiserviten .........................................93 3.4 Zusammenfassung ............................................................................ 107 4. Historiographie ..................................................................................109 4.1 Einführung ........................................................................................ 109 4.2 Römische Historiographie: Tacitus .................................................. 111 4.3 Hellenistisch-jüdische Geschichtsschreibung: Flavius Josephus ............................................................................... 116 4.4 Zusammenfassung ............................................................................ 134

5. Satire, Parodie, Spottgedicht .............................................................136 5.1 Einführung ........................................................................................ 136 5.2 Seneca, Apocolocynthosis ................................................................. 137 5.3 Martial, Epigramme 11,56 ................................................................ 140 5.4 Lukian, De morte Peregrini.............................................................. 142

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Inhalt

5.5 Zusammenfassung ............................................................................ 147

6. Sterben und Tod als Thema philosophischer Ethik...........................147 6.1 Einführung ........................................................................................ 147 6.2 Der Tod des Sokrates ........................................................................ 149 6.3 Alexandrinischer Vorneuplatonismus: Philo .................................... 162 6.4 Neue Akademie: Cicero, Tusculanae disputationes ......................... 167 6.5 Mittelplatonismus: Plutarch .............................................................. 175 6.6 Epikureismus .................................................................................... 177 6.7 Stoa ................................................................................................... 189 6.8 Zusammenfassung ............................................................................ 206 7. Hellenistisch-jüdische Weisheit ........................................................210 8. Jüdische Martyrologie .......................................................................213 8.1 2. Makkabäerbuch 6–7...................................................................... 213 8.2 4. Makkabäerbuch 5–17.................................................................... 217 9. Antike ars moriendi als gemeinhellenistische Popularethik .............219 III. Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10.....................................................223 1. Ein erster Zugang ..............................................................................223 2. Exegese von 2Kor 5,1–10 .................................................................226 2.1 Der himmlische Leib als eschatologisches Gegenbild des irdischen (V. 1) ......................................................... 226 2.2 Die Sehnsucht nach dem Überkleidetwerden (V. 2)......................... 238 2.3 Das himmlische Obergewand als eschatologisches Statusmerkmal (V. 3) ........................................................................ 247 Exkurs: Zum Verhältnis von 2Kor 5,1ff zu 1Kor 15................................. 256 2.4 „Den Tod bejahen, ohne das Leben zu verneinen“ (V. 4ab) ............ 280 2.5 Ein Bekenntnis zum Leben angesichts des Todes (V. 4c) ................ 302 2.6 Die Ermächtigung zu einem positiven Todesverständnis durch Gott (V. 5)............................................................................... 307 2.7 Todesbereitschaft und Distanzierung vom irdischen Leib (V. 6) ....... 314 2.8 Die pivsti~ als adäquate Wahrnehmung des Vorläufigen (V. 7)............................................................................. 328 2.9 Todesbereitschaft aus Heilsverlangen (V. 8) ................................... 335 2.10 Gebändigte Todessehnsucht (V. 9) ................................................... 347 2.11 Die ethische Dimension idealer Todesbereitschaft (V. 10) .............. 362

3. Zusammenfassung und Ertrag ...........................................................370 Abkürzungen...............................................................................................379 Literaturverzeichnis ...................................................................................383 Register.......................................................................................................399

I. Einführung

1. Die These Wer tiefer in die Auslegung von 2Kor 5,1–10 eindringt, wird sich früher oder später dem Urteil H.J. Holtzmanns anschließen, dass „die Geschichte der Exegese dieser dunkelsten und brüchigsten Stelle im ganzen paulin(ischen) Gedankenbau nur Ratversuche aufweist.“1 In der Tat darf 2Kor 5,1–10, was die Probleme dieses Textes betrifft, innerhalb des Corpus Paulinum einen der vordersten Plätze für sich beanspruchen. Die Auslegungsgeschichte zeigt gleichermaßen die zentrale Bedeutung des Textes für die paulinische Eschatologie wie auch die tiefgreifende Verwirrung darüber, was Paulus hier überhaupt hat sagen wollen. So stellt Lang zu Beginn seiner forschungsgeschichtlichen Studie zu 2Kor 5,1–10 fest: Für die traditionelle Dogmatik ist 2Kor 5 der klassische Schriftbeweis für die mit dem Tod beginnende ewige Seligkeit. Einige behaupten sogar, Paulus habe hier im Gegensatz zu seiner früheren kosmischen Zukunftshoffnung die Auferstehung in den Todesaugenblick des einzelnen vorverlegt; andere sehen hier umgekehrt einen Beleg, dass Paulus nie die glühende Naherwartung aufgegeben und sich stets am universalen Geschick der Welt orientiert habe. Teils gilt der Text als Kronzeuge für die Anthropologie des Paulus und sein jüdisches Insistieren auf der Leiblichkeit; teils wird bestritten, dass in der Hausbildlichkeit vom Leib überhaupt die Rede sei, und dafür der Ekklesiologie der Vorrang gegeben. Manche finden hier Anzeichen für eine Entwicklung des Paulus unter dem Einfluss hellenistischen Denkens, wieder andere für den gnostischen Charakter seiner korinthischen Gegner.2

1 So Holtzmann, Lehrbuch 217; zitiert nach Lang, Forschung 1. Lang selbst notiert an dieser Stelle, die „anerkannte Schwierigkeit“ des Textes, „die schon mehr als einen Exegeten zur Verzweiflung gebracht hat.“ 2 Lang, Forschung 1f. Eine gedrängte Übersicht von einander diametral widersprechenden Auslegungen gibt auch Schmithals, Gnosis 223: „Man hat aus diesen Versen vor allem für die paulinische Zukunftshoffnung alles mögliche herausgelesen. Man behauptete, P[au]l[u]s rechne hier überhaupt nicht mehr mit der Parusie – er hielte den Tod des Gläubigen für das Normale – er denke nur an die Parusie. Ferner: er habe die Vorstellung, daß der Tote gleich nach dem Sterben den Himmelsleib erhalte – daß er erst einen Zustand der Nacktheit durchmachen müsse – daß er bei der Parusie überkleidet werde. Ferner: erst würde das alte Kleid ausgezogen, bevor das neue angezogen werde – das neue werde über das alte gelegt werden und es verschlingen – nach Ablegung des alten Gewandes habe der Mensch noch ein pneumatisches Kleid, über das das neue gelegt würde – usw.“

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Einführung

Der fast jedes Detail des Textes betreffende Forschungsdissens hängt unmittelbar damit zusammen, dass die exegetischen Einzelprobleme in diesem Abschnitt in einer selbst für paulinische Verhältnisse außergewöhnlich dichten Folge auftreten. Um nur einige wenige zu nennen: Der seltsame Übergang vom Bild des „Hauses“ in V. 1 zu dem des „Gewandes“ in V. 2 ist undurchsichtig, und undurchsichtig ist erst recht das Bestreben „nicht nackt erfunden zu werden“, dem Paulus in V. 3 Ausdruck verleiht. Redet Paulus hier einer Furcht vor postmortaler „Nacktheit“ das Wort, was immer er sich darunter vorgestellt haben mag? Dunkel ist auch die Unterscheidung von „Entkleidetwerden“ und „Überkleidetwerden“ (V. 4), an der Paulus offenbar viel liegt, und nicht minder merkwürdig ist der in V. 6 argumentativ vorbereitete und in V. 8 prononciert geäußerte Wunsch und Wille, den Leib zu verlassen und beim Herrn zu sein. Hinzu kommt das ungewöhnliche subjektiv-emotionale Element dieses Textes: Warum spricht Paulus vom „Seufzen“ oder gar „Stöhnen“, vom „sich Sehnen“ und vom „Mutigsein“? In welchem Verhältnis stehen diese Emotionen zu dem ebenfalls thematisierten „Wissen“ und „Wollen“? Und von wem spricht Paulus hier? Nur oder in erster Linie von sich selbst oder von allen Christen? Was ist überhaupt das Thema dieses Textes? Erörtert Paulus hier das Verhältnis von individuellem Tod, Auferstehung und Wiederkunft Christi? Wenn ja: Entwickelt er in 2Kor 5 eine andere Eschatologie als noch in 1Thess 4 und 1Kor 15? Oder wendet sich Paulus gegen bestimmte Vorstellungen von Erlösung, die in Korinth en vogue, Paulus selbst aber fremd waren und seinen Widerspruch herausforderten? Vor allem aber: Wie verhält sich 2Kor 5,1–10 zum näheren und weiteren Kontext? Wie fügen sich diese zehn Verse in den Duktus der Apologie des paulinischen Apostolats (2Kor 2,14–7,4)?3 Und näherhin: Wie schliessen sie an das seit 4,7 virulente Thema der Niedrigkeit der apostolischen Existenz an? Wenn man den Text nicht einfach als Exkurs ausgrenzen und damit die Frage des Kontextbezuges für zweitrangig erklären will, dann wird diese geradezu zur Leitfrage für künftige Auslegungen von 2Kor 5,1– 10. H.-J. Klauck hat m.R. festgestellt: „Entscheidend wird vor allem sein, ob es gelingt, den Abschnitt in den Kontext einzuordnen.“4 Es ist somit der Bezug zum apologetischen Duktus von 2Kor 2,14–7,4, der dem Versuch einer Neuauslegung von 2Kor 5,1–10 als Problem aufgegeben ist.5 Die Fra3 Für die Einleitungsfragen zum mittleren Teil des 2Kor sei auf die knappen aber informativen Darstellungen bei Zeilinger, 2Kor 11–17 und Grässer, 2Kor 101–105 verwiesen. Das Problem der literarischen Ursprünglichkeit der Apologie in ihrem jetzigen Kontext braucht uns nicht zu interessieren. 4 Klauck, 2Kor 49. Zustimmend Zeilinger, 2Kor 215. 5 Die Bezeichnung von 2Kor 2,14–7,4 (mit dem gelegentlich als unecht ausgeschiedenen Stück 6,14–7,1 oder ohne dasselbe) als „Apologie“ hat sich in der Forschung eingebürgert (klassisch

Die These

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ge lautet: Lässt sich 2Kor 5,1–10 als integrierender Bestandteil der im Mittelteil von 2Kor entwickelten apologetischen Selbstdarstellung des Paulus als legitimer Apostel der korinthischen Gemeinde verstehen? Die Forschung hat bisher nur ganz vereinzelt in diese Richtung gedacht, und die vorgetragenen Lösungsansätze sind durchweg sehr fragmentarisch geblieben. Stets konnten nur einzelne Aussagen als Teil der paulinischen Apologie gedeutet werden, nie aber der Text als ganzer. Dies trifft, wie zu zeigen sein wird, auch für den verbreiteten Auslegungstyp zu, der den Begriff der Apologie primär im Sinne einer sachlichen Auseinandersetzung um Inhalte der paulinischen Verkündigung versteht und 2Kor 5,1–10 als Argumentation gegen anderslautende anthropologische, eschatologische und/oder soteriologische Modelle auffasst. Diese Deutung gerät spätestens in 5,6–8 in Schwierigkeiten, weil Paulus die anthropologischen Prämissen, die er angeblich eben noch bekämpft hat, hier anscheinend auf einmal selber teilt.

etwa Thrall, 2Kor 188 „defence of the apostolic ministry“ und zuletzt Grässer, 2Kor 101) und wird, soweit ich sehe, in der Sache auch dort nicht angezweifelt, wo die Bezeichnung nicht verwendet wird (so etwa Bultmann, 2Kor 65 und Vielhauer, Geschichte 143 „das apostolische Amt“; Wolff, 2Kor 50 „der wahre Aposteldienst“), oder wo abweichende Gliederungen vorliegen (Furnish, 2Kor xi-xii, geht von einer Dreiteilung des als Teilbrief aufgefassten Stücks 2Kor 1–9 aus und gliedert in 2,14–5,19 „Comments on apostolic service“ und 5,20–9,15 „Appeals“. Schnelle, Einleitung 91 gliedert in 1,8–2,17 „briefliche Selbstempfehlung“; 3,1–4,6 „der Dienst des Apostels als Dienst im Geist“; 4,7–5,11 „die Leidensgemeinschaft mit Christus und die Hoffnung des Apostels“, etc., doch fasst er an späterer Stelle (103) 2,14–7,4 gleichwohl als Sinneinheit auf, in der Paulus das „Wesen seines Apostelamtes“ in „Herrlichkeit“ (3,1–4,6) und „Leiden“ (4,7–5,10) thematisiert. Teilungshypothesen zu 2Kor haben auf die Deutung seines Mittelteils als Apologie des paulinischen Apostolats ebenfalls keinen Einfluss. Sie gilt unabhängig davon, ob das Stück für einen Briefteil oder für einen ursprünglich selbständigen Teilbrief gehalten wird. Unbestritten ist im Wesentlichen auch die besondere Situation in Korinth, die die Apologie veranlasst hat (zuletzt Kuschnerus, Gemeinde 304f; Grässer, 2Kor 27): Paulus sah sich von Seiten konkurrierender christlicher Missionare massiven Angriffen ausgesetzt, die auf die Bestreitung seiner Befähigung zu seinem apostolischen Amtes zielten. Aus 2Kor 10–13 lassen sich diese Angriffe, die offenbar bis zur persönlichen Verunglimpfung gingen, teilweise rekonstruieren: 10,1 (o}~ kata; provswpon me;n tapeino;~ ejn uJmi`n, ajpw;n de; qarrw` eij~ uJma`~) und 10,10 (aiJ ejpistolai;

mevn, fhsivn, barei`ai kai; ijscuraiv, hJ de; parousiva tou` swvmato~ ajsqenh;~ kai; oJ lovgo~ ejxouqenhmevno~) deuten auf den Vorwurf persönlicher Feigheit, schwächlichen Auftretens und fehlen-

der Durchsetzungsfähigkeit, die Paulus aus der sicheren Entfernung mit wortgewaltigen Briefen kompensiere. Eine gegnerische Schmähung greift Paulus auch in 11,6 (ijdiwvth~ tw`æ lovgwó) auf. Gemeint ist ein unterstellter „Mangel an wirkungsmächtiger, geistgewirkter Rede“ (Vielhauer, Geschichte 147 mit Verweis auf 2Kor 13,3 ejpei; dokimh;n zhtei`te tou` ejn ejmoi; lalou`nto~ Cristou`: o}~ eij~ uJma`~ oujk ajsqenei` ajlla; dunatei` ejn uJmi`n); vgl. außerdem 11,21 („Schwachheit“ als gegnerisches Schlagwort?), 12,1.7.12 (Vorwurf, Paulus fehle es an pneumatischen Machterweisen und „Zeichen des Apostels“). Weitere Stellen bei Vielhauer, Geschichte 147f, der resümiert: „Dass der Angriff auf Paulus ‚totale Ausmaße‘ angenommen hat, wird man zugeben müssen, auch wenn man in Rechnung stellt, dass man nur die eine Seite hört und diese sich einseitig äußert“ (148).

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Einführung

Außerdem ist fraglich, ob Paulus eine argumentative Strategie unterstellt werden kann, die die Verteidigung von Amt und Person einseitig auf der Ebene der Auseinandersetzung um Inhalte der Verkündigung führt. Paulus gibt zu Beginn des mittleren Briefteils selbst das Stichwort an, an dem sich die Apologie orientiert: Es geht um den Nachweis seiner iJkanovth~, seiner persönlichen Tauglichkeit und Befähigung zum apostolischen Dienst (2,16; 3,5f). Die Anschuldigungen, denen Paulus sich in Korinth ausgesetzt sah, betrafen keinesfalls in erster Linie die Inhalte seiner Verkündigung. Vielmehr ging es um eine grundsätzliche Infragestellung seiner persönlichen Eignung zum Apostel. „Im Grunde läßt sich“, so zutreffend Lindemann, „die Argumentationsfolge interpretieren als eine ausführliche Antwort auf die von Paulus selbst gestellte, rhetorische Frage von 2,16: kai; pro;~ tau`ta tiv~ iJkanov~É“6 Die gegnerischen Angriffe zielten, um einen terminus technicus der antiken Rhetorik zu verwenden, primär auf das h\qo~ tou` levgonto~, nicht auf einzelne Inhalte seines lovgo~.7 Wenn Paulus zu seiner Verteidigung nun seinerseits auf weite Strecken theologisch argumentiert, so darf doch nicht übersehen werden, dass er damit Vorwürfen entgegentritt, die ihn als Person in ein schlechtes Licht rücken, seinen Charakter diskreditieren sollten.8 Aus 2Kor 4,7ff kann erschlossen werden, dass 6

Lindemann, Eschatologie 392. Das h\qo~ tou` levgonto~ liefert vor Gericht Beweise, die sich aus dem Charakter des Sprechers ergeben. Die antike Rhetorik unterscheidet zwischen Beweismitteln (pivstei~, probationes) in Bezug auf Sprecher, Hörer und Sache; vgl. Aristoteles, Rhet. 1,2,3–5/1356a tw`n de; dia; tou` 7

lovgou porizomevnwn pivstewn triva ei[dh e[stin: aiJ me;n gavr eijsin ejn tw`æ h[qei tou` levgonto~, aiJ de; ejn tw`æ to;n ajkroath;n diaqei`naiv pw~, aiJ de; ejn aujtw`æ tw`æ lovgwó dia; tou` deiknuvnai h] faivnesqai deiknuvnai. Diese Stelle kommentiert Quintilian, Inst. 5,12,9 mit den Worten atque

Aristoteles quidem potentissimum putat ex eo, qui dicit, si sit vir bonus, und er setzt hinzu, dass es bisweilen auch genügt, sich den bloßen Anschein eines untadeligen Charakters zu geben (Stellen bei Lausberg, Handbuch 193). Freilich kann der rhetorische Fachbegriff des h\qo~ tou` levgonto~ nicht unmittelbar auf die Kommunikationssituation des 2Kor angewendet werden, weil es bei Aristoteles wie auch bei Quintilian um die unmittelbare Überzeugungswirkung einer aktuell gehaltenen Rede geht, doch ist die hierbei getroffene Unterscheidung zwischen Person und Sache – Quintilian versteht Aristoteles sogar dahin gehend, dass er dem Charakter des Redners größere Überzeugungskraft beimisst als dem Inhalt seiner Rede! – analog auch für das Verständnis des in 2Kor ausgetragenen Konflikts von Bedeutung: Bestritten wurde von der antipaulinischen Agitation nicht primär die Glaubwürdigkeit der Verkündigung, sondern die Glaubwürdigkeit des Verkündigers. 8 Dies gilt auch dann, wenn mit 2Kor 10–13 ein ursprünglich selbständiger Brief vorliegt, der ein gegenüber 2Kor 2,14–7,4 späteres Stadium und eine Zuspitzung des Konflikts widerspiegelt (so zuletzt Grässer, 2Kor 32f, der 2Kor 2,14–7,4 am Anfang des Konflikts mit den konkurrierenden Missionaren verortet und in 2Kor 10–13 „eine weitere Eskalation eben dieses Konflikts“ erkennt). Erstens ist kaum denkbar, dass Paulus’ Konkurrenten zunächst nur moderat Kritik geübt und erst später zu persönlichen Diffamierungen, wie sie sich in 2Kor 10–13 niederschlagen, übergegangen sind. Zweitens geht schon das Schlagwort der iJkanovth~ über einen bloßen sachlichen Dissens hinaus. Die Bestreitung der iJkanovth~ als Apostel der korinthischen Gemeinde indiziert bereits eine weitreichende persönliche Abqualifizierung. Paulus muss sich schlicht gegen den Vorwurf verteidigen, dass er persönlich „nichts taugt“.

Die These

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hierbei seine unscheinbare, schwächliche und anfällige physische Konstitution eine Rolle spielte. Die Argumentation dieses Textsegments ist in ihren Grundlinien einigermaßen deutlich: Das Verborgene, Unsichtbare und Ewige wird gegen das Uneigentliche, Äußerliche und Kontingente aufgeboten. Nach jenem will Paulus beurteilt werden, nicht nach diesem (4,18). Er funktionalisiert die Hinfälligkeit seiner körperlichen Erscheinung als notwendige Rahmenbedingung seines apostolischen Wirkens (4,7b), interpretiert sie christologisch als an seinem sw`ma erfahrene und wahrnehmbare Leidensgemeinschaft mit Jesus (4,10) und qualifiziert sie soteriologisch als ein Geschehen, das der Gemeinde heilvoll zugute kommt (4,11f). Blickt man nun über 5,1–10 hinweg auf 5,11b.12, so liegt der Schluss nahe, dass Paulus zuvor seine Person massiv aufzuwerten versucht hat, denn er appelliert an das Urteilsvermögen9 der Adressaten und verbindet dies mit dem Hinweis, dass er sich keineswegs selbst empfehlen, wohl aber seinen Adressaten legitime Gründe an die Hand geben will, sich ihres Apostels gegenüber seinen Konkurrenten zu „rühmen“. So klar die damit explizierte Pragmatik in 4,7ff erkennbar ist, so verwunderlich wäre es doch, wenn ausgerechnet der dem Resümee in 5,11b.12 unmittelbar voranstehende Abschnitt 5,1–10 der Sachdiskussion um anthropologische und eschatologische Prämissen der paulinischen Verkündigung gewidmet sein sollte. Lässt sich nicht auch dieser Abschnitt – mit V. 12 gesprochen – als ein kauca`sqai ejn kardivaó lesen, als Teil einer apologetischen Selbstdarstellung also, die für die Beurteilung der eigenen Person andere Kriterien als die gegnerischen namhaft macht? Dann erst wäre die von Klauck erhobene Forderung eines plausiblen Kontextbezugs erfüllt. Die vorliegende Studie unternimmt eine Interpretation von 2Kor 5,1–10, die dieser Forderung gerecht wird und erstmals ein Verständnis des umrätselten Textes als eines integrierenden Bestandteils der Apologie 2,14–7,4 ermöglicht. Hierbei wird der paulinische Text aus einer gänzlich neuen Perspektive in den Blick genommen, einer Perspektive, die sich jedoch aus einer denkbar naheliegenden Beobachtung ergibt: In 2Kor 5,1ff geht es, wie immer dies im Einzelnen zu verstehen ist, um das individuelle Todesgeschick, den physischen Tod. Dies und nichts anderes umschreibt die metaphorische Rede vom Zerstörtwerden des irdischen Zelthauses (V. 1). Hieran knüpft Paulus eine Reihe von Aussagen, in denen er seine emotionale, kognitive und voluntative Haltung in Bezug auf den Tod zu Ausdruck bringt: Er spricht vom „Seufzen“ und „Sehnen“, von seiner Gewissheit (V. 1: oi[damen, V. 6: eijdovte~), seinem „Wollen“ (V. 4) und seinem „Mutigsein“ angesichts des 9 Zu suneivdhsi~ als „Instanz im Menschen [...], die einen gültigen weil neutralen Maßstab zur Urteilsbildung bereitstellt“ vgl. Schröter, Versöhner 256f im Anschluss an Eckstein, Syneidesis 314.

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Einführung

Todes (V. 6.8), ja sogar von seiner „Entschlossenheit“, den Leib zu verlassen (V. 8). Mithin geht es Paulus um sein Todesgeschick und sein an diesem Geschick haftendes Todesverständnis. Damit aber besetzt er ein Themenfeld, das in der hellenistisch-römischen Antike popularphilosophisch und -ethisch im Brennpunkt des Interesses stand. Das Todesproblem war nicht nur der Philosophie des Hellenismus als zentrales Thema aufgegeben, es spielte auch weit über den philosophischen Schuldiskurs hinaus eine führende Rolle auf dem weiten Feld populärer Lebensphilosophie und Daseinsauffassung: Ein respektabler Charakter zeichnete sich nach antiker Auffassung entscheidend durch ein verantwortetes Todesverständnis aus. Aus diesem Blickwinkel lässt sich der Gedankengang in 2Kor 5,1–10 mühelos in den Duktus der Apologie 2Kor 2,14–7,4 einordnen, dann nämlich, wenn er nicht wie bisher als Exkurs zum Eschatologiethema oder als Replik auf eine anderslautende gegnerische Anthropologie gelesen wird, sondern als eine vom Todesproblem her entworfene, in apologetischer Absicht vorgetragene Charakterskizze, in der Paulus sein persönliches Todesverständnis entfaltet. Dieser Interpretationsansatz ist – erstaunlicherweise – völlig neu,10 doch finden sich in der Forschung vereinzelt Überlegungen, die zumindest in diese Richtung weisen. Zur weiteren Erläuterung unserer These nehmen wir deshalb an dieser Stelle das Gespräch mit der bisherigen Forschung zu 2Kor 5,1–10 auf.

2. Zur Forschungsgeschichte 2.1 Der traditionelle Auslegungstyp In das Jahr 1973 datiert die forschungsgeschichtliche Dissertation zu 2Kor 5,1–10 von F.G. Lang, die die Geschichte der Exegese dieses Textes seit J.F. Flatt (1827) nachzeichnet. Langs Arbeit dokumentiert den anhaltenden Dissens der älteren Forschung über die eschatologischen und anthropologischen Prämissen des Textes. Vor Lang hat schon Schmithals darauf verwiesen, dass der Abschnitt „vor schier unüberwindliche Schwierigkeiten stellt, wenn man ihn unvermittelt als Quelle der paulinischen Anthropologie und Eschatologie benutzen will. Es lässt sich dann tatsächlich fast alles aus ihm herauslesen, wie die verschiedenen Exegesen beweisen.“11 Sofern die Forschungsgeschichte darin besteht, die sich innerhalb dieser Fragestellung bewegenden zahlreichen Auslegungstypen und -varianten darzustellen, 10 Einige wenige Überlegungen in diese Richtung finden sich lediglich bei Aune, Ethics 305ff über „Paul and the Hellenistic Philosophical ‚Practice of Death‘“. 11 Schmithals, Gnosis 223.

Zur Forschungsgeschichte

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braucht sie uns im Moment nicht zu interessieren,12 unbeschadet der im III. Teil dieser Arbeit zu leistenden detaillierten Auseinandersetzung mit den Argumenten älterer Ausleger und trotz des systematisch-theologischen Schwergewichts und der seelsorgerlichen Dringlichkeit der traditionellen Fragen.13 Schmithals’ resignierendes Votum markiert bereits eine Zäsur, hinter die wir an dieser Stelle nicht zurückgehen müssen. Wir setzen mit unserer forschungsgeschichtlichen Betrachtung vielmehr bei einem Aufsatz zu 2Kor 5,1–10 ein, der an dieser Zäsur entscheidenden Anteil hat. Gemeint sind die knappen aber einflussreichen Überlegungen W. Mundles aus dem Jahr 1927.14 Mundle hat nämlich als erster die Aporien, in die sich die traditionelle Auslegung manövriert hatte, beim Namen genannt und damit den Weg für einen Paradigmenwechsel geebnet, der später von Bultmann mit seiner bis heute bestimmenden polemischen Interpretation von 2Kor 5,1–5 vollzogen wurde. Mundle unterscheidet grob zwei Auslegungstypen,15 der eine vertreten u.a. von P.W. Schmiedel (1893), E. Teichmann (1896) und H. Windisch (1924),16 die vom Erhalt des Himmelsleibes sofort nach dem Tod ausgehen und eine Modifikation der paulinischen Eschatologie gegenüber 1Thess 4 und 1Kor 15 annehmen, die nunmehr ohne die Vorstellung von Totenauferstehung und Parusie auskommt, und der andere, der die Überkleidung mit dem himmlischen Leib für den Moment der Parusie voraussetzt und in 2Kor 5,1ff die Furcht des Paulus thematisiert findet, vor der Parusie zu sterben und einen leiblosen Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung zu erleiden. Wichtige Vertreter dieser Auslegung waren E. Kühl und Ph. Bachmann.17 Anstatt nun in dieser Kontroverse selbst für eines der beiden Lager Partei zu ergreifen oder zu den zahllosen vermittelnden Auslegungsvarianten eine weitere hinzuzufügen, insistiert Mundle darauf, dass beide Ausle12

M.R. entledigt sich auch Heckel, Mensch 98 der Diskussion traditioneller Fragestellungen, wenn er anmerkt: „Die Schwierigkeiten, die der Perikope angelastet werden, fußen weitgehend auf exegetischen Fragen an den Text, die er zu beantworten weder beabsichtigt noch anleitet. Manche mit viel Scharfsinn erörterten Fragen, etwa die nach dem genauen Zeitpunkt der beschriebenen Ereignisse oder die, ob der Apostel einen ‚Zwischenzustand‘ zwischen Tod und Auferstehung annahm, überfordern den Text.“ 13 Letzteren Aspekt betont eindringlich Cassidy, Attitude 211: „The New Testament paints a bright picture of heavenly bliss beyond death, and yet leaves unanswered many of the questions we would want to ask. Do we receive our heavenly inheritance immediately after death, or do we experience a period of waiting? If so, how long and in what form do we wait? The practical relevance of these questions is understood by every minister who has to deal with anxious inquiries of bereaved people. [...] [I]f we have a pastoral concern in our work, we have an unavoidable duty to anwer these enquiries as far as the New Testament allows.“ 14 Mundle, Problem 93–109. Die forschungsgeschichtliche Bedeutung von Mundles Aufsatz schätzt ähnlich auch Hoffmann, Toten 262.264.267 ein. 15 Mundle, Problem 93. 16 Schmiedel, Briefe; Teichmann, Vorstellungen; Windisch, 2Kor. 17 Kühl, Beitrag; Bachmann, 2Kor.

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gungstypen Fragen an den Text herantragen, die er so gar nicht stellt und die anhand des Textes folglich auch nicht beantwortet werden können. Mundle bestreitet, dass Paulus überhaupt auf den Zeitpunkt des kataluqh`nai der oijkiva tou` skhvnou~ reflektiert habe. Der physische Tod sei nur eine Möglichkeit des kataluqh`nai und eine Festlegung darauf eine Verengung der paulinischen Aussage. Ebenso wenig könne dem Text eine Aussage über den Zeitpunkt des Erhalts des Himmelsleibes entnommen werden. Es gehe Paulus allein darum, die Tatsächlichkeit des neuen Leibes hervorzuheben [...]. Das Wann der Überkleidung ist hier nicht von Bedeutung [...]. Die verschiedenen Möglichkeiten, durch die wir in den Besitz des Himmelsleibes gelangen, sind erst von den Auslegern [...] zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht worden; der Apostel hingegen hat hier nicht weiter darüber reflektiert, ob sich diese Besitzergreifung des neuen Leibes sofort nach dem Tode oder erst bei der Parusie vollzieht, noch auch darüber, ob wir diese Leiblichkeit durch unsere Verwandlung bei Lebzeiten oder durch Totenauferstehung erhalten.18

Des weiteren bestreitet Mundle, dass bei dem in dem ejpenduvsasqai in V. 2.4 geäußerten Verlangen nach dem Überkleidetwerden mit dem Himmelsleib der Wunsch nach dem Erleben der Parusie (und folglich dann die Furcht vor dem vorzeitigen Tod) im Blick sei: „Auch hier will Paulus nur das Verlangen nach einem neuen Leibe zum Ausdruck bringen, ohne dass er auf die verschiedenen Möglichkeiten Rücksicht nimmt, wie die Christen diesen neuen Leib erhalten; ein Gegensatz gegen ein mögliches Sterben vor der Parusie liegt in dem Wort ejpenduvsasqai nicht.“19 Gegen Ende seines knappen Durchgangs durch den weiteren Text resümiert Mundle: „[E]s ist ein methodischer Fehler der Exegese gewesen, dass sie Fragestellungen an seine [d.i. des Paulus] Aussagen herangebracht hat, die offenbar nicht Gegenstand seines Nachdenkens gewesen sind.“20 Anstatt aber nun eine eigene Deutung vorzulegen, belässt er es bei der Feststellung: „Die weiteren Folgerungen zu ziehen, die sich für das Verständnis der paulinischen Eschatologie von den gewonnenen Resultaten ergeben, muss dem Leser überlassen bleiben.“21 Mundle hat also ein Kapitel der Forschungsgeschichte für beendet erklärt, ohne für einen Neuansatz andere als die genannten negativen Kriterien zu nennen.

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Mundle, Problem 96f. Mundle, Problem 100. 20 Mundle, Problem 107f. 21 Mundle, Problem 109. 19

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2.2 Der polemisch-dogmatische Auslegungstyp Mundle zieht allerdings in einer Anmerkung die polemische Interpretation Bultmanns in Betracht, über die er schon 1925 mit Bultmann in brieflichem Austausch stand. Zu der Negation ouj qevlomen ejkduvsasqai in V. 4 notiert er: R. Bultmann weist mich brieflich (19. September 1925) darauf hin, dass hier eine polemische Beziehung vorliegen könnte; Paulus wende sich vielleicht gegen eine hellenistische Ansicht (in der Linie der Polemik von 1Kor 15), dass die Befreiung vom Leibe die eschatologische Erlösung sei. Die Ausdrucksweise des Apostels würde das gut erklären; nur vermögen wir diese Hypothese nicht zu verifizieren.22

Bultmann hat sich seinerseits mehrfach auf Mundles Aufsatz berufen, als er 1947 die polemische Interpretation von 2Kor 5,1ff erstmals in einer Veröffentlichung vortrug.23 Bultmann hat somit als einer der Ersten Mundles Impuls aufgenommen und die von ihm ins Bewusstsein der Forschung gebrachte Leerstelle mit einer Neuinterpretation besetzt. Für Bultmann formuliert 2Kor 5,1ff weder eine individuelle Eschatologie hellenistischen Zuschnitts im Widerspruch zu 1Thess 4 und 1Kor 15, noch artikuliert Paulus in diesem Text seine Furcht vor einem etwaigen leiblosen Zwischenzustand zwischen Tod und Parusie. Vielmehr argumentiert er gegen ein gnostisierendes Erlösungsverständnis, das die Leiblichkeit der Auferstehung bestreitet. Dieser Auslegungstyp, der 2Kor 5,1ff polemisch als Entgegnung auf eine anderslautende Anthropologie und Eschatologie auffasst, wurde in der angelsächsischen Forschung weit weniger beachtet als in der deutschsprachigen.24 Hier ist er – in ganz unterschiedlichen Varianten – bis heute bestimmend. So konstatiert der gegenwärtig neueste Kommentar zum 2. Korintherbrief von E. Grässer zu 2Kor 5,1–10 mit Conzelmann: „Nicht strittig sollte sein, dass Paulus ‚in Auseinandersetzung mit den korinthischen Protognostikern dualistisch‘ formuliert. ‚Die Gegner wollen offenbar nichts von einer leiblichen Auferstehung im Stil von 1Kor 15 wissen. Ihr Ideal ist körperloses Dasein in der schwerelosen Lichtwelt‘.“25 Als wichtigste Vertreter der an Bultmann anknüpfenden oder mit seiner Deutung sachverwandten polemischen Interpretation sind W. Schmithals (1956, 3 1969), P. Hoffmann (1966), L. Schottroff (1970), und P. von der OstenSacken (1975) zu nennen. 26

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Mundle, Problem 104 Anm. 1. Bultmann, Probleme. 24 In der angelsächsischen Forschung lebt die traditionelle Fragestellung bis heute fort, so etwa bei Thrall, 2Kor. Vgl. auch Osei-Bonsu, Resurrection; Smith, Intermediate. 25 Grässer, 2Kor mit Conzelmann, Grundriss 213 und zuletzt Konradt, Gericht 479 Anm. 29. 26 Schmithals (Gnosis), Hoffmann (Toten), Schottroff (Glaubende), von der Osten-Sacken (Römer). 23

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Schmithals sieht in 5,1–5 wie sein Lehrer Bultmann eine Entgegnung auf eine gnostisierende (für Schmithals: gnostische)27 Soteriologie, die Erlösung als Befreiung der Pneuma-Seele vom Leib denkt. Anders als Bultmann wendet Schmithals die polemische Interpretation jedoch auch auf 5,6ff an: 5,6–8 richte sich mit der Betonung der Vorläufigkeit des irdischen Daseins gegen gnostisches Vollendungsbewusstsein und 5,9f mit dem Insistieren auf der Heilsrelevanz der Taten „im Leibe“ gegen gnostischen Libertinismus, eine Deutung, der sich P. Hoffmann (1966) angeschlossen hat. L. Schottroff (1970) differenziert Bultmanns Interpretation dahingehend, dass sie die antignostische Spitze von 5,1ff nicht allein in der Abwehr der als Erlösung verstandenen gumnovth~ (V. 3) sieht, sondern auch und vor allem in V. 4c i{na katapoqh`æ to; qnhto;n uJpo; th`~ zwh`~. Paulus teile den Dualismus seiner Gegner insofern, als er einer Distanzierung von der leidvollen Existenz im irdischen Leib das Wort rede. Was er bestreite, sei das Ablegen dieser irdischen Existenz als ontologische Möglichkeit eines vorgeblich autarken himmlischen Selbst des Menschen. Vielmehr werde das sterbliche Wesen des Menschen, das von seinem Selbst nicht ablösbar ist, in das eschatologische Heil mit einbezogen, mithin vom Leben „verschlungen“. Damit verdeutliche Paulus, was er mit der Bekleidungsmetapher meint, die er schon in 1Kor 15,53 verwendet und in 2Kor 5,2.4 dahingehend verdeutlicht, dass er vom „Bekleidetwerden“ im Sinne eines „Überkleidetwerdens“ spricht: „Die irdische Existenz wird nicht abgelegt, sondern einbezogen, gerade das Vergängliche und Sterbliche gewinnt Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit.“28 Auch P. von der Osten-Sacken sieht in der Gewandmetaphorik und dem Bild vom „Verschlungenwerden“ in V. 4c die Sinnspitze von 5,1–5: Während Paulus sich mit der Metaphorik von irdischem und himmlischem „Haus“ noch innerhalb der gegnerischen Auffassung bewegt, präzisiere die Gewandmetapher, dass „das zukünftige Handeln Gottes am Menschen nur Handeln am somatischen Menschen sein [kann], nicht aber an einem Menschen, der ejkdusavmeno~ ist.“29 Die Auseinandersetzung mit diesem Auslegungstyp wird uns im III. Teil der vorliegenden Arbeit noch näher beschäftigen. Hier ist nur festzustellen, dass die polemische Auslegung von 2Kor 5,1ff mit einer nicht zu unterschätzenden Hypothek belastet ist: Die in V. 1 verwendete Bau- und Gewandmetaphorik, mit der Paulus angeblich die eschatologische Leiblich27 Die Anwendung des Gnosisbegriffs auf die religionsgeschichtliche Einordnung der korinthischen Gegner ist anachronistisch und forschungsgeschichtlich überholt (vgl. dazu Sellin, Streit 195–209). Hier braucht deshalb keine weitere Kritik zu erfolgen. Die Diskussion um die inhaltliche Bestimmung der Position der Gegner und ihre Bedeutung für die Interpretation von 2Kor 5,1– 10 ist davon unberührt. 28 Schottroff, Glaubende 146. 29 Von der Osten-Sacken, Römer 118.

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keit betonen will, ist nämlich, wie schon Bultmann klar erkannt hat, auch im hellenistischen Denken beheimatet, näherhin mit einem Leib-SeeleDualismus keineswegs unvereinbar und somit für die Profilierung der paulinischen Position nur bedingt geeignet. Bultmann und Schmithals müssen deshalb annehmen, dass Paulus die Auffassung seiner Gegner einseitig dargestellt oder aber missverstanden hat. So stellt Bultmann fest: Freilich hat die gnostische Hoffnung auf die gumnovth~ als das Befreitsein vom irdischen sw`ma zum Korrelat die Hoffnung auf ein Himmelsgewand [...] bzw. auf ein ajqavnaton sw`ma [...]. Aber wie Paulus 1.Kor 15 nur das Negative der gegnerischen Anschauung aufgenommen hat, so auch hier nur die Sehnsucht nach dem ejkduvsasqai und die Hoffnung auf die gumnovth~.30

Dagegen gehen Schottroff und von der Osten-Sacken davon aus, dass Paulus seine Kontrahenten sehr wohl verstanden und seine eigene Auffassung erst mit den Metaphern vom „Überkleidetwerden“ und „Verschlungenwerden“ geltend gemacht habe. Ist die Vorstellung vom himmlischen „Haus“ und „Gewand“ auch im Rahmen dualistischer Anthropologien belegt, so komme mit dem ejpenduvsasqai die spezifisch paulinische Position zur Geltung: Das eschatologische Handeln Gottes vollzieht sich nicht an einem unkörperlichen Pneumawesen, sondern am Menschen in seiner Leiblichkeit und Sterblichkeit: Der Mensch „im Kleid“ seiner leiblichen Verfasstheit wird mit dem Himmelsleib „überkleidet“ und sein sterbliches Wesen wird von der eschatologischen zwhv „verschlungen“, d.h. in sie aufgenommen. Es muss jedoch gefragt werden, ob der einen Metapher aufgebürdet werden kann, was die andere nicht leisten kann: Soll der angenommene fundamentale Gegensatz zwischen paulinischer und gegnerischer Anthropologie tatsächlich auf der Unterscheidung von bloßem „Bekleidetwerden“ der gnostischen Pneumaseele und dem „Überkleidetwerden“ des paulinischen „ganzen Menschen“ lasten? Dass dies an Deutlichkeit noch zu wünschen übrig lässt, geht daraus hervor, dass Paulus nach Schottroff und von der Osten-Sacken das Gemeinte mit einer dritten Metapher, der vom „Verschlungenwerden“ nochmals präzisieren muss. Aber gerade dieses Bild ist alles andere als eindeutig, da der hierbei vorausgesetzte Vergleichspunkt („Aufnehmen“ des Sterblichen in den Bereich der Erlösung) keineswegs der einzig mögliche und wohl nicht einmal der nächstliegende ist. Dass das Sterbliche „verschlungen“ wird, kann auch einfach seine totale Vernichtung meinen. Erschwerend kommt hinzu, dass, wenn Paulus in 5,1ff tatsächlich in der von Schottroff und von der Osten-Sacken angenommenen Richtung 30 Bultmann, Probleme 6; nach Lang, Forschung 147 eine „Verlegenheitsauskunft“. Schmithals hat die Missverständnis-Hypothese noch wesentlich ausdifferenziert, verkompliziert und mit äusserst fragilen Hypothesen zur religionsgeschichtlichen Herkunft der korinthischen Gnosis angereichert, vgl. dazu kritisch Lang, Forschung 147–150.

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argumentiert haben sollte, die Aussage eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ kai; ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion in V. 8 nun wieder alle Klarheiten beseitigt: Warum ist es auf einmal doch möglich, den Leib zu verlassen, um beim Herrn zuhause zu sein, ohne dass von eschatologischer Leiblichkeit und der anthropologischen Unmöglichkeit einer temporären Distanzierung des Selbst vom Leib die Rede wäre – gerade an dieser Stelle, an der Paulus unzweideutig vom sw`ma spricht? Wenn Paulus in 2Kor 5,1ff schon nicht ähnlich unmissverständlich formuliert wie in Phil 3,21, wo sich das eschatologische Handeln Gottes ausdrücklich am sw`ma th`~ tapeinwvsew~ hJmw`n vollzieht, warum folgt dann in V. 8 eine Aussage, die sich wiederum passgenau in die vorgeblich bekämpfte dualistische Anthropologie und Eschatologie einfügt?31 Die Auskunft, hier liege eine weitere Paraphrase der gegnerischen Auffassung vor,32 vermag nicht zu überzeugen, weil Textsignale fehlen, die auf eine Distanzierung des Paulus von der Aussage V. 8b auch nur entfernt hindeuten. Schließlich lässt sich das in V. 4a artikulierte „beschwerte Seufzen“ kaum sinnvoll in Beziehung zum angenommenen polemischen Skopos des unmittelbaren Kontextes setzen. Vollends rätselhaft bleibt das stenavzein als Ausdruck der Furcht vor einem eventuellen ejkduvsasqai, weil dieses ejkduvsasqai kein möglicherweise eintretendes Ereignis darstellt, vor dem man sich zu fürchten hätte, sondern vielmehr das anthropologisch schlechthin Unmögliche.33 Oder aber man deutet das stenavzein als Ausdruck des Leidens unter der Existenz ejn tw`æ skhvnei, dann ergibt sich bestenfalls ein in seiner Beweiskraft fragwürdiges Argument.34

31 Wenn Grässer, 2Kor 182 notiert, dass der gesamte Gedankengang bis V. 10 „dem einen Argumentationsziel dient, dass eine Auferstehung ohne Leib nicht gedacht werden kann“ (Kursivdruck im Original), dann ist festzustellen, dass dies für V. 8 keinesfalls zutrifft. Grässer kann seine Behauptung auch nicht im Rahmen der Einzelauslegung plausibilisieren. Dass das Bild vom Auswandern aus des Leib und dem Einwandern beim Herrn „[i]n der Sache [...] nichts anderes“ ausdrücke, als „die Hoffnung auf Verwandlung des ‚irdischen Leibes‘ in den ‚pneumatischen‘“, bleibt eine schiere Behauptung. Was sich sagen lässt, ist dies, dass V. 8 dieser Hoffnung nicht direkt widerstreitet, sofern die eschatologische Leiblichkeit hier nicht ausdrücklich bestritten wird. Doch setzt dies die Perspektive eines Rezipienten bonae voluntatis voraus! In der angenommenen polemischen Kommunikationssituation von 2Kor 5,1–10 wäre V. 8 zumindest eine ungeschützte Formulierung, wenn nicht ein argumentatives Eigentor. 32 Außer von der Osten-Sacken vertreten diese Deutung in neuerer und neuester Zeit Heckel, Mensch; Wünsch, Brief und Kuschnerus, Gemeinde (S.u. unter I.2.4). 33 So deutet von der Osten-Sacken, Römer 118 und kann dementsprechend mit V. 4 überhaupt nichts anfangen (S.u. S. 295 Anm. 242). 34 So Schottroff, Gaubende 149: Sie versteht das Leiden an der Leiblichkeit als Beweis, dass diese dem Selbst nicht äußerlich ist. Zur Kritik s.u. S. 294.

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2.3 Der polemisch-agonistische Auslegungstyp Von den vorgenannten Aporien nicht betroffen ist eine Variante des polemischen Auslegungstyps, die die Gewandmetaphorik in 5,2–4 nicht vom Problem des Leibes her versteht, sondern tauftheologisch vom „Christus Anziehen“ in Gal 3,27 herleitet, auf Gewinn oder Verlust des endgültigen Heils deutet und darin eine polemische Spitze an die Adresse der konkurrierenden Missionare in Korinth sieht. Es geht also nicht um eine Auseinandersetzung um Inhalte christlicher Verkündigung, sondern um personenbezogene Polemik im Wettstreit um die Vorrangstellung in Korinth. So meint Furnish (1973) im Anschluss an Hanhart (1969) und unter Rückgriff auf einzelne Beobachtungen bei Lang (1973), die ejndusavmenoi (V. 3) seien die Christen, die bei der Taufe „Christus angezogen“ haben, das ejpenduvsasqai (V. 2.4) meine den endgültigen eschatologischen Heilsgewinn und die Verneinung des gumnoi; euJreqhvsesqai (V. 3 ) und des ejkduvsasqai beziehe sich „implicitly polemical“ auf die Möglichkeit des endgültigen Heilsverlusts. Paulus spreche in V. 3 die Warnung aus, „that what has been affirmed about the coming salvation presupposes that those who have been once clothed with Christ will not be found alienated from him – ‚naked‘ – when they appear before their judge.“ Paulus habe Grund zu der Annahme, „that there are some in Corinth who will not be able to meet this condition. It is likely that Paul has in mind specifically those who are vying with him for apostolic authorithy there.“35 Diese Auslegung ist gegenüber den vorgenannten zweifach im Vorteil: Erstens entsteht kein Konflikt zwischen V. 1ff und V. 8, und zweitens wird der Text als Teil der Apologie verständlich, weil die Gegner nicht auf der Ebene einer falschen Lehrmeinung, sondern als Antagonisten im Konkurrenzkampf um die Führungsrolle in Korinth eine Rolle spielen. Das Problem dieser Auslegung ist jedoch, dass im Text nichts für die von Furnish angenommene „implizite“ Polemik spricht. „Implizit“ ist hier nichts weiter als eine vornehme Umschreibung der Tatsache, dass es für eine derartige polemische Mitteilungsabsicht der Gewandmetaphorik in V. 2–4 keinerlei Textsignale gibt. Streicht man aber den polemischen Aspekt aus Furnishs Auslegung, bleibt eine Reflexion über Heilsgewinn und Heilsverlust übrig, für die sich kaum ein Platz im argumentativen Kontext finden lässt. Warum sollte Paulus plötzlich darüber reflektieren, dass er sein endgültiges Heil nicht verspielen will, oder warum sollte er seine Adressaten davor warnen?36 35

Furnish, 2Kor. Zutreffend bereits Schottroff, Gaubende 153 gegen Oepke, gumnov~ 744, der die Nacktheit ebenfalls als Metapher für Verdammnis auffasst: „Diese Deutung [...] erklärt [...] nicht, wogegen sich Paulus eigentlich wendet.“ 36

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2.4 Der polemisch-existentiale Auslegungstyp Kennzeichnend für diesen Auslegungstyp ist die Verlagerung der Kontroverse von der Anthropologie auf die Ebene des Daseins- bzw. Existenzverständnisses. Aus dem Jahr 1969 stammen zwei Aufsätze von E. Fuchs37 und seinem Schüler C. Demke.38 Fuchs sieht in 2Kor 5,1–5 eine Auseinandersetzung des Paulus mit dem ekstatisch-individualistischen Daseinsverständnis seiner Gegner, dem er seine eigene Auffassung von der Existenz des Glaubenden im Leibe entgegensetzt. Die in V. 1 erwähnte himmlische oijkodomhv versteht er außerdem als ekklesiologische Metapher in Abgrenzung zum gegnerischen Individualismus: „Die neue Beziehung zu Gott ist nicht Privatsache, sondern hat sich die Gemeinde als Grund einer neuen Existenz in der Welt auserwählt.“39 Im geistgewirkten christlichen „Seufzen“ (V. 2.4) äußert sich die Hoffnung auf eine gemeinsame Heilszukunft. So „verwandelt sich der Geist für Paulus primär nicht in eine ekstatische Kraft, deren man sich untereinander konkurrierend rühmt, sondern in ein ernsthaftes Verlangen nach der gemeinsamen Zukunft (2Kor 5,2).“40 Während Fuchs’ Überlegungen sehr skizzenhaft und auf 2Kor 5,1–5 beschränkt bleiben, bezieht sein Schüler C. Demke in einer stärker dem exegetischen Detail verpflichteten Auslegung auch 5,6–10 mit ein. Für Demke „attackiert Paulus nicht die ‚dogmatische‘ Lehre in Korinth, sondern die in dieser Lehre explizierte Einstellung der Existenz auf Nichtung des somatischen Seins.“41 Auf V. 6–8 lässt sich diese Deutung freilich kaum anwenden, denn hier ist eine Distanzierung vom irdischen Leib (V. 8!) nicht zu übersehen. Der von den Vertretern des polemisch-existentialen Auslegungstyps durchweg gewählte Ausweg besteht darin, dass die betreffenden Aussagen als paulinische Paraphrase der angenommenen gegnerischen Anschauung interpretiert werden, die Paulus in kritischer Ironie glossiere. Eine Möglichkeit besteht etwa darin, eijdovte~ o{ti ejndhmou`nte~ ejn tw`æ swvmati ejkdhmou`men ajpo; tou` kurivou in V. 6 den Gegnern zuzurechnen, das vorgeschaltete qarrou`nte~ ou\n pavntote dagegen Paulus. Paulus konzedierte dann den Gegnern, dass die Existenz im Leib Entfremdung von Christus bedeutet, machte aber gegen ihre Leib-Verachtung geltend, dass er in seiner leiblichen Existenz gleichwohl „guten Mutes“ ist. Auch in V. 8 stünde dann das qarrei`n für die paulinische Position, während mit kai; eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ kai; ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion ein ironischer Rekurs auf das gegnerische Daseinsverständnis vorläge, das in V. 9f durch den Gerichtsgedanken 37

Fuchs, Glaube. Demke, Auslegung. 39 Fuchs, Glaube 27. 40 Fuchs, Glaube 27, Kursivdruck im Original. 41 Demke, Auslegung 597. 38

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als gegenstandslos entlarvt würde. Demke fragt, ob Paulus der in V. 4 abgewiesenen Konsequenz einer wesensmäßigen Distanzierung vom Leib in V. 8 nun doch zustimme und antwortet: „Ja und doch nein, denn zu jener Sehnsucht gehört Zuversicht und Mut. Durch das erste Verb bekommt der Vers einen ironischen Unterton. Denn es deutet an, was man in Korinth nicht bedenkt: der ferne Herr ist der Richter.“42 Nun ist aber eine derartige Verteilung einzelner Textbestandteile auf die paulinische und gegnerische Position durch den Text selbst in keiner Weise gedeckt. Nichts deutet darauf hin, dass sich Paulus durch die Behauptung eines existentiellen qarrei`n von einer etwaigen gegnerischen Position absetzen will, und ebenso fehlt jedwedes Textsignal, das eine ironisch-polemische Deutung von V. 8 rechtfertigte. Die Einzelexegese wird diesen Einwand in der Auseinandersetzung mit weiteren Vertretern des polemisch-existentialen Auslegungstyps – Lang (1973), Heckel (1993)43, Wünsch (1996)44 und Kuschnerus (2002)45 – noch weiter entfalten. Des ungeachtet ist positiv zu vermerken, dass der Paradigmenwechsel von der dogmatischen auf die existentiale Ebene der Mitteilungsabsicht des Textes bereits ein gewaltiges Stück näher kommen dürfte. Er stellt nämlich in Rechnung, dass der Gedankengang in 2Kor 5,1–10 nicht primär anthropologische Sachfragen, sondern viel eher ein bestimmtes Daseinsverständnis zu thematisieren scheint. Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von den unter I.2.4 genannten Auslegungen jedoch darin, dass sie versucht, die für Paulus hierbei leitenden Fragestellungen aus dem Kontext der hellenistischrömischen Kultur heraus zu rekonstruieren. 2.5 Bisherige Ansätze einer apologetischen Auslegung Der Einblick in die exegetischen Detailprobleme des Textes vermittelt einen Eindruck davon, dass die polemische Interpretation von 2Kor 5,1–10 nicht weniger problembehaftet ist als ältere Auslegungstraditionen, die abzulösen sie sich angeschickt hatte. Damit soll ihr nicht das Daseinsrecht abgesprochen werden, wohl aber legitimieren die offenen Fragen den Versuch eines Neuansatzes. Wir greifen hierbei zwei Aspekte auf, die man in der Forschung bisher zwar nirgends konsequent berücksichtigt hat, auf die aber immerhin wiederholt hingewiesen wurde, nämlich den eingangs schon einforderten Bezug zum apologetischen Kontext und das gegenüber 1Thess 4 und 1Kor 15 42

Demke, Auslegung 601. Heckel, Mensch. 44 Wünsch, Brief. 45 Kuschnerus, Gemeinde. 43

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auffällige subjektive Element der Gedankenführung. Wir beginnen mit Letzterem: Bachmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass „schon in 5,1– 4 immer die Rücksicht vorwaltet auf das, was innerhalb der Subjekts sich begibt (oi[damen, stenavzomen, ejpipoqou`nte~ usw.)“, und dass „in 5,6 ff die Darlegung vollends in den Nachweis subjektiver Zuständlichkeiten ausläuft.“46 Ebenso stellt Lang fest, dass V. 5.10 die einzigen „objektiv formulierten Verse“ sind, „die im Hauptverb von einem Handeln Gottes sprechen“, und dass Paulus „sonst [...] durchweg von seinem Wissen, Seufzen, Mut und Streben [redet], von seiner Einstellung also.“47 Hierin besteht, so Lang weiter, „ein bezeichnender Unterschied zu der objektiven Aufzählung der eschatologischen Ereignisse in 1Th 4,13–18 und 1Ko 15,20–28.50– 55.“48 Zwar leidet sein Ansatz an den Aporien des polemischen Auslegungstyps,49 doch bringt Lang, wenn er von der paulinischen „Einstellung“ spricht, ein wichtiges Stichwort in die Diskussion ein: In der Tat liest sich der Text als Explikation der subjektiven Einstellung des Paulus, sobald man sich an der durch die Hauptverben und die davon abhängigen Partizipien vorgegebenen Gedankenführung orientiert:50 oi[damen [...] o{ti [...] e[comen (V. 1), stenavzomen [...] ejpipoqou`nte~ (V. 2), stenavzomen barouvmenoi, (ouj) qevlomen (V. 4), qarrou`nte~ [...] kai; eijdovte~ (V. 6), peripatou`men (V. 7), qarrou`men [...] kai; eujdokou`men (V. 8), filotimouvmeqa (V. 9). Es entsteht der Eindruck, dass hier kognitive (oi[damen, eijdovte~), voluntative (qevlomen, eujdokou`men), affektive (stenavzomen) und intentionale (filotimouvmeqa) Aspekte systematisch zu einem Gesamtbild verknüpft werden, das über eine bestimmte Einstellung des Adressanten Auskunft geben soll. Stellt man in Rechnung, dass das in V. 1 angeschnittene Thema des individuellen Todes im Zentrum des Interesses antiker Popularphilosophie und –ethik steht und dass sich ein respektabler Charakter nach antikem Verständnis vorrangig am Todesproblem zu bewähren hatte, dann erübrigt sich die Hypothese über den textexternen Hintergrund einer gegnerischen Position, weil 2Kor 5,1–10 dann aus sich heraus als Teil der paulinischen Apologie gelesen werden kann. Wir kommen damit zum zweiten Aspekt. Die Forderung, 2Kor 5,1–10 als Teil der Apologie 2Kor 2,14–7,4 zu interpretieren, ist in der Forschung über das eingangs zitierte Votum von Klauck hinaus51 schon mehrfach ge46

Bachmann, 2Kor 215. Lang, Forschung 194. 48 Lang, Forschung 194. Vgl. auch Dautzenberg, Glaube 193: „2Kor 4,13–5,10 ist als Teil einer brieflichen confessio seiner literarischen Art nach trotz vieler inhaltlicher Berührungen verschieden von den theologischen Lehrtexten 1Kor 15,20–58 und Röm 8,21–27.“ 49 S.u. S. 348.352 zu 2Kor 5,9. 50 Zur Deutung der 1. Pers. Plural auf Paulus s.u. S. 32ff. 51 S.o. S. 10. Vgl. auch Belleville, Letter 163, die 2Kor 1,8–7,16 als „Letter of Apostolic SelfRecommendation“ bestimmt und 1,8–5,21 als „setting the stage for a favouralbe response through 47

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äußert worden, so etwa von M. Thrall in einem Aufsatz zur Textkritik von 2Kor 5,3. Sie fragt nach einer Auslegung, „which would link 2 Cor 5: 1–10 more closely to Paul’s apostolic apologia.“52 Überlegungen dazu finden sich unter den älteren Kommentatoren bei C.F.G. Heinrici. 2Kor 5,1–5 habe „einen apologetischen Anlaß“, der von 4,3 her zu bestimmen sei: Paulus wolle durch einen Nachtrag zu den Eschatologiekapiteln 1Thess 4 und 1Kor 15, in welchem er sich zum postmortalen Geschick der Gläubigen äußert, „dem Vorwurf, daß sein Evangelium etwas verhülle (4,3), den Boden [entziehen].“53 Verwandt sind die Überlegungen von H.-M. Wünsch (1996): Wünsch notiert die auffällige Häufung von Aussagen über das paulinische „Wissen“ (4,14; 5,1.6.11). Paulus sehe sich „genötigt, sein eschatologisches Wissen ausführlich zur Sprache zu bringen und auch als solches zu kennzeichnen“,54 und zwar vermutlich deswegen, weil „die Konkurrenten mit ihrem Wissen prahlten bzw. Paulus dieses absprachen.“55 Heinrici ist entgegenzuhalten, dass sich die Rede vom „Verhülltsein“ des paulinischen Evangeliums in 4,3 sich kaum darauf bezieht, dass die Inhalte seiner Verkündigung Fragen offen lassen, sondern auf den Vorwurf, dass es seiner Missionsverkündigung an Wirkung und Erfolgen mangele.56 Gegen Wünsch ist einzuwenden, dass sich seine (nicht minder spekulative) Hypothese nur auf die kognitiven Aspekte des Textes bezieht, nicht aber auf die viel auffälligeren affektiven und emotionalen. Am konsequentesten hat bisher Schröter (1993) eine apologetische Deutung des Textes versucht.57 Er versteht den ganzen Abschnitt vom Gerichtsmotiv in V. 10 her und ordnet diesem die Gewandmetaphorik in V. 2– 4, das Motiv der „Nacktheit“ in V. 3 („im Gericht nicht nackt dastehen“) und die Rede vom qarrei`n in V. 6.8 („Zuversicht im Gericht“) unter. Paulus wolle mit einer speziell auf den apologetischen Kontext hin entworfenen Eschatologie seine „‚Wanderschaft‘ vor den Richterstuhl Christi“ darstellen und damit sein ihn als Apostel auszeichnendes „Bewusstsein des künftigen

a cataloguing of credentials“ auffasst. Die Frage lautet: Welchen Beitrag leistet 2Kor 5,1–10 zu diesen „credentials“? 52 Thrall, Putting 234. Ihr Vorschlag kann indes nicht überzeugen: Sie versteht 5,1–5 auf dem Hintergrund von Philos Darstellung von Moses’ Tod in Virt. 76f als Fortsetzung des Vergleichs zwischen Paulus und Mose in 2Kor 3. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass die Mosefigur in 2Kor 5 noch eine Rolle spielt. 53 Heinrici, 2Kor 170. 54 Wünsch, Brief 266. 55 Wünsch, Brief 266 Anm. 140. 56 So zutreffend Wolff, 2Kor 85: Paulus richtet sich in 4,3 gegen den „Vorwurf [...], dass in der Evangeliumsverkündigung des Paulus die Herrlichkeit Christi [...] durch seine eigene Schwachheit ‚verdeckt‘ wird, sein ganzes Auftreten [...] überzeugt nicht recht von der Wahrheit seiner Botschaft.“ 57 Schröter, Versöhner.

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Gerichtetwerdens“58 betonen. So sehr diese Interpretation auf V. 10 zutrifft, so wenig erklärt sie doch den Text insgesamt. Die forensische Interpretation des gumnov~-Motivs und des qarrei`n gerät als Möglichkeit erst in den Blick, wenn man den Text von V. 10 her rückwärts liest, und für die Gewandmetaphorik bleibt sie im Rahmen von Schröters Ansatz überhaupt undurchführbar, weil der Erhalt des Himmelshauses/-gewandes (V. 1) von V. 10 her nachträglich und textwidrig durch das Urteil über die Taten dia; tou` swvmato~ konditioniert wird.59 Richtungsweisend ist gleichwohl, dass Schröter den Text als Explikation eines individuellen, subjektiven „Bewusstsein[s]“ liest, was sich mit Langs Schlagwort von der paulinischen „Einstellung“ berührt.60 Hier wird der subjektive Aspekt des Textes angemessen berücksichtigt, wenn auch inhaltlich einseitig gefüllt. Auf eine andere Möglichkeit, 2Kor 5,1ff als Teil der paulinischen Apologie zu verstehen, hat Lindemann aufmerksam gemacht. Er sieht in der eigentümlichen Eschatologie von 2Kor 5,1ff „eine Folge der veränderten Kommunikationssituation im Dialog zwischen Paulus und den Korinthern.“61 Diese ist durch „das Auftreten antipaulinischer christlicher Missionare in Korinth“ verursacht.62 Paulus müsse nun nicht mehr wie noch in 1Kor 15 für leibliche Auferstehung argumentieren, sondern vielmehr „angesichts der beeindruckenden Selbstdarstellung der fremden Missionare [...] den korinthischen Christen [...] zeigen, dass gerade der gegenwärtig sichtbaren ‚niedrigen‘ apostolischen Existenz eine jenseitig zukünftige Herrlichkeit entsprechen wird.“63 Hiermit dürfte in der Tat der Bezug von 5,1ff auf den voranstehenden Kontext zutreffend beschrieben sein: Die oijkodomh; ejk qeou` (V. 1) ist dasjenige, was Paulus anstelle der verfallenden und schließlich vernichteten ejpivgeio~ oijkiva tou` skhvnou~ erhalten wird. Paulus macht seine künftige Herrlichkeit also als eschatologisches Kontrastbild zu seiner gegenwärtigen Niedrigkeit geltend. Hierin sieht auch Grässer den Kontextbezug von 5,1–10: „In einem Doppelschritt wird in 4,7–5,10 die Dialektik von göttlicher Kraft und apostolischer Schwachheit behandelt. Zunächst geht es um den Schatz in irdenem Gefäß (4,7–15), dann um irdische Niedrigkeit und himmlische Oikodome (4,16–5,10).“64 58

Schröter, Versöhner 225. S.u. S. 251 Anm. 100. 60 S.o. S. 24. 61 Lindemann, Eschatologie 393. 62 Lindemann, Eschatologie 391. 63 Lindemann, Eschatologie 393. Vgl. auch Perriman, Paul 519 zu 2Kor 5,1–5: „These verses are neither dogmatic nor polemical but intensly personal, emerging from the deeply felt contradiction between the experience of bodily affliction and the future hope. Paul does not speak for all Christians, but, as he has done throughout this passage, for himself.“ 64 Grässer, 2Kor 104f. In der Einzelauslegung von 5,1–10 folgt Grässer dann freilich der polemischen Interpretation Bultmanns. Dies gilt analog auch für Wolff, der 4,16–5,10 zwar insgesamt 59

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Allerdings ist mit dem Erhalt der oijkodomh; ejk qeou` nur die objektive Seite des Textes abgedeckt. Unklar bleibt, warum Paulus sich wesentlich ausführlicher über sein subjektives Verhalten zu den eschatologischen Inhalten äußert als über diese Inhalte selbst. Außerdem ist der Kontrast von gegenwärtiger Niedrigkeit und zukünftiger Herrlichkeit eingebettet in das Todesthema. Paulus thematisiert sein eschatologisches Geschick, indem er auf sein mögliches Todesgeschick, das kataluqh`nai des irdischen Leibes, zu sprechen kommt (V. 1). Das Thema der „Niedrigkeit“ wird also in 5,1 eingegrenzt auf das der „Sterblichkeit“. Die Todesgestalt des sw`ma (4,10) und das Vernichtetwerden des e[xw a[nqrwpo~ (4,16) wird zugespitzt auf den physischen Tod. Wie Paulus sich hierzu verhält, bestimmt die Gedankenführung von V. 1 an bis V. 10. Der Aspekt der „Einstellung“ (Lang) bzw. des „Bewusstseins“ (Schröter) lässt sich daher präziser fassen: Es geht um die paulinische Einstellung zu Sterben und Tod, um sein Todesgeschick und sein an diesem Todesgeschick haftendes Todesverständnis. Diesem Interpretationsansatz kommt Furnish sehr nahe, wenn er dem Abschnitt 4,16– 5,10 die Überschrift „The Ministry and Mortality“ gibt65 und dazu ausführt: „4:16–5:5 continues the discussion of apostolic service begun in 2:14 and the interpretation of the mortality of apostles (4:7–5:10) in peculiar.“66 Furnish schlägt damit einen Weg ein, den vor ihm bereits Schlatter (1934) gegangen ist.67 Schlatter gibt dem Abschnitt 5,1–10 die Überschrift „Die Bewährung des Paulus in der Nähe des Todes“68 und versteht den Text so, dass Paulus „den Korinthern gezeigt hat, wie er sich zu seinem Sterben stellte.“69 Schlatter kommt unserer Interpretation damit schon recht nahe, doch erschöpft sich seine Auslegung mehr oder weniger in einer ausführlichen Paraphrase des Textes. Auch kommt er in der Einzelauslegung meist zu anderen Ergebnissen als die vorliegende Arbeit, die methodologisch auf einer umfassenden Rekonstruktion antiker Wahrnehmungen des Todesproblems fußt und erst auf diesem Hintergrund auch zu einem Verständnis des paulinischen Textes gelangt.70 als „Apologie des Paulus gegenüber seinen Kritikern“ liest, „die für einen Gottesboten keine Niedrigkeit, sondern nur äußerlich wahrnehmbare, außergewöhnliche Qualitäten gelten ließen“ (2Kor 98), der für 5,3f dann aber doch im Gefolge Bultmanns von einer „Polemik gegen ein von Leiblichkeit absehendes Auferstehungsverständnis“ (2Kor 106) ausgeht. 65 Furnish, 2Kor 252. 66 Furnish, 2Kor 301. 67 Schlatter, Bote. 68 Schlatter, Bote 540. 69 Schlatter, Bote 541. 70 Anhangsweise sei auf die Arbeit von Baumert (Sterben) verwiesen, die forschungsgeschichtlich eine Sonderstellung einnimmt. Baumert will zeigen, dass es in 2Kor 4,12–5,10 wie bei Paulus überhaupt an keiner Stelle eine rein futurische Eschatologie gibt, mithin 5,1–10 innerweltlichpräsentisch zu verstehen sei (kritisch dazu u.a. Zeilinger, 2Kor 213). Baumerts Arbeit wird uns v.a. wegen ihrer konkurrenzlos gründlichen philologischen Analysen beschäftigen. Baumerts Schülerin

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3. Die soziale Konstruktion von „Tod“ und „Leib“ Der polemisch-dogmatische Auslegungstyp stellte eine Reaktion auf die Aporien dar, in welche die traditionelle Exegese von 2Kor 5,1–10 geraten war, weil sie, so zutreffend Schmithals, den Text „unvermittelt als Quelle der paulinischen Anthropologie und Eschatologie“ gelesen hat.71 Nun kann zwar der polemischen Interpretation eine solch „unvermittelte“ Lektüre nicht vorgehalten werden, doch gilt auch hier, dass Paulus sich, wenn auch im Streit mit anderslautenden Auffassungen, in einer Sachdiskussion über anthropologische und eschatologische Grundsatzfragen befindet. Die Analyse dieses Diskussion war bisher der Religionsgeschichte vorbehalten, und folgerichtig geriet 2Kor 5,1–10 seither auch vorrangig als religionsgeschichtliches Phänomen in den Blick: als Widerspruch des jüdisch denkenden und empfindenden Paulus gegen eine dualistische Anthropologie hellenistischer Prägung. So betrachtet musste der Text im apologetischen Kontext von 2Kor 2,14–7,4 notwendigerweise ein Fremdkörper bleiben. Im Unterschied dazu betrachtet die vorliegende Studie ihren Gegenstand aus einem kultur- und sozialanthropologischen Blickwinkel. Ihr liegt an einer Darstellung des Todesproblems als einer spezifisch antiken Fragestellung im kulturellen Kontext der hellenistisch-römischen Epoche. Die bisher primär aus religionsgeschichtlichem Interesse herangezogenen antiken Referenztexte aus dem Bereich der Popular- und Religionsphilosophie werden hierbei um weiteres Textmaterial aus Rhetorik, Biographie und Historiographie erweitert. Die damit erheblich vergrößerte Quellenbasis erschließt als Proprium antiker Wahrnehmungen des Todesproblems den fundamentalen Konnex von Anthropologie und Charakterkunde. Sterben und Tod waren in der hellenistisch-römischen Antike zu keiner Zeit ein „akademisches“ Thema. Das Todesproblem spielt vielmehr in unterschiedlichsten literarischen Kontexten eine Rolle als Basiskategorie antiker Konstruktionen des idealen Charakters. Mit der Bewältigung des Todesproblems ist antiker Philosophie und Ethik eine ihrer wichtigsten Aufgaben gestellt, hieran muss sich nach antikem Verständnis auch der individuelle Charakter messen lassen. Die Ethisierung des Todesproblems, wie sie die im II. Teil M. Gruber (Herrlichkeit) hat sich seiner Sicht angeschlossen und 2Kor 5,1–10 nur sehr kurz abgehandelt. DeOlivera (Diakonie) spart unseren Text sogar ganz aus. Einen blinden Fleck weist auch der Überblicksartikel von Bormann (Reflexionen) auf, der 2Kor 5,1–10 keiner Silbe würdigt – ein Reflex der Schwierigkeit des Textes? Ein Sonderfall ist schließlich die Arbeit von J.-B. Matand Bulembat, Noyau. Der Verfasser fragt erstens traditionsgeschichtlich nach dem Profil der paulinischen Eschatologie im Vergleich mit der frühjüdischen Apokalyptik und unterzieht die im Titel genannten Texte zweitens einer formal-rhetorischen Analyse im Stil von H.-D. Betz’ Galaterbriefkommentar. Für unseren Text bringt die Studie indes keine neuen Einsichten. 71 S.o. S. 14.

Die soziale Konstruktion von „Tod“ und „Leib“

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dieser Studie gesammelten Texte durchweg dokumentieren, führte zur Entwicklung und Ausdifferenzierung nicht nur von Handlungsorientierungen, sondern auch von charakterkundlichen Beurteilungskriterien. Mithin kann von einer sozialen Konstruktion des Todesproblems in der hellenistischrömischen Antike gesprochen werden. Während moderne Industriegesellschaften von zunehmender Individualisierung des Todes und seiner weitgehenden Verdrängung aus der sozialen Lebenswelt geprägt sind,72 entsteht in diametralem Gegensatz dazu für die Antike das Bild einer regelrechten sozialen Kontrolle von Sterben und Tod. Schon in vorhellenistischer Zeit – angestoßen durch das Vorbild des sterbenden Sokrates – bilden sich konventionalisierte Vorstellungen darüber aus, wie ideales Sterben vonstatten zu gehen hatte und wie ein Todesverständnis beschaffen sein musste, das ein solch ideales Sterben ermöglichte. Wenn die vorliegende Arbeit mit dem sehr weit gefassten Begriff des „kulturellen Kontexts der hellenistisch-römischen Zeit“ operiert, kann sie gegen den möglichen Verdacht unsachgemäßer Verallgemeinerungen auf die hohe Vergleichbarkeit der antiken Diskurse zum Todesproblem verweisen. Dies bezieht sich nicht nur auf das Spektrum der vorderorientalischen, griechischen und römischen Kulturkreise, sondern auch auf das Gegenüber von Judentum und Hellenismus und ebenso auf das von christlicher und paganer Antike. Sowohl das hellenistische Judentum wie auch das frühe Christentum partizipieren an Deutungsmustern, die auch für hellenistischrömische Rhetorik, Biographie, Geschichtsschreibung und Philosophie maßgeblich waren. So kann etwa der Verfasser des Hebräerbriefes seine Adressaten dazu auffordern, sich am Beispiel ihrer verstorbenen Leiter (hJgouvmenoi) zu orientieren, indem sie darauf achten, wie diese ihre pivsti~ im Sterben bewährt haben (13,7): mnhmoneuvete tw`n hJgoumevnwn uJmw`n,

oi{tine~ ejlavlhsan uJmi`n to;n lovgon tou` qeou`, w|n ajnaqewrou`nte~ th;n e[kbasin th`~ ajnastrofh`~ mimei`sqe th;n pivstin. Die geistige Autorität der hJgouvmenoi erschließt sich nach diesem Text nicht zuletzt durch das „genaue Betrachten“ (ajnaqewrei`n) ihres Lebensendes (e[kbasi~ th`~ ajnastrofh`~).73 Auch und gerade hier hat sich ihre pivsti~ bewährt und als solcherart be-

72 Dieses Phänomen hat N. Elias (Einsamkeit) einer eindrucksvollen Analyse unterzogen. Für den Bereich der jüdischen und christlichen Martyrologie beschreiben van Henten/Avemarie (Martyrdom) treffend die kulturelle Differenz zwischen antikem und modernem Todesverständnis: „Today’s society is uncomfortable with death, and willingly submitting to a violent and ostentatious death in public is seen as particularly shocking and unusual. Yet classical sources give a different view, with public self-sacrifice often being applauded – the Romans admired a heroic end in the batlefield or the arena, suicide in the tradition of Socrates was something laudable, and Christians and Jews alike faithfully commemorated their heroes who died during religious persecutions“ (Klappentext). 73 Zutreffend Grässer, Hebräer 370: „e[kbasi~ Ausgang, Ende wird hier wohl das Lebensende meinen“ (Kursivdruck im Original).

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währte sollen die Adressaten diese pivsti~ nachahmen. Das entspricht unmittelbar dem eminenten Interesse griechischer und römischer Biographen und Geschichtsschreiber an biographischen Sterbeszenen: In der Situation des Sterbens verdichtet sich der individuelle Lebenslauf zu einer Ereignisfolge, die über die charakterliche Disposition eines Menschen insgesamt Aufschluss gibt. K. Berger sieht m.R. einen Zusammenhang zwischen Hebr 13,7 und der antiken Literatur über die exitus illustrium virorum, die in der Absicht moralisch-lebenspraktischer Belehrung Berichte über den Tod großer Gestalten als moralische Vorbilder sammelt.74 Dann aber ist es nur folgerichtig, wenn umgekehrt das Todesproblem zur Grundsatzfrage einer verantworteten Daseinshaltung, d.h. aber zum Thema populärer Philosophie und Ethik wird. Von hier aus erschließt sich der paulinische Gedankengang in 2Kor 5,1–10: Paulus nimmt sein existentielles Preisgegebensein an den Tod (4,9.16) zum Anlass, sein Todesverständnis darzustellen, und zwar so, dass er damit seinen Adressaten den Respekt abverlangt, den sie ihm zwischenzeitlich schuldig geblieben sind. Die sozialanthropologische Betrachtungsweise wird in dieser Studie indes nicht nur auf das Todesproblem angewendet, sondern auch auf antike Konstruktionen des Leibes. Der polemische Auslegungstyp hat von Anfang an die zentrale Bedeutung des Leibbegriffs für das Verständnis von 2Kor 5,1–10 erkannt, diesen jedoch abstrakt anthropologisch gefasst, so als ginge es in diesem Text um den Widerstreit konträrer anthropologischer Theorien. Dabei weist schon der unmittelbare Kontext des Abschnitts in eine andere Richtung, geht es Paulus doch seit 4,7 konkret um die seinen Adressaten anstößige Niedrigkeitsgestalt seines irdischen Leibes. L. Schottroff hat darauf hingewiesen, dass Paulus den Dualismus seiner (vermeintlichen) Gegner in gewisser Hinsicht durchaus teilt, nämlich im Blick auf die Bewertung des Daseins im irdischen Leib.75 Hierbei ist jedoch, wie gegen Schottroff zu betonen ist, nicht abstrakt eine bestimmte Einschätzung „des Menschen“ im Blick, sondern, wie schon in 4,7ff die konkrete Situation des Paulus. Was bei Paulus „dualistisch“ klingt und, wenn man will, auch so gemeint ist, ist die Einschätzung seines irdischen sw`ma. Von einer abstrakten „Leiblichkeit“ verlautet hier gar nichts, und für den (in 5,1ff offenbar bewusst nur bildhaft umschriebenen und auch sonst in 2Kor 4–5 nirgends so bezeichneten) himmlischen „Leib“ im Sinne einer anthropologischen Notwendigkeit hat der Text keinerlei Beweiskraft. Die eigentümlich „dualistische“ Färbung 74

Berger, Gattungen 1257–1259. Vgl. auch unten unter II.4.2.1. Schottroff, Gaubende 147f: Paulus teilt „die dualistische Anschauung, dass die irdische Existenz die in einem irdischen (ejpivgeio~ im negativ dualistischen Sinne [...]) Haus, Zelt [...] ist und dass der so an die irdische Existenz gebundene Mensch sich stöhnend nach dem himmlischen Gebäude, nach der himmlischen Bekleidung sehnt, die er nach der Auflösung des irdischen Hauses empfängt.“ 75

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der paulinischen Einschätzung seines irdischen sw`ma in 2Kor 5 erschließt sich vielmehr erst, wenn man sw`ma als soziale Beschreibungskategorie auffasst. Schon E. Käsemann hat auf die sozial-kommunikative Konnotation des paulinischen sw`ma–Begriffs hingewiesen: Gemeint sei „der Mensch als nicht isolierbare Existenz, nämlich in der Notwendigkeit und Wirklichkeit der Kommunikation in freundlichem und feindlichem Sinne.“76 Ähnlich formuliert K. Berger: Für Paulus ist der Mensch sw`ma „als Kontaktwesen in Beziehung zu Mitmenschen, Gott und Sünde“, und insofern gilt: „Leiblichkeit bedeutet Abhängigkeitserfahrung.“77 Der Mensch ist sw`ma, sofern er von „Beziehungen, Verflechtungen, Strebungen und Orientierungen“ bestimmt ist.78 Entscheidend ist nun aber, dass der kommunikative Aspekt des paulinischen sw`ma-Begriffs nicht verabsolutiert und dieser zur Chiffre für Kommunikation, in-Beziehung-Stehen etc. verflüchtigt wird. Der antike Mensch erfährt seine Abhängigkeit von den Beziehungen, in denen er sich bewegt, im Guten wie im Schlechten stets auch durch seinen vorfindlichen, physischen Leib. Feindliche Übermacht wird erlebt als Verfügungsgewalt des Stärkeren über den Leib des Besiegten, die leibliche Erscheinung eines Menschen unterliegt dem Urteil seiner Umwelt, und Krankheit, körperlicher Verfall und Tod limitieren die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen, bedrohen schließlich sein Dasein. Es hat den Anschein, dass hinter dualistischen Denkmustern, die den menschlichen Leib zu Gunsten eines unkörperlichen menschlichen Wesenskerns abwerten, teilweise antike Immunisierungsstrategien stehen, die leiblich erfahrene Abhängigkeit in ihrer Bedeutung für den Einzelnen begrenzen sollen. Im Q-Logion Mt 10,28 mh;

fobei`sqe ajpo; tw`n ajpoktennovntwn to; sw`ma, th;n de; yuch;n mh; dunamevnwn ajpoktei`nai, par. Lk 12,4 mh; fobhqh`te ajpo; tw`n ajpokteinovntwn to; sw`ma kai; meta; tau`ta mh; ejcovntwn perissovterovn ti poih`sai wird

der Leib in der Tradition der Martyriumsparänese79 abgewertet als etwas, das zwar dem Zugriff der Verfolger ausgesetzt ist, aber doch nicht zum den Tod überdauernden Wesenskern des Menschen gehört. Gegen das totale Preisgegebensein des Leibes wird die Unantastbarkeit der eigentlichen Person behauptet. Vergleichbare Deutungsmuster können dort zur Anwendung kommen, wo der Leib als Bewertungsmaßstab der Person aufgerufen wird. Antike Rhetorik-Lehrbücher verzeichnen unter den Topoi des Enkomions (die ins Negative gewendet auch für den Tadel gelten) gleichermaßen ajgaqa; peri; 76

Käsemann, Problem 198. Berger, Psychologie 84. 78 Berger, Psychologie 85. 79 Weitere Stellen bei Luz, Matthäus 126 Anm. 27. 77

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yuchvn und ajgaqa; peri; sw`ma.80 Ob hierbei „dualistisch“ argumentiert wird oder nicht, entscheidet sich nicht an anthropologischen Prämissen, sondern am jeweiligen rhetorischen Zweck. Entspricht ein zu Lobender in seiner körperlichen Erscheinung antiken Kriterien, kann anhand der Konventionen antiker Physiognomik81 ganz „undualistisch“ direkt auf die Qualität eines Charakters geschlossen werden. Fehlen entscheidende körperliche Vorzüge, kann der Rhetor einfach einen wesensmäßigen Gegensatz von Leib und Seele behaupten. Ein Beispiel hierfür aus dem Bereich der Historiographie ist das Urteil Suetons über den von ihm hoch geschätzten Kaiser Otho. Nachdem er seinen Freitod als Ausdruck charakterlicher Noblesse gewürdigt hat, notiert er: Tanto Othonis animo nequaquam corporis aut habitus competit, „Dieser Seelengröße Othos entsprachen weder sein Körper noch sein sonstiges Äußeres“ (Otho 12). Genauso gut kann aber auch das Fehlen körperlicher Vorzüge unmittelbar als Argument für den Tadel geltend gemacht werden. Paulus sah sich von Seiten seiner Konkurrenten bekanntlich solchem Tadel ausgesetzt. Einschlägig ist hier insbesondere die Formulierung 2Kor 10,10 hJ parousiva tou` swvmato~ ajsqenhv~, mit der Paulus eine persönliche Herabsetzung von Seiten seiner Gegner aufgreift. Die Aussage 2Kor 4,18 mh; skopouvntwn hJmw`n ta; blepovmena ajlla; ta; mh; blepovmena ta; ga;r blepovmena provskaira, ta; de; mh; blepovmena aijwvnia ist als grundsätzlicher Wiederspruch gegen eine Beurteilung seiner Person nach den „sichtbaren“ Maßstäben dessen zu verstehen, was in der antiken Rhetorik unter die Rubrik der ajgaqa; peri; sw`ma fällt. Paulus beruft sich statt dessen auf das „Unsichtbare“ und „Ewige“ als eigentlich gültigen Maßstab, nach dem er beurteilt werden will. Auf dieser Linie liegen auch die Aussagen zum irdischen und himmlischen Leib in 2Kor 5,1–10.

Exkurs: Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10 Die Hypothese, dass 2Kor 5,1–10 ein wesentlicher Bestandteil der Apologie des paulinischen Apostolats ist, setzt voraus, dass die zahlreichen WirAussagen dieses Textes als Aussagen des Paulus über sich selbst gelesen werden können, dass Paulus also mit oi[damen in 5,1 nicht, wie vielfach angenommen,82 von der Verteidigung seines apostolischen Amtes zur Darle80

S.u. S. 50 mit Anm. 18. Zur zentralen Bedeutung der Physiognomik für die antike Charakterkunde vgl. ausführlich das 4. Kapitel „Physiognomics and Personality: Looking at Paul in the Acts of Paul“ in Malina/Neyrey, Portraits 100–152. 82 Windisch, 2Kor 158: „Mit oi[damen V. 1 wird der folgende Gedanke als ein Stück der ‚Lehre‘ bezeichnet; gewiß gibt Paulus damit auch seiner persönlichen Überzeugung Ausdruck [...], aber das einfache ‚wir wissen‘ [...] erweckt den Eindruck, dass P[aulus] hier keine ihm speziell zuteil 81

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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gung gemeinchristlicher Sachverhalte übergeht. Ob ein solcher Übergang in 5,1 vorliegt, entscheidet sich nicht zuletzt am Verständnis der von Paulus in 2Kor 5,1–10 konsequent verwendeten 1. Person Plural: Indizieren die pluralischen Verbformen und Partizipien ein gemeinchristliches „Wir“? Oder bezieht sich Paulus jedenfalls auf Sachverhalte, die gleichermaßen ihn und die Adressaten des Briefes betreffen? Oder meint er sich selbst und seine Mitarbeiter83 oder allgemein alle Apostel? Oder liegt ein sogenannter „schriftstellerischer Plural“ vor, mit dem Paulus seine eigene Person bezeichnet?84 Wir brauchen an dieser Stelle das Problem des paulinischen Gebrauchs der 1. Pers. Pl. nicht erschöpfend zu behandeln, noch nicht einmal für den ganzen 2. Korintherbrief.85 In der Literatur wird nämlich zu Recht stets auf

gewordene Offenbarung [...] geben will, sondern einer allgemeinen, auch von den Kor[inthern] geteilten christlichen Lehrüberzeugung Ausdruck verleiht.“ Bultmann, 2Kor 132: „oi[damen führt [...] einen allgemein anerkannten Satz des christlichen Glaubens ein.“ 83 Diese Position hat zuletzt Müller, Plural 183 vertreten, indes mit einem erklärten theologischen Erkenntnisinteresse, nämlich der „Revision einer bestimmten Paulus-zentrierten Sicht seines Apostolats“. Müller will zeigen, dass für Paulus „[d]a, wo sein Apostolat angegriffen wird, [...] der gemeinsame Dienst der Versöhnung der sunergoi; qeou` (2Kor 5,18) in Gefahr [steht]“ (Kursive im Original). Die Fragestellung ist interessant und von hohem theologischen Interesse, doch lässt sich Müllers These auf unseren Text m.E. nicht anwenden (dazu gleich). 84 So klassisch Dick (Plural) und speziell für 2Kor 2–7 v.a. Strachan, 2Kor, der die 1. Pers. Pl. in Kap 2–7 konsequent singularisch übersetzt. Die Bezeichnung „schriftstellerischer Plural“ ist freilich eine Engführung, weil die Verwendung der 1. Pers. Pl. in singularischer Bedeutung bei weitem nicht nur das Ich des Schriftstellers in seinem Werk bezeichnet, sondern in unterschiedlichsten literarischen Zusammenhängen und offenbar auch in der antiken Alltagssprache verwendet wurde. Folgenden klassischen Beleg verdanke ich einem Hinweis von Herrn Prof. Dr. Folker Siegert: Bei Euripides, Alk. 383–385 sagt Alkestis zu Admetos: crovno~ malavxei sÆ: oujdevn ejsqÆ oJ katqanwvn, „Die Zeit wird dich trösten: nichts ist der Tote.“ Admetos antwortet: a[gou me su;n soiv, pro;~ qew`n, a[gou kavtw, „Nimm mich mit, bei den Göttern, nimm mich mit in die Unterwelt.“ Hierauf entgegnet Alkestis in der 1. Pers. Pl. und zweifelsfrei nur sich selbst meinend: ajrkou`men hJmei`~ oiJ proqnhviskonte~ sevqen, „Es ist genug, wenn ich für dich sterbe“ (eigene Übs.). Die Stelle ist deshalb von Bedeutung, weil sie nicht nur die verbale und partizipiale Verwendung des Plural in singularischer Bedeutung belegt, sondern auch einen pluralischen Artikel in singularischer Bedeutung. Dies ist wichtig für das oiJ o[nte~ in 2Kor 5,4 und gegen folgendes Votum Hahns bei DeLorenzi, Diakonie 128 in Anschlag zu bringen: „M.E. kann zwar ein Verb in der 1. Pers. Pl. gebraucht werden und dennoch ausschließlich auf den Redenden bezogen sein, aber die Wendung oiJ o[nte~ kann wohl nur eine Mehrzahl von Personen meinen.“ Die Euripides-Stelle falsifiziert Hahns Vermutung. Für die Umgangssprache der Koine ist (Ps-[?])Plutarch, VitHom. 2,56 einschlägig (zitiert nach Dick, Plural 19): [Esti de; ijdei`n o{pw~ kai; tou;~ ajriqmou;~ ejnallavsswn to;n plhquntiko;n ajnti;

tou` eJnikou` tivqhsin, wJ~ pollavki~ ejn th`æ sunhqeivaæ, ei[ ti~ peri; auJtou` levgwn wJ~ ejpi; pollou;~ ajnafevrei to;n lovgon, wJ~ ejn touvtwó: tw`n ajmovqen ge, qeav, quvgater Diov~, eijpe; kai; hJmi`n ajnti; tou` ejmoiv.

85 Vgl. dazu außer den bereits genannten Arbeiten von Dick (Plural) und Müller (Plural) auch Cranfield, Changes; von Dobschütz, Wir; Ollrog, Mitarbeiter 183–198; Carrez, Nous; Wolff, 2Kor 10f; Thrall, 2Kor 105–107; Bosenius, Abwesenheit 133–138; Byrskog, Co-Senders.

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die Unverzichtbarkeit von „Einzelfallprüfungen“ verwiesen. Thrall resümiert in ihrem Exkurs zum Thema zutreffend: „It is clear that, on the one hand, Paul does use the convention of the literary plural, whilst, on the other hand, some of his first plurals are real plurals, or maybe at least be implicitly inclusive. Each has to be judged on its individual merits, in relation to the context in which it occurs.“86

Muss ohnehin jeder einzelne Beleg für sich untersucht werden, empfiehlt sich in unserem Fall eine Beschränkung auf 2Kor 5,1–10 und den vorangehenden Kontext. Die von Thrall formulierte Einschränkung „or maybe at least be implicitly inclusive“ macht freilich die Problematik der Fragestellung überhaupt kenntlich, denn woran entscheidet sich, welche Aussagen „implizit inklusiv“ zu verstehen sind? Von hier aus ließe sich leicht eine Maximallösung vertreten, sofern sich jede im Plural formulierte Aussage sinnvoll auf eine reale oder gedachte Mehrheit von Subjekten deuten lässt. Nicht von ungefähr sind ja paulinische Aussagen wie die vom „Erneuertwerden des inneren Menschen“ u.ä. zum Gemeingut christlichen Selbstverständnisses geworden. Die Überformung der originären Mitteilungsabsicht durch rezeptionsgeschichtlich konventionalisierte Deutungsmuster erscheint unabwendbar, sobald man nach möglichen kollektiven „Implikationen“ der jeweiligen paulinischen Aussage fragt. Für die Apologie 2Kor 2,14–7,4 scheint der Anfangsverdacht berechtigt, Paulus formuliere hier grundsätzlich im Gegenüber zu seinen Adressaten, denn diese sind es ja, die er mit seiner apologetischen Argumentation wieder für sich einnehmen will. Dies würde eine gemeinchristliche Deutung der Wir-Passagen innerhalb der Apologie zwar nicht ausschließen, wohl aber weniger wahrscheinlich machen. Für die Abgrenzung des nachfolgend zu diskutierenden Textsegments ist die Beobachtung entscheidend, dass ein Übergang von apologetischer zu lehrhafter Argumentation in 5,1 durch nichts angezeigt ist: Die 1. Pers. Pl. verwendet Paulus auch schon vorher, und 5,1 ist mit 4,17f durch ein begründendes gavr fest verklammert. Es empfiehlt sich daher ein Blick auf den vorangehenden Kontext ab 4,1: Ein unzweifelhaftes Textsignal dafür, dass Paulus seine Adressaten in das „Wir“ mit einschließt, findet sich zuletzt in 3,18 (hJmei`~ [...] pavnte~). Doch schon in 4,1 bezeichnet die 1. Pers. Pl. unzweifelhaft wieder Paulus, evtl. einschließlich seiner Mitarbeiter, jedenfalls im Gegenüber zu seinen Adressaten, denn nur von Paulus, nicht aber von seinen Adressaten gilt, dass er „diesen Dienst“ innehat (e[conte~ th;n diakonivan tauvthn), d.h. die diakoniva kainh`~ diaqhvkh~ (vgl. 3,6). Die Adressaten versehen selbst nicht diesen Dienst, sondern empfehlen Paulus, der 86

Thrall, 2Kor 107.

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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von Gott als „Diener einer neuen diatheke“ eingesetzt wurde (vgl. 3,1–3). In 4,2 hebt Paulus, die 1. Pers. Pl. beibehaltend, die moralische Integrität seines Aposteldienstes hervor, um in 4,3f zu einem Vorwurf Stellung zu nehmen, den man ihm offenbar gemacht hat,87 dass nämlich sein Evangelium „verhüllt“ sei. Dies hebt eindeutig auf die Verkündigung des Paulus ab, so dass mit to; eujaggevlion hJmw`n nicht gemeinchristliche Glaubensinhalte im Blick sind, sondern die Predigt des Paulus. Deutlich wird dies in 4,5 einmal dadurch, dass, inhaltlich an 4,4 anschließend, vom khruvssein die Rede ist, und zweitens dadurch, dass die Adressaten hier explizit angesprochen werden als diejenigen, zu denen Paulus in die Rolle des dou`lo~ tritt (eJautou;~ de; douvlou~ uJmw`n). Bis hierher liegt klar zu Tage, dass die 1. Pers. Pl. Paulus selbst meint, womöglich auch seine Mitarbeiter, dass diese Redeweise aber nicht die korinthische Gemeinde mit einschließt oder gar alle Christen. Schwieriger ist V. 6. In der Forschung besteht kein Konsens darüber, ob Paulus in diesem Vers von der Bekehrung der Korinther bzw. der Christen überhaupt oder speziell von seiner eigenen spricht. Für erstere Möglichkeit spricht der Plural kardivai~ (vgl. dagegen 6,11: hJ kardiva hJmw`n).88 Nach Windisch beschreibt Paulus dementsprechend mit e[lamyen ejn tai`~ kardivai~ hJmw`n pro;~ fwtismo;n th`~ gnwvsew~ ktl „kein individuelles, sondern ein typisches Erlebnis“89. Nach Furnish geht es um „the illumination which the knowledge of the splendor of God brings to the hearts of those, who have found that splendor in the face of Jesus Christ.“90 Bei dieser Deutung ist vorausgesetzt, dass mit e[lamyen [...] pro;~ fwtismo;n eine doppelte Aktivität Gottes an den Christen angesprochen ist: Gott hat es in ihren Herzen hell werden lassen, um sie mit der gnw`si~ th`~ dovxh~ tou` qeou` zu erleuchten.91 Einen anderen Sinn erhält der Vers, wenn fwtismov~ th`~ gnwvsew~ wie in 2,13 qew`æ [...] tw`æ [...] th;n ojsmh;n th`~ gnwvsew~ aujtou` fanerou`nti diÆ hJmw`n auf die Aktivität der Verkündigung bezogen wird. Dann geht es um einen so nur das apostolische Amt betreffenden Zusammenhang von Bekehrung und Berufung, wie ihn Paulus auch in Gal 1,16 namhaft macht: ajpokaluvyai to;n uiJo;n aujtou` ejn ejmoi; i{na eujaggelivzwmai aujto;n ejn toi`~ e[qnesin.92 In diesem Sinne paraphrasiert Bultmann: „Gott hat es in unserem [sic!] Herzen hell werden 87

Vgl. Wolff, 2Kor 85. So Héring, 2Kor 43: „Comme l’auteur met au pluriel non seulement le pronom (hJmw`n), mais aussi le substantive ‚les cœurs‘ (kardivai), il ne faut pas donner à cette affirmation un sens trop personnel. Il s’agit des croyants en général.“ 89 2Kor 140. 90 2Kor 250, im Original z.T. kursiv. 91 So auch Thrall, 2Kor 320, die jedoch V. 6 insgesamt allein auf Paulus bezieht. 92 Dafür, dass Paulus speziell seine eigene Bekehrung im Blick hat, spricht auch der Aorist e[lamyen, der auf einen einmaligen Vorgang in der Vergangenheit deutet, nicht auf ein ständig sich wiederholendes Ereignis, so Thrall, 2Kor 316 im Anschluss an Hughes, 2Kor 134. 88

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lassen, damit wir (durch die Predigt) die gnw`si~ der dovxa Gottes zum Leuchten bringen.“ Der Plural kardivai~ in der Phrase ejn tai`~ kardivai~ hJmw`n „kann deshalb nicht auf die Christen überhaupt gehen (es müsste denn sein, dass diese unter dem Gesichtspunkt ins Auge gefasst wären, bei der Verbreitung des Evangeliums mitzuwirken), sondern nur auf Paulus selbst, bzw. auf ihn und seine Mitarbeiter.“93 Sobald ejn tai`~ kardivai~ hJmw`n die Mitarbeiter des Paulus einschließt,94 geht freilich der prägnante Bezug auf die Bekehrung bzw. Berufung des Apostels bereits verloren.95 Die von Bultmann erwogene, zwischen beiden Alternativen vermittelnde Deutung, Paulus wolle die Evangeliumsverkündigung als Aufgabe aller Christen hinstellen, vertritt Heinrici. Nach seiner Auffassung „weist sowohl die Erwähnung der gnw`si~ als auch der Plur[al] kardivai~ auf die innerliche, im Herzen Gestalt gewinnende Gewißheit, wie sie allen Gläubigen gemeinsam ist, und fwtismov~ auf die Bethätigung derselben durch die Verkündigung.“96 Möglich wäre auch, dass Paulus das e[lamyen gemeinchristlich denkt und mit dem fwtismov~ die Verkündigungstätigkeit der Apostel bezeichnet, gewissermaßen als Funktion der ganzen Kirche, die jedoch nur von einigen (in diesem Falle: von ihm selbst und seinen Mitarbeitern) wahrgenommen wird. Ganz gleich jedoch, welchen Grad an Allgemeinheit man den Aussagen in V. 6 zumisst, deutlich ist auf jeden Fall der argumentative Bezug auf V. 5, in dem es fraglos um den paulinischen Apostolat geht. V. 6 begründet, warum Paulus „nicht sich selbst“ verkündigt, nämlich deshalb, weil „Gott es ist, der [...] es in unseren Herzen hat hell werden lassen“, etc. Im Blick auf unsere Fragestellung ergeben sich somit zwei Möglichkeiten: Entweder Paulus bleibt auch in V. 6 bei der Beschreibung seines apostolischen Selbstverständnisses, oder aber er setzt einen gemeinchristlichen Sachverhalt zu seiner Verkündigungstätigkeit in Beziehung. In 4,7 weist die Metapher der Tongefäße wieder eindeutiger auf Paulus, näherhin auf die Niedrigkeit seiner äußeren Erscheinung.97 Auch diejenigen Ausleger, die wegen des Plural skeuvesin eine gemeinchristliche Deutung 93

86f.

2Kor 11, zustimmend Schröter, Versöhner 136 Anm. 6. Übereinstimmend auch Wolff, 2Kor

94 So augenscheinlich auch in 7,3 ejn tai`~ kardivai~ hJmw`n ejste; vgl. etwa Furnish, 2Kor 367: „Paul includes his associates in the reference.“ 95 Vgl. Anm. 92. 96 2Kor 153. Ebenso Klauck, 2Kor 44: „Wem dieses innere Licht geschenkt wurde, der ist befähigt und verpflichtet, es in der Verkündigung weiterzutragen.“ 97 Hughes, 2Kor 135; Prümm, 2Kor 229: „Zur Aufnahme des Gnadenlichts, das ihm als kostbarer ‚Schatz‘ vor Damaskus geschenkt wurde, und zu seiner Behütung oder richtiger Verwertung im apostolischen Kündedienst muss dem Apostel der ‚tönerne Behälter‘ seines schwachen Körpers genügen“; Collange, Enigmes 144f; Bultmann, 2Kor 115; Furnish, 2Kor 278: V. 7 „postulates a necessary correlation between the mortality of apostles and their suitability as agents of the gospel“; Wolff, 2Kor 91; Scott, 2Kor 102f; Garland, 2Kor 218f; Thrall, 2Kor 321.

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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vertreten, verstehen V. 7 so, dass Paulus einen als allgemeingültig vorausgesetzten Sachverhalt auf sich anwendet.98 Noch deutlicher ist der Bezug auf Paulus im anschließenden Peristasenkatalog in 4,8f, der in 4,10f eine christologische Wendung erhält und in 4,12 in eine Konklusion mündet. Paulus deutet die in V. 8f beschriebenen Leidenserfahrungen in V. 10f als „Herumtragen“ der nevkrwsi~ tou` ÆIhsou` ejn tw`/ swvmati, hier nun singularisch formuliert, also doch wohl im Blick auf Paulus’ eigenes swvma. Dass der ganze Zusammenhang ab V. 8 nicht unter Einschluss der Adressaten gedacht ist, sondern in prononciertem Gegenüber zu ihnen, zeigt schließlich V. 12, wo Paulus feststellt, dass der geschilderte Sterbeprozess die Korinther nur insoweit betrifft, als er ihnen in Gestalt der zwhv zugute kommt. Sie selbst sind diesem Sterbeprozess ausdrücklich enthoben. Nach 4,5 (eJautou;~ de; douvlou~ uJmw`n) ist die Unterscheidung zwischen Apostel und Gemeinde in V. 12 (ejn hJmi`n / ejn uJmi`n) erstmals wieder auch terminologisch klar ausgeführt. Unzweifelhaft ist der Befund auch in dem anschließenden Sachzusammenhang bis 4,15, da das Gegenüber von Apostel und Gemeinde hier an zwei Stellen eindeutig fassbar ist (V. 14: hJma`~ [...] su;n uJmi`n; V. 15: diÆ uJma`~). Für unsere Fragestellung ist das Stück 4,13–15 besonders erhellend, weil Paulus hier einerseits sehr allgemeine Aussagen macht, andererseits aber von sich selbst explizit im Gegenüber zu seinen Adressaten spricht. Selbstverständlich ist das in V. 13 angesprochene pneu`ma th`~ pivstew~ für Paulus ebenso Heilsgut aller Christen wie die Hoffnung auf Auferstehung (V. 14), doch interessieren Paulus an dieser Stelle Geistbesitz und Auferstehungshoffnung nicht generell, sondern wegen bestimmter Implikationen für sein Apostelverständnis99 und für das Verhältnis, das kraft seines Apostelamtes zwischen ihm und seiner Gemeinde besteht.100 In 4,16–18 fehlen Textsignale für einen zweifelsfreien Bezug der Pluralformen auf Paulus im Gegenüber zu den Korinthern, doch weist oujk ejgkakou`men in V. 16 auf die identische Formulierung in 4,1 zurück, wo sie 98 Meyer, 2Kor 106: „Uebrigens will Paulus, der ja nicht blos von sich redet (man beachte den Plur[al] skeuvesin) u[nd] V. 6. kardivai~), nicht etwa eine besondere Schwächlichkeit von sich aussagen, sondern überhaupt: Obgleich wir mit Herrlichem betraut sind, so ist doch unsere Leiblichkeit, das äussere Organ unseres Wirkens, dem Loose leichter Zerstörbarkeit unterworfen“ (im Original z.T. kursiv). Nach Meyer geht es Paulus gleichwohl um die Apologie seines Apostolats; vgl. 2Kor 105. Ähnlich Plummer, 2Kor 125: Der qhsaurov~ meint „the goodly possessions of the Christian, and especially of the Christian minister“ (im Original z.T. kursiv); Windisch, 2Kor 141 sieht ab 4,7 „das Los aller Apostel“ angesprochen (im Original z.T. Sperrdruck), wenngleich nicht in apologetischer, sondern in lehrhafter Absicht. Nach Lietzmann, 2Kor 115 bezeichnen „die skeuvh [...] die menschlichen Persönlichkeiten, hier speziell P[au]l[u]s“, so auch Héring, 2Kor 43: „corps fragile, qu’habite l’esprit du chrétien, et plus particuliérement celui de l’apotre.“ 99 Das mit den Worten des zitierten Psalmverses angesprochene lalei`n meint die paulinische Verkündigungstätigkeit, ist also sachlich identisch mit dem 4,5 thematisierten khruvssein. 100 Mit to; aujto; pneu`ma (V. 13) verweist Paulus auf den ihm und den Korinthern gemeinsamen Geistbesitz (so überzeugend Schröter, Versöhner 210–213).

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sich eindeutig auf den Apostel bezieht.101 Das anschließend thematisierte Zerstörtwerden des äußeren und Erneuertwerden des inneren Menschen gibt den Realgrund dafür an, dass er, Paulus, „nicht mutlos wird“,102 ganz unabhängig davon, ob V. 16b einen Sachverhalt formuliert, der primär für den leidenden Apostel gilt,103 oder aber, wie vielfach angenommen wird, für alle Christen. Zieht man die Affinität zwischen der Aussage oJ e[xw hJmw`n a[nqrwpo~ diafqeivretai und ajei; ga;r hJmei`~ oiJ zw`nte~ eij~ qavnaton paradidovmeqa (4,11) in Betracht, und liest man V. 16 als weitere Ausdeutung der in 4,8f aufgezählten apostolischen Leiden,104 dann erscheint erstere Möglichkeit als die plausiblere. Dies schließt nicht aus, dass Paulus absichtsvoll in allgemeiner Formulierung vom e[xw a[nqrwpo~ spricht, etwa um seine eigene Leidensexistenz als Spezialfall kreatürlicher Hinfälligkeit zu charakterisieren und ihr dadurch etwas von ihrer Anstößigkeit zu nehmen. Doch wäre gerade damit eine auf Paulus selbst bezogene Aussageabsicht gegeben. V. 17 legt mit der Formulierung to; ga;r parautivka ejlafro;n th`~ qlivyew~ hJmw`n einen Bezug auf Paulus nahe, weil Paulus das Nomen qli`yi~ wie auch das Verb qlivbw in der korinthischen Korrespondenz vorwiegend zur Beschreibung der Bedrängnisse verwendet, die ihm in Ausübung seines Aposteldienstes wiederfahren, so zuletzt in 4,8,105 und weil er außerdem in 2,4 seine persönliche Befindlichkeit angesichts des Konflikts mit den Korinthern auf diesen Begriff bringt: ejk ga;r pollh`~ qlivyew~ kai; sunoch`~ kardiva~ e[graya uJmi`n dia; pollw`n dakruvwn. Ist aber in V. 17a die qli`yi~ des Apostels angesprochen, dann bezieht sich nicht nur der Zusammenhang von zeitlicher qli`yi~ und ewiger dovxa speziell auf Paulus, sondern Paulus ist auch das Subjekt des in V. 18a angesprochenen „Schauens auf das nicht Sichtbare“, wiederum unbeschadet des allgemeinen Charakters von V. 18b. Der hier konstatierte Gegensatz sichtbar/unsichtbar bzw. zeitlich/ewig bedeutet gerade deshalb eine Stärkung des in 4,16–18 formulierten Standpunktes, weil Paulus ihn mittels eines Sach101 Heinrici, 2Kor 166: „weist auf 41f. zurück, der apologetischen Veranlassung der Aussage entsprechend“; Lietzmann, 2Kor 116f: „diov weil ich [sic!] die V. 14–15 ausgesprochene Gewissheit habe, wie 41 dia; tou`to“; ebenso die übrigen Kommentatoren. Barrett (2Kor) übersetzt oujk ejgkakou`men mit „we do not neglect our duty“, d.h. die Ausübung der in 4,1 genannten diakoniva. 102 Allein Hughes, 2Kor 152f sieht nach ejgkakou`men eine Zäsur und lässt mit ajllÆ eij kai; oJ e[xw hJmw`n a[nqrwpo~ ktl einen neuen, bis 5,10 reichenden Abschnitt beginnen. 103 So etwa Collange, Enigmes 174. 104 So Windisch, 2Kor 151: „Der Satz ist im Ganzen eine Ausführung des V. 8f angedeuteten Prozesses.“ 105 Außerdem in 2Kor 1,4.6.8; 6,4; 7,4.5. Ausnahmen sind 1Kor 7,28; 2Kor 8,2.13, doch an keiner dieser Stellen mit Bezug auf gemeinchristliche Leidenserfahrung. In 1Kor 7,28 geht es um die Entscheidung zwischen Heirat und Ehelosigkeit, in 2Kor 8,2 um die besondere Situation der Gemeinden in Makedonien und in 2Kor 8,13 um die Beteuerung des Paulus, er werde die Korinther mit der Kollekte nicht unverhältnismäßig belasten. In 2Kor 1,3ff nennt Paulus die ihm und den Korinthern gemeinsamen Leiden nicht qlivyei~ sondern paqhvmata.

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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verhalts begründet, für den er auf breite Zustimmung bei seinen Adressaten rechnen konnte.106 Es zeigt sich also, dass die semantische von der argumentationslogischen Ebene unterschieden werden muss. Aussagen mit einem hohen Grad an Allgemeinheit indizieren nicht a priori einen Übergang von situationsbezogener Apologetik zu gemeinchristlicher Lehre. Dies ist wichtig für das Verständnis von 5,1. Der Vers schließt mit gavr eng an das Vorangehende an. Der Begründungszusammenhang zwischen 4,16–18 und 5,1 kann subjektiv gedacht werden – das „Schauen auf das nicht Sichtbare“ (4,18a) ist durch die in 5,1 geäußerte Gewissheit motiviert – aber auch objektiv mit Bezug auf 4,17: Die ewige dovxa ist Paulus gewiss, weil er nach seinem Tod die oijkiva ajceiropoivhto~ von Gott erhalten wird.107 Paulus ist genauso Subjekt des oi[damen in 5,1 wie er in 4,16a Subjekt des oujk ejgkakou`men ist.108 Die Funktion von 5,1 ist somit „to help undergird the [...] statement of apostolic confidence in 4:16a.“109 Wenngleich die meisten Ausleger annehmen, dass Paulus mit dem Inhalt der in 5,1 geäußerten Gewissheit auf einen Sachverhalt rekurriert, den er bei seinen Adressaten als bekannt voraussetzt,110 so deutet doch nichts darauf hin, dass er seine Adressaten auf einmal stillschweigend in die 1. Pers. Pl. oi[damen mit einschließt. In diesem Fall wäre mit Wolff festzustellen: „Das ‚Wir‘ ist [...] primär auf Paulus zu beziehen, der ein allgemein bekanntes Wissen auf sich anwendet“111. Doch ist mit der ejpivgeio~ oijkiva tou` skhvnou~ zunächst nichts anderes im Blick als mit dem von der nevkrwsi~ tou` ÆIhsou` gezeichneten sw`ma in 4,10, der qnhth; savrx in 4,11 und dem e[xw a[nqrwpo~ in 4,16, nun nicht mehr im Blick auf dessen tägliches Zerstörtwerden, sondern hinsichtlich der endgültigen Vernichtung im Tod. Es geht nach wie vor um die Person des Apostels und die Betonung seiner persönlichen Heilsgewiss-

106

V. 18b ist als solcher nicht einmal spezifisch christlich; vgl. die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen bei Windisch, 2Kor 156. 107 Vgl. dazu u. S. 229. 108 So Meyer, 2Kor 120: oi[damen „ist hier nicht das allgemeine es ist bekannt (Rom. 2,2. 3,19. 7,14. 8,28), sondern Paulus redet [...] von sich, wie im ganzen Zusammenhange. Er ist dessen gewiss“ (Kursive im Original); Bachmann, 2Kor 215: „Da es sich in 4,16ff durchaus um die in der apostolischen Arbeit sich bewährende Ausdauer handelte, so folgt sogleich, daß das ‚Wir‘ in 5,1ff sich auf P[au]l[us] (und seine Arbeitsgenossen) beschränkt.“ Übereinstimmend u.a. Wolff, 2Kor 106; Thrall, 2Kor 357. 109 So zutreffend Furnish, 2Kor 291. Richtig auch Zeilinger, 2Kor 215: Es geht Paulus nicht um „ein den Korinthern bekanntes Glaubenswissen“, sondern er „verleiht [...] seiner zuversichtlichen Überzeugung Ausdruck, dass die zuletzt in 4,16–18 gebotenen Aussagen besonders durch seine christliche Hoffnung begründet werden.“ 110 So Heinrici, 2Kor 170; Windisch, 2Kor 158; Plummer, 2Kor 141; Héring, 2Kor 47; Hughes, 2Kor 160; Schröter, Versöhner 230. 111 2Kor 106.

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heit angesichts seiner eigenen Leidensexistenz.112 Das Bereitliegen der oijkodomh; ejk qeou` interessiert ihn ungeachtet der möglichen Verallgemeinerbarkeit der Aussage in 5,1b in erster Linie im Blick auf sein eigenes Geschick.113 Es geht deshalb schon zu weit, wenn Baumert, der ansonsten zutreffend von einer durchgängigen Bezogenheit des von ihm untersuchten Stücks 4,12–5,10 auf die Person des Apostels ausgeht, V. 1 auf die Aussage zuspitzt: „Denn ich weiß, dass man als Christ [...] nach der Auflösung des Zeltes ein ewiges Haus innehat.“114 Es geht Paulus im von oi[damen abhängigen Relativsatz nicht generell um eine Beschreibung des eschatologischen Heilszustandes, sondern darum, dass auch und gerade ihm jenes Himmelshaus, das ihm ewige dovxa verbürgt (4,17), gewiss ist.115 Die subjektive Perspektive von 5,1 wird mit stenavzomen [...] ejpipoqou`nte~ in V. 2 und stenavzomen barouvmenoi, ejfÆ w|æ ouj qevlomen ktl in V. 4 bestätigt und fortgesetzt. Zwar verwendet Paulus das Motiv des „Seufzens“ in Röm 8,22.23.26 zur Beschreibung einer gemeinchristlichen, ja kreatürlichen Erlösungssehnsucht, doch darf der universale Horizont von Röm 8 nicht einfach in den älteren Text 2Kor 5 eingetragen werden, wo Paulus ausweislich des Kontextes von seiner persönlichen Leiderfahrung her denkt116 und das Erscheinungsbild seiner selbst als eines körperlich Leidenden in einen eschatologischen Sinnzusammenhang rückt.117 Paulus beschreibt in 5,2.4 seine eigene seelisch-geistige Gestimmtheit, nicht die der Korinther.118 Dagegen spricht auch nicht der Rekurs auf das nach paulinischer Auffassung allen Christen eigene pneu`ma in 5,5. Gerade dadurch, dass Paulus sein in 5,4 artikuliertes Todesverständnis119 mit dem Geistbesitz in Verbindung bringt, es also auf eine zwischen ihm und seinen Adressaten 112 Richtig Prümm, 2Kor 263: Paulus „schreibt nicht [...] als apostolischer Lehrer, der ein wichtiges Lehrstück der Eschatologie zu vertiefen hat [...]. Es geht ihm hier um die Eröffnung seiner gegenwärtigen Stimmungslage zu den Endstandsdingen.“ 113 Zutreffend Thrall, 2Kor 359: „The Plural most probably refers to Paul himself, as in 4.16– 18.“ 114 Baumert, Sterben 33 (Kursive im Original). 115 So auch Schröter, Versöhner 235f. 116 Vgl. Berger, Psychologie 200: Paulus „kleidet seine Erwartung über das kommende Heil sicher auch deshalb in die Kategorie leiblicher Bedrängnis, weil er selbst leidend ist und allzu gut weiß, was Stöhnen ist (2Kor 12,7–9).“ 117 So auch Perriman, Paul 521, der in 5,1–5 „a false generalization of the first person plural“ beklagt. 118 Zutreffend Baumert, Sterben 202: „Stenavzomen ist [...] von demselben Subjekt ausgesagt wie oi[damen, welches in Fortsetzung von 4,7–18 den Apostel selbst meint. Das ergibt sich u.a. daraus, dass die Leidensaussagen [...] bisher immer von ihm selbst galten; die Voraussetzung dieses Stöhnens ist außerdem eine Willenshaltung (ejpipoqou`nte~, qevlomen), die Paulus nicht ohne weiteres von allen Christen aussagen kann, gerade von seinen korinthischen Lesern nicht!“ Richtig auch Dautzenberg, Glaube 86: „Paulus bleibt das Subjekt der Aussage.“ Er sieht Paulus „mehr von seiner seelischen Beteiligung sprechen, als theologische Topoi repetieren.“ 119 Zur Begründung s.u. S. 310.

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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unstrittige Prämisse zurückführt, steigert er die Plausibilität seiner Ausführungen. Ebenso wenig wie das stenavzomen in 5,2.4 zielt der Passus 5,6–9 auf den Entwurf einer gemeinchristlichen Geisteshaltung. Mit qarrou`nte~ ou\n (V. 6) und qarrou`men dev (V. 8) kommt Paulus, an oujk ejgkakou`men in 4,1 und 4,16 anknüpfend,120 wieder auf die Zuversicht zu sprechen, mit der er seinen apostolischen Dienst versieht. Nach 5,5 ist „der Blick nun wieder auf seinen gegenwärtigen Dienst gelenkt, seine Entschlossenheit (V. 8) und seinen Ehrgeiz (V. 9).“121 Besonders V. 9 filotimouvmeqa [...] eujavrestoi aujtw`æ ei\nai ist kaum anders zu verstehen denn als eine im schriftstellerischem Plural formulierte Aussage des Paulus über sich selbst, mit der er seine Qualifikation für das Apostelamt nochmals besonders deutlich herausstellt.122 Mit dem alle Christen (tou;~ [...] pavnta~ hJma`~) betreffenden Gericht benennt Paulus in V. 10 zudem die Instanz, der er sich als Apostel verpflichtet weiß und die ihn veranlasst, den fovbo~ tou` kurivou (V. 11) zur ständigen Bedingung seines apostolischen Handelns zu machen.123 Dass Paulus in V. 10 die Adressaten nun explizit in die 1. Pers. Pl. einbezieht, ist kein Indiz dafür, dass von hier aus „rückwirkend“ der ganze vorangehende Kontext gemeinchristlich zu deuten wäre. Eher schon legt doch die terminologische Differenzierung zwischen „wir“ (4,1ff) und „wir alle“ (3,18; 5,10) den umgekehrten Schluss nahe, dass Paulus sprachlich klar signalisiert, wo er seine Adressaten in die 1. Pers. Pl. mit einschließt und wo nicht. Wenn Bultmann anmerkt: „Das apostolische Wir von 5,6 gleitet [...] alsbald unmerklich in das gemeinchristliche über, das dann in dem tou;~ pavnta~ hJma`~ 5,10 deutlich an den Tag kommt, um dann in 5,11 wieder durch das apostolische Wir abgelöst zu werden“,124 dann besagt ja jenes „unmerklich“ nichts anderes, als dass es für eine solches „Übergleiten“ des apostolischen in das gemeinchristliche „Wir“ keinerlei Textsignale gibt. Dies gilt bereits für 4,16–18, wo Bultmann mit einem Übergang in umgekehrte Richtung rechnet: Mit oujk ejgkakou`men in V. 16 rede Paulus noch „von seiner apostolischen Haltung“, doch denke er „schon in V. 17 an die gemeinchristliche Hoffnung, wie in V. 18 völlig klar ist.“125 Es dürfte deutlich sein, warum Bultmann das Stück 4,16–18 als Überleitung zu dem ge120

So u.a. Bultmann, 2Kor 141; Furnish, 2Kor 271; Schröter, Versöhner 244. Lang, Forschung 198. 122 So etwa Furnish, 2Kor 304: „a further assurance to the Corinthians that the Pauline apostolate is committed only to the gospel.“ Vgl. auch Scott, 2Kor 116. Furnish, 2Kor 304 sieht in V. 9 freilich zugleich „an implicit appeal to the whole Corinthian congregation“. 123 Lietzmann, 2Kor 123 paraphrasiert 5,11: „indem ich die Furcht vor dem Herrn und seinem V. 10 geschilderten Gericht stets vor Augen habe“; ähnlich Hughes, 2Kor 186; vgl. auch Collange, Enigmes 244; Thrall, 2Kor 401. 124 Bultmann, Probleme 4. 125 Bultmann, 2Kor 131. 121

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meinchristlichen Exkurs 5,1–5 ansieht: Weil nämlich auch und gerade in 5,1 auf syntaktischer Ebene nichts darauf hindeutet, dass Paulus von der apostolischen Selbstdarstellung exkursartig zu allgemeiner Belehrung hinüberwechselt. Also muss dieser Übergang vorher vollzogen worden sein. Wo immer in der Forschung in dem uns interessierenden Text 4,1–5,11 solche gleitenden Übergänge festgestellt oder vorausgesetzt werden, geschieht dies auf der Basis der tatsächlichen oder angenommenen Allgemeingültigkeit bestimmter Aussagen, von der dann auf die Allgemeinheit des aussagenden Subjekts geschlossen wird: Weil beispielsweise das Bereitliegen des Himmelshauses (5,1) von allen Christen aussagbar ist, wird angenommen, dass Paulus auch alle Christen, d.h. in der konkreten Briefsituation: seine Adressaten, in die 1. Pers. Pl. oi[damen mit einschließt. Die grundlegende Schwäche dieser Auffassung liegt darin, dass sie durch die Gegebenheiten der Textsyntax nicht gedeckt ist. Vielmehr liegt ein bündiger Argumentationszusammenhang vor, in welchem die verbalen, partizipialen und pronominalen Pluralformen glatt an das Satzprädikat von Vers 1 anschließen, der ausweislich der voranstehenden Partizipialkonstruktion den oder die Diener der neuen diatheke zum Subjekt hat. Ein Subjektwechsel ist außer in 5,10, wo Paulus seine persönliche Haltung mit dem alle betreffenden Endgericht begründet, ohne damit die sein apostolischen Selbstverständnis betreffende Argumentationsebene zu verlassen, nirgends festzustellen. Umgekehrt deuten die Pronomina der 2. Pers. Pl. in 4,5.12. 14.15 darauf hin, dass der ganze Zusammenhang ein Gegenüber von Autor und Adressaten voraussetzt. Diese Beobachtungen sprechen für die Auffassung Baumerts, wonach Paulus stets mit der Hauptintention [...] bei sich selbst bleibt. Auch wenn er seine Aussagen [...] mit allgemeinen Überlegungen stützt oder von allgemeinen Prinzipien her argumentiert, sagt er diese Sätze doch nur, um seine Situation verständlich zu machen. Im Bild gesprochen: Paulus wendet die Kamera nie von seiner eigenen Lage weg, bringt aber durch verschiedene Einstellungen des Objektivs bald den Hintergrund, bald die nähere Umgebung mit ins Blickfeld.126

Ob Paulus in dem untersuchten Textsegment stellenweise auch seine Mitarbeiter im Blick hat, lässt sich weder mit Sicherheit ausschließen noch zweifelsfrei beweisen. Die von Müller geäußerte These, dass Paulus in der Apologie zwar nicht gemeinchristlich, aber doch nicht nur für sich, sondern auch für seine Mitarbeiter spricht,127 ist diskussionswürdig; im Blick auf unseren Text spricht m.E. jedoch gegen Müller, dass Paulus seit 4,7ff mit dem Thema der Hinfälligkeit des Leibes befasst ist (Stichwort „irdene Gefäße“) und damit doch wohl auf die primär gegen ihn selbst gerichtete geg126 127

Baumert, Sterben 32 (Kursive im Original). S.o. Anm. 83.

Die 1. Person Plural in 2Kor 4,1–5,10

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nerische Propaganda reagiert. Es ist nicht ersichtlich, dass Paulus in dieser Hinsicht auch für seine Mitarbeiter argumentiert. Ebenso scheint Paulus mit dem Schlagwort von der „Schwachheit“ (2Kor 10–13) auf eine gezielte Herabsetzung seiner Person von Seiten seiner Gegner zu reagieren. Es mag sein, dass dies „ebenso theologische Relevanz für alle anderen Mitarbeiter Gottes“ hat,128 doch lässt der Gebrauch der 1. Pers. Pl. an den einschlägigen Stellen kaum den Schluss zu, Paulus formuliere hier bewusst so, dass seine Argumentation inhaltlich auch auf seine Mitarbeiter anwendbar ist oder er sich bewusst in diesen Kreis einreihe.

128

Müller, Plural 200.

II. Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

1. Einführung Die voranstehenden methodologischen Erwägungen (I.3) formulieren bereits das Arbeitsprogramm des II. Teils: Versucht werden soll eine Erschließung antiker Wahrnehmungen des Todesproblems, die den ideen-, religions- oder philosophiegeschichtlichen Horizont öffnet hin zu einer soziokulturellen Betrachtungsweise.1 Es ist der These auf den Grund zu gehen, dass das Todesproblem im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext der hellenistisch-römischen Antike als Teil einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstehen ist, die Sterben und Tod innerhalb der Parameter von Ehre und Schande wahrnimmt.2 Todesverständnis und Todesgeschick eines Menschen sagen nach antiker Auffassung etwas aus über die Eigenschaften seines Charakters und seines bivo~. Das antike Interesse haftet am Todesgeschick eines Menschen, weil „die Einzelheiten des Todes“ einer Person „einen ganzen Lebenslauf gleichsam symbolisch zusammenzufassen vermögen“,3 und es haftet an seinem Todesverständnis als einem wesentlichen Gradmesser für Charakterstärke oder -schwäche. In der antiken Rhetorik schlägt sich dieser Sachverhalt am handgreiflichsten nieder, darin nämlich, dass die epideiktische Rede das Todesthema nach den Regeln von Lob und Tadel behandelt.4 Es liegt daher nahe, hier den Einstieg in unser Thema zu suchen (II.2). Von hier aus werden dann biographische (II.3) und historiographische Texte (II.4) in den Blick genommen. Dabei erweist sich das biographische exemplum nicht nur 1 Wenn nicht anders angegeben, sind die deutschsprachigen Zitate aus den nachstehenden Quellen den im Literaturverzeichnis genannten Übersetzungen entnommen. Sind keine zitierfähigen Übersetzungen ins Deutsche vorhanden, wurden sie vom Verfasser dieser Studie angefertigt. 2 Die terminologische Übereinstimmung mit der von der amerikanischen Exegese in die Diskussion eingebrachten kulturanthropologischen These antik-mediterraner „Ehre-Schande-Gesellschaften“ (dazu klassisch Malina, Welt 40–66) ist an dieser Stelle eher zufällig und hängt methodologisch nicht von der Tragfähigkeit des honor-shame-Modells ab. Für die vorliegende Fragestellung ist sie induktiv aus den Texten gewonnen und darf im Blick auf das gebotene Quellenmaterial ein hohes Maß an Plausibilität beanspruchen. Ob darüber hinaus ganze Gesellschaftsstukturen mit dem Ehre-Schande-Paradigma beschrieben werden können, kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. 3 Ronconi, Exitus 1259. 4 Vgl. Aristoteles, Rhet. 1,3,5/1358b: „Für diejenigen schließlich, die loben oder tadeln, sind es das Ehrenhafte bzw. das Unehrenhafte (to; kalo;n kai; to; aijscrovn); alles andere nämlich beziehen auch sie auf diese Hauptzwecke.“

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formgeschichtlich als gemeinsamer Nenner von Rhetorik, Biographie und Geschichtsschreibung, es wird auch deutlich, dass in diesen Textfeldern Darstellungen von Sterben und Tod nach den gleichen Deutungsmustern gearbeitet sind. Die Rhetorik musste, indem sie aus Biographien und Geschichtswerken biographische exempla würdigen und unwürdigen Sterbens extrahierte, diese Deutungsmuster nicht erst in ihre Texte eintragen. Sie fand sie dort vielmehr bereits vor. Quellen aus antiker Satire, Parodie und Spottgedicht (II.5) erweitern das Spektrum um Texte, die reiches Anschauungsmaterial für den rhetorischen Kasus des Tadels bieten: Ein Mensch konnte anhand seines Todesgeschicks und seines Todesverständnisses nicht nur gelobt und glorifiziert, sondern auch gezielt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Erst gegen Ende des II. Teils nehmen wir das Todesproblem in einem umfangreichen Kapitel (II.6) aus der Perspektive hellenistisch-römischer Philosophie in den Blick. Diese Reihenfolge trägt der Beobachtung Rechnung, dass sich auch der philosophische Diskurs innerhalb der genannten antiken gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bewegt. Die Diskussion hellenistischrömischer Schul- und Popularphilosophie über ein angemessenes Todesverständnis kann geradezu als Teilgebiet antiker Charakterkunde verstanden werden. Diese Diskussion reflektiert antike Konstruktionen des idealen Charakters und wirkt zugleich normierend auf diese ein. Den Schluss bilden zwei Kapitel zu Texten des antiken Judentums (II.7; II.8). Zusammen mit weiteren jüdischen Quellen (II.4.3: Josephus, II.6.3: Philo) zeigen diese Texte, dass sich das hellenistisch-römisch akkulturierte Judentum in vollem Umfang auch die soziokulturellen Standards antiker Todesdeutung angeeignet hat. Dies gilt für die alexandrinisch-jüdische Platonismus-Rezeption Philos ebenso wie für die Historiographie des Josephus, aber auch für dessen Polemik gegen seine literarischen Gegner. Damit ist ein „Anfangsverdacht“ gegeben, auch der hellenistische Jude Paulus könnte sich einschlägiger Deutungsmuster bedient haben, ein Verdacht freilich, den die Exegese von 2Kor 5,1–10 erst erhärten muss. Erweist sich der Brückenschlag zwischen Judentum und Hellenismus als unproblematisch, so ist es erst recht der zwischen Griechenland und Rom. In der frühen römischen Kaiserzeit kann von einer weitgehenden gegenseitigen Durchdringung des griechischen und römischen Kulturraumes ausgegangen werden,5 so dass die weitgespannte Frage nach Wahrnehmun-

5 Es mögen zwei Schlaglichter auf diese Durchdringung genügen: Die Tatsache, dass Sueton neben seinen lateinischen auch eine ganze Reihe griechischer Schriften verfasst hat, macht deutlich, dass „unter den Gebildeten im Osten, die normalerweise das Lateinische nur unvollkommen oder gar nicht beherrschten, durchaus ein Bedürfnis nach Information aus der römischen Welt vorhanden war, der man sich zugehörig fühlte“ (Dihle, Literatur 269f). In die umgekehrte Rich-

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gen des Todesproblems „in der hellenistisch-römischen Antike“ als angemessen erscheint. Es soll nicht einer griechisch-römischen Einheitskultur das Wort geredet werden, aber es gibt doch, was unser Thema betrifft, Übereinstimmungen auf breiter Front und hohe Vergleichbarkeiten. Schließlich kann auch dem möglichen Einwand begegnet werden, die untersuchten Texte repräsentierten lediglich die sozialen Standards einer gebildeten Minderheit. Dem kann ganz allgemein die These entgegengestellt werden, dass Unterschichtgruppen antik-mediterraner Gesellschaften das Wertesystem der Oberschicht mittrugen, und zwar auch dann, wenn sie an diesen Werten nicht zu ihrem eigenen Vorteil zu partizipieren vermochten,6 und was die untersuchten Texte betrifft, ist auf den populären Charakter hellenistisch-römischer Philosophie zu verweisen7 sowie auf die Omnipräsenz der Rhetorik im antiken Alltagleben (dazu gleich). Die beiden Jahrhunderte vor und nach der Zeitenwende bilden den für die Textauswahl mehrheitlich maßgeblichen zeitlichen Rahmen, Autoren eingeschlossen, deren Schaffen noch in das 2. Jh. n.Chr. hineinreicht (Plutarch, Sueton, Tacitus, Epiktet). Ausnahmen nach rückwärts sind Platon und Xenophon wegen der eminenten antiken Wirkungsgeschichte der Sokrates-Figur und Epikur als Begründer eines über die Jahrhunderte nur wenig veränderten Lehrgebäudes. Texte aus dem 2. und teilweise auch 3. nachchristlichen Jahrhundert kommen in Kapitel 1 zur Sprache, entweder, weil sich hier frühere Traditionen fortsetzen, oder weil die theoretische Erfassung z.T. erheblich jünger ist als die einschlägige rhetorische Praxis. Ersteres gilt auch für Lukian, der die ins Negative gewendeten Topoi antiker Rhetorik von Sterben und Tod in satirischer Überzeichnung besonders anschaulich vorführt.

2. Rhetorik 2.1 Einführung „Die gesamte Theorie der Rhetorik ist grundsätzlich nichts anderes als der unermüdliche Versuch, die Vielfalt des konkreten Lebens in für jeden an-

tung weist das philosophische Werk Ciceros, das die griechische Philosophie dem römischen Geistesleben nahegebracht hat. 6 Vgl. die Überlegungen bei Guttenberger-Ortwein, Status 35–37 zu „Ehre“ als schichtübergreifendem Wert. 7 Auch hierzu ein Schlaglicht: Der Philosoph Diogenes von Oenoanda, ein Epikureer des 2. Jh. n.Chr. „ließ im Angesicht des nahenden Todes auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt in Kleinasien in die Wand einer Säulenhalle eine riesige Inschrift meißeln, um allen Mitbürgern die epikureische Philosophie zugänglich zu machen. Die Trümmer dieser Inschrift, die hauptsächlich die Ethik und Physik wiedergab, sind 1884 entdeckt worden“ (Hossenfelder, Philosophie 102).

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wendbare Schemata zu fassen.“8 Dieser Sachverhalt legt es nahe, den Zugang zu antiken Wahrnehmungen des Todesproblems bei der Rhetorik zu suchen. Man mag nun einwenden, dass ausgerechnet die epideiktische Rede, in der das Thema Sterben und Tod seinen festen rhetorischen Ort hat, einen solchen Schluss auf antikes Alltagleben nur bedingt zulasse, da sie, schon von Beginn an mehr der Selbstdarstellung des Redners als dem Inhalt der Rede verpflichtet, erst recht in der Spätzeit zur selbstgenügsamen, vom gelebten Leben völlig abgehobenen Kunstübung verkommen sei.9 In der Tat notiert bereits Aristoteles, dass sich das intendierte Urteil des Hörers einer epideiktischen Rede nicht auf die Sache, sondern „auf das rhetorische Vermögen“ (peri; th`~ dunavmew~) bezieht. Erst recht trifft dies auf die epideiktische Beredsamkeit der Zweiten Sophistik zu. Im griechischen Kulturraum dominierte in der Kaiserzeit ein Typus des Festredners – seit dem 1. Jh. v.Chr. meliorativ „Sophist“ genannt –, der seine Wirkung als „ein meist öffentlich bestellter Rhetoriklehrer und zugleich ein in öffentlichen Kulturveranstaltungen auftretender, gefeierter Sprachkomponist und –virtuose“ entfaltete, „der sich mit seinen fast durchwegs fiktiven Themenstellungen vor allem der griechischen Vergangenheit zuwendet und ihre Größe beschwört.“10 Diesem Einwand kann dreierlei entgegengehalten werden: (1) Historisch ist darauf hinzuweisen, dass auch die extreme Spätform der epideiktischen Rede nicht ohne Anbindung an die gesellschaftliche Realität ihrer Zeit gepflegt wurde. Viele dieser Prunkredner hatten „wichtige Vermittlungsaufgaben zwischen städtischer Kommunal- und römischer Reichspolitik“ zu erfüllen, „wie z.B. Gesuche ihrer Städte an den Kaiser oder das römische Amt ‚ab epistulis‘; außerdem kam ihnen die Rolle einer öffentlichen, moralischen Institution zu, die in manchen Zügen der heutigen Presse vergleichbar ist.“11 Außerdem erreichten gerade die Rhetoren, die ihre Virtuosität als Selbstzweck zelebrierten, ein ausgesprochenes Massenpublikum, wie es sonst nur noch der Schauspielerei gelang.12 (2) Formal ist anzumerken, dass epideiktische Rede weder praktisch noch theoretisch auf das demonstrative Genus beschränkt und insofern potentiell alles andere als realitätsferne Artistik war. Schon die Herennius-Rhetorik (3,8,15) notiert, dass „in Gerichts- und beratenden Reden oft große Abschnitte von Lob und Tadel vor[kommen]“ (in iudicialibus et in deliverativis causis saepe magnae partes versantur laudis aut viruperationis). Auch Quintilian (Inst. 8

Soffel, Leichenrede 61. Ein Umstand, den Schon Quintilian beklagt: nonnullos reperias, qui sibi eloquentiores videantur, quam ut causas agant, „[M]an kann [...] manche finden, die sich zu beredt dünken, um in Prozeßreden aufzutreten“ (Inst. 12,6,6). 10 Buchheim, Sophistik 1078. 11 Buchheim, Sophistik 1078. 12 Vgl. hierzu Kroll, Rhetorik 1075f.1131. 9

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3,7,2) betont die Wichtigkeit epideiktischer Redestücke in forensischen Redesituationen, etwa beim Lob eines Zeugen der eigenen oder beim Tadel eines Zeugen der gegnerischen Prozesspartei: „[E]inen Zeugen zu loben wie auch das Gegenteil [gehört] zu den wesentlichen Dingen vor Gericht“ (laudare testem vel contra pertinet ad momentum iudiciorum). Im gleichen Zusammenhang (3,7,28) verweist Quintilian auf die Analogie zwischen Empfehlen (suadere) und Loben (laudare), mithin auf Berührungen zwischen dem epideiktischen und deliberativen Genus.13 (3) Schließlich gilt selbst für die fiktiven, ja bisweilen unterhaltsam-unsinnigen Themenstellungen der reinen Epideiktik – man denke an die paravdoxa ejgkwvmia eines Dion von Prusa (Enkomion auf das Haar) oder Lukians (Enkomion auf die Fliege)14 – dass sie sich weder außerhalb des antiken kulturellen Universums bewegen noch den Grunderfordernissen von Plausibilität und argumentativer Logik enthoben sind, und sei es in der Weise der komischen Verkehrung. Es erscheint somit methodisch gerechtfertigt und in der Sache aussichtsreich, unser Thema zu Anfang aus rhetorischer Perspektive in den Blick zu nehmen. Wo immer sich epideiktische Rede des Todesthemas annimmt, reflektiert sie soziokulturelle Standards antiker Todesdeutung, gleichviel, ob fiktive oder reale Personen gelobt oder getadelt werden, gleichviel auch, ob es sich um Übungsreden aus dem rhetorischen Schulbetrieb oder um Beispiele aus der rhetorischen Praxis handelt. Wir setzen ein mit lateinischen Rhetoriken und den griechischen Progymnasmata, wenden uns dann der Theorie und Praxis der antiken Grabrede zu und untersuchen schließlich die Exemplasammlungen zum Thema. 2.2 Rhetorische Lehrwerke 2.2.1 Rhetorica ad Herennium 3,14 Die anonyme Rhetorica ad Herennium ist neben dem etwa zeitgleich entstandenen rhetorischen Frühwerk Ciceros De inventione das älteste erhaltene Rhetorik–Lehrbuch in lateinischer Sprache. Es wurde in den Jahren 84– 83 v.Chr. abgefasst15 und bietet „ein Kompendium, in dem das gesamte System der Rhetorik, wie es sich zu Beginn des 1. Jahrhunderts v.Chr. her13 Vgl. auch Lausberg, Handbuch 132 mit Hinweis auf Quintilian, Inst. 3,7,2: „Zu beachten ist, daß die epideiktische Rede nicht nur selbständig vorkommt [...], sondern auch als Teil von Reden anderer genera (genus iudiciale und genus deliberativum [...]).“ Übereinstimmend auch Aristoteles, Rhet. 1,9,33/1367b: e[cei de; koino;n ei\do~ oJ e[paino~ kai; aiJ sumboulaiv. a} ga;r ejn tw`æ sumbouleuvein uJpovqoio a[n, tau`ta metateqevnta th`æ levxei ejgkwvmia givgnetai. 14 Vgl. dazu Burgess, Literature 157–166. 15 Nüßlein, De Inventione 321.335. Beide Werke fußen wahrscheinlich auf einer gemeinsamen lateinischen Quelle, bei der es sich wohl um die Übersetzung eines griechischen RhetorikLehrbuches handelte (Nüßlein, De Inventione 336.355 Anm. 51).

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ausgebildet hatte, möglichst umfassend vollständig zu Studienzwecken dargestellt werden sollte.“16 Uns interessiert der Abschnitt 10–15 im dritten Buch, der der inventio (Auffindung des Stoffes) für die Rede im genus demonstrativum (gevno~ ejpideiktikovn) gewidmet ist.17 Diese Redegattung ist mit dem Lob oder aber dessen Gegenteil, dem Tadel befasst. Der Auctor ad Herennium legt eingangs (3,10) die schon bei Platon und Aristoteles geläufige Unterteilung in res externa, corporis und animi zu Grunde18 und gibt für jede Kategorie einige Beispiele: Zu den äußeren Umständen (res externa) zählt man das, was durch Zufall oder Schicksal günstig oder ungünstig ausfallen kann: Herkunft, Erziehung, Reichtum, Macht, Ruhm, Bürgerrecht, Freundschaften und dergleichen und die Nachteile, die im Gegensatz dazu stehen. Zu den körperlichen Eigenschaften (res corporis) zählt man die Vorteile und Nachteile, die die Natur dem Körper zugeteilt hat: Schnelligkeit, Kraft, würdevolles Auftreten, Gesundheit und die Gegensätze dazu. Zu den geistigen Eigenschaften (res animi) zählt man, was auf unserer Überlegung und unserem Denken beruht: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung und die Gegensätze dazu.

Nach Hinweisen für die Gestaltung des Proömiums (principium) in 3,11–12 folgt in 3,13–14 eine Anleitung, wie ein Rhetor die Lebensumstände und äußeren Eigenschaften einer Person in ein gutes oder schlechtes Licht zu rücken vermag, je nachdem, ob diese Person gelobt oder getadelt werden soll. Dies erreicht er dadurch, dass er die objektiven Parameter der res externa und der res corporis von den vorausgesetzten „charakterliche[n] Vorzüge[n] oder Fehlern[n]“ (animi virtutes aut vitia) her interpretiert. So können hohe und niedrige Herkunft gleichermaßen Anlass zum Lob wie zum Tadel bieten: Ist er [d.i. der zu Lobende] von guter Herkunft, sagen wir, er sei seinen Vorfahren ebenbürtig oder überrage sie; ist er von niederer Herkunft, sagen wir, er habe Schutz gefunden in seinen eigenen Vorzügen, nicht in denen der Vorfahren. In einer tadelnden Rede sagen wir, wenn er von guter Herkunft ist, er habe seinen Vorfahren Schande gemacht; ist er von schlechter Herkunft, sagen wir, sogar diesen Vorfahren habe er geschadet (adHer. 3,13–14).

16

Nüßlein, De Inventione 330. Der Auctor ad Herennium übernimmt die in der griechischen Rhetorik seit Aristoteles maßgebliche Dreiteilung des rhetorischen Systems in gevno~ sumbouleutikovn/dikanikovn/ejpideiktikovn (Rhet. 1,3,1/1358b). 18 In griechischer Terminologie: ajgaqa; peri; yuchvn / ajgaqa; peri; sw`ma / ta; e[xwqen ajgaqav, vgl. Platon, Nom. 697c.717c.727a; Phileb. 48,d–e; Alkib. 1,130a; Gorg. 477c; Euthyd. 279; Epist. 8,355b; Phaidr. 241c; Aristoteles, Rhet. 1,5,4/1360b; EthNic. 1098b 12–15; Pol. 1232a 24– 27; MagnMor. 1184b. Vgl. auch Cicero, Tusc. 5,30,85; Fin. 3,13,43; Part. 22,74; Inv. 1,53.101; Orat. 3,29.115; Part. 11,38. Stellen bei Butts, Progymnasmata 481 Anm. 7. 17

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Ebenso können die res corporis Ausdruck eines guten oder schlechten Charakters sein. Ist der zu Lobende von schöner Gestalt, gereicht ihm dies zur Ehre, ist dagegen eine zu tadelnde Person schön, so soll der Rhetor dies als bloße Naturanlage hinstellen, die jener „zufällig und von Natur aus besessen habe wie jeder beliebige Gladiator.“ In gleicher Weise ist auch mit den übrigen res externa zu verfahren. Zu diesen zählen Reichtum, Armut, Macht, Freundschaft und Feindschaft, aber auch, wenn es sich um einen Verstorbenen handelt, die Umstände seines Todes. Für Lob bzw. Tadel ist in diesem Fall auch von Belang, cuiusmodi mors eius fuerit, cuiusmodi res mortem eius sit consecuta „von welcher Art sein Tod gewesen und welches Ereignis auf seinen Tod gefolgt sei.“ Der Verfasser gibt kein Beispiel dafür, inwiefern der modus mortis sich auf die Beurteilung einer Person auswirken kann, auch nicht, welche auf den Tod des Verstorbenen folgenden Ereignisse hierbei maßgeblich sein können. Er nennt lediglich die rhetorische Regel, ohne sie zu begründen oder zu erläutern. Offenbar ist sie konventionell und für die intendierten Benutzer ohne weitere Instruktionen anwendbar. 2.2.2 Cicero, De inventione 1,36 Cicero hat das genus deliberativum in seinem unvollendet gebliebenen Frühwerk De inventione nur behelfsmäßig am Schluss des zweiten Buches als eigenes Thema behandelt (2,177–178). Er notiert summarisch, Lob und Tadel müsse gewonnen werden ex eis locis [...] qui loci personis sunt attributi, „aus den Gesichtspunkten, die Personen zukommen.“ Diese handelt er ausführlich im ersten Buch ab, in dem er eine systematische Darstellung der für alle Redegenera konstitutiven Elemente einer Rede gibt (1,20–109). Die attributa sind näherhin Bestandteil der confirmatio. Nach dem von Cicero verwendeten Schema bildet die confirmatio zusammen mit der refutatio die argumentatio.19 Die confirmatio (1,34–77) soll die Glaubwürdigkeit der eigenen Meinung beweisen, während die anschließende refutatio20 (1,78–96) die Nichtigkeit der gegnerischen Meinung dartun soll.21 Die Eigenschaften von Personen können hierbei, analog zu Lob und Tadel im genus demonstrativum, sowohl zur Stärkung der eigenen wie auch zur Schwächung der gegnerischen Position verwendet werden, denn von der refutatio gilt: Haec fonte inventionis eodem utetur quo utitur confirmatio, propterea quod, quibus ex locis aliqua res confirmari potest, isdem potest ex locis infirmari. nihil enim considerandum est in his onmibus inventionibus nisi id quod personis aut negotiis attributum

19

Vgl. die synoptische Tabelle der wichtigsten antiken Schemata bei Lausberg, Handbuch

148f.

20 21

Cicero: reprehensio. Vgl. Lausberg, Handbuch 236 (§ 430).

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est – [sie] bedient sich der nämlichen Quelle der Erfindung wie die Bekräftigung, deswegen, weil eine Sache von denselben Gesichtspunkten aus, von denen aus sie bekräftigt werden kann, auch entkräftet werden kann. Mann muss nämlich nichts anderes in Betracht ziehen bei allen diesen Erfindungen außer dem, was Personen oder zu verhandelnden Geschäften zukommt (1,78).

In 1,34 listet Cicero die einschlägigen attributa auf – es sind: nomen (Name), natura (Natur),22 victus (Lebensweise), fortuna (Schicksal), habitus (persönliche Eigenschaft), affectio (Stimmung), studia (Neigungen), consilia (Absichten), facta (Taten), casus (Zufälle) und orationes (Reden) – und erläutert anschließend (1,35–36) jedes einzelne attributum. Folgendes fällt unter den Oberbegriff der fortuna: In fortuna quaeritur, servus sit an liber, pecuniosus an tenuis, privatus an cum potestate: si cum potestate, iure an iniuria; felix, clarus an contra; quales liberos habeat. ac si de non vivo quaeretur, etiam quali morte sit affectus erit considerandum – Beim Schicksal fragt man, ob jemand ein Sklave oder ein Freier, ob im Besitz von Geld oder ärmlich, ob ein Privatmann oder im Besitz von Amtsgewalt; wenn im Besitz von Amtsgewalt, ob zu Recht oder zu Unrecht; ob glücklich, berühmt oder das Gegenteil; was für Kinder er hat. Und wenn man nach jemandem fragt, der nicht mehr am Leben ist, muss man auch betrachten, was für einen Tod er gestorben ist (1,35).

Die unter der Rubrik fortuna genannten biographischen Merkmale sollen je nach rhetorischer Tendenz für oder gegen die betreffende Person geltend gemacht werden. Hinsichtlich der Todesart (quali morte sit affectus) verlautet wiederum nichts Näheres darüber, in welchen Fällen die individuellen Todesumstände auf eine Person ein gutes oder schlechtes Licht werfen können. Deutlich ist jedoch, dass diese Umstände einer Person genauso als negative bzw. positive Merkmale anhaften können wie Freiheit und Sklavenstand, Reichtum und Armut, rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Machtgebrauch, Erfolg und Ruhm. 2.2.3 Cicero, Partitiones oratoriae 82 Cicero hat die Partitiones oratoriae 46 oder 45 v.Chr., also zu Beginn der Spätphase seines Wirkens verfasst.23 Im dritten Hauptteil dieses Werkes (61–138) gibt Cicero einen Abriss über „die Methoden des Lobens und Tadelns“ (laudandi vituperandique rationes, 70–83), behandelt also die rhetorischen Regeln der Prunkrede (laudatio) und ihres Gegenteils.24 Die Absicht (ratio) der Prunkrede ist stets auf das Vergnügen (voluptas) und die Unter22

Einschließlich der commoda et incommoda [...] ab naturis data animo aut corpori. Bayer, Partitiones 124. 24 Der aristotelischen Dreiteilung entsprechend (vgl. schon 10ff) folgt in 83–97 die Behandlung der Beratungsrede und in 98–138 die der Gerichtsrede; Gliederung nach Bayer, Partitiones 130, deren Übersetzung hier zu Gunde liegt (z.T. mit kleinen Abweichungen). 23

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haltung (delectatio) der Zuhörer gerichtet (72, vgl. schon 11), doch erschöpft sie sich keineswegs im zweckfreien Genuss rhetorischer Darbietung. Die rationes der Lobrede sind nämlich „nicht nur für eine gute Rede wichtig [...], sondern auch für ein anständiges Leben“ (non ad bene dicendum solum, sed etiam ad honeste vivendum valent, 70). Dementsprechend lässt Cicero seinen Dialogpartner nach der Abhandlung von Lob und Tadel feststellen: Accepi ista didicique breviter non solum, quemadmodum laudarem alterum, sed etiam quemadmodum eniterer, ut possem iure ipse laudari – Diesen Vortrag habe ich verstanden und damit in Kurzfassung gelernt, nicht nur, auf welche Weise ich einen anderen loben kann, sondern auch, auf welche Weise ich an mir selbst arbeiten muss, damit ich mit Recht auch selbst gelobt werden kann“ (83)25.

Das heißt: Die rhetorischen Konventionen der Lobrede wirken auf bestimmte gesellschaftliche Verhaltensnormen ein und spiegeln diese zugleich wider.26 Weil die Lobrede nicht mit Argumentation oder dem Beweis von Zweifelhaftem befasst ist, sondern mit dem, „was gesichert ist oder als gesichert gilt“ (ea, quae certa aut pro certis posita sunt, 71), lassen die hier entwickelten Kriterien lobens- und tadelnswerten Verhaltens Rückschlüsse auf geltende soziale Standards zu. Nach Ausführungen über Zweck und Stil der laudatio nimmt Cicero in 74–75 eine Unterteilung des Guten und Bösen wie schon der Auctor ad Herennium in drei Gruppen (genera) vor, nämlich in bona (bzw. mala) externa, corporis und animi. Beispiele für die erste Gruppe sind Herkunft und Vermögen, für die zweite die Schönheit als äußeres Zeichen der Tugend. Dann folgen entgegen der angekündigten Einteilung27 als dritte Gruppe die Taten (facta). Für diese empfiehlt sich eine chronologische, eine auf Aktualität zielende oder aber eine am Klassifizierungsschema der Tugenden (virtutes) orientierte Darstellung. Die Tugend unterteilt Cicero, Aristoteles folgend,28 in scientia (Wissen) und actio (Handeln). Bis 80 schließt sich eine 25

Bei Ciceros Dialogpartner handelt es sich um seinen gleichnamigen Sohn, der zur Zeit der Fertigstellung der Partitiones etwa zwanzig Jahre alt war und sich auf ein Studium in Athen vorbereitete. Der Vater hatte offenbar Grund zur Sorge um den Lerneifer des Sohnes, vgl. Bayer, Partitiones 124. 26 Diesen Zusammenhang expliziert bereits Aristoteles: meta; de; tau`ta levgwmen peri; ajre-

th`~ kai; kakiva~ kai; kalou` kai; aijscrou`: ou|toi ga;r skopoi; tw`æ ejpainou`nti kai; yevgonti: sumbhvsetai ga;r a{ma peri; touvtwn levgonta~ kajkei`na dhlou`n ejx w|n poioiv tine~ uJpolhfqhsovmeqa kata; to; h\qo~ „Danach nun wollen wir über Tugend und Laster, über Schönes und

Hässliches sprechen; dies sind nämlich Gesichtspunkte für den lobenden und tadelnden Redner. Es wird sich nämlich ergeben, dass, wenn wir hierüber reden, auch zugleich jenes klar wird, wodurch wir als Menschen von bestimmter Charakterart beurteilt werden“ (Rhet. 1,9,1/1366a). 27 Nach Bayer, Partitiones 173 geht die Dreiteilung externa/corporis/animi auf einen Glossator zurück. 28 EthNic. 1,13 (Bayer, Partitiones 175).

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Analyse verschiedener Tugenden an, gefolgt von einem kürzeren Passus über die Laster (vitia) in 81. Den Abschluss der Abhandlung zur Prunkrede bildet 82. Hier kommt Cicero nun auch auf die Todesumstände des zu Lobenden (bzw. zu Tadelnden) zu sprechen. Der Abschnitt macht einen recht disparaten Eindruck: Auf die Rekapitulation des Vorangegangenen29 folgt zunächst (a) eine Zusammenfassung der wichtigsten Topoi, wie sie sich „gleichsam im Gesamtzusammenhang einer Rede“ (in toto quasi contextu orationis) darstellen, nämlich Herkunft, Erziehung, Ausbildung und Charakter. Dann schließt Cicero (b) die Bemerkung an, von Bedeutung sei „auch, ob jemandem etwas Großes oder Unglaubliches begegnet ist, vor allem, wenn sich der Anschein ergeben könnte, dies sei durch göttliche Einwirkung geschehen“ (et si quid cui magnum aut incredibile acciderit maximeque si id divinitus accidisse potuerit videri). Es folgt (c) eine weitere Anweisung zum formalen Aufbau einer Charakterdarstellung: Man solle die Meinungen, Äußerungen und Handlungen eines Menschen nach dem zuvor entfalteten Schema der virtutes klassifizieren und sie im Blick auf ihre Ursachen (causae), Ergebnisse (eventus) und Folgen (consequentiae) darstellen. Nun schließt Cicero (d) folgende Bemerkung an: Neque vero mors eorum, quorum vita laudabitur, silentio praeteriri debebit, si modo quid animum advertendum aut in ipso genere mortis aut in iis rebus, quae post mortem erunt consecutae – Aber auch der Tod derer, deren Leben gewürdigt werden soll, darf nicht mit Stillschweigen übergangen werden, wenn ja irgend etwas bemerkenswert ist entweder an der Todesart selbst oder an den Vorgängen, die nach dem Tod eintraten (82).

Der Tod des zu Lobenden müsse, so Cicero, dann zur Sprache kommen, wenn an der Art des Todes (genus mortis) oder an den Ereignissen nach dem Tod etwas bemerkenswert sei. Worin dieses Bemerkenswerte bestehen könnte und inwiefern es etwas über den zu Lobenden aussagt, sagt Cicero auch an dieser Stelle nicht. Im Hintergrund steht möglicherweise allgemein die Vorstellung, dass die bei Lebzeiten unter Beweis gestellten Tugenden in der Situation des Todes einer letzten Bewährungsprobe unterzogen werden, und dass den Todesumständen deshalb besondere Aussagekraft zukommt. Im Blick ist wohl auch konkret der Heldentod auf dem Schlachtfeld, der dem Verstorbenen in besonderem Maße zur Ehre gereicht. Die „Vorgänge nach dem Tod“ sind möglicherweise Nachwirkungen der Taten des Verstorbenen – dann wäre ein gewisser sachlicher Anschluss an Teil (c) gegeben, sofern es dort auch um die consequentiae der zu lobenden virtutes geht – oder Ehren29 Quamobrem omnis vis laudandi et vituperandi ex his sumetur virtutum vitiorumque partibus, „Man wird also die volle Wirksamkeit von Lob und Tadel aus dieser Einteilung der Tugenden und Laster gewinnen können.“

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bezeugungen durch aufwändige Begräbnisfeiern etc. Jedenfalls sind, wenn ein Verstorbener Gegenstand der Prunkrede ist, auch die Umstände seines Todes Gegenstand des Lobes oder des Tadels. 2.2.4 Quintilian, Institutio oratoria 3,7,17–18.20–21 Die Institutio oratoria des berühmten römischen Rhetoriklehrers und Prinzenerziehers Quintilian30 ist in den Jahren 92–94 n.Chr. im Rückblick auf zwei Jahrzehnte Lehrtätigkeit entstanden und repräsentiert die römische Rhetorik des ausgehenden 1. Jh. auf der Höhe ihrer Zeit. Anders als die Herennius-Rhetorik und die genannten Werke Ciceros beschränkt sich Quintilian in seiner Institutio nicht auf einen kompendienartigen Aufriss des rhetorischen Systems. Vielmehr handelt es sich um einen Kursus, der die Redekunst nicht nur systematisch darstellen, sondern auch zu ihrem rechten Gebrauch anleiten will. Mit dem rhetorischen verbindet sich außerdem ein pädagogisches Programm mit einem hohen moralischen Anspruch: Quintilian entwirft den orator, einer Definition des Cato Censorius folgend, als vir bonus dicendi peritus.31 Auch bei Quintilian hat der Rekurs auf den Tod einer Person im genus demonstrativum, das er im siebenten Kapitel des dritten Buches behandelt,32 seinen festen Platz. Nach Überlegungen zur Relevanz auch der epideiktischen Rede für die Aufgaben des öffentlichen Lebens und der daraus sich ergebenden gelegentlichen Anreicherung der Lobrede mit Elementen der beiden anderen Redegenera (3,7,1–6) folgt eine kurze Abhandlung über das Lob von Göttern (3,7,7–9). Ebenso knapp fallen am Schluss des Kapitels die Ausführungen über das Lob von Städten, Bauten, Landschaften etc. aus (3,7,26–28). Ausführlich kommt dagegen in 3,7,10–25 das Lob von Menschen (laus hominum) zur Sprache. Quintilian empfiehlt zunächst, das Lob von Personen nach Zeitabschnitten zu untergliedern: quodque ante eos fuit quoque ipsi vixerunt, in iis autem, qui fato sunt functi, etiam quod est insecutum, „die Zeit, die ihnen vorausging, und die, in der sie selbst lebten; bei denen, die ihr Schicksal erfüllt haben, auch noch die Zeit, die auf sie gefolgt ist“ (3,7,10). Auch das „Nachleben“ eines Menschen spielt also für die Lobrede eine Rolle, ebenso seine Herkunft. Zu dieser zählen patria ac parentes maioresque, „Vaterland, Eltern und Vorfahren“, aber auch Orakel über eine 30 Er wurde um 40 n.Chr. im spanischen Calagurris geboren, erhielt dort 57 seine Ausbildung, lebte ab 68 ständig in Rom, nahm 71 eine besoldete Lehrtätigkeit auf und wurde 92 Erzieher der Großneffen Domitians (Kennedy, Quintilian 143 Anm. 26). 31 Vgl. 1 prooem. 9 Oratorem autem instituimus illum perfectum, qui esse nisi vir bonus non potest, ideoque non dicendi modo eximiam in eo facultatem, sed omnes animi virtutes exigimus und 12,1,1 Sit ergo nobis orator, quem constituimus et qui a M. Catone finitur, ‚vir bonus dicendi peritus‘, verum, id quod et ille posuit prius et ipsa natura potius ac maius est, utique vir bonus. 32 In Kapitel 8 folgt die Beratungs- und in den Kapiteln 9–11 die Gerichtsrede.

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ruhmvolle Zukunft deuten. Für die Lebenszeit des zu Lobenden legt Quintilian die bekannten Kategorien laus [...] ex animo et corpore et extra positis (in der Herennius-Rhetorik die res externa) als Untergliederung zu Grunde (3,7,12–16), wobei der laus ex animo als der vera laus (3,7,15) wie schon in der Herennius-Rhetorik eine Schlüsselstellung zukommt. Über das tempus, quod finem hominis insequitur lässt sich, so Quintilian, nicht immer etwas sagen, non solum, quod viventes aliquando laudamus, sed quod rara haec occasio est, ut referri possint divini honores et decreta et publice stauae constitutae – nicht nur, weil wir manchmal Lebende loben, sondern weil sich die Gelegenheit selten bietet, auf göttliche Ehrungen und Beschlüsse und von Staats wegen errichtete Standbilder Bezug zu nehmen (3,7,17).

Hier wird nun erstmals inhaltlich gefüllt, was in den älteren Lehrwerken (adHer. 3,14: cuiusmodi res mortem eius sit consecuta; Cicero, Part. 3,82: res, quae post mortem erunt consecutae) nur konstatiert wurde: Bei den auf den Tod eines Menschen folgenden Ereignissen handelt es sich beispielsweise um Ehrungen, die dem Verstorbenen von Seiten der Götter oder des Staates zuteil werden. Hierunter fallen außerdem die monumenta ingeniorum, d.h. Leistungen und Errungenschaften eines Menschen, die ihn überdauern: Städte erwirken ihren Gründern Nachruhm, Gesetze den Gesetzgebern, Künste ihren Erfindern, etc. (3,7,18).33 Anschließend notiert Qunitilian, dass die bisherigen Ausführungen zur Lobrede mit umgekehrter Tendenz auch auf den Tadel anwendbar sind: Qui omnis etiam in vituperatione ordo constabit, tantum in diversum, „Diese ganze Anordnung wird auch beim Tadel gelten, nur im entgegengesetzten Sinn“ (3,7,19). Es folgen Beispiele aus allen drei in 3,7,10 genannte Zeitabschnitten: schlechte familiäre Herkunft oder aber umgekehrt eine des eigenen guten Namens unwürdige und deshalb um so verwerflichere Lasterhaftigkeit, sodann negative körperliche und geistig-seelische Eigenschaften und Lebensumstände, oder aber positive, die missbraucht werden, und schließlich Tadelnswertes, das sich auf die Zeit nach dem Tod bezieht, denn et post mortem adiecta quibusdam ignominia est, „[m]anchen hat sich auch nach dem Tod noch neue Schande ergeben“ (3,7,20), wie Quintilian an einigen Beispielen illustriert. In 3,7,22–25 folgen Überlegungen zum Höherbezug der Lobrede. Ein Rhetor hat darauf zu achten, dass das, was er an einer Person als lobenswert 33 Schon bei Aristoteles hat der Nachruhm eines Menschen in der epideiktischen Rede (Rhet. 1,9,18/1367a) einen festen Platz: kai; o{sa teqnew`ti ejndevcetai uJpavrcein ma`llon h] zw`nti: to; ga;r auJtou` e{neka ma`llon e[cei ta; zw`nti, „Ferner ist ehrenvoll dasjenige, was uns eher nach dem Tode als zu Lebzeiten zukommen kann; denn das, was einem bei Lebzeiten zukommt, erweist sich eher als Eigennutz.“

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hervorhebt, auch zu den Idealen seiner Adressaten passt. Das Lob der Wissenschaft etwa ist in Sparta genauso wenig wirkungsvoll wie das Lob von Ausdauer und Tapferkeit in Athen. Der Redner kann das von ihm entworfene Charakterbild den Hörererwartungen dadurch anpassen, dass er sich die schon von Aristoteles beobachtete „Nachbarschaft zwischen Tugenden und Lastern“ (virtutibus ac vitiis vicinitas; 3,7,25) zunutze macht. Es steht ihm frei, jemanden als leichtsinnig oder tapfer, als verschwenderisch oder großzügig, als geizig oder sparsam zu bezeichnen.34 Entsprechend groß ist der Spielraum des Rhetors auch bei der Darstellung der Lebensumstände, wenngleich Quintilian das an dieser Stelle nicht ausdrücklich sagt. Auch das Nachleben einer Person, ob ruhmreich oder nicht, kann für oder gegen sie verwendet werden.35 Quintilian zählt zu den Themenfeldern der epideiktischen Rede zwar das Nachleben einer Person, anders jedoch als der Auctor ad Herennium und Cicero36 nicht die Todesumstände. Dagegen zählt sein Zeitgenosse Theon von Alexandria (II.2.3.1) einen glücklichen Tod (eujqanasiva) zu den im Enkomion zu behandelnden Topoi. 2.3 Progymnasmata Das Curriculum des antiken Unterrichts sah für den Übergang von der Ausbildung durch den grammaticus zum höheren rhetorischen Unterricht37 „Vorübungen“ (progumnavsmata, praeexercitamenta) vor,38 die den Schüler 34 An dieser Stelle flicht Quintilian eine Nebenbemerkung über das hohe Ethos des Redners ein, das ihm einen derart manipulativen Gebrauch seiner Redekunst untersagt oder doch nur unter einem bestimmten Vorbehalt gestattet: quod quidem orator, id est vir bonus, numquam faciet, nisi forte communi utilitate ducetur, „Dies wird ein Redner, das heißt ein Ehrenmann, niemals tun – es sei denn vielleicht, er ließe sich dabei durch den Nutzen für die Gemeinschaft leiten!“ (3,7,25). Der Zwiespalt zwischen dem ethischen Anspruch, den Quintilian mit der Ausübung der Redekunst verbindet, und dem amoralischen Pragmatismus einer stets im Sinne der Parteiinteressen funktionierenden Rhetorik, wie er seit Platons Polemik gegen Gorgias immer wieder kritisiert wurde, könnte nicht krasser formuliert werden. Selbstredend gewährleistet das angebliche ethische Kriterium der communis utilitas nicht eine moralisch verantwortbare Anwendung rhetorischer Techniken, denn worin das gemeinschaftliche Interesse bestehen soll, ist gemeinhin eine Definitionsfrage. 35 Bereits die Herennius-Rhetorik enthält, wie wir sahen, detaillierte Anweisungen zu einer dem jeweiligen Aussageinteresse untergeordneten Darstellung der res externa; s.o. unter II.2.2.1 zu AdHer. 3,13–14. 36 AdHer. 3,14: cuiusmodi mors eius fuerit; Inv. 1,36: quali morte sit affectus; Part. 3,82: si modo quid animum advertendum [...] in ipso genere mortis. 37 Vgl. Quintilian, Inst. 2,2,1: „Wenn also der Knabe mit seinen Kräften in den Studien soweit ist, dass er geistig dem folgen kann, was, wie wir gesagt haben, die ersten Lehren der Rhetorik bildet, soll er den Lehrern dieser Kunst übergeben werden.“ 38 Marrou, Erziehung 252; Bonner, Education 250–276; Stegemann, Theon 2040–2048.

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für das anspruchsvollere Studium der Rhetorik zurüsten sollten. Es handelte sich um einen genau festgelegten Kursus, in dem der Schüler zu verschiedenen Textgattungen der drei Redegenera in steigendem Schwierigkeitsgrad Übungsbeispiele anzufertigen hatte.39 Der älteste Beleg für den Terminus progumnavsmata in RhetAlex. 1436a steht zwar im Verdacht, sekundär zu sein,40 doch dürfte die so bezeichnete Lehrpraxis mindestens in das 2. Jh. v.Chr. zurückgehen, denn die Herennius-Rhetorik und Cicero setzen sie bereits voraus.41 An Lehrbüchern unter dem Titel Progymnasmata sind Werke unter den Namen von vier Autoren erhalten: Theon von Alexandria, Hermogenes von Tarsus, Aphthonios von Antiocheia und Nikolaos von Myra. Die Werke des Aphthonios und des Nikolaos sind spät (4./5. Jh. n.Chr.); wir beschränken uns deshalb auf die beiden Erstgenannten. 2.3.1 Theon von Alexandria Die Progymnasmata des Aelius Theon von Alexandria sind das älteste erhaltene Werk dieser Gattung, doch erwähnt der Verfasser eingangs, dass er an ältere Werke anknüpft.42 Die Suda nennt ihn Qevwn ÆAlexandreuv~, sofisthv~, o}~ ejcrhmavtisen Ai[lio~. Außer seinen Progymnasmata verzeichnet die Suda noch weitere rhetorische Werke, die jedoch sämtlich verloren sind. Da der von Quintilian erwähnte „Stoiker Theon“ (Inst. 9,3,76) aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Alexandriner Theon der Suda identisch ist, datiert man seine Progymnasmata heute zumeist nicht später als in die 2. Hälfte des 1. Jh. n.Chr.43 Das Werk ist in seiner heutigen Form unvollständig und nicht in der ursprünglichen Reihenfolge seiner Teile überliefert. Wahrscheinlich hat ein Redaktor Kürzungen und Umstellungen vorgenommen, um die Progymnasmata Theons denen des Hermogenes und des Apthonius anzugleichen. In seiner ursprünglichen Form umfasste die Schrift nach der bei Stegemann gebotenen Rekonstruktion nach zwei einleitenden Kapiteln 15 Teile in zwei Hauptteilen. Der erste enthält Übungsbeispiele für die drei Redegenera,44 39

Vgl. Quintilian, Inst. 1,9,1–6. Möglicherweise ist für progumnavsmata in der Phrase a]n ejqivswmen hJma`~ aujtou;~ kai; gumnavswmen ajnalambavnein aujta;~ kata; ta; progumnavsmata ursprünglich prostavgmata zu lesen (Stegemann, Theon 2048). 41 Stegemann, Theon 2048. 42 Vgl. Prog. 1,15f oujc wJ~ oujci; kai; a[llwn tinw`n suggegrafovtwn peri; touvtwn und Prog. 1,18f ouj ga;r movnon toi`~ h[dh paradedomevnoi~ gumnavsmasin e{tera a[tta ejpexeuvromen (Zählung hier und nachfolgend nach Butts, Progymnasmata). 43 Die älteren Datierungsvorschläge für dieses Werk, die zwischen der augusteischen Zeit und dem Beginn des 6. Jh. n.Chr. schwanken, referiert Stegemann, Theon 2037f. 44 Dem symbuleutischen Genus zugeordnet sind als die leichtesten Übungen: (1) creiva, (2) mu`qo~ und (3) dihvghma; dann schließen in höherem Schwierigkeitsgrad die Übungen zur epideiktischen Rede an, nämlich (4) tovpo~, (5) e[kfrasi~, (6) proswpopoiiva, (7) ejgkwvmion kai; yovgo~ 40

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der verlorene zweite Hauptteil schloss mit fünf Lektionen über formale Übungen an.45 Der oben bereits erwähnte Begriff eujqanasiva findet sich nach der ursprünglichen Reihenfolge im 7. Teil, dem jetzigen 9. Kapitel, das Lob und Tadel (ejgkwvmion kai; yovgo~) behandelt. Theon unterscheidet zwischen dem ejgkwvmion im engeren Sinne, das sich auf Lebende bezieht, dem ejpitavfio~, wenn Verstorbene gelobt werden, und dem u{mno~, wenn Götter Gegenstand der Lobrede sind (9,4–6a). Diese Unterscheidung, die bei Theon zum ersten Mal begegnet,46 relativiert der Verfasser allerdings sogleich mit der Bemerkung, dass in allen Fällen die Kompositionsmethode ein und dieselbe ist:

ajllÆ ei[te zw`nta~, ei[te teleuthvsanta~, h] kai; h{rwa~ kai; qeouv~ ti~ ejgkwmiavzoi, miva kai; hJ aujthv ejsti tw`n lovgwn e[fodo~ (Prog. 9,6b–8). Außerdem ist bei der nachfolgenden systematischen Darbietung des Stoffs das Lob von Göttern gar nicht berücksichtigt und das Lob von Lebenden und Toten nicht klar gegeneinander abgegrenzt. Für die Gliederung des Stoffs legt Theon die traditionelle Dreiteilung in ajgaqa; peri; yuchvn, ajgaqa; peri; sw`ma und ta; e[xwqen ajgaqav zu Grunde.47 Zu den e[xwqen ajgaqav zählen folgende Topoi: Die vornehme Abstammung (eujgevneia) wird qualifiziert (a) durch die Stadt, aus der man kommt (povli~), das Volk, dem man angehört (e[qno~) und die Regierung, unter der man aufgewachsen ist (politeiva), und (b) durch die Eltern (gonei`~) und die übrige Verwandtschaft (a[lloi oijkeivoi). Dann folgen in chronologischer Ordnung Erziehung (paideiva), Freundschaft (filiva), Ehre (dovxa), Macht (ajrchv), Reichtum (plou`to~), Kinderreichtum (eujtekniva) und schließlich eujqanasiva. Unter den Topos filiva fällt, ob und in welcher Zahl der Betreffende einflussreiche und angesehene Persönlichkeiten zum Kreis seiner Freunde zählen kann. Mit ajrchv dürften konkret öffentliche Ämter bzw. der Einfluss im öffentlichen Leben gemeint sein.48 Diese und die übrigen Topoi stellen das Sozialprestige der zu lobenden Person unter Beweis. Inwiefern gilt dies auch für den Topos eujqanasiva? Der Begriff steht für einen guten Tod (a) im Sinne eines leichten oder aber (b) eines würdigen bzw. ehrenvollen Sterbens. Ist der Tod leicht, wird dies gern der Gunst der Götter zugeschrieben, ist er ehrenvoll, dem Charakter des Verstorbenen. In der erstgenannten Bedeutung ist eujqanasiva der Beweis dafür, dass der Betreffende nicht nur bei Menschen, sondern auch bei den Göttern angeseund (8) suvgkrisi~, und schließlich folgen die Übungen zur Gerichtsrede: (9) qevsi~ und (10) novmo~ (nur teilweise erhalten). 45 Nämlich (11) ajnavgnwsi~, (12) ajkrovasi~, (13) paravfrasi~, (14) ejxergasiva und (15) ajntivrrhsi~. 46 Spätere Belege bei Butts, Progymnasmata 480 Anm. 4. 47 Vgl. Anm. 18. 48 Butts, Progymnasmata 480 Anm. 4.

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hen war. In letzterer Bedeutung meint eujqanasiva, ein Sterben katÆ ajrethvn.49 (a) Nach Marc Aurel (Med. 10,36) geschieht der Tod „bei einem sanft Sterbenden“ (ejpi; tou` eujqanatou`nto~) dergestalt, dass „sich die Seele dem Leib mühelos entwindet“ (eujkovlw~ to; yucavrion ajpo; tou` swvmato~ ejxeilei`tai). Poseidipp von Kassandreia (1. Hälfte 3. Jh. v.Chr.) urteilt, man könne „von den Dingen, die der Mensch von den Göttern zu erlangen bittet, nichts besseres bitten als den sanften Tod“ (w|n toi`~ qeoi`~ a[nqrwpo~ eu[cetai tucei`n th`~ eujqanasiva~ krei`tton oujde;n eu[cetai, Frgm. 18). Ebenso steht für Philo fest, o{ti eujghriva kai; eujqanasiva mevgista tw`n ajnqrwpeivwn ajgaqw`n ejstin, „dass ein glückliches Alter und ein sanfter Tod die höchsten menschlichen Güter sind“ (Sacr. 100).50 Wem ein solcher Tod zuteil wird, hängt indes nicht oder jedenfalls nicht nur von biologischen Zufällen ab. Einen sanften Tod sterben nur integere Charaktere, und wenn es anders ist, ist es eine Ungerechtigkeit des Schicksals oder der Götter. Polybios berichtet von dem Aitoler Lykiskos Stratios, dass er, obwohl er „ein durch und durch schlechter Mensch war (kavkisto~ w[n), sein Leben auf eine gute Weise beendete (kalw`~ katevstreye to;n bivon).“ Polybios kommentiert dies mit folgender Bemerkung: w{ste tou;~ pleivstou~ eijkovtw~

ojneidivzein th`æ tuvchæ diovti to; tw`n ajgaqw`n ajndrw`n a\qlon th;n eujqanasivan toi`~ ceirivstoi~ ejnivote peritivqhsin, „Daher schelten die meisten auf

die Tyche, dass sie den Siegespreis, der den guten Männern vorbehalten bleiben sollte, einen schönen Tod, manchmal auch den größten Bösewichtern verleiht“ (Hist. 32,19). Die Regel, dass ein sanfter Tod nur aufrechten Menschen zusteht, berücksichtigt auch Vettius Valens, ein Astrologe des 2. Jh. n.Chr. Von Menschen, die im Sternbild des Stieres geboren wurden, gilt (Anth. 126,25–31): ou|toi eujqanatou`sin ejk trofh`~ h] plhqwvra~ h] oi[nou

h] sunousiva~ h] ajpoplhxiva~ ajpokoimhqevnte~ h] ejkluqevnte~ mhdemia`~ aijtiva~ kakwtikh`~ parempesouvsh~, „Diese sterben einen sanften Tod, in-

dem sie aufgrund ihrer Ernährung entschlafen oder weil sich ihre Zeit erfüllt hat oder nach dem Genuss von Wein oder in schöner Gesellschaft oder durch einen Gehirnschlag, oder sie erschlaffen, ohne dass sie irgendeine Verletzung erleiden.“ Es gibt allerdings zwei Ausnahmen: Wenn die körperliche Verfassung eines Menschen für jedermann sichtbar eine andere Todesursache erwarten lässt, oder wenn es sich um einen Übeltäter handelt (ejkto;~ eij mh; kakopoio;~ ejpwvn). In letzterem Fall wirkt sich die ethische Verantwortlichkeit des Menschen stärker aus als der astrologische Determinismus, und es wird nichts mit dem sanften Sterben. Nun wird klar, warum 49 50

S.u. zu Chrysipp, FrgmMor. 601,33–37. Vgl. auch Clemens von Alexandien, Strom. 5,11,68 wJ~ muriva o{sa dedwvrhtai hJmi`n oJ qe-

ov~, w|n aujto;~ ajmevtoco~, gevnesin me;n ajgevnhto~ w[n, trofh;n de; ajnendeh;~ w[n, kai; au[xhsin ejn ijsovthti w[n, eujghrivan te kai; eujqanasivan ajqavnatov~ te kai; ajghvrw~ uJpavrcwn.

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Theon die eujqanasiva zu den Topoi des Enkomions zählt: Ist jemand einen solchen Tod gestorben, lässt sich zumindest mit der Beweiskraft eines Wahrscheinlichkeitsurteils behaupten, er sei eine integere Persönlichkeit gewesen.51 (b) Die Bedeutung der eujqanasiva für die Lobrede liegt klarer zu Tage, wenn der Begriff im Sinne nicht eines leichten, sondern eines würdigen Sterbens aufgefasst wird. Nach Chrysipp ist eujghrei`n und eujqanatei`n Ausdruck der ajrethv: eujghrei`n te movnon kai; eujqanatei`n to;n spoudai`on: eujghrei`n ga;r ei\nai to; meta; poiou` ghvrw~ diexavgein katÆ ajrethvn, eujqanatei`n de; to; meta; poiou` qanavtou katÆ ajreth;n teleuta`n – Ein gutes Alter zu haben und gut zu sterben ist allein Sache des Vortrefflichen. Ein gutes Alter zu haben heißt nämlich, das Greisenalter mit Seelengröße zuzubringen, und gut zu sterben heißt, seinen Tod mit Seelengröße zu sterben“ (FrgmMor. 601,33–37).

Hier ist eujqanasiva nicht ein Geschenk der Götter oder ein Widerfahrnis des Schicksals, sondern der Erweis eines vortrefflichen Charakters. Unter dieser Voraussetzung kann von eujqanasiva auch dann die Rede sein, wenn der Tod mit Schmerzen und Qualen verbunden war, dann nämlich, wenn der Verstorbene einen qualvollen Tod tapfer und würdig durchgestanden hat. Dies ist wichtig für Grabreden über einen Menschen, der einen schweren Tod hatte,52 spielt aber auch eine Rolle bei der Bewertung des Freitodes in auswegloser Lage: Polybios schildert in Hist. 5,38f das Ende des Spartanerkönigs Kleomenes. Als ihm Ptolemaios IV. das von seinem Vorgänger Ptolemaios III. gewährte Asyl verweigert und ihn statt dessen unter Hausarrest stellt, unternimmt er einen Ausbruchsversuch, der jedoch misslingt und mit dem Freitod des Königs und seiner Getreuen endet. Polybios kommentiert dieses Geschehen folgendermaßen: In dieser Lage und voll schlimmster Erwartungen für das, was ihm bevorstand, entschloss er sich, das Äußerste zu wagen, nicht als ob er auf ein Gelingen gehofft hätte – denn die Aussichten waren in der Tat gering – vielmehr wünschte er, einen ehrenvollen Tod zu finden (eujqanath`sai spoudavzwn) und nicht erdulden zu müssen, was seiner und seiner tapferen Taten unwürdig wäre (mhde;n ajnavxion uJpomei`nai th`~ peri; aujto;n progegenhmevnh~ tovlmh~).

Kleomenes stirbt dadurch, dass er dem Zugriff der Feinde durch den Freitod zuvorkommt, zwar nicht sanft, aber doch unter Wahrung seiner Ehre. Dies 51 Steht ein Redner dagegen vor der Aufgabe nachzuweisen, ein so Verstorbener sei ein schlechter Charakter gewesen, hat er mit jenem Lykiskos ein historisches exemplum zur Hand, das besagte Gesetzmäßigkeit zwar nicht außer Kraft setzt, das aber doch glaubhaft macht, dass es stets auch Ausnahmen gegeben hat und gibt. Valerius Maximus hat hierzu ganze Exemplareihen für den rhetorischen Gebrauch zusammengestellt, s.u. unter II.2.5.1. 52 S.u. S. 70.

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zeichnet ihn als hervorragenden Charakter aus und fügt sich in die weitere, durchweg positive Beschreibung, die Polybios von diesem Herrscher gibt.53 Von einer so verstandenen eujqanasiva kann schließlich auch in martyrologischen Zusammenhängen die Rede sein.54 2.3.2 PsHermogenes Von Theon abhängig sind die dem Rhetor Hermogenes von Tarsus zugeschriebenen Progymnasmata. Sie stammen nach einhelliger moderner Auffassung nicht von Hermogenes (ca. 160–230 n.Chr.), jedoch aus der Zeit.55 Bei PsHermogenes steht das Enkomion wie in der redigierten Fassung der Progymnasmata Theons56 an siebter Stelle im Kursus der rhetorischen Vorübungen. Der Verfasser unterscheidet zwischen ejgkwvmion und e[paino~, sieht den Unterschied jedoch nur in der Länge des Vortrags: das Enkomion hat in der Regel einen größeren Umfang. Die Verwandtschaft von Lob und Tadel wird wie bei Theon damit begründet, dass beide Formen der Rede mit denselben Topoi arbeiten (toi`~ aujtoi`~ tovpoi~ ajmfovtera proavgetai), ausserdem damit, dass das Tadel auch in euphemistischer Rede (katÆ eujfhmismovn) erfolgen kann. Bei der Gliederung der Topoi des Enkomions (tovpoi ejgkwmiastikoiv) hält sich PsHermogenes nur teilweise an das traditionelle Dreierschema. Von den e[xwqen ajgaqav nennt er zunächst e[qno~, povli~, gevno~, trofhv und ajgwghv. Hierzu gehören auch besondere Ereignisse im Zusammenhang der Geburt (peri; th;n gevnesin), etwa Traumbilder oder Wunderzeichen. Dann folgen die Topoi zur fuvsi~ yuch`~ kai; swvmato~: peri; me;n swvmato~, o{ti

kalov~, o{ti mevga~, o{ti tacuv~, o{ti ijscurov~, peri; de; yuch`~, o{ti divkaio~, o{ti swvfrwn, o{ti sofov~, o{ti ajndrei`o~. Daran schließen an die Lebensgewohnheiten (ejpithdeuvmata) und die Taten (pravxei~), gefolgt von Topoi, die traditionell wie die zu Anfang genannten zu den e[xwqen ajgaqav (res externa) gehören, vom Verfasser ta;; ejktov~ genannt: oi|on suggenei`~, fivloi, kthvmata, oijkevtai, tuvch kai; ta; toiau`ta. Dann geht der Verfasser bemer-

kenswert ausführlich auf Todesumstände und Nachleben des zu Lobenden ein: e[ti de; kai; ajpo; tou` trovpou th`~ teleuth`~ (ejpainevsei~), o{pw~ ajpevqanen uJpe;r th`~ patrivdo~ macovmeno~: kai; ei[ ti paravdoxon ejntau`qa, wJ~ ejpi; tou` Kallimavcou, o{ti kai; nekro;~ eiJsthvkei: kai; ajpo; tou` ajpokteivnanto~ aujto;n ejpainevsei~, oi|on o{ti ÆAcilleu;~ uJpo; qeou` ajpevqane tou` ÆApovllwno~. ejxetavsei~ de; kai; ta; meta; th;n teleuthvn, eij ajgw`ne~ ejtevqhsan ejpÆ aujtw`æ, wJ~ ejpi; Patrovklwó, eij 53 Vgl. bes. das Resümee in 5,39: „So endete Kleomenes, ein Mann, gewandt im persönlichen Umgang, hochbegabt als Regent und Feldherr, ein geborener Führer und König.“ 54 S.u. S. 214 unter II.8. 55 Weißenberger, Hermogenes 445. 56 S.o. S. 58 mit Anm. 44.

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crhsmov~ ti~ peri; tw`n ojstevwn, wJ~ ejpi; ÆOrevstou, eij oiJ pai`de~ e[ndoxoi, wJ~ oJ Neoptovlemo~. – Sodann (wirst du ihn) auch hinsichtlich der Weise seines Todes (loben), etwa dass er für das Vaterland kämpfend gestorben ist, und wenn daran etwas seltsam war wie bei Kallimachos, dass er noch als Toter stand. Auch hinsichtlich dessen, der ihn getötet hat, sollst du lobend reden, etwa dass Achilles von der Hand des Gottes Apollo gestorben ist. Erkunden sollst du auch die Ereignisse nach dem Tod, ob Spiele zu seinen Ehren veranstaltet wurden wie bei Patroklos, ob es ein Orakelwort über seine Gebeine gibt wie bei Orest, ob seine Kinder berühmt wurden wie bei Neoptolemos (Prog. 7,43–51).

An der „Weise des Todes“ (trovpo~ th`~ teleuth`~) zeigen sich zunächst einmal positive Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit, etc., klassisch im Falle des Heldentodes in der Schlacht. Das Ansehen einer Person kommt sodann augenfällig in Ehrungen zum Ausdruck, die man dem Verstorbenen nach seinem Ableben (meta; th;n teleuthvn) zuteil werden lässt; der Verfasser nennt Spiele (ajgw`ne~) als Beispiel. Die Todesumstände sind für die Lobrede aber vor allem deshalb interessant, weil die zu würdigende Biographie von ihrem allerletzten Lebensabschnitt her in den Wirkungsbereich des Numinosen und Wunderbaren gerät. Der Rhetor soll es nicht versäumen, auch und gerade diese Bedeutungsebene im Enkomion zur Sprache zu bringen. Die Umstände der Geburt (peri; th;n gevnesin) und des Todes (th`~ teleuth`~) sind komplementäre Zeitabschnitte, die dem Rhetor die Sphäre des Schicksalhaften und Göttlichen als Themenfeld der Lobrede erschließen und von daher letztgültige Urteile über eine Person ermöglichen. 2.4 Grabreden Die Gleichbehandlung des Enkomions auf Verstorbene und des ejpitavfio~, wie sie bei Theon von Alexandria vorliegt,57 trägt dem Umstand Rechung, dass die Rede am Grab bei weitem nicht die einzige Situation war, in der der antike Rhetor vor der Aufgabe stand, die Enkomientopoi auf einen Verstorbenen anzuwenden. Schon innerhalb des epideiktischen Genus ist die Leichenrede nur ein möglicher Anwendungsfall für die Lobrede auf Verstorbene. So ist etwa die bekannte Rede des Isokrates auf Euagoras, den berühmten Herrscher von Salamis, nach dessen Tod verfasst, sie ist aber reine Lobrede, kein ejpitavfio~.58 Ohne jeden Bezug zur Situation des Begräbnisses will die Rede den Verstorbenen würdigen und ihn dessen Sohn Nikokles als moralisches Vorbild anempfehlen.59 Darüber hinaus gilt für 57

S.o. S. 59. Ein kaqaro;n ejgkwvmion in der Definition des Rhetors Menander (s.u. S. 72): oujkou`n oJ meta; crovnon polu;n legovmeno~ ejpitavfio~ kaqarovn ejstin ejgkwvmion, wJ~ ÆIsokravtou~ oJ Eujagovra~. 59 Soffel, Leichenrede 24; Frickenschmidt, Evangelium 108f. 58

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Lob (und Tadel) von Verstorbenen, was für das Enkomion überhaupt gilt, dass es nämlich nicht nur im epideiktischen, sondern auch im symbuleutischen und dikanischen Genus zur Anwendung kommt. Ein anschauliches Beispiel ist eine der beiden erhaltenen Deklamationen des Rhetors Polemon aus Laodikeia (II.2.4.1.3). Eine von Theon abweichende Verhältnisbestimmung von Enkomion (auf Verstorbene) und ejpitavfio~ gibt die Theorie der Leichenrede vor, wie sie uns bei PsDionysios (II.2.4.2.1) und dem Rhetor Menander (II.2.4.2.2) vorliegt. Hier ist das Enkomion nur einer von drei bzw. vier Teilen der Grabrede. Wir untersuchen nun drei Reden des 1. und 2. Jh. n.Chr. (II.2.4.1) und zwei Schriften des 3. Jh. n.Chr. zur Theorie des nachklassischen Ephtaphios (II.2.4.2). 2.4.1 Nachklassische Epitaphien Uns interessiert im vorliegenden Zusammenhang die nachklassische Leichenrede, deren frühester Beleg die 29. Rede des Dio Chrysostomus ist. Im klassischen Griechenland kannte man zunächst nur die öffentliche Rede auf die Gefallenen eines Kriegsjahres. Eine solche Grabrede (ejpitavfio~ lovgo~) war notwendigerweise überindividuell und unbiographisch.60 Ihre Bestandteile waren Lob (ejgkwvmion, e[paino~), Aufforderung (lovgo~ protreptikov~) und Trost (lovgo~ paramuqhtikov~).61 In Rom hatte die individuelle Grabrede (laudatio funebris) dagegen eine lange Tradition, die hinter die des griechischen öffentlichen ejpitavfio~ zurückreichen dürfte.62 In nachklassischer Zeit setzte sich auch im griechischen Kulturraum die individuelle Grabrede auf einen einzelnen Verstorbenen durch. Der klassische Epitaphios war nach dem Verlust der politischen Unabhängigkeit Athens und Griechenlands schließlich nur noch als Übungsstoff im rhetorischen Unterricht von Belang, nämlich als Thema für Deklamationen.63 Bei der nachklassischen griechischen Leichenrede tritt zu den drei traditionellen Redeteilen als möglicher weiterer Teil die Klage (qrh`no~) hinzu. Der Trost wird um das Element der Seligpreisung (makarismov~) erweitert. 2.4.1.1 Dio Chrysostomus, Oratio 29 Die älteste erhaltene Grabrede des nachklassischen Typs ist die 29. Rede des Dio Chrysostomus (um 40 – 120 n.Chr.). Sie ist dem Athleten Melan60

Das Folgende nach Soffel, Leichenrede passim, und Hagenbichler, Epitaph. Von den klassischen ejpitavfioi lovgoi sind fünf erhalten, darunter die Rede des Perikles auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahres im Peloponnesischen Krieg (Thukydides, Hist. 2,35–36) und Platons Menexenos; vgl. Soffel, Leichenrede 7 und ausführlich Kennedy, Persuasion 154– 166. 62 Vgl. Polybios, Hist. 6,53f; Dionysios von Halikarnass, Antiq. 5,17; Plutarch, Publ. 9; Cicero, Orat. 2,341; Quintilian, Inst. 3,7,2. 63 S.u. zu Polemon von Laodikeia. 61

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komas gewidmet, der in der Blüte seines Lebens unerwartet gestorben ist.64 Nach einer Einleitung (1f) folgen Lob (2–16), Seligpreisung (16–20) und Ermahnung (21f). Die Seligpreisung übernimmt die Funktion des Trostteils im Aufriss des klassischen Epitaphios. Die Klage lehnt Dio ausdrücklich ab. Nicht mit Tränen, sondern mit ehrendem Andenken solle man den Verstorbenen würdigen. Deshalb fehlt der nachklassisch mögliche Klageteil. Im Lobteil wendet der Verfasser die traditionellen Enkomientopoi an (kavllo~ tou` swvmato~, eujfuiva th`~ yuch`~), um dann im Rahmen des lovgo~ paramuqhtikov~ die Umstände des Todes, näherhin den verfrühten Tod des Melankomas auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn zu thematisieren. Wir stoßen hier wieder auf den Zusammenhang zwischen einem glücklichen Leben und einem guten Tod: ajllÆ o}~ dh; pavnta ta; ejn ajnqrwvpoi~ ajgaqa; ejkthvsato, a[xio~ a]n ei[h kai; th`~ teleuth`~ eujdaimonivzesqai, „Aber der gerade, der alle menschenmöglichen Wohltaten erlangt hat, sollte würdig sein, auch hinsichtlich seines Todes glücklich gepriesen zu werden“ (29,19). Wenn der Verstorbene nach sw`ma und yuchv ein vortrefflicher Mensch war, dann darf sein Tod dazu nicht in Widerspruch stehen. Tut er es doch, etwa weil der Tod den Betreffenden viel zu früh ereilt hat wie im Falle des Melankomas, ist die Argumentation des Rhetors gefragt. Auch der so früh gestorbene Melankomas ist glücklich zu preisen, argumentiert Dio (29,19f), denn erstens möchte man zahllosen Menschen angesichts der Unglücksfälle (sumforaiv), die ihnen im Laufe ihres Lebens widerfahren, einen frühen Tod wünschen, zweitens sind, wie Dio an einigen Beispielen darlegt,65 viele große Männer der Geschichte früh gestorben, und drittens ist ein früher Tod eine Auszeichnung, die die Götter schon immer „ihren eigenen Kindern und denen, die sie am meisten liebten“ (toi`~ eJautw`n paisi; kai; ou}~ mavlista ejfivloun) zuteil werden ließen. Ist aber das von den Hinterbliebenen beklagte vorzeitige Ableben des Betrauerten in Wahrheit ein Gunsterweis der Götter, dann ist er in der Tat a[xio~ [...] kai; th`~ teleuth`~ eujdaimonivzesqai. 2.4.1.2 Aelius Aristides, Oratio 31 Weitere Argumente für die rhetorische Bewältigung eines verfrühten Todes finden wir in der Rede des Aelius Aristides (117– ca. 187 n.Chr.) auf seinen in jungen Jahren gestorbenen Schüler Etonaios aus Kyzikos (Oratio 31). 64 Soffel, Leichenrede 22–25. Weitere Texte bis zum Ende des 4. Jh. analysiert Soffel, Leichenrede 25–54. Die Gestalt des Melankomas ist möglicherweise nicht historisch, jedenfalls gibt es kein von Dio unabhängiges literarisches oder nichtliterarisches Zeugnis von diesem Athleten. Lemarchand (bei Cohoon, Dio 358) vermutete deshalb, das es sich um eine fiktive Figur handelt, mit der der Verfasser seinem römischen Publikum das Ideal eines griechischen Athleten nahe bringen wollte. In unserem Zusammenhang kann die Frage nach der Historizität offen bleiben. 65 Zur rhetorischen Funktion des historischen exemplum s.u. S. 74.

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Nach einer einleitenden Klage (1f) folgen Lob (3–10), ein weiterer Klageteil (11–13) und der Trost (14–19). Die zwischen Lob und Trost positionierte Klage wird nach einem wehmütigen Rückblick auf die Schönheit von Etonaios’ körperlicher Erscheinung und seinen bejammernswert frühen Tod noch vor seiner Hochzeit (11–12) zum Vorwurf an die Götter (13). Ein „tragischer Dämon“ (tragiko;~ daivmwn) habe glänzende Auftritte eines begabten Redners angekündigt, das Drama dieses Lebens jedoch abrupt und vorzeitig enden lassen. Die vorwurfsvolle Anrufung der Götter besagt, dass der frühe Tod des Betrauerten eine nicht nachvollziehbare Ungerechtigkeit darstellt. Damit wird implizit die Deutung abgewiesen, der frühe und von Aristides insofern ja ausdrücklich als beklagenswert dargestellte Tod des Verstorbenen sei verdientes Schicksal für einen unwürdigen Lebenswandel. Den Übergang von der Klage zum Trost bewerkstelligt der Verfasser dadurch, dass er in der Manier der attischen Tragödie einen deus ex machina auftreten (14) und ihn Worte des Trostes sprechen lässt. Folgende Trostargumente werden vorgebracht (15–19): Etonaios hält sich als Heros bei den Göttern auf, berühmt und nicht alternd (15: eujkleh;~ kai; ajghvrw~); er ist nicht ohne göttlichen Willen verschieden (16: oujk a[neu qeiva~ moivra~); denn allen Menschen steht der Tod als gemeinsame Grenze bevor (16: pavntw~ de; hJ me;n teleuth; koino;~ a{pasin o{ro~ provkeitai), aber nur die wenigsten erlangen ein solch ruhmvolles Ende wie Etonaios (16: metÆ eujkleiva~ katalu`sai qeoi`~ te kai; ajnqrwvpoi~ a[mempton). Außerdem ist das menschliche Leben überhaupt kurz (17: bivo~ de; pa`~ ajnqrwvpou bracuv~); besonders im Vergleich zur Ewigkeit (tou` panto;~ aijw`no~); deshalb darf man die Seligkeit (eujdaimoniva) nicht mit Taten (pravgmata) oder hohem Alter (makro;n gh`ra~) in Verbindung bringen, sondern muss darauf sehen, wie jemand die ihm zugeteilte Lebenszeit am schönsten ausgefüllt hat (17: o{sti~ th;n doqei`san eJautw`æ tou` bivou moi`ran ejn toi`~ kallivstoi~ ejxevplhsen).66 Der erhebliche argumentative Aufwand, den Aristides um die positive Deutung des verfrühten Todes seines Schülers treibt, lässt darauf schließen, dass ein solcher Tod auch ganz andere, überaus nachteilige Assoziationen evozieren konnte und dass diese der populären Meinung zum Teil möglicherweise sogar näher lagen. Es zeigt sich einmal mehr, dass Sterben und Tod im griechisch-römischen Denken ein mit Werturteilen besonders dicht besetzter und insofern äußerst sensibler Bereich sind, der vor abwertenden Interpretationen durch gegenteilige Deutungen sorgfältig geschützt werden muss. Von Belang ist außerdem, dass Aristides an einer Stelle aus dem Geschick des Etonaios eine Lehre für die Lebenden zieht. Angesichts der Kürze des menschlichen Lebens überhaupt gilt (17): ouj dei` [...] filoyucei`n, 66

Soffel, Leichenrede 28f.

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„Nicht sollen (wir) am Leben hängen.“ Hier kommt innerhalb eines Epitaphios unversehens ein Element antiker Sterbe-Ethik zur Geltung, wie sie die griechisch-römische Philosophie seit der Stoa nachhaltig beschäftigt hat. Die Grabrede wird zur Lektion für die Lebenden. Am Begriff der filoyuciva wird zugleich deutlich, dass mangelnde Todesbereitschaft einen gravierenden Charakterfehler darstellt. Mit filoyuciva ist nämlich keine positiv konnotierte Liebe zum Leben gemeint, sondern die Unfähigkeit, im rechten Moment würdig aus dem Leben zu scheiden. Die Abwehr der filoyuciva begegnet vorrangig in Reden vor der Schlacht,67 ist jedoch auch allgemein Bestandteil griechischer Charakterkunde. Nach Aristoteles handelt es sich um eine Eigenschaft, die der Feigheit entspringt: deiliva~ dÆ ejsti; to; uJpo; tw`n tucovntwn fovbwn eujkivnhton ei\nai, kai; mavlista tw`n peri; qavnaton kai; ta;~ swmatika;~ phrwvsei~, kai; to; uJpolambavnein krei`tton ei\nai oJpwsou`n swqh`nai h] teleuth`sai kalw`~. ajkolouqei` de; th`æ deilivaæ malakiva, ajnandriva, ajponiva, filoyuciva – Feigheit besteht darin, dass man von zufälligen Ängsten leicht beunruhigt wird, vor allem von solchen vor dem Tod und vor körperlichen Verletzungen, sowie in der Auffassung, es sei besser, sich wie auch immer zu retten als auf gute Weise zu sterben. Es folgt aber aus der Feigheit Verweichlichung, Unmännlichkeit, Trägheit und das am Leben Hängen (Virt. 1251a).

Auch Plutarch nennt die filoyuciva neben der ajnandriva (Aem. 34,3) und führt am Beispiel des Perseus von Makedonien vor, dass filoyuciva „eine noch unedlere Eigenschaft als die Geldgier (filarguriva)“ ist (Aem. 26,7). Wenn Aristides die Adressaten seiner Rede angesichts des zu beklagenden frühen Todes seines Schülers auffordert, in Erwägung der Kürze allen menschlichen Lebens nun ihrerseits nicht „am Leben zu hängen“ (filoyucei`n), dann wird schlaglichtartig deutlich, in welchem Maße dem antiken Menschen das Todesproblem als ethisches Lebensthema aufgegeben war. Der konkrete Todesfall ist lediglich das aktuelle Exempel, aus dem die Lebenden ihre Lektion zu lernen haben. 2.4.1.3 Polemon von Laodikeia, Deklamationen Von M. Antonius Polemon aus Laodikeia am Lykos (um 88–145 n.Chr.), dem wichtigsten Vertreter der zweiten Sophistik,68 sind zwei Deklamatio67 So etwa Isokrates, Archid. 90. Der Spartanerkönig Archidamos, der die 366 v.Chr. von Theben geforderte Abtretung Messeniens an Theben ablehnt, ruft zum Krieg auf und mahnt, lieber ehrenvoll in der Schlacht zu sterben als mit der Schande eines vom Feind diktierten Vertrages weiterzuleben. Diese Argumentation beschließt er mit den Worten: }A crh; dialogisamevnou~ mh; filoyucei`n, „Dies lasst uns bedenken und nicht am Leben hängen.“ 68 Polemon war höchstwahrscheinlich ein Enkel des letzten Königs von Pontos, Polemon III. Seine Ausbildung zum Rhetor erhielt er in Smyrna, wo er später auch als Redelehrer tätig war und zu großen Ruhm gelangte. Auch als Gerichtsredner war er sehr gefragt. In Rom genoss er hohes Ansehen.

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nen erhalten, in denen der Verfasser zwei Väter vor Gericht um die Ehre streiten lässt, die öffentliche Leichenrede auf ihre gefallenen Söhne, Kallimachos und Kynaigeiros mit Namen, halten zu dürfen. Personen und Redesituation sind genauso fiktiv wie das angebliche athenische Gesetz, wonach es dem Vater des Tapfersten unter den Gefallenen zufiel, den öffentlichen Epitaphios zu halten. Es handelt sich um „ein korrespondierendes Redenpaar, so wie es die Sophisten liebten, um ihre Kunst, pro et contra zu reden, in gebührendes Licht zu setzen [...], und zwar scheint die zweite Rede die ajntivrrhsi~ der ersten zu sein.“69 Die Deklamationen des Polemon dokumentieren das Fortleben der klassischen Leichenrede als rhetorischer Übungs- und Demonstrationsstoff. Sie werden in der Literatur gelegentlich als Epitaphioi behandelt, sind von ihrem Aufbau her aber Gerichtsreden mit den Bestandteilen prooemium, narratio, argumentatio und peroratio.70 Diese Texte konstruieren also einen Fall, in dem Elemente des epitaphischen Enkomions in einer forensischen Redesituation angewendet werden: Jeder der beiden Redner versucht, die Vortrefflichkeit des eigenen Sohnes hervorzuheben und die des verstorbenen Konkurrenten zu schmälern. „[J]eder Punkt, z.B. Lebensalter, militärischer Rang, Körperhaltung im Tode usw. [wird] geschickt zum eigenen Vorteil und zum Nachteil des Gegners gewandt.“71 Hierbei spielt der trovpo~ th`~ teleuth`~ naturgemäß eine wichtige Rolle: So macht etwa der Vater des Kynaigeiros geltend, dass sein Sohn ein Schiff der feindlichen Flotte an einem Schiffstau eigenhändig am Rückzug gehindert und, als feindliche Soldaten ihm die eine Hand abhieben, das Tau mit der anderen gepackt hat. Sogleich verlor er auf dieselbe Weise auch noch seine zweite Hand und hauchte sein Leben aus. Doch noch die Hände des Toten hielten das Tau des gegnerischen Schiffs umklammert (1,8–11). Auch der Leib des Toten gab sich also nicht geschlagen. Die Hände des Getöteten ließen so wenig vom Feind ab wie die des Lebenden. Auch der Tod des Kallimachos war ruhmvoll, gesteht Kynaigeiros’ Vater zu, doch war dieser nicht in gleicher Weise Herr der Lage wie sein eigener Sohn: Gegnerische Pfeile spießten ihn am Mastbaum auf, was rein zufällig und ohne sein Zutun dazu führte, dass Kallimachos auch als Toter aufrecht stand. Seine einzige Ruhmestat war, so Kynaigeiros’ Vater, dass er „die Gestalt eines Lebenden in einem toten Leib“ (sch`ma zw`nto~ ejn nekrw`/ swvmati) hatte (1,7). Das Sterben beider aneinander zu messen, hieße deshalb, „eine leere Erscheinung mit einer mutigen Tat“ (sch`ma keno;n e[rgw/ qarseiv) zu vergleichen (1,27). Außerdem war Kallimachos schon älter, als er starb (1,20), deshalb fiel es ihm leichter, sein Leben hinzugeben. Sein 69

Stegemann, Polemon 1343. Soffel, Leichenrede 25f. 71 Stegemann, Polemon 1344. 70

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Wagemut war also nicht weiter verwunderlich (qaumastovn). Kynaigeiros dagegen war noch jung und brachte sich durch seinen Heldentod um die lange Lebenszeit, die noch vor ihm gelegen hätte. Sein Handeln entsprang deshalb „größerer Seelenstärke“ (ejk pleivono~ megaloyuciva~). Kallimachos’ Vater (2. Deklamation) beruft sich darauf, dass sein Sohn sich den Pfeilen der Feinde todesmutig entgegengestellt und dass seine Seele wider alle Natur im tödlich verwundeten Leib noch lange ausgeharrt hat (2,8). Im Stehen sei er gestorben und habe deshalb einen ehrenvolleren Tod erlitten als diejenigen (Kynaigeiros eingeschlossen), die vom Feind niedergestreckt wurden. Das Votum der Richter möge ihn, bittet sein Vater, nun nicht nachträglich doch noch niederstrecken, indem sie ihm den Rang des tapfersten Soldaten verweigern. Die Deklamationen Polemons sind für unser Thema deshalb von Bedeutung, weil sie (wenngleich an einem konstruierten Fall) vorführen, dass und wie Elemente der Grabrede nicht nur für das Lob eines Verstorbenen verwendet werden können, sondern auch für dessen Herabsetzung. Zwar greift keiner der beiden Redner den gefallenen Sohn des Konkurrenten direkt an, doch ist der trovpo~ th`~ teleuth`~ im Unterschied zur eigentlichen Grabrede nicht nur Grund zum Lob des Einen, sondern Gegenstand einer breit ausgeführten suvgkrisi~, die darauf darauf zielt, das Sterben des Anderen in seiner Bedeutung zu schmälern. 2.4.2 Die nachklassische Theorie der Leichenrede Stammen die frühesten Belege für die nachklassische Leichenrede aus der 2. Hälfte des 1. oder 1. Hälfte des 2. Jh. n.Chr., so datieren die ältesten erhaltenen Schriften, die der Theorie des nachklassischen Epitaphios gewidmet sind, doch erst in das 3. Jh. n.Chr. Es handelt sich um die Dionysios von Halikarnass zugeschriebene, jedoch unechte Tevcnh rJhtwrikhv, sowie die Schrift Peri; ejpideiktikw`n des Rhetors Menander. 2.4.2.1 PsDionysios, Ars rhetorica Der Verfasser behandelt im ersten Teil seines Werkes sieben Arten der Rede im epideiktischen Genus.72 Diese Spezifizierung vermittelt ein anschauliches Bild von den Aufgaben, die einem griechischen Festredner der römischen Kaiserzeit zufielen. PsDionysios behandelt die öffentliche Festrede zu unterschiedlichen Anlässen (tevcnh peri; tw`n panhgurikw`n), Begrüssungsreden für einheimische und auswärtige Würdenträger (mevqodo~ prosfwnhmatikw`n), aber auch verschiedenste Privatreden: Hochzeitsansprachen (mevqodo~ gamhlivwn), Reden zur Geburt eines Kindes (mevqodo~ genqliakw`n), die Rede vor dem Brautgemach an das verheiratete Paar (mevq72

Kroll, Rhetorik 1131–34.

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odo~ ejpiqalamivwn), Grabreden (mevqodo~ ejpitafivwn) und Festreden bei sportlichen Wettkämpfen (mevqodo~ ajqlhtai`~). An dieser Auflistung unterschiedlicher Redesituationen wird deutlich, dass die Rhetorik auch in der Epoche der zweiten Sophistik keineswegs nur mit sich selbst beschäftigt war. Ungeachtet des Auseinanderdriftens von „sophistischer“ und „praktischer“ Rede in dieser Zeit73 hatte die Schulrhetorik eine wichtige Funktion im sozialen Leben griechischer Städte und spiegelt insofern gesellschaftliche Realität ihrer Zeit wider. Im 6. Kapitel, das der Grabrede gewidmet ist, behandelt PsDionysios parallel den klassischen und nachklassischen Epitaphios, also die öffentliche, überindividuelle und die private, auf einen einzelnen Verstorbenen bezogene Grabrede. Dass der klassische Epitaphios noch in einem Lehrwerk des 3. Jh. n.Chr. abgehandelt wird, verdankt sich der oben erwähnten Beliebtheit dieser Redegattung als Thema von Deklamationen im rhetorischen Schulbetrieb. Der Verfasser sieht für beide Formen des Epitaphios denselben Aufbau vor, nämlich Lob, Aufforderung und Trost. Wie Dio Chrysostomos lehnt er die Klage als Bestandteil der Leichenrede ab: ouj ga;r

qrhnei`n oujde; ajpolofuvresqai tou;~ ajpoqanovnta~: ouj ga;r a]n paramuqoivmeqa tou;~ uJpoleipomevnou~, ajlla; mei`zon to; pevnqo~ paraskeuavzoimen, „Nicht beweinen nämlich noch beklagen (sollen wir) die Verstorbenen, würden wir doch die Hinterbliebenen (damit) nicht trösten, sondern ihren Kummer (nur) vergrößern“ (6,4). Vielmehr soll der Akzent, nachdem im Lobteil die Enkomientopoi abgehandelt wurden, auf dem Trost liegen. Hierbei kommen nun Todesart und Todesumstände ausführlich zur Sprache. Da die Darstellung, den situativen Erfordernissen der Grabrede entsprechend, auf jeden Fall positiv ausfallen muss, gibt PsDionysios dem Redner für eine Reihe denkbarer Todesumstände die entsprechenden Argumente an die Hand (6,5): Ist jemand „plötzlich und schmerzlos“ (a[fnw kai; ajluvpw~) gestorben, lautet das Trostargument: makarivw~ aujtw`æ hJ teleuth; sunhnevcqh, „Das Ende hat ihn auf glückliche Weise ereilt.“ Ist dagegen jemand an einer Krankheit gestorben und hat obendrein zuvor lange gelitten (novswó kai; polu;n crovnon noshvsa~), so wird der Redner argumentieren: gennaivw~ ejnekartevrhsen th`æ novswó, „Tapfer hat er die Krankheit ertragen.“ Ebenso lassen sich für einen Tod fern der Heimat (ejn ajpodhmiva)æ und zuhause (ejn th`æ patrivdi) gleichermaßen Trostgründe anführen: Ist der Betrauerte zuhause gestorben, dann „in dem Land, das er liebte und das ihn geboren hat und im Kreise aller seiner Lieben“ (ejn th`æ filtavthæ kai; th`æ geinamevnhæ [patrivdi] kai; toi`~ oijkeiotavtoi~ pa`sin). Hat ihn der Tod in der Fremde ereilt, so lässt sich immerhin argumentieren, dass es keinen Unterschied

73

S.o. S. 48 und unten S. 72 zu Menander.

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macht, wo man stirbt, denn „ein und derselbe Weg führt in den Hades“ (miva ga;r kai; hJ aujth; oi\mo~ [...] eij~ ÓAidou fevrousa), wie Aischylos sagt.74 Der Verfasser nennt darüber hinaus auch Trostgründe aus dem Lebensalter des Betrauerten (ajpo; hJlikiva~), denn ganz gleich, in welchem Alter er gestorben ist, der Rhetor muss auch dies positiv darzustellen in der Lage sein. Hat den Verstorbenen der Tod in jungen Jahren ereilt (nevo~ w[n), soll der Redner das Argument verwenden, das wir schon bei Dio Chrysostomos finden, nämlich o{ti qeofilhv~: tou;~ ga;r toiouvtou~ filou`sin oiJ qeoiv, „dass er ein Götterliebling ist, solche [früh Verstorbenen] nämlich lieben die Götter.“75 Ganymed, Tithonos und Achilles werden hierfür als exempla aufgeführt. Die Götter wollten ihnen durch einen frühen Tod die Widrigkeiten des Lebens ersparen, ihre Seele aus dem Grab bzw. Gefängnis des Leibes erlösen und sie davor bewahren, dass sie ungerechte Herrschaft erdulden müssten oder gar zu Sklaven würden. Diese Gestalten sind außerdem glücklich zu preisen, weil ihnen die Gebrechen des Alters erspart geblieben sind. Ist jemand in der Lebensmitte gestorben (mevso~ th;n hJlikivan), lautet das Trostargument: Er starb auf der Höhe seines Lebens und seiner Kraft und bleibt der Nachwelt auch so in Erinnerung, und nicht etwa als unansehnlicher Greis. Doch auch der Tod in hohem Alter (ejn ghvraæ) ist tröstlich, denn wer ein langes Leben hatte, kam in den Genuss aller möglicher Güter, beispielsweise Ehe, Kinder und öffentliche Ehrenstellung. Außerdem hat derjenige, der ein langes Leben bestanden hat, eine Vorbildfunktion für seine Mitmenschen: touvtou e{neka ejndievtriyen, i{na paravdeigma gevnhtai toi`~ a[lloi~, „deswegen hat er [im Leben] verharrt, damit er ein Vorbild für die andern würde.“ Schließlich müsse man, so PsDionysios, auf die Unsterblichkeit der Seele zu sprechen kommen (peri; yuch`~ [...] o{ti ajqavnato~) und den Aufenthalt der Verstorbenen bei den Göttern, wo sie es besser haben als auf Erden (o{ti tou;~ toiouvtou~ ejn qeoi`~ o[nta~ a[meinon e[cein). 2.4.2.2 Menander Rhetor, Peri; ejpideiktikw`n Der Rhetor Menander stammte nach den Angaben der Suda wie Polemon aus Laodikeia am Lykos.76 Erhalten sind von diesem Autor zwei Traktate zur Theorie der epideiktischen Rede, die aus der Zeit Diokletians (284–305

74

Telephos, Frgm. 239: aJplh` ga;r oi\mo~ eij~ ÓAidou fevrei. Der Gedanke begegnet schon bei dem Dichter Menander (342–291 v.Chr.): o}n oiJ qeoi; filou`sin ajpoqnhævskei nevo~ (Monostichoi 583 = Stob. 4,52,27, zitiert nach Russell/Wilson, Menander 376 Anm. 54). 75

76 Mevnandro~, Laodikeu;~ th`~ para; tw`æ Luvkwó tw`æ potamw`æ, sofisthv~. e[grayen uJpovmnhma eij~ th;n ïErmogevnou~ tevcnhn kai; Minoukianou` Progumnavsmata: kai; a[lla. Die beiden

von der Suda namentlich genannten Schriften sind nicht erhalten.

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

n.Chr.) stammen dürften.77 Uns interessiert der zweite Traktat mit dem Titel Peri; ejpideiktikw`n, in dem der Verfasser nicht weniger als 17 Arten78 der epideiktischen Rede aufzählt und einzeln abhandelt. Die Funktion der Rhetoren im öffentlichen Leben einer griechischen Stadt in der Zeit der Zweiten Sophistik kommt hier noch deutlicher zum Tragen als bei PsDionysios. [D]ie Monarchie mit ihrer Beamtenschaft bietet den Hintergrund für die ganze Tätigkeit dieser Leute. Mit ihren Reisen hängt der e[paino~ cw`ra~ und povlew~ zusammen (Menand. 344,15–367,8); der Fall, dass der Redner zu einem Fest kommt, wird besonders vorgesehen (365,27) [...] Einen breiten Raum nehmen die direkten Beziehungen zum Kaiser und seinen Beamten ein: es gibt den basiliko;~ lovgo~, das Enkomion auf den Kaiser (Menand. 368,3) [...] Da der Sophist der gegebene Vermittler zwischen seiner Stadt und dem Monarchen ist, so fällt ihm auch der presbeutiko;~ lovgo~ zu (Menand 423,6); er begrüßt den antretenden Statthalter (Menand. 377,31 lovgo~ ejpibathvrio~, verwandt der prosfwnhtikov~ 414,31[...]), lädt ihn zu einem Fest ein (lovgo~ klhtikov~ ebd. 424,3) und überreicht ihm den von der Gemeinde verliehenen Kranz (lovgo~ stefanwtikov~ ebd. 422,5).79

Unter den von Menander behandelten Privatreden nimmt die Leichenrede eine herausgehobene Stellung ein. Der Verfasser unterscheidet nämlich vier Formen des individuellen Epitaphios: (1) Das reine Enkomion, wenn seit Tod und Bestattung schon geraume Zeit vergangen ist,80 (2) die Monodie (434,10–437,4: Peri; monwódiva~), d.h. die reine Klage- und Trauerrede, (3) die Trostrede (413,5–414,30: Peri; paramuqhtikou`), die an die Klage einen Trostteil anfügt, und (4) die Grabrede (418,5–422,4: Peri; ejpitafivou) als häufigste Form der Rede auf einen Verstorbenen. Die Einteilung in vier Redetypen dient der „Anpassungsfähigkeit der nachklassischen Redner an die wechselnden Umstände, die beim Tod eines Menschen gegeben sind. Die Aufgabe der Verfasser individueller Epitaphien bestand geradezu in der höchstmöglichen Anpassung an die Umstände dieses Todesfalles.“81 Die Ausführungen Menanders zu Trostrede und Epitaphios bringen für unsere Fragestellung gegenüber PsDionysios nichts Neues. Wir beschränken uns deshalb auf die Monodie, die vorrangig bei früh Verstorbenen zur Anwendung kommen soll. Dieser Redetyp gibt dem Rhetor die Stilmittel an die Hand, um dem Schmerz der Trauernden ungehemmt Ausdruck zu verleihen. Das Lob ist hier in die Form der Klage gegossen: Der Verstorbene wird im Blick auf seine Vorzüge und Tugenden gepriesen, indem sein Feh77 Russell/Wilson, Menander xi. Die Identität des von der Suda erwähnten Rhetors Menander mit dem Verfasser dieser Schriften wurde für einen oder beide Traktate wiederholt bestritten, von Radermacher, Menander 764 jedoch überzeugend verteidigt. 78 Nach der Kapitelzählung bei Russell/Wilson, Menander. 79 Kroll, Rhetorik 1132f. 80 S.o. Anm. 58. 81 Soffel, Leichenrede 60f.

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len heftig beklagt wird. Das Motiv des Unwillens gegen die Götter bzw. die Klage über die Ungerechtigkeit des Schicksals, das schon Aelius Aristides in seiner Rede auf Etonaios verwendet hat, ist für Menander unverzichtbarer Bestandteil der Monodie: crh; toivnun ejn touvtoi~ toi`~ lovgoi~ eujqu;~ me;n scetliavzein ejn ajrch`æ pro;~ daivmona~ kai; pro;~ moi`ran a[dikon, pro;~ peprwmevnhn novmon oJrivsasan a[dikon, ei\ta ajpo; tou` katepeivgonto~ eujqu;~ lambavnein: oi|on ejxhvrpasan, oi|a kata; tou` pesovnto~ ejkwvmasan. – Es ist also bei diesen Reden nötig, sofort am Anfang mit den Dämonen und dem ungerechten Schicksal zu hadern, mit dem Todeslos, welches ein ungerechtes Gesetz erlassen hat. Danach muss man gleich wieder von den Dingen her die Klage aufnehmen, die sich geradezu aufdrängen: ‚Welch einen Menschen haben sie hinweggerafft! Was haben sie über den Verstorbenen hereinbrechen lassen‘ (435,10–14).82

Die Unwillensäußerung gegen Götter bzw. Schicksal muss deshalb „notwendigerweise“ (crhv) „sogleich am Anfang“ der Rede (eujqu;~ [...] ejn ajrch`)æ erfolgen, weil dem Gedanken vorgebeugt werden muss, den Verstorbenen habe dieses Schicksal verdientermaßen ereilt. Da die Todesumstände nach den Vorgaben der antiken Rhetoriklehrbücher Bestandteil nicht nur des Lobes sondern auch des Tadels sein können, muss der Verstorbene vor einer negativen Deutung der Umstände seines Todes dadurch geschützt werden, dass der Rhetor anstelle des Verstorbenen die Götter bzw. das Schicksal als „Strafinstanz“ ins Unrecht setzt. Die Gesetzmäßigkeit, der zufolge auch solch verdiente Persönlichkeiten wie der Verstorbene eines beklagenswerten Todes sterben, ist ein novmo~ a[diko~. Mag ein niederer Charakter zu Recht eines verfrühten, qualvollen oder sonst wie beklagenswerten Todes sterben, so doch nicht der in der Monodie gewürdigte Verstorbene. Da der Trostteil in der Monodie fehlt, der Tod des Betrauerten also nicht positiv gedeutet werden kann, ruht die ganze „Beweislast“, dass zwischen den negativ konnotierten Todesumständen und der im Lobteil nach den Konventionen des Enkomions gerühmten Lebensführung in diesen Falle keinerlei Zusammenhang besteht, auf der Götterschelte. Der Göttertadel ist keine bloß rhetorisch-stilistische, sondern eine eminent wichtige sachliche Notwendigkeit. Sie ist darin begründet, dass nach griechischer und römischer Auffassung die Todesumstände stets auch gegen den Verstorbenen verwendet werden und dessen Biographie von ihrem Ende her in ein schlechtes Licht rücken können.

82

Übersetzung: Soffel, Leichenrede 131.

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

2.5 Exemplasammlungen Das Beispiel (exemplum, paravdeigma)83 ist in der griechischen wie in der römischen Rhetorik ein wichtiges Stilelement. In der Gerichts- und Beratungsrede gehört es zu den Beweismitteln (pivstei~).84 Nach Aristoteles handelt es sich um die rhetorische Form des Induktionsschlusses,85 die besonders für eine Rede vor einem weniger gebildeten Publikum eingesetzt werden kann.86 In der Herennius-Rhetorik dient das exemplum der Ausschmückung der Rede (exornatio)87 und hat als solches die Funktion der Veranschaulichung, der Verdeutlichung, aber auch der Steigerung der Glaubhaftigkeit und Überzeugungskraft.88 Quintilian gibt folgende Definition: quod proprie vocamus exemplum, id est rei gestae aut ut gestae utilis ad persuadendum id, quod intenderis, commemoratio, „das, was wir im eigentlichen Sinn Beispiel nennen, das heißt die Erwähnung eines zur Überzeugung von dem, worauf es dir ankommt, nützlichen, wirklichen oder angeblich wirklichen Vorganges“ (Inst. 5,11,6). Da die exornatio zur argumentatio einer Rede gehört,89 rechnet der Auctor ad Herennium fehlerhafte Beispiele zu den Argumentationsfehlern (argumentationis vitiae).90 Beispiele werden bevorzugt der Geschichte entnommen, aber auch, wenngleich mit geringerer Beweiskraft,91 der Mythologie und der Dichtung.92 Eine profunde Literatur- und Geschichtskenntnis ist deshalb für den Rhetor unabdingbar. Cicero fordert von einem Redner: Cognoscat etiam rerum gestarum et memoriae veteris ordinem, maxime scilicet nostrae civitatis, sed etiam imperiosorum populorum et regnum illustrium, „Er sollte aber auch vertraut sein mit der Geschichte der Ereignisse der Vergangenheit, vor allem natürlich mit der unseres Staates, aber auch mit der mächtiger Völker und berühmter Herrscher“ (Orator 120).93 Aus diesem Wissens83

Das Folgende nach Lumpe, Exemplum; von Moos, Exemplum 49–69; Lausberg, Handbuch 232; Daxelmüller, Exempelsammlungen; Klein, Exemplum. 84 Aristoteles, Rhet. 2,20,1/1393a–b; RhetAlex. 1428a, Quintilian, Inst. 5,11,1–31. 85 Rhet. 1,2,8/1356b: kalw` dÆ ejnquvmhma me;n rJhtoriko;n sullogismovn, paravdeigma de;

ejpagwgh;n rJhtorikhvn. pavnte~ de; ta;~ pivstei~ poiou`ntai dia; tou` deiknuvnai h] paradeivgmata levgonte~ h] ejnqumhvmata. So auch Cicero, Inv. 1,55. 86

Topik 1,12/105a. AdHer. 2,29,46. 88 AdHer. 4,49,62. 89 AdHer. 2,18,28. 90 AdHer. 2,20,31. 91 Cicero, Part. 40; Quintilian, Inst. 5,11,17f. 92 Nur erstere sind exempla im engeren Sinne, wenngleich der Bereich des Mythischen noch in den Raum der Geschichte gehört (von Moos, Exemplum 52). Fiktive und hypothetische Beispiele sowie Gleichnisse werden unter dem Begriff similitudo (parabolhv) geführt. 93 Vgl. auch Orat. 1,5,18: Tenenda preaterea est omnis antiquitas, exemplorumque vis, „Weiterhin muss man die gesamte alte Zeit und das Material der Präzedenzfälle beherrschen“ und 1,6,20: Ac, mea quidem sentantia, nemo poterit esse omni laude cumulatus orator, nisi erit omni87

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fundus soll der Redner die exempla seiner Rede beziehen, denn gut gewählte Beispiele bewirken bei den Hörern delectataio und steigern die auctoritas der Rede. Die Notwendigkeit eines großes Wissensschatzes betont auch Quintilian: In primis vere abundare debet orator exemplorum copia cum veterum tum etiam novorum, adeo ut non ea modo, quae conscripta sunt historiis aut sermonibus velut per manus tradita quaeque cotidie aguntur, debat nosse, verum ne ea quidem, quae sunt a clarioribus postis ficta, neglegere. – Vor allem aber müssen dem Redner Beispiele in Hülle und Fülle zu Verfügung stehen, Beispiele aus alter wie auch zumal aus neuer Zeit in solcher Menge, dass er nicht nur all das kennen muss, was in Geschichtsaufzeichnungen erzählt oder in mündlicher Unterhaltung gleichsam von Hand zu Hand weitergegeben ist, und alles, was täglich geschieht, sondern nicht einmal die Beispiele unbeachtet lassen darf, die von allen berühmten Dichter erdichtet worden sind (Inst. 2,4,1).

Neben der argumentativen eignet dem exemplum stets auch eine moralischlebenspraktische Funktion (exhortatio, admonitio). Positive wie negative Beispiele aus der Geschichte sollen Orientierung für gegenwärtiges Handeln bieten. So bemerkt Livius: Hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites. – Und gerade dies ist es, was uns die Geschichte zu einer so heilsamen und fruchtbringenden Kenntnis macht, dass wir nämlich die lehrreichen Beispiele aller Art wie auf einem beleuchteten Denkmale ausgestellt betrachten können; aus ihnen kann dann zu unserm und des Staats Besten das Nachahmungswürdige, aus ihnen die abscheuliche Tat von gleich abscheulichem Ausgange, um sie zu meiden, uns ausheben“ (Hist. 1 praef. 10).

Schließlich spielte die Verwendung von exempla auch im philosophischen Diskurs eine Rolle. Die später (s. Kap. II.6) zu untersuchenden philosophischen Texte werden dies zur Genüge zeigen. Anschaulich kommt dies ausserdem bei Cicero, Div. 2,8 zur Darstellung. Cicero berichtet, wie er seinen Bruder Quintus für eine philosophische Disputation gelobt hat: Adcurate tu quidem [...], Quinte, et Stoice Stoicorum sententiam defendisti, quodque me maxime delectat, plurimis nostris exemplis usus es, et iis quidem claris et inlustribus. – Sorgfältig, mein Quintus, und auf echt stoische Weise hast du die Ansicht der Stoiker vertreten; und was mich besonders freut: du hast dich sehr vieler Beispiele aus der römischen Geschichte bedient, und zwar leuchtender und eindrücklicher.

Die Beliebtheit von exempla in Rhetorik, Geschichtsschreibung und Philosophie schlägt sich literaturgeschichtlich in der Gattung der Exemplasammum rerum magnarum consecutus, „Nach meiner Meinung könnte jedenfalls kein Redner den Gipfel allen Ruhms erreichen, ohne sämtliche bedeutenden Gebiete und Disziplinen zu beherrschen.“

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lungen nieder. Sueton berichtet von Augustus, dass er exempla zum Zweck der moralischen Instruktion aus griechischen und lateinischen Literaturwerken exzerpiert hat.94 Das älteste literarisch eigenständige Werk dieser Gattung in lateinischer Sprache stammt von Cornelius Nepos (ca. 100–25 v.Chr.). Nach einer Notiz des Gellius umfasste es mindestens fünf Bücher.95 Das Werk ist nicht erhalten, und nur wenige Fragmente können ihm sicher zugeordnet werden.96 Ein Werk unter dem Titel Exempla ist außerdem für Hyginus (ca. 64 v.Chr.–17 n.Chr.) bezeugt.97 Auch bei den ebenfalls verlorenen Collecta eines gewissen Pomponius Rufus, auf die sich Valerius Maximus bezieht,98 dürfte es sich um eine Exemplasammlung gehandelt haben.99 2.5.1 Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia 9,12–13 Valerius Maximus ist seinerseits Autor einer solchen Sammlung. Die wohl in den dreißiger Jaher des 1. Jh. n.Chr. entstandenen,100 Kaiser Tiberius gewidmeten Facta et dicta memorabilia, die in neun Büchern über 1000 Beispiele in 87 Rubriken bieten,101 sind vollständig erhalten. Jeweils untergliedert in römische (exempla domestica) und außerrömische Beispiele (exempla externa) behandelt der Autor zunächst im ersten und zweiten Buch religiöse und staatliche Einrichtungen, um dann in den Büchern 3 bis 9 eine Vielzahl von Tugenden und sonstigen menschlichen Eigenschaften abzuhandeln. Die wichtigsten Quellen des Valerius Maximus sind Cicero und Livius, daneben aber auch andere, meist historiographische Werke. Seine Exemplasammlung ist gedacht als ein Hilfsmittel für den Lehrbetrieb der Rhetorenschulen und die rhetorische Praxis, das auch denen, die nicht über den von Cicero und Quintilian geforderten Wissensschatz verfügten, Material bereitstellte, um ihre Reden mit Beispielen zu versehen. Der Autor hat sein Werk verfasst, ut documenta sumere volentibus longae inquisitionis labor absit, „damit denen, die Beispiele verwenden wollen, die Mühe langwierigen Nachforschens erspart bleibe“ (1 praef.). 94

Aug. 89: „Bei der Lektüre der Schriftsteller beider Sprachen richtete er sein Augenmerk vorzugsweise auf heilsame Beispiele und Lehren für das öffentliche wie das Privatleben; diese zog er sich wörtlich aus den Schriftstellern aus und sandte sie häufig den Angehörigen seines Haushalts oder auch an die Befehlshaber der Heere und Statthalter der Provinzen oder an die Beamten der Hauptstadt, je nachdem jeder einer Mahnung zu bedürfen schien.“ 95 Noct. 6,18,11: Cornelius autem Nepos in libro exemplorum quinto id quoque litteris mandavit multis in senatu placuisse. 96 Vgl. Sueton, Aug. 77 (Wirth, Cornelius Nepos 6). 97 Gellius, Noct. 10,18,7: Exstat nunc quoque Theodecti tragoedia, quae inscribitur Mausolus; in qua eum magis quam in prosa placuisse Hyginus in exemplis refert. 98 Fact. 4, 4 praef. 99 Lumpe, Exemplum 1238. 100 Bailey, Valerius Maximus (Bd. 1) 2. 101 Lumpe, Exemplum 1239.

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Dem Thema Sterben und Tod hat Valerius Maximus im neunten Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Kap. 12 de mortibus non vulgaribus, „von ungewöhnlichen Todesfällen“ enthält sieben römische und acht außerrömische exempla. Sachverwandt ist das anschließende Kap. 13 De cupiditate vitae, das fehlende Todesbereitschaft als negative Charaktereigenschaft thematisiert. Valerius Maximus war offenbar nicht der Erste, der Überlieferungen über den Tod historischer Personen systematisch gesammelt hat. Bereits Hermipp von Smyrna (3. Jh. v.Chr.) scheint eine Zusammenstellung von teleutaiv verfasst zu haben;102 jedenfalls bezieht sich Diogenes Laertios in seinen Vitae philosophorum, wenn er auf die Todesumstände eines Philosophen zu sprechen kommt, regelmäßig ausdrücklich auf Hermipp.103 Auch Cicero lag augenscheinlich eine solche Sammlung vor, denn in Div. 2,22 bemerkt er: clarissimorum virorum nostrae civitatis gravissimos exitus in consolatione collegimus.104 Die von Valerius Maximus in Buch 9 gesammelten exempla sind für unsere Fragestellung aufschlussreich, weil der Autor seine Beispiele stets mit redaktionellen Randbemerkungen kommentiert. Diese erlauben es, den Zusammenhang zwischen dem Tod einer Person und der Bewertung ihres Charakters, der in den unter II.2.2 und II.3.3 untersuchten rhetorischen Lehr- und Handbüchern lediglich vorausgesetzt wurde, inhaltlich näher zu bestimmen. In der praefatio zum 12. Kapitel formuliert der Autor, warum ein grundsätzliches Interesse an den Todesumständen eines Menschen besteht:

102

Ronconi, Exitus 1260. Von Chilon: ejteleuvthse dÆ, w{~ fhsin ÓErmippo~, ejn Pivshæ, to;n uiJo;n ÆOlumpionivkhn ajspasavmeno~ pugmh`~ (1,72,11); von Stilpon: ghraio;n de; teleuth`saiv fhsin ÓErmippo~, oi\non prosenegkavmenon o{pw~ qa`tton ajpoqavnhæ (2,120,5); von Menedemos: e[nqa crusw`n 103

pothrivwn ajpolomevnwn, kaqav fhsin ÓErmippo~, dovgmati koinw`æ tw`n Boiwtw`n ejkeleuvsqh metelqei`n. ejnteu`qen ajqumhvsa~ laqraivw~ pareisdu;~ eij~ th;n patrivda kai; thvn te gunai`ka kai; ta;~ qugatevra~ paralabw;n pro;~ ÆAntivgonon ejlqw;n ajqumivaæ to;n bivon katevstreyen (2,142,7–12); von Platon: teleuta`æ de; w{~ fhsin ÓErmippo~ ejn gavmoi~ deipnw`n tw`æ prwvtwó e[tei th`~ ojgdovh~ kai; eJkatosth`~ ÆOlumpiavdo~, biou;~ e[to~ e}n pro;~ toi`~ ojgdohvkonta (3,2,10– 3,1); von Arkesilaos: jEteleuvthse dev, w{~ fhsin ÓErmippo~, a[kraton ejmforhqei;~ polu;n kai; parakovya~, h[dh gegonw;~ e[to~ pevmpton kai; eJbdomhkostovn, ajpodecqei;~ pro;~ ÆAqhnaivwn wJ~ oujdeiv~ (4,44,11–13); von Chrysipp: Tou`ton ejn tw`æ ÆWideivwó scolavzontav fhsin ÓErmippo~ ejpi; qusivan uJpo; tw`n maqhtw`n klhqh`nai: e[nqa prosenegkavmenon gluku;n a[kraton kai; ijliggiavsanta pemptai`on ajpelqei`n ejx ajnqrwvpwn, triva kai; eJbdomhvkonta biwvsantÆ e[th (7,184,5–8); von Demokrit: Teleuth`sai de; to;n Dhmovkritovn fhsin ÓErmippo~ tou`ton to;n trovpon ktl (9,43,1–2); von Epikur: o{te kaiv fhsin ÓErmippo~ ejmbavnta aujto;n eij~ puvelon calkh`n kekramevnhn u{dati qermw`æ kai; aijthvsanta a[kraton rJofh`sai: toi`~ te fivloi~ paraggeivlanta tw`n dogmavtwn memnh`sqai ou{tw teleuth`sai (10,15,9–16,3). 104

Ronconi, Exitus 1260.

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Humanae autem vitae condicionem praecipue primus et ultimus dies continet, quia plurimum interest quibus auspiciis incohetur et quo fine claudatur, ideoque eum demum felicem fuisse iudicamus cui et accipere lucem prospere et reddere placide contingit. – Die Beschaffenheit des menschlichen Lebens hängt in besonderer Weise mit dem ersten und letzten Tag zusammen, denn es ist von größter Bedeutung, unter welchen Vorzeichen es beginnt und auf welche Weise es endet. Deshalb urteilen wir, dass nur der glücklich war, dem es sowohl zuteil wurde, das Licht unter glücklichen Umständen zu empfangen, wie auch, es friedvoll zurückzugeben.

Nach dieser Auffassung gehört ein leichtes Sterben nicht nur notwendigerweise zu einem glücklichen Leben, sondern ob ein solches Leben als glücklich bezeichnet werden kann, manifestiert sich an den Todesumständen in einer Eindeutigkeit, die sonst nur noch Vorzeichen (auspicies) auf eine verheißungsvolle Geburt haben. Während des Lebens mögen stürmische und ruhige Zeiten auf einander folgen,105 das Ende eines glücklichen Lebens wird jedoch sanft (placide) vonstatten gehen. Dies entspricht dem Begriff der eujqanasiva, den später Theon von Alexandria verwendet,106 und den auch Sueton in seiner Beschreibung des Todes des Augustus einsetzt.107 Die unter De mortibus non vulgaribus rubrizierten Todesfälle sind deshalb „ungewöhnlich“, weil sie, wenn sie nicht einfach spektakulär sind,108 die Regel, dass ein glückliches Leben mit einem sanften Tod endet, entweder in besonderer Anschaulichkeit bestätigen oder aber durchbrechen. Diese Durchbrechung kann sich (a) schicksalhaft oder aber (b) durch menschliches Zutun ereignen. (a) Ersteren Sachverhalt illustriert Valerius Maximus u.a. am Tod des Euripides: Er wurde bei der Rückkehr von einem Gastmahl bei König Archelaos in Makedonien von Hunden zerrissen. Der Autor kommentiert dies mit den Worten: crudelitas fati tanto ingenio non debita, „eine Grausamkeit des Schicksals, die ein solch großer Geist nicht verdient hat.“ Mit Sophokles und Philemon (9,12 ext. 5–6) fügt der Autor zwei weitere Beispielen von „Todesumständen berühmter Dichter“ an, „die ihres Charakters und ihres Lebenswerkes höchst unwürdig waren“ (excessus illustrium poetarum et moribus et operibus indignissimi): Sophokles starb in hohem Alter an der Aufregung über einen gewonnenen Dichterwettstreit, Philemon erstickte in Folge übermäßigen Gelächters über eine geistreiche Bemerkung. Dagegen starb Pindar (9,12 ext. 7) friedvoll im Schlaf, während sein Haupt 105 Medii temporis cursus, prout fortuna gubernaculum rexit, modo aspero, modo tranquillo motu peragitur (Ronconi, Exitus 1260). 106 S.o. S. 59ff. 107 S.u. unter II.3.3.2. 108 So etwa der Tod des Aischylos (9,2 ext. 2): ein Adler habe das kahle Haupt des Aischylos mit einem Stein verwechselt und eine erbeutete Schildkröte daran zerschmettert, um an ihr Fleisch zu kommen. Daran sei er gestorben; vgl. Plinius, HistNat. 10,7. Valerius Maximus notiert dazu: propter novitatem casus referendus.

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im Schoß seines Lieblingsknaben ruhte. Der Autor bemerkt, er könne sich vorstellen, dass die dichterische Beredsamkeit dieses Mannes und sein friedvolles Lebensende (placidus vitae finis) auf ein und dieselbe göttliche Gunst zurückgingen. Der Tod des Pindar ist offenbar gedacht als Beispiel für ein unverdient sanftes Ende, denn in 9,12,8 äußert sich der Autor abfällig über den Tod zweier Römer, die der Tod beim Liebesakt mit Knaben ereilt hat (dazu s.u.). Außerdem scheint der Tod Pindars noch zu der in 9,12 ext. 5 eröffneten Reihe von excessus illustrium poetarum et moribus et operibus indignissimi zu gehören.109 In 9,12 ext. 8 folgt nämlich, mit sicut anschließend, ein weiteres Beispiel (Erstickungstod des Lyrikers Anakreon), das an den Duktus der vorigen anknüpft. Was fängt nun ein Rhetor mit Beispielen über den unwürdigen Tod berühmter Dichter an? Welche Redegattungen und –situationen sind denkbar, für die ein Rhetor auf solche exempla zurückgreift? Die nahe liegende Antwort lautet: Wenn er im epideiktischen oder dikanischen Genus eine positive Darstellung einer bereits verstorbenen Person geben soll, deren Tod der in der praefatio genannten Regel, wonach ein glückliches Leben ein friedvolles Ende nimmt, nicht entspricht. Der Rhetor kann diese Regel zwar nicht außer Kraft setzen, er kann aber auf Fälle verweisen, in denen unwürdiges Sterben nachgewiesenermaßen nicht den Schluss auf ein ebenso unwürdig gelebtes Leben zulässt. Denkbar ist eine solche Argumentation bei einer Grabrede, die nichts anderes als Lob über den Verstorbenen enthalten darf, denn an Gräbern wird nun einmal gelobt und nicht getadelt, aber auch vor Gericht. Denkbar ist beispielsweise der Fall, dass ein Geschädigter inzwischen gestorben ist und die Erben dessen Ansprüche gerichtlich einklagen. Der Anwalt der Gegenseite wird, den Regeln von Lob und Tadel folgend,110 versuchen, die Ansprüche des Geschädigten nicht zuletzt dadurch in Zweifel zu ziehen, dass er dessen Ansehen beschädigt. Hierbei wird er, wenn es seine Argumentation stützt, auch auf die Umstände seines Todes zu sprechen kommen, etwa: „Er starb an einer langwierigen, qualvollen Krankheit und hat damit die verdiente Strafe für ein Leben in Lug und Trug erhalten.“ Der Anwalt des Geschädigten wird dem entgegenhalten, der Verstorbene sei trotz seines unwürdigen, qualvollen oder sonst wie negativ konnotierten Todes ein Ehrenmann gewesen, und er wird seiner Behauptung dadurch auctoritas verleihen, dass er sie am Beispiel einer historisch herausragenden Gestalt exemplifiziert. Differenzierter würde eine Argumentation ausfallen, die auf den Tod Pindars (9,12 ext. 7) zurückgreift. Wenn die oben vorgeschlagene Interpretation als Beispiel für ein unverdient sanftes Ende zutrifft, dann ließe sich 109 110

Vgl. Bailey, Valerius Maximus (Bd. 2) 377 Anm. 17. S.o. S. 50f.

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anhand dieses Exempels der Fall konstruieren, dass eine Person wegen ihrer außerordentlichen Begabungen vom Schicksal mit einem friedlichen Ende begnadet wurde, sich im Laufe ihres Lebens aber dennoch zahlreicher Vergehen schuldig gemacht hat. Selbst der schon erwähnte Fall des Todes zweier Römer während sexuellen Umgangs mit Knaben, den der Autor als perridicula mors, als „ausgesprochen lächerlichen Tod“ bezeichnet, ist einer vorteilhafteren Interpretation nicht unzugänglich. Valerius Maximus argumentiert folgendermaßen: Man müsse das Schicksal dieser Männer nicht verspotten, habe sie doch nicht ihre Lust (libido) dahingerafft, sondern die Natur menschlicher Hinfälligkeit (fragilitatis humanae ratio). Es sei nämlich zwischen zufälligen Umständen (hier: der geschlechtliche Umgang mit Knaben) und den eigentlichen Ursachen eines Todesfalls zu unterscheiden. Anhand anderer Beispiele führt der Autor dagegen vor, wie von den Umständen des Todes einer Person direkt auf bestimmte charakterliche Eigenschaften geschlossen werden kann. Vom Volkstribun und Konsul M. Juventius Thalna berichtet er, er sei nach der Eroberung Korsikas plötzlich gestorben, als er die briefliche Nachricht erhielt, der Senat habe ihn für eine öffentliche Ehrung vorgesehen (9,12,3). Für den Autor lässt dies nur den Schluss zu, dass ihn übermäßige Freude über die erhaltene gute Nachricht umgebracht hat.111 Derartiges ist, so im unmittelbar zuvor referierten Fall, nachvollziehbar, wenn Frauen betroffen sind,112 doch auf einen Mann in politischer und militärischer Verantwortung wirft ein solcher Tod ein denkbar schlechtes Licht. (b) Wenn bei der Durchbrechung der Regel, dass ein glückliches Leben mit einem sanften Tod endet, menschliches Zutun im Spiel ist, geht es meist um die Vermeidung von Ehrverletzung oder die Wiederherstellung von Ehre. Der Volkstribun Q. Catulus, einstiger Gefährte und späterer Rivale des Marius (9,12,4), war „wesentlich größeren Geistes“ (maioris aliquanto spiritus) als M. Juventius Thalna, „und doch war sein Ende gewaltsamer“ (sed exitus violentioris). Er kam seiner Ermordung durch die Schergen des Marius zuvor, indem er sich in seinem frisch gekalkten Schlafgemach einschloss, dort ein Feuer entzündete und an den dadurch entstehenden giftigen Dämpfen erstickte.113 Die Bewertung dieses Vorgangs durch den Autor ist eindeutig: Die „grauenhafte Zwangslage“ (dira necessitas) des Q. Catulus gereicht nicht ihm selbst, sondern Marius zu äußerster Schande: cuius tam dira necessitas maximus Marianae gloriae rubor exstitit. Catulus ist also 111

Vgl. Plinius, HistNat. 7,182. 9,12,2: Genus casus inusitatum! quas dolor non extinxerat, laetitia consumpsit. Sed minus miror, quod mulieres. 113 Letzteres Detail findet sich bei Velleius Paterculus (Hist. 2,22,4), dessen Römische Geschichte Valerius Maximus für dieses und weitere exempla als Quelle gedient hat. 112

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Opfer einer schändlichen Tat und damit automatisch in seiner eigenen Ehre nicht beschädigt. Dass die Schande auf Seiten des Täters liegt, impliziert offenbar, dass das Ansehen des Opfers keinen Schaden leidet.114 Jedenfalls genügt dem Autor eine negative Bewertung des Marius, um zu beweisen, dass Catulus trotz seines gewaltsamen Todes ein „großer Geist“ war. Auch bei Velleius Paterculus wird der Tod des Catulus als ehrenvoll dargestellt. Nach der Darstellung des Verfassers war er „ein hochangesehener Mann, sowohl seiner Verdienste wegen wie auch durch den Ruhm, den er sich gemeinsam mit Marius im Kimbernkrieg erworben hatte“ (Hist. 2,22,4). Gestorben ist er zwar nach dem „Willen“ (votum) seiner Feinde, nicht aber nach ihrem „Belieben“ (arbitrium).115 Gemeint ist wohl: Durch seinen Freitod hat er die Parteigänger des Marius um die Genugtuung gebracht, den Rivalen eigenhändig zu töten. Noch im Sterben hat er sein Geschick selbst bestimmt und damit die Schmach abgewendet, den Tod wehrlos von der Hand seiner Gegner erleiden zu müssen. Valerius Maximus nennt ebenfalls Beispiele für den ehrenvollen Freitod in der Situation der Niederlage. L. Cornelius Merula, ein Leidensgenosse des Catulus nach dem Sieg des Marius, schnitt sich im Jupitertempel, in dem er einst als Priester Dienst getan hatte, die Pulsadern auf, ne ludibrio insolentissimis victoribus esset, „damit er nicht zum Gespött der überaus unverschämten Sieger würde.“ So blieb ihm „die Anordnung eines schändlichen Todes“ (contumeliosae mortis denuntiatio), d.h. Todesurteil und öffentliche Hinrichtung, erspart (9,12,5). Herennius Siculus, ein Parteigänger der Graccen, kam seiner Inhaftierung und Hinrichtung dadurch zuvor, dass er seinen Schädel am Pfosten des Gefängnistores zerschmetterte (9,12,6).116 Er starb in ipso ignominiae aditu „gerade noch am Eingang zur Schimpflichkeit“ und uno gradu a publico supplicio manuque carnificis citerior „einen Schritt diesseits einer öffentlichen Bestrafung und der Hand des Scharfrichters.“ Valerius Maximus bescheinigt ihm ein „wildes und auch mutiges Lebensende“ (acer etiam et animosus vitae exitus). Bei diesem und dem folgenden Beispiel liegt das Augenmerk verstärkt auf den charakterlichen Merkmalen, die einen ehrenvollen Tod ermöglicht haben. Bei Herennius Siculus waren es sein Mut und seine Entschlossenheit. Ebenso Komanos aus Kilikien, Bruder des Räuberhauptmanns Kleon (9,12 ext. 1):117 In Gefangenschaft geraten, setzte er seinem Leben ohne Zögern dadurch ein Ende, dass er bis zum Ersticken den Atem anhielt. Diese Zielstrebigkeit auch angesichts des Todes unterscheidet ihn im Urteil des Verfassers von 114

Vgl auch unter II.3.2.2 (Pompeius), II.4.3.4 (Antigonos), II.4.3.5 (Agrippa), und v.a. Anm.

171.

115

Mortem magis voto quam arbitrio inimicorum obiit (2,22,4). Vgl. Velleius Paterculus, Hist. 2,7,2. 117 Bei Valerius Maximus heißt er Coma. 116

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denen, „die ängstlich und unruhig überlegen, auf welche Weise sie denn aus dem Leben scheiden sollen“ (trepido et anxio consilio quanam ratione vita exeant quaerentes). In den exempla in 9,12,5 und 9,12 ext. 1 tritt das eigentümliche Interesse des Verfassers am Todesproblem nochmals klar zu Tage: In der Situation des Sterbens werden positive Charaktereigenschaften gewissermaßen einer letzten Bewährungsprobe unterzogen, oder aber ihr Fehlen macht sich besonders gravierend und nunmehr unwiderruflich bemerkbar. Insofern sind Sterbeszenen nach antiker Auffassung ein Teilgebiet biographischer Charakterkunde. Antike Persönlichkeitsbilder gewinnen dort, wo das Thema Sterben und Tod eine Rolle spielt, besonders deutliche Konturen. Mut zeigt sich unzweideutig am mutigen Sterben, Kühnheit in größtmöglicher Klarheit, wenn sie sich angesichts des Todes bewährt, etc. Entsprechendes gilt von gegenteiligen Charaktereigenschaften. In 9,13 (De cupiditate vitae, „Über die Begierde zu leben“) zeigt der Autor, dass sich die im entscheidenden Augenblick fehlende Bereitschaft zu sterben ebenso negativ auf die Beurteilung eines Charakters auswirkt wie übermässige Todesfurcht bei Lebzeiten. Der Verfasser stellt würdiges und unwürdiges Sterben in der Absicht des Vergleichs (comparatio, suvgkrisi~) nebeneinander, ut [...] pateat quanto non solum fortior sed etiam sapientior mortis interdum quam vitae sit cupiditas, „damit offen vor Augen liege, um wieviel der Wunsch nach dem Tod manchmal nicht nur tapferer sondern auch weiser ist, als der nach dem Leben“ (9,13 praef.). Als erstes römisches Beispiel (9,13,1) dient ihm das Geschick des Manius Aquilius, von dem Appian (Mithr. 21,80) berichtet, dass ihn Mithridates VI., König von Pontus, als Kriegsgefangenen auf einem Esel herumführte und ihm schließlich flüssiges Gold in die Kehle goss. Er hätte ehrenvoll sterben können, meint Valerius Maximus, doch habe er die Schande vorgezogen, Sklave des Mithridates zu sein. Auch Gnaeus Papirius Carbo (9,13,2) ist „eine große Beschämung für die Latiums Annalen“ (magna verecundia [...] Latinis annalibus), denn als er von Pompeius dem Henker überantwortet wurde, bat er darum, zuvor noch seine Notdurft verrichten zu dürfen, um seinem Leben so noch eine klägliche Zeitspanne hinzuzusetzen.118 Ebenso erkaufte sich D. Brutus einen „unbedeutenden und unglücklichen Augenblick des Lebens“ (exiguum et infelix momentum vitae) um den Preis schwerer Verunehrung, als er sein Haupt vor dem Schwert, das ihn richten sollte, zurückzog (9,13,3).119 Die Süße eines kurzen Atemzugs habe ihm, meint der Verfasser, das gesunde Urteil (sana ratio) getrübt, das zwar „das Leben zu lieben, den Tod (aber) nicht zu fürchten“ gebiete (vitam diligere, mortem non timere). 118 119

Vgl. auch Plutarch, Pompeius 10. Münzer, Iunius 384f.

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Diese Regel hat auch der Perserkönig Xerxes missachtet, als er, wie Herodot erzählt, bei der Musterung seines Heeres in Tränen ausbricht. Als ihn sein Oheim Artabanos nach dem Grund seiner Tränen fragt, antwortet er: „[M]ich erfasste der Jammer, als ich bedachte, wie kurz das Menschenleben ist; denn von allen diesen vielen Leuten wird in 100 Jahren keiner mehr am Leben sein“ (Hist. 7,46,2). Valerius Maximus urteilt, der König habe nicht das Los anderer, sondern sein eigenes beweint, und zwar törichterweise, denn man könne doch nicht ernstlich darüber Tränen vergießen, dass man als sterbliches Wesen geboren wurde (9,13, ext. 1). Auf unbewältigte Todesfurcht führt der Verfasser auch das krankhafte Misstrauen und Sicherheitsbedürfnis mancher Herrschergestalten zurück. Der numidische Großkönig Masinissa (9,13 ext. 2) misstraute den Menschen seiner Umgebung derart, dass er sich zu seinem persönlichen Schutz zeitlebens mit einer Meute Hunde umgab. Noch unglücklicher (infelicior) war Alexander von Pherai (9,13 ext. 3), der selbst seiner Frau nicht traute, obwohl er sie unbändig liebte. Er betrat sein Schlafgemach nur in Begleitung einer Leibwache mit gezücktem Schwert, und er legte sich erst dann zu Bett, wenn Wächter dasselbe gründlich durchsucht hatten. Dafür, dass er „weder Lust noch Furcht zu beherrschen vermochte“ (neque libidini neque timori posse imperare), straften ihn die Götter: Seine Frau Thebe tötete ihn aus Ärger über ein Verhältnis mit einer Konkubine. Über Dionysios von Syrakus, den berühmtesten Tyrannen der griechischen Antike, berichtet Valerius Maximus, dass er sich aus Furcht, von der Hand eines Barbiers zu sterben, nur von seinen Töchtern rasieren ließ und selbst diese, sobald sie erwachsen waren, nicht mehr mit einem Rasiermesser in seine Nähe ließ. Statt dessen mussten sie ihm mit glühenden Nussschalen die Barthaare versengen.120 Die jahrzehntelange unumschränkte Machtstellung dieses Herrschers sieht der Verfasser in augenfälligem Kontrast zu seiner unaufhörlichen, ängstlichen Sorge um Leib und Leben. Die drei außerrömischen exempla in Kap. 13 unterscheiden sich von den übrigen Beispielen dieses und des vorangegangenen Kapitels dadurch, dass sie nicht individuelle Todesumstände, sondern eine unwürdige Geisteshaltung den Tod betreffend thematisieren. Diese Haltung rückt die genannten Persönlichkeiten schon bei Lebzeiten in ein schlechtes Licht. Die unbewältigte Todesfurcht erscheint als charakterliches Manko, das die Lebensführung negativ beeinträchtigt.

120

Quelle hierfür ist Cicero, Tusc. 5,57–59.

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2.6 Zusammenfassung Wir haben uns unserem Gegenstand im zweiten Kapitel des II. Teils auf dem Wege einer Durchsicht antiker Rhetoriklehrwerke, Grabreden und Exemplasammlungen angenähert. Das wichtigste Ergebnis dieses Kapitels lässt sich folgendermaßen formulieren: Das Todesthema erscheint aus der Perspektive antiker Rhetorik nicht als Problem der individuellen consolatio Sterbender oder Hinterbliebener. Vielmehr wird es nach den Regeln von Lob und Tadel abgehandelt. Die Herennius-Rhetorik (3,14) zählt den modus mortis eines Menschen ebenso zu den res externa wie Reichtum, Armut, Macht, etc., zu den Merkmalen einer Biographie also, die einem Menschen postitiv oder negativ ausgelegt werden können, je nachdem, ob der Rhetor ihn zu loben oder zu tadeln hat. Nach Cicero (Inv. 1,36) ist eine Person u.a. nach ihrem „Schicksal“ (fortuna) zu beurteilen, und hierzu zählen, wenn es sich um einen Verstorbenen handelt, neben Armut und Reichtum, Freiheit oder Sklavenstand und dergleichen auch die Todesumstände (quali morte sit affectus). In Part. 3,82 formuliert Cicero: Neque vero mors eorum, quorum vita laudabitur, silentio praeteriri debebit, si modo quid animum advertendum aut in ipso genere mortis aut in iis rebus, quae post mortem erunt consecutae. – Aber auch der Tod derer, deren Leben gewürdigt werden soll, darf nicht mit Stillschweigen übergangen werden, wenn ja irgend etwas bemerkenswert ist entweder an der Todesart selbst oder an den Vorgängen, die nach dem Tod eintraten.

Im chronologischen Schema, das Quintilian für die laus hominis vorsieht, spielt auch das tempus, quod finem hominis insequitur eine Rolle (Inst. 3,7,17). Hierunter fallen eventuelle Ehrungen von Göttern und Menschen. Doch kann das Nachleben eines Menschen auch beim Tadel (vituperatio) eine Rolle spielen, denn et post mortem adiecta quibusdam ignominia est „[m]anchen hat sich auch nach dem Tod noch neue Schande ergeben“ (3,7,20). Für die griechischsprachigen Progymnasmata ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei den lateinischen Rhetoriken. Sowohl Theon von Alexandria wie auch PsHermogenes betonen die Verwandtschaft von Lob und Tadel (ejgkwvmion kai; yovgo~) und messen den Todesumständen eine hohe Bedeutung für die Beurteilung einer Person zu. Hier spielt der Begriff der eujqanasiva eine wichtige Rolle. Gemeint ist ein „guter“ als ein „leichter“ Tod – dann wird dies gern der Gunst der Götter zugeschrieben (so bei Poseidipp von Kassandreia) – oder aber als ein „ehrenvolles“ Sterben als Manifestation eines respektablen Charakters, als ein Sterben katÆ ajrethvn. Als Regel gilt, dass ein sanfter Tod nur aufrechten Menschen zuteil wird. Der Astrologe Vettius Valens misst ihr ein derartiges Gewicht zu, dass sie sogar den

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astrologischen Determinismus aufhebt: Das die eujqanasiva begünstigende Sternzeichen wird dem Übeltäter nichts nützen. Wo die genannte Regel durchbrochen wird und ein aufrechter Mensch elend oder ein schlechter Mensch sanft stirbt, wird dies als Ungerechtigkeit der Götter oder des Schicksals beklagt. Der Konnex von Lebensführung, Charaktereigenschaften und Todesgeschick ist auch für die nachklassische griechische Grabrede konstitutiv (II.2.4.1). Ein respektabler Charakter „sollte“, so Dio Chrysostomus (Oratio 29,19), „würdig sein, auch hinsichtlich seines Todes glücklich gepriesen zu werden“ (a[xio~ a]n ei[h kai; th`~ teleuth`~ eujdaimonivzesqai). Ist ein tragischer Tod zu beklagen, muss der Rhetor dies dem Verstorbenen entsprechend der Redesituation am Grab unter allen Umständen positiv auslegen. Beispiele hierfür sind die 29. Rede des Dio Chrysostomus (II.2.4.1.1) und die 31. Rede des Aelius Aristides (II.2.4.1.2). Was hier als rhetorische Praxis des 1. und 2. Jh. n.Chr. greifbar ist, wird in zwei Rhetoriken des 3. Jh. systematisch ausgeführt. PsDionysios (II.2.4.2.1) und Menander (II.2.4.2.2) geben dem Rhetor zahlreiche Trostgründe für einen verfrühten oder sonst wie tragischen Tod an die Hand. Ein früher Tod kann als Gunsterweis der Götter gedeutet werden („Wen die Götter lieben, holen sie zu sich“), oder aber der für antikes Verständnis naheliegende Schluss von negativ konnotierten Todesumständen auf einen zweifelhaften Charakter wird anhand des Motivs der Götterschelte bestritten: Der tragische Tod des Betrauerten wird den Göttern ausdrücklich als ungerechte Härte und unverdiente Strafe zum Vorwurf gemacht. Ein Sonderfall sind die Deklamationen des Polemon aus Laodikeia (II.2.4.1.3), die Elemente des epitaphischen Enkomoins in einer (fiktiven) forensischen Redesituation anwenden, den trovpo~ th`~ teleuth`~ zum Gegenstand einer breit ausgeführten suvgkrisi~ machen und damit vorführen, wie Elemente der Grabrede nicht nur für das Lob eines Verstorbenen verwendet werden können, sondern auch für dessen Herabsetzung. Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung sind antike exempla zum Thema Sterben und Tod, weil diese anschaulicher noch als rhetorische Lehrwerke geltende Vorstellungen und soziale Normen eines würdigen bzw. unwürdigen Sterbens reflektieren. Die antike Rhetorik misst dem Beispiel (exemplum, paravdeigma) nämlich nicht nur eine wichtige argumentative, sondern auch eine moralisch-lebenspraktische Funktion zu (exhortatio, admonitio). Anhand antiker exempla zum Todesthema lässt sich daher das Profil hellenistisch-römischer ars moriendi rekonstruieren: Sie führen vor, wie Sterben nach antiker Auffassung „gelingen“ kann und welches Todesverständnis ein Mensch sich bei Lebzeiten erworben haben muss, damit er sein Ende würdig besteht. Es entspricht der herausragenden Stellung des Todesproblems in der hellenistisch-römischen Ethik, dass man ganze Ex-

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

emplasammlungen zum Thema angelegt hat, etwa die von Diogenes Laertios benutzte Sammlung von teleutaiv des Hermipp v. Smyrna (3. Jh. v.Chr.), eine bei Cicero bezeugte Sammlung gleichen Inhalts, sowie die unter II.2.5.1 untersuchten Kapitel De mortibus non vulgaribus und De cupiditate vitae in Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia. Die von ihm gesammelten Todesfälle sind „ungewöhnlich“, weil sie die Regel, dass ein glückliches Leben mit einem sanften Tod endet, entweder in besonderer Anschaulichkeit bestätigen oder aber durchbrechen. Zugleich liegt das Augenmerk dieser exempla verstärkt auf den charakterlichen Merkmalen, die einen ehrenvollen Tod ermöglichen oder aber verhindern. Insofern gehören sie in den Bereich antiker Charakterkunde: Positive Charaktereigenschaften werden in der Situation des Sterbens einer letzten Bewährungsprobe unterzogen, und umgekehrt ist ein schlechter Charakter zweifelsfrei daran zu erkennen, dass er in dieser Situation scheitert. Eine eigene Variante solchen Scheiterns illustrieren die exempla im Kapitel De cupiditate vitae. Diese Beispiele machen deutlich, dass sich die im entscheidenden Augenblick fehlende Bereitschaft zu sterben ebenso negativ auf die Beurteilung eines Charakters auswirkt wie übermäßige Todesfurcht bei Lebzeiten. Das aber heißt: Vom Todesproblem her ist nach antiker Auffassung nicht nur ein Urteil über Verstorbene möglich, sondern auch über Lebende. Unbewältigte Todesfrucht gilt als ein Charakterfehler, der das Urteil über den bivo~ insgesamt nachteilig beeinflusst.

3. Biographie 3.1 Einführung „Biographie“ ist ein „moderner Sammelbegriff“, der „eine Fülle rhetorischer und literarischer Formen von der knappen Grabinschrift bis hin zur großen umfassenden Lebensdarstellung“ abdeckt.121 Dieser weite Begriff von Biographie deutet bereits an, dass die antike Biographie im engeren Sinne, der bivo~ bzw. die vita, Stil- und Formelemente aufweist, die auch für andere Rede- und Literaturgattungen maßgeblich sind. Die literarische Biographie benutzt eine Fülle persuasiver Techniken, die den Argumentationsmustern der Rede entsprechen [...]. Wie die kurze Personenbeschreibung (descriptio personae, prosopographia) nach bestimmten Topoi geordnet wird, so nimmt auch die große literarische B[iographie] diese Fragestellungen auf. Fast immer wird der Familie bzw. Herkunft (genus), der gesellschaftlichen bzw. politischen Zugehörigkeit (natio, patria), 121

Scheuer, Biographie 30.35.

Biographie

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dem Geschlecht (sexus), dem Bildungsgang und der Berufswahl (educatio et disciplina, studia) und meist auch dem Äußeren (habitus a corporis) und dem Charakter (animi naturae) Aufmerksamkeit gewidmet.122

Literaturgeschichtlich entspricht diesem Zusammenhang eine seit dem 4. Jh. v.Chr. zu beobachtende enge Verknüpfung von Enkomion und Biographie.123 Es steht also, was unser Thema betrifft, zu erwarten, dass der epideiktische und der literarisch-biographische Rekurs auf das Todesthema weitreichende Gemeinsamkeiten aufweisen. Hierauf deutet bereits die Verwendung einschlägiger biographischer exempla (II.2.5) in der epideiktischen Rede: Der rhetorische Gebrauch dieser Texte wurde dadurch begünstigt, dass sie vielfach selbst schon diejenigen Deutungsmuster auf das Thema Sterben und Tod anwendeten, derer sich auch der Redner für laus und vituperatio bediente. Die Textauswahl dieses Kapitels (Kaiserviten Suetons sowie ausgewählte Parallelbiographien Plutarchs) lässt überdies, wenn sie denn repräsentativ ist, ein hohes Maß an Gemeinsamkeit zwischen römischen und griechischen Biographien erkennen. Das motivische Inventar ist weitgehend das gleiche,124 und es bestehen große Ähnlichkeiten in der narrativen Konstruktion positiver bzw. negativer Persönlichkeitsbilder. Die eingangs zitierte Beobachtung Ronconis, dass „die Einzelheiten des Todes“ einer Person „einen ganzen Lebenslauf gleichsam symbolisch zusammenzufassen vermögen“,125 korrespondiert in griechischen wie in römischen Biographien der gedehnten Erzählzeit am Lebensende.126 Ereignisse und Taten im Zusammenhang von Sterben und Tod erreichen hier eine derart hohe Sinndichte, dass nahezu jedes erzählerische Detail ein Urteil über bivo~ und h\qo~ der betreffenden Person impliziert. 3.2 Griechische Biographie: Plutarch, Vitae Parallelae Plutarch, geboren nach 46 n.Chr. im boötischen Chaironeia, gest. nach 120 n.Chr., war als vom Platonismus seiner Zeit und teilweise vom Peripatos geprägter popularphilosophischer Schriftsteller zugleich der bedeutendste Biograph der Antike. Während seines Studiums in Athen wurde er Anhänger der Akademie. Auf zahlreichen und ausgedehnten Bildungsreisen hat er ganz Griechenland sowie Kleinasien und Ägypten kennengelernt. Er war 122

Scheuer, Biographie 35. Vgl. dazu Momigliano, Development 49ff. 124 Vgl. die ausführliche und materialreiche Zusammenstellung bei Frickenschmidt, Evangelium 303–350. 125 S.o. S. 45. 126 Vgl. Frickenschmidt, Evangelium 334ff. 123

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auch mehrfach in Rom, wo er bei Trajan und Hadrian in hoher Gunst stand. Seiner Vaterstadt Chaironeia hielt er Zeit seines Lebens die Treue. Dort bekleidete er kommunale Ämter – etwa fünfzigjährig wurde er außerdem Priester in Delphi – und unterhielt inmitten eines literarisch und philosophisch interessierten Freundeskreises eine Art Privatakademie. Von seinen zahlreichen Werken – die Suda listet 227 Titel auf – sind neben ca. 80 vermischten Schriften zu Ethik, Religion, Politik, Naturwissenschaften, Literatur und Pädagogik auch 22 (von ursprünglich 23) Parallelbiographien erhalten, in denen jeweils ein Grieche und ein Römer portraitiert und abschliessend einem Vergleich (suvgkrisi~, comparatio) unterzogen werden. Plutarchs Parallelviten sind für unsere Fragestellung bedeutsam als Dokumente populärer Ethik. „Nicht um histor[isches] Wissen zu vermitteln, hat er sie geschrieben (obschon das in ihnen gebotene histor[ische] Material einen sehr gewichtigen Teil unseres gesamten Wissen von griech[ischer] und röm[ischer] Gesch[ichte] darstellt), sondern die vorgeführten Helden sollen Paradeigmata sein, dem Leser als Vorbilder sittl[icher] Lebensführung [...] vor Augen gestellt werden.“127 Unter den antiken Biographen hat Plutarch „am konsequentesten auf die Möglichkeit gesetzt [...], das Leben seiner Mitmenschen durch Erzählen exemplarischer Lebensläufe moralisch zu bereichern und zu heben.“128 Die zahlreichen Sterbeszenen in Plutarchs Parallelviten führen eindrucksvoll vor Augen, in welchem Maße das popularethische Interesse auch am Todesproblem haftet. Die nachfolgend zu untersuchenden Textbeispiele (Sertorius, Eumenes, Pompeius) sind im Blick auf die besonders klare moralisch-ethische Bewertung der portraitierten Charaktere ausgewählt, die Plutarch mit der Darstellung ihrer Todesumstände verknüpft. 3.2.1 Sertorius und Eumenes Der römische Feldherr und Staatsmann Quintus Sertorius aus Nursia (123– 72 v.Chr.) hatte es nach Erfolgen als Redner und Anwalt v.a. durch seine Teilnahme am Kimbernkrieg unter Marius in Rom zu hoher Popularität gebracht. Als Parteigänger des Marius geriet er jedoch mit Sulla in Konflikt, auf dessen Betreiben er 83 v.Chr. als Prätor nach Spanien geschickt wurde. Dort errichtete er – zunächst vor Sulla nach Mauretanien geflohen, jedoch 80 v.Chr. zurückgekehrt – mit Hilfe alter Marianer und der einheimischen Aristokratie eine populare Gegenregierung zum optimatischen Regime in Rom. Pompeius, der zuvor eine bittere militärische Niederlage gegen Sertorius hatte hinnehmen müssen, vermochte den spanischen Widertand erst zu brechen, nachdem Sertorius 72 v.Chr. einer Verschwörung zum Opfer ge127 128

Ziegler, Plutarchos 947. Frickenschmidt, Evangelium 168.

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fallen war. Auch der Grieche Eumenes (362–316 v.Chr.) kam durch Verräter aus den eigenen Reihen zu Tode. Der einstige Privatsekretär und Diplomat Alexanders d. Gr. setzte sich nach dessen Tod für die Reichseinheit ein, doch wurden ihm die Wirren der Diadochenkriege zum Verhängnis. Nach einer unentschiedenen Schlacht gegen Antigonos Monophthalmos wurde er von seinen eigenen Offizieren an Antigonos verraten, der ihn töten ließ. Nach Plutarch sind Sertorius (Sertorius 26–27) und Eumenes (Eumenes 13–19) folgendermaßen ums Leben gekommen. Die gegen Sertorius Verschworenen ließen ihm einen gefälschten Brief über einen angeblich errungenen Sieg zukommen. Perperna, einer der Verschwörer, veranstaltet daraufhin ein Festmahl, zu dem er auch Sertorius lädt. In vorgetäuschter Trunkenheit provozieren die Verschwörer Sertorius mit demonstrativ schlechtem Benehmen. Als dieser sich auf seiner Liege herumdreht und den Festgästen als Zeichen seiner Abscheu den Rücken zukehrt, stößt ihm einer der Anwesenden sein Schwert in den Rücken. Sertorius will noch aufstehen, doch die Verschwörer stürzen sich auf ihn und töten ihn mit mehreren Schwerthieben. Eumenes wurde nach der unentschiedenen Schlacht von Paraitakene 316 v.Chr. von seinen eigenen Truppen an Antigonos ausgeliefert. Plutarch berichtet, die Anführer der ajrguravspide~ der „Silberbeschildeten“, eines Korps, das bereits unter Alexander gedient hatte, hätten Eumenes seine militärischen Erfolge geneidet und deshalb beschlossen, ihn umzubringen, sobald die anstehende Schlacht gegen Antigonos geschlagen wäre. Eumenes erfährt von dem Komplott und macht daraufhin sein Testament. Sein anschließendes Handeln ist jedoch von mangelnder Entschlossenheit gekennzeichnet. Er kann sich nicht zur Flucht entschließen und trifft Vorbereitungen für die kommende Schlacht, offenbar ohne klare Vorstellungen davon, wie sich die Dinge danach entwickeln sollen. Mit seinen eigenen Truppen behält er die Oberhand, doch unterliegen andere Verbände der gegnerischen Reiterei. Später wird er von den Silberbeschildeten entwaffnet, gefesselt und an Antigonos ausgeliefert. Vor seiner Auslieferung bittet er sich noch die Erlaubnis aus, an seine Truppen eine Rede halten zu dürfen, nicht um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wie Plutarch ausdrücklich anmerkt, sondern um ihre Feigheit zu schelten. Warum sie denn nicht den Mut hätten, ihren Feldherrn eigenhändig umzubringen, wirft er ihnen vor. Bei Antigonos wird er längere Zeit gefangen gehalten. Plutarch berichtet von einem Gespräch des Eumenes mit einem seiner Bewacher: Warum er denn nicht hingerichtet oder freigelassen werde, will Eumenes wissen, und er erhält die höhnische Antwort, er werde sich schon gedulden müssen, bis der, der ihn nun in seiner Gewalt hat, nach Gutdünken mit ihm verfährt (18).

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Die Ereignisse um den Tod des Römers und des Griechen sind in den Biographien selbst recht differenziert dargestellt. Plutarch enthält sich hier expliziter Bewertungen von beider Verhalten. Bei beiden vermerkt er, dass die Attentäter die gerechte Strafe der Götter ereilt habe, sie erscheinen also beide in einer Opferrolle. Das einzig kritische Moment in der Biographie des Eumenes ist seine Unentschlossenheit. Auch die anschließende comparatio gibt sich in ihrem Urteil sehr ausgewogen und lässt beide bivoi in ihrer Eigenart gelten. Nicht jedoch, als Plutarch auf beider Tod zu sprechen kommt. Hier ist die Bewertung der beiden Charaktere auf einmal höchst eindeutig und sie fällt denkbar gegensätzlich aus. Plutarch attestiert nämlich Sertorius ein ehrenvolles Sterben, Eumenes dagegen ein ehrloses: kai; mh;n ajpoqanei`n ge sunevbh tw`æ me;n ouj proaisqomevnwó, tw`æ de; kai; prosdecomevnwó th;n teleuthvn: w|n to; me;n ejpieikeiva~, fivloi~ ga;r ejdovkei pisteuvein, to; dÆ ajsqeneiva~, boulovmeno~ ga;r fugei`n sunelhvfqh. kai; tou` me;n ouj kathvæscune to;n bivon oJ qavnato~, pavsconto~ uJpo; tw`n summacw`n a} tw`n polemivwn aujto;n oujdei;~ ejpoivhsen: oJ de; feuvgein me;n pro; aijcmalwsiva~ mh; dunhqeiv~, zh`n de; metÆ aijcmalwsivan boulhqeiv~, ou[tÆ ejfulavxato kalw`~ th;n teleuth;n ou[qÆ uJpevmeinen, ajlla; prosliparw`n kai; deovmeno~, tou` swvmato~ movnou kratei`n dokou`nta to;n polevmion kai; th`~ yuch`~ aujtou` kuvrion ejpoivhsen. – Den einen traf der Tod, ohne dass er ihn ahnte, während der andere sein Ende voraussehen konnte. Jenes ist ein Beweis von Gutmütigkeit, denn er schien seinen Freunden völlig zu trauen; dieses verrät Schwachheit, denn er wurde ergriffen, als er fliehen wollte. Bei dem einen machte der Tod dem Leben keine Schande, indem er von seinen Streitgenossen erlitt, was ihm keiner seiner Feinde hatte antun können. Der andere, der seiner Gefangennahme nicht entfliehen konnte, aber nach ihr noch zu leben wünschte, wußte dem Tode weder auf eine rühmliche Art zu entgehen noch ihn zu erdulden, sondern machte durch das Bitten und Flehen seinen Feind, der nur Herr über seinen Leib zu sein schien, auch zum Herrn über seine Seele (Comparatio Eumenis et Sertorii 2).

Auffällig ist zunächst einmal, wie eng hier die Verbindung von Todesgeschick und charakterlicher Disposition ausfällt. Bei Sertorius ist die völlige Ahnungslosigkeit des Opfers Zeichen seiner „Gutmütigkeit“ (ejpieikeiva), Eumenes dagegen verrät durch sein Verhalten „Schwachheit“ (ajsqevneia), weil er – hier verzeichnet Plutarch offenbar um der Konstruktion eines eindeutig negativen Charaktertypus willen den eigenen Bericht – auf der Flucht ergriffen wurde. Sodann bringt die Formulierung kai; tou` me;n ouj kathvæscune to;n bivon oJ qavnato~ die Eigenheit antiker Wahrnehmung des Todesproblems in aller nur denkbaren Klarheit auf den Begriff: Sterben hat nach antikem Verständnis immer auch eine eminent soziale Dimension, sofern nämlich das Ansehen einer Person von deren Lebensende her Schaden nehmen oder aber bestätigt bzw. sogar gesteigert werden kann. Das Todesgeschick eines Menschen kann seinen bivo~ ehrenvoll beschließen oder aber, wie im Falle des Eumenes, irreversibel in Schande bringen. Drit-

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tens ist an der Unterscheidung von sw`ma und yuchv ablesbar, welche Rolle hierbei das Todesgeschick des Leibes spielt: Das sw`ma ist dasjenige, worüber der Feind Macht hat. Deshalb muss der Leib im Blick auf die persönliche Integrität eines Individuums radikal vergleichgültigt werden. Die Mörder des Sertorius konnten zwar sein sw`ma töten, nicht aber seinen subjektiven Wesenskern (yuchv) antasten. Dagegen hat Eumenes den Feinden nicht nur sein sw`ma ausgeliefert – dies wäre in dem Maße verzeihlich gewesen, wie es unabwendbar war – sondern auch seine yuchv, dadurch nämlich, dass er sich einer trügerischen Hoffnung auf Rettung hingab und auf diese Weise zum Gespött seiner Bewacher wurde. Der hier angedeutete Leib-SeeleDualismus weist eine eminent soziale Dimension auf. Der sw`ma–Begriff, wie er der gegensätzlichen Bewertung beider Charaktere zugrunde liegt, fasst den Leib nicht abstrakt anthropologisch, sondern im Kontext kontingenter sozialer Bezüge. Hier liegt dieselbe Abwertung des Leibes vor, wie sie auch für das Q-Logion Mt 10,28 par. Lk 12,4 maßgeblich ist.129 Der Mensch ist „Leib“, weil und sofern er sich in seiner sozialen Lebenswelt als angreifbar, verletzbar und im Extremfall in seiner Existenz bedroht erfährt. Die Vergleichgültigung des Leibes ist Teil einer Immunisierungsstrategie, die auf die Behauptung persönlicher Integrität auch in der Situation gänzlichen Preisgegebenseins an eine feindliche Übermacht zielt. Wenn Plutarch die völlige Wehrlosigkeit des Sertorius als Ausdruck bzw. Folge seiner ejpieikeiva deutet, dann schreibt er dem Römer seine Wehrlosigkeit kurzerhand als „Folgeerscheinung“ eines so arglosen wie ehrenwerten Vertrauens gut, das schändlich missbraucht wurde. Die Schwerthiebe auf den Leib des wehrlosen Opfers manifestieren gleichermaßen die Verwerflichkeit der Täter wie die charakterliche Noblesse des Opfers. 3.2.2 Pompeius Die spektakuläre Ermordung des Pompeius im September des Jahres 48 v.Chr. bei seiner Landung im ägyptischen Pelusion war den Zeitgenossen und späteren Generationen eine bekannte Tatsache: Der große Feldherr war nach der Niederlage, die er bei Pharsalos gegen Cäsar hatte einstecken müssen, in Richtung Ägypten geflohen, wo er mit ptolemäischer Hilfe eine neue Armee aufzustellen hoffte. Ptolemaios XIII. wagte jedoch nicht, offen gegen Cäsar Partei zu ergreifen und ließ Pompeius, als er aus dem Schiff an Land stieg, ermorden und ihm den Kopf abschlagen. Auch in der Pompeius-Biographie widmet Plutarch dem Todesgeschick des Leibes ein hohes Maß an erzählerischer Aufmerksamkeit, und auch hier bildet die Sterbeszene den Kulminationspunkt des gesamten bivo~, an dem die ganze Wertschätzung des Autors für die Figur des Pompeius ablesbar 129

S.o. S. 31.

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ist. Plutarch ist merklich daran gelegen, das würdelose Ende des Pompeius, von dem man, wie anzunehmen ist, in der ganzen griechisch-römischen Welt wusste, so zu erzählen, dass der Römer auch und gerade durch sein Todesgeschick als respektable Persönlichkeit kenntlich wird (79): Pompeius starb, „ohne etwas zu sagen oder zu tun, das seiner unwürdig gewesen wäre“ (mhde;n eijpw;n ajnavxion eJautou` mhde; poihvsa~). Hierzu gehört auch, dass sich der schon vom Schwert Durchbohrte die Toga über den Kopf zieht, wohl um das Gesicht des Sterbenden vor den Blicken seiner Mörder zu verhüllen und dem Leib des Sterbenden einen letzten Rest an Würde zu bewahren. Er ließ sich ohne Widerstand zu leisten niederstechen, d.h. als wehrloses Opfer, und so „beendete er sein Leben“ (teleuthvsa~ to;n bivon). Was nun folgt, ist durch diese narrative Zäsur vom eigentlichen Vorgang des Sterbens sorgsam getrennt: Die Enthauptung des Toten und die würdelose Behandlung des nackten Leichnams, den seine Mörder einfach am Strand liegen lassen. Erst als sie sich an diesem Anblick satt gesehen haben, darf ein Freigelassener des Pompeius die Leiche waschen, sie in sein eigenes Gewand wickeln, ihr aus Treibholz einen provisorischen Scheiterhaufen errichten und dem Feldherrn so doch noch die letzte Ehre erweisen (80). Die Schändung der Leiche ist in Plutarchs Darstellung ein Verbrechen und fällt auf die Täter zurück als Ausdruck grundloser Grausamkeit. Sie wird außerdem aufgewogen durch die verhüllende Geste des Sterbenden und die Ehrung, die dem toten Feldherrn durch seinen Freigelassenen widerfährt. Wie tendenziös Plutarch in der Pompeius-Biographie das Todesgeschick des Leibes gestaltet, wird an einem anderen Text hinreichend deutlich, der ebenfalls das Lebensende des Pompeius thematisiert, dies jedoch ohne jegliche Sympathie für den Römer. In den Psalmen Salomos wird sein Tod aus palästinisch-jüdischer Perspektive als göttliches Strafgeschick für seine Übergriffe auf den Jerusalemer Tempel gedeutet, wobei der Verfasser den Strafcharakter seines Endes explizit am schmachvollen Ergehen seines Leibes (sw`ma) demonstriert: kai; oujk ejcrovnisa e{w~ e[deixevn moi oJ qeo;~ th;n u{brin aujtou`, ejkkekenthmevnon ejpi; tw`n ojrevwn Aijguvptou uJpe;r ejlavciston ejxoudenwmevnon ejpi; gh`~ kai; qalavssh~: to; sw`ma aujtou` diaferovmenon ejpi; kumavtwn ejn u{brei pollh`æ, kai; oujk h\n oJ qavptwn, o{ti ejxouqevnwsen aujto;n ejn ajtimiva.æ – Und es dauerte nicht lange, bis Gott mir seinen Übermut zeigte, durchbohrt auf den Bergen Ägyptens, geringer geschätzt als der Geringste zu Wasser und zu Land; sein Leichnam trieb auf den Wellen unter großer Schmach, und es war keiner da, der ihn begrub, weil er ihn in Schande geringachtete (PsSal. 2,26ff).

Die erflehte Bestrafung des Pompeius, der 63 v.Chr. Judäa erobert und dabei mit seinen Soldaten auch den Jerusalemer Tempel betreten hatte,130 130

Zum historischen Hintergrund vgl. Schürer/Vermes/Millar, History 236–242.

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schlägt sich in den Augen des Verfassers in der verächtlichen Art und Weise seines Sterbens nieder. Der tote Leib (sw`ma) des Pompeius treibt auf den Wellen und bleibt (in signifikantem Unterschied zur Darstellung Plutarchs) unbestattet. Hier manifestiert sich das göttliche Strafgeschick am sw`ma. Der unbestattete Leichnam steht für äußerste Verachtung. Von einer Vergleichgültigung des Leibes für die individuelle persönliche Integrität kann hier keine Rede sein. Mit dem Gegensatz von Judentum (PsSal.) und Hellenismus (Plutarch) dürfte dies kaum etwas zu tun haben, denn auch Plutarch „sorgt“ sich erzählerisch um Pompeius’ toten Leib, um diesem ein Mindestmaß an Würde zu bewahren, und umgekehrt gibt sich das erwähnte QLogion Mt 10,28 par. Lk 12,4 in seiner dualistischen Abwertung des Leibes ganz hellenistisch. Allen diesen Texten ist kein anthropologisches, sondern ein rhetorisches Interesse zu eigen. Welche Rolle der Leib des Sterbenden spielt, entscheidet sich daran, ob der trovpo~ th`~ teleuth`~ mit positiver (enkomiastischer) oder negativer (tadelnder) Tendenz erzählt wird. 3.3 Römische Biographie: Sueton, Kaiserviten Sueton (70 od. 75 – um 150 n.Chr.), Sohn eines römischen Offiziers aus Hippo Regius, war in Rom zunächst als Redner und Anwalt tätig, trat dann in kaiserliche Dienste und wurde schließlich unter Hadrian mit dem Amt des vir ab epistulis betraut. In dieser Funktion des Geheimsekretärs erhielt er Einsicht in wichtige Dokumente und Urkunden der römischen Reichsverwaltung. Vieles davon fand Eingang in seine Kaiserbiographien. Diese sind wohl nach 121 entstanden, als Sueton beim Kaiser in Ungnade fiel und sich in das Leben eines Privatgelehrten zurückzog. In griechischer Sprache verfasste er zahlreiche Schriften über verschiedene Themen des römischen Lebens, die das Interesse des vorwiegend griechischsprachigen Ostens an der römischen Kultur dokumentieren.131 Von diesen Werken sind nur Fragmente erhalten. In Teilen erhalten ist das in Latein abgefasste Werk De viris illustribus, eine Sammlung von Kurzbiographien von Größen des römischen Geisteslebens, geordnet nach Rhetoren, Grammatikern, Philosophen, Dichtern, etc. Geht es in diesen Biographien vorrangig um die Bedeutung der portraitierten Personen im Blick auf ihre jeweilige Profession (Lehrer, Ausbildung, Begabung, Werke, Lehrtätigkeit, etc.), so entwerfen die ebenfalls lateinisch abgefassten zwölf Kaiserbiographien schon eher ein Charakterbild der einzelnen Herrscher. Dennoch unterscheiden sich diese Biographien wesentlich von denen Plutarchs, weil bei Sueton

131

Dihle, Literatur 269f.

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zwar Lebensführung und Eigenschaften der Kaiser in vielen Einzelheiten zur Sprache kommen, der Stoff aber keineswegs mit dem einzigen Ziel ausgewählt und angeordnet ist, das geschlossene Bild eines Lebens zu entwerfen, in dem sich eine sittlich bewertete Persönlichkeit mit ihren Vorzügen und Fehlern gebildet und entfaltet hat.132

Sueton hat vielmehr mit der „Freude des Datensammlers“133 nach dem Zettelkastenprinzip allerhand Einzelheiten zu Tätigkeiten, Lebensgewohnheiten und Charakterzügen über jeden Herrscher nach einem stereotypen Schema geordnet, ohne dass sich das Material zu einem profilierten Charakterbild zusammenschließt. Besonders in den thematisch aufgebauten Mittelstücken fällt der „gänzlich kunstlose und sehr ermüdende Erzählstil“134 auf, der eine erkennbare schriftstellerische Tendenz nicht selten vermissen lässt. Die Forschung bescheinigt Sueton dementsprechend einen „überhaupt nicht von politischen und wenig von moralischen Absichten bestimmte[n] Realismus“,135 ja sogar den „vornehme[n] und sachliche[n] Stil des Wissenschaftlers.“136 Er „legt ohne innere Anteilnahme den Stoff so vor, wie er ihn in seinen Quellen fand.“137 Dies macht die zwölf Kaiserviten Suetons jedoch nicht zu neutralen Faktensammlungen. In den chronologischen Rahmenstücken, die zu Beginn über familiäre Herkunft, Geburt und Erziehung und abschließend über die letzten Lebenstage, Tod und Begräbnis informieren, ist der Einfluss des biographischen Enkomions auf die zwölf Herrscherbiographien von Cäsar bis Domitian mit Händen zu greifen. Vor allem die Ereignisse um Sterben und Tod des jeweiligen Herrschers lassen in der Mehrzahl der Fälle eine Gesamttendenz der ansonsten ausgewogenen und anscheinend unparteiischen und sachorientierten Darstellung erkennen. Die bei Plutarch bewusst eingesetzte Topik literarischer Sterbeszenen kommt in gleichem Maße auch bei Sueton zum Einsatz. Gerade dadurch, dass das gelehrte Interesse Suetons mehr an einer Fülle wissenswerter bis kurioser Details als an der Zuspitzung von Charakterbildern haftet, wird deutlich, wie tief die soziale Semantik des Todesthemas im kulturellen Wissen der römischen Kaiserzeit verwurzelt war. Liest man die Sterbeszenen der zwölf Kaiserbiographien nacheinander, ergibt sich ein breites Spektrum möglicher Verhaltensweisen in der Situation des Todes bzw. ein ganzer Katalog möglicher Einstellungen zum Tod.

132

Dihle, Literatur 270f. Frickenschmidt, Evangelium 170. 134 Dihle, Literatur 271. 135 Fuhrmann, Sueton 412. 136 Till, Sueton xxxv. 137 Till, Sueton xxxii. 133

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3.3.1 Cäsar Die Schilderung der letzten Lebenstage Julius Cäsars, seiner Ermordung und seines Begräbnisses füllen mit neun von 89 Kapiteln mehr als ein Zehntel der gesamten Cäsar-Vita. Die Schilderung seines Charakters ist nicht frei von Kritik. Neben seinem ungeheuren Mut, seinen exzellenten militärischen Fähigkeiten (58ff), seiner Treue Freunden gegenüber und seiner Milde (73–75) kommen seine Überheblichkeit und seine Geringschätzung der Republik breit zur Darstellung (76ff). Sueton meint sogar, Cäsar habe „seine Herrschergewalt missbraucht und den gewaltsamen Tod mit Recht erlitten“ (76). Für die Schilderung des Todes selbst verwendet Sueton jedoch sämtliche literarischen Mittel, um diesen als ehrenvoll darzustellen. Als Cäsar realisiert, dass er von seinen Mördern umstellt ist, verhüllt er sein Haupt mit der Toga und zieht zugleich mit der linken Hand den Faltenbausch bis zu den Knöcheln nieder, damit der untere Teil seines Körpers bedeckt würde und er mit Anstand fiele (quo honestius caderet etiam inferiore corporis parte velata). In dieser Haltung wird er von dreiundzwanzig Stichen durchbohrt. Nur bei dem ersten Stoße ließ er einen Seufzer, aber kein Wort, vernehmen (82).

Die Szene der Ermordung Cäsars weist große Ähnlichkeit mit Plutarchs Darstellung von Pompeius’ Tod auf.138 Sie scheint dieser nachgebildet, oder bei Sueton (bzw. in seiner Quelle) werden Motive verwendet, auf die auch Plutarch für die Pompeius-Vita zurückgegriffen hat: Cäsar verhüllt wie Pompeius sein Haupt, damit das Gesicht des Sterbenden wie des Toten nicht den Blicken der Mörder ausgesetzt ist.139 Cäsar stirbt wie Pompeius ohne einen Laut der Klage oder einen Bittruf um Erbarmen; bei beiden ist es nur ein Seufzer, der aus dem Munde des Sterbenden laut wird. Cäsar zieht seine Toga außerdem so zurecht, dass sein Leichnam nicht entblößt daliegt.140 Hier wie in den übrigen untersuchten biographischen und historiographischen Texten kann offen bleiben, ob und inwieweit die Darstellung auf Tatsachen beruht. Uns interessiert im vorliegenden Zusammenhang allein die soziokulturelle Konnotation von Sterbeszenen, wie sie sich in antiken Texten niederschlägt. In diesem Rahmen kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass Sueton bzw. der verwendeten Quelle daran lag, Cäsar ehrenvoll sterben zu lassen. Diese positive Tendenz setzt sich bei der Schilderung der Begräbnisfeierlichkeiten fort, in der die Trauer des Volkes um Cäsar ebenso betont wird wie der allgemeine Zorn gegen die Cäsarmörder (84– 138

S.o. unter II.3.2.2. In deutlichem Kontrast schildert Sueton, wie die weit aufgerissenen Augen des ermordeten Nero Entsetzen bei den Umstehenden hervorrufen, s.u. unter II.3.3.5. 140 Vgl. dagegen die Ermordung Caligulas (II.3.3.4): Einer der Schwertstiche trifft ihn in den Unterleib. 139

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85). Vor allem aber legt Sueton Cäsar sein gewaltsames Sterben als Erfüllung seines Wunsches nach einem schnellen Tod aus, so dass aus dem erlittenen Attentat geradezu eine selbstbestimmte Tat wird. Sueton erreicht dies dadurch, dass er in einer Rückblende vom Wunsch des gesundheitlich bereits angeschlagenen Cäsar berichtet, nicht mehr allzu lange zu leben und möglichst plötzlich aus dem Leben zu scheiden: Bei manchem der Seinen hinterließ Cäsar den Eindruck, er habe nicht länger leben wollen und keine Vorsorge für sein Leben getroffen, weil seine Gesundheit zuletzt nicht mehr die beste war; deswegen habe er auch die Mahnungen der Vorzeichen wie die Warnungen seiner Freunde nicht beachtet. Manche Leute meinen, im Vertrauen auf den oben erwähnten Senatsbeschluss und Eid habe er auch die spanischen Garden, die ihn sonst mit blankem Schwert überall hin das Geleit gaben, entfernt, andere dagegen, er hätte es vorgezogen, den ihm von allen Seiten drohenden Nachstellungen ein für allemal sich preiszugeben, als in beständiger Angst davor zu leben. Wieder andere erzählen, er habe oft gesagt, es sei weniger in seinem als im Interesse des Staates, dass er am Leben bliebe. Er habe bereits Macht und Ruhm im Übermaße erlangt; der Staat dagegen werde, wenn ihm ein Unglück zustoßen sollte, statt Ruhe zu bekommen, von viel schlimmeren Bürgerkriegen heimgesucht werden. Darin jedoch stimmen alle vollkommen miteinander überein, daß ein solcher Tod ihm fast erwünscht gekommen sei. Denn als er einmal im Xenophon gelesen, dass Cyrus in seiner letzten Krankheit einige Anordnungen für seine Bestattung getroffen habe, hatte er seine Abneigung gegen ein so langsames Dahinsterben zu erkennen gegeben und sich einen plötzlichen, schnellen Tod gewünscht. Und als am Tage vor seiner Ermordung an der Tafel des Marcus Lepidus bei der Unterhaltung die Rede darauf kam, welches der leichteste Tod wäre, hatte er dem plötzlichen und unerwarteten Lebensende den Vorzug gegeben (86–87).

Cäsar erhält hier von seinem Biographen gewissermaßen posthum die Gelegenheit, sich in einer für ihn selbst vorteilhaften Weise noch bei Lebzeiten zu seinem Tod zu äußern. Wieder wird dem Lebenden eine positive Deutung seines eigenen Todes in den Mund gelegt und damit autorisiert. Die Attentäter spielen in dieser Deutung die Rolle von Erfüllungsgehilfen eines von seiner Intention her letztlich selbstbestimmten Sterbens. Die Opferrolle Cäsars wird damit geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Außerdem erscheint der Verzicht auf Leibgarden nicht als Leichtsinn, sondern als Ausdruck der Todesverachtung: Lieber will Cäsar einem Anschlag zum Opfer fallen, als in ständiger, unwürdiger Angst vor Attentätern zu leben.141 Die positive Tendenz im Schlussteil der Cäsar-Vita bestimmt auch die beiden letzten Kapitel, in denen Sueton von der Aufnahme Cäsars unter die Götter (88) und dem Schicksal seiner Mörder berichtet (89). In augenfälligem Kontrast notiert Sueton einerseits die Aufnahme Julius Cäsars 141 Vgl. dagegen oben S. 83 zu den Negativbeispielen eines von Todesfurcht motivierten übermäßigen Sicherheitsbedürfnisses bei Valerius Maximus.

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„unter die Zahl der Götter [...], aber nicht nur durch Verkündung eines formellen Beschlusses, sondern vielmehr aus innerer Überzeugung des Volkes“, sowie das Erscheinen eines Kometen, den das Volk für die in den Himmel aufsteigende Seele Cäsars hielt, und andererseits den baldigen und durchweg gewaltsamen Tod seiner Mörder. Das postmortale Schicksal Cäsars, das seinen irdischen Ruhm metaphysisch überhöht und verewigt, steht in direktem Gegensatz zum verdienten Strafgeschick der Attentäter. 3.3.2 Augustus Die Augustus-Vita mit einem Umfang von 100 Kapiteln ist die ausführlichste der zwölf Kaiserbiographien. Sie füllt ca. 20% des Gesamtwerkes. Die Ereignisse um Sterben, Tod und Begräbnis der von Sueton überaus positiv dargestellten Gründerfigur des Prinzipats umfassen die Kapitel 99 bis 101. Augustus stirbt eines würdigen Todes in den Armen seiner Frau, nachdem er wohlgesetzte letzte Worte zu ihr gesprochen hat. Hier kommt der Enkomientopos der eujqanasiva, den wir bereits aus den Progymnasmata Theons von Alexandrien kennen, nicht nur der Sache nach, sondern in begrifflicher Explikation zum Tragen: Das sanfte Sterben in Livias Armen wird nicht nur ausdrücklich als eujqanasiva namhaft gemacht, sondern auch als Erfüllung von Augustus’ Wunsch bezeichnet, einen solchen Tod zu sterben: Während er [Augustus] sich bei den eben aus Rom Eingetroffenen nach dem Befinden der kranken Tochter des Drusus erkundigte, verschied er plötzlich in den Armen seiner Gattin Livia mit den Worten: ‚Livia, gedenke unserer glücklichen Ehe und lebe wohl‘ leicht und schmerzlos, wie er es sich immer gewünscht hatte. Denn fast stets, wenn er früher vernommen hatte, dass jemand schnell und ohne Qualen gestorben sei, bat er die Götter für sich und die seinen um die gleiche ‚Euthanasie‘ – denn dieses griechische Wort pflegte er zu gebrauchen. Nur ein einziges Zeichen von Geistesabwesenheit machte sich bemerkbar, ehe er seinen Geist aufgab; denn er fuhr plötzlich erschreckt auf und klagte, er werde von vierzig Jünglingen fortgeschleppt. Auch das war indessen mehr eine Vorahnung als Irrereden; denn ebenso viele Soldaten seiner Leibgarde waren es, die seine Leiche hinaustrugen (99).

Ein weiteres wichtiges Element dieser Sterbeszene neben dem eujqanasivaTopos ist die Sorge des Sterbenden um seine Mitmenschen. Nicht sein eigener naher Tod beschäftigt Augustus, sondern der Gesundheitszustand von Drusus’ kranker Tochter. Damit beweist er nüchterne Gefasstheit und Selbstlosigkeit. Durch Vorzeichen seines Todes, die Augustus klar zu deuten versteht, ist er außerdem in der Lage, die Staatsgeschäfte auf sein baldiges Ende abzustimmen, sodass seine religiös-staatsmännischen Pflichten dadurch nicht verletzt werden. Als Augustus merkt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, überträgt er die für die folgende Amtsperiode zu erfüllen-

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den Gelübde an Tiberius, weil ihn sein Tod daran hindern würde, das Gelobte in die Tat umzusetzen: Auch sein Tod [...] und seine Erhebung zum Gott nach dem Tode sind ihm durch deutlichste Vorzeichen verkündet worden. Als er auf dem Marsfelde vor zahlreich versammeltem Volke das Reinigungsopfer verrichtete, flog ein Adler mehrmals um ihn herum und schwang sich dann auf den in der Nähe liegenden Tempel; dort setzte er sich über dem dort angebrachten Namen des Agrippa und zwar über dem ersten Buchstaben nieder.142 Sobald Augustus diesen Vorgang bemerkt hatte, beauftragte er seinen Kollegen Tiberius, die üblichen Gelübde für die nächstfolgende Periode zu verkünden. Denn obwohl sie fertig aufgeschrieben vorlagen, wollte er, wie er sagte, kein Gelübde aussprechen, das er nicht mehr zu erfüllen in der Lage wäre. Zur gleichen Zeit wurde durch einen Blitzstrahl aus der Inschrift seiner Statue der erste Buchstabe seines Namens weggeschmolzen. Die beauftragten Zeichendeuter gaben zur Antwort, er werde nur noch hundert Tage leben, denn diese Zahl bedeutet der Buchstabe C, und er werde unter die Götter aufgenommen werden; Äsar nämlich, der Rest des Namens Cäsar, heiße auf Etruskisch so viel wie Gott“ (97).

Wie bei Julius Cäsar koinzidieren die Ehrungen, die dem Verstorbenen in Form einer prachtvollen Begräbnisfeier zuteil werden, und sein postmortales Geschick (Erhebung in den Kreis der Götter). In den Biographien des Tiberius und Caligulas fehlen beide Elemente. Die im Mittelteil dieser Viten vereinzelt vorgetragene Kritik verdichtet sich im Schlussteil zu einer äußerst nachteiligen Darstellung von Sterben und Tod dieser Herrscher. 3.3.3 Tiberius Ganz anders als das Ende des Augustus gestaltet Sueton die Todesstunde des Tiberius. Damit entspricht er den Vorgaben der Schulrhetorik, die Enkomientopoi in ihr Gegenteil zu verkehren, wenn eine Person nicht gepriesen, sondern getadelt werden soll.143 Unsympathische Züge erhält Tiberius’ Portrait trotz einer auf weite Strecken durchaus positiven Darstellung durch die hemmungslose Promiskuität und die extreme, exzessiv ausgelebte Pädophilie dieses Herrschers (43–45). Seine Bemühungen um die Hebung der allgemeinen Sittlichkeit (35) geraten damit ins Zwielicht. Sueton bescheinigt ihm außerdem eine „grausame und gefühllose Natur“ (saeva ac lenta natura, 57). Diese äußerte sich mit den Jahren in immer schrecklicheren und willkürlicheren Gewalttaten und Verwandten- und Freundesmorden (61ff), für er bald allseits zutiefst gehasst wurde. Tiberius ist anders als Augustus in seiner Todesstunde allein; seine Rufe nach einem Diener verhallen ungehört; darauf erhebt er sich von seinem Lager, doch es verlassen ihn die Kräfte und er bricht tot zusammen (73). 142 143

M(arcus) Agrippa; „M“ für mors (Vgl. Heinemann, Sueton 154 Anm. 2). S.o. S. 56 zu Quintilian, Inst. 3,7,19.

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Keine letzten Worte, keine Freunde um sein Sterbebett, keine Prodigien über seine Vergottung. Statt dessen referiert Sueton den Freudentaumel des Volkes auf die Nachricht vom Tode des Kaisers hin, die Verwünschungen, die gegen ihn ausgestoßen wurden und die Hohnreden, die sich nach seinem Tode über ihn ergossen. 3.3.4 Caligula Ähnlich wie bei Tiberius schildert Sueton zunächst die hoffnungsvollen Anfänge der Regierung Caligulas, wenngleich dieser bereits als Knabe seinen „natürlichen Hang zur Grausamkeit und zum Laster“ erkennen ließ (11). Zu Beginn des 22. (von 60) Kapiteln erfolgt dann der programmatische Umschwung: „Soviel vom Fürsten Caligula, nun muss ich von dem Scheusal erzählen.“ Zu berichten ist von Verwandtenmorden, Inzest, Ehebruch, Missachtung des Senats, von grausamstem Sadismus bei der Durchführung von Hinrichtungen und maßlosester selbstherrlicher Willkür und Verschwendungssucht, von der Ausplünderung der Provinzen, schließlich von seinem Wahnsinn. Caligula erhält kurz vor seinem Tod an Stelle der Augustus zuteil gewordenen Vorzeichen seiner baldigen Erhebung unter die Götter im Gegenteil durch einen Traum Nachricht, dass er von den Göttern verstoßen wird: „Am Tage vor seiner Ermordung träumte ihm, er habe im Himmel neben Jupiters Thron gestanden; darauf habe ihn der Gott mit der großen Zehe seines rechten Fußes fortgestoßen und auf die Erde hinabgeschleudert“ (57). Wieder ist das sich hier ankündigende postmortale Geschick das narrative Pendant zur Darstellung der Todesumstände, die einen gleichermaßen unvorteilhaften Akzent setzen. Caligulas Ermordung ist mit dieser Degradierung durch Jupiter zusätzlich dadurch verzahnt, dass der Name des Gottes ausgerechnet die Parole abgibt, auf die hin der Herrscher ermordet wird, Sueton berichtet, der Konsul Cornelius Sabinus habe durch die in den Plan eingeweihten Centurionen die umstehende Menge vom Kaiser entfernen lassen und dienstlich um die Erteilung der Parole gebeten. Als Gaius das Losungswort ,Jupiter‘ ausgab, habe Chärea gerufen: ,So erfülle sich denn dein Schicksal!‘ und ihm, als er sich nach dem Sprecher umsah, das Kinn gespalten (58).

Wie Julius Cäsar wird Caligula von einer Verschwörergruppe mit Dolchen und Schwertern niedergestreckt. Ein Vergleich beider Szenen lässt die unterschiedliche Tendenz deutlich zutage treten: Bei Cäsar legt es Sueton darauf an, das würdevolle Sterben Cäsars nachzuzeichnen: Dieser verhüllt sein Haupt und zieht seine Toga zurecht, damit er auch sterbend keinen unwürdigen Anblick bietet. Dagegen notiert Sueton von Caligula: quidam etiam per obscaene ferrum adegerunt, „Einige Verschworene stießen ihm sogar das Schwert durch die Schamteile.“ Ganz unabhängig von der Frage, wie

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nahe diese Szenen der historischen Wirklichkeit kommen, lässt sich festhalten, dass ihnen auf der literarischen Ebene eine klar erkennbare Tendenz zu eigen ist, den betreffenden Herrscher würdig oder aber würdelos sterben zu lassen. Auch und gerade die Kaiserviten Suetons, die auf weite Strecken nicht mehr zu sein scheinen als das Produkt einer interesselosen Kompilation biographischer Einzeldaten, sind deshalb ein Beispiel dafür, wie sich die den Regeln der Schulrhetorik zugrunde liegenden sozialen Standards hinsichtlich eines ehrenvollen bzw. ehrlosen Todes auch in Biographien der frühen Kaiserzeit niederschlagen. 3.3.5 Nero Nero, der berüchtigte Muttermörder und Brandstifter, stand ungeachtet anfänglicher Milde und Großzügigkeit seinen Vorgängern an sadistischer Grausamkeit, Selbstherrlichkeit und Größenwahn um nichts nach. Auch die Nero-Vita lässt bei der Schilderung des Todes dieses Herrschers die Tendenz erkennen, sein Ende seinem schlechten Ruf entsprechend zu gestalten. Die detaillierte Schilderung der Ereignisse um Neros Flucht und Selbstmord (47–49) erzeugt ein Charaktergemälde, das ihn als angesichts des Todes ebenso feigen wie theatralischen Charakter vorstellt. Es steht hierin an Plastizität den Biographien Plutarchs um nichts nach. Nur nach langem Zögern und nur mit Hilfe seines Sekretärs Epaphroditus bringt Nero es fertig, sich mit einem Dolch den Todesstoß zu versetzen, seinen Häschern nur um Augenblicke zuvorkommend. Überdeutlich arbeitet Sueton das ängstliche Zaudern Neros heraus, der den Moment seines Todes mit mehreren Ausflüchten immer weiter hinauszuzögern versucht. Zwar entrinnt er mit knapper Not auf das Landgut seines Freigelassenen Phaon, doch wird er unterwegs erkannt und, inzwischen vom Senat zum Staatsfeind erklärt, verfolgt: Als jetzt seine Begleiter wiederholt in ihn drangen, sich der ihm drohenden schimpflichen Behandlung baldmöglichst zu entziehen, befahl er, vor seinen Augen eine Grube zu graben, die seinem Körpermaß angepasst war, und womöglich ein paar Stücke Marmor zusammenzustellen, ebenso Wasser und Kleinholz herbeizuschaffen, damit man seiner Leiche die letzte Ehre erweisen könnte. Während dieser Anordnungen weinte er heftig und brach wieder und wieder in die Worte aus ,Welch ein Virtuose stirbt in mir!‘ (49).

Als Nero durch einen Eilboten erfährt, dass er als Staatsfeind zu Tode gepeitscht werden soll, will er sich selbst töten, doch fehlt ihm der Mut: Auf die Nachricht des Boten hin ergriff er entsetzt zwei Dolche, die er mitgenommen hatte, prüfte ihre beiden Spitzen und – steckte sie wieder ein, wobei er vorschützte, seine Schicksalsstunde sei noch nicht gekommen. Dann forderte er mehreremal Sporus auf, die Totenklage um ihn

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anzustimmen. Dann bat er wieder, es möchte doch einer ihm im Selbstmord mit gutem Beispiel vorangehen. Zuweilen schalt er auf sein feiges Zaudern mit den Worten ,Mit Schimpf und Schande lebe ich! Das schickt sich nicht für Nero, das schickt sich wirklich nicht. – In solcher Lage gilt es, besonnen zu sein. Auf, ermanne dich!‘. Da sprengten schon die Reiter heran, denen befohlen war, ihn lebend zu fangen. Als er sie bemerkte, rezitierte er in seiner Todesangst den Homerischen Vers: ,Hufschlag eilender Rosse umtönt mir von ferne die Ohren‘ und stieß sich mit Hilfe seines Kabinettssekretärs Epaphroditus den Dolch in die Kehle (49).

Die Szenenfolge von der Ankunft auf Phaons Landgut bis zum Todesstoß entbehrt nicht satirischer Züge: Nero weint halb aus Todesangst, halb aus Ergriffenheit über das Ende des großen Virtuosen, der mit ihm dahinscheidet. Die Aussicht auf den Tod durch Auspeitschen flößt ihm Furcht ein, ebenso aber auch der Anblick der Dolche, weshalb er sie wieder wegsteckt. Dann begehrt er seine eigene Totenklage zu hören, bittet die Umstehenden, sie möchten ihm vormachen, wie man sich selbst den Tod gibt, zeiht sich voller Pathos selbst der Feigheit und bedarf schließlich für den Selbstmord noch der helfenden Hand des Epaphroditus. Als Nero tot ist, treten ihm „[z]um Entsetzen und zum Grausen der Umstehenden [...] die Augen weitgeöffnet aus den Höhlen“ (49). Auch dies ist keinesfalls ein wertneutrales biographisches Detail. Indem Sueton es in die Vita Neros einfügt, verewigt er die entwürdigende Blöße seines Leichnams mit literarischen Mitteln. Das Gegenstück hierzu finden wir in der Cäsar-Vita: Cäsar zieht sich die Toga über den Kopf, damit das Gesicht des Sterbenden und dann des Toten den Blicken seiner Mörder entzogen ist. Die Imagination des Lesers wird auch hier gezielt gesteuert. Der Tod Cäsars soll als würdevolles Sterben vorgestellt und erinnert werden. 3.3.6 Otho und Vitellius Mit Otho und Vitellius stellt Sueton zwei Herrscher des Vierkaiserjahres 69 n.Chr. vor, die er äußerst unterschiedlich beurteilt. Obwohl es über die Regierungszeit dieser Kaiser, die in beiden Fällen nur wenige Monate dauerte, naturgemäß nicht allzu viel zu berichten gibt und beide den Tod finden, weil sie im Kampf um die kaiserliche Macht unterliegen, fällt die Würdigung dieser Herrschergestalten doch recht gegensätzlich aus. Dies gilt vor allem für die im Verhältnis zum geringen Gesamtumfang dieser Biographien besonders ausführlichen Sterbeszenen. Das gefasste Sterben Othos und seine am Wohl seiner Soldaten orientierte umsichtige und überlegte Planung seines Freitodes steht in scharfem Gegensatz zum ängstlichen Gebaren des Vitellius, der in seiner Todesangst zu einer ganz und gar kläglichen Erscheinung und schließlich zum Gespött der Menge wird. In der Biographie Othos betont Sueton viel stärker noch als in der Augustus-Vita das Moment pflichtbewusster Fürsorge angesichts des Todes.

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Als Otho erfährt, dass seine Truppen bei Bedriacum in der von ihm leichtsinnig forcierten Entscheidungsschlacht gegen die Verbände des Vitellius unterlegen sind, beschließt er, sich den Tod zu geben, jedoch nicht aus Verzweiflung, sondern um dem nach seiner innersten Überzeugung eigentlich sinnlosen Krieg um die Macht im Staate ein Ende zu bereiten. Er entschloss sich, zu sterben mehr weil er sich nicht überwinden konnte, den Kampf um die Herrschaft auf Kosten des Reiches und mit dem Blute seiner Soldaten fortzusetzen, als aus Verzweiflung an seiner Lage oder aus Misstrauen gegen seine Truppen. Denn es standen ihm noch seine ganzen Reserven ungeschwächt zur Verfügung und noch andere Truppen waren aus Dalmatien, Pannonien und Mösien im Anmarsch begriffen. Selbst die Geschlagenen waren keineswegs so entmutigt, dass sie nicht, um ihre Scharte wieder auszuwetzen, von selbst, ohne alle Unterstützung, zu jeder kühnen Unternehmung bereit gewesen wären (9).

Otho geht so gefasst und nüchtern mit der Tatsache seines nahen Endes um, als sei sein eigener Tod für ihn mehr ein organisatorisches als ein existentielles Problem. Wie Nero zögert er seinen Tod hinaus, jedoch nicht aus Feigheit, sondern weil er darüber wachen will, dass seine Soldaten die Gelegenheit erhalten, sich unbehelligt in Sicherheit zu bringen. Seine völlige Gefasstheit äußert sich darin, dass er Trostscheiben verfasst, am Abend vor seinem Tod jeden empfängt, der ihn zu sprechen wünscht und darauf tief und fest schläft: So redete er denn seinem Bruder, dessen Sohn sowie seinen Freunden einzeln zu, jeder von ihnen möchte nach Möglichkeit auf seine Rettung bedacht sein, und umarmte und küsste sie zum Abschied. Dann zog er sich zurück und schrieb zwei Briefe: Ein Trostschreiben an seine Schwester, aber auch ein Schreiben an Neros Witwe Messalina, die er zu heiraten vorgehabt hatte. Er empfahl ihr seine sterblichen Reste und sein Andenken. Dann verbrannte er seine sämtlichen Briefschaften, damit sie niemand bei dem Sieger in Gefahr brächten. Ebenso verteilte er unter seine Bedienten Geldbeträge, soweit ihm hierfür Mittel zur Verfügung standen. Während seiner Vorbereitungen zum Sterben entstand ein heftiger Lärm. Auf die Nachricht, man vergreife sich an den Leuten, welche sich anschickten, ihn und das Lager zu verlassen, als wäre sie Deserteure, sagte er: „So wollen wir denn unserem Leben noch diese eine Nacht zugeben.“ – Dies waren buchstäblich seine Worte. Zugleich verbot er, jemandem Gewalt anzutun, ließ die Türen seines Schlafzimmers offen und gewährte jedem, der ihn sprechen wollte, bis zum späten Abend Audienz. Dann stillte er seinen Durst durch einen Trunk kalten Wassers, ergriff zwei Dolche, prüfte ihre Schärfe, steckte den einen unter sein Kopfkissen, ließ die Türen schließen und versank in einen ruhigen, festen Schlaf. Erst gegen Morgen erwachte er und durchbohrte sich mit einem einzigen Stoße unter der linken Brustwarze. Als seine Diener bei dem ersten lauten Aufstöhnen in das Schlafgemach drangen, hauchte er, während er die tödliche Wunde bald zuhielt, bald aufdeckte, seine Seele aus und wurde schnell – denn so lautete seine

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Vorschrift – begraben, fast achtunddreißig Jahre alt, am fünfundneunzigsten Tage seiner Regierung (10–11).

Dem Aufbauschema der Kaiserviten entsprechend schließt Sueton eine Betrachtung zur Physiognomie Othos an. Er vermerkt, dass seine wenig glückliche körperliche Erscheinung in krassem Gegensatz zu seiner Seelengröße stand, und sieht hierin den Grund dafür, ut mors eius minime congruens vitae maiore miraculo fuerit, „dass sein Tod, der mit seinem Leben so gar nicht in Einklang stand, um so größere Bewunderung erregt hat.“ Hier stossen wir wieder auf den Gedanken, dass die Weise des Sterbens für gewöhnlich mit der Lebensführung eines Menschen übereinstimmt. Das Schicksal Othos ist nach Sueton eine denkwürdige Ausnahme von dieser Regel, denn er bescheinigt Otho zwar eine jahrelange uneigennützige und maßvolle Tätigkeit in der Provinz (3), doch führt er seine enge Freundschaft mit Nero auf „vollständige Gleichheit ihrer Charaktere“ zurück (2). Der Tod des Vitellius erscheint dagegen als folgerichtiges Ende eines Mannes, der sich, sobald er an der Macht war, „[m]ehr und mehr [...] über alles göttliche und menschliche Recht hinweg[setzte]“ und sich für jedermann sichtbar am Regierungsstil Neros orientierte (11). Die Szenen von Vitellius vergeblicher Flucht und seinem schmachvollen Ende sind mit allen Elementen eines unwürdigen Todes bestückt: Angstvolles Ausharren in einem Versteck, fehlender Mut zum Freitod (Vitellius stellt nicht einmal Überlegungen an, sich selbst zu töten), Flehen um Gnade, öffentliche Vorführung des Gefangenen, Verspottung und qualvolle Tötung durch den Mob. Als Vespasians Soldaten ihn aus einer Kammer hervorzogen, in der er sich versteckt gehalten hatte, flehte er unaufhörlich, ihn einstweilen, und wäre es auch in einem Kerker, in Gewahrsam zu halten, wobei er vorgab, dass er wichtige Dinge, die das Leben Vespasians beträfen, zu sagen habe. Doch man band ihm die Hände auf den Rücken und schleppte ihn, einen Strick um den Hals, mit zerrissenen Kleidern, halb nackt auf das Forum. Die ganze Heilige Straße entlang erlitt er die größten Misshandlungen und Beschimpfungen. Man zog ihm, wie das nur bei Verurteilten zu geschehen pflegt, den Kopf an den Haaren zurück und befestigte ein Schwert mit der Spitze nach oben auf seiner Brust, damit er sein Gesicht sehen lassen musste und nicht zur Erde sehen konnte. Einige bewarfen ihn mit Kot und Mist, andere schimpften ihn Mordbrenner und Fresssack, ein Teil des Pöbels verhöhnte ihn sogar seiner körperlichen Gebrechen wegen: er war nämlich überaus groß, sein Gesicht vom übermäßigen Weingenuss fast kupferrot, sein Leib aufgedunsen und das eine Bein etwas lahm infolge eines Stoßes von einem Viergespann, den er beim Wettlauf erlitten hatte, während er Kaiser Caligula dazu anleitete. Zuletzt wurde er bei den Gemonien durch unzählige kleine Wunden zu Tode gemartert und dann mit einem Haken in den Tiber geschleift (17).

Sueton variiert das von ihm verwendete biographische Schema in diesem Text dergestalt, dass er die obligatorische Betrachtung zur Physiognomie

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im Schlussteil in die Erzählung vom Tod des Vitellius einbindet und seine körperlichen Gebrechen zum Gegenstand des Spottes derer werden lässt, die ihn qualvoll töten. Damit verschmelzen zwei Elemente, die die Schulrhetorik als Bestandteile des Enkomions (bzw. hier seines Gegenteils, des Tadels) vorsieht, zu einer narrativen Einheit, nämlich Todesumstände und körperliche Konstitution. Derjenige, der schändlich zu Tode gebracht werden soll, wird obendrein noch wegen seiner körperlichen Defizite verhöhnt. Während Otho in der Darstellung Suetons ein erstaunliches Gegenbeispiel für den Zusammenhang zwischen körperlicher Erscheinung und der Weise des Sterbens abgibt – seine körperliche Konstitution ist wenig vorteilhaft, und dennoch ist er ehrenvoll gestorben – wird dieser Zusammenhang in der Vitellius-Vita anschaulich bestätigt. Die Schändung des Körpers durch die zum Tode führende Marter und dessen Verspottung wegen seiner Gebrechen kulminieren in Suetons Darstellung zu einem drastischen Fallbeispiel für die Bedeutung, die antike Sterbeszenen dem Todesgeschick des Leibes zumessen. 3.3.7 Die flavischen Kaiser In einer Vorbemerkung zur Biographie Vespasians lobt Sueton die Herrschaft der flavischen Kaiser Vespasian, Titus und Domitian als eine Zeit der Kontinuität nach den Wirren des Jahres 69. Diese positive Bewertung gilt indes nur sehr eingeschränkt für Domitian, der bereits wieder alle Merkmale des Gewaltherrschers erkennen ließ. Zwei Elemente des biographischen Enkomions spielen in dieser Vorbemerkung eine Rolle: Die familiäre Herkunft (genus, gevno~) und, Domitian betreffend, die Todesumstände (genus mortis, trovpo~ th`~ teleuth`~). Die unbedeutende Abstammung der Flavier ist angesichts der Verdienste Vespasians und Titus’ hinnehmbar, und Domitians Ermordung wird als gerechte Strafe für seine Gewaltherrschaft namhaft gemacht. Um die negative Sonderstellung von Vespasians jüngerem Sohn schon zu Beginn der Flavier-Viten kenntlich zu machen, erwähnt Sueton dessen verdientermaßen gewaltsamen Tod : Die Herrschaft über den römischen Staat, die durch die gewaltsame Besitzergreifung und die Ermordung dreier Kaiser längere Zeit unsicher und dauernden Veränderungen ausgesetzt war, übernahm endlich das Geschlecht der Flavier und verlieh ihr Beständigkeit. Dies Geschlecht war zwar von dunkler Herkunft und verfügte nicht über die Bilder berühmter Ahnen, aber der Staat brauchte sich dessen nicht zu schämen, wenn es auch immerhin Tatsache ist, dass Domitian nur den verdienten Lohn für seine Habgier und Grausamkeit erlitten hat (1).

Die in 1,1–2 vorgetragene Bewertung der flavischen Kaiser koinzidiert mit der Tendenz der einzelnen Sterbeszenen. Eine parallele Lektüre dieser Texte zeigt außerdem, dass Sueton auch in diesen drei letzten Biographien das

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Spektrum möglicher Verhaltensweisen angesichts des Sterbens nochmals erweitert. Das Portrait Vespasians fällt ausgesprochen positiv aus. Sueton weiß fast nur Gutes von ihm zu berichten, und seinen einzigen Fehler, ausgeprägte Geldgier (16,1–3), will der Biograph mit staatsmännischer Sparsamkeit erklären (16,3).144 Vespasians Gelassenheit im Umgang mit seinem eigenen Tod äußerst sich durch Selbstironie. Als er Anzeichen einer schweren Erkrankung an sich feststellt, soll er den berühmten Satz gesagt haben: vae puto deus fio „Hilfe, ich werde ein Gott“ (23,4). Auch als seine Kräfte schon schwinden und er sich von seinem Krankenlager nicht mehr erheben kann, versieht er die Regierungsgeschäfte und empfängt sogar Gesandte zur Audienz. Als es mit ihm zu Ende geht, äußert er, ein Kaiser müsse stehend sterben, und erhebt sich mit letzter Kraft. Er stirbt in den Armen derer, die ihn aufrichten wollen (24). Hier begegnet wieder das Motiv der Pflichterfüllung, das Sueton auch in der Biographie Othos verwendet: Der Sterbende ist mental nicht mit seinem Tod befasst, sondern mit den ihm obliegenden Pflichten. Dies gereicht ihm zur Ehre. In der engen Verflechtung von Leib und Tod bildet die Sterbeszene der Vita Vespasians außerdem das Gegenstück zum unwürdigen Sterben des Vitellius: Vespasian richtet seinen Leib noch im Sterben auf und verleiht ihm damit Würde, dagegen wird der Leib des zu Tode gemarterten Vitellius zum Gegenstand des Spottes. Über Titus äußert sich Sueton zunächst äußerst kritisch. Man habe ihn anfänglich sogar für einen zweiten Nero gehalten, aber „dieser Ruf schlug zu seinen Gunsten ins Gegenteil um und verwandelte sich in die größte Bewunderung, da sich bei ihm als Kaiser nicht nur keines dieser Laster, sondern gerade umgekehrt die herrlichsten Eigenschaften herausstellten“ (7). Titus war ein milder, selbstloser und gewissenhafter Herrscher. Seit er das Amt des Pontifex Maximus versah, wurde niemand mehr auf seinen Befehl hin oder mit seiner Zustimmung hingerichtet. Er verschonte selbst seine erklärten Feinde, ebenso Domitian, an dessen übler Gesinnung kein Zweifel bestand (9). Titus’ Tod nach nur etwas mehr als zwei Jahren Regierungszeit passte nach antikem Verständnis schlecht zu der gerechten Herrschaft dieses Kaisers. Sueton löst diesen Widerspruch mit einem rhetorischen Stilmittel auf, das wir bereits aus griechischen Epitaphien der nachklassischen Zeit kennen, nämlich mit der Klage über ein ungerechtes Schicksal.145 Der Gegensatz zwischen Lebensführung und Todesgeschick wird dadurch entschärft, dass er ausdrücklich benannt und als ungerecht qualifiziert wird. Nach Sue144 Man vergleiche, was Qunitilian in Inst. 3,7,22–25 zum Thema „Nachbarschaft zwischen Tugenden und Lastern“ (virtutibus ac vitiis vicinitas) sagt; s.o. S. 57. 145 S.o. unter II.2.4.2.2 zu Menander Rhetor.

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ton ist es Titus selbst, der auf seine Rechtschaffenheit verweist und sein Schicksal beklagt: Mitten in seiner ausgezeichneten Regierung überraschte Titus ein vorzeitiger Tod, mehr zum Unglück der Menschheit als zu seinem eigenen. Nach Schluss der öffentlichen Schauspiele, an deren Ende er angesichts des Volkes bitterlich geweint hatte, begab er sich in das Sabinerland, noch niedergeschlagener, weil ihm beim Opfern das Opfertier entsprungen war und es bei heiterem Himmel gedonnert hatte. Gleich beim ersten Nachtquartier bekam er Fieber, ließ sich aber in einer Sänfte weitertragen. Dabei schlug er, wie man erzählt, häufig die Vorhänge zurück, blickte zum Himmel auf und klagte bitterlich: ,Ich habe es nicht verdient, dass mir das Leben genommen wird, denn es gibt keine Tat, die ich zu bereuen habe, ausgenommen eine einzige‘. Welche er damit gemeint hat, darüber sprach er selbst sich damals nicht deutlich aus, und für andere mag es nicht leicht sein, es zu erraten (10).

Auch Sueton selbst lässt offen, was Titus gemeint haben könnte. Er erwähnt das Gerücht einer Affäre mit seiner Schwägerin Domitilla, doch hält er diese Möglichkeit für äußerst unwahrscheinlich. Der beherrschende Eindruck ist deshalb Titus’ Unschuldsbeteuerung, die Sueton als glaubwürdig darstellt. Der Text liefert ein weiteres Beispiel dafür, dass mit Werturteilen besetzte Deutungen individuellen Sterbens in biographischen und historiographischen Texten bevorzugt aus dem Munde des Sterbenden selbst laut werden, besonders dann, wenn diese Deutungen nicht unstrittig sind und der Autorisierung durch letzte Worte aus dem Munde des Verstorbenen bedürfen. An Domitian hebt Sueton die mit den Jahren immer stärker zunehmende Gewaltsamkeit hervor (9–10), die je länger desto mehr mit sadistischer Heimtücke gepaart war (11). Hinzu kommt völlig übersteigerte Anmaßung (12–13). In Übereinstimmung damit ist Domitian auch hinsichtlich seiner Haltung angesichts des Todes ein Negativbeispiel. Sueton legt den erzählerischen Akzent weniger auf die Sterbeszene selbst, als vielmehr auf die Schilderung einer schon früh einsetzenden, unwürdigen Todesfurcht des Flaviers. Schon in seiner Jugend, berichtet Sueton, hätten ihm Chaldäer Jahr, Tag, Stunde und (nämlich durch einen Dolchstoß) die Art seines Todes geweissagt. Anders jedoch als bei Augustus nutzt Domitian dieses Vorauswissen nicht zu einer klugen Planung seiner letzten Lebenszeit, anders als bei Cäsar stellt sich keine Gelassenheit ein. Vielmehr wird er immer mehr in lähmende Todesfurcht verstrickt, ist in ständiger Ängstlichkeit befangen und versucht mit sinnlosen Maßnahmen, seinem Todesgeschick zu entgehen: Er lässt die Wandelgänge seines Palastes verspiegeln, um hinter seinem Rücken lauernde Attentäter rechtzeitig zu bemerken, er lässt seinen Geheimsekretär Epaphroditus hinrichten, der seinerzeit Nero bei seinem zögerlichen Freitod die Hand geführt hatte, „um seinen Hofbedienten einzuschärfen, man dürfe sich selbst in guter Absicht nicht dazu verleiten las-

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sen, an seinen Herrn Hand anzulegen“ (14). Die unbewältigte Todesfurcht Domitians wird dem Leser anhand dieser und anderer erzählerischer Details als schwerwiegender Charakterfehler anschaulich, der in Einklang mit seiner auch ansonsten negativ beurteilten Persönlichkeit steht. 3.4 Zusammenfassung Biographische exempla haben nicht erst dann eine moralisch-lebenspraktische Dimension, wenn sie aus Biographien und Geschichtswerken extrahiert und im rhetorischen Kontext verwendet werden. Es lässt sich ein popularethisches Interesse auch der hellenistisch-römischen Biographie beobachten, und dies nirgends deutlicher als in den Vitae parallelae Plutarchs, die der Autor erklärtermaßen mit der Absicht der moralisch-ethischen Erziehung seiner Leser verfasst hat. Die Sterbeszenen dieser Biographien lassen sich deshalb als Modellfälle antiker ars moriendi lesen. Sie wollen nicht historische Sachverhalte zu Protokoll geben, sondern die Leser zu einer verantworteten Haltung zu Sterben und Tod anleiten. In der Situation des Sterbens zeigt sich, ob sich ein Mensch der Einübung ins Sterben erfolgreich unterzogen, oder sich ihr zum Schaden seines eigenen Ansehens entzogen hat. In den untersuchten Biographien (Sertorius/Eumenes, Pompeius) tritt die Verbindung von Todesgeschick und charakterlicher Disposition klar zu Tage: Die Todesumstände des Sertorius schreibt Plutarch dem Römer gut als Folge argloser „Gutmütigkeit“ (ejpieikeiva), und er konstatiert: ouj kathvæscune to;n bivon oJ qavnato~. Eumenes dagegen verrät durch sein Verhalten „Schwachheit“ (ajsqevneia), und er bringt seinen bivo~ insgesamt durch die Weise seines Sterbens irreversibel in Schande. In der Pompeius-Biographie ist Plutarch sichtlich bemüht, das bekanntermaßen würdelose Ende des Feldherrn gleichwohl zu dessen Vorteil darzustellen: Pompeius starb mhde;n eijpw;n ajnavxion eJautou` mhde; poihvsa~, und dem hingemordeten Leib am Gestade des ägyptischen Pelusion wird wenigstens ein provisorisches Begräbnis zuteil. In krassem Gegensatz dazu steht ein palästinisch-jüdischer Reflex auf den Tod des Pompeius: In PsSal. 2,26ff wird der Tod des Römers als göttliche Strafe dafür gedeutet, dass er bei der Eroberung Judäas den Jerusalemer Tempel betreten hatte, und der Strafcharakter seines Todes wird explizit am schmachvollen Ergehen seines Leibes demonstriert: Sein sw`ma „trieb auf den Wellen unter großer Schmach (ejn u{brei pollh`æ), und es war keiner da, der ihn begrub, weil er ihn in Schande geringachtete (ejxouqevnwsen aujto;n ejn ajtimivaæ).“ Bei Plutarch wie in PsSal. ist es das Todesgeschick des Leibes, von dem aus ein Urteil über die Person des Pompeius gefällt wird.

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Letzteres Motiv spielt auch in Suetons Kaiserviten eine wichtige Rolle. Cäsar verhüllt, schon von den Dolchen seiner Attentäter getroffen, seinen Leib mit seiner Toga, damit sein Leichnam nicht entblößt vor seinen Mördern liegt. Im Gegensatz dazu beschreibt Sueton in aller Anschaulichkeit, wie dem getöteten Nero die Augen weit aus den Höhlen treten. Vitellius, zu feige zum Freitod, wird nicht nur grausam zu Tode gefoltert, sondern zuvor noch wegen seiner körperlichen Gebrechen öffentlich verspottet. Dies sind keinesfalls absichtslose erzählerische Details, ganz unabhängig von der (nur selten überhaupt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu beantwortenden) Frage, wie nahe sie den tatsächlichen historischen Sachverhalten stehen. Vielmehr handelt es sich um narrative Konstruktionen, die das jeweilige Todesgeschick des Leibes danach gestalten, wie die einzelne Herrscherpersönlichkeit der Nachwelt in Erinnerung bleiben soll. Die Ehre oder Verachtung, die dem Leib des Sterbenden auf der Erzählebene widerfährt, wird literarisch verewigt als Hochschätzung oder Verachtung der ganzen Person. Obwohl Sueton weitaus weniger an der Zeichnung profilierter Charakterbilder liegt als Plutarch und er offenbar auch dessen popularethisches Anliegen nicht teilt, gehorcht die Darstellung bei den Sterbeszenen der einzelnen Herrscherbiographien doch den rhetorischen Regeln von Lob und Tadel. Gerade die textpragmatisch offenbar weniger absichtsvolle Verwendung dieser Topoi macht die soziale Semantik des Todesthemas in der hellenistisch-römischen Antike deutlich. Liest man die einzelnen Sterbeszenen quer, ergibt sich ein facettenreiches Bild möglicher Verhaltensweisen, die entweder ein würdiges oder unwürdiges Sterben exemplifizieren: Caesar findet in Vorahnung seines gewaltsamen Endes zu souveräner Gelassenheit, Augustus und Otho sind mental überhaupt nicht mit ihrem nahen Tod befasst, vielmehr legen sie eine beispielhafte umsichtige und selbstlose Fürsorge für andere an den Tag. Dagegen stellt Sueton die feige Zaudern Neros vor dem Freitod in geradezu satirischer Überzeichnung heraus. Auch Domitian, der in Kenntnis eines seinen Tod betreffenden Orakels schon Jahre vorher in eine unwürdige und lähmende Todesfurcht verfällt, erscheint in einem äußerst ungünstigen Licht, ebenso Vitellius, der um Gnade fleht, jedoch nur Spott erntet. Ein wichtiges literarisches Mittel sind sodann die ultima verba aus dem Munde des Sterbenden.146 Wo ein Biograph seinem Protagonisten die Gelegenheit zu letzten Worten gibt, dienen sie meist dazu, eine positive Deutung seines Sterbens dadurch zu autorisieren, dass der Sterbende selbst sie ausspricht. Ausnahmen (Neros lächerliches qualis artifex pereo) bestätigen die Regel. 146 Vgl. dazu das bei Gnilka (Verba) gesammelte Material sowie für die rabbinische Literatur Saldarini, Words.

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Fehlen letzte Worte (Tiberius) oder sprechen andere sie (Vitellius’ Verhöhnung durch den Pöbel), bedeutet dies meist nichts Gutes. Sodann ist eine Besonderheit der römischen Kaiserbiographie die Einbeziehung der postmortal-jenseitigen Dimension. Trifft die Feststellung Quintilians, es bestehe selten Gelegenheit ut referri possint divini honores, für das rhetorische Alltagsgeschäft fraglos zu, so spielt dieser Aspekt bei den römischen Kaisern doch eine bedeutende Rolle. Auch hier stehen sich bei Sueton Positiv- und Negativbeispiele augenfällig gegenüber: Auf der einen Seite die durch Vorzeichen angekündigte Erhebung des Augustus unter die Götter und andererseits der Traum Caligulas, er sei mit einem göttlichen Fußtritt aus dem Himmel befördert worden.

4. Historiographie 4.1 Einführung Plutarch rechtfertigt die selektive Darstellungsweise seiner Parallelbiographien, die manches für den Gang der Geschichte Belangvolle auslässt und dafür lieber bei charakterkundlich aufschlussreichen Einzelheiten verweilt, mit dem knappen Satz: ouj ga;r iJstoriva~ gravfomen, ajlla; bivou~ (Alex. 1,2). Diese Disjunktion kann indes nur idealtypisch verstanden werden. Ihr apodiktischer Gestus ist viel eher die Kehrseite antiker Abgrenzungsprobleme zwischen Historiographie und literarischer Biographie als der Reflex einer theoretisch und praktisch sauber vollzogenen Trennung von beidem. Schon bei Thukydides ist die Darstellung gleichermaßen ereignis- und personenzentriert, und spätestens seit Polybios kann regelrecht von einer programmatischen Verschmelzung von Biographie und Geschichtsschreibung die Rede sein.147 Polybios erklärt, als er auf den achäischen Staatsmann und Feldherrn Philopoimen zu sprechen kommt, folgendes: [E]s [scheint] mir angezeigt, ebenso wie ich auch bei allen anderen bedeutenden Männern ein Bild von ihrem Wesen und Charakter (ta;~ eJkavstwn ajgwga;~ kai; fuvsei~) zu entwerfen versucht habe, dies auch bei ihm zu tun. Denn es ist widersinnig (a[topon), dass die Historiker über die Gründung von Städten (tw`n povlewn ktivsei~ tou;~ suggrafeva~), wie, wann und durch wen sie erfolgt ist, über ihre Einrichtungen und Verhältnisse eingehend berichten, hingegen sich über Wollen und Wirken der politisch leitenden Männer (ta;~ de; tw`n ta; o{la ceirisavntwn ajndrw`n ajgwgav~) ausschweigen, obwohl dies doch eine weit wichtigere Aufgabe ist. Denn lebendigen Menschen kann man nacheifern und sie sich zum Vorbild nehmen (kai; zhlw`sai kai; 147

Stelle.

So auch Feldman, Interpretation 5 unter Hinweis auf die nachfolgend zitierte Polybios-

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mimhvsasqai), tote Gegenstände nicht; nur aus der Erzählung von jenen können daher auch die Leser Belehrung ziehen (Hist. 10,21).

Polybios bezeichnet hier eine Geschichtsschreibung, die das biographische Element ausblendet, nicht nur als „widersinnig“ (a[topon), er räumt außerdem dem biographischen Element innerhalb der Geschichtsschreibung in textpragmatischer Hinsicht den Vorrang vor dem historiographischen ein: Zur „Belehrung“ (ejpanovrqwsi~) der Adressaten taugen eben lebendige Menschen besser als abstrakte Geschichtstatsachen. Der moralische Appellcharakter biographischer Geschichtsschreibung kommt in der römischen Historiographie der Kaiserzeit noch weitaus stärker zur Geltung, verbunden mit einer Orientierung an der epideiktischen Personendarstellung. Sallust porträtiert die Akteure wie ein Charaktermaler nach den Regeln und Wirkabsichten des rhetorischen genus demonstrativum [...]. Tacitus [...], der sine ira et studio berichten will, bleibt – Sallusts Schreibweise verfeinernd – den rhetorischen Intentionen der älteren G[eschichtsschreibung] treu. Mit dem Hinweis auf die Geschichtswürdigkeit von politischen Krisen und Katastrophen definiert Tacitus [...] Rolle und Thema des der Zeitgeschichte zugewandten, über Ereignisse und Akteure richtenden Historikers. Der römische Historiker sucht [...] bewusst die forensische Wirkung, um in den Krisen der Gegenwart die exempla früherer Größe als handlungsleitende Normen aufzurichten und die politische Entscheidungsfindung zu motivieren. Diese rhetorische, meist mit offener Parteilichkeit verbundene Absicht, die Cicero in die effektvolle Formel fasste, die Historie sei ‚voller Beispiele‘ (plena exemplorum) und eine ‚Lehrmeisterin des Lebens‘ (magistra vitae), war für die römischen Historiker ein treibendes Motiv, die von ihren griechischen Vorgängern geübte rhetorische Synthese zwischen narrativem und argumentativem Diskurs zu verbessern.148

Die skizzierte Interdependenz von Rhetorik, Biographie und Geschichtsschreibung lässt im Blick auf unser Thema vermuten, dass narrative Darstellungen von Sterben und Tod auch auf historiographischem Gebiet keinesfalls als wertneutrale Berichte verstanden werden wollen. Auch diese Texte transportieren soziokulturelle Standards antiker Todesdeutung. Die schon in antiken Biographien beobachtete hohe Sinndichte der Sterben und Tod einer Person betreffenden Ereignisse führt auch in der Historiographie zur Eintragung von Deutungsmustern in biographische Sterbeszenen, nach denen Urteile über bivo~ und h\qo~ einer Person gefällt werden. Als Beispiel römischer Geschichtsschreibung wählen wir Tacitus und als Vertreter der Griechisch schreibenden kaiserzeitlichen Historiographie den hellenistischen Juden Flavius Josephus. Gerade das josephische Werk erweist sich für unsere Fragestellung als ausgesprochen material- und vari148 Harth, Geschichtsschreibung 838f, Kursive im Original. Wichtig zum Thema auch Hall, Method.

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antenreich. Dies wirft nicht nur allgemein ein Schlaglicht auf die Akkulturation des Griechisch sprechenden Judentums an die hellenistisch-römische Welt, sondern auch auf die hellenistisch-jüdische Rezeption antiker soziokultureller Deutungen von Sterben und Tod. 4.2 Römische Historiographie: Tacitus 4.2.1 Der exitus illustrium virorum bei Tacitus Im 15. und 16. Buch der Annalen berichtet Tacitus von den Majestätsprozessen unter Nero nach der Aufdeckung der pisonischen Verschwörung. Hierfür hat er die einschlägigen Senatsakten als Quellen verwendet, diese aber noch angereichert durch z.T. ausführliche Schilderungen vom Lebensende der Verurteilten. Auch hierfür scheint Tacitus schriftliche Quellen verwendet zu haben, nämlich Sammlungen mit Berichten vom Tod berühmter Männer, wie sie an zwei Stellen in den Briefen des jüngeren Plinius erwähnt werden. In Ep. 5,5 beklagt Plinius den Tod des C. Fannius und erwähnt an dieser Stelle dessen unvollendet gebliebenes Werk exitus occisorum aut relegatorum a Nerone in drei Büchern (5,5,3). In Ep. 8,12,4 notiert er über Titinius Capito: scribit exitus illustrium virorum, in his quorundam mihi carissimorum, „Er schreibt über das Ende erlauchter Männer, darunter einige, die mir besonders teuer sind.“ Marx vermutet, dass Tacitus das bei Plinius erwähnte Werk des C. Fannius oder aber eine vergleichbare Schrift als Quelle gedient hat.149 Die Literaturgeschichte rechnet darüber hinaus mit einer eigenen Gattung historischer Kleinliteratur, die in Anlehnung an Plinius’ Formulierung als exitus illustrium virorum bezeichnet wird. Im engeren Sinne handelt es sich um „jene Literaturwerke mit stoischem Gepräge, welche die Opfer der Tyrannei der Caesaren zu verherrlichen suchen.“150 Ronconi begegnet indes der These von einer eigenständigen Literaturgattung dieses Namens wegen inhaltlicher und chronologischer Abgrenzungsprobleme mit einer gewissen Zurückhaltung. Es dürfe nicht außer acht gelassen werden, „dass das Thema des Todes der berühmten Persönlichkeit lange vor der Kaiserzeit entstand. Wenn man also einen weiteren Begriff zugrunde legt, ist die Literatur der E[xitus] i[llustrium] v[irorum] viel älter als die Schriftengruppe, auf welche Plinius hinweist.“151 Sachverwandt ist beispielsweise das 12. Kapitel De mortibus non vulgaribus im 9. Buch von Valerius Maximus’ Facta et dicta memorabilia (1. Hälfte 1. Jh. n.Chr.), auf das wir bereits ausführlich einge149

Marx, Tacitus 89. Ronconi, Exitus 1258. 151 Ronconi, Exitus 1258. 150

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gangen sind, sowie die von Diogenes Laertios benutzte Sammlung von teleutaiv des Hermipp von Smyrna (3./2. Jh. v.Chr.).152 Unabhängig von der literaturgeschichtlichen Fragestellung lässt sich als taciteische Besonderheit die Fokussierung des Todesthemas auf den dramatischen Antagonismus zwischen dem Charakter des Weisen und dem des Tyrannen feststellen. Im Unterschied zu anderen Berichten über Majestätsprozesse, in denen Tacitus sich zumeist auf knappe Auszüge aus den Senatsakten beschränkt,153 entwickelt er im Zusammenhang der pisonischen Verschwörung und der anschließenden gnadenlosen Verfolgung und Aburteilung der Verschwörer ein intensives Interesse an der Person des Angeklagten und der Schilderung seines Todesgeschicks. Die taciteische Geschichtsschreibung gerät hier zu einer Aneinanderreihung von Charakterbildern, in denen sich durchweg der Typus des gefasst in den Tod gehenden Weisen von der Figur des grausamen Tyrannen abhebt. Die Verurteilten erscheinen „als [...] Vorkämpfer echten Römertums gegenüber einer äußerlich überlegenen, innerlich aber weit unterlegenen Macht.“154 Hierbei wird der exitus selbst [...] bis ins kleinste dramatisch ausgeführt; es wird gezeigt, wie der vornehme Senator mit der Ruhe des Weisen [...] und der wackere Offizier mit soldatischem Mut [...] den Tod von Henkershand erwarten oder ihm gar durch Selbstmord zuvorkommen. Ihr Tod ist trotz allem der würdige Abschluß eines würdigen Lebens. Als ihr persönlicher Gegenspieler erscheint der Kaiser, dessen Grausamkeit dem Leser immer wieder vor Augen gestellt wird. Nicht vergessen wird auch die törichte Angst seines schlechten Gewissens vor sittenstrengen Philosophen oder verdienten Männern des öffentlichen Lebens.155

Die Verurteilten tragen dadurch den moralischen Sieg über den Tyrannen davon, dass sie ihr Todesgeschick würdig bestehen. Genau hierin manifestiert sich zugleich des Tyrannen tatsächliche Ohnmacht: Weder die Todesdrohung noch ihre Umsetzung in die grausame Tat vermögen die persönliche Integrität der Verurteilten zu verletzen. Das Todesproblem wird damit Teil eines Machtdiskurses: Indem der Tyrann die Freiheit der sittlichen Entscheidung in der Situation des Sterbens nicht anzutasten vermag, wird seine Macht auf den Bereich des unwesentlich-Äußerlichen beschränkt und damit der Evidenz des Faktischen zum Trotz als bloß scheinbare abqualifiziert.

152

S.o. S. 77 mit Anm. 103. Marx, Tacitus 96. 154 Marx, Tacitus 97. 155 Marx, Tacitus 98. 153

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4.2.2 Der Tod Senecas nach Annalen 15,60–64 Wir beschränken uns auf die Untersuchung eines einzigen Textbeispiels, das freilich das umfangreichste und der prominentesten Gestalt unter den Opfern Neros gewidmet ist. Nero schickt einen gewissen Gavius Silvanus, Tribun einer Prätorianerkohorte, zu Seneca, um ihn mit einer ihn schwer belastenden Zeugenaussage zu konfrontieren (60). Seneca macht keine Anstalten sich zu verteidigen und der Tribun kehrt zu Nero zurück (61). Als dieser wissen will, ob Seneca sich anschicke, freiwillig in den Tod zu gehen, antwortet der Tribun, er habe „keine Zeichen von Angst (nulla pavoris signa) bei ihm bemerkt, weder einen ernsten Ton in seiner Rede (nihil triste in verbis eius), noch einen betroffenen Gesichtsausdruck (aut vultu deprensum).“ Hier wird der Leser Senecas aus der Perspektive eines direkt Beteiligten gewissermaßen direkt ansichtig. Er erlebt von Anfang an aus nächster Nähe mit, mit welch nobler Haltung Seneca in den Tod geht und damit seine Überlegenheit dem gegenüber unter Beweis stellt, der Macht über sein Leben hat. Nero schickt Silvanus daraufhin zu Seneca zurück, der sich auf seinem Landgut unweit von Rom aufhält, und lässt ihm ausrichten, dass er sein Leben verwirkt habe. Seneca bittet daraufhin „in aller Ruhe“ (interritus) um sein Testament, doch wird ihm der Zugriff darauf verweigert. Gegenüber seinen Freunden äußert er daraufhin, „da man ihn hindere, sich für ihre Freundschaftsbeweise dankbar zu zeigen, hinterlasse er ihnen das Einzige, aber auch das Wertvollste, was er besitze, das Bild seines Lebens (imaginem vitae suae).“ Als seine Freunde die Tränen nicht zurückhalten können, mahnt er sie, sich auf ihre philosophische Bildung zu besinnen und eine angemessene Haltung zu bewahren: ubi praecepta sapientiae, ubi tot per annos meditata ratio adversum imminentia? – „Wo sind die philosophischen Grundsätze, wo die Fassung im Unglück, zu der wir uns so viele Jahre gerüstet haben?“ Tacitus lässt Seneca als Philosoph zu Wort kommen, der seine Freunde wie einst Sokrates im Phaidon156 dazu anhält, die Todesnähe als Bewährung einer lebenslang eingeübten philosophischen Daseinsauffassung zu verstehen. Insofern gehört auch und gerade das Ereignis

156 Die Figur des platonischen Sokrates als „Archetyp der traditionellen Darstellungsweise berühmter Todesfälle“ (Ronconi, Exitus 1267) wird uns in Kapitel II.6 und dann im III. Teil noch ausführlich beschäftigen. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass das Sterben Senecas (wie auch das des Cato bei Plutarch) nach dem Vorbild des Sokrates im Phaidon stilisiert ist: „Der Seneca des Tacitus erhält wie Sokrates bei Sonnenuntergang den Befehl zu sterben, er ermahnt seine vom Schmerz ergriffenen Freunde u[nd] sucht, nachdem er sich die Adern aufgeschnitten hat, überraschend ein zweites Todesmittel: den Schierling, offensichtlich ein rein literarisches, aus Platon übernommenes Motiv, das zu dem geschichtlichen Detail des Verblutens einfach addiert ist; endlich bringt Seneca dem Iuppiter Liberator eine Libation dar, so wie Sokrates gefragt hatte, ob einem Gotte eine Libation dargebracht werden könnte“ (Ronconi, Exitus 1259).

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seines gefassten Sterbens zu jener imago vitae suae, die er seinen Freunden als Vermächtnis hinterlässt. Daraufhin verabschiedet sich Seneca von seiner Frau und bittet sie, sie möge sich „in der Betrachtung seines dem Edlen gewidmeten Lebens“ (in contemplatione vitae per virtutem actae) über den ihr nun zugemuteten Verlust hinwegtrösten. Sie beschließt jedoch, mit ihrem Mann in den Tod zu gehen. Er bekundet ihr seinen Respekt dafür, dass sie die „Tröstungen des Lebens“ (delenimenta vitae) zurückweise und einen „ehrenvollen Tod“ (decus mortis) wähle und bescheinigt ihr sogar, dass sie dafür noch größeren Ruhm (claritudo) verdiene als er. Dann schneiden beide sich die Pulsadern auf. Weil Senecas Blut allzu langsam fließt, öffnet er sich zusätzlich noch die Adern an den Beinen und Kniegelenken. Die Verwundung hält ihn indes nicht davon ab, ein Schriftstück zu verfassen: „Noch im letzten Augenblicke blieb er im Besitze seiner Redegabe (eloquentia). Er ließ Schreiber kommen und diktierte ihnen eine längere Rede, die wörtlich veröffentlicht ist, weshalb ich davon absehe, sie hier mit anderen Worten wiederzugeben“ (63). Marx versteht diese Stelle dahingehend, dass Seneca „wenn nicht sich selbst eine laudatio funebris verfasst, so doch Anstoß zu einer literarischen Darstellung seines Endes gegeben [hat], denn seine Äußerungen in den letzten Augenblicken seines Lebens wurden aufgezeichnet und veröffentlicht und waren allgemein bekannt“157. Da Tacitus andeutet, dass er selbst Kenntnis von Senecas Aufzeichnungen hatte, nimmt Marx an, „Tacitus’ Bericht beruhe in diesem Falle auf der von Seneca selbst veranlassten literarischen Darstellung seines Endes.“158 Es kann dahingestellt bleiben, ob Marx’ Überlegungen in quellenkritischer Hinsicht überzeugen können, ja sogar, wie nahe die taciteische Notiz von den verschriftlichten und posthum veröffentlichten ultima verba Senecas den historischen Ereignissen steht. Wichtig ist in unserem Zusammenhang allein das Motiv der vom Sterbenden selbst autorisierten Darstellung seines Todesverständnisses und Todesgeschicks. Nach allem, was wir aus antiker Rhetorik, Biographie und Geschichtsschreibung wissen, musste Seneca, sollte er denn tatsächlich noch in seiner Todesstunde zur Feder gegriffen haben, entscheidend an einer Selbstdarstellung seiner Person gelegen sein, die sein Sterben als glanzvoll bestandene Probe auf die Tragfähigkeit seiner philosophischen Lebensgrundsätze und als moralischen Sieg über seine Peiniger deutet. Mit dieser Selbstdeutung greift er zugleich einer gegenteiligen Darstellung seines Todes vor, wie sie als Produkt neronischer Propaganda vorstellbar ist. Man braucht lediglich die Figur des Peregrinus in Lukians De morte Peregrini (II.5.4) mit der Person Senecas zu besetzen, und schon hat man eine realis157 158

Marx, Tacitus 86f. Marx, Tacitus 87.

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tische Anschauung davon, wie man in den Kreisen um Nero über das Sterben Senecas gespottet haben mag. Ein interessantes Beispiel für eine solche Negativdeutung bietet jedoch auch der taciteische Text selbst. Es heißt nämlich von Senecas Frau Paulina, die zunächst mit Seneca sterben wollte, dass Nero seine Soldaten angewiesen habe, sie am Sterben zu hindern. Einige Sklaven verbanden der schon Besinnungslosen die blutenden Wunden. Tacitus kommentiert diesen Vorgang folgendermaßen: Das Volk glaubt ja lieber das Schlechtere, und so wurden verschiedene Stimmen laut, sie habe nur so lange den ruhmvollen gemeinsamen Tod mit ihrem Gatten gewollt, als sie Nero unerbittlich geglaubt; sowie sie die Aussicht auf Begnadigung hatte, habe ihre Liebe zum Leben den Sieg davongetragen. Sie hat dann noch ein paar Jahre gelebt, lobenswürdig durch das treue Gedenken an ihren Gemahl und so bleich im Gesicht und am Körper, dass der große Verlust an dem lebenspendenen Saft noch deutlich erkennbar war (64).

Offenbar geht es Tacitus hier um die Abwehr einer schlechten Meinung, die in der Öffentlichkeit über Paulina kursierte: Sowohl ihr Entschluss zu sterben wie auch ihr Weiterleben werden als eine Art von Kalkül des geringeren Widerstandes gedeutet und als solches negativ bewertet: Der geplante und fast schon in die Tat umgesetzte Freitod sei lediglich ihrer Furcht vor Nero geschuldet gewesen, sobald aber dieser sich milde zeigte, sei ihr das Leben auf einmal wieder mehr wert gewesen als das ehrenvolle Sterben zusammen mit ihrem Mann. Das aber heißt: Es ist die falsche bzw. richtige Haltung gegenüber Sterben und Tod, die dem guten Ruf der Lebenden positiv bzw. negativ zu Buche schlägt. Hier wird einmal mehr greifbar, was wir eingangs die soziale Kontrolle von Sterben und Tod genannt haben.159 Gegen die vorgetragene Negativdeutung von Paulinas Beweggründen macht der taciteische Bericht geltend, dass ihr Freitod von Neros Schergen vereitelt wurde. Außerdem stilisiert Tacitus den erlittenen Blutverlust (den man sich wohl im Sinne chronisch gewordener Anämie vorstellen soll) zu einer Art Stigma ihres edlen Charakters, das die Spuren der in der Sterbestunde ihres Mannes unter Beweis gestellten heroischen Todesbereitschaft bleibend in ihre Physiognomie einzeichnet. Tacitus bestreitet damit für die Person der Paulina, was bei Valerius Maximus unter der Rubrik De cupiditate vitae an mehreren exempla vorgeführt wird, nämlich die negative Charaktereigenschaft fehlender Todesbereitschaft.160 Ganz im Gegenteil: Paulina ist für den Rest ihres Lebens geradezu körperlich gezeichnet von ihrer Entschlossenheit zu sterben, die nur deswegen nicht zum Zuge gekommen ist, weil Nero ihren Freitod verhindert hat. 159 160

S.o. S. 29. S.o. S. 82.

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4.3 Hellenistisch-jüdische Geschichtsschreibung: Flavius Josephus Die Werke des Flavius Josephus sind für unsere Fragestellung von besonderer Bedeutung, weil sie nicht nur die griechischsprachige Historiographie des 1. Jh. n.Chr. repräsentieren, sondern auch von einem jüngeren Zeitgenossen des Paulus verfasst wurden, der wie Paulus ein auch griechisch gebildeter Jude war. An den Werken des Josephus lässt sich die Akkulturation biblisch-jüdischen Denkens an die hellenistisch-römische Kultur der frühen Kaiserzeit wegen der breiten Textbasis denkbar ausführlich studieren. Josephus formt seine biblischen Figuren (Antiquitates 1–11) wie auch die historischen Gestalten seit der Perserzeit bis zum jüdischen Krieg (Antiquitates 12–20, Bellum) nach charakterlichen Merkmalen, wie das griechische, v.a. aber römische Empfinden161 seiner Zeit sie schätzte oder aber, als negative exempla, verachtete.162 Dementsprechend hoch ist das josephische Interesse an biographischen Sterbeszenen. Auch in der josephischen Darstellung zeigen sich Charakterstärke und –schwäche dann mit besonderer Deutlichkeit, wenn ein Mensch durch die Umstände gezwungen ist, sich zu seinem eigenen Tod zu verhalten. 4.3.1 Der Tod Herodes’ des Großen Josephus schildert die Ereignisse um den Tod des Herodes in zwei parallelen Fassungen in Bellum 1,647–673 und Antiquitates 17,146–199. Beide Fassungen unterscheiden sich im Wesentlichen darin, dass Josephus die negative Zeichnung von Herodes’ Charakter in Bellum 1 weitgehend auf der narrativen Ebene vornimmt, in Antiquitates 17 dagegen explizite Wertungen in die Erzählung einträgt. Doch schon in Bellum 1 wirft die Schilderung von Herodes’ Tod unverkennbar ein äußerst schlechtes Licht auf diesen Herrscher. Die rhetorische Stilisierung dieser Passagen kommt bereits in der narrativen Grobstruktur zum Tragen, nämlich in der erzählerischen Verzahnung der schweren körperlichen Leiden des Herodes während seiner letzten Lebenstage mit der Affäre um den goldenen Adler am Jerusalemer Tempel, die mit der Hinrichtung der für die Zerstörung des Adlerbildes verantwortlichen Gelehrtenschüler endet (Bell. 1,648–655 / Ant. 17,149–167):

161 Diese Priorität ist adressatenbedingt: Josephus schrieb für ein römisches Publikum. Da antike Geschichtswerke öffentlich gelesen wurden – schon Herodot „rezitierte seine Texte öffentlich vor städtischem Publikum“ (Harth, Geschichtsschreibung 834) – ist mit einem viel stärkeren Adressatenbezug zu rechnen als bei einer ausschließlich schriftlichen Kommunikation. Die neueste Josephusforschung fragt deshalb verstärkt nach römischen Denkstrukturen und Wertvorstellungen in den Werken des Josephus. 162 Für den Bereich der Bibelparaphrase in Ant. 1–11 hat dies Feldman in zahllosen Einzelstudien, die mittlerweile in z.T. stark überarbeiteter Form in zwei Monographien gesammelt zugänglich sind (Interpretation, Studies), detailliert nachgewiesen.

Historiographie Bell. 1 647 648–655 656–658 659–660 661–664 665–673

Notiz über den schlechten Gesundheits- und Gemütszustand des Herodes Adleraffäre: würdiges Sterben der Gelehrtenschüler Herodes: Krankheitsbild, körperliche Schmerzen Einschließung der judäischen Nobilität im Hippodrom von Jericho, Mordbefehl Selbstmordversuch des Herodes, Hinrichtung Antipaters Herodes’ Tod, Letztfassung seines Testaments, Begräbnis

117 Ant. 17 146–148 149–167 168–173 174–181 182–187 188–199

Der Kontrast zwischen dem unerschrockenen Bekenntnis und gefassten Sterben der Gelehrtenschüler und dem körperlich schwer leidenden Herodes, der sich, obwohl er schon auf den Tod krank ist, an das Leben klammert, erzeugt eine narrative suvgkrisi~, die Josephus in Bell. 1,650 auf die Formel qavnato~ diÆ ajreth`~ versus qavnato~ ejk novsou bringt. Die Gesetzeskundigen Judas und Matthias rufen ihre Schüler dazu auf, das Adlerbild, das eine Verletzung des biblischen Bilderverbotes darstelle, zu zerstören und, wenn es sein müsse, für die väterlichen Gesetze zu sterben: Denn welche ein solches Ende nähmen, deren Seele werde unsterblich, und ewig bleibe das Empfinden himmlischer Seligkeit; die gemeine Masse aber (tou;~ de; ajgenei`~), die der Weisheit der Gelehrten bar sei und auch keine echte Erkenntnis habe, schätze ihr natürliches Leben über alles und ziehe das Sterben auf dem Krankenbett einem ehrenvollen Tode vor (pro; tou` diÆ ajreth`~ to;n ejk novsou qavnaton aiJrei`sqai, Bell. 1,653).163

In Ant. 17,152–154 kommt das Motiv des ehrenvollen Sterbens noch ausführlicher zur Sprache. Der Tod um des Gesetzes willen sei den Freuden des Lebens vorzuziehen dia; to; ajivdion tou` ejpainei`sqai fhvmhn ka-

taskeuasamevnou~ e[n te toi`~ nu`n ejpaineqhvsesqai kai; toi`~ ejsomevnoi~ ajeimnhmovneuton kataleivpein to;n bivon. Der Tod ereile ohnehin jeden,

und die Tapferen müssten darauf achten „mit Preis und Ehre aus dem Leben zu scheiden“ (17,153: metÆ ejpaivnwn kai; timw`n [...] ajpievnai tou` bivou). Ein großer Trost liege außerdem darin, dass ein solcher Tod auch das Ansehen der Hinterbliebenen steigere: fevrein ga;r kouvfisin pollh;n to; ejpi;

kaloi`~ e[rgoi~ w|n mnhsth`ra to;n kivndunon ei\nai teleuta`n, kai; a{ma uiJevsi tw`n aujtw`n kai; oJpovsoi tou` suggenou`~ kataleivpointo a[ndre~ gunai`ke~ kai; toi`sde peripoih`sai o[felo~ eujkleivaæ th`æ ajpÆ aujtw`n (17,154).

Die Anhänger der Gesetzeslehrer, die das Adlerbild zerstören und anschließend verhaftet, verhört und hingerichtet werden, verkörpern das Sterben diÆ ajreth`~: Sie erklären vor Herodes, sie hätten auf Befehl des 163 ajrethv ist nicht nur die Tugend, sondern auch der daraus erwachsende Ruhm. Michel/Bauernfeind (Josephus) übersetzen also frei aber zutreffend.

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väterlichen Gesetzes (tou` patrivou novmou) gehandelt, und auf die verwunderte Frage des Herodes, „weshalb sie so freudig seien, da sie doch den Tod vor Augen hätten“ (tiv dÆ ou{tw~ geghvqasin [...] ajnairei`sqai mevllonte~),164 antworten sie: pleiovnwn ajgaqw`n ajpolauvsousin meta; th;n teleuthvn, sie würden „nach ihrem Ende viel größere Freuden kosten“ (Bell. 1,653). Herodes bildet die Kontrastfigur zu den Gelehrtenschülern. Während diese gefasst in den Tod gehen, bemerkt Josephus nach einer ausführlichen Schilderung von Herodes’ körperlichen Leiden: oJ de; palaivwn tosouvtoi~

pavqesin o{mw~ tou` zh`n ajnteivceto swthrivan te h[lpizen kai; qerapeiva~ ejpenovei, „Obwohl Herodes mit solchen Leiden zu kämpfen hatte, klammer-

te er sich doch an das Leben und war, weil er auf Genesung hoffte, noch darauf bedacht, Wege zur Heilung zu finden“ (Bell. 1,657). Dieses Verhaltensmuster eines aussichtslosen Sich-Klammerns an das Leben bildet das direkte Gegenstück zu der Todesverachtung der Gelehrtenschüler. Anschaulich stellt das Erzählte eine ehrenvolle und eine unwürdige Haltung angesichts des Todes vergleichend nebeneinander. Durch die schwere Krankheit des Herodes wird sein Sterben überdies zum Inbegriff des qavnato~ ejk novsou. Damit aber fällt indirekt auch die Meinung der Gesetzeslehrer, das Sterben auf dem Krankenbett sei Sache der gemeinen Leute (ajgenei`~), auf Herodes zurück. Zwar zielt der von Judas und Matthias namhaft gemachte Gegensatz von qavnato~ di j ajreth`~ und qavnato~ ejk novsou im unmittelbaren Argumentationszusammenhang auf eine von ihren Schülern zu treffende Entscheidung und nicht auf eine Bewertung der Person des Herodes, doch ist die Formulierung qavnato~ ejk novsou allzu deutlich auf die anschließende Beschreibung der Krankheiten des sterbenden Herodes zugeschnitten.165 Die Umstände seines Sterbens implizieren von daher zugleich auch ein Urteil über seinen Charakter: Er ist in Wahrheit ein ajgenhv~, ein Mann von niedriger Herkunft bzw. Gesinnung.166 Sowohl in Bell. 1 wie auch in Ant. 17 deutet Josephus die quälenden Schmerzen des Herodes als Strafe Gottes. In Bell. 1,656 erwähnt er die Meinung „prophetische[r] Männer [...], seine Plagen seien die Strafe für den Mord an den Gelehrten.“ In Ant. 17,168.170 ist nicht mehr von einem einzelnen Vergehen die Rede, sondern allgemein von Gesetzesübertretungen (paranomei`n, tov polu; dussebev~). Was in Bell. 1 göttliche Züchtigung für

164

loi~.

Vgl. auch Ant. 17,159: hJdonh`æ te to;n qavnaton oi[somen kai; timwrivan h{ntina ejpibav-

165 Josephus erwähnt u.a. Wurmbefall an den Genitalien (Bell. 1,656); vgl. auch unter II.4.3.8 zum Todesgeschick Apions. 166 Zur nichtköniglichen Abstammung des Herodes vgl. Bell. 1,665; Ant. 14,489.491.

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eine einzelne Untat ist, wird in Ant. 17 zur Strafe für zahllose Vergehen, deren sich Herodes während seines Lebens schuldig gemacht hat.167 Mit der Episode von der Einschließung der judäischen Nobilität im Hippodrom von Jericho (Bell. 1,659–660; Ant.17,174–181) setzt Josephus einen weiteren dunklen Akzent. Als Herodes nach einer erfolglosen Therapie an den bei Jericho gelegenen heißen Quellen von Kallirrhoe erkennen muss, dass keine Aussicht auf Heilung besteht und er bald sterben muss, ruft er seine Schwester Salome und ihren Mann Alexas zu sich und erteilt ihnen folgenden Auftrag: Ich weiß, dass mein Tod ein Freudenfest für die Juden sein wird, ich habe aber die Macht, von Anderen betrauert zu werden und dadurch selbst eine prächtige Totenfeier zu erhalten, wenn ihr euch nach meinen Weisungen richten wollt. Lasst jene in Haft gehaltenen Männer durch Soldaten umstellen und tötet sie, sobald ich den letzten Atemzug getan habe, damit ganz Judäa und jede Familie wider ihren Willen über mich weine (Bell. 1,660).

Für das Verständnis dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass dem Vorhandensein oder Fehlen öffentlicher Trauer in Biographien und Geschichtswerken für die moralische Bewertung eines Verstorbenen erhebliche Bedeutung zukommt.168 Besonders rühmlich ist, wenn eine Persönlichkeit nach ihrem Ableben sogar von ihren Feinden betrauert wird. Umgekehrt dokumentiert fehlende Trauer das niedrige Ansehen des Verstorbenen. Wenn 167 Herodes agiert auf dem apologetischen Schachbrett des Bellum anders als auf dem der Antiquitates. Im Bellum präsentiert ihn Josephus als judäischen Monarchen, dessen unerschütterliche Romtreue nicht nur ihn selbst, sondern auch sein Volk dem römischen Publikum des Josephus empfehlen und die Juden nach der Katastrophe des jüdischen Krieges politisch rehabilitieren soll. Daher verdunkelt sich das Herodes-Bild des Bellum erst zum Ende hin. Auch mit den Antiquitates verfolgt Josephus ein apologetisches Ziel, „doch wird der im Bellum vorherrschende politische Aspekt überlagert von der Absicht, den geistigen, ja ‚philosophischen‘ Rang des Judentums mit seinen alten, bis auf Mose zurückgehenden Rechtstraditionen, seinem hohen Ethos und seiner einzigartigen Gottesverehrung zur Geltung zu bringen. Bezugsgröße in den Antiquitates ist nicht mehr in erster Linie das jüdische Volk, sondern das jüdische Gesetz, das Josephus als eine Art idealer Staatsverfassung preist, aber auch als Richtschnur für das Leben des Einzelnen. Josephus will zeigen, dass das Mosegesetz zu einem glückseligen Leben verhilft, dass aber diejenigen, die es übertreten, böse enden werden. Herodes steht in den Antiquitates vor allem für diese negative Seite. Josephus präsentiert ihn nun nicht mehr als vorbildlichen Verbündeten der Römer, sondern als niederträchtigen Charakter und als Juden zweifelhafter Herkunft, der das jüdische Gesetz übertritt, wo er nur kann. Josephus entwickelt in den Antiquitates außerdem die These, dass die mosaische ‚Verfassung‘ nur durch eine priesterliche Aristokratie realisiert werden kann, nicht aber durch die Monarchie, die stets Gefahr läuft, in Tyrannenherrschaft auszuarten. Die Regierungszeit des Herodes ist nun nicht mehr wie noch im Bellum ein historischer Glücksfall jahrzehntelanger aussen– und innenpolitischer Stabilität, sondern im Gegenteil eine Epoche des Verfalls der von Mose entworfenen staatlichen Ordnung.“ (Vogel, Herodes 16f). 168 Anhand der Parallelviten Plutarchs ließe sich dies mühelos an zahlreichen Beispielen illustrieren; vgl. auch S. 128 mit Anm. 181 zum Tod Agrippas I. und S. 129f zum Tod des Mose bei Josephus.

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nun Herodes einerseits einräumt, dass sein Tod bei seinen Untertanen anstatt Trauer Freude auslösen wird, sich aber andererseits anmaßt, mittels weiterer Morde selber dafür zu sorgen, dass er von anderen beweint wird (penqei`sqai diÆ eJtevrwn), um sich so ein glanzvolles Begräbnis (lampro;~ ejpitavfio~)169 zu schaffen, dann ist eine vernichtendere Bloßstellung seines Charakters kaum denkbar. Zwar erscheint das Ansinnen des Herodes in beiden Fassungen als Folge krankheitsbedingter Raserei (Bell. 1,659: melagcolw`n h[dh, Ant. 17,173: mevlainav te aujto;n h{ærei colhv), doch bemerkt Josephus in Ant. 17,173, die geplante Untat sei in einer Linie mit den Morden an Herodes’ eigenen Verwandten zu sehen und gewähre dem Betrachter Einsicht (katanoei`n) in dessen wahre Gesinnung (diavnoia).170 Ist der von Herodes gefasste Plan schon an sich widersinnig, da die Trauer unter der Bevölkerung ja nicht ihm, dem Täter gälte, sondern seinen Opfern, so wird im Erzählverlauf deutlich, dass er schließlich ins Leere läuft: Sobald der König gestorben ist, lassen Salome und Alexas die im Hippodrom Eingeschlossenen frei. Kurz darauf erhält Herodes aus Rom die Ermächtigung zur Hinrichtung Antipaters, worauf sich seine Stimmung etwas bessert (bracu; me;n pro;~ th;n eujqumivan ajnhvnegken), doch bald plagen ihn die Schmerzen wieder derart, dass er beschließt, „dem Schicksal zuvorzukommen“ (fqavsai th;n eiJmarmevnhn, Bell. 1,662): Mit einem Obstmesser will er sich das Leben nehmen, wird jedoch von seinem Neffen Achiab daran gehindert. Die letzte Tat des Herodes ist der Befehl zur Hinrichtung Antipaters und eine letztmalige Änderung seines Testaments. Antipater, seinen erstgeborenen Sohn und schlimmsten Feind überlebt er nur um fünf Tage. 4.3.2 Der Freitod des Phasaël Kompositorisch hat der missglückte Selbstmordversuch des Herodes die Funktion, die Ereignisfolge, die sein unwürdiges Sterben erzählerisch darstellt, zu prolongieren und motivisch anzureichern: Der fehlgeschlagene Versuch des Herodes, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen, ist ein dramatischer Ausdruck seiner Verzweiflung, aber auch seiner Hilflosigkeit. Er scheitert nicht nur mit seinem Plan, nach seinem Tod vom Volk betrauert zu werden (duvnamai penqei`sqai diÆ eJtevrwn, Bell. 1,660), sondern auch mit dem Versuch „dem Schicksal zuvorzukommen“ (fqavsai th;n eiJmarmevnhn, Bell. 1,662). Eine überaus positive Konnotation erhält dagegen der Selbst169 Vgl. auch unten Anm. 173 zu Bell. 6,184: Die bewegte Anteilnahme des Titus ersetzt den im Kampf sterbenden römischen Soldaten ein „glanzvolles Begräbnis“. 170 katanohvseien dÆ a[n ti~ th;n diavnoian tou` ajnqrwvpou kai; o{twó ta; provtera h[resken wJ~ uJpo; tou` filozwei`n pravxeie ta; eij~ tou;~ suggenei`~ pepragmevna, ejk gou`n tw`n a[rti ejpistolw`n oujde;n ajnqrwvpeion eijsferomevnhn, ei[ge kai; ajpiw;n tou` bivou provnoian ei\cen, wJ~ ejn pevnqei kai; ejrhmivaæ tw`n filtavtwn to; pa`n katasthvseien e[qno~.

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mord – hier nun besser: Freitod – Phasaëls, des älteren Bruders des Herodes. Phasaël gerät als Parteigänger des Hasmonäers Hyrkan 40 v.Chr. zusammen mit diesem in die Gewalt von Hyrkans Neffen und Rivalen Antigonos, der mit Hilfe der Parther die Macht an sich gerissen hat. Auch hier arbeitet Josephus mit einer suvgkrisi~: Hyrkan, der von Antigonos verstümmelt wird, verhält sich passiv, Phasaël dagegen nimmt sein Geschick selbst in die Hand und kommt seiner Ermordung durch Antigonos in einem Akt der Tapferkeit (ajrethv) zuvor: An Händen und Füßen gefesselt zerschmettert er seinen Kopf an einem Felsen. Josephus kommentiert das Verhalten Phasaëls folgendermaßen: kajkei`no~ me;n ïHrwvdou gnhvsion eJauto;n ajpodeivxa~ ajdelfo;n kai; ïUrkano;n ajgennevstaton, ajndreiovtata qnhvskei poihsavmeno~ th;n katastrofh;n toi`~ kata; to;n bivon e[rgoi~ prevpousan. – Indem er sich als echter Bruder des Herodes und den Hyrkan als unadlig erwies, starb er wahrhaft tapfer und gestaltete so sein Ende würdig den Taten seines Lebens“ (Bell. 1,271).

Der Vergleich mit Herodes, auf den in diesem Teil des Bellum noch kein schlechtes Licht fällt, spielt offenbar auf die Bedeutung des Namens Herodes („der Heldenhafte“) an: Phasaël verhält sich heldenhaft und ist damit würdig, ein Bruder des Herodes zu heißen. Durch seine Tapferkeit rückt er gleichzeitig die Passivität Hyrkans, der an keiner Stelle an handelndes Subjekt auftritt, in ein schlechtes Licht: Hyrkan erweist sich im Vergleich mit Phasaël als ajgennevstato~, „höchst unadlig“. In aller Deutlichkeit macht der josephische Kommentar außerdem den engen Zusammenhang kenntlich, der nach griechisch-römischer Auffassung zwischen der angesichts des Todes unter Beweis gestellten Haltung und der Lebensführung als ganzer besteht. In der Situation des Todes kommt die Qualität der „Taten des Lebens“ (ta; kata; to;n bivon e[rga) abschließend augenfällig zum Vorschein. Der Versuch Phasaëls, sich selbst zu töten, schlägt zunächst fehl, doch erhöht dies nicht die Misslichkeit seiner Lage, sondern steigert im Gegenteil den Triumph gegenüber Antigonos.171 Er erfährt nämlich von einer Botin,

171

Josephus notiert in Bell. 1,272 das Gerücht, Phasaël sei nicht seiner Kopfverletzung erlegen, sondern durch Gift zu Tode gekommen, das ihm Ärzte des Antigonos unter dem Vorwand ärztlicher Hilfeleistung verabreicht haben. Auch dies mindert nicht die Würde seines Sterbens: Bei Plutarch (S.o., S. 91) wurde am Beispiel des Sertorius deutlich, dass, wer zu Tode kommt, weil er aus Arglosigkeit falschen Freunden oder dem wortbrüchigen Gegner vertraut, nicht in seinem Ansehen beschädigt wird. Vielmehr steigert die Arglist bzw. der Wortbruch die Verwerflichkeit der Tat und schlägt somit dem Täter negativ zu Buche, nicht dem Opfer. Dies wird deutlich in der Rede des Josephus im von den Römern besetzten Jotfat Bell. 3,382. Er lehnt zwar das Überlaufen zu den Feinden ebenso ab wie den Selbstmord, doch macht er dabei folgende Einschränkung: th;n

mevntoi ïRwmaivwn ejnevdran eu[comai: meta; ga;r dexia;n ajnairouvmeno~ uJpÆ aujtw`n eu[qumo~ teqnhvxomai, th;n tw`n yeusamevnwn ajpistivan nivkh~ meivzona ajpofevrwn paramuqivan. „Ich

wünschte mir freilich, einer Hinterlist der Römer zum Opfer zu fallen; wenn ich nämlich trotz des

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

dass Herodes den Parthern und Antigonos entkommen ist. Nun weiß er, dass sein Tod nicht ungerächt bleiben wird, und er kann getrost dem Tod entgegensehen. Das zeitverzögerte Eintreten seines Todes ist zudem kompositorisches Mittel, um Phasaël die Gelegenheit für letzte Worte zu geben, d.h. aber die Gelegenheit, seinen Tod selbst zu deuten. Sterbend äußert er: nu`n [...] eu[qumo~ a[peimi to;n meteleusovmenon tou;~ ejcqrou;~ katalipw;n zw`nta, „Jetzt gehe ich bereitwillig dahin, da ich lebend zurücklasse den, der meine Feinde bestrafen wird“ (Bell. 1,272). Phasaël ist ausweislich seiner letzten Worte in der Lage, sich bewusst und rational zu seinem eigenen Tod zu verhalten und diesen so zu deuten, dass er nicht als Scheitern aufgefasst wird, sondern als Teil eines Handlungszusammenhangs, der sich über den eigenen Tod hinaus fortsetzt. Das Abschiedswort Phasaëls ist kunstvoll formuliert: Dass er Herodes „als Lebenden“ (zw`nta) zurücklässt, ist das letzte Wort auf den Lippen des Sterbenden. Nicht sein eigener Tod ist für ihn von Belang, sondern das Überleben seines Rächers. Deshalb stirbt er eu[qumo~ („wohlgemut“, „heiteren Gemüts“).172 Erlangt Herodes eujqumiva nur zeitweise wieder, als er irrtümlich annimmt, er befinde sich auf dem Wege der Besserung, ist Phasaël diese Geistesverfassung gerade angesichts des Todes zu eigen.173 4.3.3 Todesverachtung und Jenseitshoffnung der Essener Josephus führt das „getroste“ Sterben auch am Beispiel der von ihm hoch geschätzten Essener als vorbildliche Haltung vor. Die Essener sind unter den drei von Josephus portraitierten jüdischen Richtungen, oder, wie er auch sagt, „Philosophien“, diejenigen, die nach seiner Auffassung dem Ideal jüdischer Lebensweise am besten entsprechen. Gegen Ende des langen Essener-Exkurses Bell. 2,119–161 würdigt er die Standhaftigkeit der Essener, die während des jüdischen Krieges harten Verfolgungen und grausamer Folter ausgesetzt waren (Bell. 2,152f): Sie unterließen es, „ihren Peinigern zu schmeicheln oder Tränen zu vergießen“ (kolakeu`sai [...] tou;~ aijkizomevnou~ h] dakru`sai) und „gaben [...] freudig ihr Leben dahin in der Zuversicht, es wieder zu empfangen“ (eu[qumoi ta;~ yuca;~ hjfivesan wJ~ pavlin Ehrenwortes von ihnen beseitigt werde, so sterbe ich getrost (eu[qumo~), weil die Treulosigkeit der Lügner eine bessere Genugtuung verschafft als selbst ein Sieg.“ 172 Oder eben „bereitwillig“, wie Michel/Bauernfeind (Josephus) wiederum frei aber kontextgemäß übersetzen. Ähnlich auch Ant. 14,369: pro; mevntoi tou` televw~ ajfei`nai th;n yuch;n oJ

Fasavhlo~ ajkouvsa~ parav tino~ gunaivou to;n ajdelfo;n ïHrwvdhn tou;~ polemivou~ diapefeugovta sfovdra th;n teleuth;n eujquvmw~ uJpevmeinen katalipw;n to;n ejkdikh`sai to;n qavnaton aujtou` kai; tou;~ ejcqrou;~ timwrhvsasqai dunavmenon.

173 Vgl. auch die Rede des Josephus in Jotfat Bell. 3,382 (s.o. Anm. 171) und Bell. 6,184: Die römischen Soldaten „sterben getrost“, weil ihnen das Zurufen des Titus und seine bewegte Anteilnahme an ihrem verzweifelten Kampf eine ehrenvolle Begräbnisfeier ersetzen: ta;~ de; fwna;~ e{kasto~ kai; th;n diavqesin w{sper ti lampro;n ajpofevrwn ejntavfion eu[qumo~ ajpevqnhsken.

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komiouvmenoi). Wegen der Todesverachtung, die die Essener während des jüdischen Krieges an den Tag gelegt haben, hat dieser Krieg für ihre charakterlichen Qualitäten in jeder Hinsicht „den Beweis geliefert“: dihvlegxen de; aujtw`n ejn a{pasin ta;~ yuca;~ oJ pro;~ ïRwmaivou~ povlemo~ (Bell. 2,152). Wiederum ist es also das in der Situation des Sterbens sich bewährende Todesverständnis, das besonderen Aufschluss gibt (dielevgcei) über die charakterliche Disposition eines Menschen bzw. in diesem Fall über das Ethos einer ganzen Gruppe. Ist der Tod mit Ruhm (eujkleiva) verbunden, ziehen ihn die Essener gar der Unsterblichkeit (ajqanasiva) vor:

to;n de; qavnaton, eij metÆ eujkleiva~ provseisi, nomivzonte~ ajqanasiva~ ajmeivnona. Begründet ist diese positive Auffassung der josephischen Darstellung zufolge gut platonisch (Bell. 2,155: oJmodoxou`nte~ paisi;n ïEllhvnwn) in der Hoffnung auf ein jenseitiges Fortleben der Seele, das timh; kai; meta; th;n teleuthvn „Ehre auch nach dem Tod“ (Bell. 2,157) in

Aussicht stellt. Die Jenseitshoffnung der Essener ist Teil ihres vorbildlichen philosophischen Todesverständnisses. 4.3.4 Das Ende des Hasmonäers Antigonos Antigonos, der letzte Herrscher des Hasmonäerhauses, unterlag 37 v.Chr. Herodes und den Römern. Nachdem Herodes Jerusalem in seine Gewalt gebracht und Antigonos, dessen Allianz mit den Parthern ein verhängnisvoller Missgriff war, sich ergeben hatte, wurde er von Sossius, dem römischen Feldherrn, als Gefangener zu Antonius nach Antiochien geschickt. Der machte auf Wunsch des Herodes kurzen Prozess mit ihm und ließ ihn enthaupten. Josephus kommentiert diesen Vorgang mit einem einzigen vernichtenden Satz (Bell. 1,357): tou`ton me;n ou\n filoyuchvsanta mevcri~ ejscavtou dia; yucra`~ ejlpivdo~ a[xio~ th`~ ajgenneiva~ pevleku~ ejkdevcetai, „Diesen, der bis zuletzt mit einer nichtigen Hoffnung am Leben hing, erwartete, würdig seines niedrigen Verhaltens, das Beil.“ Wie bei Herodes gilt die Unfähigkeit, dem Tod ins Auge zu schauen und sich statt dessen der irrigen Hoffnung auf Rettung hinzugeben, als äußerste Charakterschwäche. Die ehrlose Hinrichtung mit dem Beil ist die angesichts solchen Verhaltens verdiente Todesart. Es verwundert nicht, dass Josephus mit Antigonos im Bellum so hart ins Gericht geht: Er, der mit den Parthern außenpolitisch auf das falsche Pferd gesetzt und gegen den von Rom als Herrscher favorisierten Herodes zunächst mit Erfolg, zuletzt aber doch vergeblich Krieg geführt hat, war für ein solch vernichtendes Urteil vor einem römischen Publikum ein leichtes und unverfängliches Opfer. Deshalb erstaunt es, dass der Tod des Antigonos in den Antiquitates ein durchweg positives Licht auf diese Gestalt wirft. Entscheidend ist im Zusammenhang unserer Fragestellung, dass dieses völlig anders geartete Werturteil sich auf genau denselben Sachverhalt bezieht, der auch dem Bericht des Bellum zu Grunde liegt.

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Auch nach der Darstellung der Antiquitates wurde Antigonos mit dem Beil hingerichtet, doch wirft dies nun nicht auf ihn ein schlechtes Licht sondern auf Herodes und den Römer Antonius. Josephus lässt die Todesart des Antigonos in Ant. 14,488f zunächst unerwähnt und legt statt dessen das machtpolitische Kalkül des Herodes offen, das die Hinrichtung des Antigonos in Antiochien wünschenswert erscheinen ließ: Wäre Antigonos nämlich als Gefangener nach Rom gebracht worden, hätte er möglicherweise seinen berechtigten Anspruch auf den judäischen Thron geltend machen und Herodes damit nochmals gefährlich werden können. Josephus lässt nicht unerwähnt, dass sich Antonius für die unverzügliche Hinrichtung des Antigonos gut hat bezahlen lassen. In Ant. 14,490f folgt ein glanzvoller und etwas wehmütiger Nachruf auf das ruhmreiche und altehrwürdige Geschlecht der Hasmonäer. Da Antigonos der letzte hasmonäische Herrscher war, ist der Nachruf indirekt auch als Lobrede auf seine Person zu lesen. Ant. 15,8–10 thematisiert dann nochmals die Todesumstände des Antigonos. Hier ist nun auch davon die Rede, dass Antigonos enthauptet wurde, nun aber nicht in Entsprechung zu seinem niedrigen Charakter wie noch im Bellum, sondern in ausdrücklichem Widerspruch zu seinem Adel. Josephus zitiert einen Passus aus Strabon, in dem es heißt, Antonius habe mit der ehrlosen Hinrichtung des Antigonos nachträglich dessen Ansehen schädigen und so die Anhänglichkeit der Juden an ihren verstorbenen König sowie ihre Weigerung, einen gemeinen Mann wie Herodes als neuen Herrscher zu akzeptieren, brechen wollen: Antonius ließ den Hasmonäer enthaupten, oujk oijhqei;~ e{teron trovpon metaqei`nai a]n ta;~ gnwvma~ tw`n ÆIoudaivwn, w{ste devxasqai to;n ajntÆ ejkeivnou kaqestamevnon ïHrwvdhn: oujde; ga;r basanizovmenoi basileva ajnagoreuvein aujto;n uJpevmeinan: ou{tw~ mevga ti ejfrovnoun peri; tou` prwvtou basilevw~. th;n ou\n ajtimivan ejnovmise meiwvsein th`~ pro;~ aujto;n mnhvmh~, meiwvsein de; kai; to; pro;~ ïHrwvdhn mi`so~. – da er keinen anderen Weg wusste, die Einstellung der Juden zu ändern, damit sie an dessen statt den von ihm eingesetzten Herodes akzeptierten. Selbst unter der Folter nahmen sie es nämlich nicht auf sich, ihn König zu nennen. So hoch schätzten sie den vorigen König. Die Unehre [der Hinrichtung] würde nun, wie er meinte, das (ehrende) Andenken an ihn mindern, mindern aber auch den Hass gegen Herodes (Ant. 15,9f).

Zweierlei macht der Vergleich zwischen Bellum und Antiquitates deutlich: Erstens kommt in der Darstellung der Antiquitates klarer noch als im Bellum zum Tragen, dass die Todesumstände eines Menschen rückwirkend dessen ganzes Leben glorifizieren oder aber, wie im Falle des Antigonos, in Verruf bringen können. Antonius will das ehrende Andenken, das die Juden dem Hasmonäer wegen seines bei Lebzeiten genossenen Ansehens bewahren, dadurch unterlaufen, dass er den Ruf des Antigonos durch die Art seines Todes schwer beschädigt. Dass Antigonos stirbt wie ein Verbrecher, wiegt offenbar nicht minder schwer, als dass er gelebt hat, wie es eines Kö-

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nigs würdig war. Zweitens zeigt sich einmal mehr, welchen Spielraum das Erzählte der deutenden Erzählung lässt. Obwohl sich beide Versionen auf den selben Sachverhalt beziehen – Antigonos wurde von Antonius enthauptet – fällt das Urteil über seine Person doch höchst unterschiedlich aus: Im Bellum empfängt er die verdiente Strafe für sein würdeloses Verhalten, in den Antiquitates dagegen wird er unverdient Opfer herodianischer und römischer Machtpolitik. Ein Sterben, das den gesellschaftlichen Standards eines würdigen Ablebens nicht entspricht, kann also trotzdem so gedeutet werden, dass dahinter eine integere Persönlichkeit sichtbar wird. Besonderes Gewicht haben Deutungen, die der Sterbende selbst vorträgt. Letzte Worte sichern dem Sterbenden gewissermaßen das „Deutungsmonopol“ für den eigenen Tod. Wo in biographischen und historiographischen Texten letzte Worte überliefert bzw. dem Sterbenden in den Mund gelegt werden, geschieht dies durchweg in der Absicht, eine letztgültige und unanfechtbare Deutung des erzählten Sterbens zu formulieren, und zwar eine solche, die, weil vom Sterbenden selbst ausgesprochen, naturgemäß meist in dessen Sinne ausfällt. Ein Beispiel hierfür ist die Gestalt Agrippas I., dessen Tod bei Josephus (Ant. 19,343–350) und in Acta 12 mit höchst unterschiedlicher Tendenz erzählt wird.174 4.3.5 Der Tod Agrippas I. Wir beginnen mit der kürzeren Fassung in Acta 12. Agrippa, den der Verfasser der Apostelgeschichte unter dem unheilsschwangeren Namen „König Herodes“ führt,175 wird in Apg 12,1 als erklärter Feind der christlichen Gemeinde vorgestellt: ejpevbalen [...] ta;~ cei`ra~ kakw`saiv tina~ tw`n ajpo; th`~ ejkklhsiva~, er „legte [...] Hand an, um einigen von denen, die zur Gemeinde gehörten, Böses zuzufügen“ (12,1). Nach einer kurzen Notiz über die Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus folgt ein längeres Stück über die 174

Es ist anzunehmen, dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden Fassungen weder in die eine noch in die andere Richtung besteht. Vielmehr fußen Lukas und Josephus auf einer gemeinsamen Tradition, die ihnen jedoch in verschiedenen Versionen vorlag. Vgl. dazu Dibelius, Aufsätze 24 Anm. 2. 175 Schwartz, Agrippa 120 meint, „that the king is being viewed typologically, as another persecutor in the Church’s Judean History, following Herod, Herod Antipas, Herodias and the Herodians, who figure as persecutors in the Gospel stories.“ Ähnlich schon Haenchen, Apostelgeschichte 366 Anm. 2: „Für den christlichen Leser ergab schon der Titel ‚Der König Herodes‘ das Motiv des Fürsten zur Verfolgung: ‚der König Herodes‘ musste ein Christenfeind sein!“ Der Name Herodes für Agrippa I. ist außerhalb des Neuen Testaments nicht belegt (Schwartz, Agrippa 120 Anm. 50). Dass „Herodes“ ein populärer Beiname für Agrippa war, ist unwahrscheinlich, da Agrippa mit Herodes von Chalkis einen Bruder gleichen Namens hatte. Von einer Münze, die noch Meshorer als Beleg für den Namen „Herodes Agrippa“ galt (Coinage 57.248, Nr. 5), stand Burnett (Coinage) ein besser erhaltenes Exemplar zur Verfügung: Die Legende nennt Agrippa I. und seinen Bruder Herodes von Chalkis anlässlich ihrer Krönung durch Claudius 41 n.Chr. (Cassius Dio, Hist. 60,8,3), so nun auch Meshorer, Addendum 109.

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Gefangennahme und wunderbare Befreiung des Petrus (12,2–19) und, daran anschließend, die im Vergleich zur josephischen Fassung knapp erzählte Episode vom plötzlichen Tod Agrippas (12,20–23). Augenscheinlich hat erst Lukas diese Episode mit dem vorangegangenen Befreiungswunder verbunden. Im vorliegenden Kontext erscheint der Tod Agrippas als göttliche Strafe für die Hinrichtung des Jakobus und die Gefangennahme des Petrus,176 wenngleich Lukas seiner Quelle insoweit treu bleibt, als Agrippa deswegen so plötzlich stirbt, weil er die Ehrenbezeugungen als göttliches Wesen unwidersprochen hingenommen hat. Entscheidend ist die gänzlich negative Zeichnung der Ursachen und Umstände von Agrippas Tod, die ganz auf die negative Rolle zugeschnitten ist, die dieser Herrscher in Apg 12 spielt. Während einer in Cäsarea gehaltenen Rede Agrippas anlässlich eines aufgehobenen Wirtschaftsembargos gegen Tyrus und Sidon ruft ihm das Volk begeistert zu: „Eines Gottes Stimme und nicht eines Menschen“ (12,23), und die göttliche Strafe folgt auf dem Fuße: paracrh`ma de; ejpav-

taxen aujto;n a[ggelo~ kurivou ajnqÆ w|n oujk e[dwken th;n dovxan tw`æ qew`æ, kai; genovmeno~ skwlhkovbrwto~ ejxevyuxen, „Auf der Stelle aber schlug ihn

ein Engel des Herrn, weil er Gott nicht die Ehre gab; und er wurde von Würmern zerfressen und verschied“ (12,23). In dieser Darstellung erhält Agrippa, anders als bei Josephus, keine Gelegenheit, nochmals als handelndes Subjekt aufzutreten und sich zu seinem eigenen Tod zu verhalten. Die Unstimmigkeit, die durch das unvermittelte Nebeneinander des plötzlichen Schlages von Engelhand – man dächte vom medizinischen Sachverhalt her eher an einen Herz- oder Hirnschlag – und dem langsamen Siechtum des von Würmern Befallenen entsteht, deutet darauf hin, dass der Würmerfraß lukanische Zutat ist:177 Agrippa soll unverkennbar den Tod des Frevlers sterben. Die josephische Darstellung in Ant. 19,343–350 ist wesentlich ausführlicher als die lukanische. Josephus weiß indes nichts von einem beigelegten Streit zwischen Agrippa und den beiden phönizischen Städten. Anlass für das öffentliche Auftreten Agrippas sind statt dessen Spiele zu Ehren des Kaisers. Die Akklamation des Volkes entzündet sich nicht an seiner Stimme, sondern an der eindrucksvollen Erscheinung des Königs: Als die Mor-

176 Eusebius stellt diesen Zusammenhang ausdrücklich her: Ta; dev ge th`~ kata; tw`n ajpostovlwn ejgceirhvsew~ tou` basilevw~ oujkevtÆ ajnabolh`~ ei[ceto, a{ma gev toi aujto;n oJ th`~ qeiva~ divkh~ timwro;~ diavkono~ methvæei ktl, „Das, was dem König für sein Einschreiten gegen die

Apostel gebührte, ließ nicht lange auf sich warten. Sofort ereilte ihn der rächende Bote der göttlichen Gerechtigkeit etc.“ (HistEccl. 2,10,1). 177 Zu weiteren lukanischen Eingriffen in seine Quelle vgl. Schwartz, Agrippa 148. Der Würmerfraß ist ein Requisit in Schilderungen vom Tod des Verfolgers, vgl. hierzu Nestle, Legenden und Gauger, Tod.

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gensonne sein silbernes Gewand in gleißendes Licht hüllt, ereignet sich folgendes: eujqu;~ de; oiJ kovlake~ ta;~ oujde; ejkeivnwó pro;~ ajgaqou` a[llo~ a[lloqen fwna;~ ajnebovwn, qeo;n prosagoreuvonte~ eujmenhv~ te ei[h~ ejpilevgonte~, eij kai; mevcri nu`n wJ~ a[nqrwpon ejfobhvqhmen, ajlla; toujnteu`qen kreivttonav se qnhth`~ fuvsew~ oJmologou`men. – Sogleich erhoben die Schmeichler, freilich nicht ihm zum Guten, von allen Seiten ihre Stimme, nannten ihn Gott und setzten hinzu: ‚Sei uns gnädig! Wenn wir dich auch bisher als Mensch gefürchtet haben, so bekennen wir doch von nun an, dass du die sterbliche Natur übertriffst‘ (Ant. 19,345).

Bereits an dieser Stelle wird Agrippa spürbar entlastet: Die Akklamation als Gott ist die Initiative von „Schmeichlern“ (kovlake~), die Agrippa mit ihren Zurufen schwer schaden (oujde; ejkeivnwó pro;~ ajgaqou`). Im Gegensatz zu Apg 12 erscheint Agrippa hier also als zunächst einmal als Opfer. Die niedrigen Beweggründe derer, die Agrippa als Gott akklamieren, werden ausdrücklich benannt (Schmeichelei). Über die Beweggründe für Agrippas Versäumnis, den Rufenden Einhalt zu gebieten, verlautet nichts. Josephus notiert nur, dass „der König diese nicht getadelt, noch die lästerliche Schmeichelei zurückgewiesen“ habe (19,346: oujk ejpevplhxen touvtoi~ oJ basileu;~ oujde; th;n kolakeivan ajsebou`san ajpetrivyato). Eine explizite Bewertung von Agrippas Verhalten erfolgt nicht. Nur die Akklamation selbst wird als Lästerung bezeichnet, nicht die unterlassene Zurückweisung. Die unmittelbare Folge von Agrippas Versäumnis ist nicht der Schlag des Engels sondern ein Prodigium, das dem König seinen baldigen Tod ankündigt. Agrippa erblickt eine Eule und weiß sogleich, dass seine Stunde geschlagen hat: a[ggelon tou`ton eujqu;~ ejnovhsen kakw`n ei\nai to;n kaiv pote tw`n ajgaqw`n genovmenon, kai; diakavrdion e[scen ojduvnhn, „Er erkannte sogleich denjenigen als Unglücksboten, der ihm einst zum Glücksboten geworden war, und er wurde von ganzem Herzen bekümmert“ (19,346). Der Rückverweis to;n kaiv pote tw`n ajgaqw`n genovmenon bezieht sich auf Ant. 18,195–201, wo Josephus von der sechsmonatigen römischen Kerkerhaft Agrippas berichtet, in die er wegen einer unvorsichtigen Bemerkung über Tiberius geraten war. Eines Tages lehnte Agrippa gefesselt an einem Baum, als sich über ihm eine Eule in den Zweigen niederließ. Ein Mitgefangener prophezeit ihm daraufhin, er werde zu Macht und Ansehen kommen und einen glücklichen Tod haben (18,200: eujdaivmonav te a]n poioi`o th;n teleuthvn). Wenn er aber jene Eule wieder erblicken werde, müsse er wissen, dass er binnen fünf Tagen sterben werde. Dementsprechend reagiert Agrippa ungeachtet seiner Betrübnis und bald sich einstellender heftiger Schmerzen gefasst und würdevoll. Josephus lässt ihn eine Abschiedsrede halten, die von seiner tadellosen Haltung angesichts seines nahen Todes zeugt:

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oJ qeo;~ uJmi`n ejgwv [...] h[dh katastrevfein ejpitavttomai to;n bivon, paracrh`ma th`~ eiJmarmevnh~ ta;~ a[rti mou kateyeusmevna~ fwna;~ ejlegcouvsh~: oJ klhqei;~ ajqavnato~ uJfÆ uJmw`n h[dh qanei`n ajpavgomai. dektevon de; th;n peprwmevnhn, h|æ qeo;~ bebouvlhtai: kai; ga;r bebiwvkamen oujdamh`æ fauvlw~, ajllÆ ejpi; th`~ makarizomevnh~ lamprovthto~. – Der Gott, der ich für euch bin, schon wird mir auferlegt, aus dem Leben zu scheiden, und augenblicklich überführt das Schicksal die Stimmen, die mich eben erst verleumdet haben. Der ich von euch unsterblich genannt wurde, schon rafft mich der Tod dahin. Doch muss ich mein Geschick annehmen, wie Gott es will, denn wir haben ja keineswegs armselig gelebt, sondern in glücklichstem Glanz“ (19,347).178

Aus der Aussage oJ qeo;~ uJmi`n ejgw; h[dh katastrevfein ejpitavttomai to;n bivon klingt unverkennbar Selbstironie: Ein schöner Gott ist das, der sogleich sterben muss.179 Außerdem verlagert sich die „Schuldfrage“ nochmals zu Gunsten Agrippas: Seine Lobredner haben sich der Falschaussage (katayeuvdomai) schuldig gemacht, ihr Lob war eigentlich eine Verleumdung, und Agrippa erscheint als Opfer dieser Verleumdung. Schließlich beweist Agrippa eine Schicksalsergebenheit philosophischen Zuschnitts: Es gilt, das von Gott verhängte Schicksal anzunehmen. Er bringt es sogar fertig, in einer an Hi 2,10 erinnernden Begründung sein leidvolles Sterben mit seinem glücklichen Leben in Einklang zu bringen: Hat ihm der Schicksalsvogel einst Glück verheißen, so gilt es, sich auch dann zu fügen, wenn er als Unglückbote (19,346: a[ggelo~ [...] kakw`n) wiederkehrt. Da einstiges Glück und jetziges Unglück aus der Hand des Schicksals bzw. Gottes kommen, besteht zwischen beidem kein Widerspruch.180 Immer stärker werdende Schmerzen sind in der josephischen Darstellung der Grund dafür, dass Agrippa von der Rednertribüne in seinen Palast gebracht wird. Von einem Fenster im Obergeschoss aus kann er beobachten, wie das Volk unter Jammer und Wehklagen für die Genesung des Königs betet. Der Anblick der um sein Leben bangenden Menge rührt ihn zu Tränen. Nach fünf Tagen stirbt er.181 Josephus ist erkennbar um eine Dar178

Eigene Übersetzung. Die Übersetzung von Clementz (Altertümer) bringt den ironischen Zug schön zur Geltung: „Seht, euer Gott muss jetzt das Leben lassen.“ 180 Wohl nicht zufällig ist es eine Eule, die Agrippa sein Schicksal ankündigt. Die Eule, im römischen Prodigienwesen geläufig als Vorzeichen für Unheil und Tod (Opelt, Eule 892f), spielt auch bei Prodigien auf den Tod Cäsars (Ovid, Metam. 15,791) und Augustus’ eine Rolle (Cassius Dio, Hist. 56,29,3; bei Sueton handelt es sich freilich noch um einen Adler); „what better precedents could Agrippa want?“ (Schwartz, Agrippa 148f Anm. 11). 181 Pesch, Apostelgeschichte 367f lässt die positive Tendenz der josephischen Darstellung völlig außer Acht, wenn er meint, „[i]n beiden Berichten“, d.h. bei Lukas und Josephus, sei „der Straftod des Herodes als Tod des Gottesverächters gezeichnet.“ Bei Josephus handelt es sich gerade nicht um einen Straftod. Bei der Schilderung der körperlichen Schmerzen ist in signifikantem Unterschied zu Acta 12 nicht von Würmern die Rede, und dementsprechend auch nicht von dem „sonst erst nach dem Tode einsetzenden Vorgang der Verwesung“, der „schon im lebendigen Leib 179

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stellung des Todes Agrippas I. bemüht, die die für eine solche Darstellung eher ungünstigen Fakten (plötzliche schwere Krankheit, starke Schmerzen) zurechterzählt.182 Dies ist Teil des positiven Bildes, das Josephus in Ant. 18–19 von Agrippa entwirft.183 4.3.6 Der Tod des Mose Die positive Darstellung des Todes Agrippas I. wird vollends deutlich, wenn wir den Schlussteil der josephischen Darstellung vom Tod des Mose (Ant. 4,315–327) vergleichend heranziehen.184 Diese weist nämlich drei Elemente auf, die Josephus auch in Ant. 19 einsetzt: (a) Äußerung vorbildlicher Schicksalsergebenheit angesichts des Todes, (b) Trauer des Volkes seinen Anfang nimmt“, so Pesch, Apostelgeschichte 368, zu Unrecht Nestle, Legenden 258 zitierend. Was in Ant. 19 untypischerweise nicht erst nach dem Tod, sondern schon bei Lebzeiten einsetzt, ist nicht die Verwesung, sondern die Klage des Volkes um den Sterbenden/Toten! Zutreffend Haenchen, Apostelgeschichte 373: Josephus (bzw. nach Haenchen: seine Quelle) wollte „den Fürsten nicht als von Gott geschlagen zeichnen.“ 182 Vgl. Haenchen, Apostelgeschichte 373: Agrippa „ist nach wenigen Tagen schmerzvoller Krankheit in Cäsarea verstorben. Dieses plötzliche Ende hat das jüdische Denken fragen lassen, warum Gott den König so rasch hinwegraffte.“ Diese Frage drängte sich freilich nicht nur jüdischem Denken auf! Josephus geht es darum, eine für Agrippa möglichst günstige Antwort zu geben. 183 Trotz seines abenteuerlichen und wechselvollen Lebens und seiner notorischen Verschwendungssucht erscheint Agrippa bei Josephus in sympathischer Zeichnung. Er schildert ihn als frommen Juden und milden Herrscher; vgl. v.a. Ant. 19,328–343. Damit steht nicht in Widerspruch, dass die Einwohner von Cäsarea und Sebaste nach Agrippas Tod übel mit ihm umspringen: Sie beschimpfen ihn, plündern sein Haus und feiern seinen Tod mit Freudenfesten. Josephus legt ihnen dies an zwei Stellen ausdrücklich als Undankbarkeit aus (19,356.359), weist Agrippa also die Rolle des (unschuldigen) Opfers zu (s.o. Anm. 171). Der tiefere Sinn dieser Episode ist folgender: Die Plünderer erbeuten u.a. Statuen, die Agrippa von seinen Töchtern hat anfertigen lassen (19,357). Dies kann Josephus Agrippa nicht durchgehen lassen, denn solche Bildwerke sind für ihn eine krasse Missachtung des biblischen Bilderverbotes. Also erzählt er, getreu dem Leitmotiv der Antiquitates, dass eine Übertretung des Mosegesetzes stets ins Unglück führt (1,14), dass die Plünderer die Statuen der Töchter Agrippas nach dessen Tod in Bordellen aufgestellt und dem Spott der Menge preisgegeben haben. Mit dem Schicksal der Statuen bringt Josephus den erzählerischen Beweis dafür, dass seine Leitthese auch in diesem Fall zutrifft. Um so bemerkenswerter ist, dass Josephus trotz dieses Fehltritts an einem positiven Bild Agrippas festhält. Er brandmarkt die Stauten seiner Töchter nirgends direkt als Gesetzesübertretung. Ein Beweggrund für diese positive Tendenz mag darin liegen, dass Josephus Agrippas Sohn, Agrippa II., persönlich kannte und mit ihm über seine Schriften in regem Briefverkehr stand; für das Bellum vgl. Vita 364–367. Zwar hat Agrippa die Veröffentlichung der Vita nicht mehr erlebt (Vita 359), doch hat er die Bücher 18 und 19 der Antiquitates möglicherweise noch zu Gesicht bekommen. Das negative Bild seines Urgroßvaters Herodes d. Gr. in Ant. 14–17 mag Agrippa mitgetragen haben, denn über seine Großmutter Mariamme I. war er Hasmonäernachkomme und hatte solcher vom Gründer der Herodesdynastie möglicherweise keine allzu hohe Meinung. 184 Die Erzählung beginnt bereits in 4,176: An eine Abschiedsrede (4,176–193) schließt eine Klage des Volkes (4,194) und eine Entgegnung des Mose an (4,195), gefolgt von einem Zwischenstück, in dem Josephus eine Zusammenfassung der Tora als Vermächtnis des Mose einschaltet (4,196–301); dann folgen weitere Abschiedsreden (4,302ff). Gliederung nach Haacker/Schäfer, Traditionen 148f.

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noch bei Lebzeiten, (c) Rührung des Sterbenden durch die Klage des Volkes. Diese Motive dominieren beide Darstellungen derart, dass sich geradezu die These aufdrängt, Josephus habe Agrippa nach dem Vorbild des Mose oder zumindest mit gezielten motivischen Anklängen an die Erzählung von dessen Tod sterben lassen.185 Deutlicher noch als bei Agrippa stellt Josephus bei Moses dessen bewusstes und überlegtes Verhalten angesichts seines nahen Endes heraus. Er lässt ihn sagen: ejpeiv [...] pro;~ tou;~ hJmetevrou~ a[peimi progovnou~ kai; qeo;~ thvnde moi th;n hJmevran th`~ pro;~ ejkeivnou~ ajfivxew~ w{rise, cavrin me;n aujtw`æ zw`n e[ti kai; parw;n uJmi`n e[cein oJmologw`. – Da ich zu unseren Vorfahren gehe und Gott mir diesen Tag zur Ankunft bei ihnen bestimmt hat, bekenne ich, während ich noch lebe und bei euch anwesend bin, meinen Dank ihm gegenüber (4,315f).

Moses erkennt und akzeptiert seinen nahen Tod als von Gott festgesetzten Zeitpunkt und nutzt die ihm noch bleibende Frist (zw`n e[ti kai; parw;n uJmi`n) für letzte Worte und Ermahnungen an das Volk. Auch in dieser Situation reagiert er nicht, sondern handelt aus eigenem, wohlbegründetem Entschluss: proeulogh`sai th;n tou` qeou` duvnamin [...] ajpallassovmeno~ kalw`~ e[cein hJghsavmhn, „Ich hielt es für rechtens, da ich nun hinscheide, zuvor seine Macht zu preisen“ (4,318). Anschließend schildert Josephus ausführlich und ergreifend die Klage des Volkes wegen des baldigen Verlusts ihres Gesetzgebers. Die Bekundungen der Trauer sind so anrührend, dass sich selbst Moses der Tränen nicht erwehren kann: kaiv [...] pepeismevno~ a{panti tw`æ crovnwó mh; dei`n ejpi; mellouvshæ teleuth`æ kathfei`n, wJ~ kata; bouvlhsin aujto; pavsconta~ qeou` kai; fuvsew~ novmwó, ejpi; toi`~ uJpo; tou` laou` prattomevnoi~ ejnikhvqh dakru`sai. – Obwohl er Zeit seines Lebens überzeugt war, dass man wegen des bevorstehenden Endes nicht betrübt sein dürfe, da man dies ja nach dem Willen Gottes leide nach dem Gesetz der Natur, übermannten ihn angesichts des Verhaltens des Volkes die Tränen (4,322).

Die Auffassung, der Tod sei als gott- und naturgegebene Notwendigkeit kein Grund zur Betrübnis, war Mose während seines ganzen Lebens (a{panti tw`æ crovnwó) zu eigen. Angesichts des Sterbens muss sich diese Auffassung nun bewähren,186 und sie tut es auch, denn Mose erlangt seine Fas185 Mose ist freilich nur eines von zahllosen Beispielen für die josephische Gestaltung biblischer Figuren nach den ethischen und popularphilosophischen Idealvorstellungen seiner Zeit. Josephus verarbeitet diese Vorstellungen nicht nur bei der Darstellung historischer Persönlichkeiten, sondern legt sie stets auch seinen Entwürfen biblischer Charaktere zu Grunde. Dies hat Feldman in zahllosen Einzelstudien gezeigt, die nun in zwei Bänden gesammelt vorliegen; vgl. oben Anm. 162. 186 Moses zeigt sich an dieser Stelle als geübt in antiker ars moriendi stoischer Prägung, so auch Haacker/Schäfer, Traditionen 149 Anm. 5.

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sung schnell wieder und gebietet dem Wehklagen des Volkes in einer an den sterbenden Sokrates erinnernden Geste187 Einhalt und bittet es, ihm einen tränenreichen Abschied zu ersparen (4,323: mh; poiei`n aujtw`æ dakruth;n th;n ajpallagh;n). Das Volk entspricht seiner Bitte und ermöglicht ihm damit, „nach seinem Willen zu sterben“ (4,324: to; kata; bouvlhsin ajpelqei`n). Im Anschluss an die Erzählung von Moses’ Tod – sie endet damit, dass Moses von einer Wolke verhüllt wird und in einer Schlucht (favragx) verschwindet – geht Josephus auf die auch bei Philo188 und in der rabbinischen Literatur189 thematisierte Frage ein, ob und wie es möglich war, dass Moses über seinen eigenen Tod schreiben konnte: gevgrafe dÆ aujto;n ejn tai`~ iJerai`~ bivbloi~ teqnew`ta, deivsa~ mh; diÆ uJperbolh;n th`~ peri; aujto;n ajreth`~ pro;~ to; qei`on aujto;n ajnacwrh`sai tolmhvswsin eijpei`n. – Er hat aber in den heiligen Büchern von seinem Gestorbensein geschrieben, weil er fürchtete, man würde sich wegen des Übermaßes der ihn umgebenden Tugend zu der Aussage versteigen, er sei zur Gottheit fortgegangen (4,326).

Für unsere Fragestellung ist weniger der Inhalt dieser Aussage von Bedeutung,190 als vielmehr eine formale Beobachtung: Josephus erklärt den anscheinenden Widerspruch, dass ein Lebender über seinen eigenen Tod schreibt, damit, dass Mose seine eigene Deutung der Umstände seines Todes schriftlich habe niederlegen wollen, um anderslautenden Deutungen vorzugreifen. Mose weiß, dass das Übermaß seiner ajrethv zu Spekulationen über die Umstände seines Todes Anlass geben wird, er sei in Wahrheit gar nicht gestorben sondern zu Gott entrückt oder gar in ein Gottwesen verwandelt worden. Am Beispiel des Mose wird erneut deutlich, wie sich die Auffassung vom Leben eines Menschen auf die Deutung seines Todes auswirkt: Weil sein Leben in besonderem Maße von ajrethv bestimmt war, muss auch sein Sterben von besonderer Qualität sein. Mose relativiert diesen Zusammenhang – wie er zu dem Vorauswissen um seinen Tod kommt, problematisiert Josephus nicht – und hält deshalb fest, er werde sterben wie alle anderen Menschen auch. 4.3.7 Mariamme und Alexandra In Ant. 15,232–237 reichert Josephus den Bericht vom Ende der Hasmonäerprinzessin Mariamme, der zweiten Frau des Herodes, ähnlich wie bei He187

Platon, Phaid. 117d–e. Philo, Vit. 2,51.291. 189 bMen. 30a. 190 Josephus widerspricht hier der Auffassung, Mose sei nicht gestorben, sondern zu Gott entrückt oder gar selbst zu einem Gottwesen geworden. Einen knappen Überblick über die Forschung hierzu (pagane oder jüdische Vorstellungen von Entrückung und Apotheose?) gibt Feldmann, Antiquities 472ff Anm. 1122.1125. 188

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rodes selbst durch eine narrative suvgkrisi~ an. Das würdige Sterben Mariammes, die der krankhaften Eifersucht ihres Mannes und den Intrigen am Jerusalemer Königshof zum Opfer fällt, wird durch das schäbige Verhalten ihrer Mutter Alexandra kontrastiert. So entsteht ein anschauliches Kontrastbild zweier gegensätzlicher Verhaltensweisen und Charaktere: Mariamme geht völlig gefasst und würdevoll in den Tod, ihre Mutter Alexandra dagegen, die nach Lage der Dinge allen Grund hat, nun auch um ihr eigenes Leben zu fürchten, unternimmt einen so vergeblichen wie lächerlichen Versuch, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sie stellt sich mit einem Mal ostentativ auf Herodes’ Seite und verkündet öffentlich, dass sie die über Mariamme verhängte Todesstrafe nur zu gerechtfertigt fände. Sie habe, erzählt Josephus, ihre Tochter sogar auf offener Straße beschimpft und sie tätlich angegriffen. Mariamme hat unter diesen Umständen für ihre Mutter nur noch kalte, wortlose Verachtung übrig. Als Alexandra realisiert, dass sie nur „geringe Hoffnung“ (mikra; ejlpiv~) besteht (15,232), Herodes zu entkommen, ändert sie ihr Verhalten auf höchst unziemliche Weise (livan ajprepw`~). Sie wird denn auch „von den anderen“ (para; tw`n a[llwn), vollends aber von Mariamme selbst „in ihrer unanständigen Heuchelei“ (kaqupokrinomevnh ajschmovnw~) durchschaut. Mariamme „sagt nicht ein einziges Wort, noch erregt sie sich über deren Widerwillen“ (ou[te ga;r lovgon dou`sa th;n ajrch;n ou[te taracqei`sa pro;~ th;n ejkeivnh~ duscevreian, 235). Sie selbst geht „mit unerschütterter Standhaftigkeit“ (ajtremaivwó tw`æ katasthvmati) in den Tod und stellt damit selbst in ihrer Sterbestunde ihren „Adel“ (eujgevneia) für alle sichtbar unter Beweis (236). „So starb sie “ (ou{tw~ ajpevqanen), resümiert Josephus (237), und er würdigt Mariamme abschließend als „eine Frau von herausragendem Charakter, sowohl in ihrer Selbstbeherrschung wie auch in ihrer Seelengröße“ (gunh; kai; pro;~ ejgkravteian kai; pro;~ megaloyucivan a[rista gegenhmevnh). Von Alexandra erfährt der Leser später, dass ihre Verstellung so kurzlebig wie nutzlos war: Bei nächster Gelegenheit versuchte sie ein weiteres Mal, Herodes zu entmachten, scheiterte jedoch und wurde dem Henker übergeben. Josephus flicht in seinen Bericht vom Ende der Mariamme zwei Charakterbilder ein: eines, das vorbildliche Todesbereitschaft illustriert, und eines, das es an dieser Todesbereitschaft fehlen lässt. Mariamme stirbt würdevoll, Alexandra lebt vor aller Augen würdelos weiter. Alexandra ist ein Beispiel dafür, wie man am Todesproblem schon zu Lebzeiten scheitern kann und dann dafür verachtet wird. 4.3.8 Der Tod Apions Verharrt Josephus mit dem Doppelportrait Mariamme/Alexandra ungeachtet der so unmissverständlichen wie gegensätzlichen Bewertung beider Ge-

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stalten in der Distanz des Historiographen, so bewegt er sich mit seiner Schilderung des Todes Apions in CA 2,142–144 im Bereich heftigster persönlicher Polemik. Apion, griechischer Grammatiker ägyptischer Herkunft, lebte und wirkte in der 1. Hälfte des 1. Jh. n.Chr. als Nachfolger des Theon in Alexandria und später in Rom, wo er v.a. durch seine Homerinterpretation auf sich aufmerksam machte und große Popularität erlangte. Er gehörte der Gesandtschaft an, die im Jahre 40 n.Chr. im Streit um den Status der Juden Alexandriens bei Kaiser Caligula vorstellig und auf jüdischer Seite von Philo von Alexandrien geleitet wurde. Der Konflikt zwischen den alexandrinischen Juden und Griechen hat seinen literarischen Niederschlag in Apions Geschichte Ägyptens gefunden. Josephus hat sich in seinem unter dem Titel Contra Apionem überlieferten apologetischen Spätwerk eben diesen Apion als literarischen Gegner ausgewählt und nicht nur eine Widerlegung der antijüdischen Passagen seiner Geschichte Ägyptens unternommen, sondern Apion auch nach allen Regeln antiker Rhetorik persönlich scharf angegriffen. Am Schluss des gegen Apion gerichteten Passus kommt er auf dessen Verhöhnung der jüdischen Beschneidung zu sprechen und argumentiert mit der bei Herodot belegten ägyptischen Herkunft dieses Brauches: Eigentlich verspotte Apion die Ägypter, bei denen er sich mit seiner antijüdischem Polemik doch beliebt machen wolle, und er wirft ihm ein doppeltes Vergehen vor: Die Gesetze des eigenen Volkes zu missachten und die eines anderen zu verspotten. In diesem Zusammenhang kommt Josephus auch auf Apions Tod zu sprechen: a\rÆ ou\n tuflo;~ h\n to;n nou`n ÆApivwn uJpe;r Aijguptivwn hJmi`n loidorei`n sunqevmeno~, ejkeivnwn de; kathgorw`n, oi{ ge mh; movnon crw`ntai toi`~ uJpo; touvtou loidoroumevnoi~ e[qesin, ajlla; kai; tou;~ a[llou~ ejdivdaxan peritevmnesqai, kaqavper ei[rhken ïHrovdoto~; o{qen eijkovtw~ moi dokei` th`~ eij~ tou;~ patrivou~ aujtou` novmou~ blasfhmiva~ dou`nai divkhn ÆApivwn th;n prevpousan: perietmhvqh ga;r ejx ajnavgkh~ eJlkwvsew~ aujtw`æ peri; to; aijdoi`on genomevnh~. kai; mhde;n wjfelhqei;~ uJpo; th`~ peritomh`~ ajlla; shpovmeno~ ejn deinai`~ ojduvnai~ ajpevqanen. dei` ga;r tou;~ eu\ fronou`nta~ toi`~ me;n oijkeivoi~ novmoi~ peri; th;n eujsevbeian ajkribw`~ ejmmevnein, tou;~ de; tw`n a[llwn mh; loidorei`n: oJ de; touvtou~ me;n e[fugen, tw`n hJmetevrwn de; kateyeuvsato. tou`to me;n ÆApivwni tou` bivou to; tevlo~ ejgevneto kai; tou`to »parƼ hJmw`n ejntau`qa to; pevra~ e[stw tou` lovgou. – War da Apion nicht blind in seinem Verstand, als er sich in den Kopf setzte, den Ägyptern zuliebe uns zu verleumden – wo er doch (eigentlich) jene anklagt, die nicht nur die Bräuche haben, die von ihm verlästert werden, sondern sogar den anderen die Beschneidung beigebracht haben, wie Herodot sagt? (143) Darum scheint mir Apion für die Schmähung seiner väterlichen Gesetze die passende Strafe gezahlt zu haben: Er wurde nämlich notgedrungen beschnitten, als ihm eine Wucherung am Geschlechtsteil wuchs; doch hat ihm diese Beschneidung nichts mehr genützt, sondern infolge von Sepsis ist er unter schrecklichen Schmerzen gestorben. (144) Es gehört sich nämlich für verständige Leute, in den je eigenen Gesetzen, was Religion betrifft, gewissenhaft zu verbleiben und die

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der anderen nicht zu verhöhnen. Er aber hat die seinen preisgegeben, unsere aber mit Lügen geschmäht. So ist also das Lebensende Apions gewesen, und so soll hier auch das Ende meiner Rede sein (CA 2,142–144).

Josephus beendet seine Auseinandersetzung mit Apion damit, dass er seinen Kontrahenten anhand seines Todesgeschicks gezielt persönlich herabsetzt. Er deutet Apions Tod nicht nur als verdiente Strafe für dessen angebliche Missachtung der eigenen und Verhöhnung fremder Gesetze, er greift auch absichtsvoll in seine körperliche Intimsphäre ein, entblößt den Leib des Sterbenden vor den Augen der Leser und gibt ihn rücksichtslos der Lächerlichkeit preis: Er, der die jüdische Beschneidung verspottet hat, musste sich an seinem Lebensende beschneiden lassen und ist dennoch unter Schmerzen an einem Genitalgeschwür gestorben. Das resümierende tou`to me;n ÆApivwni tou` bivou to; tevlo~ bedeutet, dass das qualvolle Sterben Apions etwas über seinen bivo~ als ganzen aussagt: Er ist den Tod gestorben, den er angesichts seines gesetzlosen Lebenswandels verdient hat.

4.4 Zusammenfassung Hellenistisch-römische Historiographie kann, wo sie in der Tradition biographischer Geschichtsschreibung steht, ein erhebliches Interesse am Todesproblem entwickeln. Tacitus als römischer und Flavius Josephus als hellenistisch-jüdischer Geschichtsschreiber sind Beispiele für die Anwendung rhetorisch-biographischer Topoi in historiographischen Zusammenhängen. Tacitus bedient sich dieser Topoi bei der Schilderung der Majestätsprozesse im Zusammenhang der pisonischen Verschwörung. Sein Augenmerk liegt hierbei, offenbar unter Verwendung bestehender Sammlungen über den exitus illustrium virorum, auf der Darstellung von Sterben und Tod der Verurteilten. Er stilisiert die Ereignisse als dramatischen Antagonismus zwischen dem Charakter des Weisen und dem des Tyrannen. Die Verurteilten tragen als äußerlich Unterlegene den moralischen Sieg über den Tyrannen davon, weil sie in der Situation des Sterbens ihre Charakterstärke unter Beweis stellen und ihr Ende auf diese Weise nicht das Scheitern, sondern der Triumph ihres Lebens bedeutet. Ein würdiges Sterben par excellence führt Tacitus am Beispiel Senecas vor. Als Seneca von Nero den Befehl zum Selbstmord erhält, zeigt er „keine Zeichen von Angst“ (nulla pavoris signa), und lässt „weder einen ernsten Ton in seiner Rede“ (nihil triste in verbis eius) erkennen, „noch einen betroffenen Gesichtsausdruck“ (aut vultu deprensum). Er wendet sich „in aller Ruhe“ (interritus) seinen Freunden zu und ermahnt sie, sich nicht ihrer Trauer über den nahen Abschied hinzugeben. Als er sich schon die Puls-

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adern geöffnet hat und ihm schon die Kräfte schwinden, unternimmt er es noch, eine Rede zu diktieren und seine „letzten Worte“ als schriftliches Vermächtnis der Nachwelt zu hinterlassen. Senecas Frau Paulina will zunächst mit ihrem Mann sterben und öffnet sich wie dieser die Pulsadern, doch wird ihr Freitod von Neros Schergen vereitelt. Tacitus erwähnt eine in der stadtrömischen Öffentlichkeit kursierenden Negativdeutung ihrer Person: Man habe ihr ihre Todesbereitschaft als Furcht vor Nero ausgelegt und ihr Weiterleben als Unfähigkeit, den einmal gefassten Entschluss mutig in die Tat umzusetzen, sobald sie der neuerlichen Geneigtheit Neros wieder sicher war. Tacitus verwirft diese Deutung als Missgunst des gemeinen Mannes und lässt Paulina von ihrer noblen Entschlossenheit zu sterben geradezu körperlich gezeichnet sein: Die Blässe als Folge des erlittenen Blutverlusts wird gewissermaßen zum Stigma ihres edlen Charakters. Die darstellerische Konzentration auf biographische Sterbeszenen ist bei Tacitus eher die Ausnahme, dagegen lassen die Werke des hellenistischjüdischen Historiographen Flavius Josephus ein flächendeckendes Interesse an biographischen exempla würdigen und unwürdigen Sterbens erkennen. Bei Josephus ist im Bereich der biblischen (Ant. 1–11) wie der historischen Gestalten (Ant. 12–20, Bell.) ein besonderer Variantenreichtum bei der Konstruktion möglicher Verhaltensweisen in der Situation des Sterbens zu beobachten. Stets fällt dabei ein Urteil über Person und Charakter insgesamt. Herodes d. Gr. wird in einer narrativen suvgkrisi~ mit den im Zusammenhang der Adleraffäre zum Tode verurteilten Gelehrtenschülern verglichen: Diese exemplifizieren einen qavnato~ di j ajreth`~, wogegen Herodes für den qavnato~ ejk novsou steht und damit seine ajgevneia unter Beweis stellt. Obwohl schon auf den Tod krank, „klammerte er sich doch an das Leben“ (o{mw~ tou` zh`n ajnteivceto). In dieser unsinnigen Hoffnung auf Genesung bildet er die Kontrastfigur zu den Gelehrtenschülern, die dem Tod unerschrocken ins Auge sehen. Eine weitere suvgkrisi~ konstruiert Josephus im Bericht von der Gefangennahme Hyrkans und Phasaëls durch die Parther. Phasaël erhält für seinen Freitod höchstes Lob, denn er „starb wahrhaft tapfer und gestaltete sein Ende würdig seines Lebens“ (ajndreiov-

tata qnhvskei poihsavmeno~ th;n katastrofh;n toi`~ kata; to;n bivon e[rgoi~ prevpousan). Stilgerecht gibt Josephus ihm die Gelegenheit zu letzten Worten. Hyrkan dagegen verhält sich ajgennevstato~, „höchst unadlig“,

weil er die Schmach der Gefangenschaft einem ehrenvollen Tod vorzieht. An den von ihm hoch geschätzten Essenern hebt Josephus die Todesbereitschaft hervor, die sie während des Krieges unter Beweis gestellt haben. Solche Charakterstärke führt Josephus auf die essenische Jenseitshoffnung zurück: Die Essener konnte ihr Leben hingeben, weil sie gewiss waren, es von Gott wiederzuerlangen. Ein Paradestück antiker Rhetorik des Sterbens ist Josephus’ Bericht vom Ende des Hasmonäers Antigonos, der in Bellum 1

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und Antiquitates 14 höchst unterschiedlich ausfällt. In Bellum 1 ist Antigonos Erzfeind des Herodes, den Josephus seinem römischen Publikum als historisches Beispiel guter judäisch-römischer Beziehungen vorführt. Dementsprechend stellt er Antigonos’ würdelose Hinrichtung mit dem Beil als verdientes Ende eines schlechten Charakters dar: tou`ton me;n ou\n filo-

yuchvsanta mevcri~ ejscavtou dia; yucra`~ ejlpivdo~ a[xio~ th`~ ajgenneiva~ pevleku~ ejkdevcetai, „Diesen, der bis zuletzt mit einer nichtigen Hoffnung

am Leben hing, erwartete, würdig seines niedrigen Verhaltens, das Beil.“ Ganz anders in Antiquitates 14: Der Sachverhalt ist derselbe, die Bewertung jedoch eine ganz andere. Antigonos ist auf einmal Opfer römischer und herodianischer Machtpolitik. Sein würdeloses Ende sollte das Ansehen des Hasmonäers unter den Juden beschädigen und damit indirekt die Akzeptanz des von Rom eingesetzten Herodes steigern. Nun konstatiert Josephus nicht mehr eine Entsprechung zwischen würdelosem Todesgeschick und niedrigem Charakter, sondern einen beklagenswerten Widerspruch zum Adel des letzten hasmonäischen Herrschers. Der Vergleich beider Versionen zeigt mit unüberbietbarer Klarheit, wie sich die Rhetorik der hellenistischrömischen Antike des Todesthemas bemächtigt hat: Personen werden anhand ihrer Todesumstände gelobt oder getadelt. Gleichermaßen instruktiv ist der Tod Agrippas I. nach Acta 12 und Ant. 19: Was Lukas als verdienten Straftod des Verfolgers der christlichen Gemeinde verstanden wissen will, weitet Josephus zu einer Sterbeszene aus, in der Agrippa sich mit einer Schicksalsergebenheit von philosophischem Rang in seinen baldigen Tod fügt, hierin der Figur des Mose in josephischer Zeichnung vergleichbar. Dass Josephus das ganze Repertoire rhetorischer Todesdarstellung beherrscht hat, zeigt er mit seinem hochgradig polemischen Rekurs auf seinen literarischen Gegner Apion, den er nach allen Regeln antiker Rhetorik scharf angreift. Bei der Schilderung seines Todesgeschicks greift er absichtvoll in die körperliche Intimsphäre ein und entblößt den Leib des Sterbenden gewissermaßen vor den Augen der Leser.

5. Satire, Parodie, Spottgedicht 5.1 Einführung Die in diesem Kapitel zu untersuchenden Texte stützen mit besonderer Anschaulichkeit die in der Einleitung geäußerte These einer in der hellenistisch-römischen Antike üblichen sozialen Kontrolle von Sterben und Tod. Zugleich handelt es sich um Texte, die die Anwendung der einschlägigen Enkomientopoi, ins Negative gewendet, auf den Kasus des Tadels exemplifizieren. Es geht nämlich bei der satirischen Darstellung individueller To-

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desgeschicke (Seneca, Lukian) oder einer typischen Todesauffassung (Martial) stets um die intendierte und gezielte Herabsetzung bestimmter Personen bzw. Charaktertypen. In Senecas Apocolocynthosis (II.5.2) und Lukians De morte Peregrini (II.5.4) wird anhand des Todesthemas die systematische soziale Demontage eines Individuums betrieben. Bei Seneca geschieht dies im machtpolitischen Kontext des römischen Kaiserhofes und bei Lukian als satirisches Spiegelbild eines eminenten volkstümlichen Interesses am Todesgeschick berühmter Gestalten. Senecas Satire ist außerdem ein besonders drastisches Beispiel für die Missachtung jeglicher Privatsphäre von Sterben und Tod. Der sterbende Claudius wird literarisch in einer Weise exponiert, die für heutiges Empfinden höchst anstößig wirkt und dadurch die kulturelle Differenz zwischen antiker und moderner Semantik des Todes bewusst macht. Wenn die wiederholt zitierte Beobachtung Ronconis zutrifft, dass „die Einzelheiten des Todes“ einer Person nach antikem Verständnis „einen ganzen Lebenslauf gleichsam symbolisch zusammenzufassen vermögen“,191 dann ist es nur folgerichtig, dass ein biographischer Text auch und gerade mit polemischem Darstellungsinteresse hierauf sein besonderes Augenmerk legen wird, und zwar wenn nötig unter Außerachtlassung sämtlicher Regeln der Pietät. Der Text aus Martials Epigrammen (II.5.3) weist bereits auf das umfangreiche sechste Kapitel des II. Teils dieser Studie voraus, das das Todesproblem als philosophisches Thema behandelt. Indem Martial einen bestimmten Typus philosophisch begründeter Todessehnsucht bespöttelt und diesen als Ausdruck einer falschen Lebensauffassung deutet, wird deutlich, dass sich der philosophische Diskurs auf dem Feld populärer Ethik zu bewähren hatte, wenn er nicht überhaupt dort geführt wurde. Die in Martials Epigramm auf den Stoiker Chairemon dokumentierte Außenperspektive belegt die hohe Anteilnahme des antiken common sense am philosophischen Gespräch seiner Zeit. Auf andere Weise tut dies zwei Generationen später auch Lukian in seiner Satire auf den Tod des Peregrinus, der als kynischer Wanderlehrer ein hohes Maß an öffentlicher Beachtung genoss. 5.2 Seneca, Apocolocynthosis Als erster Text dieses Kapitels beschäftigt uns eine Schrift aus der Feder Senecas: die Satire auf den Tod des Kaisers Claudius.192 Der Princeps war 54 n.Chr. auf Betreiben seiner Gattin Agrippina durch ein vergiftetes Pilz191 192

Ronconi, Exitus 1259. S.o. S. 45. Das Folgende nach Bauer, Apocolocynthosis 75ff.

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gericht ermordet worden. Nero, Agrippinas leiblicher Sohn und Stiefsohn des Claudius, wurde von seiner Mutter für die Thronfolge favorisiert, sein Konkurrent Britannicus dagegen, der Sohn von Claudius’ vorheriger Gattin Messalina, an die Seite gedrängt. Aus vordergründiger Rücksicht auf Britannicus und seine Parteigänger ließ Agrippina für Claudius ein staatliches Begräbnis mit allem erdenklichen Aufwand ausrichten, einschließlich seiner feierlichen Erhebung unter die Götter – eine Ehre, die bisher nur Augustus zuteil geworden war. Wie wir bei Tacitus erfahren (Ann. 13,2–3), hatte Seneca die offizielle laudatio funebris zu verfassen. Diese Aufgabe muss Seneca nicht leicht gefallen sein, denn Claudius hatte ihn 41. n.Chr. für acht Jahre ins korsische Exil geschickt, und das hat Seneca dem Princeps nie verziehen. Die Satire auf den Tod des Claudius, die ebenfalls unmittelbar nach dessen Tod entstanden sein dürfte, liest sich daher als „Kontrafaktur zur offiziellen Lobeshymne“,193 in der Seneca persönlich mit dem Princeps abrechnen und seiner Erbitterung gegen ihn freien Lauf lassen konnte. Zugleich ist von einem politischen Hintergrund auszugehen: Nach der eilig in die Wege geleiteten Akklamation des siebzehnjährigen Nero zum Kaiser wurden Stimmen laut, die lieber Britannicus als leiblichen Sohn des Claudius als dessen Nachfolger gesehen hätten. Nero ging daraufhin auf Distanz zu Claudius und leitete die Legitimität seines Prinzipats nicht mehr von den Claudiern her, sondern, über Germanicus, seinen Großvater mütterlicherseits, von Augustus. Senecas Satire wirkte den Thronansprüchen des Claudischen Hauses auf ihre Weise entgegen: Dadurch nämlich, dass sie die Person des Claudius auf jede nur erdenkliche Weise lächerlich machte und so sein Andenken nachhaltig beschädigte. Der bei Cassius Dio (Hist. 61,35,3) bezeugte ursprüngliche Titel Apocolocynthosis („Verkürbissung“) ist eine Verballhornung von Apotheosis („Vergöttlichung“). ‚Verkürbissung‘ im Sinne von ‚Veräppelung‘ bedeutet hier wohl schlicht ‚Verhöhnung eines kaiserlichen Dummkopfs‘, der nach seinem Tod nicht zuletzt dank der Satire in der Erinnerung der Leser als ‚Dummkopf in Person‘ weiterleben soll [...]. Der Titel enthält also den Vorwurf der Hohlköpfigkeit, da in der Antike wie in einigen neueren Sprachen noch heute der Kürbis Symbol und Schimpfwort für einen Dummkopf war. Somit soll bereits durch die Titelgebung die offizielle Apotheosis des Kaisers ins Lächerliche gezogen werden, der bereits durch die Überschrift nicht apotheotisiert, sondern apocolocynthosiert, nicht zum Gott erhoben, sondern zum Trottel gestempelt wird.194

Uns interessiert im Blick auf die These der vorliegenden Arbeit primär ein bestimmtes, die persönliche Herabsetzung des Claudius forcierendes Ge193 194

Bauer, Apocolocynthosis 87. Bauer, Apocolocynthosis 88.

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staltungsmittel, nämlich die exzessive Verhöhnung des Leibes des Sterbenden. Seneca belässt es nicht dabei, jedes nachteilhafte physiognomische Detail mit Hohn und Spott zu bedenken, etwa „die Darstellung seiner unklaren Aussprache, sein gelegentliches Stottern, das Nachschleifen des rechten Fußes, das Zittern seiner Hand, das Wackeln mit dem Kopf, das nervöse Reißen.“195 Vielmehr erreicht die Gehässigkeit der Darstellung ihren Höhepunkt dort, wo Seneca das Sterben des Claudius in einer Weise beschreibt, die die Grenzen des guten Geschmacks für modernes Empfinden weit hinter sich lässt: Ultima vox eius haec inter homines audita est, cum maiorem sonitum emisisset illa parte qua facilius loquebatur: vae me, puto, concacavi me. quod an fecerit, nescio: omnia certe concacavit. – Die letzten Laute übrigens, die man unter Menschen von ihm vernommen hatte – nachdem er gerade aus jenem Körperteil, mit dem er sich stets leichter zu äußern verstand, einen stärkeren Ton hatte entfahren lassen – waren folgende: ‚O je, ich glaube, ich habe mich beschissen‘. Ob er es wirklich getan hat, weiß ich nicht; sicher ist nur, dass er alle Welt beschissen hat (4,3).

Diese Parodie auf den Topos der ultima verba verletzt bewusst und absichtsvoll die körperliche Intimsphäre des Sterbenden und gibt ihn damit gezielt der Lächerlichkeit preis. Seneca schließt hieran den Bericht von der Himmelfahrt des Claudius und seinen Auftritt vor dem Forum der Götter an. Dabei wird Claudius die Schmach zuteil, dass er mit seinem irdischen Leib vor die himmlischen Götter treten muss und dort mit seiner körperlichen Erscheinung Befremden auslöst: Nuntiatur Iovi venisse quendam bonae staturae, bene canum; nescio quid illum minari, assidue enim caput movere, pedem dextrum trahere. – „Dem Jupiter wird gemeldet: es sei da jemand gekommen, von großer Statur, schon recht grau, er stoße Gott weiß was für Drohungen aus und er schüttele in einem fort den Kopf; auch ziehe er das rechte Bein nach“ (5,2).

Herkules, der ihm Einlass gewährt, ist denn auch einigermaßen fassungslos über die Gestalt, die da vor ihm steht (5,3). Claudius gewinnt Hercules immerhin als Fürsprecher und erreicht, dass er vor dem himmlischen Senat sein Ersuchen auf Vergöttlichung vortragen kann. Es folgt eine hitzige Senatsdebatte, und Claudius ist schon guten Mutes, dass Hercules seiner Sache zum Erfolg verhelfen wird. Dann aber bittet Augustus um das Wort, trägt in allen Einzelheiten die Schandtaten des gewesenen Princeps vor und resümiert: Hunc nunc deum facere vultis ? videte corpus eius dis iratis natum. ad summam, tria verba cito dicat et servum me ducat. – Den da wollt ihr also jetzt zum Gott machen? 195

Bauer, Apocolocynthosis 86.

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Seht euch bloß seinen Körper an, den die Götter nur im Zorn erschaffen haben können. Kurz und gut, drei Worte soll er rasch nacheinander sprechen, und – schafft er’s – mag er mich als seinen Sklaven abführen (11,3).196

Unvorteilhafte Physiognomie und körperliche Fehlfunktionen sind auch für das Urteil des himmlischen Senats maßgeblich. Claudius macht mit seinem irdischen Leib noch im Himmel eine schlechte Figur. Die unglückliche körperliche Erscheinung des Claudius wird damit seinem Nachruhm zum Schaden gewissermaßen verewigt. 5.3 Martial, Epigramme 11,56 Der aus Bilbilis in Spanien stammende Dichter Martial (ca. 40–102 n.Chr.) hat seine Epigramme in fünfzehn Büchern in den Jahren seit 85 n.Chr. publiziert. Unter den zahlreichen Spottgedichten, in denen er das stadtrömische Leben seiner Zeit portraitiert, findet sich auch eines, das am Beispiel des Stoikers Chairemon197 eine mit philosophischem Gestus vorgetragene, prätentiöse Todesverherrlichung aufs Korn nimmt. Es dürfte in diesem Epigramm nicht um die Ablehnung des Freitodes zugunsten des Ausharrens im Leben gehen,198 sondern um die Desavouierung ostentativer Todessehnsucht als schlechter philosophischer Verbrämung ärmlicher Lebensverhältnisse. Dem Philosophen würde seine Todessehnsucht rasch vergehen, meint Martial, wenn er nur einmal in den Genuss des Wohllebens der Reichen käme. Der Dichter durchschaut die laus mortis – eine solche nämlich, die gerade nicht in den Freitod führt, sondern im Gegenteil zur Konstante einer sich philosophisch gebenden Daseinsauffassung wird – als Heischen nach Anerkennung für vermeintliche Charakterstärke:

196 „Claudius, der nicht nur hinkte, sondern von dem auch bekannt war, dass er den Zungenschlag hatte (Sueton, Cl[audius] 3), wird hier die Fähigkeit abgesprochen, die drei richterlichen Formeln des römischen Prätors ohne Stottern auszusprechen: do, dico, addico ‚ich gewähre (Anklage und Rechtsprechung)‘, ‚ich spreche (das Urteil)‘, ,ich spreche (als Eigentum) zu‘“ (Bauer, Apocolocynthosis 63). 197 Hier wird kaum die Person des gleichnamigen stoischen Philosophen und ägyptischen Priesters im Blick sein, der nach 49 n.Chr. als Prinzenerzieher Neros in Rom lebte, denn die ärmlichen Lebensverhältnisse, die Martial dem Philosophen zumisst, passen nicht zum Lebensstandard am Kaiserhof, den wir für den uns bekannten Chairemon annehmen dürfen. Außerdem will Martial in seinen Spottversen stets „nur die Laster geißeln, nicht einzelne Menschen bloßstellen“ (Helm, Martial 16). So hat der Dichter den Namen möglicherweise deshalb gewählt, weil er ihm als Name eines in Rom prominenten stoischen Philosophen geläufig war. Zur Zeit der Abfassung des 11. Buches der Epigramme dürfte dieser im Übrigen auch nicht mehr am Leben gewesen sein und es ist überhaupt fraglich, ob Martial den Philosophen persönlich kannte. 198 So aber Helm, Martial 18.

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Lobst, Stoiker du, Chaeremon, den Tod so gewaltig, willst du, dass ich deinen Mut deshalb bewundr und bestaun? hanc tibi virtutem fracta facit urceus ansa, Solch eine Tapferkeit schafft dir der Krug mit zerbrochenem Henkel et tristis nullo qui tepet igne focus, und dein trauriger Herd, den ja kein Feuer erwärmt et teges et cimex et nudi sponda grabati, und die Matte, die Wanzen, das nackte Gestell deines Bettes et brevis atque eadem nocte dieque toga. und, das du tags und nachts trägst, das zu kurze Gewand. O quam magnus homo es, qui faece rubentis O wie groß bist du doch, dass du Hefe aceti von rötlichem Essig, et stipula et nigro pane carere potes! Stroh und ein schwarzes Brot gern zu entbehren vermagst! Leuconicis agedum tumeat tibi culcita lanis Soll doch dein Polster einmal sich blähn von leukonischer Wolle, constringatque tuos purpura pexa toros, Purpurdecken dir rings gänzlich umhüllen den Pfühl, dormiat et tecum modo qui, schlafe bei dir auch der Knabe, der dum Caecuba miscet, eben mit rosigem Antlitz, convivas roseo torserat ore puer, Caecuber mischend, den Kopf all deinen Gästen verdreht, o quam tu cupies ter vivere Nestoris annos o wie wünschtest du dann, du lebtest die Jahre des Nestor et nihil ex ulla perdere luce voles! dreimal, von keinem Tag mißtest du rebus in angustis facile est contemnere vidann etwas gern! tam: Ist man in Not, ist es leicht, das Leben nicht weiter zu achten. fortiter ille facit qui miser esse potest Tapfer nur handelt, wer still Elend zu tragen vermag. Quod nimium mortem, Chaeremon Stoice, laudas, vis animum mirer suspiciamque tuum?

Martial bestreitet, dass die laus mortis des Stoikers ein Ausdruck von virtus ist. Im Gegenteil: Hier äußert sich ein Lebensverdruss, der nichts mit Charakterstärke zu tun hat, sondern mit der Unfähigkeit zum miser esse posse.199 Der Dichter hält die philosophische Attitüde für so oberflächlich, dass er meint, sie würde sich bei besseren Lebensverhältnissen von selbst erledigen. Der philosophische Deutungsaufwand, den der Stoiker um seine arm-

199

Man vergleiche dagegen das paulinische oi\da kai; tapeinou`sqai in Phil 4,l2!

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selige Existenz treibt, erscheint ihm als unwürdiger Ausdruck dessen, dass jemand seine eigene Unscheinbarkeit nicht zu bejahen weiß. Hier wird einmal mehr deutlich, wie antike ars moriendi und Charakterkunde ineinander greifen. Das richtige Todesverständnis bewährt sich nicht nur in der Situation des Sterbens, es ist auch Element der individuellen Daseinshaltung. Auch und gerade als solches unterliegt es dem Urteil des antiken common sense. Vergleichbar ist die bei Tacitus berichtete öffentliche Meinung über Senecas Witwe Paulina, die ihren Mann überlebt hat, weil ihr eigener Freitod von Nero verhindert wurde:200 Tacitus berichtet, man habe ihr dies als fehlenden Mut ausgelegt und als Unfähigkeit, das Leben im rechten Augenblick loszulassen. Tacitus’ eigener Bericht ist sichtlich bemüht, dieses negative öffentliche Urteil zu korrigieren. In Kapitel II.6.2.2 wird uns sodann ein Passus aus Platons Phaidon beschäftigen, der ebenfalls eine Negativ- und Positivinterpretation philosophischen Todesverständnisses einander gegenüberstellt: Was Sokrates als ideale philosophische Todesbereitschaft verstanden wissen will, erscheint seinem Gesprächspartner als lächerlicher Versuch, das eigene Scheitern philosophisch schönzureden.201 Letztere Position kommt derjenigen Martials und der von Tacitus referierten Volksmeinung über Senecas Witwe darin nahe, dass sie ein bestimmtes Todesverständnis als Merkmal einer negativ bewerteten charakterlichen Disposition auffasst. 5.4 Lukian, De morte Peregrini Zu den bekanntesten Werken des Lukian von Samosata (ca. 120–180 n.Chr.) zählt die Satire De morte Peregrini, in der der Dichter seinen beissenden Spott über den Kyniker Peregrinus ausgießt. Dieser hatte sich in Olympia während der Spiele des Jahres 165 n.Chr. öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Lukian legt Peregrinus dessen spektakulären Tod als blanke Ehrsucht aus und lässt kein gutes Haar am Lebenslauf und am Charakter dieses Kynikers. Die Satire vom Tod des Peregrinus führt vor, wie sich die biographischen Enkomientopoi, die nach Maßgabe antiker Progymnasmata zum trovpo~ th`~ teleuth`~ gezählt werden,202 systematisch in ihr Gegenteil verkehren lassen, wenn eine Person nicht gelobt, sondern getadelt werden soll.203 Insofern ist Lukians Schrift das passgenaue Gegenstück zu Tacitus’ Bericht vom Freitod Senecas: Während Senecas Charakter 200

S.o. S. 115. S.u. S. 153. 202 S.o. S. 63. 203 S.o. S. 56. 201

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in den hellsten Farben ausgemalt wird, benutzt Lukian jedes erzählerische Detail dazu, Peregrinus konsequent lächerlich zu machen. Gleich zu Beginn lässt er seine Leser wissen, was er von dem spektakulären Freitod des Kynikers hält: a{panta ga;r dovxh~ e{neka genovmeno~ kai; muriva~ tropa;~ trapovmeno~, ta; teleutai`a tau`ta kai; pu`r ejgevneto: tosouvtwó a[ra tw`æ e[rwti th`~ dovxh~ ei[ceto. – Der alles um des Ruhmes willen geworden und in tausenderlei Gestalt aufgetreten ist, ist zu guter Letzt gar noch zu Feuer geworden: So sehr hatte ihn die Liebe zum Ruhm ergriffen.204

Der Feuertod des Peregrinus wird damit zum letzten Akt eines wechselvollen Lebens, das, so Lukian, freilich im e[rw~ th`~ dovxh~ eine unrühmliche Konstante hatte. Für das Folgende wählt Lukian das Stilmittel von Rede und Gegenrede. Erst lässt er einen kynischen Prediger eine flammende Ansprache halten, die in grotesker Übertreibung Peregrinus’ bevorstehenden Freitod als Apotheose seines Meisters verherrlicht (4–6). Daran schließt sich die lange Rede eines Unbekannten an (7–31), hinter dem sich kein anderer als Lukian selbst verbirgt.205 Ging der Vorredner pathetisch weinend von der Tribüne, so beginnt jener Ungenannte seine Rede mit spöttischem Gelächter. Er stellt sich seinem Auditorium vor als jemand, der „von Anbeginn auf seine [des Peregrinus] Sinnesart geachtet und seinen Lebenslauf beobachtet hat“ (ejx ajrch`~ parafulavxanto~ th;n gnwvmhn aujtou` kai; to;n bivon ejpithrhvsanto~, 8). Man erfährt von Ehebruch (9) und Vatermord (10), von Peregrinus’ Übertritt zum und Abfall vom Christentum (11–14), vom Prozess, der ihm in seiner Heimatstadt wegen des Vatermordes drohte (14–16), von seinem demagogischen Auftreten in Ägypten (17), Italien (18) und Griechenland (19). Als Peregrinus erkennen muss, dass er trotz aller seiner Versuche Aufmerksamkeit zu erregen, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken droht, schreitet er zum Äußersten und kündigt seine Selbstverbrennung an, die ihm ewigen Ruhm bescheren soll (20). An diesen biographischen Aufriss, dessen beißender Spott nahezu jede Formulierung bestimmt, schließt Lukian eine ganz und gar unironische, jedoch nicht minder kritische Bemerkung an, in der er Peregrinus’ Entschlossenheit zu sterben kommentiert: ÆEcrh`n dev, oi\mai, mavlista me;n perimevnein to;n qavnaton kai; mh; drapeteuvein ejk tou` bivou. – „Meines Erachtens gebührte es sich vielmehr, den Tod gelassen zu erwarten, nicht, wie ein flüchtiger Sklave, aus dem Leben davonzulaufen“ (21). Am idealen perimevnein to;n qavnaton, das Lukian dem inszenierten Sterben des Peregrinus als einem drapeteuvein ejk tou` bivou als weitaus bessere Möglichkeit entgegensetzt, zeigt sich die 204

Eigene Übersetzung. Vgl. Harmon, Lucian 8f Anm. 2: Die Darstellung „puts it beyond doubt, that the ‚other man‘ is Lucian himself, and that he expects his readers to draw this inference.“ 205

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für antike Popularphilosophie und -ethik kennzeichnende Verschränkung von Todesverständnis und Daseinsauffassung: Man soll den Tod nicht fürchten, ihn aber auch nicht herbeizwingen – schon gar nicht aus den niederen Beweggründen, die Lukian dem literarischen Opfer seiner Spottlust unterstellt – sondern ihn in einer ruhigen Geisteshaltung auf sich zukommen lassen. Anschließend greift Lukian ein mythologisches exemplum auf, das sein kynischer Vorredner in vorteilhafter Deutung auf den Todesbeschluss des Peregrinus angewendet hat, nämlich den Feuertod des Herakles. Gegen die Unterstellung eitler Motive für die angekündigte Selbstverbrennung hatte der kynische Parteigänger des Peregrinus die rhetorische Frage gestellt: ouj ga;r ïHraklh`~ ou{tw~É – „Tat etwa Herkules nicht dasselbe?“ (4). Lukian bestreitet nun die Beweiskraft dieses Beispiels mit dem Argument, Herakles habe nicht wie Peregrinus die Öffentlichkeit gesucht: Und angenommen, er habe zum Feuer als zu einer herkulischen Art zu sterben eine besondere Vorliebe: Warum sucht er sich dann nicht in aller Stille einen Berg mit schönen Bäumen aus und verbrennt sich da allein [...]? Aber das ist ihm zu unscheinbar: er will sich in Olympia, vor den Augen einer unendlichen Menge von Zuschauern, nicht auf einem gewöhnlichen Schauplatz braten und sich selbst so tun, was er, beim Herkules, wohl verdient hat (21).

Dann kommt Lukian auf das Argument zu sprechen, das Sterben des Peregrinus könne eine Vorbildfunktion erfüllen. Peregrinus behauptet nämlich,

o{ti uJpe;r tw`n ajnqrwvpwn aujto; dra`æ, wJ~ didavxeien aujtou;~ qanavtou katafronei`n kai; ejgkarterei`n toi`~ deinoi`~ – „er tue es zum Besten der Menschen, damit er sie den Tod verachten und auch das Schrecklichste mit Geduld ertragen lehre“ (23). Dagegen wendet Lukian dreierlei ein: Erstens könnten auch schlechte Menschen von ihm Standhaftigkeit lernen und sich in der Folge nur noch hartnäckiger in ihrer Schlechtigkeit behaupten, zweitens würde ja wohl keiner wünschen, dass die eigenen Kinder solchem Vorbild nacheiferten und drittens sei die Vorbildwirkung seines Sterbens offenbar von geringer Reichweite, weil es noch keinem seiner Anhänger bisher eingefallen sei, dem Lehrer darin zu folgen (23–24). Ist es aber mit dem moralischen Vorbild nicht weit her, bleibt dann als legitimer Beweggrund wenigstens der edle Wettstreit mit der Standhaftigkeit der Brahmanen übrig, wie sie von dem legendären Kalanos unter Beweis gestellt wurde, als er sich vor den Augen Alexanders d. Gr. verbrannte?206 Nein, lautet die Entgegnung Lukians, denn er habe sich sagen lassen, dass die Brahmanen sich ganz nah ans Feuer stellen und sich langsam ansengen lassen, der rasche Sprung in den Scheiterhaufen, wie Peregrinus ihn plane, sei dagegen eine der leichtesten Todesarten überhaupt (25). 206

Vgl. Strabo, Geogr. 15,717; Diodor, Bibl. 17,107.

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Man sieht, wie Lukian ohne Rücksicht auf die Beweiskraft seiner eigenen Argumente alles daran setzt, die Person des Peregrinus in ein schlechtes Licht zu rücken. Es gilt zu beachten, dass sich jedes Detail genauso gut auch so darstellen ließe, dass es dem Kyniker zum Vorteil gereicht hätte. Wenn Lukian an späterer Stelle erwähnt, dass in Olympia auf dem Platz, an dem Peregrinus’ Scheiterhaufen aufgeschichtet war, „eine Menge Menschen“ versammelt waren, „die teils übel, teils rühmlich“ (kathgorouvntwn h] ejpainouvntwn) vom Vorhaben des Peregrinus sprachen, und dass der Dissens hierüber gar zu Handgreiflichkeiten führte (32), dann dürfte dies den Widerstreit konträrer Deutungen vom Ende des Peregrinus historisch durchaus zutreffend wiedergeben. Lukian selbst mag durch ein Enkomion auf Peregrinus zu seiner satirischen „Gegendarstellung“ inspiriert worden sein. Analoges darf man für Tacitus’ Darstellung vom Tode Senecas annehmen: Auch hier gab es sicherlich schriftlich oder auch nur mündlich umlaufende Traditionen, die Senecas Sterben und Tod so negativ darstellten, wie Lukian dies im Falle des Peregrinus tut. Die Kreise um Nero mussten nämlich ein erhebliches Interesse daran haben, dass Seneca als einer der Protagonisten der pisonischen Verschwörung in der öffentlichen Meinung nicht glorifiziert wurde. Dies war aber nur dadurch zu erreichen, dass man die Person Senecas über eine Negativ-Version seines Sterbens möglichst nachhaltig herabsetzte. Auch die erhaltenen Apologien des Sokrates (Platon, Xenophon) sind Teil einer Sokrates-Literatur, die solche NegativVersionen kannte, und sei es in späterer Zeit auch nur zum Zweck der rhetorischen Übung.207 Hierbei konnte es (angelehnt an die oben zitierte Formulierung Lukians) ein Mittleres zwischen kathgoriva und e[paino~ naturgemäß nicht geben: Den Regeln von Lob und Tadel folgend208 wurde eine Person im Blick auf ihr Sterben und das dabei an den Tag gelegte Todesverständnis gelobt oder getadelt, und zwar stets mit einem bestimmten apologetischen oder polemischen Darstellungsinteresse, je nach Parteilichkeit des Verfassers. Es scheint, als dissoziieren sich die Elemente eines ansonsten durchaus differenzierten Charakterbildes, wenn das Todesthema biographisch virulent wird, in seine positiven und negativen Anteile. Der Biograph, Historiograph oder Rhetor hat dann nur die Wahl zwischen einer einseitig vorteilhaften oder unvorteilhaften Darstellung.209 Offenbar sind Todesverständnis und 207

S.u. S. 149. S.o. S. 50. 209 Dies haben wir bereits bei Plutarchs gegensätzlicher Bewertung des Sterbens von Stertorius und Eumenes (II.3.2.1) festgestellt: Werden die Todesumstände des Eumenes in der eigentlichen Biographie recht differenziert dargestellt, so dient er Plutarch in der comparatio, weil er ein markantes Gegenbeispiel für den ehrenhaft zu Tode gekommenen Sertorius braucht, unzweideutig als negatives exemplum eines unwürdigen Todes. 208

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

Todesgeschick im antiken Kontext ein Sachverhalt bzw. Vorgang von derart hoher Sinndichte, dass keine neutrale oder abwägende Darstellung möglich ist, sobald Sterben und Tod eines Menschen in den erzählerischen Fokus rücken. Lukian wohnt dem Treiben um Peregrinus noch eine Weile bei und hört sich dessen weitschweifige Rede an, in der er sein Leben im Dienste der Philosophie rühmt. Als das Gedränge um den Redner zu groß wird und Lukian fürchten muss, von der Menge erdrückt zu werden, kehrt er qanatiw`nti sofisth`æ to;n ejpitavfion eJautou` pro; teleuth`~ diexiovnti – „dem Sophisten, der zu sterben wünschte und sich dabei selbst seine Leichenrede hielt“ (32), den Rücken. Auch für diesen Vorgang, den Lukian mit hörbarem Spott schildert,210 gibt es einen analogen Passus in Tacitus’ Bericht vom Tod Senecas mit entgegengesetzter erzählerischer Tendenz: Als er sich schon die Pulsadern geöffnet hatte, habe Seneca nach Schreibern verlangt, um eine längere Rede zu diktieren. Was Lukians Peregrinus einmal mehr der Lächerlichkeit preisgibt, ist bei Tacitus ein weiterer Beweis für Senecas Charakterstärke in der Stunde seines Todes. Wieder wird das gleiche erzählerische Detail einmal zum Vorteil und einmal zum Nachteil des Sterbenden verwendet. Dem weiteren Bericht vom Ende des Peregrinus (33–37) fügt Lukian ein Resümee über „die Liebe zum Ruhm“ (to; filovdoxon) an (38): Selbst angesehene Persönlichkeiten scheitern an dieser Leidenschaft, meint er, und insofern ist es dann kein Wunder, dass auch „jener Mann“ (ejkeivno~ oJ ajnhvr), der „auch sonst unsinnig und tollkühn gelebt hat“ (kai; ta[lla ejmplhvktw~ kai; ajponenohmevnw~ bebiwkwv~), ihr erlegen ist. Wenn Lukian anfügt, Peregrinus habe den Scheiterhaufen deshalb allemal verdient – er war oujk ajnaxivw~ tou` purov~ –, dann definiert er die Todesart des besonders Tapferen in den Straftod für einen Schurken um. Hier hängt alles an der antiken Rhetorik von Sterben und Tod, nichts an den historischen Fakten. In welcher Geisteshaltung Peregrinus tatsächlich gestorben ist, lässt sich aufgrund von Lukians Schrift ebenso wenig sagen, wie sich diese Frage für Seneca beantworten lässt, der das Glück hatte, dass sich in Tacitus ein ihm wohlgesonnener Biograph seiner angenommen hat.211 Dagegen sind die Texte, zumal im gegenseitigen Vergleich, eine ergiebige Quelle für die ethi210 Eigene Übersetzung. Der ironische Ton kommt in Wielands freierer Übersetzung noch deutlicher zum Tragen: „und den Sophisten seinem Schicksal überlassen, der nun einmal mit aller Gewalt streben und dabei das Vergnügen haben wollte, sich selbst seine Leichenrede zu halten.“ 211 Wenn Benz, Todesproblem 71 im Blick auf Peregrinus von kynischer „Selbstüberhebung“ über den Tod spricht, die sich „zu einem provozierenden Dünkel erweitern konnte“, dann ist zu beachten, dass dieses Urteil maßgeblich von Lukians Karikatur kynischer Todesauffassung beeinflusst ist. Man vergleiche dagegen, wie ehrerbietig Lukian den Freitod eines anderen Kynikers schildert, nämlich den seines verehrten Lehrers Demonax.

Sterben und Tod als Thema philosophischer Ethik

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schen und kulturellen Standards, nach denen in der hellenistisch-römischen Antike Sterben und Tod eines Menschen bewertet wurden. 5.5 Zusammenfassung Die Textbeispiele dieses Kapitels belegen auf ihre Weise die in der Einleitung geäußerte These einer sozialen Kontrolle von Sterben und Tod in der hellenistisch-römischen Antike: Die Texte verbindet ein gemeinsames polemisches Darstellungsinteresse, das sich gegen individuelle Personen oder (Martial) einen bestimmten Charaktertypus richtet. Senecas Spottschrift auf Claudius zeigt, wie anhand seines Todesgeschicks die systematische soziale Demontage eines Individuums betrieben werden kann, wobei sich nicht nur der Spott über körperliche Fehler mit der Verhöhnung des sterbenden Leibes verbindet, sondern dieser Spott gewissermaßen transzendent prolongiert wird: Seneca lässt Claudius mit seinem irdischen Leib auch noch im Himmel auftreten und dort weiteren Spott ernten. Für den in der himmlischen Senatssitzung gegen Claudius’ Apotheose stimmenden Augustus sind dessen körperliche Makel ein Hauptgrund für seine Ablehnung: Videte corpus eius dis iratis natum, ruft er der Götterversammlung zu. Während Seneca sich vorrangig mit dem Todesgeschick des Claudius befasst, liegt bei Lukian der Akzent stärker auf dem Todesverständnis seines literarischen Opfers. Lukian macht den Kyniker Peregrinus dadurch lächerlich, dass er ihm unwürdige Motive für seinen Freitod und eine verfehlte Einstellung zum Tod unterstellt: Seine Todesbereitschaft war seinem krankhaften e[rw~ th`~ dovxh~ geschuldet. Viel besser hätte ihm, urteilt Lukian, ein gelassenes „Erwarten des Todes“ (perimevnein to;n qavnaton) angestanden, anstatt „aus dem Leben davonzulaufen“ (drapeteuvein ejk tou` bivou). Die Konzentration Lukians auf das Todesverständnis des Peregrinus wie auch der Spott Martials über eine mit philosophischem Gestus vorgebrachte laus mortis, in welcher der Epigrammendichter nichts anderes sieht als die Unfähigkeit, sich mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit abzufinden, weisen bereits in den Bereich hellenistisch-römischer Popularphilosophie. Diesem wenden wir uns im folgenden Kapitel zu.

6. Sterben und Tod als Thema philosophischer Ethik 6.1 Einführung E. Benz hat in seiner Arbeit „Das Todesproblem in der stoischen Philosophie“ (1929) eine so einfache wie sachgemäße Zweiteilung seines Stoffs

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gewählt: Im ersten Teil widmet er sich dem „Todesproblem in der stoischen Physik und Psychologie“, um das Thema dann im zweiten Teil „als Teilproblem der stoischen Ethik“ zu behandeln. Diese Gliederung ist deswegen sachgemäß, weil sich der ethische Aspekt weitestgehend unabhängig von einer Darstellung antiker Theorien über die Beschaffenheit der Seele behandeln lässt. Unterscheidet man für die uns interessierende Epoche einmal ganz grob das platonische und das stoische als die beiden maßgeblichen Modelle antiker Psychologie, dann lässt sich unter ethischer Prärogative eine deutliche Relativierung der Schulgegensätze beobachten.212 Das intensive ethische Interesse, das die antike Philosophie am Todesproblem hegte, war allen philosophischen Richtungen gemeinsam und zielte auf die Überwindung der Todesfurcht und auf die Entwicklung und Begründung eines philosophisch verantworteten Todesverständnisses. Im Rahmen unserer Fragestellung interessiert uns primär dieser ethische Aspekt. Damit aber wird das Todesproblem vollends zum „Problem der Lebenden“. Haben es Rhetorik, Biographie und Geschichtsschreibung in der Regel mit Lob und Tadel Verstorbener zu tun, so wendet die Philosophie dieselben Urteilskriterien auf den vom Todesproblem her entworfenen respektabeln Charakter an. Die damit gegebene Kompatibilität von Rhetorik, Biographie und Geschichtsschreibung auf der einen und antiker Philosophie auf der anderen Seite äußerst sich formal darin, dass sich auch der philosophische Diskurs biographischer exempla würdigen und unwürdigen Sterbens bedient. Die etwa von Cicero und Seneca verwendeten exempla könnten genauso gut auch in jeder epideiktischen Rede vorkommen. Hier schlägt sich der in der frühen Kaiserzeit längst vollzogene „Ausgleich zwischen R[hetorik] und Philosophie“ nieder.213 Das wohl prominenteste Beispiel für einen Philosophen und Rhetoriker in Personalunion ist Cicero.214 In einer ähnlichen Doppelrolle begegnet uns Seneca, nämlich als Verfasser einer politischen Satire (II.5.2) und als stoischer Philosoph (II.6.7.1). Auch Plutarch gehört in diese Reihe: Wir haben ihn bereits als Biographen kennengelernt (II.3.2) und nehmen ihn nachfolgend (II.6.5) als Mittelplatoniker in den Blick. Dieser „personellen“ Nivellierung des alten Gegensatzes zwischen Philosophie und Rhetorik entspricht diejenige zwischen dem philosophischen Binnendiskurs und dem gesellschaftlichen Diskurs hellenistisch-römischer Popularethik. Hier kann nochmals auf Cicero und Seneca verwiesen werden, deren Rolle als Philosophen biographisch in direktem Zusammenhang steht mit der Erfahrung persönlichen Scheiterns auf der politischen Bühne der späten Republik (Ci212

S.u. S. 168f mit Anm. 254 zu Cicero und S. 177 zu Plutarch. Kroll, Rhetorik 1089. 214 Weitere Beispiele nennt Kroll, Rhetorik 1089. 213

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cero) bzw. der frühen Kaiserzeit (Seneca). Die Empathie, mit der diese Denker das Todesproblem ethisch zu durchdringen zu suchen, kann in beiden Fällen mit erfahrenem Verlust an Sozialprestige in Verbindung gebracht werden: Die Interpretation der eigenen Lebenssituation als weltabgewandte Einübung ins Sterben liest sich wie eine Rechtfertigung erlittenen Machtverlusts als freiwillige Abkehr von den Niederungen des politischen Lebens. Doch nicht erst bei Cicero und Seneca hat das Insistieren auf einem philosophischen Todesverständnis vernehmbar apologetische Obertöne. Vielmehr ist das apologetische Moment dem philosophischen Diskurs geradezu in die Wiege gelegt: Schon der platonische Sokrates als Urbild philosophischer Todesbereitschaft ist zugleich der äußerlich Unterlegene, der durch sein gefasstes Sterben über seine ungerechten Richter triumphiert. 6.2 Der Tod des Sokrates Antike ars moriendi ist untrennbar mit der Figur des Sokrates verbunden. Über die Apologien aus der Feder Platons und Xenophons hinaus kannte die Antike eine lange Tradition der literarischen Auseinandersetzung um die Sokratesgestalt. Platon und Xenophon stehen „am Beginn einer ganzen Literatur von Sokratesapologien, die über die verlorenen des Lysias, Theodektes von Phaselis, Demetrios von Phaleron, Theon von Antiochia und Plutarch bis zu den Deklamationen des Libanios [...] reicht.“215 Die literarische Stilisierung des Sokrates setzt schon früh ein: Bereits die ca. sieben Jahre nach Sokrates’ Tod verfasste kathgori;a Swkravtou~ des Polykrates, eine lange für authentisch gehaltene Anklageschrift, die Anytos 399 v.Chr. während des Prozesses gegen Sokrates gehalten haben soll, ist fingiert.216 Wichtig ist hieran indes nicht die Frage nach der historischen Verwertbarkeit der Quellen, sondern die Beobachtung, dass sich antike Deutungen von Sokrates’ Tod offenbar von Anfang an im Widerstreit von Apologetik und Polemik bewegt haben, denn schon die Apologien Platons und Xenophons sind offenbar eine Entgegnung auf Polykrates’ Anklageschrift.217 6.2.1 Platon, Apologie des Sokrates In der Apologie wie im Phaidon bilden die letzten Lebenstage des Sokrates die geschichtliche Kulisse für die philosophische Erörterung des Todesthemas. Die Überwindung der Todesfurcht wird damit zum Bestandteil der Selbstrechtfertigung des zu Unrecht zum Tode verurteilten Philosophen. 215

Lesky, Literatur 562. Dreyer, Polykrates 1006. 217 Dreyer, Polykrates 1006. 216

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Der erstmals bei Platon entwickelte Gedanke, dass der Tod für das Individuum kein Übel und deshalb nicht zu fürchten sei, wird durch die literarische Einbindung in die Szenerie von Sokrates’ Prozess und Tod als Ausdruck einer freien Geisteshaltung in die antike Philosophie eingeführt, als denkerische Möglichkeit des Triumphs auch über die ungerecht Richtenden. Am Schluss der Apologie (40a–c) legt Sokrates dem Gerichtsforum dar, dass er zwar von seiner „gewohnten Vorbedeutung“ (eijwqui`a [...] mantikhv) stets gehindert wurde, wenn er im Begriff war, „etwas nicht auf die rechte Art zu tun“ (mh; ojrqw`~ pravxein), dass ihm aber nun trotz des absehbaren Todesurteils „das Zeichen des Gottes“ (to; tou` qeou` shmei`on) weder auf dem Weg zum Gerichtsgebäude, noch während seiner Verteidigungsrede widerstanden hat. Deshalb hält er es für ausgeschlossen, dass ihm mit dem über ihn gefällten Todesurteil ein Übel (kakovn) widerfahren ist, sondern kinduneuvei gavr moi to; sumbebhko;~ tou`to ajgaqo;n gegonevnai, kai; oujk e[sqÆ o{pw~ hJmei`~ ojrqw`~ uJpolambavnomen, o{soi oijovmeqa kako;n ei\nai to; teqnavnai. mevga moi tekmhvrion touvtou gevgonen: ouj ga;r e[sqÆ o{pw~ oujk hjnantiwvqh a[n moi to; eijwqo;~ shmei`on, eij mhv ti e[mellon ejgw; ajgaqo;n pravxein. – es mag wohl, was mir begegnet ist, etwas Gutes sein, und unmöglich können wir recht haben, die wir annehmen, der Tod sei ein Übel. Denn unmöglich würde mir das gewohnte Zeichen nicht widerstanden haben, wenn ich nicht begriffen gewesen wäre, etwas Gutes auszurichten (40b–c).

Anschließend (40c–41d) unternimmt es Sokrates, seiner persönlichen Gewissheit, dass der Tod kein Übel sei, sachlich auf den Grund zu gehen. Hinsichtlich des postmortalen Geschicks zieht er zwei Möglichkeiten in Betracht, ohne sich auf eine von beiden festzulegen: Entweder der Tod sei „soviel als nichts sein noch irgendeine Empfindung von etwas haben“ (oi{on mhde;n ei\nai mhde; ai[sqhsin mhdemivan mhdeno;~ e[cein), oder aber „ein Umzug der Seele [...] an einen anderen Ort“ (metoivkhsi~ th`æ yuch`æ [...] eij~ a[llon tovpon). In ersterem Falle sei der Tod einem tiefen, traumlosen Schlaf vergleichbar und als solcher ein „wunderbarer Gewinn“ (qaumavsion kevrdo~), der allen im Wachzustand erlebten Tagen und Nächten vorzuziehen sei. Im Falle des Todes als metoivkhsi~ der Seele sei Sterben erst recht erstrebenswert, weil es ihm, Sokrates, dann nämlich vergönnt sei, unbehelligt von jenen (irdischen) Richtern, die es nur dem Namen nach sind, in der Unterwelt mit berühmten Gestalten früherer Zeiten als den „wahren Richtern“ (wJ~ ajlhqw`~ dikastav~) zusammenzutreffen und sich mit ihnen ausgiebig zu unterhalten, außerdem mit solchen, die in der Vergangenheit wie er auch „eines ungerechten Gerichtes wegen“ (dia; krivsin a[dikon) den Tod erlitten haben. Dies wäre eine „unbeschreibliche Glückseligkeit“ (ajmhvcanon [...] eujdaimoniva~), liefe er doch, wie Sokrates ironisch hinzufügt, dort

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nicht Gefahr, für sein unermüdliches Nachfragen hingerichtet zu werden. Er fordert die Richter, die für seine Unschuld gestimmt haben, auf, sie sollten ebenfalls eujevlpida~ ei\nai pro;~ to;n qavnaton, kai; e{n ti tou`to dianoei`sqai ajlhqev~, o{ti oujk e[stin ajndri; ajgaqw`æ kako;n oujde;n ou[te zw`nti ou[te teleuthvsanti, oujde; ajmelei`tai uJpo; qew`n ta; touvtou pravgmata. – gute Hoffnung haben in Absicht des Todes und dies eine Richtige im Gemüt halten, dass es für den guten Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode, noch dass je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden (41c–d).

In der Gewissheit, dass Sterben für ihn das Beste (bevltion) ist, zürnt Sokrates auch nicht denjenigen Richtern, die gegen ihn gestimmt haben, kaivtoi ouj tauvthæ th`æ dianoivaæ kateyhfivzontov mou kai; kathgovroun, ajllÆ oijovmenoi blavptein: tou`to aujtoi`~ a[xion mevmfesqai, – obgleich nicht in dieser Absicht sie mich verurteilt und angeklagt haben, sondern in der Meinung, mir Übles zuzufügen. Das verdient an ihnen getadelt zu werden (41d).

In der Darstellung der Apologie interessiert Sokrates das Todesthema nicht als abstraktes Problem einer philosophischen Seelenmetaphysik, sondern als Realgrund der argumentativen Selbstbehauptung gegenüber seinen Richtern. Er will seine subjektive Überzeugung, mit dem Tod widerfahre ihm kein Unheil, sachlich untermauern und so das Richterkollegium zur Anerkennung der Tatsache zwingen, dass sie ihm mit seiner Verurteilung entgegen ihrer Intention keinen Schaden zuzufügen im Stande sind. Zugleich reklamiert er das Jenseitsgericht als dem menschlichen Gericht übergeordnete und zu seinen Gunsten urteilende Instanz. Da Sokrates die Entscheidung zwischen dem Ganztod- und dem metoivkhsi~-Modell offen lässt, kann der in 40b–c verwendete Mythos vom Jenseitsgericht schwerlich als objektive Beschreibung der Unterweltereignisse aufgefasst werden, zumal der sokratische Agnostizismus im Schlusswort der Apologie nochmals klar formuliert wird.218 Vielmehr dürfte der mythologische Stoff funktional als intendierter Zugewinn an Sprachmächtigkeit zu verstehen sein, die es dem Unterlegenen erlaubt, einerseits die Letztgültigkeit und die Legitimität des über ihn gefällten Urteils zu bestreiten. Die Sprachbilder des Mythos aus dem Munde des Sokrates erzeugen eine Gegenwelt, in der nicht der Verurteilte schuldig dasteht, sondern seine Richter. Indirekt wird außerdem der gegen ihn eingestellte Teil des Richterkollegiums moralisch disqualifiziert: Dadurch, dass sich Sokrates ab 41d nur noch an die Minderzahl diejenigen Richter wendet, die zu seinen Gunsten gestimmt haben, werden die übrigen aus dem weiteren Gedankenfortschritt 218 41d: ajlla; ga;r h[dh w{ra ajpievnai, ejmoi; me;n ajpoqanoumevnwó, uJmi`n de; biwsomevnoi~: oJpovteroi de; hJmw`n e[rcontai ejpi; a[meinon pra`gma, a[dhlon panti; plh;n h] tw`æ qew`.æ

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von vornherein ausgeschlossen. Der gewisse Sachverhalt o{ti oujk e[stin ajndri; ajgaqw`æ kako;n oujde;n ou[te zw`nti ou[te teleuthvsanti gilt eben nicht für diese Mehrheit, die qua Einschränkung der Adressaten auf die Sokrates wohlgesonnenen Richter aus der Gruppe der a[ndre~ ajgaqoiv ausgeschlossen wird. Was den „Schlechten“ im Jenseitsgericht widerfährt, wird in der Apologie gar nicht erst erörtert. Der von Sokrates am Ende von 41d ausgesprochene Tadel (tou`to aujtoi`~ a[xion mevmfesqai) macht deutlich, wie eng philosophisches Argument und Apologie ineinander verzahnt sind, denn der Rückverweis tou`to lässt offen, ob mevmfesqai auf den Vorsatz der Richter oder aber auf ihren Irrtum zu beziehen ist. Im unrechtmäßigen Urteil koinzidieren böser Wille und falsches Todesverständnis. 6.2.2 Platon, Phaidon Anders als in der Apologie dient im Phaidon als szenische Einkleidung nicht die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem Gerichtsforum, sondern das philosophische Gespräch, das der bereits zum Tode Verurteilte mit denen führt, die ihm wohlgesonnen sind. Nicht vor dem Richterkollegium äußert sich Sokrates, sondern gegenüber seinen Freunden. Allerdings sind seine Gesprächspartner auch in der Situation des nahen Abschieds von ihrem Lehrer keinesfalls unkritisch. Der Gedankenfortschritt des Dialogs wird auch im Phaidon durch Nachfrage und kritischen Widerspruch derer erreicht, die der Gewissheit des Sokrates, der Tod sei für ihn kein Übel, sachlich auf den Grund gehen wollen. Insofern sind auch sie „Richter“ (dikastaiv), vor denen Sokrates sich zu „verteidigen“ hat (ajpologhvsasqai), und insofern erhält auch der ganze philosophische Diskurs des Phaidon einen apologetischen Aspekt. Sokrates vergleicht die Redesituation vor dem Gerichtsforum ausdrücklich mit derjenigen der letzten Unterredung mit seinen Freunden: oi\mai ga;r uJma`~ levgein o{ti crhv me pro;~ tau`ta ajpologhvsasqai w{sper ejn dikasthrivwó [...] Fevre dhv [...] peiraqw` piqanwvteron pro;~ uJma`~ ajpologhvsasqai h] pro;~ tou;~ dikastav~. – Ich denke nämlich, ihr meint, ich solle mich hierüber verteidigen wie vor Gericht [...] Wohlan denn, [...] lasst mich versuchen, ob ich mich mit besserem Erfolg vor euch verteidigen kann als vor den Richtern (63b).219

Unverkennbar haftet diesem Vergleich, den Sokrates wenig später nochmals verwendet,220 etwas Ironisches an, doch ist er gleichwohl ernst ge219 Vgl. Hackforth, Phaedo 41: „Sokrates begins his ,defence‘ against a new charge, of ungrounded confidence in face of death, before a jury of good friends.“ 220 63e: uJmi`n dh; toi`~ dikastai`~ bouvlomai h[dh to;n lovgon ajpodou`nai, „Euch als den Richtern will ich Rechenschaft geben“ (eigene Übersetzung). Vgl. auch das Resümee in 69e: ei[ ti ou\n uJmi`n piqanwvterov~ eijmi ejn th`æ ajpologivaæ h] toi`~ ÆAqhnaivwn dikastai`~, eu\ a]n e[coi, „Bin ich also für euch überzeugender gewesen in meiner Verteidigung als für die athenischen Richter, so ist es gut.“

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meint, steht doch mit dem Vertrauen in die Autorität des Lehrers noch weit mehr auf dem Spiel als bei der Selbstrechtfertigung des Angeklagten vor Gericht. Die Autorität des Sokrates muss sich nun letztgültig und unwiderruflich durch den Nachweis bewähren, w{~ moi faivnetai eijkovtw~ ajnh;r tw`æ o[nti ejn filosofivaæ diatrivya~ to;n bivon qarrei`n mevllwn ajpoqanei`sqai kai; eu[elpi~ ei\nai ejkei` mevgista oi[sesqai ajgaqa; ejpeida;n teleuthvshæ. – dass ich mit Grund der Meinung bin, ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben verbracht, müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, dass er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wenn er gestorben ist (63e–64a).

Programmatisch wird hier eine Ethik des Sterbens als wesentlicher Teil, ja als Wesenskern philosophischer Lebenshaltung thematisiert. Diese Haltung wird dann augenfällig, wenn es ans Sterben geht, sie zeichnet aber einen philosophischen Charakter schon im gesamten Verlauf seines Lebens aus. Von denjenigen, die „sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen“ (tugcavnousin ojrqw`~ aJptovmenoi filosofiva~), behauptet Sokrates, dass sie, „ohne dass es freilich die anderen merken, nach gar nichts anderem streben als nur zu sterben und tot zu sein“ (lelhqevnai tou;~ a[llou~ o{ti oujde;n a[llo aujtoi; ejpithdeuvousin h] ajpoqnhvæskein te kai; teqnavnai, 64a). In 80e–81a bringt Sokrates diese Haltung auf die (von Cicero in Tusc. 1,74 aufgenommene) Formel der melevth qanavtou. Eine mit amüsiertem Lachen vorgebrachte Einrede des Thebaners Simmias, seine Mitbürger würden diese Haltung als Lebensverdruss von Leuten auffassen, die verdientermaßen gescheitert sind,221 veranlasst Sokrates zu der Entgegnung, dass den Unverständigen die Einsicht in die Eigenart philosophischer Todesbereitschaft verwehrt sei (64b): levlhqen ga;r auj-

tou;~ h|/ te qanatw`si kai; h|/ a[xioiv eijsin qanavtou kai; oi{ou qanavtou oiJ wJ~ ajlhqw`~ filovsofoi, „denn weder wissen sie, wie die wahrhaften Philoso-

phen den Tod wünschen, noch, wie sie ihn verdienen und was für einen Tod.“ Diese Ignoranz ist für Sokrates Grund genug, die direkte Auseinandersetzung mit einer solchen Meinung zu unterlassen,222 doch ist auch das unmittelbar anschließende Gespräch darüber, „was der Tod ist“ (ti to;n qavnaton ei\nai, 64c) dem Nachweis verpflichtet, dass das Sterben des Philosophen im Allgemeinen und des Sokrates im Besonderen nicht als Scheitern eines philosophischen Lebensentwurfs aufzufassen ist, sondern als des221 Hackforth, Phaedo 41 Anm. 2 sieht hierin im Anschluss an Burnet, Phaedo 1911 einen Reflex des Eindrucks, den pythagoreische Flüchtlinge bei der thebanischen Oberschicht hinterlassen haben. Mit dem Niedergang der hellenischen Kolonien in Unteritalien im Laufe des 5. Jh. v.Chr. verlor auch das dort einst blühende Phythagoreertum seine Existenzgrundlagen (vgl. Bengtson, Geschichte 139.210). 222 Vgl. 64b: ei[pwmen gavr, e[fh, pro;~ hJma`~ aujtouv~, caivrein eijpovnte~ ejkeivnoi~, „So lasst uns, sprach er, (dies) unter uns bereden und jenen den Abschied geben“ (Eigene Übersetzung).

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sen folgerichtiges Ziel. Uns interessiert der Gedankengang des Phaidon im Rahmen der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung vorrangig insofern, als er den grundlegenden Zusammenhang von Todesverständnis und Ethik berührt, sofern also die philosophisch begründete Auffassung von Sterben und Tod als Teil eines ethischen Lebenskonzepts erscheint.223 Hierzu gehört zunächst Sokrates’ Auffassung von der Verwerflichkeit des eigenmächtigen Freitodes. Der Philosoph ersehnt zwar den Tod, aber „Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun“ (ouj mevntoi i[sw~ biavsetai auJtovn, 61b). Sokrates nimmt hierbei Bezug auf die orphisch-pythagoreische Tradition vom leiblichen Dasein als frourav, die vorzeitig zu verlassen dem Menschen nicht zusteht.224 Das Bild der frourav ist hier offenbar negativ konnotiert im Sinne der „Bewachung“ eines Gefangenen, und also mit „Gefängnis“ zu übersetzen,225 doch scheint auch der positive Aspekt (Bewachung als Ausdruck der Fürsorge) mitzuschwingen, denn Sokrates schließt unmittelbar den Gedanken an, dass die Götter sich um die Menschen „kümmern“ (ejpimelei`sqai) als um ihren „Besitz“ (kthvmata).226 Sind aber die Menschen Eigentum der Götter, dann „ist es nicht unvernünftig, dass man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verfügt hat wie die jetzt uns gewordene“ (oujk a[logon mh; provte-

ron auJto;n ajpokteinuvnai dei`n, pri;n ajnavgkhn tina; qeo;~ ejpipevmyhæ, w{sper kai; th;n nu`n hJmi`n parou`san, 62c). Für Sokrates besteht also kein

absolutes Verbot, sich selbst zu töten, doch muss ein solcher Schritt in Verantwortung gegenüber den Göttern erwogen und getan werden, und nicht ohne göttliche Ermächtigung in Gestalt einer ajnavgkh, wie sie Sokrates nun durch die Verurteilung durch die Athener widerfahren ist. Die unbestimmte 223 Unabhängig von diesem erkenntnisleitenden Interesse dürfte mit der ethischen Zuspitzung ein wesentliches Anliegen des Phaidon benannt sein, werden doch in diesem Dialog aus den Betrachtungen zu Seelenmetaphysik und Ideenlehre wiederholt Schlüsse für die Lebensführung des Einzelnen gezogen. In dieser Richtung beantwortet die Frage nach „the fundamental purpose of the dialogue“ auch Hackforth, Phaedo 3: „It is not, of course, to prove that the human soul is immortal, though much of it is devoted to arguments for that thesis [...]; it is not to expound or propagate a metaphysical doctrine, though the doctrine of Forms (Ideas) bulks large; it is, I would say, to extend and deepen, through the mouth of a consciously Platonised Socrates, the essential teaching of Socrates himself, namely that man’s supreme concern is the ‚tendance of his soul‘, or (in modern language) the furthering of his insight into moral and spiritual values and the application of that insight in all his conduct.“ 224 In 61d bezieht sich Sokrates auf eine Lehrmeinung des Pythagoreers Philolaos, in 62b dagegen auf „Geheimlehren“ (ajpovrrhta), d.h. offenbar auf orphische Tradition, so explizit in Krat. 400c. „It seems probable that the early Pythagoreans took over many of their religious beliefs from Orphism; certainly many are common to Orphism and Pythagoreanism, and where there was borrowing it was probably the Pythagoreans who borrowed“ (Hackforth, Phaedo 38 Anm. 4). 225 Hackforth, Phaedo 36 Anm. 2 verweist auf die parallelen Aussagen in 81e und 82e. 226 Schleiermacher (= Eigler, Platon) übersetzt kthvmata mit „Herde“, was den Aspekt der Fürsorge noch verstärkt. Vgl. auch 62c, wo Kebes das ejpimelei`sqai der Götter in Richtung einer den Menschen zuteil werdenden qerapeiva interpretiert.

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Formulierung ajnavgkhn tinav ist der Ausgangspunkt einer bis in die Spätantike hinein zu verfolgenden Diskussion darüber, welche Widerfahrnisse und Situationen als eine solche „sokratisch autorisierte“ und somit den Freitod legitimierende Zwangslage angesehen werden können.227 Auf den Einwand des Kebes, es sei doch unvernünftig, dem lebensdienlichen ejpimelei`sqai der Götter entfliehen zu wollen (62c–e), entgegnet Sokrates, er erwarte, h{xein [...] para; qeou;~ a[llou~ sofouv~ te kai; ajgaqouv~, „zu anderen Göttern zu kommen, die auch weise und gut sind“ (63b), und daraus folgt für ihn: eu[elpiv~ eijmi ei\naiv ti toi`~ teteleuthkovsi kaiv,

w{sper ge kai; pavlai levgetai, polu; a[meinon toi`~ ajgaqoi`~ h] toi`~ kakoi`~, „ich [...] bin [...] der frohen Hoffnung, dass es etwas gibt für die Ver-

storbenen und, wie man ja schon immer gesagt hat, etwas weit Besseres für die Guten als für die Schlechten“ (63c). Ist die Hoffnung auf ein günstiges Todesgeschick Ausweis einer philosophischen Daseinshaltung, so wird mit der Differenzierung polu; a[meinon toi`~ ajgaqoi`~ h] toi`~ kakoi`~, für die sich Sokrates erneut auf alte Tradition beruft (w{sper ge kai; pavlai levgetai), nun zusätzlich dieses Todesgeschick gewissermaßen zu einer Instanz, die Gerechtigkeit herstellt:228 Den Guten wird es dereinst besser gehen als den Schlechten. In der Apologie hatte Sokrates den Jenseitsmythos noch lediglich im Blick auf die a[ndre~ ajgaqoiv entfaltet, im Phaidon wird nun ausdrücklich auch das Geschick der kakoiv angesprochen, ebenso das falsche Todesverständnis derjenigen, die die Philosophie verachten. Gilt vom wahren Philosophen, dass er die Trennung der Seele vom Leib anstrebt, weil ihm erst dann eine reine, von Sinneseindrücken nicht beeinträchtigte Erkenntnis möglich ist, und dass er konsequenterweise den Tod ersehnt (65d– 68b), ist der Widerwille gegen das Sterben untrügliches Zeichen nicht nur verfehlter Lebensführung, sondern auch eines niederen Charakters. Sokrates äußert sich gegenüber seinem Dialogpartner Simmias folgendermaßen: oujkou`n iJkanovn soi tekmhvrion, e[fh, tou`to ajndrov~, o}n a]n i[dhæ~ ajganaktou`nta mevllonta ajpoqanei`sqai, o{ti oujk a[rÆ h\n filovsofo~ ajllav ti~ filoswvmato~ oJ aujto;~ dev pou ou|to~ tugcavnei w]n kai; filocrhvmato~ kai; filovtimo~, h[toi ta; e{tera touvtwn h] ajmfovtera. – Also [...] ist dir auch das wohl ein hinlänglicher Beweis von einem Manne, wenn du ihn unwillig siehst, indem er sterben soll, dass er nicht die Weisheit liebte, sondern den Leib irgendwie? Denn wer den liebt, derselbe ist auch geldsüchtig und ehrsüchtig, entweder eines von beiden oder beides (68b–c).

Nach dieser Aussage lässt mangelnde Todesbereitschaft auf gravierende charakterliche Defizite schließen: Es ist dieselbe erkenntnislose Diesseitigkeit, die den Affekt der Todesfurcht verursacht und nach solch niederen 227 Die unbegründete Selbsttötung wird schon bei Platon, Nom. 9,873c–d scharf kritisiert; vgl. dazu Benz, Todesproblem 54–56. 228 S.u. zu 81d divkhn tivnousai th`~ protevra~ trofh`~ kakh`~ ou[sh~.

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Dingen wie Geld oder Ehre streben lässt. Umgekehrt erweist sich der edle Charakter des wahren Philosophen an seinem positiven Todesverständnis und seiner Todesbereitschaft. Die sokratischen Überlegungen geraten damit in nächste Nähe zu den unter II.2 bis II.4 untersuchten rhetorischen, biographischen und historiographischen Texten, sofern sie nämlich ebenso wie diese die individuelle Auffassung von Sterben und Tod zu einem wesentlichen Kriterium für die Beurteilung eines Charakters erheben. In 69e folgt ein erster großer Block, der die Fortdauer der Seele nach dem Tod und ihre Unsterblichkeit in einem dreifachen, bis 80c reichenden Argumentationsgang zu beweisen sucht. Wir übergehen dieses Textstück229 und wenden uns dem Passus 80c–82d zu, in dem die bisherigen Aussagen zur unzerstörbaren Natur der Seele in ethischer Hinsicht differenziert werden. Die Fortdauer der Seele nach dem Tod hat nämlich höchst unterschiedliche Konsequenzen, je nachdem, ob ein Mensch die im Tode sich vollziehende Trennung der Seele vom Leib schon bei Lebzeiten eingeübt hat oder nicht: eja;n me;n kaqara; ajpallavtthtai, mhde;n tou` swvmato~ sunefevlkousa, a{te oujde;n koinwnou`sa aujtw`æ ejn tw`æ bivwó eJkou`sa ei\nai, ajlla; feuvgousa aujto; kai; sunhqroismevnh aujth; eij~ eJauthvn [...]. oujkou`n ou{tw me;n e[cousa eij~ to; o{moion aujth`æ to; ajide;~ ajpevrcetai, to; qei`ovn te kai; ajqavnaton kai; frovnimon, oi| ajfikomevnhæ uJpavrcei aujth`æ eujdaivmoni ei\nai [...]. eja;n dev ge oi\mai memiasmevnh kai; ajkavqarto~ tou` swvmato~ ajpallavtthtai, a{te tw`æ swvmati ajei; sunou`sa kai; tou`to qerapeuvousa kai; ejrw`sa kai; gohteuomevnh uJpÆ aujtou` [...], ou{tw dh; e[cousan oi[ei yuch;n aujth;n kaqÆ auJth;n eijlikrinh` ajpallavxesqaiv [...]. ajlla; kai; dieilhmmevnhn [...] uJpo; tou` swmatoeidou`~, o} aujth` [...] ejnepoivhse suvmfuton [...] ejmbriqe;~ dev ge [...] tou`to oi[esqai crh; ei\nai kai; baru; kai; gew`de~ kai; oJratovn: o} dh; kai; e[cousa hJ toiauvth yuch; baruvnetaiv te kai; e{lketai pavlin eij~ to;n oJrato;n tovpon fovbwó tou` ajidou`~. – Wenn sie sich rein losmacht und nichts von dem Leibe mit sich zieht, weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies immer im Sinn hatte [...] Also, welche sich so verhält, die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren, und zu dem Göttlichen [...], wohin gelangt ihr dann zuteil wird, glückselig zu sein [...] Wenn sie aber, meine ich, befleckt und unrein von dem Leibe scheidet, weil sie eben immer mit dem Leibe verkehrt und ihn gepflegt und geliebt hat und von ihm bezaubert gewesen ist [...] meinst du, dass eine so beschaffene Seele sich werde rein für sich absondern können? [...] Sondern durchzogen von dem Körperlichen, womit sie [...] gleichsam zusammengewachsen ist [...]. Und dies, muss man doch glauben, sei unbeholfen und schwerfällig, irdisch und sichtbar, so dass auch die Seele, die es an sich hat, wieder zurückgezogen wird in die sichtbare Gegend aus Furcht vor dem Unsichtbaren (80e– 81c). 229 Der Seitenblick auf die ethische Bedeutung des Gesagten in 72e (kai; tai`~ mevn ge ajgaqai`~ a[meinon ei\nai, tai`~ de; kakai`~ kavkion) wird gemeinhin als Glosse (Eintragung aus 63c) ausge-

schieden; vgl. Hackforth, Phaedo 63 Anm. 1.

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Das weitere Schicksal dieser mit dem Leib behafteten Seelen besteht darin, dass sie sich bei Gräbern herumtreiben, bis sie dem Kreislauf der Wiedergeburt erneut eingegliedert werden, um in Tierkörpern ihr Dasein zu fristen (81d–82b). In „der Götter Geschlecht“ (qew`n gevno~) gelangen dagegen nur die, die philosophisch gelebt haben und deren Seele sich im Tod von allem Körperlichen mühelos und restlos entledigt hat (82b). Der nun folgende Abschnitt 82d–85b230 über die Rolle der Philosophie als Führerin der Seele in die Unabhängigkeit vom Leib schließt mit einer Betrachtung zum Gesang der sterbenden Schwäne. Anlass für diese Betrachtung sind Skrupel auf Seiten von Sokrates’ Gesprächspartnern, seine bisherige Argumentation angesichts seines „jetzigen Unglück[s]“ (84b) weiter zu hinterfragen. Simmias, der diese Skrupel formuliert, zeigt damit, dass er die Situation seines Lehrers im Grunde noch immer als dessen persönliches Scheitern auffasst, dass er der hoffnungsfrohen Todesbereitschaft des Sokrates also offenbar noch nicht recht traut. Sokrates entgegnet, es verhalte sich bei ihm wie bei den Schwänen, die, dem Gott Apollo geheiligt, sterbend einen freudigen Gesang anstimmen, weil sie mit ihrer seherischen Gabe auf die Güter der Unterwelt vorausschauen. Die Interpretation des Schwanengesangs als Ausdruck der Trauer sei ein von Todesfurcht motiviertes Fehlurteil. Die Menschen deuten, so Sokrates, den Gesang der heiligen Vögel falsch, weil ihr Urteil durch ihre eigene Furcht vor dem Tod irregeleitet ist. In Wahrheit verhält es sich so, dass die Schwäne, oi} ejpeida;n ai[sqwntai o{ti dei` aujtou;~ ajpoqanei`n, a[ædonte~ kai; ejn tw`æ provsqen crovnwó, tovte dh; plei`sta kai; kavllista a[ædousi, geghqovte~ o{ti mevllousi para; to;n qeo;n ajpievnai ou|pevr eijsi qeravponte~. oiJ dÆ a[nqrwpoi dia; to; auJtw`n devo~ tou` qanavtou kai; tw`n kuvknwn katayeuvdontai, kaiv fasin aujtou;~ qrhnou`nta~ to;n qavnaton uJpo; luvph~ ejxavædein. – welche, wenn sie merken, dass sie sterben sollen, wie sie sonst immer gesungen haben, dann am meisten und vorzüglich singen, weil sie sich freuen, dass sie zu dem Gotte gehen sollen, dessen Diener sie sind. Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen Furcht vor dem Tode, lügen auch über die Schwäne und sagen, dass sie, über den Tod jammernd, aus Traurigkeit sängen (84e–85a).

Auch Sokrates weiß sich dem Apollo verpflichtet, und auch er ist von dem Gott mit der Fähigkeit zur Wahrsagung (mantikhv) begabt. Also wird er „auch nicht unmutiger als sie aus dem Leben [...] scheiden“ (oujde; dusqumovteron aujtw`n tou` bivou ajpallavttesqai, 85b). Dergestalt beruhigt formulieren Simmias und Kebes nun ihre Zweifel an Sokrates’ Argumenten für die Fortdauer der Seele nach dem Tod. In einem bis 107a reichenden Beweisgang werden diese Zweifel sukzessive entfaltet und von Sokrates zerstreut, bis sich seine Gesprächspartner von der 230 Gliederung nach Hackforth, Phaedo. In der Ausgabe von Eigler beginnt der zweite große Beweisgang zur Unsterblichkeit der Seele bereits in 84c.

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unsterblichen und unzerstörbaren Natur der Seele überzeugt zeigen. Nach etwa der Hälfte dieses zweiten großen Argumentationsgangs formuliert Kebes nochmals die Rückbindung des philosophischen Gesprächs an die apologetisch-ethische Problemstellung, wie sie durch die Figur des zum Tode verurteilten und im Sterben begriffenen Sokrates vorgegeben ist: e[sti de; dh; to; kefavlaion w|n zhtei`~: ajxioi`~ ejpideicqh`nai hJmw`n th;n yuch;n ajnwvleqrovn te kai; ajqavnaton ou\san, eij filovsofo~ ajnh;r mevllwn ajpoqanei`sqai, qarrw`n te kai; hJgouvmeno~ ajpoqanw;n ejkei` eu\ pravxein diaferovntw~ h] eij ejn a[llwó bivwó biou;~ ejteleuvta, mh; ajnovhtovn te kai; hjlivqion qavrro~ qarrhvsei. – Was du aber suchst, scheint mir der Hauptsache nach zu sein: Du verlangst, es soll gezeigt werden, dass unsere Seele unvergänglich und unsterblich ist, wenn doch ein philosophischer Mann, der, im Begriff zu sterben, guten Mutes ist und der Meinung, dass er nach seinem Tode sich dort unverzüglich wohl befinden werde, mehr als wenn er einer anderen Lebensweise folgend gestorben wäre, wenn ein solcher nicht ganz unverständig und töricht sein soll bei seinem guten Mut (95b–c).

Nur dann, wenn Sokrates’ Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode ihn nicht trügt, ist sein Sterben ein Triumph gegenüber seinen Richtern, nur dann wird seine Autorität als philosophischer Lehrer über seinen Tod hinaus Bestand haben, und nur dann ist die von ihm propagierte philosophische Lebensweise eine Denknotwendigkeit und nicht eine Sache individueller Beliebigkeit. Schließlich ist auch nur dann gewährleistet, dass der Tod nicht als Argument für moralische Haltlosigkeit angeführt werden kann, wie Sokrates in 107c–d resümierend feststellt: eij me;n ga;r h\n oJ qavnato~ tou` panto;~ ajpallaghv, e{rmaion a]n h\n toi`~ kakoi`~ ajpoqanou`si tou` te swvmato~ a{mÆ ajphllavcqai kai; th`~ auJtw`n kakiva~ meta; th`~ yuch`~: nu`n dÆ ejpeidh; ajqavnato~ faivnetai ou\sa, oujdemiva a]n ei[h aujth`æ a[llh ajpofugh; kakw`n oujde; swthriva plh;n tou` wJ~ beltivsthn te kai; fronimwtavthn genevsqai. – Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre, so wäre es ein Fund für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil, als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden wie möglich.

In 107d folgt der bis 114c reichende große Unterweltmythos des Phaidon. Dieser endet mit einer Schilderung vom Geschick der Seelen im Jenseitsgericht, je nachdem, ob sie schon bei Lebzeiten ganz der Philosophie ergeben waren, in der Mitte zwischen Tugend und Laster stehen, oder aber unrettbar dem Übel verfallen sind (113d–114c). Platon unterscheidet im Phaidon anders als im Gorgias und der Politeia nicht drei, sondern fünf Klassen von Seelen:231 Zunächst diejenigen, „die dafür erkannt werden, einen mittelmässigen Wandel geführt zu haben“ (mevsw~ bebiwkevnai). Diese reinigen sich 231

Zum Folgenden vgl. Rohde, Psyche 275f Anm. 1.

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im Acherusischen See, büßen so ihre Vergehen und werden dann „losgesprochen, wie sie auch ebenso für ihre guten Taten Lohn erlangen, jeglicher nach Verdienst“ (ajpoluvontai [...] tw`n te eujergesiw`n tima;~ fevrontai kata; th;n ajxivan e{kasto~). Die zweite Gruppe sind die, „[d]eren Zustand [...] für unheilbar erkannt wird wegen der Größe ihrer Vergehungen“ (ajniavtw~ e[cein dia; ta; megevqh tw`n aJmarthmavtwn). Diese Seelen werden sogleich und für immer in den Tartaros geworfen. Als dritte Gruppe erscheinen solche, die „befunden werden, zwar heilbare, aber doch große Vergehen begangen zu haben“ (ijavsima me;n megavla dev [...] hJmarthkevnai aJmarthvmata). Gerichtsinstanz für diese Gruppe sind die Opfer ihrer einstigen Untaten: Nach einem Jahr im Tartaros gelangen sie wieder in den acherusischen See und erbitten dort von denjenigen, denen sie einst Schaden zugefügt haben, ihre Freilassung. Wird ihnen diese verweigert müssen sie erneut befristet in den Tartaros, wird sie gewährt, gelangen sie in die Gefilde der erlösten Seelen. Ebenso werden die Seelen der vierten Gruppe erlöst, die sich dadurch auszeichnen, am Straf- bzw. Reinigungsort der Unterwelt „ausgezeichnete Fortschritte in heiligem Leben gemacht zu haben“ (diaferovntw~ pro;~ to; oJsivw~ biw`nai). Auch sie gelangen zuletzt in die „reine Behausung“ (kaqara; oi[khsi~) eines vom Leibe erlösten Daseins. Die fünfte Gruppe schließlich, die bei Lebzeiten „durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben“ (filosofivaæ iJkanw`~ kaqhravmenoi), erreichen ohne Umwege über Acheron, Tartaros und Wiedergeburt sogleich ein seliges Jenseits und „leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese“ (a[neu te swmavtwn zw`si to;

paravpan eij~ to;n e[peita crovnon, kai; eij~ oijkhvsei~ e[ti touvtwn kallivou~ ajfiknou`ntai).

Singulär bei Platon und augenscheinlich auch sonst in der klassischen Antike ist die Vorstellung, dass die Erlösung der Täter von ihrem Freispruch durch die Opfer abhängt (dritte Gruppe).232 Aus dem Munde des zu Unrecht zum Tode verurteilten Sokrates wird dieser Gedanke zur impliziten Unheilsdrohung gegen seine Richter. Die in den Jenseitsmythos des Phaidon eingetragene Täter-Opfer-Relation entwirft ein Gegenbild zu den gegenwärtigen Machtverhältnissen, in denen der Philosoph unterliegt. Zum Nachweis, dass Sterben (entgegen der Intention der Richter)233 für den Philosophen kein Übel ist, kommt nun die imaginierte234 Umkehrung der 232 So Hackforth, Phaedo 185: „[T]he notion of forgiveness by the injured in the after-life [...] does not recur in Plato’s myths, nor, I believe, is to be found anywhere else in the literature of the classical and pre-classical ages.“ 233 S.o. zu Apol. 41d. 234 In 114d wird mythologische Rede verstanden als Möglichkeit, die gewonnene Überzeugung von der unsterblichen Natur der Seele in bildhafter Sprache weiterzudenken. Dies nötigt zu einer reflektierten Distanz zu mythologischer Redeweise, ohne sie deshalb als uneigentliche Rede zu

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Machtverhältnisse: Der jetzt Unterlegene wird einst von den Richtern der Unterwelt die Entscheidungsgewalt über diejenigen übertragen bekommen, die ihm jetzt Unrecht tun.235 In der Schlussszene des Phaidon (115b–118) schildert Platon den Tod des Sokrates in bewegender Weise.236 Hier kommt die wohlgemute Todesbereitschaft des Sokrates nochmals eindrucksvoll zur Darstellung. Als der festgesetzte Termin der Hinrichtung nach Sonnenuntergang naht und Sokrates sich anschickt, den von einem Gerichtsdiener gereichten Becher zu trinken, wendet Kriton ein, die Sonne scheine noch an die Berge, und so könne er sich doch noch ein wenig Zeit lassen. Sokrates entgegnet darauf: oujde;n

ga;r oi\mai kerdanei`n ojlivgon u{steron piw;n a[llo ge h] gevlwta ojflhvsein parÆ ejmautw`æ, glicovmeno~ tou` zh`n kai; feidovmeno~ oujdeno;~ e[ti ejnovnto~, „[I]ch meine, nichts zu gewinnen, wenn ich um ein weniges später

trinke, als nur, dass ich mir selbst lächerlich vorkommen würde, wenn ich am Leben klebte und sparen wollte, wo nichts mehr ist“ (117a). In ruhiger und gelassener Gemütsverfassung trinkt Sokrates den Schierling und stirbt kurz darauf nach den berühmten letzten Worten über den Hahn für Asklepios. Mit diesem Schlussstück hat Platon seinem Lehrer nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein biographisches Denkmal gesetzt. Bis hin zur Ablehnung einer letzten kurzen Zeitspanne237 stehen Todesverständnis und, mit PsHermogenes gesprochen, der trovpo~ th`~ teleuth`~238 des Philosophen in vollendetem Einklang miteinander und mit seiner Lebensführung. Insofern genügt das Sokrates-Bild des Phaidon voll und ganz den materialen Anforderungen eines biographischen Enkomions: Die philosophischen Grundüberzeugungen des Sokrates über die Fortdauer der Seele nach dem Tod werden durch den biographischen Rahmen zur Innenansicht eines edlen Charakters, der würdig zu sterben weiß und sich dadurch vor seinen Gegnern auszeichnet.

entwerten: „Dass sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt habe, das ziemt sich wohl einem vernünftigem Mann nicht zu behaupten; dass es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl.“ 235 Die Verlängerung der Tartarosqualen bei verweigertem Freispruch wird in 114b ausdrücklich als von den „Richtern“ verordnete Strafe bezeichnet. Diese Richter der Unterwelt kommen im Jenseitsmythos des Phaidon sonst nicht mehr vor, sie spielen aber in der Apologie (41a) eine Rolle als die „wahren Richter“ (oiJ ajlhqw`~ dikastaiv): Sie bilden die Gegeninstanz zu den bloß „so genannten Richtern“ (oiJ favskonte~ dikastaiv), die Sokrates zu Unrecht schuldig gesprochen haben. 236 Hackforth, Phaedo 187 lässt den Schluss unkommentiert mit der knappen Bemerkung: „This final section needs neither summary nor comment.“ 237 Vgl. S. 82 zu den einschlägigen exempla bei Valerius Maximus. 238 Vgl. S. 63.

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6.2.3 Xenophon, Apologie des Sokrates Die Apologie Xenophons ist neben derjenigen Platons das zweite erhaltene Werk einer einst umfangreichen antiken Sokrates-Literatur. Auch Xenophons Schrift, lange Zeit nach Sokrates’ Tod verfasst,239 ist bereits der literarischen Ausformung des antiken Sokrates-Bildes zuzurechnen, und sein Werk ist nicht einmal das früheste.240 Die Frage, inwieweit Xenophon – selbst zwar kein Schüler des Sokrates, aber doch persönlich mit ihm bekannt – hierbei authentische Details verarbeitet hat, braucht uns nicht zu beschäftigen. Die Gestalt des Sokrates interessiert uns im vorliegenden Zusammenhang nur insofern, als sie auf das antike Ideal eines philosophischen Todesverständnisses eingewirkt hat bzw. von diesem bestimmt ist. Xenophon berichtet, wie er eingangs sagt, darüber, wJ~ [...] ejbouleuvsato periv te th`~ ajpologiva~ kai; th`~ teleuth`~ tou` bivou, „wie er [d.i. Sokrates] [...] sich äußerte über (seine) Verteidigung und das Ende (seines) Lebens“ (1). Seine Einstellung zu seinem nahen Tod legt der Philosoph nicht den Richtern dar, wohl aber seinen Freunden, die ihn fragen, warum er sich vor dem Richterkollegium nur halbherzig verteidigt hat. Was Sokrates hierauf sagt, unterscheidet sich beträchtlich von den Antworten in Platons Apologie und denen des Phaidon. An keiner Stelle geht es bei Xenophon um die Fortdauer der Seele nach dem Tod. Sokrates argumentiert vielmehr, dass ihm, wenn er jetzt stirbt, ein leichter Tod beschieden ist und ihm die Leiden des Alters erspart bleiben (5). Wenn er dagegen durch eine geschickte Verteidigung seine Verurteilung abzuwenden unternähme, würde er sich einen schlechten Dienst erweisen: nu`n de; eij e[ti probhvsetai hJ hJlikiva, oi\dÆ o{ti ajnavgkh e[stai ta; tou` ghvrw~ ejpitelei`sqai kai; oJra`n te cei`ron kai; ajkouvein h\tton kai; dusmaqevsteron ei\nai kai; w|n e[maqon ejpilhsmonevsteron. – Nun aber, wenn meine Jahre noch verlängert werden, dann weiß ich, dass sich die (Beschwerden) des Alters notwendig einstellen, und dass meine Augen schlechter werden und mein Gehör nachlässt, auch, dass mir das Lernen schwerer fällt und ich das Gelernte schneller vergesse (6).

Deshalb ist der Tod zum jetzigen Zeitpunkt nichts anders als eine Gnade der Götter (7), und es ist deshalb auch kein Zufall, dass ihm die Götter die Ausarbeitung seiner Verteidigungsrede verwehrt haben: a]n ga;r nu`n katakriqh`æ mou, dh`lon o{ti ejxevstai moi th`æ teleuth`æ crh`sqai h} rJavæsth me;n uJpo; tw`n touvtou ejpimelhqevntwn kevkritai, ajpragmonestavth de; toi`~ fivloi~, plei`ston de; povqon ejmpoiou`sa tou` teleutw`nto~. – Denn wenn ich jetzt verurteilt werde, wird mir offensichtlich zuteil, einen Tod zu sterben, der von denen,

239 Nach Lesky, Literatur 557 ist die Apologie nicht vor den 60er Jahren des 4. Jh. v.Chr. entstanden. Sokrates starb 399 v.Chr. 240 Vgl. die Notiz gegravfasi me;n ou\n peri; touvtou kai; a[lloi im Prooemium.

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die die Aufsicht darüber haben, als der leichteste beurteilt wird, der den Freunden am wenigsten lästig fällt und die größte Sehnsucht nach dem Verstorbenen hervorruft (7).

Xenophon hat hier drei Elemente verarbeitet, die auch in der enkomiastischen Rede Verwendung finden: Der leichte Tod (eujqanasiva), das Betrauertwerden durch die Freunde und die Deutung des Sterbens als eines gnädigen Geschicks der Götter, das der Sterbende freudigen Gemüts annimmt. Im Schlussstück der kleinen Schrift bündelt Xenophon die bisherige Darstellung in einer knappen Charakterskizze: ejpedeivxato de; th`~ yuch`~ th;n rJwvmhn: ejpei; ga;r e[gnw tou` e[ti zh`n to; teqnavnai aujtw`æ krei`tton ei\nai, w{sper oujde; pro;~ ta\lla tajgaqa; prosavnth~ h\n, oujde; pro;~ to;n qavnaton ejmalakivsato, ajllÆ iJlarw`~ kai; prosedevceto aujto;n kai; ejpetelevsato. – Er stellte aber seine Seelenstärke unter Beweis: Als er nämlich zu der Überzeugung gelangt war, dass das Sterben für ihn besser wäre als weiter zu leben, wurde er nicht zaghaft angesichts des Todes, wie er sich ja auch den anderen guten Dingen gegenüber nicht versperrte, sondern heiteren Gemüts erwartete er ihn, und (so) ertrug er (ihn auch) (33).

In der Darstellung Xenophons „demonstrierte“ (ejpedeivxato) Sokrates seine „Seelenstärke“ (th`~ yuch`~ rJwvmh) anhand seiner Auffassung vom Tod und durch die Weise seines Sterbens. Diese Zeichnung seines Charakters umfasst kognitive, intentionale und affektive Elemente: Sokrates „urteilte“ (e[gnw), Sterben sei für ihn besser als Weiterleben (kognitiver Aspekt), und auf Grund dieser Überzeugung „erwartete“ (prosedevceto) er den Tod (intentionaler Aspekt), und zwar iJlarw`~ „heiteren Gemüts“ (affektiver Aspekt), und in dieser Gemütsverfassung starb er auch. Die correctio oujde; [...] ejmalakivsato, ajllÆ iJlarw`~ [...] prosedevceto amplifiziert den affektiven Aspekt durch die Negation seines Gegenteils: Nicht Zaghaftigkeit, sondern heitere Gelassenheit bestimmte seine Haltung gegenüber dem Sterben. 6.3 Alexandrinischer Vorneuplatonismus: Philo Die nachfolgend zu untersuchenden Textbeispiele aus den Quaestiones et Solutiones in Genesin241 und den Legum allegoriae zeigen, dass das Interesse am Thema Sterben und Tod als eines ethischen Problems auch bei Philo deutlich ausgeprägt ist. In der alexandrinisch-jüdischen Aneignung des Mit-

241 Die Schrift ist wie auch die Quaestiones et Solutiones in Exodum bis auf einige griechische Fragmente, die etwa zehn Prozent des Textbestandes beider Schriften abdecken, nur auf armenisch erhalten. Im Folgenden wird die englische Übersetzung des armenischen Textes von Marcus zu Grunde gelegt und auch auf Englisch zitiert.

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telplatonismus, wie Philo sie repräsentiert,242 ist das religiös-philosophische Interesse an mittelplatonischer Seelenmetaphysik immer dort auch ein eminent ethisches Thema, wo es um das Geschick des „Weisen“ geht. Dieses wird nämlich erst postmortal in jedem Fall unzweideutig als solches kenntlich und vom Geschick der übrigen Menschen unterscheidbar, dann nämlich, wenn die Seele des Weisen243 in die Sphäre der ewigen Ideen eingeht und die des Weltmenschen nicht. 6.3.1 QGen. 3,11 In QGen. 3,11 erörtert Philo den allegorischen Sinn von Gen 15,15LXX su;

de; ajpeleuvshæ pro;~ tou;~ patevra~ sou metÆ eijrhvnh~, trafei;~244 ejn ghvrei kalw`æ. Zunächst deutet Philo den Genesis-Vers auf die Unzerstörbarkeit der Seele: Clearly this indicates the incorruptibility of the soul, which removes from its habitation from the mortal body and returns as if to the mothercity, from which it originally moved its habitation to this place. Die Gegenüberstellung von incorruptibility of the soul (ajfqarsiva yuch`~) und mortal body (qnhvton sw`ma) formuliert die mittelplatonische Seelenlehre im Unterschied zur stoischen Physik: Auch für die Stoa ist der Tod die Trennung von Leib und Seele, doch ist in stoischer Auffassung auch die Seele stofflicher Natur, und als solche überlebt sie zwar den Köper, sie ist jedoch nicht unzerstörbar und vergeht spätestens beim nächsten Weltenbrand.245 Demgegenüber betont Philo gut pythagoreisch-platonisch die Präexistenz der Seele und ihre Wesensverschiedenheit vom sterblichen Körper, der ihr nur als vorübergehende Wohnstatt dient. Auch der wenig später erörterte allegorische Sinn der „Väter“ ist auf diesem Hintergrund zu verstehen: Die „Väter“ bedeuten, so Philo, nicht all the elements into which the dissolution (of the body) takes place, sondern the incorporeal Logoi of the divine world. Die präexistente Seele wird ihre Wohnstatt nach dem irdischen Leben wieder bei den unkörperlichen Logoi haben, sich also nicht lediglich, wie die Stoiker meinen, als Pneumasubstanz von den übrigen Bestandteilen des sich auflösenden Körpers trennen, um später selbst zu vergehen. Bis hierher und in soweit expliziert Philo die platonische Auffassung der Seele in Abgrenzung zur Auffassung der Stoa. Das eigentliche Thema der philonischen 242 Spuren von und explizite Hinweise auf vorphilonische Traditionen in den Werken des Alexandriners legen den Schluss nahe, dass Philo bereits in der Tradition eines alexandrinischjüdischen Mittelplatonismus steht; vgl. dazu Sellin, Streit 169–171. 243 Genauer: Der vernünftige Seelenbestandteil (logikovn) im Unterschied zu dem/den unvernünftigen (a[logon). Philo kennt verschiedene Modelle der Unterscheidung eines höheren und niederen Teils der Seele; vgl. Gombocz, Philosophie 55. Unsterblich ist nur ersterer. 244 So der Codex Alexandrinus. Diese Lesart liegt auch der armenischen Übersetzung zu Grunde; Marcus übersetzt mit nourished, „ernährt“. Die Alternativlesart tafeiv~ stimmt mit dem masoretischen Text (ʸʡʷʺ) überein. 245 Vgl. hierzu Hossenfelder, Philosophie 83f.

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Auslegung von Gen 15,15 ist indes nicht die platonische Seelenmetaphysik. Diese bildet lediglich der Vorstellungsrahmen, den Philo mit einer Betrachtung zum Geschick des „Weisen“ im Unterschied zum „Unverständigen“ (a[frwn) oder „Bösen“ (ponhrov~) ausfüllt. Nur die Seele des Weisen nämlich wird nach dem Tod in der Sphäre der Ideen fortdauern: Die Ansage su; de; ajpeleuvshæ pro;~ tou;~ patevra~ sou an den sterbenden Abraham meint zwh;n eJtevran [...] th;n a[neu swvmato~, kaqÆ h}n yuch;n movnhn sumbaivnei zh`n, „das andere Leben ohne Leib, das zu leben nur der Seele des Weisen zuteil wird.“246 Dies geht für Philo auch aus den Wendungen metÆ eijrhvnh~ und ejn ghvrei kalw`æ hervor, denn the evil and sinful man is nourished and lives by strife, and ends and grows old in evil. But the virtuous man in both his lives – in that with the body and in that without the body – enjoys peace, and alone is very good while no one of the foolish is (so), even though he should be longer-lived than an elephant. Nur der Weise hat nach dem Leben im Leib Aussicht auf ein Leben außerhalb des Leibes. Zwar mag der ponhrov~ im Einzelfall länger leben mag als der Weise, doch wird ihm das jenseitige Leben nicht zuteil werden, und schon in seinen Erdentagen lebt er nicht metÆ eijrhvnh~. Sein Alter wird man vielleicht makrov~ nennen, nicht aber kalov~: Wherefore (Scripture) has accurately said ,Thou shalt go to thy fathers‘, nourished not in a long old age but in a ,good‘ old age. For many foolish men linger on to a long life, but to a good and virtuous life only he who is a lover of wisdom. Das Fortleben der Seele a[neu swvmato~ interessiert Philo in diesem Text nicht allein als platonische Lehrmeinung, sondern, nach erfolgter begrifflicher Abgrenzung zur stoischen Position, v.a. als soteriologischethisches Thema. Auf diesem Feld sind sich Mittelplatonismus und Stoa nun durchaus einig, denn auch nach stoischer Auffassung kann nur der Weise auf ein Fortleben seiner Seele nach dem Tod hoffen. 6.3.2 QGen. 1,16 Die Unterordnung der Metaphysik unter die Ethik kommt im zweiten hier zu untersuchenden Text noch stärker zum Tragen. Gegenstand der Auslegung ist Gen 2,17 qanavtwó ajpoqanei`sqe. Die Beschaffenheit der Seele wird hier gar nicht eigens thematisiert. Statt dessen stellt Philo zwei „Leben“ einander gegenüber, eines im sterblichen Leib und eines unzerstörbar, ohne Leib. Dass die Seele an der Stofflichkeit des Leibes keinen Anteil hat, setzt Philo an dieser Stelle einfach voraus. Unzerstörbarkeit und unkörperliche Qualität sind Eigenschaften jenes zweiten Lebens, das auf das irdische 246 Das in unserem Zusammenhang entscheidende tou` sofou` fehlt im griechischen Fragment (bei Prokopios von Gaza, ed. Wendland, Fragmente 67f), es ist jedoch durch die armenischen Handschriften gesichert; vgl. Marcus, z. St.

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folgt. Von diesem zweiten Leben gilt, dass nur der Würdige es erlangen wird. Der schlechte Mensch dagegen stirbt schon bei Leibesleben: The death of worthy men is the beginning of another life. For life is twofold; one is with corruptible body; the other without body (and) incorruptible. So that the evil man dies by death even when he breathes, before he is buried, as though he preserved for himself no spark at all of the true life, and this is excellence of character. The decent and worthy man, however, does not die by death, but after living long, passes away to eternity, that is, he is borne to eternal life.

Der schlechte Mensch wird nicht nur des ewigen Lebens nicht teilhaftig, er ist sogar schon bei Leibesleben tot, weil er durch sein Leben in Schlechtigkeit seinen unsterblichen Seelenfunken zum Erlöschen gebracht hat. Solche Menschen sind, mit Spec. 1,345 gesprochen „seelisch tot“ (ta;~ yuca;~ teqna`sin). Die Vorstellung einer präexistenten und unsterblichen Seele wird also unter ethischem Vorzeichen erheblich relativiert: Es hängt vom Verhalten des Einzelnen ab, ob seine Seele in das unzerstörbare jenseitige Leben eingeht, oder ob sie schon während seines irdischen Dasein ausgelöscht wird, so dass mit dem physischen Tod der ganze Mensch stirbt. Ein Lebenswandel im Einklang mit der Tugend ist also eine „Überlebensfrage“ im doppelten Sinn, und umgekehrt gilt, dass derjenige, der mit der Fortdauer seiner Seele nach seinem physischen Tod rechnet, seinen Anspruch, einen solchen Lebenswandel zu führen, ontologisch festschreibt. Anders etwa als im Jenseitsmythos des Phaidon ist bei Philo der Weg der Seele in die jenseitige Welt nicht „ergebnisoffen“ (Jenseitsgericht mit Schuld- oder Freispruch), sondern selbst schon das entscheidende Heilsgut. 6.3.3 All. 1,105–107 In All. 1,105–108, einem Text, der ebenfalls die Auslegung der Wendung qanavtwó ajpoqanei`sqe aus Gen 2,17 zum Gegenstand hat, entfaltet Philo analog zu den „zwei Leben“ (im Leib und postmortal außerhalb des Leibes) die Anschauung von einem „doppelten Tod“,247 nämlich dem natürlichen Tod und dem schon vorher sich ereignenden Tod der Seele: dittov~ ejsti qavnato~, oJ me;n ajnqrwvpou, oJ de; yuch`~ i[dio~: oJ me;n ou\n ajnqrwvpou cwrismov~ ejsti yuch`~ ajpo; swvmato~, oJ de; yuch`~ qavnato~ ajreth`~ me;n fqorav ejsti, kakiva~ de; ajnavlhyi~. paro; kaiv fhsin oujk ajpoqanei`n aujto; movnon ajlla; qanavtwó ajpoqanei`n, dhlw`n ouj to;n koino;n ajlla; to;n i[dion kai; katÆ ejxoch;n qavnaton, o{~ ejsti yuch`~ ejntumbeuomevnh~ pavqesi kai; kakivai~ aJpavsai~. kai; scedo;n ou|to~ oJ qavnato~ mavcetai ejkeivnwó: ejkei`no~ me;n ga;r diavkrisiv~ ejsti tw`n sugkriqevntwn swvmatov~ te kai; yuch`~, ou|to~ de; toujnantivon suvnodo~ ajmfoi`n, kratou`nto~ me;n tou` ceivrono~ swvmato~, kratoumevnou de; tou` kreivttono~ yuch`~. o{pou dÆ a]n levghæ qanavtwó ajpoqanei`n, parathvrei o{ti qavnaton to;n ejpi; timwrivaæ 247

Vgl. hierzu Benz, Todesproblem 95–97; Sellin, Streit 135f.

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paralambavnei, ouj to;n fuvsei ginovmenon: fuvsei me;n ou\n ejsti, kaqÆ o}n cwrivzetai yuch; ajpo; swvmato~, oJ de; ejpi; timwrivaæ sunivstatai, o{tan hJ yuch; to;n ajreth`~ bivon qnhvæskhæ, to;n de; kakiva~ zh`æ movnon. – Es gibt einen doppelten Tod, für den Menschen im Allgemeinen und für die Seele im Besonderen; der des Menschen besteht in der Trennung der Seele vom Körper; der Tod der Seele bedeutet die Vernichtung der Tugend und die Aneignung der Schlechtigkeit. Deshalb heißt es nicht bloß ,sterben‘, sondern ,des Todes sterben‘, um zu zeigen, dass nicht der allgemeine, sondern der besondere und eigentliche Tod gemeint ist, den die Seele erleidet, wenn sie unter Leidenschaften und Schlechtigkeiten aller Art begraben wird. Und dieser Tod bedeutet nämlich nahezu den äußersten Gegensatz zu jenem: jener nämlich besteht in der Auflösung der Vereinigung von Körper und Seele, dieser vielmehr in einer Vereinigung beider, bei welcher der schlechtere Teil, der Körper, die Oberhand gewinnt und der bessere, die Seele, unterliegt. Wo immer es heißt ,des Todes sterben‘, ist stets zu beachten, dass der Tod als Strafe gemeint ist, nicht der natürliche; der natürliche besteht eben darin, dass die Seele vom Körper geschieden wird; der als Strafe wird dann herbeigeführt, wenn die Seele dem Leben der Tugend abstirbt und nur das der Schlechtigkeit führt.

In diesem Text wird nicht problematisiert, wie es möglich sein kann, dass der unkörperliche Seelenteil durch die zu enge Verflechtung mit den Leidenschaften des Körpers nicht nur Schaden nimmt, sondern sogar zerstört wird. Das Affiziertwerden der Seele durch die Verbindung mit dem sterblichen Leib setzt doch eine irgendwie geartete stoffliche Beschaffenheit auch des vernünftigen Seelenteils voraus, die Philo im Unterschied zur Stoa ja gerade ausschließen will. Es scheint, als sei diese Inkongruenz von der Denknotwendigkeit verursacht, den Todesbegriff ethisch zu differenzieren. Diese Differenzierung ist aber nur unter der Voraussetzung eines metaphorischen Todesverständnisses und der Vergleichgültigung des physischen Todes möglich. Letzteres wird dadurch erreicht, dass das physische Sterben für die Weisen lediglich den Übergang von einem Leben zum anderen markiert und für die Schlechten lediglich ein Nachspiel zum vorher schon erfolgten Tod der Seele darstellt. Betrachtet man diese Denkfigur im weiteren soziokulturellen Horizont antiken Todesverständnisses, wie ihn die bisher untersuchten Texte eröffnet haben, dann lässt sich folgende These aufstellen: Die Metaphorisierung des Todesbegriffs ist auch deshalb notwendig, weil der ontologisch-ethische Dualismus Philos nicht oder nur im Ausnahmefall mit der Alltagswahrnehmung koinzidiert und deshalb gegen seine empirische Falsifikation geschützt werden muss. Das Problem, das Rhetorik und rhetorische Geschichtsschreibung „fallbezogen“ mit je unterschiedlichen Argumenten bewältigen, dass nämlich soziale Standards von Sterben und Tod für die Bewertung eines Charakters stets von erheblicher Bedeutung sind, häufig jedoch nicht mit dem Einzelfall, sei es, dass eine Person gelobt oder getadelt werden soll, übereinstimmen, dieses Problem wird hier dadurch „gelöst“, dass es überhaupt bestritten wird: Wann und wie man

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stirbt, ist völlig gleichgültig. Ob jemand ein „Weiser“ ist, entscheidet sich einerseits (ohne dass dies phänomenologisch überprüfbar wäre)248 schon vorher, andererseits endgültig (naturgemäß ebenfalls nicht überprüfbar) „nachher“. 6.4 Neue Akademie: Cicero, Tusculanae disputationes Wir haben Cicero an früherer Stelle als Theoretiker der Redekunst kennengelernt249 und begegnen ihm nun als Philosophen. Cicero war kein eigenständiger philosophischer Kopf, doch gehören seine Werke gerade deshalb zu den wichtigsten Quellentexten hellenistischer Philosophie. In seinen philosophischen Schriften haben, wenn auch nur in anonymen Bruchstücken bzw. als meist nur hypothetisch rekonstruierbare Vorlagen, Werke griechischer Philosophen der hellenistischen Epoche überlebt, die andernfalls gänzlich verloren wären. Gerade dadurch, dass Cicero nicht ein eigenes System entwickelt, sondern es sich zur Aufgabe gemacht hat, die griechische Philosophie den Römern nahezubringen, d.h. aber: in lateinische Sprache zu übersetzen (Tusc. 1,5f), sind seine Werke eine philosophie- und kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges. Durch seine Zugehörigkeit zur Neuen Akademie – jener skeptizistisch beeinflussten Phase der Akademie grob gesprochen während der beiden Jahrhunderte vor der Zeitenwende – war Cicero zum Philosophiehistoriker geradezu prädestiniert, ermöglichte doch die skeptisch motivierte weitgehende Enthaltung von definitiven Lehrentscheidungen allererst ein verhältnismäßig distanziertes Referat unterschiedlicher Schulmeinungen. In dieser antidogmatischen Tendenz des ciceronischen Denkens kommt, unser Thema betreffend, indes noch etwas anderes zum Tragen, nämlich die programmatische Relativierung von Metaphysik und Psychologie zugunsten der Ethik. Die von Epikur250 in das antike Denken eingeführte Frage nach einer philosophisch begründeten Überwindung der Todesfurcht wird bei Cicero vollends zu jenem beherrschenden Thema, als das sie später auch Seneca,

248 Der „Weise“ philonischen Zuschnitts ist keineswegs ein Asket. Vielmehr nimmt er an allen Lebensvollzügen seiner sozialen Umwelt wie selbstverständlich teil. Askese ist eine Angelegenheit der Schwachen, die noch nicht zur Vollkommenheit gelangt sind (vgl. dazu Sellin, Streit 155). Auch das Dasein des stoischen Weisen unterscheidet sich äußerlich nicht von dem des Normalbürgers. Auch er versucht nicht, mit den Mitteln der Vernunft seine Triebbestimmtheit zu überwinden. Was ihn von den übrigen Menschen unterscheidet, ist allein der mathematische Punkt seiner philosophischen Einstellung, die ihm erlaubt, sich selbst als triebbestimmten Wesen teilnahmslos gegenüber zu stehen (Hossenfelder, Philosophie 59ff). 249 S.o. unter II.2.2.2 und II.2.2.3 250 S.u. unter II.6.6.1.

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Epiktet und Marc Aurel beschäftigt. In den Tusculanae disputationes widmet ihr Cicero das ganze erste Buch.251 Nach Vorrede (1,1–7) und szenischer Einleitung, die das Folgende als sokratischen Dialog einführt (1,8), formuliert Cicero die These (1,9), die es in Rede und Gegenrede zu widerlegen gilt: dass „der Tod ein Übel ist“ (malum [...] esse mors), und zwar sowohl objektiv Übel (malum, kakovn) wie auch subjektiv ein Elend (miserum, a[qlion), für Lebende wie für Tote. In einem ersten Dialogstück (1,10–14) wird aus der Nichtexistenz des Hades, die zwischen beiden Dialogpartnern Konsens ist, gefolgert, dass die Toten überhaupt nicht existieren. Daraus ergibt sich aber, dass die Toten auch nicht unglücklich sein können, da Unglücklichsein von etwas Nichtexistierendem nicht ausgesagt werden kann. Das wiederum bedeutet, dass der Tod für die Toten kein Übel sein kann. Der Dialogpartner gesteht dies zu, verlangt aber außerdem noch den Nachweis, dass der Tod auch für die Lebenden kein Übel sei, denn qui vivimus, cum moriendum sit, nonne miseri sumus, „[s]ind wir, die wir leben, nicht unglücklich, da wir sterben müssen?“ (1,14) – eine Haltung, die auch in einem von Cicero lateinisch zitierten Satz des Komödiendichters Epicharmos zum Ausdruck kommt: emori nolo, sed me esse mortuum nihil aestimo, „Sterben will ich nicht, aber tot sein ist mir gleich“ (1,15). Zwar ist nun klar: qui mortui essent, eos miseros non esse, dass „jene, die tot sind, nicht unglücklich sein können“, doch soll nun, wenn möglich, noch glaubhaft gemacht werden, ne moriendum quidem esse miserum, dass „auch das Sterbenmüssen kein Unglück ist“ (1,15).252 Cicero übergeht zunächst diese Forderung, indem er sie als Kleinigkeit abtut253 und verspricht, noch Größeres zu beweisen: iam istuc quidem nihil negotii est, sed ego maiora molior, „Dies macht gar keine Schwierigkeiten mehr, aber ich habe Größeres im Sinn.“ Dieses Größere ist folgendes: ut doceam, si possim, non modo malum non esse, sed bonum etiam esse mortem, „Ich möchte beweisen, wenn ich kann, dass der Tod nicht nur kein Übel, sondern sogar etwas Gutes sei“ (1,16). Für diesen Nachweis wechselt Cicero vom Dialog in die Form des Lehrvortrags, doch bedeutet dies nicht, dass er nun die sokratisch-akademische Aporetik hinter sich ließe (1,17). Er betont vielmehr, dass er über Wahrscheinlichkeitsurteile nicht hinauskommt und grenzt sich gegen den philosophischen Dogmatismus epikureischer und 251 Das Folgende stützt sich auf die Analyse des 1. Buches von Gigon, Cicero 8–28 und die Erläuterungen ebd., 259ff. 252 Ähnlich nochmals 23: ego enim istuc ipsum vereor ne malum sit non dico carere sensu, sed carendum esse, „Ich fürchte nämlich, dass gerade dies ein Übel sei: nicht empfindungslos zu sein, sondern empfindungslos werden zu müssen.“ 253 Vgl. Gigon, Cicero 263: „Cicero biegt hier die Diskussion einigermaßen gewaltsam ab und kommt auf den in Wahrheit ziemlich heiklen Punkt, ob denn das Sterben selbst nicht schrecklich sei, erst in § 82 und auch da nur flüchtig zurück.“

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stoischer Prägung ab. Es folgt in 1,18–22 eine Übersicht über die verschiedenen philosophischen Doktrinen über den Tod und das Wesen der Seele, sodann (1,23) ein nochmaliger Hinweis auf die Vorläufigkeit philosophischer Erkenntnis, hier nun mit Bezug auf das eigentliche, ethischprotreptische Erkenntnisinteresse des ganzen Buches: Harum sententiarum quae vera sit, deus aliqui viderit; quae veri simillima, magna quaestio est. utrum igitur inter has sententias diiudicare malumus an ad propositum redire? – Ein Gott mag sehen, welche dieser Ansichten die richtige ist. Welches die wahrscheinlichste ist, das ist die große Frage. Wollen wir nun unter diesen Ansichten eine Entscheidung treffen oder eher zu unserem Gegenstand zurückkehren?

Dazu befragt antwortet der Dialogpartner: Cuperem equidem utrumque, si posset, sed est difficile confundere. quare si, ut ista non disserantur, liberari mortis metu possumus, id agamus; sin id non potest nisi hac quaestione animorum explicata, nunc, si videtur, hoc, illud alias. – Ich hätte gern beides zusammen, wenn es möglich ist; aber es wird schwierig sein, es zu kombinieren. Wenn wir also von der Todesfurcht befreit werden können, ohne dass diese Fragen behandelt werden, so wollen wir es dabei bewenden lassen. Wenn es aber nicht möglich ist, ohne dass die Frage nach der Seele erledigt wird, so wollen wir eben sie vornehmen, wenn es Dir recht ist, das Andere dann später (1,23).

Cicero stimmt zu, dass die Überwindung der Todesfurcht das dringlichere Problem sei. Er unternimmt es deshalb zu zeigen, dass „der Tod entweder kein Übel oder dass er sogar etwas Gutes ist“, ganz gleich, welche der im Einzelnen zu diskutierenden Lehrmeinungen zutrifft. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Entweder die Seele vergeht mit dem Leib, dann ist das, was nach dem Tod kommt ganz und gar gleichgültig, oder aber die Seele überdauert den Leib, dann ist am wahrscheinlichsten, dass sie in den Himmel empor steigt als in ihre Heimat (1,24). Die genannte Zweiteilung, die auf die in Platons Apologie (40c) genannte Alternative zurückgehen dürfte, bestimmt den Aufbau des restlichen Buches: Zuerst und in größerer Ausführlichkeit (1,26–71) diskutiert Cicero die „Maximallösung“ (Unsterblichkeit der Seele) und, nach einem protreptischen (1,71b–76) und polemischen Zwischenstück (1,77–81), die „Minimallösung“, dass die Seele im Moment des Todes zu existieren aufhört (1,82–110). Wir übergehen das umfangreiche Stück, das mit dem Nachweis der Unsterblichkeit der Seele befasst ist,254 und wenden uns dem Passus 1,71b–76 zu, in dem Cicero auf 254 Hingewiesen sei nur auf eine von Gigon, Cicero 21 beobachtete Inkonsequenz in 1,44–45: „[K]rass ist der Übergang von einer als Feuer oder Luft gedeuteten zu einer als unkörperlich im strengen Sinne verstandenen Seele.“ Cicero will beweisen, dass die Seele nach ihrem Austritt aus dem Körper in den Himmel aufsteigt (und nicht etwa in den Hades hinabfährt, dessen Nichtexistenz in 1,10 ja nur behauptet, nicht aber bewiesen wurde). Für diesen Beweis bedient er sich der physikalischen Vorstellung (Seele als Feuer oder Luft, wegen ihrer Wärme jedenfalls leichter als

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das vorbildliche Sterben des Sokrates und, als zeitgenössisches Beispiel, Catos zu sprechen kommt. Beide exemplifizieren eine vorbildliche Haltung angesichts des Sterbens, wie sie aus dem Wissen um die Unsterblichkeit der Seele erwächst. In 1,71b wird Sokrates vorgestellt als his et talibus rationibus adductus, „[d]urch diese und ähnliche Gründe bewogen [...]“, bewogen nämlich dazu, vor Gericht auf einen Anwalt zu verzichten und ruhigen Geistes in den Tod zu gehen. Das heißt aber: Der ganze bis 1,71a erreichte Erkenntnisfortschritt wird nun zur „Wissensgrundlage“ eines vorbildlichen Todesverständnisses. Sokrates führt, wie später auch Cato, in ciceronischer Zeichnung vor, zu welch nobler Haltung ein von Todesfurcht befreiter Geist fähig ist, und zwar auch und gerade in der Situation des Unterliegens: His et talibus rationibus adductus Socrates nec patronum quaesivit ad iudicium capitis nec iudicibus supplex fuit adhibuitque liberam contumaciam a magnitudine animi ductam, non a superbia, et supremo vitae die de hoc ipso multa disseruit et paucis ante diebus, cum facile posset educi e custodia, noluit, et tum, paene in manu iam mortiferum illud tenens poculum, locutus ita est, ut non ad mortem trudi, verum in caelum videretur escendere. – Durch diese und ähnlich Gründe bewogen suchte Sokrates keinen Anwalt bei seinem Prozess auf Leben und Tod; er flehte auch nicht die Richter an und führte eine freie Sprache, wie sie ihm seine Seelengröße eingab, nicht etwa sein Hochmut; am letzten Tage seines Lebens sprach er vieles eben hierüber und wenige Tage zuvor wollte er nicht aus dem Gefängnis entführt werden, obschon es leicht möglich gewesen wäre; und als er dann schon den tödlichen Becher in der Hand hielt, da redete er so, dass er nicht zum Tode geschleift, sondern in den Himmel aufzusteigen schien (1,71b).

Cicero entwirft hier ein ideales Psychogramm philosophischer Todesbereitschaft: Wer in dieser Haltung auf den Tod zugeht, „fleht“ nicht um sein Leben, ihm ist eine „freie Sprache“ (libera contumacia; wörtlich etwa „edler Trotz“)255 zu eigen, und dies nicht aus Hochmut (superbia), sondern auf Grund seiner „Seelengröße“ (magnitudo animi). Um die triumphale Haltung des Sokrates zusätzlich zu profilieren, grenzt er sie scharf und unzweideutig gegen eine (mindestens sachlich mögliche)256 Negativinterpretation seines Sterbens ab. Hierzu bedient er sich einer correctio: Nicht das Grauen des Sterbenmüssens ist für Sokrates während seiner letzten Unterredung mit seinen Freunden bestimmend, sondern der unmittelbar bevorstehende Aufdie umgebende Luft). Sobald der Nachweis erbracht ist, kann er den physikalischen Vorstellungsrahmen einfach verlassen und in protreptischer Absicht die Seele als nach dem Tod von jeder Körperlichkeit befreiten reinen Geist verstehen. 255 Georges, Handwörterbuch, Bd. 1, 1643 s.v. contumacia. 256 D.h. nicht unbedingt als Replik auf literarische Polemik gegen die Sokrates-Gestalt. Doch veranlasste Polykrates’ (fingierte) Anklagerede gegen Sokrates noch einen Libanios zu einer Gegenschrift (s.o. S. 149). Es ist also möglich, dass auch Ciceros Sokrates-Darstellung in Tusc. 1 in der Tradition jener literarischen Kontroverse um die Figur des Sokrates steht.

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stieg in den Himmel: locutus ita est, ut non ad mortem trudi, verum in caelum videretur escendere.257 In 1,72 gibt Cicero die Anschauung des platonischen Sokrates über den Weg der guten und schlechten Seele wieder. Seine Todesbereitschaft, sein „Reden“ wie jemand, der „in den Himmel aufzusteigen“ im Begriff ist, gründet in dem, was er „geglaubt“ (censebat) und was er „gelehrt“ hat (disseruit): Ita enim censebat itaque disseruit, duas esse vias duplicesque cursus animorum e corpore excedentium, „Denn dies glaubte Sokrates und dies lehrte er, dass es zwei Wege und zwei Wanderungen für die Seelen gebe, die aus dem Körper hinausträten.“ Die nun folgende freie Wiedergabe dessen, was wir aus Phaid. 80e–81c kennen,258 können wir außer acht lassen, ebenso die in 73 anschließende Paraphrase von Sokrates’ Betrachtung zum Gesang der Schwäne (Phaid. 84e–85b).259 Wichtig ist in unserem Zusammenhang dagegen das Zusammenspiel kognitiver, affektiver und intentionaler Elemente in Ciceros Sokrates-Portrait, wie wir es ähnlich schon bei Xenophon beobachtet haben:260 Das, was Sokrates zeitlebens als Lehrmeinung vertreten hat, bewährt sich nun in persönlicher Gewissheit angesichts des Sterbens und erlaubt es ihm, dem Tod in freudiger Geisteshaltung entgegenzugehen. In Tusc. 1,74f deutet Cicero den Freitod des M. Porcius Cato als ein Sterben in Verantwortung gegenüber den Göttern. Nicht lange vor der Abfassung der Tusculanen, im Jahr 46 v.Chr., hatte sich Cato in Utica in Nordafrika das Leben genommen, nachdem die letzte Bastion der Pompeianer unter seiner Führung von den Truppen Cäsars vernichtend geschlagen worden war. Wie später bei Plutarch, der Cato (besonders stilecht) nach der Lektüre des Phaidon aus dem Leben scheiden lässt, ist der Tod dieser Symbolgestalt eines unbeugsamen republikanischen Freiheitswillens schon bei Cicero das römische Gegenstück zum Tod des Sokrates. Damit aber gerät das in Cato verwirklichte Ideal philosophischer Todesbereitschaft in den unmittelbaren historischen Kontext eines auch mit literarischen Mitteln ausgetragenen machtpolitischen Kampfes zwischen der Partei Cäsars und seinen republikanischen Gegnern. Ein verlorener, etwa zeitgleich mit den Tusculanen verfasster Panegyricus Ciceros auf Cato provozierte eine Gegenschrift des Cäsarianers Aulus Hirtius und wenig später die Anticatones aus der Feder Cäsars selbst. Durch Ciceros Vorbild wiederum wurden M. Fadius Gallus und Brutus, der Widmungsempfänger der Tusculanen und spätere Cäsarmörder, zu Lobschriften auf Cato inspiriert. So wurde das Ende Catos „der Beginn einer nicht abreißenden Reihe literarischer Verherrli257

Vgl. schon S. 162 zu Xenophon, Apol. 33. S.o. S. 156. 259 S.o. S. 157. 260 Apol. 33, s.o. S. 162. 258

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chungen seines Lebens und Sterbens [...]. Bis weit in die Kaiserzeit hinein diente seine Gestalt als Thema, mit dessen Behandlung die Repräsentanten der senatorischen Opposition ihren Widerstand gegen den Prinzipat in Dramen, Epen und Geschichtswerken artikulierten.“261 Zwar ist die Darstellung in Tusc. 1,74f nicht unmittelbar Teil jener literarisch-politischen Kampagne nach dem Tod Catos, doch dürfte die Deutung seines Sterbens dort ganz ähnlich ausgefallen sein. Dass darüber hinaus auch die „Gegendarstellungen“ aus dem cäsarianischen Lager auf die Todesumstände Catos Bezug genommen haben, darf eingedenk der bisher untersuchten rhetorischen und biographischen Texte als sehr wahrscheinlich gelten. In Tusc. 1,74 münzt Cicero die militärische Niederlage Catos in die ersehnte, freudig begrüßte Gelegenheit zum göttlich legitimierten Freitod um und attestiert ihm, nach der sokratischen Maxime der melevth qanavtou (commentatio mortis) gelebt zu haben (vgl. Phaid. 80e–81a): Cato autem sic abiit e vita, ut causam moriendi nactum se esse gauderet. vetat enim dominans ille in nobis deus iniussu hinc nos suo demigrare; cum vero causam iustam deus ipse dederit, ut tunc Socrati, nunc Catoni, saepe multis, ne ille me Dius Fidius vir sapiens laetus ex his tenebris in lucem illam excesserit, nec tamen ille vincla carceris ruperit – leges enim vetant –, sed tamquam a magistratu aut ab aliqua potestate legitima, sic a deo evocatus atque emissus exierit. tota enim philosophorum vita, ut ait idem, commentatio mortis est. – Cato aber ist derart aus dem Leben geschieden, dass er sich freute, eine Ursache des Sterbens gefunden zu haben. Denn der in uns regierende Gott verbietet es, ohne seinen Befehl von hier aus wegzuwandern. Wenn aber die Gottheit selbst eine gerechte Ursache gegeben hat, wie damals dem Sokrates, später dem Cato, oftmals Vielen, dann wird, bei Gott, der Weise heiter aus dieser Finsternis in jenes Licht übergehen; er wird nicht die Ketten des Gefängnisses zerbrechen – denn dies verbieten die Gesetze –, sondern wie von der Behörde oder einer andern gesetzlichen Macht, so wird er, von Gott aufgerufen und entlassen, aus dem Leben abscheiden. Das ganze Leben ist ja, wie derselbe Sokrates sagt, eine Bekümmerung um den Tod.

Cato erscheint hier als weltabgewandter Philosoph, der in Verantwortung gegenüber der Gottheit nichts sehnlicher erwartet als den Befehl, aus dem Leben zu scheiden. Der Außenaspekt des Politikers und Feldherrn, der den Kampf um die politische Macht in Rom an vorderster Front mitgekämpft und verloren hat, wird völlig ausgeblendet. Sein Sterben ist nicht die Konsequenz einer politischen Niederlage, sondern Erfüllung eines philosophischen Lebens. Der Freitod als einzige Möglichkeit, sich dem entwürdigenden Zugriff der Feinde zu entziehen, ist eine zulässige causa moriendi, in stoischer Terminologie: eu[logo~ ejxagwghv. Sie entspricht als solche der von

261

Merklin, De finibus 26f.

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der Gottheit geschickten ajnavgkh, die der platonische Sokrates in Phaid. 62c als Bedingung für den Freitod namhaft macht.262 Sokrates und Cato sind in den Tusculanen exempla für ein Sterben in Erwartung einer seligen Fortlebens nach dem Tod. Der Abschnitt 71b–76 gehört also noch zu dem großen Block 1,26–71. In 1,82 wendet sich Cicero nun, wie in 1,26 angekündigt, noch der zweiten Möglichkeit zu, dass die Seele im Moment des Todes zu existieren aufhört, um zu zeigen, dass der Tod auch in diesem Falle, wenn schon kein Gut, so doch immerhin kein Übel ist. Nun geht er auch auf die in 1,16 ziemlich forsch beiseite geschobene Frage ein, ob auch vom Vorgang des Sterbens selbst behauptet werden kann, er sein kein Übel. Welches Übel bleibt denn noch, fragt Cicero, wenn doch die Seele nach dem Tod nicht mehr existiert, d.h. aber empfindungslos ist: An quod ipse animi discessus a corpore non fit sine dolore? ut credam ita esse, quam est id exiguum! sed falsum esse arbitror, et fit plerumque sine sensu, non numquam etiam cum voluptate, totum. que hoc leve est, qualecumque est; fit enim ad punctum temporis. – Etwa, dass gerade die Trennung der Seele vom Körper nicht ohne Schmerz vor sich geht? Mag sein, wie wenig ist dies doch! Aber ich glaube, dass dies überhaupt falsch ist und dass dies sich meist ganz ohne Empfindung vollzieht, zuweilen sogar mit Lust; jedenfalls, wie immer es sich verhält, so bleibt es etwas Geringfügiges. Denn es geschieht in einem Augenblicke (1,82b).

Nachdem Cicero den Schrecken des Sterbevorgangs mit dem Argument bestritten hat, dieser Vorgang sei auf einen winzigen Augenblick beschränkt und als solcher zu vernachlässigen, befasst er sich in 1,85–89 mit dem Gedanken, Sterben sei ein Übel wegen des Verlusts irdischer Güter. Das Gegenargument lautet: Wer glücklich stirbt, entgeht künftigem Unglück. Dies belegt Cicero anhand einiger exempla. Weitere Gründe und Gegengründe folgen in 1,90–94. Anschließend führt Cicero an mehreren Beispiele rechter Todesverachtung vor (1,95–102a). Voran steht Theramenes, der den politischen Wirren im Athen des Jahres 404 v.Chr. zum Opfer fiel.263 Wenn ihm auch der Bericht von seinem Tod264 die Tränen in die Augen treibt, meint Cicero, ist ihm Theramenes dennoch ein Vorbild für ein würdiges Sterben: etsi enim flemus, cum legimus, tamen non miserabiliter vir clarus emoritur, „Auch wenn wir weinen müssen, wenn wir es lesen, so sehen wir doch, dass ein großer Mann nie auf eine jämmerliche Weise 262

S.o. S. 154. Er unterlag in einem Flügelkampf des berüchtigten Dreißigmänner-Kollegiums, das 404/403 v.Chr. in Athen ein Schreckensregiment führte. Sein politischer Gegner Kritias erreichte seine Verurteilung und Hinrichtung. Näheres bei Bengtson, Geschichte 252f. 264 Vgl. Gigon, Cicero 284: „Die Schilderung des Todes des Theramenes deckt sich weitgehend, aber nicht vollständig mit Xen[ophon] Hell[enika]. 2,3,56, so dass wohl eine Zwischenquelle anzunehmen ist.“ 263

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stirbt“ (96). Cicero hat an dieser Stelle die im engeren Sinne philosophische Betrachtung des Todesthemas bereits verlassen265 und bewegt sich auf der Ebene biographischer exempla, wie sie zuvorderst in der Rhetorik reiche Verwendung fanden. Gerade dadurch wird aber der enge Zusammenhang zwischen dem philosophischen und dem soziokulturellen Aspekt antiker Todesdeutung sichtbar: Der Innenseite des im ersten Buch der Tusculanen entwickelten philosophischen Todesverständnisses korrespondiert die biographisch fassbare „Außenseite“ eines würdigen Sterbens. Dass Cicero Theramenes an dieser Stelle als Beispiel anführt, ist insofern stimmig, als er ja seit 1,82 zeigen will, dass der Tod auch dann kein Übel ist, wenn die Seele zusammen mit dem Leib vergeht. Deshalb muss er den Ton ganz auf den Vorgang des Sterbens selbst legen. Dieser hat aber unabhängig von der Frage nach dem Fortleben der Seele insofern einen Wert, als er eine letzte und nun endgültige Steigerung des individuellen Sozialprestiges verspricht. Wer würdig stirbt, setzt damit einen denkbar glorreichen Schlusspunkt seiner eigenen Biographie. Nach Theramenes folgt als zweites exemplum, wohl schon im Rückgriff auf eine ältere Parallelisierung beider Gestalten,266 erneut Sokrates (1,97– 99), hier nun nicht wie in 1,71ff als Autorität für den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, sondern als weiteres Beispiel für die „Ausgeglichenheit eines großen Geistes im Angesicht des Todes“ (maximi animi aequitas in ipsa morte). Cicero gibt in freier Übersetzung Platon, Apol. 40c– 42a wieder267 und resümiert: Ne ego haud paulo hunc animum malim quam eorum omnium fortunas, qui de hoc iudicaverunt, „Diese Gesinnung des Sokrates möchte ich bei weitem dem Glück aller jener vorziehen, die ihn verurteilt haben“ (1,99). Die in der Nähe des Todes bewiesene Größe wiegt schwerer als das Glück weiterzuleben. Nach einem weiteren Argumentationsgang (1,109b–111) schließt Cicero mit einem Epilog (1,112–118), an dessen Ende er den ethischprotreptischen Ertrag des ersten Buches zusammenfasst: Nos vero, si quid tale acciderit, ut a deo denuntiatum videatur ut exeamus e vita, laeti et agentes gratias paremus emittique nos e custodia et levari vinclis arbitremur, ut aut in aeternam et plane in nostram domum remigremus aut omni sensu molestiaque careamus; sin autem nihil denuntiabitur, eo tamen simus animo, ut horribilem illum diem aliis nobis faustum putemus nihilque in malis ducamus, quod sit vel a diis inmortalibus vel a natura parente omnium constitutum. – Wir unsererseits, wenn etwas derartiges geschieht, wodurch uns Gott anzuzeigen scheint, wir möchten das 265 Schon die exempla in 1,98 führt Cicero mit dem Satz ein: Quamquam quid opus est in hoc philosophari, cum rem non magnopere philosophia egere videamus? „Aber wozu brauchen wir in dieser Sache zu philosophieren, wo wir doch sehen, dass die Sache der Philosophie kaum bedarf?“ 266 Gigon, Cicero 284. 267 Gigon, Cicero 284.

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Leben verlassen, wollen heiter und danksagend gehorchen und überzeugt sein, wir würden aus einem Gefängnis entlassen und von Fesseln befreit, um in ein ewiges, wahrhaft uns gehörendes Haus überzusiedeln, oder doch alle Empfindung und allen Kummer hinter uns lassen. Wenn aber Gott nichts anzeigt, so wollen wir doch so gesonnen sein, dass wir jenen für andere schrecklichen Tag für uns gesegnet nennen und nicht als Unglück rechnen, was entweder von den unsterblichen Göttern oder von der Natur, der Mutter Aller, so eingerichtet ist (1,118).

Ausdrücklich wird hier ein philosophisches Todesverständnis als Bestandteil einer vorbildlichen Lebenshaltung angesprochen. Der Fall si quid tale acciderit, ut a deo denuntiatum videatur ut exeamus e vita ist ja nur der einmalige Grenzfall, in dem es philosophisches Todesverständnis zu bewähren gilt. Pflegen wird man diese Haltung auch dann, wenn die Weisung der Gottheit, das Leben zu verlassen, unterbleibt (sin autem nihil denuntiabitur), etwas einfacher gesagt: auch im normalen Leben. Nicht erst in der Situation des Sterbens unterscheidet sich der philosophisch gebildete Charakter von den Übrigen, auch im Leben schon „nennt er jenen für andere schrecklichen Tag gesegnet“, weil er weiß, dass ihn die unsterblichen Götter dann zu sich nehmen werden, oder dass doch wenigstens die Natur dies so zu seinem Guten eingerichtet hat. Obwohl Cicero erkennbar mit der Maximallösung eines Fortlebens der unsterblichen Seele bei den Göttern sympathisiert, lässt er die Entscheidung der metaphysischen Frage offen. Das ethische Etappenziel des ersten Buches, die Überwindung der Todesfurcht, sieht er auch so erreicht. 6.5 Mittelplatonismus: Plutarch Haben wir Plutarch in Kapitel II.3.2 als Biographen kennengelernt, so tritt er nun als hellenistischer Popularphilosoph in unser Blickfeld. Wir greifen aus seinem reichen philosopisch-ethischen Werk eine Stelle aus seiner Schrift De tranquilitate animi (peri; eujqumiva~) heraus. Im 17. und 18. Kapitel (475f–476d) behandelt Plutarch das Thema der Todesfurcht. Zusammen mit den Themen des Gewissens (19. Kapitel) und der Reinigung der Seele (20. Kapitel) bildet dieses Stück den Schluss und die Klimax des Traktats. Dieser nähert sich Plutarch, indem er zunächst einfachere und dann anspruchsvollere ethische Probleme einer philosophischen Lebensführung anspricht.268 Am Ende von Kapitel 17 erörtert er die Möglichkeit des Freitodes in aussichtsloser Lage. Plutarch legt hierbei das Bild vom 268 Vgl. Betz, Writings 203: „Beginning with the relatively easy problems of ethical behaviour, he finds his way through those that are increasingly intricate, until he reaches the heavy subjects of fear of death, conscience, and purification of the soul.“

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Steuermann bzw. Kapitän (kubernhvth~) zugrunde, um „die Gemütsverfassung des Weisen“ (hj tou` fronivmou diavqesi~) einem furchtsamen SichKlammern ans Leben gegenüber zu stellen.269 Der Weise verhält sich nicht so wie ein Steuermann, der bei starkem Sturm die Segel einholt und wie erstarrt „in banger Furcht da[sitzt]“ (trevmwn kavqhtai kai; pallovmeno~). Vielmehr erlaubt es ihm seine Gemütsverfassung, auf nahendes Unglück nicht nur besonnen zu reagieren, sondern auch das Schiff (= den Leib) vorzeitig zu verlassen, wenn keine Rettung mehr möglich ist: ka[n ti~ e[xwqen ajrch; pavqou~ w{sper diadromh; gevnhtai spilavdo~, eujstalei` kai; kouvfhæ keraivaæ parhvnegken w{~ fhsin ÆAsklhpiavdh~: paralovgou dev tino~ kai; megavlou katalabovnto~ kai; krathvsanto~, ejggu;~ oJ limh;n kai; pavrestin ajponhvxasqai tou` swvmato~ w{sper ejfolkivou mh; stevgonto~. – Gesetzt, dass von außen der Anfang eines Übels droht und sich gleichsam von ferne Klippen zeigen, durch die man hindurchfahren muss, so führt sie das Schiff, wie Asklepiades sagt, mit leichtem ausgebreiteten Segel glücklich vorbei. Sollte ihn aber wider Erwarten ein wichtiger Unfall betreffen, dem nicht zu entfliehen wäre, nun so ist der Hafen in der Nähe, und er kann sich von dem Körper, wie von einem lecken Schiffe, durch Schwimmen retten (476a).

Ein solch entschlossenes Handeln ist nur dem Weisen, dem Verständigen möglich. Der Tor dagegen, der Unverständige (ajnovhto~), ist zu einem solch entschlossenen Handeln nicht in der Lage. In Ermangelung eines philosophischen Todesverständnisses hängt er am Leben, weil er den Tod fürchtet: to;n me;n ga;r ajnovhton oJ tou` qanavtou fovbo~ oujc oJ tou` zh`n povqo~ ejkkrevmasqai tou` swvmato~ poiei`, peripeplegmevnon w{sper to;n ÆOdusseva tw`æ ejrinew`æ dedoikovta th;n Cavrubdin uJpokeimevnhn, e[nqÆ ou[te mivmnein a[nemo~ ou[te plei`n eja`æ, kai; pro;~ tau`ta dusarevstw~ kai; pro;~ ejkei`na peridew`~ e[conta. oJ de; th;n th`~ yuch`~ fuvsin aJmwsgevpw~ ejpinow`n kai; th;n eij~ to; bevltion aujth`~ h] mhqe;n kavkion ejn th`æ teleuth`æ metabolh;n ejpilogizovmeno~ ouj mikro;n e[cei th`~ pro;~ to;n bivon eujqumiva~ ejfovdion th;n pro;~ to;n qavnaton ajfobivan. – Den Toren macht nur die Furcht vor dem Tode, nicht die Begierde nach dem Leben vom Körper abhängig. Er umschlingt, wie Odysseus, aus Furcht vor der unter ihm tobenden Charybdis einen wilden Feigenbaum, wo der Wind ihm weder zu bleiben noch fortzuschiffen gestattet. Das eine will ihm nicht mehr behagen, und das andere erweckt ihm Furcht. Wer aber von der menschlichen Seele nur einige Kenntnis hat, wer bedenkt, dass der Tod uns zu einem besseren, oder doch wenigstens nicht schlimmeren Zustande führt, dem wird gewiss auch die Verachtung des Todes eins der trefflichsten Mittel zur Gemütsruhe in diesem Leben darbieten (476b).

Die Haltung des Toren wird hier hinsichtlich ihrer kognitiven, affektiven und intentionalen Seite beschrieben, wobei das fehlende Wissen als Ursa269

Vgl. Broecker, Animadversiones 174: „Diavqesi~ et kubernhvth~ inter se comparantur, qav-

latta et bivo~.“

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che unangemessener Affekte erscheint. Weil der Tor nicht „erkennt“ (ejpinow`n), wie es um die Natur der Seele bestellt ist, und weil er infolge dessen nicht die richtigen „Überlegungen“ über den Tod anstellt (ejpilogizovmeno~), ist er zur Todesverachtung nicht fähig, sieht dem Sterben mit Furcht entgegen und beraubt sich somit jeglicher Seelenruhe (eujqumiva). In der Alternative hJ eij~ to; bevltion aujth`~ (scil. th`~ yuch`~) h] mhqe;n kavkion ejn th`æ teleuth`æ metabolhv klingen deutlich die beiden von Cicero in Tusc. 1 diskutierten Theorien über das postmortale Geschick der Seele an (Fortleben der Seele bei den Göttern oder Erlöschen im Tod). Obwohl Plutarch als Vertreter des Mittelplatonismus die skeptische Attitüde der mittleren Akademie nicht teilt, lässt er doch wie Cicero die metaphysische Frage im Rahmen der ethischen Problemstellung offen. Auch unter dieser Voraussetzung ist es möglich, ein vorbildliches Todesverständnis zu entwickeln. 6.6 Epikureismus Philosophiegeschichtlich stellt der Epikureismus insofern eine Besonderheit dar, als seine Lehre die Jahrhunderte überdauert hat, ohne sich nenneswert weiterzuentwickeln. Die Reinerhaltung der Lehre Epikurs, auf die mit dogmatischer Strenge geachtet wurde, war in seiner straff und hierarchisch organisierten Schule oberstes Gebot. Der Epikureismus, wie er den anderen philosophischen Schule des 1. Jh. koexistierte, lässt sich daher aus den wenigen erhaltenen Schriften seines Begründers zuverlässig rekonstruieren. Die Auseinandersetzung mit dieser Schule ist überall spürbar. So bespöttelt Cicero in Tusc. 1 die philosophische Minimallösung des radiaklen epikureischen Begriffs von Sterblichkeit, doch nimmt er sie immerhin so ernst, dass er sie als Möglickeit durchspielt, wenn er sie nicht gar als Denkmodell für sich selbst in Erwägung zieht. Auch Plutarch hat sich immer wieder mit den Lehren Epikurs auseinandersetzt, und der Stoiker Seneca zitiert sie gelegentlich zustimmend. 6.6.1 Epikur Epikur wurde 341 v.Chr. vermutlich auf Samos geboren, genoss bei dem Platoniker Pamphilos eine philosophische Ausbildung, setzte seine Studien ab 323 v.Chr. in Athen fort und trat seit seinem 32. Lebensjahr als selbständiger Philosophielehrer auf. Er wirkte in Mytilene auf Lesbos, in Lampsakos am Hellespont und schließlich in Athen, wo er 271 v.Chr. starb. Von seinen überaus zahlreichen Werken sind lediglich drei Lehrbriefe und 40 Merksätze zu den Hauptpunkten seiner Lehre vollständig erhalten, dazu einige Fragmente.

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Die Überwindung der Furcht vor dem Tod und der Furcht vor den Göttern nimmt in Epikurs Denken, soweit es die wenigen überlieferten Texte erkennen lassen, eine herausragende Stellung ein. Furcht ist, verstanden als Erwartung künftiger Unlust, ein wesentliches Hindernis für das Erlangen der Eudämonie, und keine Furcht ist radikaler als die vor den Göttern und vor dem Tod. Um der Furcht vor den Göttern entgegenzuwirken, argumentiert Epikur, dass die Götter sich, da sie unsterbliche und selige Wesen sind, unmöglich mit der Weltregierung befassen können und folglich auch nicht strafend in das Tun und Treiben der Menschen eingreifen. Epikur meint, o{ti tavraco~ oJ kuriwvtato~ tai`~ ajnqrwpivnai~ yucai`~ givnetai ejn tw`æ taujta; makavriav te doxavzein ei\nai kai; a[fqarta kai; uJpenantiva~ e[cein touvtoi~ a{ma boulhvsei~ kai; pravxei~ kai; aijtiva~. – dass die stärkste Beunruhigung für die menschlichen Seelen daher kommt, dass man eben diese Wesen [d.h. die Götter] zwar für glückselig und unvergänglich hält, ihnen aber gleichzeitig Wollen, Handeln und Verursachen zuschreibt, was damit in Widerspruch steht (adMen. 81).

Begeht man diesen Denkfehler nicht, wird man auch nicht fürchten, bei Lebzeiten von der Strafe der Götter heimgesucht zu werden. Doch auch der Irrtum ejn tw`æ aijwvniovn ti deino;n h] prosdoka`n h] uJpopteuvein kata; tou;~ muvqou~, „dass man einen ewigen Schrecken erwartet oder doch vermutet auf Grund der Mythen“ (adMen. 81), lässt sich ausräumen: Die Angst vor Jenseitsstrafen im Hades ist dann von vornherein abwegig, wenn man mit Epikur (im Anschluss an Demokrit)270 davon überzeugt ist, dass sich die stofflich beschaffene Seele im Tod in ihre Einzelbestandteile auflöst und somit als empfindendes Subjekt zu existieren aufhört.271 Epikur argumentiert also zum einen mit dem Gottesbegriff (Widerspruch zwischen der Glückseligkeit der Götter und ihrer Teilnahme am Weltgeschehen) und zum anderen auf der Ebene der Physik (atomistische Psychologie). Auf der Grundlage seiner atomistischen Seelenlehre bekämpft Epikur nicht nur die Vorstellung jenseitiger Strafen im Hades, sondern die Furcht vor dem Tod 270 Die von Epikur übernommene demokritische Todesvorstellung ist atomistisch: „Nach Demokrits Lehre besteht der T[od] im Zerfall einer zufällig entstandenen Zusammensetzung von Seelen- und Körperatomen und tritt ein bei mangelnder Zufuhr von bewegenden und beseelenden Atomen“ (Hügli, Tod 1229). 271 Vgl. dazu Rohde, Psyche 331f: „Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persönlichen Lebens zu verzichten. Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Elemente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend. [...] Tritt der Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe vereinten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem Zerfall des Leibes vergehet die aus ihm geschiedene ,Seele‘, im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammengehaltene zerblasen, sie verfliegt ,wie ein Rauch‘ an der Luft. Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht mehr.“

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überhaupt. „Gutes und Schlimmes, so legt Epikur dar, beruhen auf Empfindung, und Empfindung haben wir nur, solange wir leben. Der T[od] ist Verlust jeder Empfindung und kann daher auch nicht empfunden werden“272. Epikurs Losung lautet deshalb: mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton, „dass der Tod uns nichts angeht“ (adMen. 124). Im Kontext dieser Stelle legt Epikur seine Auffassung vom Tod ausführlich dar: sunevqize de; ejn tw`æ nomivzein mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton: ejpei; pa`n ajgaqo;n kai; kako;n ejn aijsqhvsei: stevrhsi~ dev ejstin aijsqhvsew~ oJ qavnato~. o{qen gnw`si~ ojrqh; tou` mhqe;n ei\nai pro;~ hJma`~ to;n qavnaton ajpolausto;n poiei` to; th`~ zwh`~ qnhtovn, oujk a[peiron prostiqei`sa crovnon, ajlla; to;n th`~ ajqanasiva~ ajfelomevnh povqon. oujqe;n gavr ejstin ejn tw`æ zh`n deino;n tw`æ kateilhfovti gnhsivw~ to; mhde;n uJpavrcein ejn tw`æ mh; zh`n deinovn. w{ste mavtaio~ oJ levgwn dedievnai to;n qavnaton oujc o{ti luphvsei parwvn, ajllÆ o{ti lupei` mevllwn. o{ ga;r paro;n oujk ejnoclei`, prosdokwvmenon kenw`~ lupei`. to; frikwdevstaton ou\n tw`n kakw`n oJ qavnato~ oujqe;n pro;~ hJma`~, ejpeidhvper o{tan me;n hJmei`~ w\men, oJ qavnato~ ouj pavrestin, o{tan de; oJ qavnato~ parh`æ, tovqÆ hJmei`~ oujk ejsmevn. ou[te ou\n pro;~ tou;~ zw`ntav~ ejstin ou[te pro;~ tou;~ teteleuthkovta~, ejpeidhvper peri; ou}~ me;n oujk e[stin, oi} dÆ oujkevti eijsivn. – Gewöhne dich an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gute und Schlimme beruht auf der Wahrnehmung. Der Tod aber ist der Verlust der Wahrnehmung. Darum macht die rechte Einsicht, dass der Tod uns nichts angeht, die Sterblichkeit des Lebens genussreich, indem sie uns nicht eine unbegrenzte Zeit dazugibt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit wegnimmt. Denn im Leben gibt es für den nichts schreckliches, der in echter Weise begriffen hat, dass es im Nichtsein nichts Schreckliches gibt. Darum ist jener einfältig, der sagt, er fürchte den Tod nicht, weil er schmerzen wird, wenn er da ist, sondern weil er jetzt schmerzt, wenn man ihn erwartet. Denn was uns nicht belästigt, wenn es wirklich da ist, kann nur einen nichtigen Schmerz bereiten, wenn man es bloß erwartet. Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden an noch die Toten; denn die einen geht er nicht an, und die anderen existieren nicht mehr (adMen. 124f).

Die Position Epikurs unterscheidet sich von allen anderen antiken Denkmodellen in ihrer radikalen Ablehnung jeglicher Spekulationen über ein mögliches postmortales Geschick der Seele. Solche Spekulationen werden als grundlegender Denkfehler kategorisch abgelehnt. Das epikureische Todesverständnis ist damit erst recht vom paulinischen denkbar weit entfernt. Für unsere Fragestellung ist der zitierte Text jedoch gleichwohl von besonderem Interesse, und zwar deshalb, weil das Todesproblem hier ausschließlich im Blick auf seine philosophisch-ethischen Implikationen erörtert wird. Für Epikur ist der Tod konsequent ein Problem der Lebenden, näherhin ein Problem, das dem „Weisen“ (sofov~) zu lösen aufgegeben ist, wenn er sich 272

Hügli, Tod 1229.

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von der „Masse“ (oiJ polloiv, s.u.) unterscheiden will. Epikur zeichnet das geistig-seelische Profil eines philosophischen Todesverständnisses deshalb besonders scharf. Auch das epikureische Ideal lässt sich in kognitive, affektive und intentionale Aspekte aufgliedern.273 Der Schlüssel liegt wiederum (1) auf der kognitiven Ebene: Die anzustrebende Geistes- und Seelenhaltung erschließt sich nur dem, der das Richtige „denkt“ (nomivzei), dem die „rechte Einsicht“ (gnw`si~ ojrqhv) zu eigen ist, und der „in echter Weise begriffen“ hat (kateilhfw;~ gnhsivw~). Auf Grund dieses Wissens ist es (2) möglich, angesichts der „Sterblichkeit des Lebens“ (to; th`~ zwh`~ qnhtovn) eine positive Gestimmtheit zu pflegen: Auch und gerade als sterbliches kann das Leben ajpolaustov~, als „genussreich“ erlebt werden. Die Gestimmtheit des Weisen bezieht sich also nicht auf den Tod, denn dieser geht ihn nichts an, sondern auf die Sterblichkeit als Eigenschaft gelebten Lebens. Dementsprechend bildet (3) der intentionale Aspekt bei Epikur eine Leerstelle. Wenn der Grundsatz mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton gelten soll, verbietet sich jede auf den Tod gerichtete Erwartungshaltung, eine positive ebenso wie eine negative. Das Argument, der Tod verursache Schmerz allein schon als etwas, das bevorsteht (lupei` mevllwn), erweist sich dann als Meinung eines „Einfältigen“ (mavtaio~), denn da uns der Tod nichts angeht, kann er als Gegenstand der Erwartung (prosdokwvmenon) nur einen „leeren Schmerz verursachen“ (kenw`~ lupei`). Wer über den Tod richtig denkt, lässt indes nicht nur die Todesfurcht hinter sich, sondern auch die „Sehnsucht nach der Unsterblichkeit“ (to;n th`~ ajqanasiva~ [...] povqon). Das Eigentümliche der epikureischen Lösung ist also, dass der intentionale Aspekt nicht positiv besetzt, sondern überhaupt als unangemessen ausgeblendet wird. Damit aber verbietet sich auch die Todessehnsucht aus Lebensverdruss, wie sie bei der „Menge“ (oiJ polloiv) oft anzutreffen ist. Diese negativ motivierte Todessehnsucht ist für Epikur um nichts besser als der Affekt der Todesfurcht: ajllÆ oiJ polloi; to;n qavnaton oJte; me;n wJ~ mevgiston tw`n kakw`n feuvgousin, oJte; de; wJ~ ajnavpausin tw`n ejn tw`æ zh`n kakw`n aiJrou`ntai. oJ de; sofo;~ ou[te paraitei`tai to; zh`n ou[te fobei`tai to; mh; zh`n: ou[te ga;r aujtw`æ prosivstatai to; zh`n ou[te doxavzetai kakovn ei\naiv ti to; mh; zh`n. w{sper de; to; sitivon ouj to; plei`ston pavntw~ ajlla; to; h{diston aiJrei`tai, ou{tw kai; crovnon ouj to;n mhvkiston ajlla; to;n h{diston karpivzetai. – Die Menge freilich flieht bald den Tod als das ärgste Übel, bald sucht sie ihn als Erholung von den Übeln im Leben. Der Weise dagegen lehnt weder das Leben ab noch fürchtet er das Nichtleben. Denn weder belästigt ihn das Leben, noch meint er, das Nichtleben sei ein Übel. Wie er bei der Speise nicht einfach die größte Menge vorzieht, sondern das Wohlschmeckendste, so wird er auch nicht

273

S.o. S. 162 zu Xenophon und S. 171 zu Cicero.

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eine möglichst lange, sondern eine möglichst angenehme Zeit zu genießen trachten (adMen. 125f).274

Für Epikur ist aber auch jede Art von expliziter „Sterbe-Ethik“ ausgeschlossen. Da der Tod, sobald er eingetreten ist, nicht mehr Gegenstand des eigenen Erlebens ist, ist es auch gleichgültig, wie er vonstatten geht. Eine irgendwie geartete Vorbereitung aufs Sterben erscheint dann überflüssig. Vielmehr soll der alte Mensch genau das tun, was auch dem jungen zu tun aufgetragen ist, nämlich „das Angenehme des Lebens“ (to; th`~ zwh`~ ajspastovn) genießen: oJ de; paraggevllwn to;n me;n nevon kalw`~ zh`n, to;n de; gevronta kalw`~ katastrevfein, eujhvqh~ ejsti;n ouj movnon dia; to; th`~ zwh`~ ajspastovn, ajlla; kai; dia; to; th;n aujth;n ei\nai melevthn tou` kalw`~ zh`n kai; tou` kalw`~ ajpoqnhvæskein. – Wer aber dazu mahnt, der Jüngling solle edel leben und der Greis edel sterben, der ist töricht, nicht nur weil das Leben liebenswert ist, sondern auch weil die Sorge für ein edles Leben und diejenige für einen edlen Tod eine und dieselbe ist (126).

Die Sorge um einen edlen Tod erledigt sich gewissermaßen von selbst, wenn man nach einem edlen, d.h. aber einem von Todesfurcht und Jenseitshoffnung unbeeinträchtigten Leben strebt. Wenn Epikur also sagt, es sei ein und dasselbe, um ein edles Leben und um einen edlen Tod besorgt zu sein, dann meint er damit das genaue Gegenteil der sokratischen melevth qanavtou. Die philosophische Existenz ist nicht vom Todesproblem her entworfen, sondern von diesem im Idealfall gänzlich unberührt. Aus philosophischer Sicht ist dem Tod am besten damit Genüge getan, dass man ihn ignoriert. Besonders verächtlich ist deshalb die zur Schau getragene Todessehnsucht derer, die das Leben gleichwohl erträglich genug finden, um in ihm zu verharren.275 Wer dauernd betont, wie sehr er sich nach dem Tode sehnt, muss sich fragen lassen, warum er sich dann nicht schon längst umgebracht hat: polu; de; ceivrwn kai; oJ levgwn: kalo;n mh; fu`nai, fuvnta dÆ o{pw~ w[kista puvla~ ÆAivdao perh`sai. eij me;n ga;r pepoiqw;~ tou`tov fhsin, pw`~ oujk ajpevrcetai ejk tou` zh`n; ejn eJtoivmwó ga;r aujtw`æ tou`tÆ ejstivn, ei[per h\n bebouleumevnon aujtw`æ bebaivw~: eij de; mwkwvmeno~, mavtaio~ ejn toi`~ oujk ejpidecomevnoi~. – Noch viel schlimmer steht es mit dem, der sagt: ,Das beste ist, nicht geboren zu sein – wenn man aber geboren ist, so eilig als möglich zu den Toren des Hades zu streben.‘ Wenn er das nämlich aus Überzeugung sagt, warum scheidet er dann nicht aus dem Leben? Dies steht 274 Der Vergleich des Lebens mit der Speise erledigt unter der Hand den Einwand, der Tod sei deswegen zu fürchten, weil er das Erleben von Glück begrenzt. Dieser Einwand ist für Epikur deshalb gegenstandslos, „weil die Lust nicht durch längere Dauer gesteigert werden kann, da sie eine intensive Größe ist. Wie es bei der Auswahl der Speisen nicht so sehr auf die Größe der Portion, sondern auf den Wohlgeschmack ankommt, so ist auch bei der Beurteilung des Lebens nicht das längste, sondern das lustvollste vorzuziehen“ (Hossenfelder, Philosophie 115). 275 S.o. unter II.5.3 zu Martial.

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ihm ja frei, wenn er wirklich zu einem festen Entschlusse gekommen ist. Wenn es aber bloßer Spott ist, so ist es ein einfältiger Spott bei Dingen, die Spott nicht vertragen (127f).

6.6.2 Lukrez, De rerum natura, 3. Buch Das Werk De rerum natura des T. Lucretius Carus (ca. 97 – 55 v.Chr.) ist ein in Hexametern verfasstes Lehrgedicht in sechs Büchern.276 Es ist heute der wichtigste Quellentext der epikureischen Physik und genoss schon in der Antike hohes Ansehen.277 Selbst das frühe Christentum verwendete das Werk für seine Polemik gegen den heidnischen Götterglauben, wenngleich es sein mechanistisches Weltbild bekämpfte.278 Obwohl Lukrez fast nur Fragen der Physik behandelt, ist das ethische Interesse des Verfasser doch auf Schritt und Tritt zu spüren. Als treuer Anhänger der epikureischen Lehre sieht Lukrez in der Furcht vor den Göttern und der Todesfurcht die Grundübel, denen die Philosophie abzuhelfen hat. Er hat es sich, wie er im Proömium zum vierten Buch ausführt, zur Aufgabe gemacht, die „herbe“ Lehre Epikurs in „süße“ Verse zu kleiden, gleich einem Arzt, der den Becher mit bitterer Medizin am Rand mit Honig bestreicht, um ein Kind zum Trinken zu animieren. Die beiden ersten Bücher sind der Entfaltung der physikalischen Grundlagen des epikureischen Systems gewidmet: Das erste Buch behandelt den Begriff des Raumes und der Materie, das zweite die Lehre von Form und Bewegung der Atome. Auf dieser Grundlage befasst sich Lukrez im dritten Buch mit dem Wesen der Seele, die er im Gefolge Epikurs in einen vernunftlosen (anima) und vernünftigen Teil (animus) aufgliedert. Das Programm des Buches – animi natura [...] atque animae claranda – zielt auf die Überwindung der Furcht vor einem dunklen Jenseits: Et quoniam docui, cunctarum exordia rerum / qualia sint et quam variis distantia formis / sponte sua volitent aeterno percita motu, / quove modo possint res ex his quaeque creari, / hasce secundum res animi natura videtur / atque animae claranda meis iam versibus esse / et metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, / funditus humanam qui vitam turbat ab imo / omnia suffundens mortis nigrore neque ullam / esse voluptatem liquidam puramque relinquit. – Und da gelehrt ich ja nun, wie aller Dinge beschaffen / Urkörper sind und wie sie nach wechselnden Formen verschieden / schwirren aus eigenem Trieb, erregt in ewiger Unrast, / und ein jegliches Ding wie’s aus ihnen vermag zu entstehen, / scheint der Reihe hernach das Wesen von Seele und Leben / jetzt nun in meinen Versen erleuchtet werden zu müssen / und vertrieben die Furcht vor dem Acheruns schnellstens von hinnen, / die das menschliche Leben im 276 Das Werk war unvollendet, als Lukrez starb (Hieronymus zufolge endete er durch Selbstmord). Spuren späterer Bearbeitung durch einen Herausgeber – aller Wahrscheinlichkeit nach kein Geringerer als Cicero – nennen Schanz/Hosius, Literatur 273f. 277 Vgl. Schanz/Hosius, Literatur 280.282f. 278 Vgl. Schanz/Hosius, Literatur 281f.

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tiefsten vom Grunde aus aufwühlt, / alles von unten umwölkend mit Todes Schwärze, und keine / Möglichkeit lässt, dass klar und rein eine Freude bestehe (3,31–40).

Ist die Sterblichkeit der Seele erst aus der epikureischen Physik und Psychologie erwiesen, wird die quälende Ungewissheit, ob auf die Seele post mortem nicht doch ein grausames Geschick zukommt, hinfällig. Die lichte Erkenntnis, dass nach dem Tod kein leidensfähiges Subjekt mehr existiert, entwindet das Erdenleben nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Begrenztheit und Endlichkeit der „Schwärze des Todes“ (nigror mortis) und ermöglicht allererst ein Dasein in „reiner Freude“ (voluptas pura). Die Todesfurcht dagegen hüllt das Leben nicht nur in Dunkel, sie treibt die Menschen auch zu allerhand Schandtaten. Lukrez sieht in der unbewältigten Furcht vor dem Tod eine Hauptursache für Habsucht und Ehrsucht, für rastloses Sich-Mühen und Machtstreben: Denique avarities et honorum caeca cupido, / quae miseros homines cogunt transcendere fines / iuris et inter dum socios scelerum atque ministros / noctes atque dies niti praestante labore / ad summas emergere opes, haec vulnera vitae / non minimam partem mortis formidine aluntur. – Schließlich die Habsucht, dazu das blinde Gieren nach Ehren, / welche die armen Menschen zum Übertreten der Grenzen / zwingen des Rechts und, mitunter Gehilfen von Freveln und Bündner, / nachts sich zu mühen und tags, in unermüdlichem Ringen / aufzutauchen zur höchsten Macht: diese Wunden des Lebens / nähren sich nicht zum wenigsten Teil aus der Angst vor dem Tode (3,59–64).

Die Todesfurcht ist für Lukrez also die eigentliche Triebfeder für unmoralisches Handeln. Sie stürzt den Menschen in eine existentielle Verzweiflung, und in dieser Verzweiflung kann er nicht anders, als sich ständig zu bereichern und seine Macht und seine Ehre auf Kosten anderer zu mehren. Das Todesproblem wird damit in nicht mehr zu überbietender Weise entgrenzt zu einer fundamentalen anthropologischen Kategorie. Vom Menschen reden heißt für den Epikureer Lukrez, von seiner Todesfurcht zu reden. Psychologie wird zur Psychopathologie. Der Scharfblick des Dichters reicht sogar so weit, dass er die zerstörerische Wirkung der Todesfurcht noch bis in ihr paradoxes Gegenstück verfolgt, bis hin zu einem Lebenshass nämlich, der im Extremfall in den Selbstmord führt:279 279 Angesichts dieses Gedankens mutet es merkwürdig an, dass sich Lukrez nach einer von Schanz/Hosius, Literatur 272 für zuverlässig gehaltenen Notiz des Hieronymus im besten Alter das Leben genommen haben soll (s.o. Anm. 276). Der Verdacht liegt nahe, dass dieses biographische Detail aus christlicher Warte eine Kernthese epikureischer Philosophie anhand des Lebensweges eines ihrer berühmtesten Vertreter falsifizieren soll: dass auch ohne jedwede Jenseitshoffnung ein vom Todesproblem völlig unberührtes, mit seiner Endlichkeit zufriedenes Leben möglich ist. Zacher, Lukrez 477 sieht in Hieronymus’ Selbstmord-Notiz „nichts anderes als schlechte christliche Polemik“. In 3,943 (s.u. S. 186) ist der Selbstmord keine von Lukrez propagierte Möglichkeit. Mit finem vitae facere ist an dieser Stelle offenbar gemeint, dass der Unzufriedene allen

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Et saepe usque adeo, mortis formidine, vitae / percipit humanos odium lucisque videndae, / ut sibi consciscant maerenti pectore letum / obliti fontem curarum hunc esse timorem: / hunc vexare pudorem, hunc vincula amicitiai / rumpere et in summa pietate evertere suadet: / nam iam saepe homines patriam carosque parentis / prodiderunt vitare Acherusia templa petentes. / nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis / in tenebris metuunt, sic nos in luce timemus / inter dum, nihilo quae sunt metuenda magis quam / quae pueri in tenebris pavitant finguntque futura. – Und oft fasst in solchem Grad aus Schreck vor dem Tode / Menschen des Lebens Hass und Hass, den Tag zu ersehen, / dass sie selber den Tod sich verhängen aus traurigem Herzen, / eingedenk nicht, dass diese Furcht der Quell ist der Qualen: / dass den Anstand sie mitnimmt, die Bande der Freundschaft / sie zerbricht, überhaupt, sie rät frommen Sinn zu entwurzeln. / Denn oft schon hat der Mensch seine Heimat und teueren Eltern / preisgegeben aus Sucht, des Acheruns Hallen zu meiden. / Denn wie die Kinder zittern vor Grauen und alles im blinden / Dunkel fürchten, sind wir bei Tage vor Dingen in Ängsten / manchmal, die man nicht mehr zu fürchten brauchte als das, was / Kinder im Dunkel bebend erwarten und drohend sich vorstelln (3,79–90).

Verurteilt aber die formido mortis den Menschen zum odium vitae, wird sie zum negativen Existential eines falschen Bewusstseins. Ohne die heilsame Erkenntnis der epikureischen Philosophie sind die Menschen in ihrer Wahrnehmung genauso fehlgeleitet und genauso urteils- und handlungsunfähig wie Kinder, die sich im Dunklen fürchten. Sie sind derart befangen in ihrer Furcht, dass sie mit ihrem Leben selbst auch ihre sozialen Wurzeln und Beziehungen (amicitia, patria, parentes) zerstören. Die Überwindung der Todesfurcht als eines das Leben zerstörenden Affekts geschieht nun auf kognitiver Ebene. Durch die rechte Erkenntnis der Natur (naturae species ratioque) sollen der Widersinn und die Gegenstandslosigkeit der Todesfurcht bewiesen werden. Der negative Affekt wird also zunächst nicht direkt bekämpft. Vielmehr soll er sich durch das erlösende Wissen über das Wesen der Seele von selbst erledigen: Hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest / non radii solis neque lucida tela diei / discutiant, sed naturae species ratioque. – Diesen Schrecken nun, dies Dunkel der Seele muss füglich / nicht der Sonnen Strahl noch die hellen Geschosse des Tages / schlagen entzwei, vielmehr Naturbetrachtung und -lehre (3,91–93).

Diese „Naturbetrachtung und -lehre“ füllt die Hauptmasse des dritten Buches (3,94–829). Lukrez will zeigen, das die Seele „vom Menschen ein Teil nicht minder als Hand oder Fuß“ ist (3,96) und im Tode ebenso zerfällt wie die anderen Körperteile auch, wenn diese sich in ihre Einzelatome auflösen, und dass damit der nur als Leib-Seele-Einheit lebensfähige Grund hat, sich in sein Todeslos zu schicken. Oder aber der Dichter will die Inkonsequenz der Klage aus dem Munde des Unzufriedenen dartun: Wenn ihm sein Leben denn gar zu verleidet ist, dann soll er ihm lieber gleich ein Ende setzen. Auf jeden Fall soll er aufhören ,sein sterbliches Leben zu beweinen‘.

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Mensch als empfindendes und denkendes Subjekt zu existieren aufhört. Die epikureische Ganztod-Theorie wird in zahlreichen Beweisgängen, deren detaillierte Analyse im Zusammenhang unserer Fragestellung entfallen kann, untermauert und gegen andere Denkmodelle (Seele als Harmonie; unkörperliche Seele, die sich der Sinnesorgane für die Wahrnehmung bedient, u.a.) verteidigt. Nach einem langen Denkweg kann Lukrez schließlich den alten epikureischen Satz mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton als offenkundige Wahrheit verkünden: Nil igitur mors est ad nos neque pertinet hilum, / quandoquidem natura animi mortalis habetur. / Nichts geht also der Tod uns an und reicht an uns nirgends, / da der Seele Natur sich als sterblich hat nunmehr erwiesen (3,830–831). Mit diesen Versen leitet der Dichter den als Diatribe gestalteten Schlussteil des Buches ein (3,830–1094). Auf der Basis der im Mittelteil gewonnenen theoretischen Erkenntnis werden nun Konsequenzen für das Todesverständis gezogen: Was nach dem Tode geschieht, kann den Lebenden genauso gleichgültig sein wie die Ereignisse vergangener Jahrhunderte, die sie nicht erleben und erleiden mussten, weil sie damals nicht existierten (3,832–842). Selbst für den Fall, dass sich Seelen- und Körperatome nach dem Tod eines Menschen wieder zu einem Lebewesen formieren, so besteht doch keine Kontinuität desselben denkenden und empfindenden Subjekts (3,843–851), wie ja auch jetzt keine Erinnerung mehr an die unendlichen Zeiträume besteht, in denen die eigenen Seelenbestandteile möglicherweise einmal zu anderen Lebewesen früherer Zeiten gehörten (3,852– 860). Die Nichtexistenz und also die Empfindungslosigkeit nach dem Tod verhindert, dass das, was nach dem Tod kommt, als leidvoll erlebt werden kann, da es eben überhaupt nicht erlebt werden kann: Id quoniam mors eximit, esseque prohibet / illum cui possint incommoda conciliari, / scire licet nobis nihil esse in morte timendum / nec miserum fieri qui non est posse, neque hilum / differre an nullo fuerit iam tempore natus, / mortalem vitam mors cum inmortalis ademit. – Da der Tod dies nimmt und es so verhindert, / dass der sei, dem Nachteile zu sich könnten gesellen, / ist uns zu wissen erlaubt, dass nichts ist im Tode zu fürchten, / und dass elend werden nicht kann, wer gar nicht mehr ist dann, / und es kein Unterschied ist, ob niemals ward er geboren, / wenn der unsterbliche Tod hat das sterbliche Leben genommen (3,863–869).

Das Wissen um die Auslöschung des Subjekts im Tod hat also nichts Bedrückendes, im Gegenteil: Es ist ein erlösendes Wissen, das die Macht hat, den stärksten negativen Affekt, die Todesfurcht, zu überwinden. Deshalb kann Lukrez sagen: scire licet nobis nihil esse in morte timendum. Die in Verse gefasste Philosophie Epikurs „erlaubt“ es „uns“, d.h. den philosophisch Gebildeten, ein von der Todesfurcht befreites, ja ein vom Todesproblem überhaupt unberührtes Leben zu führen.

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Lukrez sieht es deshalb als Torheit an, sich um seinen toten Leib zu sorgen und bei der Vorstellung zu erschaudern, dass er der Verwesung, den Zähnen wilder Tiere oder den Flammen zum Opfer fällt (870–888). Genauso töricht ist eine Totenklage, die den Zustand des Verstorbenen als leidvoll ansieht, weil dieser nun die Gemeinschaft mit denen entbehrt, die ihm nahe standen (894–899). Es beruht auf einem fundamentalen Denkfehler, einen Toten zu beklagen, weil der angenommene beklagenswerte Zustand desselben irrtümlich seine Existenz voraussetzt: Illud in his rebus non addunt, „nec tibi earum / iam desiderium rerum super insidet una“ / quod bene si videant animo dictisque sequantur, / dissolvant animi magno se angore metuque. – Das aber fügen sie nicht hinzu: „Es sitzt dir auch nicht mehr / nach diesen Dingen hernach zugleich die Sehnsucht im Herzen“ / Sähen sie klar das im Geist und folgten dem auch in den Worten, / machten sie frei sich von großer Furcht und Beklemmung des Geistes (3,900–903).

Sobald der Geist (animus) zu der Einsicht kommt (videt), dass das Subjekt, das Sehnsucht (desiderium) empfinden könnte, genau in dem Moment zu existieren aufhört, wenn sich die Sehnsucht allererst einstellen könnte, ist er von Beklemmung (angor) und Besorgnis (metus) befreit. Doch auch eine Klage aus der Diesseitsperspektive, die die Begrenztheit des Daseins nicht akzeptieren will, weil sie die Glücksmöglichkeiten beschneidet, geht fehl. Entweder, jemand hat das Leben in vollen Zügen genossen, dann, so ruft ihm Lukrez mit der „Stimme der Natur“ (vox natura rerum, 3,931) zu, soll er sich wie ein satter Gast von der Veranstaltung des Lebens verabschieden. Oder aber das Glück ist ihm immerfort zwischen den Fingern zerronnen, was soll dann eine Verlängerung der Lebenszeit, die doch diesen unerquicklichen Zustand nur prolongieren würde: Quid tibi tanto operest, mortalis, quod nimis aegris / luctibus indulges? quid mortem congemis ac fles? / nam [si] grata fuit tibi vita ante acta priorque / et non omnia pertusum congesta quasi in vas / commoda perfluxere atque ingrata interiere; / cur non ut plenus vitae conviva recedis / aequo animoque capis securam, stulte, quietem? / sin ea quae fructus cumque es periere profusa / vitaque in offensost, cur amplius addere quaeris, / rursum quod pereat male et ingratum occidat omne, / non potius vitae finem facis atque laboris? – Was hast so sehr du Grund, o Sterblicher, dass du zu düstren / Klagen huldigst? Was bejammerst den Tod du und beweinst du? / Denn wenn das Leben dir liebgewesen, das früher geführte, / und nicht alle Genüsse, in leckre Gefäße geschüttet / gleichsam flossen hindurch und danklos wurden zunichte, / warum gehst du nicht fort als ein Gast des Lebens, gesättigt, / und ergreifst nicht, o Tor, mit Gleichmut sichere Ruhe? / Wenn aber, was du genossen, verschwendet ging dir zugrunde, / und das Leben dir leid, was willst du mehr noch hinzutun, / dass es schlecht wieder ganz vergehe und danklos versinke, / setzest nicht lieber ein Ende des Lebens und damit der Mühe? (3,933–943).

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Entweder ist der Tod somit der angemessene Abschluss eines reichen Lebens oder aber das willkommene Ende einer unfreiwillige Leidensexistenz. Auch für den, der sein Leben genossen hat, ist der bevorstehende Tod kein rechtmäßiger Grund, das eigene Los zu beklagen, denn der Tod bietet dem Lebenden immerhin Gewähr, dass einem glücklich zu Ende gebrachten Erdendasein kein Unheil mehr droht. Insofern gewährt der Tod „sichere Ruhe“ (quies secura), und es gilt, das Sterben als einen Vorgang zu verstehen, in dem man diese Ruhe „ergreift“ (capere), und zwar folgerichtig „mit Gleichmut“ (aequo animo). Wer diese Geisteshaltung nicht kultiviert, ist töricht (stultus). Es gibt also bei Lukrez kein Drittes außer dem Toren und dem Philosophen. Der schroffe Gegensatz ist zwar nur idealtypisch gedacht und nicht absolut wie in der jüdisch-christlichen Apokalyptik, doch sind die Wertungen, die sich mit der Frage, ob jemand den Anforderungen des weltanschaulichen Systems entspricht oder nicht, gleichermaßen gravierend, und der ethische Anspruch, der an die Anhänger der Heilslehre gestellt wird, ist gleichermaßen hoch. Besonders im Alter hat sich das epikureische Weltbild und Todesverständnis zu bewähren. Der Epikureer weiß sich nach einem reichen Leben zu bescheiden und klagt nicht, wenn es zu Ende geht. Unvollendet scheint das Leben allein demjenigen, der immer nur mehr will, stets unzufrieden ist mit dem, was er hat, und sein Begehren ständig auf die Dinge richtet, die er nicht hat: Aufer abhinc lacrimas, baratre, et compesce querellas. / omnia perfunctus vitai praemia marces; / sed quia semper aves quod abest, praesentia temnis, / inperfecta tibi elapsast ingrataque vita, / et nec opinanti mors ad caput adstitit ante / quam satur ac plenus possis discedere rerum. / nunc aliena tua tamen aetate omnia mitte / aequo animoque, agedum, validis concede: necessest. – Weg mit den Tränen, du Schlund, und bezähme das Heulen! / Alles, was köstlich im Leben hast du gehabt und verwelkst nun. / Aber weil stets du begehrst, was nicht da ist, was da ist, missachtest, / unvollendet ist dir und unhold das Leben entronnen, / und es stellte dir wider Erwarten der Tod sich zu Häupten, / ehe du satt und erfüllt von den Dingen zu scheiden vermöchtest. / Jetzt aber lass, was fremd deinem Alter, doch alles von dir / und mit Gleichmut – wohlan! – den Kräftigen weich’: Es ist Not jetzt (3,954–962).

Wer im Alter den Eindruck hat, er müsse das Leben unvollendet zurücklassen und der Tod ereile ihn zur Unzeit, offenbart damit nur seine eigene Maßlosigkeit. Solche Unruhe des Geistes, solches Jammern und Klagen ist ein Gebaren, das dem Alter „fremd“ sein sollte. Statt dessen soll man sich, wie Lukrez nochmals fordert, „mit Gleichmut“ (aequo animo) auf die unausweichliche Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit des Todes einstellen. Gegen Ende des dritten Buches redet der Dichter seinen fiktiven Adressaten nochmals mit besonderer Eindringlichkeit an. In Anspielung an die Parallele Schlaf/Tod fragt er ihn, was er denn gegen den Tod habe, wo er

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doch schon einen großen Teil seines Lebens verschlafe. So ernst könne es ihm mit seinem Lebenshunger doch nicht sein, da er keine Gelegenheit für ein Schläfchen ungenutzt lasse und in den Tag hinein träume: Tu vero dubitabis et indignabere obire? / mortua cui vita est prope iam vivo atque videnti, / qui somno partem maiorem conteris aevi, / et viligans stertis nec somnia cernere cessas / sollicitamque geris cassa formidine mentem / nec reperire potes tibi quid sit saepe mali, cum / ebrius urgeris multis miser undique curis / atque animo incerto fluitans errore vagaris. – Du aber möchtest zaudern und willst dich entrüsten zu sterben? / Dem das Leben fast schon wie der Tod, ob du lebtest noch und siehst noch, / der du den größeren Teil des Lebens mit Schlafen vergeudest / und im Wachen schnarchst, nicht Träume zu sehen je aufhörst, / und deinen Sinn in Aufregung hältst aus nichtigem Schrecken, / oft zudem nicht zu finden vermagst, welch Übel dich martert, / wenn du, elend, bedrückt wirst im Trunke von zahlreichen Sorgen / überall her und im Geist umherschwimmst in planlosem Irren (3,1045–1053).

Das Psychogramm dessen, der unreflektiert dahinlebt und sich von der Unruhe seiner Seele bestimmen lässt, anstatt nach den Wurzeln dieser Unruhe zu forschen, wird hier nochmals scharf profiliert: Er „zaudert“ (dubitat) und „entrüstet sich“ (indignatur), wenn es ans Sterben geht. Zeitlebens hat er einen „aufgeregten Sinn“ (sollicita mens), weil er in „nichtigem Schrecken“ (cassa formido) befangen ist. Über die Ursache des ihn quälenden Übels, ein falsches Todesverständnis nämlich und daraus resultierend ständige unterschwellige Todesfurcht, ist er sich nicht im Klaren. Er ist deshalb elend (miser) und, weil ihn die Sorgen zahlreich und von allen Seiten bedrängen, gleichsam betrunken (ebrius). Sein Geist (animus) ist unstet und von „planlosem Irren“ (incertus error) beherrscht. Die epikureische Philosophie nötigt, soweit sie das Todesproblem betrifft, sicherlich auch dem Respekt ab, der ihr materialistisches Weltbild nicht teilt. Im Unterschied etwa zu den untersuchten Texten aus Ciceros Tusculanen, die ungeachtet der philosophischen Themenstellung stets auch das rhetorische Genie ihres Verfassers zur Geltung bringen sollen, spricht aus Lukrez’ Versen ein hoher sittlicher und existentieller Ernst, der unter der Voraussetzung radikaler Diesseitigkeit eine Lebensphilosophie propagiert, die ein mit der unabwendbaren Endlichkeit des menschlichen Daseins versöhntes Existenzverständnis zu ermöglichen verspricht. Im antiken Diskurs um ein philosophisch verantwortetes Todesverständnis hat Lukrez ohne Zweifel Maßstäbe gesetzt: Durch seine mit großem psychologischem Scharfblick durchgeführte Daseinsanalyse, die die gravierendsten Entstellungen des menschlichen Charakters vom Todesproblem her deutet, aber auch durch die Unduldsamkeit und Unerbittlichkeit, mit der der Philosoph und Dichter gegen jede Erscheinungsform unbewältigter Todesfurcht vorgeht. Wenngleich sich die epikureische Psychologie im Ergebnis nicht gegen den unkörperlichen Seelenbegriff des Platonismus hat durchsetzen

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können, ist doch anzunehmen, dass sich das frühe Christentum als Erlösungsreligion hinsichtlich der Bewältigung des Todesproblems am epikureischen Maßstab messen lassen musste und selbst gemessen hat. 6.7 Stoa Der Seelenbegriff der Stoa steht gleichsam in der Mitte zwischen dem epikureischen und dem platonischen: Mit dem Epikureismus teilt die Stoa die Anschauung von der stofflichen Beschaffenheit der Seele, mit dem Platonismus dagegen den Gedanken, dass die Seele den Leib (wenngleich nicht zeitlich unbegrenzt) überdauert. Von den Tieren unterscheidet sich der Mensch durch das Vernunftvermögen, die Seele dagegen hat er mit diesen gemein. Sie ist körperlich und besteht aus wärmehaltigem Pneuma, das den Leib durchdringt, ihn zusammenhält und ihm Leben verleiht. Die Seele ist sterblich, vergeht aber nicht mit dem physischen Tod. Sie kann ohne Hilfe des Körpers fortbestehen, löst sich jedoch irgendwann in ihre stofflichen Bestandteile auf und endet spätestens beim nächsten Weltenbrand.280 Das radikale ethische Ideal des apathischen Weisen hat die spätere Stoa aufgegeben. Nicht mehr die Apathie ist für die Späteren die erstrebenswerte Seelenverfassung, sondern die Euthymie, ein Begriff, der uns in den vorangegangenen Kapiteln bereits mehrfach im Kontext biographischer Sterbeszenen begegnet ist. Für die Stoa ist das Todesproblem gewissermaßen der äußerste Ernstfall, an dem sich stoische Ethik zu bewähren hat. Ein anonymes Fragment zur stoischen Philosophie bringt dies wie folgt auf den Begriff:281 oiJ Stoikoi; filovsofoi [...] th;n filosofivan uJpevlabon melevthn ei\nai tou` fusikou` qanavtou. – Die stoischen Philosophen sahen in der Philosophie die Sorge um den leiblichen Tod.

Die Konzentration des philosophisch-ethischen Diskurses auf das Todesproblem ist bei Seneca und Epiktet mit Händen zu greifen. Wir widmen uns nachfolgend Seneca als Zeitgenossen des Paulus in einiger Ausführlichkeit (II.6.7.1) und behandeln anschließend Epiktet, der gut zwei Generationen später wirkte, in einem kürzeren Kapitel (II.6.7.2). 6.7.1 Seneca Lucius Annaeus Seneca (um 4 v.Chr. bis 65 n.Chr.) wurde als Sohn des römischen Rhetors gleichen Namens, bekannt als Seneca der Ältere, im 280 281

Hossenfelder, Philosophie 83f. Text bei von Arnim, Fragmenta, Bd. 3, fr. 768. Übersetzung: Benz, Todesproblem 87.

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spanischen Cordoba geboren und erhielt in Rom eine gründliche Ausbildung in Rhetorik und Philosophie. Dort gelangte Seneca als Advokat, Quästor und Senator zu großem Ansehen. Aufgrund einer Hofintrige wurde er im Jahr 41 n.Chr. nach Korsika verbannt, 49 n.Chr. jedoch wieder zurückgerufen und mit der Erziehung Neros, des Adoptivsohns von Kaiser Claudius, beauftragt. Ein Jahr später avancierte er zum Prätor und schließlich zum Konsul. Nachdem Nero nach Claudius’ Tod im Jahr 54 n.Chr. den Kaiserthron bestiegen hatte, gehörte Seneca zu seinen engsten Beratern. Neros moralisches und maßvolles Verhalten während der ersten fünf Jahre seiner Herrschaft war vor allem sein Verdienst und das des Sextus Afrikanus Burrus (gestorben 62 n.Chr.): Gemeinsam hatten sie bis 59 maßgeblichen Einfluss auf die Reichspolitik. 65 n.Chr. wurde Seneca der Beteiligung an der pisonischen Verschwörung gegen Nero bezichtigt und noch im selben Jahr zum Selbstmord gezwungen. Sein literarisch höchst fruchtbares philosophisches Schaffen steht stilistisch der kynischen Diatribe nahe, greift nicht selten eklektisch auf epikureisches, peripatetisches und platonisches Gedankengut zurück, ist in der Hauptsache aber stoischer Prägung. Stoisch ist auch Senecas ausgesprochenes Interesse am Todesproblem, zu dem er sich in zahlreichen Schriften äußert. 6.7.1.1 Trostschrift Ad Marciam Wir werfen eingangs einen kurzen Blick auf die Trostschrift Ad Marciam. Seneca äußert sich in dieser Schrift abfällig über die Todesvergessenheit von Menschen, die ihr Leben scheinbar völlig unangefochten von ihrer Sterblichkeit dahinleben, die aber, wenn sie mit dem Tod, gar mit ihrem eigenen konfrontiert werden, gänzlich die Fassung verlieren. Solche Todesvergessenheit steht zwar der ständigen Todesfurcht scheinbar diametral entgegen, doch lässt sie den Tod, wenn man ihm unvorbereitet begegnet, nur um so schrecklicher erscheinen. Die Todesvergessenheit führt zunächst dazu, dass nihil nobis mali antequam eveniat proponimus, sed ut immunes ipsi et aliis pacatius ingressi iter alienis non admonemur casibus illos esse communes. tot praeter domum nostram ducuntur exequiae: de morte non cogitamus; tot acerba funera: nos togam nostrorum infantium, nos militiam et paternae hereditatis successionem agitamus animo. – wir uns nichts von dem Unglück, bevor es geschieht, vorstellen, sondern, als seien wir selber unverletzlich und gingen weniger gefährdet als andere unseren Weg – uns durch fremde Schicksalsschläge nicht daran erinnern lassen, dass sie [den Menschen] gemeinsam sind. So viele Leichenzüge werden an unserem Haus vorbeigeführt: an den Tod denken wir nicht; so viele bittere Bestattungen: wir haben die Toga unserer Kinder, ihren Kriegsdienst und ihren Eintritt ins väterliche Erbe im Kopf (9,1–2).

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Diese unbekümmerte Daseinshaltung rächt sich, wenn sich plötzlich Unglück ereignet: magis corruamus, quia ex inopinato ferimur, dann „brechen wir [...] noch mehr zusammen, weil wir unvermutet getroffen werden.“ Der Weise dagegen beachtet, was für den Tod wie für Schicksalsschläge überhaupt gilt: quae multo ante praevisa sunt, languidius incurrunt, „was lange vorher vorausgesehen ist, greift uns weniger heftig an.“ 6.7.1.2 De brevitate vitae Deutlichere Worte über die naive Todesvergessenheit des Durchschnittsmenschen findet Seneca in Brev. 3,4–5. Hier rügt er die verbreitete und sogar bei den Großen der römischen Geschichte anzutreffende Haltung, die wesentlichen Dinge des Lebens stets in eine ferne Zukunft zu verschieben, obwohl man bei nüchterner Überlegung bezweifeln müsste, dass man diese Zukunft überhaupt noch erleben wird. Diesen Menschen wirft Seneca vor: Tamquam semper victuri vivitis, numquam vobis fragilitas vestra succurrit, non obseruatis quantum iam temporis transierit; velut ex pleno et abundanti perditis, cum interim fortasse ille ipse qui alicui vel homini vel rei donatur dies ultimus sit. – Als ob ihr immer leben würdet, lebt ihr, niemals kommt euch eure Gebrechlichkeit zu Bewusstsein, nicht nehmt ihr wahr, wieviel Zeit schon vergangen ist; als sei sie Fülle und Überfluss, verschwendet ihr sie, obwohl inzwischen vielleicht eben der Tag, den ihr irgendeinem Menschen oder einer Sache schenkt, der letzte ist (3,4).

Nur wer sich ständig in solch falscher Sicherheit wiegt, wird unbekümmert die Besinnung auf sich selbst und auf das Wesentliche des Lebens auf das sechste und siebte Jahrzehnt verschieben (3,5). Seneca nennt dies stulta mortalitatis oblivio, „törichtes Vergessen der Sterblichkeit“ (3,5). In 4,1– 6,4 folgt eine lange Exemplareihe, die mit keinem Geringeren als Augustus anhebt und große Gestalten vorführt, die vor lauter Geschäftigkeit und Sorge um ihren Machterhalt nie Zeit zur Muße gefunden und ihr Leben dadurch im Grunde verfehlt haben. Immerhin bescheinigt ihnen Seneca, dass sie „auf ehrenvolle Weise im Irrtum“ waren (speciose [...] errant; 7,1) jedenfalls im Vergleich mit denjenigen, die ihr Leben in besinnungsloser Fresserei und Unzucht zugebracht haben. Ein Mittel gegen solche gedankenlose Geschäftigkeit oder Genusssucht wäre, das Leben als etwas zu begreifen, das man allererst lernen muss, und dazu würde dann auch gehören, das man sterben lernt: Vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum est mori. – Leben muss man das ganze Leben lernen und, worüber du mehr vielleicht dich wundern wirst, das ganze Leben muss man sterben lernen (7,3).

Wer sich dieser Aufgabe entzieht, wird ganz vom „Zwiespalt der Seelenregungen“ (discordia affectuum) beherrscht, dergestalt, dass er einerseits die Zeit wie ein wertloses Gut verachtet und für allerhand materielle Dinge ver-

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schwendet, andererseits aber um jede Stunde bettelt, wenn es ans Sterben geht (8,2). Diese Haltung findet Seneca besonders bei alten Menschen, bei Greisen etwa, die ihr Alter niedriger angeben, als es der Wahrheit entspricht, in der irrigen Meinung, sie könnten außer sich selbst auch das Schicksal täuschen. Die Vergeblichkeit dieses Unterfangens tritt dann zutage, wenn sich Schmerzen und körperliche Gebrechen einstellen, die an den Tod gemahnen: Iam vero cum illos aliqua imbecillitas mortalitatis admonuit, quemadmodum paventes moriuntur, non tamquam exeant de vita sed tamquam extrahantur. – Vollends aber, wenn sie irgendeine Schwäche an ihre Sterblichkeit erinnert hat, wie sterben sie zitternd, nicht als ob sie aus dem Leben gingen, sondern gerissen würden (11,1).

Die correctio non tamquam exeant de vita sed tamquam extrahantur qualifiziert dieses Sterben als passiven Vorgang, als ein Geschehen, das unfreiwillig und mit Angst erlitten wird, und zwar zur Schande des Sterbenden, der damit letztmalig und letztgültig seinen Mangel an Weisheit unter Beweis stellt. Die Alternative zu solchem „Fortgerissenwerden“ wäre ein selbstmächtiges „Fortgehen“ (exire), wie es dem Weisen offen steht. Das Leben des Weisen ist, ganz gleich, wann es endet, immer lang genug, weil er im Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit jeden Tag intensiv zu leben versteht, et ideo, quandoque ultimus dies venerit, non cunctabitur sapiens ire ad mortem certo gradu, „und deshalb – wann immer der letzte Tag gekommen ist – wird nicht zögern der Weise, in den Tod zu gehen mit festem Schritt“ (11,2). Wieder begegnet uns hier das Todesproblem als zentrales Element einer philosophisch verantworteten Daseinshaltung. Ob jemand als Weiser gelten kann, entscheidet sich wesentlich an seinem Todesverständnis, denn nur von einem solchen Todesverständnis her ist auch eine angemessene Lebensphilosophie möglich. Umgekehrt wird sich diese Lebensphilosophie in der Weise des Sterbens (in rhetorischer Terminologie gesprochen: im trovpo~ th`~ teleuth`~ bzw. modus mortis) auswirken. Je nachdem, ob jemand bei Lebzeiten zu einer philosophisch reflektierten und verantworteten Auffassung von Sterben und Tod gelangt ist oder nicht, wird sich sein Sterben als ein „Fortgehen“ mit festem Schritt oder aber als ein „Fortgerissenwerden“ unter Schrecken vollziehen. 6.7.1.3 De tranquilitate animi Geht es Seneca in De brevitate vitae um eine falsche Todesvergessenheit, so kritisiert er in De tranquilitate animi eine gegenteilige, jedoch nicht minder verwerfliche Daseinshaltung, nämlich eine Todessehnsucht aus Überdruss. Wer ständig auf der Suche nach neuen Eindrücken, Erlebnissen und Genüssen ist und schließlich feststellen muss, dass es nichts mehr gibt,

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was ihn von seiner existentiellen Langeweile befreien kann, wird im Extremfall seinem Leben ein Ende setzen: Hoc quosdam egit ad mortem: quod proposita saepe mutando in eadem revolvebantur et non reliquerant novitati locum, fastidio esse illis coepit vita et ipse mundus, et subiit illud tabidarum deliciarum: ,quousque eadem?‘ – Das hat manche in den Tod getrieben: Weil sie durch häufigen Wechsel ihrer Absichten auf dasselbe zurückkamen und nicht übrig gelassen hatten für die Neuheit einen Platz, begann ihnen überdrüssig zu werden das Leben und die Welt selber, und es stellte sich die Frage innerlich faulen Genusslebens: ,Wie lange noch dasselbe?‘ (2,15).

An späterer Stelle spricht Seneca in aller Deutlichkeit aus, was für Menschen es sind, die ihr eigenes Leben durch solche und andere Fehlhaltungen selbst zu Grunde richten: Ad imperfectos et mediocres et male sanos hic meus sermo pertinet, non ad sapientem, „Auf Unvollkommene und Mittelmäßige und geistig nicht ganz Gesunde bezieht sich diese meine Rede, nicht auf den Weisen.“ (11,1). Diese Unvollkommenen und Mittelmäßigen fordert Seneca auf, das Leben als Leihgabe des Schicksals und der Natur anzusehen, mit dieser Leihgabe sorgfältig und verantwortungsvoll umzugehen und sie, wenn es gefordert wird, ohne Zögern zurückzugeben. Wer dies beherzigt, wird weder sich selbst noch sein Leben als wertlos erachten, quia scit se suum non esse; sed omnia tam diligenter faciet, tam circumspecte, quam religiosus homo sanctusque solet tueri fidei commissa. quandoque autem reddere iubebitur, non queretur cum fortuna, sed dicet: ,gratias ago pro eo quod possedi habuique‘ – weil er weiß, dass er nicht sein Eigentum ist; sondern alles wird er so sorgfältig tun, so umsichtig, wie ein gewissenhafter und integrer Mann zu bewahren pflegt, was ihm anvertraut. Wann immer er aber es zurückzugeben geheißen wird, hadert er nicht mit dem Schicksal, sondern wird sagen: ,Dankbar bin ich für das, was ich besessen und gehabt habe. Um großen Zins freilich habe ich deinen Besitz gepflegt, aber weil du so gebietest, gebe ich es hin, füge ich mich dankbar und willig‘ (11,2–3).

Das Schicksal wird hier zu einer Leben und Tod übergeordneten Instanz, der sich der homo religiosus sanctusque verantwortlich weiß. Sterben ist für ihn nur ein Spezialfall der schon während seines ganzen Lebens bestimmenden Verantwortlichkeit gegenüber dem Schicksal. Das bereitwillige Sterben ist als Akt der Rückgabe eines geliehenen Gutes nichts weiter als der letzte in einer langen Reihe von Situationen, in denen sich ein treuer und gewissenhafter Umgang mit der leihweise anvertrauten Gabe des Lebens zu bewähren hat. Wo Sterben nicht in dieser Relation zur Instanz des Schicksals begriffen wird, kann auch das Leben nicht gelingen: Male vivet quisquis nesciet bene mori, „Schlecht wird leben, wer immer nicht weiß, gut zu sterben“ (11,4). Hinzu kommt, dass, wer die Kunst zu Sterben nicht beherrscht, eine

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äußerst schlechte Figur seinen Mitmenschen gegenüber macht. Seneca verdeutlicht dies am Beispiel von Gladiatoren, die im Kampf alles daran setzen, ihre Haut zu retten und sich damit die Verachtung des Publikums zuziehen: Gladiatores [...] invisos habemus, si omni modo vitam impetrare cupiunt; favemus, si contemptum eius prae se ferunt. idem evenire nobis scias: saepe enim causa moriendi est timide mori. fortuna illa, quae ludos sibi facit: ,quo, inquit, te reservem, malum et trepidum animal? eo magis convulneraberis et confodieris, quia nescis praebere iugulum‘. – Gladiatoren [...] halten wir für hassenswert, wenn sie auf jederlei Weise ihr Leben zu retten bestrebt sind; gewogen sind wir ihnen, wenn sie Verachtung dafür bezeugen. Dasselbe geschieht mit uns, sollst du wissen: Oft nämlich ist es Ursache zu sterben, furchtsam zu sterben. Jenes Schicksal, das sich ein Spiel veranstaltet, sagt: ,Wozu soll ich dich retten, du elendes und zitterndes Lebewesen? Desto eher wirst du verwundet und durchbohrt, weil du nicht darzubieten weißt deine Kehle‘ (11,4–6).

Die Verachtung der fortuna für den, der vor dem Sterben zurückschreckt, reflektiert, indem sie dem Missfallen des Circuspublikums an mangelnder gladiatorischer Verwegenheit nachgebildet ist, die im antiken griechischen wie römischen Kulturkreis in Geltung stehende und in zahlreichen Texten unterschiedlichster Literaturgattungen seit der klassischen Antike dokumentierte Negativwertung fehlender Todesbereitschaft. Der zitierte Passus bestätigt damit einmal mehr die These, dass der antike philosophische Diskurs über das Todesproblem und der gesellschaftliche Diskurs über würdiges und unwürdiges Sterben zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Todesverständnis und Todesgeschick sind als Prüfsteine eines philosophischen Charakters zugleich elementare Parameter für das individuelle Sozialprestige. Seneca fügt in die philosophische Erörterung denn auch häufig exempla ein, in denen würdiges Sterben als moralischer Sieg derer vorgeführt wird, die im gesellschaftlichen Machtkampf unterliegen. In Tranq. 14,4–10 etwa schildert er ausführlich die noble Geisteshaltung des Canus Julius, eines Opfers der Willkürherrschaft Caligulas. Als ihm Caligula zusichert, er werde ihn nicht hinrichten lassen, weiß er, dass seine Stunde geschlagen hat, denn eine solche Äußerung dieses Herrschers war bisher noch immer der sicherste Hinweis, dass das genaue Gegenteil eintreten würde. Canus Julius antwortet hintergründig und mit überlegener Ironie und wartet ruhig ab, bis ihn nach zehn Tagen sein Schicksal ereilt. Als er festgenommen wird, ist er gerade in ein Brettspiel vertieft. Er ermahnt seinen Spielpartner scherzhaft, er solle seinen baldigen Tod nicht zum Anlass nehmen zu schummeln, und ruft den anwesenden Hauptmann als Zeugen an, dass er, Canus, bei Abbruch des Spiels einen Stein im Vorsprung war. Dieses Spiel, meint Seneca, war eine Verhöhnung dessen, der ihn zum Tode verurteilt hat. Als er zur Richtstätte geführt wird, äußert er gegenüber seinem Hausphilosophen, er verstehe sein Sterben als eine Art philosophisch-wissenschaftlichen Selbst-

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versuch, der Aufschluss darüber geben soll, was die Seele wohl empfindet, wenn sie den Körper verlässt. Seneca rühmt dieses Verhalten mit Überschwang: Ecce in media tempestate tranquillitas, ecce animus aeternitate dignus, qui fatum suum in argumentum veri vocat, qui, in ultimo illo gradu positus, exeuntem animam percontatur, nec usque ad mortem tantum, sed aliquid etiam ex ipsa morte discit: nemo diutius philosophatus est. non raptim relinquetur magnus vir et cum cura dicendus. – Siehe, mitten im Sturm Ruhe, siehe, eine Seele, der Ewigkeit würdig, die ihr Schicksal zu einem Beweismittel der Wahrheit aufruft, die, auf jener letzten Stufe stehend, das Scheiden der Lebenskraft erforscht und nicht nur bis zum Tode, sondern auch etwas aus dem Tode selber lernt: Niemand hat länger Philosophie getrieben. Nicht wird hastig beiseite gelassen dieser bedeutende Mann, von dem man mit Hochachtung zu sprechen hat (14,10).

Die philosophische Bildung des würdig Sterbenden hat also in der souveränen Geringachtung der Mächtigeren in der Situation des eigenen Unterliegens ihre biographisch beschreibbare Außenseite. Für Seneca selbst wurde dieser Aspekt des Todesproblems gegen Ende seines Lebens zunehmend virulent. Nachdem er sich mit seinem ehemaligen Zögling Nero überworfen und sich 62 n.Chr. endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hatte, musste er ständig damit rechnen, dass ihn die Willkür Neros das Leben kosten würde. Außerdem nötigte ihn die Erfahrung erneuten völligen Machtverlusts nach den Exilsjahren 41–48 n.Chr. einmal mehr zu einer Lesart stoischer Philosophie, die das eigene gesellschaftliche Scheitern als freiwilligen Rückzug in die reine Geistestätigkeit interpretiert und damit rechtfertigt. Der Zielpunkt dieser Denkbewegung ist ein bejahtes und philosophisch verantwortetes Sterben als moralischer Triumph des Unterlegenen. Hierbei dient Seneca immer wieder die Gestalt Catos, auf die wir im Verlauf dieser Untersuchung schon bei Plutarch und Cicero gestoßen sind, als leuchtendes Vorbild. 6.7.1.4 De providentia In Prov. 2,9–12 verherrlicht Seneca den Tod Catos als einen Vorgang, der sich deshalb so lange hingezogen hat, weil die Götter dem Schauspiel seines tapferen Sterbens möglichst lange beiwohnen wollten.282 Dies ist der Grund dafür dass Catos Versuch, sich mit dem Schwert das Leben zu nehmen, fehlschlug und er schließlich dadurch zu Tode gekommen ist, dass er sich eigenhändig die Gedärme herausgerissen hat. Seneca kommentiert dies folgendermaßen: Liquet mihi cum magno spectasse gaudio deos, dum ille vir, acerrimus sui vindex, alienae saluti consulit et instruit discedentium fugam, dum studia etiam nocte ultima 282

Vgl. auch die dramatische Schilderung seines Todes in EpMor. 24,6–8.

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tractat, dum gladium sacro pectori infigit, dum viscera spargit et illam sanctissimam animam indignamque quae ferro contaminaretur manu educit. inde crediderim fuisse parum certum et efficax vulnus: non fuit dis inmortalibus satis spectare Catonem semel; retenta ac revocata virtus est ut in difficiliore parte se ostenderet; non enim tam magno animo mors initur quam repetitur. quidni libenter spectarent alumnum suum tam claro ac memorabili exitu euadentem? mors illos consecrat quorum exitum et qui timent laudant. – Klar ist mir: mit großer Freude haben die Götter zugesehen, während jener Mann, der leidenschaftlichste Richter seiner selbst, für fremde Rettung sorgte und ordnete der Davongekommenen Flucht, während er philosophische Abhandlungen sogar in der letzten Nacht las, während er das Schwert in die ehrwürdige Brust stieß, während er die Eingeweide zerriss und seine hocherhabene Seele, deren es nicht würdig war, vom Schwert befleckt zu werden, mit der Hand in die Freiheit führte. Deswegen glaube ich, war zu wenig genau und wirksam die Verwundung: nicht war es den unsterblichen Göttern genug, ein einziges Mal Cato zu sehen; zurückgehalten und zurückgerufen wurde seine Tapferkeit, um sich in noch schwierigerer Lage zu bewähren: nicht nämlich sucht man beim ersten Versuch den Tod mit solchem Mut wie beim zweiten. Warum sollten die Götter nicht gern sehen, wie ihr Zögling ein so leuchtendes und denkwürdiges Ende nahm? Der Tod weiht jene, deren Ende auch die rühmen, die es fürchten“ (2,11–12).

In dieser Lobrede auf den Tod Catos sind im Rahmen unserer Fragestellung folgende Elemente von Belang: (a) Cato sorgt sich nicht um sein eigenes Leben, sondern in vorbildlicher Pflichterfüllung um die Rettung seiner Gefolgsleute. (b) Damit erweist er sich als acerrimus sui vindex: Sein Pflichtbewusstsein wird im Blick auf seinen eigenen Tod nicht relativiert, sondern um so stärker herausgefordert. (c) Sein Sterben vollzieht sich coram deo(s). Die Götter nehmen an seinem Todesgeschick interessiert teil und urteilen über die „Qualität“ seines Sterbens in letzter Instanz. (d) Er liest in der Nacht vor seinem Tod eine „philosophische Abhandlung“ – nach Plutarch handelte es sich um Platons Phaidon –, d.h. seine philosophische Auffassung von Sterben und Tod bestimmt auch im „Ernstfall“ des nahen Endes sein Handeln. (e) Wie schon in Tranq. 11,2 (schicksalsergebene Todesbereitschaft des homo religiosus sanctusque) erhalten Todesverständnis und Todesgeschick eine religiöse Qualität: Der ruhmvolle Tod „weiht“ bzw. „heiligt“ (consecrat) die, die ihn erleiden. Seneca schließt die Schrift De providentia mit einer Gottesrede, die zu einer gerechten Beurteilung von Schicksal und Tod auffordert. Zwar steht es nicht in der göttlichen Macht, den Menschen vor Unglück zu bewahren, doch ist die Seele des Weisen unverwundbar, was immer ihr widerfährt. Und sollte das Leben allzu unerträglich sein, steht es jedem frei, diesem Leben selber ein Ende zu setzen. Der Moment des Sterbens ist zu kurz, als dass er ernstlich Gegenstand der Furcht und ein Hindernis für den Freitod sein könnte:

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Ipsum illud quod vocatur mori, quo anima discedit a corpore, brevius est quam ut sentiri tanta velocitas possit: sive fauces nodus elisit, sive spiramentum aqua praeclusit, sive in caput lapsos subiacentis soli duritia comminuit, sive haustus ignis cursum animae remeantis interscidit, quidquid est, properat. ecquid erubescitis? quod tam cito fit timetis diu. – Eben das, was Sterben heißt – die Seele trennt sich vom Körper – ist zu kurz, als dass man solche Geschwindigkeit wahrnehmen könnte. Mag nun den Hals eine Schlinge zudrücken, mag den Atem Wasser absperren, mag den, der auf dem Kopf fällt, die Härte des Bodens zerschellen lassen, mag eingeatmete Feuerhitze dem Odem den Weg abscheiden, was immer es ist, es geschieht rasch. Schämt ihr euch nicht? Was so schnell eintritt, fürchtet ihr so lange! (6,9).

Indem Seneca die ganze Schrift mit einer an die Leser gerichteten Frage aus dem Munde Gottes selbst enden lässt, legt er seinem Publikum die Überwindung der Todesfurcht als ethisches Problem wirkungsvoll und eindringlich ans Herz. Das schon von Lukrez und Cicero angeführte Argument, dass sich das Sterben selbst in einer winzigen Zeitspanne ereignet und deshalb nicht gefürchtet werden muss, verwendet Seneca zur Bloßstellung existentieller Feigheit: Es ist so beschämend wie von der Sache her widersinnig, sich wegen des verschwindend kurzen Augenblicks des Sterbens zeitlebens in die Ketten der Todesfurcht legen zu lassen. 6.7.1.5 Epistulae morales An zahllosen Stellen in den Epistulae morales, von denen wir hier nur die wichtigsten zu berücksichtigen brauchen, äußert sich Seneca zum Todesproblem. In diesem Spätwerk verhandelt Seneca das Thema Sterben und Tod stärker noch als in seinen früheren Schriften unter den Vorzeichen von Ehre und Schande. Die Todesfurcht als das aus philosophischer Sicht Unangemessene kommt stets auch in den Blick als das subjektiv Beschämende. Beschämend ist es, wenn denen, die das „Ansehen alter Männer“ (auctoritas senum) haben, die „Fehler von Knaben, und nicht von Knaben nur, sondern von Kindern“ anhaften (vitia puerorum, nec puerorum tantum sed infantium; 4,2). Knaben fürchten sich vor Kleinigkeiten, Kinder vor Trugbildern, gestandene Männer aber, die die Frucht vor dem Tod nicht bewältigt haben, fürchten sich vor beidem. Dabei können bereits ganz triviale Gründe Menschen in den Tod treiben: enttäuschte Liebe, übergroße Strenge eines Herrn, die aussichtslose Lage eines Flüchtlings. Sollte der Tugend (virtus) nicht gelingen, fragt Seneca, was solche Zwangslagen zu Wege bringen, nämlich das entschiedene Zugehen auf den Tod (4,4)? So lautet denn der Rat an seinen Leser: Hoc cotidie meditare, ut possis aequo animo vitam relinquere, quam multi sic complectuntur et tenent quomodo qui aqua torrente rapiuntur spinas et aspera. plerique inter mortis metum et vitae tormenta miseri fluctuantur et vivere nolunt, mori nesciunt. – Darauf sei täglich bedacht, dass du die Kraft habest, mit Gleichmut das Leben

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zu verlassen, an dem so viele sich festklammern und festhalten, wie Menschen, die von einem Wildwasser fortgerissen werden. Die meisten schwanken zwischen Todesfurcht und Lebensqual erbärmlich hin und her und wollen nicht leben, können nicht sterben (5,5).

Besonders diese innere Zerrissenheit ist vom stoischen Standpunkt aus unerträglich. Schon in Brev. 8,2 beklagte Seneca den „Zwiespalt der Seelenregungen“ (discordia affectuum) bei denen, die immer nur ihre Zeit verschwendet haben und am Schluss um jede Stunde betteln. In der Verurteilung des Schwankens zwischen Lebensverdruss und Todesfurcht weiß sich Seneca mit Epikur einig: Obiurgat Epicurus non minus eos qui mortem concupiscunt quam eos qui timent, „Vorwürfe macht Epikur ebenso denen, die den Tod herbeiwünschen, wie denen, die ihn fürchten“ (24,22). Er zitiert ihn mit den Worten: quid tam ridiculum quam appetere mortem, cum vitam inquietam tibi feceris metu mortis? „Was ist so lächerlich, wie zu wünschen den Tod, obwohl du das Leben dir ruhelos gemacht hast durch die Furcht vor dem Tode?“ (24,23). Wer dagegen seine Seele bildet und formt, wird sie „zu des Todes oder des Lebens Ertragen“ (vel ad mortis vel ad vitae patientiam) erziehen. In utrumque enim monendi ac firmandi sumus, et ne nimis amemus vitam et ne nimis oderimus. „Für beides nämlich müssen wir ermahnt und gestärkt werden: wir sollen nicht allzu sehr lieben das Leben noch allzu sehr hassen“ (24,24). In dieser Ausgeglichenheit wird es nicht passieren, dass unbedachte libido mortis als inconsulta animi inclinatio das eigene Denken und Handeln bestimmt (24,25). Im 26. Brief formuliert Seneca den Gedanken, dass erst der Tod der eigentliche Prüfstein für die Tragfähigkeit der eigenen Charaktergrundsätze ist. Die Situation des Sterbens wird damit zur Gerichtssituation, sofern erst hier die Qualität eines Charakter unverstellt zum Vorschein kommt. „Nichts ist es“, sagt Seneca, „bis jetzt, was wir in Taten oder Worten geleistet haben. Unbedeutende sind das und trügerische Unterpfänder meiner seelischen Verfassung und durchsetzt mit verführerischem Reiz: Wie weit ich vorangekommen bin, werde ich dem Tode glauben müssen“ (nihil est [...] adhuc quod aut rebus aut verbis exhibuimus; levia sunt ista et fallacia pignora animi multisque involuta lenociniis: quid profecerim morti crediturus sum; 26,5). Man soll deshalb den Todestag nicht fürchten, sondern in dieser seiner Funktion als Gerichtsinstanz stets vor Augen haben. Dies ermöglicht eine kritische Distanz zu der „Meinung der Menschen“ (existimatio hominum) und bewahrt vor einer Überschätzung des eigenen philosophischen Habitus, denn was es mit diesem auf sich hat, wird erst der eigene Tod an den Tag bringen (26,6). Deshalb muss man den Tod, obwohl man ihn „nur ein einziges Mal können“ muss (semel utendum est), während des ganzen Lebens „lernen“ (discere; 26,9).

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Wer in dieser Haltung Philosophie treibt, wird auch die Mühen des Alters, wenn der Leib hinfällig wird und zunehmend den Dienst versagt, aufrechten Geistes bewältigen. Seneca führt dies im 30. Brief am Beispiel des Historikers Bassus Aufidius aus, den er als alten Mann häufig besucht (30,13) und ihn als jemanden erlebt hat, der zum Tode gekommen ist „ohne Hass auf das Leben“ (sine odium vitae; 30,15). Seneca vergleicht die körperliche Erscheinung des alten Mannes mit einem baufälligem Haus (30,2) und einem zerrissenen Segel (30,3), doch dank der Philosophie ist er „geistig lebhaft“ geblieben (alacer animo), und dies erweist ihn als vir optimus (30,1). Die Philosophie machte ihn „im Angesicht des Todes [...] heiter und bei beliebigem Zustand des Körpers tapfer, fröhlich und unermüdlich, obwohl der Körper versagt“ (in conspectu mortis hilarem et in quocumque corporis habitu laetumque nec deficientem quamvis deficiatur; 30,3). Seneca greift den Zusammenhang von Alter und Tod nochmals im 58. Brief und diskutiert an dieser Stelle die Frage, ob man das Alter durchleben soll, so wie es Bassus Aufidius überzeugend vorgelebt hat, oder ob man sich im Fall überhand nehmender Schmerzen doch besser den Tod geben soll.283 Er legt das Bild des bis zur Neige geleerten Weinkruges zu Grunde und fragt, ob die letzten Schlucke wohl der Bodensatz oder „ein Klarstes und Reinstes“ (liquidissimum ac purissimum quiddam) sei (58,31). Letzteres trifft zu, si modo mens sine iniuria est et integri sensus animum iuvant nec defectum et praemortuum corpus est, „wenn nur der Geist ohne Beeinträchtigung ist, unversehrt die Sinne die Seele unterstützen und nicht entkräftet und fast schon tot der Körper ist“ (58,33). Anders verhält es sich, wenn der Leib vom Tode gezeichnet ist und kein Leben, sondern nurmehr ein Vegetieren möglich ist: Si inutile ministeriis corpus est, quidni oporteat educere animum laborantem? – „Wenn unbrauchbar für seinen Dienst der Körper ist, warum sollte es nicht nötig sein, ins Freie zu führen die leidende Seele?“ (58,33). In diesem und nur in diesem Fall befürwortet Seneca also den Freitod. Schmerzen allein sind nach seiner Auffassung kein hinreichender Grund, denn wenn sie nicht übermäßig stark sind, hat ein philosophischer Charakter die Kraft ihnen Stand zu halten: Morbum morte non fugiam, dumtaxat sanabilem nec officientem animo. Non afferam mihi manus propter dolorem: sic mori vinci est, „Vor einer Krankheit werde ich nicht mit Hilfe des Todes fliehen, solange sie heilbar und nicht beeinträchtigt die Seele. Nicht werde ich Hand an mich legen wegen des Schmerzes: So zu sterben heißt unterliegen“ (58,36). Auch dann, wenn man in die Gewalt seiner Feinde geraten ist, ist der Freitod nicht in jedem Falle angezeigt. Sokrates hat die dreißig Tage bis zu seiner Hinrichtung ruhig abgewartet, ut fruendum amicis extremum Socra283

Die einschlägigen Texte sind gesammelt bei Tadic-Gilloteaux, Suicide.

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ten daret, „um seinen Freunden den Umgang mit einem Sokrates an der Schwelle des Todes zu schenken“ (70,9). Deshalb kann auf die Frage, cum mortem vis externa denuntiat, occupanda sit an exspectanda, „ob der Tod, wenn ihn äußere Gewalt androht, vorweggenommen werden soll oder erwartet“ (70,11), keine allgemeingültige Antwort gegeben werden. Wenn es jedoch gilt, ein Sterben unter Qualen zu vermeiden, hält Seneca den Freitod in Abgrenzung zur sokratischen Tradition, die der Natur vorzugreifen als unrechtmäßig ansieht, grundsätzlich für ratsam (70,13). Es gibt nach seiner Auffassung keine naturnotwendige Bindung der Seele an den Leib. Vielmehr ermöglicht erst die stets neu zu übende Distanzierung vom eigenen Körper die für ein würdiges Sterben unabdingbare Tapferkeit: Vis adversus hoc corpus liber esse? tamquam migraturus habita. propone tibi quandoque hoc contubernio carendum: fortior eris ad necessitatem exeundi. – Willst du gegenüber deinem Körper unabhängig sein? Als ob du auszuziehen beabsichtigst, bewohne ihn. Halte dir vor Augen, irgendwann einmal musst du auf die Wohngemeinschaft verzichten: tapferer wirst du sein bei der Notwendigkeit auszuziehen (70,17).

Diese Tapferkeit haben auch Sklaven und Gladiatoren eindrucksvoll unter Beweis gestellt, und es stünde denen, deren Vernunft durch die Philosophie geschult ist, schlecht an, sie nicht aufzubringen: Quid ergo? quod animi perditi quoque noxiosi habent non habebunt illi quos adversus hos casus instruxit longa meditatio et magistra rerum omnium ratio? – Was also? Den Mut, den auch verkommene und gefährliche Menschen haben, werden jene nicht besitzen, die auf diese Ereignisse vorbereitet hat langes Nachdenken und die Lehrmeisterin aller Dinge, die Vernunft? (70,27).

Deutlicher hat Seneca dies bereits in einer Nachbemerkung zum 36. Brief ausgesprochen: Nec infantes nec pueros nec mente lapsos timere mortem et esse turpissimum si eam securitatem nobis ratio non praestat ad quam stultitia perducit. – dass weder Kinder noch Knaben noch Schwachsinnige fürchten den Tod und es sehr schimpflich ist, wenn uns diese Sicherheit die Vernunft nicht gewährleistet, in die jene die Unvernunft versetzt (36,11).

Solcher Entschlossenheit, wie Kinder und Ungebildete sie manchen Gebildeten zur Beschämung vorführen, geht Seneca auch im 82. Brief auf den Grund. Sie ist nur demjenigen möglich, meint er, der den Tod gut stoisch für ein Adiaphoron hält, freilich nicht in dem Sinne, dass man es für unnötig erachtet, sich mit ihm zu befassen: Etiam si indifferens mors est, non tamen ea est quae facile neglegi possit: magna exercitatione durandus est animus ut conspectum eius accessumque patiatur. – Auch wenn gleichgültig der Tod ist, ist er dennoch nichts, was leicht vernachlässigt werden

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kann: mit großer Übung muss sich die Seele abhärten, um seinen Anblick und sein Nahen zu ertragen (82,16).

Nur dann wird man festen Schrittes auf den Tod zugehen anstatt mit Zögern und Zaudern. Wer aus reiner Notwendigkeit zu Tode kommt, ohne dass er sein Handeln auch in dieser Situation selbst bestimmen kann, stirbt unwürdig: Non est [...] gloriosum quod ab invito et tergiversante fit: nihil facit virtus quia necesse est. – Nichts [...] ist rühmlich, was jemand widerwillig und abgewandten Gesichts tut: nichts leistet die sittliche Vollkommenheit, weil es notwendig ist (82,17).

Dieser Widerwille wird sich auch dann einstellen, wenn man den Tod zwar um der Vermeidung von Schmerz oder um der Erlangung eines Gutes willen sucht, ihn aber dennoch als solchen für ein Übel hält. Es ist ein allgemeingültiger Sachverhalt, quod nihil honeste fit nisi cui totus animus incubuit atque adfuit, cui nulla parte sui repugnavit. ubi autem ad malum acceditur aut peiorum metu, aut spe bonorum ad quae pervenire tanti sit devorata unius mali patientia, dissident inter se iudicia facientis: hinc est quod iubeat proposita perficere, illinc quod retrahat et ab re suspecta ac periculosa fugiat; igitur in diversa distrahitur. si hoc est, perit gloria. – dass nichts auf sittliche Weise geschieht, wenn man nicht mit ganzer Seele darangeht und dabei ist, dem man mit keinem Teil seines Selbst widerstrebt. Wo man sich aber einem Übel nähert entweder aus Furcht vor Schlimmerem oder aus Hoffnung auf Gutes, zu dem zu gelangen soviel wert ist geduldige Hinnahme eines einzigen Übels, geraten in Zwiespalt die Überlegungen des Handelnden: Einerseits gibt es die Aufforderung, das Vorhaben auszuführen; andererseits das Widerstreben, das uns vor einem verdächtigen und gefährlichen Unternehmen scheuen lässt. Also gerät man in Zwiespalt: Wenn das der Fall ist, vergeht der Ruhm. (82,18).

Nach diesem Psychogramm fällt bereits das Kalkül, das Übel des Todes um eines angestrebten Gutes willen in Kauf zu nehmen, unter das Verdikt si hoc est, perit gloria. Hält man Sterben und Tod für ein Übel, ist ein von der virtus bestimmtes Handeln schon nicht mehr möglich, weil die Seele dann notwendig in den Interessenkonflikt einer vorher nicht genau kalkulierbaren Kosten-Nutzen-Abwägung gerät und folglich nicht mehr eins mit sich selbst ist. Die einschlägigen Formulierungen des zitierten Textes (non est gloriosum [...]; nihil honeste fit, nisi [...]; si hoc est, perit gloria) zeigen beispielhaft, dass der antike Diskurs philosophischer ars moriendi immer wieder auch mit negativen Werturteilen über Charaktere verbunden ist, die dem philosophischen Ideal nicht entsprechen. Eine besondere Spielart einer unwürdigen Haltung gegenüber dem Tod thematisiert Seneca im 117. Brief, nämlich den Wunsch zu sterben und doch weiterzuleben. Da es jedem freisteht aus dem Leben zu scheiden, kann es sich bei dem wiederholt bekundeten Wunsch, sterben zu wollen, um

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nichts anderes handeln als um ein unwürdiges Heischen nach Mitleid, das den, der so redet, als unernsten Charakter entlarvt: Nihil mihi videtur turpius quam optare mortem. nam si vis vivere, quid optas mori? sive non vis, quid deos rogas quod tibi nascenti dederunt? nam ut quandoque moriaris etiam invito positum est, ut cum voles in tua manu est; alterum tibi necesse est, alterum licet. turpissimum his diebus principium diserti mehercules viri legi: itaque, inquit, quam primum moriar. homo demens, optas rem tuam. ita quam primum moriar. fortasse inter has voces senex factus es; alioqui quid in mora est? [...] ita quam primum moriar: quam primum, istud quid esse vis? quem illi diem ponis? citius fieri quam optas potest. inbecillae mentis ista sunt verba et hac detestatione misericordiam captantis: non vult mori qui optat. – Vollends scheint mir nichts schimpflicher, als den Tod zu wünschen. Denn wenn du leben willst, was wünschst du zu sterben? Oder wenn du es nicht willst, was bittest du die Götter um etwas, was sie dir bei der Geburt gegeben haben? Denn dass du irgendwann einmal stirbst, ist dir auch gegen deinen Willen gesetzt; dass du stirbst, wann du willst, liegt in deiner Hand. Das eine ist für dich unausweichlich, das andere steht dir frei. Einen überaus empörenden Anfang habe ich in diesen Tagen bei einem, weiß Gott, wortgewandten Mann gelesen. ‚So‘, sagt er, ‚möchte ich möglichst bald sterben.‘ Verrückter Mensch, du wünschst dein Eigentum? ‚So möchte ich möglichst bald sterben.‘ Vielleicht bist du unter diesen Worten ein alter Mann geworden: Was sonst ist denn ein Hindernis? [...] ‚So möchte ich möglichst bald sterben‘: dieses ‚möglichst bald‘, was soll es sein? Welchen Termin setzt du dir? Schneller kann er kommen, als du wünschst. Einer schwachen Seele Worte sind das, die mit dieser Verwünschung nach Mitleid hascht: Nicht will sterben, wer es wünscht (117,22–24).

6.7.2 Epiktet, Dissertationes Epiktet, um 55 n.Chr. in Hierapolis in Phrygien geboren, gestorben um 135 n.Chr., kam als Sklave nach Rom. Um 70 n.Chr. stand er bei Epaphroditus in Diensten, dem nachmaligen Privatsekretär Domitians. Epaphroditus erkannte die besondere Begabung Epiktets und schickte ihn in die Schule des angesehenen Stoikers Musonius Rufus. Dort erwarb er sich solche Anerkennung, dass er freigelassen wurde und als Philosoph seinen Lehrer bald überragte. Die Verfolgung der stoischen Philosophen unter Domitian 88/89 n.Chr. traf auch ihn. Er verließ Rom und siedelte in die griechische Küstenstadt Nikopolis über. Zu seinen dortigen Schülern zählte der römische Historiker Arrian, der die Lehrvorträge Epiktets aufgezeichnet und veröffentlicht hat. Erhalten sind aus der Feder Arrians vier von ursprünglich acht Büchern diatribaiv (Dissertationes) und, als Quintessenz daraus, das berühmte „Handbüchlein“ (ejgceirivdion). Epiktets Philosophie richtete sich nicht an Gelehrte seines Fachs, sondern an philosophische Laien. Er verstand seine Lehre als Hilfestellung für ratsuchende Menschen aus dem Volk, als nachvollziehbare, lebbare Wegweisung zur eujdaimoniva. Dementsprechend treten theoretische Probleme,

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wiewohl er sich hierin von der antiken Tradition kaum unterscheidet, zugunsten einer praktischen und praktikablen Ethik zurück. Bei Epiktet kommt somit der popularphilosophische Aspekt der späten Stoa am stärksten zur Geltung. Die „primäre Stellung der praktischen Lebensführung äussert sich [...] bei Epiktet so stark, dass er neben dem praktischen Wert der Philosophie die gesamten anderen Wissenschaften als unbedeutende und im Grunde lebensunwichtige Disziplinen in den Hintergrund schiebt.“284 Folgerichtig wird bei Epiktet das Todesproblem zum Kernthema seiner Philosophie. Die Wendung vom theoretischen zum praktischen Philosophieren zielt auf eine philosophisch reflektierte und verantwortete ars moriendi. Hieran muss sich die Tragfähigkeit stoischer Lebensgrundsätze zuerst und zuletzt bewähren. In Diss. 2,1,34–36 entgegnet Epiktet einem Schüler, der ihm eine theoretische Arbeit vorlegt: kai; nu`n kairou` kalou`nto~ ejkei`na deivxei~ ajpelqw;n kai; ajnagnwvshæ kai; ejmperpereuvshæÉ ijdou`, pw`~ dialovgou~ suntivqhmi. mhv, a[nqrwpe, ajllÆ ejkei`na ma`llon: ijdou`, pw`~ ojregovmeno~ oujk ajpotugcavnw. ijdou`, pw`~ ejkklivnwn ouj peripivptw. fevre qavnaton kai; gnwvshæ. [...] au{th ejpivdeixi~ nevou ejk scolh`~ ejlhluqovto~. ta\lla dÆ a[lloi~ a[fe~. [...] a[lloi meletavtwsan divka~, a[lloi problhvmata, a[lloi sullogismouv~: su; ajpoqnhvæskein. – Und nun da der Augenblick ruft, wirst du hingehen und jenes Geschriebene vorzeigen, vorlesen und dich brüsten: ‚Sieh, was ich für Dialoge verfasse!‘? Nicht doch, Mensch! Lieber so: Sieh, wie ich begehrend nicht verfehle, wie ich vermeidend nicht hineingerate. Bring her den Tod und du wirst sehen! [...] Dies ist die Probe eines Jünglings, der die Schule durchlaufen hat, das Andere überlasse Anderen. [...] Andere mögen Rechtsfälle, andere Deklamationen, andere Syllogismen einüben – du lerne zu sterben.285

Epiktet legt seinen Schülern das meleta`n ajpoqnhvæskein als philosophische Lebensaufgabe ans Herz. Mit dem Imperativ fevre qavnaton kai; gnwvshæ erklärt er das Todesproblem zur eigentlichen Bewährungsprobe philosophischer Lebensgrundsätze. „Der Tod ist als das Moment in den Mittelpunkt gerückt, an dem sich die praktische sittliche Lebenskunst prüft und bewährt. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen wird zum einzigen Examen, das der junge Schüler der Philosophie zu bestehen hat. Die Bedeutung der empirischen, technischen Wissenschaften, tritt hinter dem praktischen Lebenswert der Philosophie zurück, die zugleich Kunst des Lebens, zugleich Kunst des Sterbens wird.“286 Die zentrale Stellung, die Epiktet dem Todesproblem zumisst, ist mit der stoischen Einreihung von Leben und Tod unter die Adiaphora zu erklären. Leben und Tod gehören wie Gesundheit und Krankheit, Reichtum und 284

Benz, Todesproblem 86. Übersetzung nach Benz, Todesproblem 86. 286 Benz, Todesproblem 87. 285

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Armut etc. zu den unverfügbaren Dingen (ta; ou[k ejf j uJmi`n),287 die nach der Grundüberzeugung stoischer Ethik die freie sittliche Entscheidung nicht tangieren können und deshalb für die persönliche Eudämonie unerheblich sind. Das von Epiktet geforderte meleta`n ajpoqnhvæskein bedeutet deshalb nichts anderes, als den Adiaphoron-Charakter des Lebens selbst zu verinnerlichen. Nicht nur wie der Stoiker lebt, kann seine Eudämonie nicht beeinträchtigen, sondern auch ob er lebt. Bei dem meleta`n ajpoqnhvæskein geht es also nicht um eine lebenslange Vorbereitung auf die Sterbestunde, sondern um die notwendige Aneignung einer existentiellen Distanz nicht nur zum Wie, sondern auch zum Dass des eigenen Lebens. Epiktets meleta`n ajpoqnhvæskein ist eine Todesbereitschaft im Sinne existentieller Stetsbereitschaft und als solche von einer affektbesetzten Todessehnsucht sorgsam zu unterscheiden. Für den Stoiker, wie Epiktet ihn entwirft, zählt allein das freie Einverständnis mit seinem Geschick. In Diss. 4,7,1–4 überlegt der Philosoph, wer wohl einen Tyrannen, der Macht über Leben und Tod der von ihm Beherrschten hat, am wenigsten fürchten müsse: Ein Knabe, der gar nicht versteht, wen er da vor sich hat, oder jemand, der „wegen irgendwelcher Umstände gern sterben möchte“ (qevlwn ajpoqanei`n diav tina perivstasin), dem also das Bedrohliche des Tyrannen (to; foberovn) gar nicht bedrohlich erscheint (4,7,3)? Beide sind auf ihre Art furchtlos, meint Epiktet, noch furchtloser aber könne der sein, dem die Frage nach Leben oder Tod überhaupt gleichgültig ist: a[n ou\n ti~ mhvtÆ ajpoqanei`n mhvte zh`n qevlwn ejx a{panto~ ajllÆ wJ~ a]n didw`tai, prosevrchtai aujtw`æ, tiv kwluvei mh; dedoikovta prosevrcesqai aujtovnÉ – Wenn aber einer zum Tyrannen geht, der weder zum Sterben noch zum Leben eine ausgesprochene Neigung hat, sondern nichts anderes will, als was sein Schicksal mitbringt, wird dem irgend etwas im Wege stehen, furchtloser ihm entgegen zu treten? (4,7,4).

Wer situationsbedingt einen Todeswunsch hegt (qevlwn ajpoqanei`n), hat seine innere Unabhängigkeit gegenüber den Umständen (peristavsei~) bereits aufgegeben. Er ist dann von der Stimme Gottes, die er als Stimme der Vernunft in seinem Inneren vernimmt und an der allein sich seine sittlichen Entscheidungen orientieren sollen, schon nicht mehr uneingeschränkt ansprechbar. Gegen ein als Todessehnsucht missdeutetes meleta`n ajpoqnhvæskein (1,9,12–15) kann Epiktet geradezu auf eine Pflicht zum Leben verweisen:

287 Vgl. dazu Diss. 1,1,7 {Wsper ou\n h\n a[xion, to; kravtiston aJpavntwn kai; kurieu`on oiJ qeoi; movnon ejfÆ hJmi`n ejpoivhsan, th;n crh`sin th;n ojrqh;n tai`~ fantasivai~, ta; dÆ a[lla oujk ejfÆ hJmi`n. – „Die Götter haben hiermit, wie es ihrer würdig war, das Allergrößte, das über alles die

Herrschergewalt hat, nämlich den rechten Gebrauch der Vorstellungen, in unsere Macht, alles andere hingegen nicht in unsere Macht gegeben.“

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a[nqrwpoi, ejkdevxasqe to;n qeovn. o{tan ejkei`no~ shmhvnhæ kai; ajpoluvshæ uJma`~ tauvth~ th`~ uJphresiva~, tovtÆ ajpoluvesqe pro;~ aujtovn: ejpi; de; tou` parovnto~ ajnavscesqe ejnoikou`nte~ tauvthn th;n cwvran, eij~ h}n ejkei`no~ uJma`~ e[taxen. ojlivgo~ a[ra crovno~ ou|to~ oJ th`~ oijkhvsew~ kai; rJavædio~ toi`~ ou{tw diakeimevnoi~. [...] meivnate, mh; ajlogivstw~ ajpevlqhte. – Wartet auf Gott, ihr Menschen! Sobald er euch das Zeichen gibt und euch dieses Dienstes entlässt, so habt ihr die Freiheit, zu ihm zurückzugehen. Noch zurzeit aber haltet geduldig auf dem Posten aus, auf den er euch gestellt hat. Die Zeit, die ihr hier zu bleiben habt, ist ja kurz und kann Leuten von solchen Grundsätzen nicht schwer ankommen. [...] Bleibet hier, gehet nicht ohne hinlängliche Gründe weg (1,9,16–17).

Idealerweise wird der Philosoph zu beidem gleichermaßen bereit sein und sich weder durch Lebenshunger oder Todesfurcht, noch auch durch Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht in der Freiheit seiner allein von der göttlichen Vernunft geleiteten Willensentscheidung beeinträchtigen lassen. Ich werde, lässt Epiktet den Stoiker sagen, im Leben ausharren, mevcri~ a]n ou| lovgo~ aiJrh`æ sunei`naiv me tw`æ swmativwó: o{tan de; mh; aiJrh`æ, lavbete aujto; kai; uJgiaivnete. movnon mh; ajlogivstw~, movnon mh; malakw`~, mh; ejk th`~ tucouvsh~ profavsew~. pavlin ga;r oJ qeo;~ ouj bouvletai: creivan ga;r e[cei kovsmou toiouvtou, tw`n ejpi; gh`~ ajnastrefomevnwn toiouvtwn. eja;n de; shmhvnhæ to; ajnaklhtiko;n wJ~ tw`æ Swkravtei, peivqesqai dei` tw`æ shmaivnonti wJ~ strathgw`.æ – solange die Vernunft es für vorzüglicher findet, dass ich in dem Leibe bleibe. Sobald sie es aber nicht mehr für ratsam hält, so lasse ich euch den Leib und sage Lebewohl. Nur muss ich nicht ohne zureichenden Grund, nicht aus Weichlichkeit, nicht aus geringem Anlass dazu schreiten. Denn auch das will Gott nicht haben. Denn er hat eine solche Welt und solche Leute auf der Erde zu seinen Absichten vonnöten. Wenn er aber einem das Zeichen zum Abzuge gibt, wie dem Sokrates, so muss man ihm, wie einem Feldherrn, auf das Kommando Folge leisten“ (1,29,28–29).

Epiktets meleta`n ajpoqnhvæskein ist also nur recht verstanden innerhalb des Gleichgewichts von Lebenswillen und Todesbereitschaft. Das Gleichgewicht kommt nicht dadurch zustande, dass ein Affekt den anderen aufhöbe – vielmehr ist beides überhaupt nicht affektiv besetzt – sondern durch die prinzipielle Gleichrangigkeit von Leben und Tod relativ zur übergeordneten Instanz des vernünftigen Gotteswillens. In Diss. 3,24,96f bringt Epiktet diese Haltung in einem idealen Dialog der Seele mit Gott zum Ausdruck: e[ti mÆ ei\nai qevlei~É wJ~ ejleuvqero~, wJ~ gennai`o~, wJ~ su; hjqevlhsa~ [...] ajllÆ oujkevti mou creivan e[cei~É kalw`~ soi gevnoito: kai; mevcri nu`n dia; se; e[menon, diÆ a[llon oujdevna, kai; nu`n soi peiqovmeno~ ajpevrcomai. – Willst du, Gott, dass ich länger da sei? Ich will es, so frei, so edel, so, wie du es wolltest. [...] Aber du hast mich wohl nicht mehr nötig? Gut so! Bis auf diese Stunde bin ich deinet- und keines anderen wegen dageblieben: Also gehorche ich dir jetzt und scheide.

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6.8 Zusammenfassung Mit den Texten dieses Kapitels ist gegenüber den vorangegangenen ein grundlegender und entscheidender Wechsel der Perspektive vollzogen: Ging es in den zuvor untersuchten rhetorischen, biographischen und historiographischen Texten fast ausnahmslos um das Todesgeschick Verstorbener,288 gerät das Todesproblem nunmehr als Problem der Lebenden in den Blick, und zwar als zentrales Problem hellenistisch-römischer Popularphilosophie und -ethik überhaupt. Hierbei wird freilich sofort klar, dass die antiken Wertmaßstäbe, an denen ideales Sterben gemessen wird, in beiden Fällen die gleichen sind. Formal äußert sich dies darin, dass biographische exempla, die in der epideiktischen Rede verwendet werden, auch im philosophischen Diskurs eine Rolle spielen: Da sich ein in lebenslanger philosophischer Übung erworbenes ideales Todesverständnis in der Situation des Sterbens bewährt, kann solches Todesverständnis umgekehrt anhand individueller Sterbeszenen exemplifiziert werden. Insofern ist es kein Zufall, dass philosophiegeschichtlich ein biographisches exemplum würdigen Sterbens wirkungsträchtig am Anfang des antiken Diskurses steht, nämlich der sterbende Sokrates in Platons Apologie und Phaidon. Schon hier kommt außerdem die Zuspitzung des Todesthemas auf die auch in der späteren Schulrhetorik maßgebliche Alternative von Lob oder Tadel zur Geltung: Das Gespräch des scheidenden Philosophen über Sterben und Tod hat seinen cantus firmus in dem zu erbringenden Beweis, dass der Tod des Sokrates nicht das Scheitern, sondern die Krönung eines der Philosophie verschriebenen Lebens ist. Hieran hängt die Selbstrechtfertigung des Angeklagten vor seinen Richtern und die Autorität des Lehrers, der im Kreise seiner Schüler seine Ethik des Sterbens als Quintessenz einer philosophischen Lebenshaltung formuliert. Das qarrei`n des Philosophen im Angesicht des Todes erwächst ihm aus einer lebenslang eingeübten Todesbereitschaft. Solche Todesbereitschaft unterliegt indes sofort dem kritischen Urteil derer, die die philosophische Binnenperspektive nicht teilen: Sokrates muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, seine Haltung sei nichts anderes als der Lebensverdruss Gescheiterter. Antike Todesdeutung bewegt sich schon hier im Antagonismus kontroverser Urteile über individuelle charakterliche Dispositionen, rhetorisch gesprochen: im Widerstreit von Lob und Tadel. Ohne diesen Kontrapunkt des kritischen gesellschaftlichen Urteils ist der philosophische Diskurs nicht hinreichend erfasst. Wenn der platonische Sokrates dem, der „unwillig ist, wenn er sterben soll“ 288 Ausnahmen sind etwa z.T. die bei Valerius Maximus unter der Rubrik de cupiditate vitae gesammelten exempla sowie die bei Martial erkennbare Geringsschätzung einer mit philosophischem Gestus demonstrierten Todessehnsucht.

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(ajganaktou`nta mevllonta ajpoqanei`sqai) nicht nur den Rang einen filovsofo~ abspricht, sondern ihm zugleich auch noch unterstellt, ein „Geldgieriger“ (filocrhvmato~) und „Ehrsüchtiger“ (filovtimo~) zu sein, dann wird die hohe ethische Relevanz des Todesproblems hinreichend deutlich. Bei Xenophon liegt der Akzent noch stärker als bei Platon auf der apologetischen Charakterdarstellung. Gegenstand seiner Darstellung ist, wJ~ [...] ejbouleuvsato periv te th`~ ajpologiva~ kai; th`~ teleuth`~ tou` bivou, „wie er [d.i. Sokrates] [...] sich äußerte über (seine) Verteidigung und das Ende (seines) Lebens.“ Er lässt Sokrates im Vorgriff auf sein eigenes Sterben dieselben Argumente verwenden, die die griechischen Rhetorikhandbücher als Trostargumente für die Grabrede vorsehen. Der jenseitig-postmortale Aspekt, der in Platons Apologie anklingt und im Unterweltmythos des Phaidon breit entfaltet wird, spielt hier überhaupt keine Rolle, das Psychogramm des tapfer Sterbenden ist dafür um so pointierter gezeichnet. Die Ethisierung platonischer Seelenmetaphysik unter dem Vorzeichen des Todesproblems ist im alexandrinischen Vorneuplatonismus philonischer Prägung zu beobachten. Unter Preisgabe der Abgrenzung zur stoischen Seelenlehre wird die platonische Anschauung von der Unkörperlichkeit und Unsterblichkeit der Seele dahin gehend relativiert, dass der ponhrov~ seine Seele durch seine falsche Lebensweise so schädigen kann, dass sie zusammen mit dem Leib zugrunde geht. Für den Weisen ist dagegen der physische Tod nur die Vollendung einer schon im Leben vollzogenen Distanzierung vom Leib. Bei Cicero als einem Vertreter der mittleren Akademie kann hinsichtlich des Todesproblems von einer programmatischen Relativierung der Metaphysik zugunsten der Ethik gesprochen werden. Die Diskussion antiker Theorien über die Beschaffenheit der Seele im ersten Buch der Tusculanen ordnet Cicero ausdrücklich einem ethisch-protreptischen Erkenntnisinteresse unter, nämlich dem liberari mortis metu. Cicero sieht sein Ziel erreicht, wenn er zeigen kann, dass non modo malum non esse, sed bonum etiam esse mortem. Auch bei Cicero fehlt nicht die Sokrates-Figur als exemplum einer vorbildlichen Haltung angesichts des Sterbens. Durch seine magnitudo animi war sein Sterben nicht ein ad mortem trudi, sondern ein in caelum escendere. Ein weiteres exemplum ist Cato als römisches Gegenstück zu Sokrates. Der Außenaspekt des Cäsar unterlegenen Politikers und Feldherrn wird hier ganz ausgeblendet. Cato erscheint als weltabgewandter Philosoph und sein Sterben nicht als Niederlage, sondern als Erfüllung eines philosophischen Lebens. Cicero leitet aus diesen exempla die Regel ab, dass „ein großer Mann nie auf eine jämmerliche Weise stirbt“ (non miserabiliter vir clarus emoritur). Zu solchem Sterben soll auch der philosophische Diskurs in Tusc. 1 anleiten, und zwar unabhängig von metaphysischen Prämissen. Ob es ein Fortleben der Seele nach dem Tod gibt oder nicht, will Cicero

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offen lassen. Entscheidend ist, dass man auch mitten im Leben schon zu einer Geisteshaltung findet, die den eigenen Sterbetag freudig zu erwarten in der Lage ist, eine Auffassung, die auch der Mittelplatoniker Plutarch teilt: Ganz gleich, was es mit dem postmortalen Geschick der Seele auf sich hat, der Weise (frovnimo~) wird anders als der Tor (ajnovhto~) durch die „Furchtlosigkeit vor dem Tod“ (pro;~ to;n qavnaton ajfobiva) zu einer bleibenden „Gemütsruhe im Leben“ (pro;~ to;n bivon eujqumiva) gelangen. Im Epikureismus gehört die Überwindung der Todesfurcht zu den dringlichsten philosophischen Aufgaben. Durch die konsequente Ausblendung des postmortal-jenseitigen Aspekts auf der Grundlage eines atomistischen Seelenbegriffs entwickelt das epikureische Denken einen besonderen Scharfblick für die psychologischen Auswirkungen unbewältigter Todesfurcht. Nirgends ist der Tod so konsequent ein Problem der Lebenden wie im Epikureismus. Es ist dem Weisen aufgegeben, angesichts der „Sterblichkeit des Lebens“ (to; th`~ zwh`~ qnhtovn) eine positive Gestimmtheit zu pflegen und sich dadurch von der Masse (oiJ polloiv) zu unterscheiden. Epikurs Losung mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton verbietet in diametralem Gegensatz zur sokratischen melevth qanavtou eine explizite SterbeEthik. Vielmehr gilt das Todesproblem erst dann als gelöst, wenn es in seiner Gegenstandslosigkeit erkannt ist. Bei Lukrez wird das Psychogramm unbewältigter Todesfurcht nochmals erheblich verfeinert. Lukrez spürt die formido mortis noch in ihrer paradoxen Erscheinungsform eines Lebenshasses auf, der im Extremfall zum Selbstmord führt. Mit jedweder Klage über die Begrenztheit des eigenen Daseins geht er scharf ins Gericht und empfiehlt die epikureische Lehre als erlösendes Wissen, das die Todesfurcht überwindet: scire licet nobis nihil esse in morte timendum. Der Epikureer vermag sich aequo animo mit der Endlichkeit seines Dasein abzufinden und sich darin einzurichten. In der Stoa der römischen Kaiserzeit erreicht das antike Interesse am Todesproblem seinen Höhepunkt, bis dahin, dass Epiktet den theoretischen Diskurs zu Gunsten philosophischer Ethik dispensiert und die Ethik auf das Todesproblem zuspitzt. Seneca schilt das „törichte Vergessen der Sterblichkeit“ (stulta mortalitatis oblivio), die naive Todesvergessenheit des Durchschnittsmenschen, der sich im Alltäglichen verliert. Male vivet quisquis nesciet bene mori, meint Seneca, nicht nur Leben muss lebenslang gelernt werden, sondern auch das Sterben: Vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum est mori. Wer sich diesem Lernprozess unterzieht, „wird nicht zögern in den Tod zu gehen mit festem Schritt“ (non cunctabitur ire ad mortem certo gradu). Diese Haltung grenzt Seneca ab von einer Todessehnsucht aus Lebensverdruss. Obwohl Senecas Position einem freien Verfügungsrecht des Individuums über das eigene Leben sehr nahe kommt, weiß er den Einzelnen doch gegenüber dem

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Schicksal in der Pflicht: Er wird sein Leben als Leihgabe verstehen und diese erst zurückgeben, wenn es von ihm gefordert wird. Wo solch souveräner Umgang mit dem eigenen Sterben fehlt, wirkt sich dies sofort äußert negativ auf die charakterliche Beurteilung eines Individuums aus. Der philosophisch-ethische Diskurs funktioniert bei Seneca nach den gleichen Regeln von Lob und Tadel, wie sie auch für die Rhetorik maßgeblich sind. Immer wieder reichert Seneca seine Gedanken mit biographischen exempla an, die respektables oder aber unwürdiges Sterben illustrieren. Das Forum der Götter vergleicht er mit dem Publikum in der Arena, das tapfer sterbende Gladiatoren bewundert, Feiglinge aber verachtet. Der zunächst fehlgeschlagene Suizid Catos habe sich, meint er, in die Länge gezogen, weil die Götter dem Schauspiel solcher Tapferkeit noch länger zuschauen wollten. Auch dort, wo das Todesgeschick eine dergestalt religiöse Qualität bekommt, stehen die rhetorischen Parameter von Lob und Tadel in Geltung. In den Epistulae morales hat das Todesproblem verglichen mit den übrigen Schriften Senecas den höchsten Stellenwert. In immer neuen Betrachtungen zum Thema schwört Seneca seinen Adressaten auf eine philosophisch verantwortete ars moriendi ein. Dabei ist das aus philosophischer Sicht Unangemessene stets auch das subjektiv Beschämende. Es ist turpissimum, wenn Kinder und Knaben den Tod nicht fürchten, wohl aber die philosophisch Gebildeten. Non est gloriosum, den Tod als schiere Notwendigkeit widerwillig zu erleiden. Es sind die „Vielen“ (plerique), die „Erbärmlichen“ (miseri), die nicht leben und nicht sterben können (vivere nolunt, mori nesciunt). Solches Gebaren ist „lächerlich“ (ridiculum). Auch geht es nicht an, sich wegen körperlicher Schmerzen das Leben zu nehmen, solange die Geistestätigkeit durch sie nicht gehindert wird: sic mori vinci est. Vollends ist „nichts schimpflicher“ (nihil turpius) als ostentativ der zur Schau gestellte Todeswunsch, dem keine Tat folgt. Bei Epiktet wird das meleta`n ajpoqnhvæskein vollends zur philosophischen Lebensaufgabe. Stärker als bei Seneca ist hierbei das religiöse Moment ausgeprägt. Konkurriert der Gedanke der individuellen Pflicht gegenüber Natur, Schicksal oder Göttern bei Seneca mit dem des freien Verfügungsrechts des Einzelnen über sein Leben, so entwickelt Epiktet ein ausgesprochen religiös qualifiziertes Einverständnis mit dem eigenen Schicksal. Sein philosophisches Ideal verkörpert, wer mhvtÆ ajpoqanei`n mhvte zh`n qevlwn ejx a{panto~ ajllÆ wJ~ a]n didw`tai, prosevrchtai aujtw`,æ wer „weder zum Leben noch zum Sterben eine ausgesprochene Neigung hat, sondern nichts anderes will, als was sein Schicksal mitbringt.“

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7. Hellenistisch-jüdische Weisheit Nach einem ausführlicheren Einblick in die hellenistisch-jüdische Historiographie des Josephus (II.4.3) wenden wir uns am Ende des II. Teils in zwei kurzen Kapiteln nochmals jüdischen Quellen zu, nämlich der hellenstischjüdischen Sapientia Salomonis (II.7) und dem 2. und 4. Makkabäerbuch (II.8). Die Texte beider Kapitel belegen, dass sich jüdisches Denken mit der hellenistischen Kultur auch die soziokulturellen Standards hellenistischer Wahrnehmungen des Todesproblems angeeignet hat. Die Reflexion der teleuth; sofou` in SapSal. und die Präsentation der jüdischen Märtyrer in 2Makk. und 4Makk. weisen dieselben Deutungsmuster auf, die auch für die bisher untersuchten paganen Texte kennzeichnend sind. Aus der in späthellenistischer289 oder frührömischer Zeit290 wahrscheinlich in Alexandrien entstandenen Sapientia Salomonis interessieren uns die Stücke 4,7–20 und 5,1–14. Sie sind Teil des ersten Drittels der Schrift (1,1– 6,21),291 in dem das Geschick des „Gerechten“ (divkaio~) im Gegenüber zu dem der „Gottlosen“ (ajsebei`~) in einem apokalyptischen Drama dargestellt wird. Hierbei wird „[d]as Einzelschicksal des Gerechten [...] zum Geschick der Gerechten überhaupt.“292 Im Blick ist also nicht die Beispiel gebende konkrete Biographie, sondern der Gerechte als Typus des wegen seiner Gott gefälligen Existenz von seiner Umwelt verachteten Menschen. Der Text ist für unsere Fragestellung deshalb von Interesse, weil sich hier der Widerstreit konträrer Deutungen des Geschicks des „Gerechten“ an der Deutung seines Todes entzündet:293 Die „Gottlosen“ (miss)verstehen das Leben des „Gerechten“ von seinem Ende her als Scheitern. Die weisheitliche Reflexion attestiert dem „Gerechten“ dagegen eine tadellose Lebensführung und deutet von daher seinen frühen Tod: Gott hat den Gerechten nicht gestraft, sondern ihn zu sich geholt, damit er dem Bösen nicht doch noch erliege: divkaio~ de; eja;n fqavshæ teleuth`sai, ejn ajnapauvsei e[stai: gh`ra~ ga;r tivmion ouj to; polucrovnion oujde; ajriqmw`æ ejtw`n memevtrhtai, polia; dev ejstin frovnhsi~ ajnqrwvpoi~ kai; hJlikiva ghvrw~ bivo~ ajkhlivdwto~. eujavresto~ qew`æ genovmeno~ hjgaphvqh kai; zw`n metaxu; aJmartwlw`n metetevqh: hJrpavgh, mh; kakiva ajllavxhæ suvnesin aujtou` h] dovlo~ ajpathvshæ yuch;n aujtou`. – Aber der Gerechte, wenn er vor der Zeit stirbt, wird in der (himmlischen) Ruhe leben; denn ein ehrenvolles Alter ist nicht das, was lang ist in Bezug auf Zeit, noch wird es gemessen nach der Zahl der 289

Gerogi, Weisheit 396. McGlynn, Judgement 11–13. 291 Die Gliederung folgt McGlynn, Judgement 22f. 292 Georgi, Weisheit 414. Bisherige Versuche einer Historisierung auf dem Hintergrund gewaltsamer Konflikte zwischen den Juden und Nichtjuden Alexandriens hat McGlynn, Judgement 11f m.R. abgelehnt. 293 Engel, Weisheit 79 stellt den Passus 3,1–4,20 unter die Überschrift „Gegenüberstellung der Lebensführung und des Ergehens bei und nach dem Tod der ‚Gerechten‘ und der ‚Frevler‘“. 290

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Jahre. Ist doch menschliche Klugheit (gleichbedeutend mit) grauem Haar, und ein Leben ohne Flecken (identisch mit) Greisenalter. Der (Mann), der Gott wohlgefällig war, wurde (von ihm) geliebt und, während er unter den Sündern lebte, wurde er entrückt. Er wurde weggenommen, damit das Böse nicht sein Verstehen ändere oder List seine Seele betrüge (4,7–12).

Die Möglichkeit des frühen Todes des Gerechten wird gegen eine Interpretation als Scheitern mit zwei Argumenten in Schutz genommen: Der frühe Tod wird als von Gott gewährte ajnavpausi~ gedeutet, und das am hohen Alter haftende Sozialprestige wird bestritten, indem der biologische Begriff des Alters zur Metapher für Charakterstärke umfunktioniert wird: gh`ra~ tivmion erwirbt sich nicht, wer lediglich alt wird, sondern wer auf frovnhsi~ ajnqrwvpoi~ und einen bivo~ ajkhlivdwto~ verweisen kann. Hier kommen Topoi zum Einsatz, die wir bereits aus der Rhetorik der antiken Grabrede kennen.294 In SapSal. 4,7ff werden diese Topoi jedoch nicht auf einen konkreten Todesfall, sondern auf die typische Biographie des Gerechten angewendet. Die in 4,7–12 maßgebliche Konzentration auf das Todesthema wird im Folgenden noch verstärkt. Das Unverständnis, das der weisheitliche Verfasser den „Gottlosen“ vorwirft, schlägt sich in besonderem Maße in ihrer Fehlinterpretation der teleuth; sofou` nieder. Sie verachten den „Gerechten“ (hier: den „Weisen“) wegen der Art und Weise seines Todes, wo doch gerade daran erkennbar ist, dass Gott auf seiner Seite steht: o[yontai ga;r teleuth;n sofou` kai; ouj nohvsousin tiv ejbouleuvsato peri; aujtou` kai; eij~ tiv hjsfalivsato aujto;n oJ kuvrio~. o[yontai kai; ejxouqenhvsousin: aujtou;~ de; oJ kuvrio~ ejkgelavsetai, kai; e[sontai meta; tou`to eij~ ptw`ma a[timon kai; eij~ u{brin ejn nekroi`~ diÆ aijw`no~, o{ti rJhvxei aujtou;~ ajfwvnou~ prhnei`~ kai; saleuvsei aujtou;~ ejk qemelivwn, kai; e{w~ ejscavtou cerswqhvsontai kai; e[sontai ejn ojduvnhæ, kai; hJ mnhvmh aujtw`n ajpolei`tai. – Sie werden nämlich das Ende des Weisen sehen, und sie werden nicht verstehen, was mit ihm geplant war und zu welchem Zweck der Herr ihn in Sicherheit gebracht hatte. Sie werden sehen und verachten. Der Herr aber wird sie auslachen, und sie werden danach zum ehrlosen Kadaver werden und zum Frevel unter den Toten auf Ewigkeit, weil er sie zerbrechen wird, so dass sie stumm vornüber stürzen, und er wird sie von den Sockeln schütteln, und bis zum Letzten werden sie verwüstet werden, auch werden sie Schmerz erleiden, und ihr Gedächtnis wird verloren gehen (4,17–19).

Weil die „Gottlosen“ die teleuth; sofou` „sehen und verachten werden“ (o[yontai kai; ejxouqenhvsousin), werden sie selbst ehrlos enden. Das vermeintliche Strafgeschick des „Gerechten“ wird sie selbst ereilen. Sie werden eij~ ptw`ma a[timon kai; eij~ u{brin ejn nekroi`~ diÆ aijw`no~. Das Spottgelächter über den Tod des „Gerechten“ gilt aus dem Munde Gottes nun 294 S.o. S. 65. Die Motivverwandtschaft zwischen SapSal. 4,7ff und der griechischen Konsolationsliteratur betont Schmitt (Tod) in seiner gründlichen Auslegung von SapSal. 4,7–19.

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ihnen. Die weisheitliche Polemik gegen die „Gottlosen“ bedient sich also derselben Motive wie die als verfehlt zurückgewiesene Verachtung der Gerechten: In beiden Fällen fällt mit der Deutung des Todesgeschicks die Entscheidung über eine gänzlich positive oder aber gänzlich negative definitive Bewertung des betreffenden bivo~ insgesamt. Außerdem wird deutlich, dass das Todesgeschick als polemischer oder apologetischer Topos keineswegs den Todesfall voraussetzt: Die „Gottlosen“, die den „Gerechten“ dafür verachten, wie er gestorben ist, werden ihrerseits dadurch verächtlich gemacht, dass sie eines schmählichen Todes sterben werden. Der den Gottlosen bevorstehende Straftod kann offenbar, ohne dass er schon eingetreten wäre, mit gleichem rhetorischen Wirkungsgrad einfach vorgreifend behauptet werden, weil phänomenologisch vom Todesgeschick selbst ohnehin nichts abhängt. Entscheidend ist allein, ob die antike Rhetorik von Sterben und Tod auf den Kasus des Lobes (ejgkwvmion) oder des Tadels (yovgo~) angewendet wird. In 5,1–14295 wird die Erzählung vom Geschick des Gerechten in einer eschatologischen Gerichtsszene zum Abschluss gebracht. Hier erst wird innerhalb der narrativen Dramaturgie der verkannte Ehrenstatus des Gerechten auch gegenüber seinen Verächtern offenbar: tovte sthvsetai ejn parrhsivaæ pollh`æ oJ divkaio~ kata; provswpon tw`n qliyavntwn aujto;n kai; tw`n ajqetouvntwn tou;~ povnou~ aujtou`. ijdovnte~ taracqhvsontai fovbwó deinw`æ kai; ejksthvsontai ejpi; tw`æ paradovxwó th`~ swthriva~: ejrou`sin ejn eJautoi`~ metanoou`nte~ kai; dia; stenocwrivan pneuvmato~ stenavxontai kai; ejrou`sin: ou{to~ h\n, o}n e[scomevn pote eij~ gevlwta kai; eij~ parabolh;n ojneidismou` oiJ a[frone~: to;n bivon aujtou` ejlogisavmeqa manivan kai; th;n teleuth;n aujtou` a[timon. pw`~ katelogivsqh ejn uiJoi`~ qeou` kai; ejn aJgivoi~ oJ klh`ro~ aujtou` ejstiÉ – Dann wird der Gerechte in souveräner Freiheit seinen Bedrängern vor Augen treten und denen, die seine Mühen zunichte gemacht hatten. Wenn sie das sehen werden, werden sie von schrecklicher Furcht verwirrt werden, und sie werden entsetzt sein über das Wunder (seiner) Rettung. Sie werden bei sich in Reue sagen und in innerer Enge stöhnen: Dieser war’s, den wir einst zum Gespött machten und zum Gleichnis des Hohns, wir Narren! Sein Leben hielten wir für einen Wahnsinn und sein Ende für ehrlos. Wieso wird er unter die Söhne Gottes gerechnet, und (warum) ist sein Los unter den Heiligen? (5,1–5).

Die Diesseitsperspektive der Gottlosen wird hier durch die eschatologische Perspektive falsifiziert. Die eschatologische Wiederbegegnung zwischen dem Gerechten und seinen Verächtern zwingt diese zu der Wertschätzung, die sie ihm bei Lebzeiten versagt haben. Das Gerichtsszenario bildet den aus der jüdischen Apokalyptik entlehnten Rahmen für eine kontrafaktische 295 Georgi, Weiheit 405 gliedert den Passus in eine „Kontrasterzählung von der Erhöhung und Rechtfertigung des Gerechten (5,1–3) und ein [...] Bekenntnis der Gottlosen (5,4f)“ (Kursive im Original). Dieses Bekenntnis leitet ein Bußlied der Gottlosen ein (5,6–14).

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Neukonstruktion der Figur des Gerechten: Er tritt nun auf einmal ejn parrhsivaæ pollh`æ den Gottlosen gegenüber. Ihr verächtliches Herabblicken auf seine „Mühen“ (povnoi) ist nunmehr Vergangenheit. Die Gottlosen geraten in Angst und Schrecken, weil sie erst jetzt, da ihnen der Gerechte im Ehrenstatus eines uiJo;~ qeou` entgegentritt, erkennen, mit wem sie es zu tun haben. Die Deutung seiner teleuthv als „ehrlos“ (a[timon) wird damit genauso hinfällig wie die seines bivo~ als maniva.

8. Jüdische Martyrologie Zu den bekanntesten Quellen frühjüdischer Martyrologie zählt die Überlieferung vom Märtyrertod des Eleazar sowie der sieben Brüder und ihrer Mutter im 2. und 4. Makkabäerbuch. Die einschlägigen rhetorischen und popularphilosophischen Topoi sind hier erwartungsgemäß zahlreich verarbeitet, etwa die „letzten Worte“ (ultima verba) der Märtyrer, die das eigene ehrenvolle Sterben wirkungsvoll hervorheben und im kontrastierenden Vergleich (suvgkrisi~) dem schmachvollen Straftod, der dem Tyrannen bevorsteht, gegenüberstellen. Im 4. Makkabäerbuch, das die Darstellung in 2Makk. voraussetzt und ausschmückt, wird der Märtyrerbericht außerdem angereichert um einen popularphilosophischen Diskurs über den Vorrang der „Urteilskraft“ (logismov~) – hier konkretisiert in der von den Märtyrern unter Beweis gestellten unbeirrbaren jüdischen Gesetzestreue – gegenüber den „Leidenschaften“ (pavqh). 8.1 2. Makkabäerbuch 6–7 Das 2. Makkabäerbuch ist die im Jahr 124 v.Chr. entstandene Epitome eines älteren, ursprünglich wesentlich umfangreicheren Werkes des Jason von Kyrene über die Makkabäerkriege. Hat der Epitomator seine Vorlage zwar gekürzt, jedoch sonst offenbar nicht weiter redaktionell bearbeitet, so ist doch von einer späteren Bearbeitung der Epitome auszugehen. Hierunter fallen teilweise auch die für uns wichtigen Texte: Der Bericht vom Martyrium Eleazars 2Makk. 6,18–31 weist in 6,21–28 eine alte Schicht auf, die auf Jason zurückgehen dürfte, wogegen 6,18–20.30–31 einer jüngeren Fassung zuzurechnen ist.296 Kapitel 7 ist insgesamt nachjasonisch. Wir wenden uns zunächst der jasonischen Schicht von Kap. 6 zu: Seleukidische Beamte wollen Eleazar überreden, nur zum Schein am heidnischen Opfermahl teilzunehmen, um auf diese Weise weder gegen das jüdische Gesetz zu verstoßen 296

Habicht, Makkabäerbuch 173.175.

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noch auch sein Leben zu verwirken (6,21f). Die Antwort, die Eleazar hierauf gibt, ist a[xion th`~ hJlikiva~ kai; th`~ tou` gevnou~ uJperoch`~ kai; th`~ ejpikthvtou kai; ejpifanou`~ polia`~ kai; th`~ ejk paido;~ kallivsth~ ajnastrofh`~, ma`llon de; th`~ aJgiva~ kai; qeoktivstou nomoqesiva~ – würdig seines Alters, der Vortrefflichkeit seiner Familie, seiner erworbenen und sichtbaren Weißhaarigkeit und seiner von Kindesbeinen an untadeligen Lebensweise, noch mehr aber des heiligen und von Gott gestifteten Gesetzeswerkes (6,23).

Hier sind traditionelle Enkomientopoi (hJlikiva, gevno~, ajnastrofhv, Physiognomik: Weißhaarigkeit) ergänzt durch das Motiv der Gesetzesfrömmigkeit. Die Bereitschaft Eleazars für das jüdische Gesetz zu sterben, wird damit als Teil seines edlen Charakters verständlich; jüdische Gesetzestreue wird hellenistisch zur Charaktertugend und gleichzeitig zum Beweis für den hohen Rang der Mosetora als Gesetzeswerk: Es besitzt eine derart hohe Autorität, dass diejenigen, die sich ihm verpflichtet wissen, dafür sogar in den Tod zu gehen. Mit seiner Antwort an die seleukidischen Beamten rückt Eleazar sein eigenes Sterben in das hellstmögliche Licht. Er stellt mit seiner Unerschrockenheit seine Tapferkeit unter Beweis, verhält sich seinem hohen Alter entsprechend und gibt der Jugend ein Beispiel für bereitwilliges Sterben: diovper ajndreivw~ me;n nu`n diallavxa~ to;n bivon tou` me;n ghvrw~ a[xio~ fanhvsomai, toi`~ de; nevoi~ uJpovdeigma gennai`on kataleloipw;~ eij~ to; proquvmw~ kai; gennaivw~ uJpe;r tw`n semnw`n kai; aJgivwn novmwn ajpeuqanativzein. – Deshalb werde ich, wenn ich jetzt tapfer aus dem Leben scheide, meines hohen Alters wert erscheinen und den jungen Leuten ein edles Beispiel hinterlassen, wie man bereitwillig und aufrecht für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze eines guten Todes stirbt (6,27f).

Auch diese Passus entspricht ganz den rhetorischen Konventionen für die Darstellung eines ehrenvollen Todes. Mit der Verwendung des Verbs ajpeuqanativzein wird der eujqanasiva-Topos verarbeitet, den Theon von Alexandrien für das Enkomion auf Verstorbene vorsieht.297 Er findet sich explizit auch in der Augustus-Vita Suetons. Indem der Verfasser das Sterben Eleazars als ein a[xio~ fanivesqai charakterisiert, wird außerdem der antike Öffentlichkeitscharakter von Sterben und Tod namhaft gemacht: Wer stirbt, tritt auf bestimmte Art und Weise „in Erscheinung“, und zwar stets entweder zum Vorteil oder zum Nachteil des eigenen Ansehens. Das Martyrium als Situation des öffentlichen Einstehens für die eigene Überzeugung (hier: das jüdische Gesetz) ist dabei nur eine Spielart der in der hellenistischrömischen Antike generell zu beobachtenden sozialen Konnotation des Todesproblems. 297

S.o. unter II.2.3.1.

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Die Rahmenstücke des Eleazar-Martyriums 6,18–20.30f von der Hand eines späteren Bearbeiters der Epitome stellen Eleazar vor als ti;~ tw`n

prwteuovntwn grammatevwn, ajnh;r h[dh probebhkw;~ th;n hJlikivan kai; th;n provsoyin tou` proswvpou kavllisto~, als „einen der führenden Schriftgelehrten [...], ein Mann schon vorgerückten Alters und von bemerkenswert schönen Gesichtszügen“ (6,18). Das physiognomische Detail des weißen Haares (6,23) erhält hier noch einen zusätzlichen Akzent: Eleazar war geradezu th;n provsoyin tou` proswvpou kavllisto~. Gehört dieses Merkmal rhetorisch zu den ajgaqa; peri; sw`ma, so ist die Todesbereitschaft Eleazars den ajgaqa; peri; yuchvn zuzurechnen.298 Er zeichnet sich dadurch aus, dass er „den ruhmvollen Tod einem Leben in Verachtung vor[zog]“ (to;n metÆ eujkleiva~ qavnaton ma`llon h] to;n meta; muvsou~ bivon ajnadexavmeno~, 6,19), in dem Wissen, dass er „um der Liebe zum Leben willen“ (dia; th;n pro;~ to; zh`n filostorgivan) vom ungesetzlichen Opferfleisch nicht kosten durfte. Gemeint ist offenbar nicht, dass die „Liebe zum Leben“ noch am ehesten ein verzeihlicher Grund wäre, vom Opferfleisch zu kosten,299 sondern dass diese als legitimer Grund hierfür gerade ausscheidet. Mit pro;~ to; zh`n filostorgiva dürfte nämlich ebenso wie mit dem Terminus filoyuciva (cupiditas vitae) eine fehlende Todesbereitschaft im Blick sein, die in unseren Texten durchweg negativ bewertet wird.300 Da diese Eigenschaft auf Eleazar nicht zutrifft, steht er auch nicht in Gefahr, das jüdische Gesetz zu verleugnen. In 6,30 legt der Bearbeiter dem bereits tödlich verletzten Eleazar folgende letzte Worte in den Mund: tw`æ kurivwó tw`æ th;n aJgivan gnw`sin e[conti fanerovn ejstin o{ti dunavmeno~ ajpoluqh`nai tou` qanavtou sklhra;~ uJpofevrw kata; to; sw`ma ajlghdovna~ mastigouvmeno~, kata; yuch;n de; hJdevw~ dia; to;n aujtou` fovbon tau`ta pavscw. – Dem Herrn, der die heilige Erkenntnis hat, ist bekannt, dass ich, der ich dem Tode hätte entgehen können, harte körperliche Pein unter der Geißel ertrage, sie jedoch aus Gottesfurcht in meiner Seele gerne erdulde.

Dass das ajpoluqh`nai tou` qanavtou nur um den Preis der Verleugnung des Gesetzes möglich gewesen wäre, wird hier nicht weiter reflektiert. In 6,30 298

Zur Unterteilung der Enkomientopoi in ajgaqa; peri; yuchvn, ajgaqa; peri; sw`ma und ta;

e[xwqen ajgaqav vgl. oben S. 50 Anm. 18.

299 So aber die Übersetzung von Habicht, Makkabäerbuch, der der Phrase im Deutschen ein interpretierendes „auch“ vorschaltet: „wovon auch um der Liebe zum Leben willen zu kosten nicht erlaubt ist“ (Kursive hinzugefügt). Habicht, Makkabäerbuch 231 Anm. 18a vermerkt übrigens zu 6,18–20, dass es sich um „die am schlechtesten überlieferte Partie des ganzen Buches“ handelt. Man wird daher dem Wortlaut der Stelle keine weitreichenden Deutungen aufbürden. Die Vergleichstextes des II. Teils geben jedoch eine Richtung vor, in der das Gemeinte vermutet werden kann. 300 S.o. S. 67.

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liegt der Akzent ganz auf der freien Entscheidung dessen, der kata; yuchvn die Kraft hat, kata; to; sw`ma schwere Leiden zu ertragen. Der Bearbeiter attestiert damit dem jüdischen Märtyrer dieselbe Seelestärke, deren Fehlen Plutarch bei dem Griechen Eumenes moniert: Dieser hatte, weil er um sein Leben bat, seinen Feind „zum Herrn auch über seine Seele“ (kai; th`~ yuch`~ aujtou` kuvrion) gemacht.301 Eleazar dagegen fürchtet nicht die Gewalt des Tyrannen über sein sw`ma und beweist gerade damit seine Unabhängigkeit von ihm: kata; yuchvn ist er durch den fovbo~ aujtou` [scil. tou` kurivou] allein Gott und seinem Gesetz verpflichtet. Jüdisch-weisheitliches und hellenistisches Ethos gehen unter dem Vorzeichen des Todesproblems einmal mehr eine Synthese ein. Die Erzählung vom Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter, die sich in Kap. 7 anschließt, ist ebenfalls eine Erweiterung der Epitome von späterer Hand. Anders als das auf griechisch verfasste Werk Jasons (bzw. die Epitome) geht sie auf eine hebräische Vorlage zurück.302 Beherrschende Motive sind hier das Insistieren der Brüder auf der leiblichen Auferstehungshoffnung303 und der Kontrast zum unheilvollen eschatologischen Geschick des Tyrannen. Das unmittelbar bevorstehende Todesgeschick des Märtyrers wird in den Horizont eschatologischer Heilshoffnung eingezeichnet, und zugleich wird dieser Horizont für den Tyrannen für ungültig erklärt. Mag er jetzt auch unbehelligt weiterleben und seine Willkürherrschaft ungehindert ausleben, dereinst wird ihn mit dem Tode doch das göttliche Strafgericht ereilen. Beide, Märtyrer und Tyrann, werden also von ihrem Todesgeschick her verstanden und im Hinblick auf ihr Todesgeschick miteinander verglichen. So lauten etwa die letzten Worte des vierten Bruders: aiJreto;n metallavssonta~ uJpÆ ajnqrwvpwn ta;~ uJpo; tou` qeou` prosdoka`n ejlpivda~ pavlin ajnasthvsesqai uJpÆ aujtou`: soi; me;n ga;r ajnavstasi~ eij~ zwh;n oujk e[stai. – Wie erwünscht ist es doch, dass die von den Menschen Scheidenden die Versprechungen Gottes erwarten können, durch ihn aufzuerstehen. Für dich aber wird es eine Auferstehung zum Leben nicht geben (7,14).

Das von Gott zugesicherte eschatologische Heil rechtfertigt den Märtyrer vor dem Forum seiner Verfolger und erlaubt ihm zugleich, in der Situation des Unterlegenseins über seine Verfolger zu triumphieren. Der Leib wird nicht hellenistisch vergleichgültigt, weil er eschatologisch durch den Auferstehungsleib ersetzt wird. Der dritte Bruder, dem als Folter die Zunge abgetrennt werden soll, sagt dazu: 301

S.o. S. 90. Vgl. Habicht, Makkabäerbuch 233 Anm. 7a. 303 Des ungeachtet kann in 7,36 von der ajevnao~ zwhv die Rede sein, die den Märtyrern offenbar sofort nach dem Tode zuteil wird (so auch Habicht, Makkabäerbuch 237 Anm. 36b und Klauck, Makkabäerbuch 672). 302

Jüdische Martyrologie

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ejx oujranou` tau`ta kevkthmai kai; dia; tou;~ aujtou` novmou~ uJperorw` tau`ta kai; parÆ aujtou` tau`ta pavlin ejlpivzw komivsasqai. – Vom Himmel besitze ich dies, und um der Gesetze des Himmels willen sehe ich hinweg über dies, und vom Himmel hoffe ich dies wieder zu erlangen (7,11).

Rhetorisch leisten hier hellenistischer Dualismus und jüdischer Auferstehungsglaube das Gleiche, nämlich die Selbstbehauptung des Unterlegenen in der Situation des Sterbens. Ob nun der Leib als das dem individuellen Wesenskern des Menschen Äußerliche abgewertet oder als eschatologisch restituierbar gedacht wird, in beiden Fällen kommt es darauf an, dass die persönliche Integrität des vom Tode Bedrohten durch die Todesdrohung nicht angetastet wird. Eine weitere frühjüdische Spielart antiker Rhetorik des Sterbens besteht darin, die Folterknechte des Tyrannen zur göttlichen Läuterungsinstanz umzudefinieren: Was der Märtyrer leidet, leidet er zur Sühne für die eigenen Verfehlungen, ja sogar für die des ganzen Volkes.304 Die Folter wird geradezu zum göttlichen Privileg, die zeitliche Strafe zur Gelegenheit, der ewigen zu entgehen. Der sechste Bruder hält dem Tyrannen entgegen: mh; planw` mavthn, hJmei`~ ga;r diÆ eJautou;~ tau`ta pavscomen aJmartovnte~ eij~ to;n eJautw`n qeovn, [...] su; de; mh; nomivshæ~ ajqw`æo~ e[sesqai qeomacei`n ejpiceirhvsa~. – Gib dich keiner Täuschung hin, denn wir leiden dies um unserer selbst willen, da wir gegen unseren Gott gefrevelt haben [...]. Du aber glaube nur nicht, unversehrt zu bleiben, der du gegen Gott zu kämpfen versuchst“ (7,18).

8.2 4. Makkabäerbuch 5–17 Dem vermutlich um 100 n.Chr. entstandenen305 4. Makkabäerbuch hat 2Makk. als literarische Vorlage gedient. In 5,1–7,23 fußt der Text auf dem Eleazar-Martyrium 2Makk. 6,18–31 und in dem umfangreichen Stück 8,1– 17,6 auf dem Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter 2Makk. 7. Der Verfasser stellt sein Buch als Filosofwvtato~ lovgo~ vor, in dem er sich zu untersuchen vornimmt eij aujtodevspotov~ ejstin tw`n paqw`n oJ eujsebh;~ logismov~ (1,1). Als exempla hierfür dienen ihm die makkabäischen Märtyrer. Formal setzt sich das Buch aus Elementen einer philosophischen Abhandlung und enkomiastischen Stücken zusammen. Der Verfasser besaß offenbar eine schulmäßige rhetorische Ausbildung, und er bedient sich eines üppigen asianischen Stils. Anthropologisch bewegt sich das Buch viel stärker auf den Hellenismus zu als seine Vorlage, doch bleibt der yuchv-Begriff in der Schwebe zwi304 305

Vgl. hierzu ausführlich van Henten, Martyrs. Wir folgen hierin van Henten, Datierung.

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

schen hellenistischer Leib-Seele-Dichotomie und einer monistischen Anthropologie. In der Fassung von 4Makk. 9,7 behauptet sich Eleazar gegenüber Antiochos mit den Worten: peivraze toigarou`n, tuvranne: kai; ta;~ hJmw`n yuca;~ eij qanatwvsei~ dia; th;n eujsevbeian, mh; nomivshæ~ hJma`~ blavptein basanivzwn. hJmei`~ me;n ga;r dia; th`sde th`~ kakopaqeiva~ kai; uJpomonh`~ ta; th`~ ajreth`~ a\qla e{xomen kai; ejsovmeqa para; qew`æ, diÆ o}n kai; pavscomen: su; de; dia; th;n hJmw`n miaifonivan aujtavrkh karterhvsei~ uJpo; th`~ qeiva~ divkh~ aijwvnion bavsanon dia; purov~. – Also dann, versuche dein Glück, Tyrann. Auch wenn du unser Leben um der Frömmigkeit willen tötest, meine nicht, du würdest uns mit der Folterung Schaden zufügen. Denn wir werden als Ausgleich für das Erdulden des schlimmen Leidens den Siegespreis der Tugend erhalten, und wir werden bei Gott sein, um dessentwillen wir ja auch leiden, du aber wirst dir als verdiente Strafe für die an uns verübte Greueltat von der göttlichen Vergeltung ewige Feuersqual einhandeln.306

Der yuchv-Begriff wird an dieser Stelle biblisch im Sinn von „Leben“ verwendet.307 Der den Tod überdauernde Wesenskern wird einfach pronominal ausgesagt (hJma`~, hJmei`~) und anthropologisch nicht weiter problematisiert. Auch kann keine Aussage darüber gemacht werden, ob das postmortale Strafgeschick des Tyrannen leiblich gedacht werden soll. „Aus den Feuersqualen des Tyrannen im Jenseits kann man [...] nicht erschließen, dass die eschatologische Seinsweise leiblich konzipiert sein müsse, weil sonst keine Schmerzempfindung bestehe und die Bestrafung sinnlos würde. Falls der Autor überhaupt so scharfsinnig darüber nachgedacht hat, könnte er sich dafür auch bei den Griechen Rat holen. Auch dort leiden die Seelen in der Unterwelt, selbst da, wo es eigentlich in Widerspruch zur eigenen Seelenlehre steht.“308 Entscheidend ist dagegen, dass der Märtyrer durch sein Wissen um die eschatologische Vergeltung von Lohn und Strafe über die „Deutungshoheit“ von beider Tod verfügt. Die augenfälligen Machtverhältnisse werden dadurch imaginär umgekehrt: Nicht dem Märtyrer droht der Untergang, sondern seinen Verfolgern. Weiter ausgebaut als in 2Makk. ist in 4Makk. die sühnetodtheologische Überhöhung des Märtyrertodes. Eleazar avanciert vom „Schriftgelehrten“ (2Makk. 6,18) zum „Priester“ aaronidischer Abstammung (4Makk. 5,4), und in dieser Eigenschaft wird sein Sterben zum Sühnopfer. Die letzten Worte Eleazars richtet Eleazar in einem Bittgebet an Gott: su; oi\sqa, qeev, parovn moi swvæzesqai basavnoi~ kaustikai`~ ajpoqnhvæskw dia; to;n

novmon. i{lew~ genou` tw`æ e[qnei sou ajrkesqei;~ th`æ hJmetevraæ uJpe;r aujtw`n divkhæ. kaqavrsion aujtw`n poivhson to; ejmo;n ai|ma kai; ajntivyucon aujtw`n labe; th;n ejmh;n 306

Kursive im Original. So m.R. Klauck, Makkabäerbuch 672. 308 Klauck, Makkabäerbuch 673. 307

Antike ars moriendi als gemeinhellenistische Popularethik

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yuchvn. – Du weißt, o Gott, obgleich es mir freistand, mich zu retten, sterbe ich in den Qualen des Feuers um des Gesetzes willen. Sei gnädig deinem Volk. Lass dir an unserer Bestrafung genügen, die wir für sie auf uns nehmen. Zu einem Reinigungsopfer für sie mache mein Blut, und nimm mein Leben als Ersatz für ihr Leben (6,27–29).

Das anschließende Resümee integriert den Sühnopfergedanken in den Vorstellungsrahmen des griechischen Enkomions und stellt außerdem einen expliziten Zusammenhang zum philosophischen Beweisziel des Buches her: tau`ta eijpw;n oJ iJero;~ ajnh;r eujgenw`~ tai`~ basavnoi~ ejnapevqanen kai; mevcri tw`n tou` qanavtou basavnwn ajntevsth tw`æ logismw`æ dia; to;n novmon. – Nach diesen Worten starb der heiligmäßige Mann in edler Haltung unter Martern. Bis zum qualvollen Tod widerstand er mit Hilfe seiner Urteilskraft um des Gesetzes willen (6,30).

Das Martyrium Eleazars ist trotz der biblisch-jüdischen Herkunft des Sühnopfergedankens für griechisches Denken nachvollziehbar als ein Modus des eujgenw`~ ajpoqnhvskein. Eleazer stirbt nämlich für das Gemeinwohl des Volkes, und dies ist (wie auch der Heldentod in der Schlacht) griechisch anerkannt als eine Weise ehrenvollen Sterbens.309

9. Antike ars moriendi als gemeinhellenistische Popularethik Abschließend sollen über die Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel hinaus noch einige für unsere Fragestellungen wichtige Aspekte eigens hervorgehoben werden. Wir haben uns dem Thema des II. Teils dieser Studie über eine Durchsicht antiker Rhetorikhandbücher, Grabreden und Exemplasammlungen genähert und die hellenistisch-römische Philosophie als scheinbar näher liegenden Zugang erst zum Ende hin behandelt. Wie kein anderer Sektor der antiken Literaturgeschichte fördert nämlich die Rhetorik die soziokulturellen Standards zutage, durch die antike Wahrnehmungen des Todesproblems gesteuert werden und ohne die sie nicht hinreichend erfasst werden können. Indem die Rhetorik das Thema Sterben und Tod in der epideiktischen und forensischen Rede nach den Regeln von Lob und Tadel abhandelt, bildet sie eine für die griechisch-römische Antike offenbar insgesamt kennzeichnende gesellschaftliche Wirklichkeit ab, in der dem Todesgeschick eines Menschen ein außerordentlich hoher Symbolwert für die Gesamtdeutung seiner Biographie zugemessen und ein individueller Charakter entscheidend an seinem Todesverständnis gemessen wurde.

309 S.o. S. 63 zu PsHermogenes (Sterben uJpe;r th`~ patrivdo~ macovmeno~), sowie Diogenes Laertios zur eu[logo~ ejxagwghv der Stoiker: eujlovgw~ tev fasin ejxavxein eJauto;n tou` bivou to;n sofo;n kai; uJpe;r patrivdo~ kai; uJpe;r fivlwn (VitPhil. 7,130).

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

Der Einstieg bei der Rhetorik ist auch deshalb instruktiv, weil sich von hier aus nicht nur die Verwendung rhetorischer Topoi in Biographie, Geschichtsschreibung und Philosophie nachzeichnen, sondern auch die Interdependenz von Todesdeutungen in rhetorischen und nichtrhetorischen Texten aufzeigen lässt. Die biographischen exempla, die der Rhetor aus Biographien, Geschichtswerken oder, bereits für den rhetorischen Gebrauch zusammengestellt, aus Exemplasammlungen entnahm, mussten nicht erst für die tägliche Redepraxis aufbereitet werden. Sie sind vielmehr selbst schon nach den Deutungsmustern konstruiert, die auch die Rhetorik in Lob oder Tadel zur Anwendung bringt. Dasselbe gilt für die Verwendung dieser exempla in philosophischen Texten: Da im Entwurf idealen Sterbens das philosophisch Angemessene stets dem gesellschaftlich Anerkannten korrespondiert, konnte der philosophische Diskurs (Cicero, Seneca) in reichem Maße auf Beispiele würdigen und unwürdigen Sterbens zurückgreifen, um die Plausibilität der eigenen Argumentation zu erhöhen. Der rhetorischen Alternative von Lob und Tadel entspricht in Biographie, Geschichtsschreibung und Philosophie die suvgkrisi~. Würdiges Sterben mit wird unwürdigem verglichen und umgekehrt. Wie es für den Rhetor eine konzeptionelle Enscheidung ist, ob eine Person entweder gelobt oder aber getadelt werden soll, so kennt die suvgkrisi~ kein Drittes zwischen beidem, kein differenzierendes Abwägen. Bestimmend ist vielmehr die kontrastierende Gegenüberstellung guter und schlechter Charaktere. Solche Charakterpaare finden sich gehäuft in der josephischen Geschichtsschreibung (Herodes/Gelehrtenschüler, Phasaël/Hyrkan, Mariamme/Alexandra), ebenso in den Doppelbiographien Plutarchs (Sertorius/Eumenes), aber auch in der Literatur der exitus illustrium virorum und in der jüdischen Martyrologie (Weiser/Tyrann). Wo sich die gegensätzliche Darstellung auf dieselbe Person bezieht, gerät ihr Todesverständnis und Todesgeschick in den Widerstreit von Apologetik und Polemik. Schon der platonische Sokrates muss die ideale Todesbereitschaft des Philosophen gegen eine diametral entgegengesetzte Deutung als Lebensverdruss über eine verdientermaßen gescheiterte Existenz verteidigen. Der vorteilhaften Darstellung von Pompeius’ Tod bei Plutarch steht die überaus polemische Deutung als Strafe Gottes in den Psalmen Salomos gegenüber. Lukian weiß gar von Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern des Peregrinus zu berichten, die den Freitod des Kynikers entweder loben oder aber lächerlich machen. Einen direkten Widerstreit zwischen Apologetik und Polemik formuliert auch die weisheitliche Reflexion auf die teleuth; sofou` in Sapientia Salomonis 4– 5. Für die Positivdarstellung von Senecas Tod bei Tacitus und dem Sterben Catos bei Cicero kann jeweils von polemischen Gegendarstellungen ausgegangen werden, die das Ansehen einer politischen Symbolfigur von ihrem Lebensende her nachhaltig zu beschädigen suchten (neronische Propaganda

Antike ars moriendi als gemeinhellenistische Popularethik

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gegen Seneca, Anticatones Cäsars). Gesichert sind solche Gegendarstellungen innerhalb der literarischen Auseinandersetzung um die Sokrates-Gestalt (Polykrates’ kathgoriva vs. Platons und Xenophons ajpologiva). Besonders augenfällig ist das tertium non datur zwischen Apologetik und Polemik in der josephischen Darstellung vom Tod des Hasmonäers Antigonos. Ein und dasselbe Todesgeschick wird aus der Feder desselben Autors einmal zum Ruhm des Protagonisten erzählt (Antiquitates) und einmal als vernichtende Bloßstellung eines schlechten Charakters (Bellum). Das Interesse der Darstellung haftet bei einer positiven wie negativen Tendenz häufig am Todesgeschick des Leibes. Dieses wird in den apologetischen oder polemischen Skopos, wenn es erst eine Rolle spielt, in vollem Umfang mit einbezogen: Plutarch erzählt die unwürdige Ermordung des Pompeius so, dass dem Leib des Sterbenden und Toten ein letzter Rest an Würde bleibt. Für den Verfasser von PsSal. 2 vollzieht sich dagegen das göttliche Strafhandeln gerade am sw`ma des Pompeius. Auch bei Sueton ist eine bewusste narrative Gestaltung zu erkennen, die mit dem vom Todesgeschick her entworfenen Gesamturteil über die Person des jeweiligen Herrschers durchweg in Einklang steht: Der bereits tödlich getroffene Cäsar verhüllt seinen Leib mit der Toga, dagegen werden Caligula, Nero und Vitellius vor den Augen der Leser ostentativ entblößt. Zwei krasse Beispiele einer den Leib des Sterbenden einbeziehenden Polemik liegen mit Senecas Apocolocynthosis und Josephus’ Darstellung des Todes Apions vor: Die Häme des Josephus über das tödliche Genitalgeschwür Apions ist ebenso wenig zu übersehen wie der Spott Senecas über die Inkontinenz des sterbenden Claudius und seine körperlichen Fehler, über die sich noch das himmlische Forum der Götter lustig macht. Ein Sonderfall ist der Leib von Senecas Gattin Paulina bei Tacitus: Nachdem ihr tapferer Freitod von Neros Schergen verhindert wurde, bleibt ihr Leib von den körperlichen Folgen ihrer noblen Todesverachtung lebenslang gezeichnet. Wiederholt spielt das jenseitig-postmortale Geschick eine Rolle. Der schmachvolle Auftritt des Claudius vor der Götterversammlung bildet in Senecas Apocolocynthosis die Rahmenhandlung der ganzen Satire. Bei Sueton ist auf die Apotheose des Augustus zu verweisen, und als negatives Pendant auf den himmlischen Fußtritt, mit dem Caligula traumhalber schon bei Lebzeiten des Götterhimmels verwiesen wird. Die hellenistisch-jüdische Sapientia Salomonis stellt das künftige eschatologische Geschick des Gerechten dem der Gottlosen in scharfem Kontrast gegenüber. Der postmortaljenseitige Aspekt kann, wie die beiden letzten Beispiele zeigen, auch schon im Vorgriff von Lebenden ausgesagt werden. Dies tun etwa auch die jüdischen Märtyrer in 2Makk. und 4Makk., wenn sie den Tyrannen, der sie zunächst überlebt, mit seinem künftigen Strafgeschick konfrontieren und für sich selbst einen postmortalen Heilszustand beanspruchen. Gemeinantik

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Antike Wahrnehmungen des Todesproblems

lässt sich sagen, dass bei der Formulierung eines positiven Todesverständnisses der Rekurs auf postmortal-jenseitige Heilsvorstellungen praktisch überall in irgendeiner Form vorkommt, und sei es aus der Reserve eines moderaten Skeptizismus heraus. Die einzige wirkliche Ausnahme ist die epikureische Philosophie mit ihrem konsequenten Verzicht auf jegliche Spekulation über das postmortale Geschick der Seele. Schon für den platonischen Sokrates ist das ei\naiv ti toi`~ teteleuthkovsi kaiv [...] polu; a[meinon toi`~ ajgaqoi`~ h] toi`~ kakoi`~ eine unabdingbare Voraussetzung für ein positives Todesverständnis. In Analogie dazu ist die von Josephus gerühmte Jenseitshoffnung der Essener als Beweggrund ihrer Todesverachtung zu verstehen. Die Verschränkung von Lebens- und Todesdeutung äußert sich in narrativen Texten häufig darin, dass der Lebende sich in „letzten Worten“ (ultima verba) zu seinem eigenen Tod äußert und diesen damit autoritativ selbst deutet. Auch hier ist es gemeinhin eine positive Selbstdeutung, die aus dem Mund des Sterbenden laut wird. Ausnahmen (Claudius in Senecas Apocolocynthosis, Neros lächerliches qualis artifex pereo bei Sueton) bestätigen die Regel. Welche Bedeutung den ultima verba im Widerstreit apologetischer und polemischer Todesdeutungen zukommt, vermag der Vergleich zwischen der josephischen und lukanischen Version vom Tod Agrippas I. zu illustrieren: Bei Lukas stirbt Agrippa als Verfolger der christlichen Gemeinde „ohne Worte“ einen qualvollen Straftod, bei Josephus erhält er dagegen Gelegenheit, zu seinem baldigen Tod, der ihm durch ein Prodigium angekündigt wird, ausführlich Stellung zu nehmen und sein jähes Ende in vorbildlicher Weise zu bejahen. Vollends wird das Todesproblem innerhalb des philosophischen Diskurses zum Problem der Lebenden. Geht es in biographischen Sterbeszenen und rhetorischen exempla in der Regel um Verstorbene, so wendet die hellenistisch-römische Popularphilosophie dieselben soziokulturellen Deutungsmuster auf Lebende an, näherhin auf die zu bewältigende Aufgabe eines philosophisch verantworteten Todesverständnisses. Die programmatische Formel Senecas male vivet quisquis nesciet bene mori steht für die zentrale Stellung des Todesproblems in antiker philosophischer Ethik überhaupt. Antike ars moriendi wird damit zu einem Kernthema philosophischer Lebenskunst. Wer sie zu beherrschen beansprucht, nimmt damit zugleich in Anspruch, ein respektabler Charakter zu sein.

III. Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

1. Ein erster Zugang Wir haben nun einen weiten Weg zurückgelegt. Wir haben uns auf einer breiten Quellenbasis antiken Wahrnehmungen des Todesproblems angenähert und dabei festgestellt, dass der metaphysische und existentielle Aspekt von Sterben und Tod für antikes Denken und Empfinden fast durchweg überlagert wird von einer starken ethischen Komponente. Im kulturellen Kontext der hellenistisch-römischen Antike gehört das Todesproblem zu weiten Teilen in den Bereich der Charakterkunde. Der antike Mensch wird wegen seines Todesverständnisses und seines Todesgeschicks gelobt oder getadelt, glücklich gepriesen oder verachtet. Damit ist eine erste Antwort auf die Frage gegeben, warum Paulus im Kontext der Apologie 2Kor 2,14–7,4 das Todesproblem überhaupt in der Weise thematisiert, wie er es in 5,1–10 tut: Mit einer starken subjektiven Färbung, die offenbar weniger über die „Realien“ des Sterbens aussagt als über die individuelle Haltung des Adressanten. Orientiert man sich entlang der Verbalaussagen des Textsegments, entsteht gleichsam ein Psychogramm, das kognitive, emotional-affektive und voluntativ-intentionale Aspekte zu einer vom Todesproblem her entworfenen Charakterskizze formt:

oi[damen (V. 1) stenavzomen (V. 2) ejpipoqou`nte~ (V. 2) stenavzomen barouvmenoi (V. 4) (ouj) qevlomen (V. 4) qarrou`nte~ (V. 6) eijdovte~ (V. 6) qarrou`men (V. 8) eujdokou`men (V. 8) filotimouvmeqa (V. 9) Der kognitive Aspekt ist durch oi[damen in V. 1 und eijdovte~ in V. 6 abgedeckt, der emotional-affektive durch stenavzomen und ejpipoqou`nte~ in V. 2, durch stenavzomen barouvmenoi in V. 4, sowie durch qarrou`nte~ in V. 6 und qarrou`men in V. 8. Der voluntativ-intentionale Aspekt kommt mit ejpipoqou`nte~ in V. 2, (ouj) qevlomen in V. 4, eujdokou`men in V. 8 und filotimouv-

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

meqa in V. 9 zur Sprache. Zieht man stenavzomen [...] ejpipoqou`nte~ (V. 2) zu einer einzigen Aussage zusammen, kann man auch von einem affektivintentionalen Sachverhalt sprechen: Die „Sehnsucht“ nach dem Überkleidetwerden evoziert das „Seufzen“. Dass und inwiefern diese Aussagen das paulinische Todesverständnis explizieren, wird die Einzelauslegung zeigen. Zunächst soll lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, dass zentrale biographische und philosophische Texte zu antiker Sterbe-Ethik ganz ähnliche Persönlichkeitsbilder entwerfen und damit ein vorbildliches oder aber verfehltes Todesverständnis exemplifizieren. Wir wählen hierzu Beispiele aus Xenophon, Epikur und Plutarch. Diese Texte wurden im II. Teil bereits näher untersucht, sodass hier eine kurze Rekapitulation genügt. (1) Nach Xenophon, Apol. 331 „bewies“ (ejpedeivxato) der zum Tode verurteilte Sokrates seine „Seelenstärke“ (th`~ yuch`~ rJwvmh) dadurch, dass er „urteilte“ (e[gnw), Sterben sei für ihn besser als Weiterleben (kognitiver Aspekt), und auf Grund dieser Überzeugung „erwartete“ (prosedevceto) er den Tod (intentionaler Aspekt), und zwar iJlarw`~ „heiteren Gemüts“ (emotional-affektiver Aspekt). (2) Ein vergleichbares Psychogramm idealen Todesverständnisses findet sich bei Epikur, adMen. 124f:2 Maßgeblich ist für den Epikureer die „rechte Einsicht“ (gnw`si~ ojrqhv), dass der Tod den Menschen nichts angeht (kognitiver Aspekt). Dieses Wissen ermöglicht es ihm, sein Dasein trotz seiner Endlichkeit „genussreich“ (ajpolaustov~) zu erleben (emotionaler Aspekt). Auch der intentionale Aspekt spielt bei Epikur eine Rolle, dergestalt nämlich, dass sich der Epikureer gemäß der Maxime mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton jede auf den Tod gerichtete Erwartungshaltung verbietet, eine positive ebenso wie eine negative: Er ist frei von „Sehnsucht nach Unsterblichkeit“ (th`~ ajqanasiva~ povqo~), und erst recht weiß er, dass der Tod als Gegenstand der Erwartung (prosdokwvmenon) nur einen „leeren Schmerz verursachen“ kann (kenw`~ lupei`). (3) Plutarch beschreibt in Tranq. 467a–b3 die fehlende Todesbereitschaft des „Toren“ (ajnovhto~): Die „Furcht vor dem Tod“ (tou` qanavtou fovbo~, affektivintentionaler Aspekt) bewirkt, dass er sich ans Leben klammert. Weil der Tor die Natur der Seele nicht „erkennt“ (ejpinow`n), und weil er nicht die richtigen „Überlegungen“ über den Tod anstellt (ejpilogizovmeno~, kognitiver Aspekt), ist er zur Todesverachtung (pro;~ to;n qavnaton ajfobiva, affektiv-intentionaler Aspekt) nicht fähig, sieht dem Sterben mit Furcht entgegen und beraubt sich somit jeglicher Seelenruhe (eujqumiva, affektiv-emotionaler Aspekt). Stets geht es in diesen Texten um eine entweder positiv oder negativ bewertete charakterliche Disposition im Blick auf das Todesproblem. 1

S.o. S. 162. S.o. S. 180. 3 S.o. S. 176. 2

Ein erster Zugang

225

Hieran entscheidet sich, ob jemand, mit Plutarch gesprochen, ein „Weiser“ oder ein „Tor“ ist. Diese und viele weitere Texte lassen außerdem ein vitales Interesse daran erkennen, solche „Weisheit“ bzw. „Torheit“ psychologisch möglichst genau zu durchleuchten. Die Affinität dieser Betrachtungsweise zum Gedankengang in 2Kor 5,1–10 lässt sich folgendermaßen veranschaulichen: Xenophon

Epikur

Plutarch

2Kor 5,1–10

kognitiv

e[gnw

gnw`si~ ojrqhv

affektivemotional

iJlarw`~

ajpolaustov~

ejpinow`n ejpilogizovmeno~ eujqumiva

oi[damen, eijdovte~ qarrou`nte~, qarrou`men

oJ tou` qanavtou fovbo~, pro;~ to;n qavnaton ajfobiva

stenavzomen [...] ejpipoqou`nte~,

affektivintentional

voluntativintentional

prosedevceto prosdokwvmenon, th`~ ajqanasiva~ povqo~

(ouj) qevlomen, eujdokou`men, filotimouvmeqa

Diese Übersicht zeigt, dass 2Kor 5,1–10 jeden der genannten Aspekte mehrfach abdeckt: Paulus formuliert ein bestimmtes den Tod betreffendes „Wissen“, er beschreibt seine Haltung zu Sterben und Tod außerdem nach ihrer affektiv-intentionalen Seite als ein „sehnsuchtsvolles Seufzen“, er formuliert, was er im Blick auf seinen Tod (das „Entkleidetwerden“) „will“ und wozu er „entschlossen“ ist. Gilt nun aber für die herangezogenen Vergleichstexte, dass hier stets ein Urteil über bestimmte charakterliche Dispositionen und Persönlichkeitsbilder gefällt wird, scheint die Annahme berechtigt, dass es auch Paulus in 2Kor 5,1–10 um eine seinen Charakter und seine Person betreffende Urteilsbildung geht, bzw. dass er das Urteil, das seine Adressaten über ihn fällen, damit zu seinen Gunsten beeinflussen will. Die Einzelauslegung wird zeigen, dass sich jede dieser Aussagen in der Tat als Explikation antiker Sterbe-Ethik interpretieren lässt. Damit ist indes nur eines von zwei Themenfeldern antiker Wahrnehmungen des Todesproblems erfasst. Neben dem Todesverständnis einer Person ist, wie wir gesehen haben, auch ihr Todesgeschick von Bedeutung. In 2Kor 5,1–10 spielt dieser Aspekt in V. 1 eine Rolle (Erhalt des „Himmelshauses“), in V. 2 (Himmelshaus als neues Obergewand), in V. 3 („nicht nackt erfunden werden“) und in V. 10 (Gericht nach den Werken). Als Inhalt seiner persönlichen Gewissheit (oi[damen), die ihn den Tod mit sehn-

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

suchtsvollem Seufzen (stenavzomen [...] ejpipoqou`nte~) erwarten lässt, macht Paulus in V. 1 die Aussicht auf einen neuen, himmlischen Leib namhaft. Hier setzt unser exegetischer Durchgang durch den Text ein.

2. Exegese von 2Kor 5,1–10 2.1 Der himmlische Leib als eschatologisches Gegenbild des irdischen (V. 1). Wir stellen unsere These zu V. 1 an den Anfang: Paulus thematisiert mit dem kataluqh`nai der ejpivgeio~ oijkiva tou` skhvnou~ seinen eigenen Tod, näherhin die Möglichkeit seines eigenen, physischen Todes vor der Parusie. Die ejpivgeio~ oijkiva tou` skhvnou~ ist nichts anderes als eine Umschreibung für den Leib, und dessen „Zerstörtwerden“ bezeichnet das physische Sterben. Dass Paulus nicht wie in Phil 3,21 vom „Verwandeltwerden“ des Leibes spricht, auch nicht wie in Röm 8,23 von seiner „Erlösung“, sondern drastischer und realistischer von seinem „Zerstörtwerden“, hängt damit zusammen, dass er in 2Kor 5,1ff – pointiert gesagt – einen biographischen Topos verwendet. Nach antikem Verständnis ist das Sterben eines Menschen der „kritischste“ Punkt seiner Biographie, und zwar deshalb, weil von diesem Punkt aus ein irreversibles, Lebenslauf (bivo~) und Charakter (h\qo~) insgesamt betreffendes Urteil gefällt werden kann. Paulus ist im apologetischen Kontext von 2Kor 2,14–7,4 daran gelegen, im Vorgriff auf sein eigenes Sterben diesem Urteil eine positive Richtung zu geben. Er tut dies, indem er sein von Gott zugesagtes eschatologisches Ergehen als Kontrastbild zu seinem möglichen irdischen Todesgeschick aufruft: Wenn der irdische Leib der Zerstörung anheimfällt, wird er dafür den himmlischen erhalten. Für diese Denkfigur kann die weisheitliche Reflexion über das Geschick des Gerechten in SapSal. 4,7ff als anschauliche Parallele namhaft gemacht werden:4 Über den von den „Gottlosen“ angefeindeten und verachteten „Gerechten“ (divkaio~) heißt es dort: eja;n fqavshæ teleuth`sai, ejn ajnapauvsei e[stai, „wenn er vor der Zeit stirbt, wird er in der (himmlischen) Ruhe leben“ (4,7). Wie der physische Tod des Paulus vor der Parusie, so wird auch der verfrühte Tod des Gerechten (bei identischer Satzkonstruktion mit ejavn c. cj. aor.) als äußerste Möglichkeit seines verachteten Daseins thematisiert und aus der Perspektive des von Gott gewährten postmortalen Heils so gedeutet, dass die Verachtung, die ihm von seiner Umwelt widerfährt, als irrig entlarvt wird. Das als „ehrenhaft“ (tivmion) anerkannte „Grei4 Zu diesem Text s.o. Kap. II.7. Vgl. auch die Überlegungen bei Gaventa, Rhetoric, die freilich weitgehend im Formalen stecken bleiben.

Exegese von 2Kor 5,1–10

senalter“ (gh`ra~) ist ein lediglich äußerer, scheinbarer Wert (4,8). Ins wicht fallen dagegen „menschliche Klugheit“ (frovnhsi~ ajnqrwvpoi~) „ein Leben ohne Flecken“ (bivo~ ajkhlivdwto~, 4,9). Die Lebensende Lebensführung umfassende Positivdeutung wird ausdrücklich gegen Unverständnis der „Gottlosen“ in Anschlag gebracht: o[yontai ga;r

227 Geund und das

teleuth;n sofou` kai; ouj nohvsousin tiv ejbouleuvsato peri; aujtou` kai; eij~ tiv hjsfalivsato aujto;n oJ kuvrio~. o[yontai kai; ejxouqenhvsousin, „Sie werden nämlich das Ende des Weisen sehen, und sie werden nicht verstehen, was mit ihm geplant war und zu welchem Zweck der Herr ihn in Sicherheit gebracht hat“ (4,17f). Der hier artikulierte Widerstreit der Deutungen entscheidet sich am rechten Verständnis der teleuthv. Wird nur der Tod des Gerechten in seiner eschatologischen „Kehrseite“ richtig verstanden als von Gott gewährte ajnavpausi~, ist auch die Geringschätzung seines bivo~ als maniva (5,4) nicht mehr haltbar. Derselben Logik dürfte der paulinische Rekurs auf das kataluqh`nai der ejpivgeio~ oijkiva tou` skhvnou~ folgen. Das als Zerstörtwerden seines irdischen Leibes verstandene Sterben markiert nämlich den möglichen Extrem- und Grenzfall der schon in 2Kor 4,7ff namhaft gemachten Niedrigkeit seiner leiblichen Erscheinung, die seine Konkurrenten gegen ihn ins Feld führen. Paulus spricht, nachdem er in 4,7ff die Todesgestalt seiner irdischen Existenz einer christologischen und soteriologischen Positivdeutung unterzogen hat, nun auch noch das tatsächliche Todesgeschick des Leibes an, weil es ihm von hier aus möglich ist, das eschatologische Gegenbild eines himmlischen Leibes zu entwerfen, das die Niedrigkeit des irdischen überbietet und aufhebt.5 Die Eschatologie von 2Kor 5,1ff ist vom Problem des Leibes her konzipiert, nicht weil eschatologische Leiblichkeit gewissermassen als Nachwort zu 1Kor 15 nochmals sichergestellt oder aktuell gegen anders lautende anthropologische Konzepte in den Reihen der Adressaten verteidigt werden müsste, sondern weil die den Adressaten anstößige leibliche Erscheinung des Paulus einer auch eschatologische Aspekte umfassenden theologischen Deutung bedarf. Paulus geht in 2Kor 5 insofern über 1Kor 15 hinaus, als ihn der eschatologische Leib nicht um seiner selbst willen interessiert, sondern als eschatologisches Gegenstück zum irdischen. Das „Zerstörtwerden des irdischen Leibes“ ist nicht lediglich ein notwendiges Kettenglied, das einen vermeintlichen Exkurs mit der vorangegangenen Betrachtung zur Niedrigkeit der apostolischen Existenz verbindet. Vielmehr ist der irdische Leib (im Unterschied sowohl zu 1Thess 4 wie auch zu 1Kor 5 Vergleichbar ist auch Cicero, Tusc. 1,71b zum Tod des Sokrates (s.o. S. 170): Sein Sterben war nicht ein ad mortem trudi, sondern ein in caelum escendere. Das ad mortem trudi beschreibt die verächtliche Außenperspektive des zum Tode Verurteilten, mit in caelum escendere ist dagegen ein postmortal-jenseitiges Todesgeschick formuliert, das eine positive Deutung von Sokrates’ Tod ermöglicht.

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15) das zentrale Problem, das den Rekurs auf den himmlischen im apologetischen Kontext der Stelle überhaupt erst auf den Plan ruft. Zugleich formuliert Paulus in V. 1 die erste von mehreren Aussagen über sein subjektives Todesverständnis, indem er das Bereitliegen des himmlischen Leibes als Inhalt seiner persönlichen Gewissheit thematisiert (oi[damen). Die hierbei vorausgesetzte Auffassung der 1. Pers. Pl. in V. 1 (oi[damen [...] o{ti [...] e[comen) als Aussage des Paulus über sein persönliches Wissen, das zwar nicht exklusiv aber doch vorrangig ihn selbst betrifft, und nicht etwa als Rekapitulation gemeinchristlicher Inhalte, haben wir bereits an anderer Stelle begründet.6 Weiterhin ist für die eingangs formulierte These (a) der mit gavr angezeigte Bezug auf den vorangehenden Kontext zu beachten. Vorausgesetzt ist außerdem, dass sich (b) die von Paulus verwendete Baumetaphorik auf den Gegensatz von irdischem und himmlischem Leib bezieht, und dass (c) mit der „Zerstörung“ des „irdischen Zelthauses“ der Vorgang des individuellen Sterbens gemeint ist. Alle drei Punkte sind strittig und bedürfen der Diskussion. (a) Das durchweg kausal verstandene gavr wird gemeinhin bezogen auf V. 17 als Realgrund für den Erhalt ewiger dovxa oder auf V. 18a als Begründung der subjektiven Ausrichtung auf die nicht sichtbaren Dinge, teilweise auch unter Einschluss von V. 16 als Grund für das oujk ejgkakei`n. Letztere Auffassung wird vertreten u.a. von Bachmann7 und Wolff8, erstere u.a. von Windisch9, Lindemann10 und Grässer11. Da Paulus in 5,1 einerseits seine subjektive eschatologische Gewissheit zum Ausdruck bringt und zugleich detaillierte Aussagen über den Inhalt dieser Gewissheit macht, liegt es nahe, den Begründungszusammenhang zwischen 5,1 und 4,17f (bzw. 4,16–18) auf beide Aspekte auszudehnen: Dass Paulus „nicht mutlos wird“ (4,16) und sich unbeirrt am „nicht Sichtbaren“ orientiert (4,18a), ist begründet in seiner Gewissheit, dass der Himmelsleib für ihn bereit liegt, wenn sein irdischer Leib zerstört wird. Sofern das Begründungsverhältnis zwischen 5,1 und 4,16–18 den subjektiven Aspekt von Paulus’ individueller Einstellung betrifft, gilt also: Sein unbeirrbarer Mut und seine Orientierung an der unsichtbaren Welt wurzeln in seinem Wissen um sein eschatologisches Geschick. Für die objektive Seite dieses Begründungsverhältnisses kommen als zu begründende Sachverhalte das tägliche Erneuertwerden des inneren Menschen (4,16) und die schon erwähnte ewige dovxa (4,17) in Frage. Das 6

S.o. S. 32–43. Bachmann, 2Kor 215. 8 Wolff, 2Kor 106. 9 Windisch, 2Kor 158. 10 Lindemann, Eschatologie 392. 11 Grässer, 2Kor 183. 7

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tägliche (hJmevraæ kai; hJmevraæ) Erneuertwerden des inneren Menschen ist jedoch ganz eindeutig ein Geschehen, dass sich schon gegenwärtig im Verborgenen am Apostel vollzieht, wogegen das eschatologische Heilsgut des Himmelshauses ihm erst nach dem Tod zuteil wird. Eine Kausalbeziehung zwischen beidem wäre nur denkbar, wenn man den e[sw a[nqrwpo~ aus 4,16 und die oijki;a ajceiropoivhto~ aus 5,1 identifiziert, was in der Forschung aber nur gelegentlich vertreten und mehrheitlich m.R. abgelehnt wurde.12 Der e[sw a[nqrwpo~ ist eine Beschreibungskategorie des irdischen Lebens, und sei es unter dem Aspekt einer verborgen gegenwärtigen eschatologischen Wirklichkeit, wogegen es sich bei der oijkiva ajceiropoivhto~ explizit um eine zukünftige Größe handelt, die zudem unzweideutig ejn toi`~ oujranoi`~ lokalisiert wird. Dagegen spricht auch nicht das Präsens e[comen.13 Es bleibt also als objektive Bezugsgröße die in 4,17 erwähnte dovxa. Zutreffend formuliert Lindemann: „Der gegenwärtig erlittenen qli`yi~“ wird „eine überschwengliche dovxa gegenüberstehen, weil wir die Gewissheit haben, dass nach unserem Tode eine oijkiva ajceiropoivhto~ aijwvnio~ bei Gott auf uns wartet.“14 Es geht Paulus mit dem Rekurs auf die oijkiva ajceiropoivhto~ offenbar nicht um eine nochmalige Klärung der anthropologischen Prämissen seiner Soteriologie, sondern um den himmlischen Leib als „Trägersubstanz“ eschatologischer Herrlichkeit. Ist an seinem irdischen Leib nur qli`yi~ wahrnehmbar, so wird der himmlische dovxa ausstrahlen. Die Metapher ewiger dovxa ist ein erster textinterner Hinweis darauf, dass der himmlische Leib für Paulus in 2Kor 5,1ff gewissermaßen wegen seiner eschatologischen „Außenwirkung“ wichtig ist: Mit diesem Leib wird er dereinst „dastehen“, nicht mit dem irdischen Leib der Niedrigkeit.15 (b) Der hier vorausgesetzte und von den meisten Auslegungen auch vertretene Bezug der ejpivgeio~ hJmw`n oijkiva tou` skhvnou~ auf den individuellen irdischen Leib16 steht in Einklang mit dem griechischen und hellenistisch-jüdischen Sprachgebrauch. Skh`no~ ist in der wörtlichen Bedeutung „Zelt“ nur äußerst spärlich belegt17 und steht gemeinhin für den Leib, wenn

12

364.

Zu Darstellung und Kritik dieser auf Reitzenstein zurückgehenden Deutung vgl. Thrall, 2Kor

13 Denn e[comen meint nicht ein „Behalten“ dessen, was man vorher schon erhalten hat, wie Grässer, 2Kor 184 m.R. gegen Baumert, Sterben 184 geltend macht. 14 Lindemann, Eschatologie 392. Vgl. außer Grässer und Windisch (s.o.) auch Meyer, 2Kor 120, sowie Heinrici, 2Kor 170f: „Denn wenn wir nicht gewiss wären, dass u.s.w. (V. 1), so könnten wir auch nicht behaupten, dass unsere zeitliche Trübsal eine ewige Wucht von Herrlichkeit bewirke.“ 15 Mehr dazu unter III.2.3.1 und III.2.3.2. 16 Thrall, 2Kor 361: „The material body“. 17 Liddell/Scott/Jones, Lexicon s.v. skh`no~ I nennen hierfür nur einen einzigen Beleg aus einer Inschrift.

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nicht gar eine lexikalische Metapher vorliegt.18 Einschlägiger hellenistischjüdischer Beleg ist SapSal. 9,15 fqarto;n ga;r sw`ma baruvnei yuchvn, kai; brivqei to; gew`de~ skh`no~ nou`n polufrovntida mit dem Parallelismus sw`ma/skh`no~. Eine besondere Nähe zur paulinischen Formulierung liegt in gew`de~ als Äquivalent zu ejpivgeio~. Das Bild vom Leib als „Haus“ kommt erst in der Gnosis, namentlich in mandäischen Quellen voll zur Geltung,19 wenngleich es vereinzelt auch hellenistisch-jüdisch schon nachzuweisen ist, so bei Philo, Somn. 1,122 to;n sumfua` th`~ yuch`~ oi\kon, to; sw`ma und Praem. 120 oijkiva de; yuch`~ sumfuestavth sw`ma, auch atl. (Hi 4,19LXX; Jes 36,12, hier freilich umfassender auf die irdische Existenz bezogen), frühjüdisch (1QH VII,4f.8f) und rabbinisch (bBer. 44b).20 Der Genitiv ist epexegetisch aufzufassen:21 „Unser irdisches Haus, nämlich das Zelt“, oder man übersetzt, der Erwägung von Michaelis folgend (s.o. Anm. 18), skh`no~ sogar regelrecht mit Leib: „Unser irdisches Haus, der Leib“.22 Schwieriger zu bestimmen ist das mit oijkodomh; ejk qeou` Gemeinte, denn die Bedeutung „Leib“ hängt ja primär an skh`no~, nicht an oijkiva.23 Es kann also nicht eo ipso vom Wortlaut her vorausgesetzt werden, dass Paulus mit der oijkodomh; ejk qeou` als himmlischem Gegenstück der irdischen oijkiva tou` skhvnou~ ebenfalls einen Leib anvisiert. Unter Berufung auf den sonstigen paulinischen Sprachgebrauch, der oijkodomhv nur in ekklesiologischer Bedeutung verwendet24 und wegen der mit ajceiropoivhto~ gegebenen Assoziation eines himmlischen „Tempels“25 wird deshalb von einigen Aus18 Liddell/Scott/Jones, Lexicon s.v. skh`no~ II; Michaelis skhnhv, 383 unter Hinweis auf Demokrit, Frgm. 37.187.223 u.ö.; CorpHerm. 13,12: „Die Regel ist der übertragene Gebrauch als Bezeichnung des lebenden und toten Körpers, des menschliches Leibes [...] Dieser Sprachgebrauch ist so fest, dass man fragen kann, wieweit bei ihm die B[e]d[eu]t[un]g Zelt überh[aupt] noch empfunden worden ist bzw. ob nicht die Übers[etzung] Zelt diese Bedeutung viel zu stark heraushebt u[nd] die Übers[etzung] Leib oder Körper [...] zutreffender wäre.“ (Kursive im Original z.T. als Sperrdruck); Bauer/Aland, Wörterbuch s.v. skh`no~: „nur übertr[agen] vom Leib.“ Vgl. noch PsPlaton, Ax. 365e, 366a. Weitere Stellen bei Aune, Ethics 301 Anm. 33. 19 Vgl. dazu Vielhauer, Oikodome 37f.106ff. 20 Vgl. auch Cicero, Tusc. 1,51 animus in corpore [...] tamquam alienae domi und Seneca, Ep Mor. 118,14 nec domum esse hoc corpus, sed hospitium et quidem breve hospitium. Weitere Belege bei Lietzmann, 2Kor 117; Dupont, SUN CRISTW 141ff; weiteres jüdische Material bei Michel, Bau. 21 Prümm, 2Kor 267. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik § 167,2: „appositiv“, was aber dasselbe meint. 22 Vgl. etwa Bachmann, 2Kor 217: „unser Erdenhaus, der Leib“. Der bestimmte Artikel, der auf eine als bekannt vorausgesetzte Größe rekurriert und die (als Metapher für den Leib weniger eindeutige) oijkiva damit identifiziert und nicht etwa vergleicht, ist in jedem Fall zu beachten, also nicht: „unser irdisches Haus, das ein Zelt (d.h.: hinfällig wie ein Zelt) ist.“ 23 So m.R. Baumert, Sterben 145. Sonst wäre oijkiva tou` skhvnou~ wiederzugeben mit der widersinnigen Phrase: „der Leib, der der Leib ist.“ 24 1Kor 3,9; 14,3.5.12.26; 2Kor 10,8; 12,12; 13,10; Röm 14,19; 15,2. 25 Vgl. Mk 14,58; Apg 7,48; 17,24; Hebr 9,11.24 und Hanhart, Paul’s 453f; Rissi, Studien 76; Wagner, Tabernacle. Zur Frage der Tempelmetaphorik in 2Kor 5,1 Paesler, Tempelwort 93–110.

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legern die These vertreten, Paulus meine in V. 1b eine überindividuelle Größe, sei es in ekklesiologischer oder kosmologischer Bedeutung.26 Lang hat außerdem geltend gemacht, dass der Leib-Seele-Dualismus, wie er dem Bild vom Leib als „Haus“ und „Zelt“ durchweg anhaftet, bei Paulus gerade nicht vorliegt. Auch dies spreche gegen eine Deutung auf den individuellen Leib. Es geht indes nicht an, dass Lang in skh`no~ entgegen dem lexikalischen Befund lediglich die Hinfälligkeit der oijkiva ausgesagt findet und das Syntagma oijkiva tou` skhvnou~ unabhängig vom Gedanken des individuelles Leibes verstehen will. Ist dieser Bezug erst zugegeben, dürfte doch wenigstens soviel klar sein: Die oijkodomh; ejk qeou` ist dasjenige, wodurch der irdische Leib eschatologisch ersetzt wird. Insofern ist sie sein eschatologisches Pendant. Und was spricht dagegen, diese oijkodomhv mit dem sw`ma pneumatikovn aus 1Kor 15,44 zu identifizieren?27 Die Stelle zeigt ja zweifelsfrei, dass Paulus mit einem eschatologischen Leib gerechnet hat. Eine ganz andere Frage ist, warum Paulus den Terminus sw`ma für den himmlischen Leib in 2Kor 5 nicht verwendet,28 doch der Sache nach liegt eine Identifikation beider Größen nahe, nicht zuletzt vom Kontext der Stelle her. In 5,2.4 erhält die oijkodomh; ejk qeou` die Funktion eines eschatologischen „Gewandes“, mit dem Paulus zu kleiden sich sehnt. Der Bildspender „Kleid/Gewand“ evoziert aber die Vorstellung eines Individuums, das in seiner Kleidung von anderen wahrgenommen wird. Kann man ein Haus zu Vielen bewohnen, so trägt ein Gewand doch der oder die Einzelne. Der Aspekt des Wahrgenommenwerdens durch andere wird sogar ausdrücklich benannt, nämlich in euJreqhsovmeqa in V. 3.29 Außerdem thematisiert Paulus den Leib (nämlich die niedrige, anstößige Erscheinung seines eigenen Leibes) schon in 4,7 und 4,10f (sw`ma), aber auch in 4,16 (Zerstörtwerden des e[xw a[nqrwpo~)30 und explizit wieder in 5,6.8.10. Deshalb wird man annehmen dürfen, dass es Paulus in 5,1 darum geht, dass und wie eschatologisch an die Stelle des ir26

Der ekklesiologische Auslegungstyp hat in Robinson (Body) einen einflussreichen Vertreter gefunden. Auf den himmlischen Tempel deutet u.a. Ellis, Eschatology 217f; kritisch u.a. Lillie, Approach 66f. Weitere Ausleger, die von einer individuellen Deutung Abstand nehmen, referiert Lang, Forschung 119–138. Nach Heckel, Mensch 110 hat Paulus die von Hause aus individualistische Baumetaphorik ekklesiologisch überlagert: „Weil Paulus die ganze Gemeinde sieht und nicht erlösungsbedürftige Einzelne, kann er auch die Haus-Metapher mit Motiven aus der Metapher von der Gemeinde als Tempel Gottes anfüllen.“ 27 So etwa Borse, Jenseitserwartung 130: „Das ‚nicht von Händen gefertigte Haus in den Himmeln‘ ist der Auferstehungsleib.“ 28 Vgl. hierzu die Überlegungen auf S. 270. 29 Zur Begründung vgl. ausführlich unter III.2.3.1. 30 Vgl. Windisch, 2Kor 158, der in V. 1a „die endgültige Vernichtung des äußeren Menschen“ angesprochen findet. Richtig auch Kuschnerus, Gemeinde 283: „Der Textzusammenhang zeigt deutlich, dass das ‚irdische Zelthaus‘ sich auf die leibliche Existenz bezieht, wie das Auftreten des Stichwortes sw`ma in 4,10f; 5,6.8.10 und die Thematisierung des e[xw a[nqrwpo~ in 4,16 zeigen.“ Vgl. des weiteren Prümm, 2Kor 266 und Thrall, 2Kor 365f.

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dischen Leibes ein himmlischer tritt.31 Ob Paulus den eschatologischen Leib mit überindividuellen Zügen ausstattet, lässt sich vom Wortlaut her nicht sagen. Das Adjektiv ajceiropoivhto~ lässt sich auf einer Linie mit den übrigen Näherbestimmungen der eschatologischen oijkodomhv/oijkiva (ejk qeou`, aijwvnio~, ejn toi`~ oujranoi`~) zwanglos interpretieren als Verweis auf „die alles Irdische überragende Qualität des künftigen Leibes“,32 ohne dass man die (übrigens unpaulinische) Gleichsetzung von ekklesial gedachtem eschatologischem Heilszustand und himmlischem Tempel bemühen muss. Ebenso mündet der Passus Phil 3,12–21, von Furnish wegen des Motivs des polivteuma ejn oujranoi`~ für ein überindividuelles Verständnis auch der oijkodomh; ejk qeou` in 2Kor 5,1 geltend gemacht, in 3,21 im Gedanken einer verklärten Leiblichkeit.33 (c) Als Zeitpunkt des mit eja;n [...] kataluqh`æ beschriebenen Vorgangs kommt am ehesten der individuelle, physische Tod in Frage, so etwa Windisch: „‚wenn unser irdisches Zelthaus abgebrochen sein wird‘, d.i. ‚wenn unser Tod eintritt‘.“34 Wegen der Interpretationsprobleme, die sich mit dieser Deutung ergeben, sobald man sie zu anderen Aussagen paulinischer Eschatologie (v.a. 1Thess 4 und 1Kor 15) in Beziehung setzt,35 wurden in der Forschung wiederholt Versuche unternommen, das kataluqh`nai so zu verstehen, dass es nicht oder wenigstens nicht isoliert auf den individuellen 31 Vgl. Thrall, 2Kor 367: „[I]f V. 1a refers to individual somatic existence, it still remains likely that V. 1b will have the same reference.“ Übereinstimmend zuletzt auch Grässer, 2Kor 183: oijkodomhv „ist von Paulus als Metapher für den neuen Leib gebraucht“ (Kursive im Original). 32 Hoffmann, Toten 269. Auf einer Verwechselung von Bildspender und Bildempfänger beruht der gelegentlich vorgebrachte Einwand, die oijkiva ajceiropoivhto~ könne nicht den himmlischen Leib bezeichnen, da der irdische nicht „mit Händen gemacht“ sei, der Vergleich mithin nicht passe. 2Kor 5,1 stellt jedoch nicht zwei Leiber einander gegenüber, sondern metaphorisch zwei „Häuser“. 33 Furnish, 2Kor 295. Zutreffend stellt Thrall, 2Kor 367 fest: „[T]he climax in V. 21 consists precisely in the transformation of the Christian’s sw`ma: the inferior bodily existence will give way to a glorious form of somatic existence conformed to the resurrection body of Christ.“ Etwas Richtiges sieht der hier kritisierte Auslegungstyp allerdings: Eine Deutung von V. 1 auf den individuellen Leib darf nicht individualistisch geraten. Für Paulus ist der Leib keine abstrakt anthropologische, sondern immer auch eine soziale, eine intersubjektive Wirklichkeit. Die folgende Auslegung von 2Kor 5,1–3 wird diesen Aspekt sukzessive entfalten. 34 Windisch, 2Kor 158. Übereinstimmend Bultmann, 2Kor 133f: „Vernichtetwerden des irdischen Leibes durch den Tod“, deutlicher 134 Anm. 117: „in dem Augenblick, wenn die Zerstörung eingetreten ist, d.h. im Tode“, ebenso Glasson, Platonism 148; Thrall, 2Kor 362f; Grässer, 2Kor 183: „Für den Fall des Todes“. 35 Ist nämlich, was vom Wortlaut her zumindest möglich ist, an den sofortigen Erhalt des himmlischen Leibes im Augenblick des Todes gedacht, bestünde ein Widerspruch zu 1Kor 15,52, wo der Erhalt des sw`ma pneumatikovn eindeutig erst bei der Parusie stattfindet. Bezeiht man dagegen V. 1a auf den individuellen Tod vor der Parusie und V. 1b auf das Parusiegeschehen, entsteht das Problem, wie das Interim zwischen Tod und Parusie in der Eschatologie von 2Kor 5 unterzubringen ist. Lietzmann hatte hieran die These vom leiblosen Zwischenzustand geknüpft, dem Paulus mit Furcht entgegen sehe (Stichwort gumnov~ in V. 3).

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Tod bezogen wird. Brun sah im kataluqh`nai des Leibes die apostolischen Leiden in ihrer Totalität und insofern kein punktuelles, sondern ein prozesshaftes Geschehen.36 Dagegen sprechen aber sowohl der Aorist, der sich allenfalls auf das Resultat dieses Prozesses beziehen kann, nicht auf diesen selbst,37 wie auch der Eventualis,38 „since Paul’s present sufferings are in no way hypothetical“, wie Thrall m.R. gegen Bruns Deutung geltend macht39. Derselbe Einwand greift gegen die Auffassung Bachmanns, Paulus habe in V. 1 nicht ausschließlich den individuellen Tod im Blick, sondern allgemein „jede Art der Beendigung des Lebens im irdischen Leibe“, worunter dann auch „die ohne Tod erfolgende Verwandlung“ in 1Kor 15,52 fällt.40 Auch hierzu passt nicht die konditionale Formulierung, denn dann wäre ja der in V. 1a benannte Vorgang nicht eventuell, sondern in jedem Fall zu erwarten. Außerdem lässt sich das destruktive kataluqh`nai kaum mit dem positiv besetzten katallagh`nai aus 1Kor 15,52 in Deckung bringen.41 Eine andere Variante dieser Auslegung, der sich neuerdings Schröter angeschlossen hat, geht auf Mundle zurück. Mundle will die Frage nach dem Zeitpunkt des kataluqh`nai, da Paulus selbst sie weder stellt noch explizit beantwortet, überhaupt offen lassen42 und dem Vers nur entnehmen, dass Pau-

36

Brun, Auslegung 219f. Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik §373 Anm. 3 mit § 318: Steht ejavn mit dem Aorist, ist ein momentaner, punktueller Sachverhalt ausgesagt, u.zw. entweder ingressiv oder effektiv, hier möglich nur letzteres: Das Zerstörtwerden in seinem Abgeschlossensein. Vgl. auch Kühner/Gerth, Grammatik, Bd. 2,1, 153. 38 Vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik §373: ejavn „bezeichnet das unter Umständen zu Erwartende“. 39 Thrall, 2Kor 362. 40 Bachmann, 2Kor 216f. 41 Vielmehr macht gerade der Vergleich mit 1Kor 15,52 (wie auch mit Phil 3,21 und Röm 8,11 zwóopoihvsei kai; ta; qnhta; swvmata uJmw`n dia; tou` ejnoikou`nto~ aujtou` pneuvmato~ ejn uJmi`n) das besondere Profil von 2Kor 5,1 kenntlich: In 1Kor 15,52 ist davon die Rede, dass „wir verwandelt werden“ (hJmei`~ ajllaghsovmeqa), in Phil 3,21 ist to; sw`ma th`~ tapeinwvsew~ hJmw`n logisches Subjekt des Umgestaltetwerdens in die Gleichgestalt des Herrlichkeitsleibes Christi, und nach Röm 8,11 wird Gott dereinst ta; qnhta; swvmata durch den Geist „lebendig machen“. Anders in 2Kor 5,1: Hier wird der irdische Leib nicht „verwandelt“, „umgestaltet“ oder „lebendig gemacht“, sondern durch den himmlischen Leib substituiert. Allein an dieser Stelle wird eine Distanzierung des Subjekts vom Leib kenntlich, das zwar nicht überhaupt ohne Leib denkbar ist, wohl aber ohne den irdischen. So richtig es ist, dass Paulus den durch die Terminologie von 2Kor 5,1ff suggerierten Leib-Seele-Dualismus nicht teilt, so bemerkenswert ist es doch, dass Paulus in V. 1 eine solche Distanzierung des Subjekts vom physischen Leib zumindest andeutet. Vgl. auch Thrall, 2Kor 361: „Certainly Paul is not setting out to propound a strictly dualistic anthropology, but he has used dualistic language in 4.16, and whilst he does not desire freedom from corporeal existence as such, in V. 4 he seems to be saying that he finds his present life burdensome. Furthermore, despite his lack of reference to the yuchv as such, he does believe [...] in the persistence of the personal ego beyond death.“ 42 Vgl. Mundle, Problem 95: „[D]ie Wiedergabe des kataluqh`nai mit ‚sterben‘ [schränkt] den Inhalt dieses Begriffes mehr ein, als die allgemeine Ausdrucksweise des Apostels zulässt. [...] 37

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lus den himmlischen Leib als gewissen Besitz ansieht. Schröter knüpft an Mundle an und sieht im kataluqh`nai den „Prozess der Auflösung der irdischen Existenz“ zu seinem Abschluss kommen, ohne dass dieser Abschluss mit dem Datum des physischen Todes identifiziert werden könnte. Wichtig sei für Paulus allein, dass der Wechsel der Behausungen zum Zeitpunkt der in V. 3 angedeuteten eschatologischen Szene (die Schröter mit dem in V. 10 angesprochenen Gericht identifiziert) bereits abgeschlossen ist.43 Richtig daran ist, dass das kataluqh`nai auf einer Linie mit dem schon in 4,16 angesprochenen Verfallsprozess der leiblichen Existenz liegt und insofern kein isoliertes Ereignis darstellt.44 Richtig ist auch, dass es Paulus allein darauf ankommt, dass er zu gegebener Zeit im Besitz des Himmelsleibes ist, und dass er keine nähere Angabe macht, wann genau nach der Zerstörung des irdisches Leibes er ihn erhält.45 Doch widerrät die konditionale Formulierung auch dieser Auslegungsvariante, denn auch nach Mundle und Schröter wäre das kataluqh`nai ein Vorgang, der sich auf jeden Fall ereignet und nicht, wie es bei ejavn c. cj. aor. gefordert ist, nur unter bestimmten Umständen. 2Kor 5,1a benennt nicht lediglich ein nicht näher definiertes Element innerhalb einer prädisponierten eschatologischen Ereignisfolge, sondern einen konkreten Fall, und zwar einen Fall, von dem nicht fest steht, ob er eintritt oder nicht. So bleibt als wahrscheinlichste Lösung – „[w]hatever the wider exegetical problems“46 – dass in V. 1a der physische Tod vor der Parusie im Blick ist. Dieser ereignet sich eben nur unter einer bestimmten Voraussetzung, dass nämlich Paulus die Parusie nicht mehr erlebt. Unserer Interpretation von V. 3 zufolge bezieht sich nun aber das dort angesprochene „Bekleidetsein“ mit dem Himmelsleib auf einen bestimmten, noch näher zu analysierenden eschatologischen Geschehenszusammenhang und nicht schon auf den Todesaugenblick. Will man diese Aussagenkonstellation im Koordinatensystem paulinischer Eschatologie positionieren, bietet sich die u.a. von Bultmann gewählte Lösung an, wonach das Interim zwischen Tod und Auferstehung/Parusie für Paulus gar keine Rolle spielt, weil er diesen Zustand als bewusstloses koima`sqai, d.h. Weder die Ausdrucksweise des Apostels noch der Zusammenhang der Stelle nötigen uns, die Aussage des Paulus in dieser Richtung genauer zu fixieren.“ 43 Schröter, Versöhner 231f; ähnlich bereits Rissi, Studien 86f. 44 Zutreffend Grässer, 2Kor 184: „wenn der [...] Extremfall der apostolischen Bedrängnis eintritt, wenn das tägliche Sterben des äußeren Menschen (4,16a) ein endgültiges wird“; ähnlich Wolff, 2Kor 106. Es ist nicht einzusehen, warum man mit Collange, Enigmes 191f jenen „Extremfall“ und den physischen Tod auseinanderreißen sollte. 45 Das Präsens e[comen muss nicht notwendigerweise den sofortigen Erhalt des Himmelsleibes im Augenblick des Todes bedeuten, es kann auch futurisch verstanden werden (vgl. Blass/ Debrunner/Rehkopf, Grammatik 266f zum futurischen Gebrauch des Präsens) oder einfach den gewissen Besitz desselben hervorheben (Mundle, Problem 96). 46 Thrall, 2Kor 363.

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als Todesschlaf denkt.47 Die daran sich anschließende und für das Textverständnis eigentlich entscheidende Frage lautet nun aber, warum Paulus überhaupt das kataluqh`nai seines Leibes und das eschatologische Ereignis des Bekleidetwerdens mit dem himmlischen Leib so übergangslos zusammendenkt. An dieser Stelle kommt die eingangs skizzierte und nachfolgend zu entfaltende These wieder ins Spiel. Wir halten fest: Paulus entwirft in 2Kor 5,1 das Todesproblem vom Problem des Leibes her. Es geht ihm an dieser Stelle nicht allgemein um den Tod noch allgemein um den Leib als anthropologische Themen, sondern um seinen eigenen Tod, so wahr es ihm um seinen eigenen Leib geht, nämlich seinen unscheinbaren, niedrigen Leib, den er mit einfachen Tongefäßen vergleicht, denen man ihren kostbaren Inhalt nicht ansieht (4,7),48 der augenfällig gezeichnet ist vom „Tod Christi“ (4,10), der die hinfällige Außenseite seiner menschlichen Erscheinung darstellt (4,16b: oJ e[xw a[nqrwpo~).49 Es ist Paulus in 2Kor 5,1 nicht allgemein um den Tod zu tun, sondern um den Tod des Leibes, und nicht nur des Leibes, sondern seines niedrigen, unscheinbaren Leibes. Das „Zerstörtwerden des irdischen Zelthauses“ ist der Endpunkt, auf den das „Verfallen des äußeren Menschen“ sich zu bewegt und von dem her dieser Verfallsprozess sein ganzes Schwergewicht erhält. Bei diesem Extremfall setzt Paulus an, weil er nur von hier aus das letztgültige eschatologische Gegenbild eines von Gott selbst bereiteten Herrlichkeitsleibes entwerfen und dem Negativbild seiner leiblichen Erscheinung entgegensetzen kann. Dass ihm am Gedanken des Himmelsleibes entscheidend gelegen ist, hängt also nicht damit zusammen, dass Paulus in 2Kor 5,1ff im Rückgriff auf 1Kor 15 nochmals die eschatologische Leiblichkeit betonen wollte, sondern damit, dass das Bild des himmlischen Leibes entscheidend zur apologetischen Selbstdarstellung beiträgt, die Paulus seit Kapitel 2 entwickelt: Das Motiv des von Gott selbst geschaffenen, ver47

Bultmann, Probleme 9: „Bezeichnet das kataluqh`nai den Tod vor der Parusie, so bleibt noch die Möglichkeit, dass Paulus auf den Moment der Bekleidung mit dem Himmelsgewand gar nicht reflektiert hat. Es ist für ihn selbstverständlich, dass die Bekleidung bei der Parusie und der Totenerweckung stattfindet. Reflektiert er nicht ausdrücklich darauf, so heißt das, dass er nicht auf die Zwischenzeit zwischen Tod und Parusie reflektiert, die ja nach 1. Thess 4,13 ff; 1Kor 11,30; 15,6.18.20.51 ein koima`sqai ist.“ 48 Bei Betz, Concept 330 werden „Tongefäße“ und „irdisches Haus“ regelrecht identifiziert: Paulus verwendet für den Leib Bilder „such as ‚an earthen pot‘ (ojstravkinon skeu`o~, 4.7) and as ‚our earthly tent-like house‘ (hJ ejpivgeio~ hJmw`n oijkiva tou` skhvnou~, 5.1; cf. 5.4), which has a ‚treasure‘ (qhsaurov~) inside it.“ 49 Kein anderer als Bultmann hat diesen Zusammenhang gesehen: Gegenstand der Reflexion in 5,1ff ist „der von Not und Leiden gequälte körperliche Leib, das sw`ma, von dem 4,10f die Rede ist, dessen Leiden 4,8f beschrieben werden – ein ojstravkinon skeu`o~ nach 4,7“ (Theologie 202f). Zutreffend auch Thrall, 2Kor 351: Gemeint ist Paulus’ „outward inglorious presence and his state of physical debilitation.“ Zum sachlichen Zusammenhang zwischen 4,16a (e[xw a[nqrwpo~) und 5,1a (oijkiva tou` skhvnou~) vgl. Anm. 30.

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bürgten und bereiteten himmlischen Leibes beschreibt die eschatologische Identität des Paulus so, dass sie die Niedrigkeit des irdischen Leibes schon jetzt aufwiegt und überbietet. Wenn wir den in V. 1 hergestellten Zusammenhang zwischen Leib und Tod aus der anhand der Texte des II. Teils entwickelten Perspektive in den Blick nehmen, lassen sich die apologetischen Implikationen der paulinischen Aussage noch klarer herausarbeiten. Die im II. Teil gewonnene Grundeinsicht, dass sich die Bewertung einer Person bzw. eines Charakters nach antiker Auffassung wesentlich am individuellen Todesverständnis und Todesgeschick entscheidet, kann nämlich dahin gehend spezifiziert werden, dass das wertbehaftete Todesgeschick immer auch den Leib betrifft. Einschlägig sind hier zunächst Sterbeszenen aus antiken Biographien und biographischen Geschichtswerken. In diesen Texten kommt vielfach ausführlich zur Darstellung, ob und wie der Leib eines Sterbenden oder Toten geehrt oder verunehrt wird.50 Zumeist lässt sich an solchen Passagen direkt ablesen, ob der Verfasser einen Charakter in einem guten oder schlechten Licht erscheinen lassen will. Auf das Todesgeschick des Leibes konzentrieren sich, entsprechend der erzählerischen Tendenz, Ehrerbietung oder Verachtung. Wir wählen als erstes Textbeispiel die Sterbeszene aus der PompeiusBiographie Plutarchs.51 Die eindeutig erkennbare erzählerische Tendenz besteht hier darin, das würdelose Ende des Pompeius so dazustellen, dass ihm dennoch ein letzter Rest an Ehre bleibt. Plutarch schildert, wie der geschändete Leichnam von einem Getreuen des Pompeius dennoch würdig bestattet wird. Im krassen Gegensatz hierzu fällt die pompeiusfeindliche Darstellung in PsSal. 2 aus:52 Das Todesgeschick des Römers, der den Jerusalemer Tempel entweiht hat, wird anhand des Todesgeschicks seines Leibes als göttliches Strafgeschick kenntlich: Sein sw`ma wird, indem es unbestattet auf den Wellen treibt, als Strafe für seine Hybris äußerster Verach50 An dieser Stelle darf ein Hinweis auf Phil 1,20 nicht fehlen. Auch Paulus argumentiert hier in Erwartung seines Prozesses und eines möglichen Todesurteils ganz offensichtlich mit dem Todesgeschick seines Leibes, und zwar wie die antiken Vergleichstexte auch aus dem Blickwinkel von Ehre und Schande: Die Gewissheit „nicht beschämt“ zu werden gründet in der Überzeugung, dass er Christus auch im Tode ejn tw`æ swvmati verherrlichen wird. Paulus deutet hier vorgreifend seinen möglichen gewaltsamen Tod als ein an seinem Leib sich vollziehendes megaluvnein Christi. Es geht nicht an, den sw`ma-Begriff an dieser Stelle zu verallgemeinern im Sinne von „with his whole being“ (O’Brien, Philippians 114; ähnlich Martin, Philippians 76). Es geht hier prägnant um die Verherrlichung Christi „im leiblichen Geschick des Apostels“ (Gnilka, Philipperbrief 68), und zwar in der Öffentlichkeit des coram publico den Tod erleidenden Märtyrers (vgl. dazu Lohmeyer, Brief 56: Der Aspekt des Öffentlichen hängt am Begriff der parrhsiva). Zutreffend auch Vincent, Philippians 25: Paulus schreibt ejn tw`æ swvmativ mou anstelle des einfachen ejn ejmoiv, „because the question of bodily life or death was imminent.“ 51 S.o. unter II.3.2.2. 52 S.o. S. 92.

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tung preisgegeben. Ähnlich gegenläufige Tendenzen lassen sich in Suetons Kaiserviten beobachten: Cäsar53 verhüllt den schon tödlich getroffenen Leib mit der Toga, dagegen präsentiert Sueton seinen Lesern im Falle des verachteten Caligula die weit aufgerissenen Augen des Toten. Noch drastischer fällt die Darstellung bei Vitellius54 aus, der vom Pöbel erst wegen seiner körperlichen Gebrechen verhöhnt, anschließend umgebracht und dann an einem Haken in den Tiber geschleift wird. Letzteres Beispiel ist aufschlussreich, weil hier der Spott über die körperlichen Defizite des Lebenden, die Verhöhnung des sterbenden Leibes und die Schändung des Leichnams nahtlos aneinander anschließen. In gewisser Weise gehört auch die Polemik des Josephus gegen seinen literarischen Kontrahenten Apion hierher: Josephus verhöhnt Apion wegen des Genitalgeschwürs, an dem er schließlich stirbt. Aus diesem Zweischritt wird in Senecas Apocolocynthosis55 ein Dreischritt, dergestalt, dass Seneca den Spott über die körperlichen Gebrechen des Claudius und die krasse Verhöhnung des Leibes des Sterbenden gleichsam in einer eschatologischen Szene fortschreibt: Claudius wird im Anschluss an seinen würdelosen Tod auch noch vor dem Forum der Götter verspottet. Der Hohn der Götter gipfelt in der Bemerkung des Augustus, die Götter könnten einen solchen Leib nur im Zorn erschaffen haben. Eine ganz ähnliche Trias, nur unter positivem Vorzeichen finden wir auch in 2Kor 4f: An die Positivdeutung seines hinfälligen irdischen Leibes (2Kor 4,7ff) schließt Paulus in 2Kor 5,1ff eine Reflexion über das Todesgeschick seines Leibes und dessen eschatologische Substitution durch den Himmelsleib an. Seneca lässt den verhassten Claudius in unverhohlener Polemik mit seinem fehlerbehafteten irdischen Leib auch noch im Himmel auftreten und nichts als Hohn und Spott ernten, dagegen nimmt Paulus für sich den Besitz eines Himmelsleibes in Anspruch (5,1), der ihm ewige dovxa (4,17) und einen eschatologischen Ehrenstatus verschaffen wird (5,3). Dass Paulus hier insofern „dualistisch“ formuliert, als der irdische Leib nicht wie in Phil 3,21 und Röm 8,23 in die Erlösung einbezogen, sondern durch den Himmelsleib ersetzt wird, dürfte erstens daher rühren, dass seine Gegner umgekehrt insofern „ganzheitlich“ argumentiert haben, als sie von seiner unvorteilhaften körperlichen Erscheinung direkt auf seine Persönlichkeit insgesamt geschlossen haben. Dies mag Paulus zu einer dualisierenden Distanzierung von seinem irdischen Leib gezwungen haben. Vor allem aber geht es in unserem Text prägnant um das Todesthema und die damit verbundene Explikation des paulinischen Todesverständnisses. Der

53

S.o. unter II.3.3.1. S.o. unter II.3.3.6. 55 S.o. unter II.5.2. 54

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Gedanke der „Erlösung“ oder „Verwandlung“ des Leibes hätte diesen für 2Kor 5,1–10 grundlegend wichtigen Bezug eher verschleiert. 2.2 Die Sehnsucht nach dem Überkleidetwerden (V. 2) 2.2.1 Das paulinische stenavzein als Ausdruck von Heilsverlangen Auf den kognitiven Aspekt des paulinischen Todesverständnisses in V. 1 (oi[damen) folgt in V. 2 der affektive (stenavzomen) und intentionale Aspekt (ejpipoqou`nte~). Nachdem Paulus in V. 1 eine erste Aussage über sein den Tod betreffendes „Wissen“ gemacht und damit zugleich sein die Niedrigkeit seiner leiblichen Erscheinung kontrastierendes Todesgeschick thematisiert hat, skizziert er in V. 2 seine den eigenen Tod betreffende affektive und intentionale Disposition. Affekt und Intention stehen sachlich gleichrangig neben dem Wissen. Das „Stöhnen“ des Paulus und sein „Sehnen“ erweitern erst die Aussage über sein „Wissen“ zu dem, was wir oben (III.1) eine Charakterskizze genannt haben. Paulus will hier nichts begründen oder beweisen; er will nicht den gewissen Besitz des Himmelshauses mit dem Hinweis auf sein sehnsuchtsvolles Seufzen plausibilisieren oder untermauern. Dies gibt der Wortlaut, wie wir gleich sehen werden, nicht her. Er skizziert vielmehr neben seinem den Tod betreffendem Wissen auch die diesbezügliche subjektive Gestimmtheit. Diese ist allenfalls eine Folge seines Wissens, nicht aber sein Grund. Wenn Paulus hierbei von seinem stenavzein spricht, bezieht er sich offenbar auf die als leidvolles und beschwertes „Seufzen“ oder „Stöhnen“ phänomenal wahrnehmbare Grundbefindlichkeit seines beschwerlichen leiblichen Daseins, um diese Befindlichkeit gerade nach ihrer wahrnehmbaren Gestalt umzudeuten in einen subjektiven Ausdruck von Heilsverlangen: Was die Korinther an ihm als stenavzein wahrnehmen, reklamiert er als Ausdruck seiner Heilssehnsucht. Die Konjunktion kai; gavr induziert also nicht ein Begründungsverhältnis zwischen V. 1 und V. 2, wie dies u.a. Windisch und Bultmann angenommen haben. Für Bultmann bildet V. 2 den Erkenntnisgrund für V. 1: „Dass ein Himmelsgewand unser wartet, wird durch unsere Sehnsucht nach dem Anlegen dieses Gewandes bezeugt.“56 Doch verschiebt diese Paraphrase unter der Hand den Sinn nicht zufällig vom regierenden Verb stenavzomen auf das davon abhängige Partizip ejpipoqou`nte~: Nicht das „Stöhnen“ wird hier als Erkenntnisgrund für das „Wissen“ ausgewiesen, sondern das „Sehnen“. Hätte Paulus ein solcher Begründungszusammenhang vorge56 Bultmann, Probleme 11; vgl. auch 2Kor 137. In diese Richtung geht bereits Meyer, 2Kor 124: V. 2 sei „Bestätigung der in V. 1 ausgesprochenen Gewissheit“, ebenso Mundle, Problem 98: „der Umstand, dass wir in diesem Leibe seufzen, ist ein Beweis für das Vorhandensein eines neuen Leibes.“

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schwebt, müsste doch wenigstens ejpipoqei`n das Hauptverb bilden.57 Fasst man im vorliegenden Satzgefüge oi[damen [...] o{ti [...] e[comen [...] kai; gavr [...] stenavzomen das konjunktionale kai; gavr kausal auf, würde dies bedeuten, dass Paulus von seiner subjektiven Befindlichkeit auf das objektive Gegebensein des Himmelshauses schließt. Windisch sucht das Begründungsverhältnis zwischen „Wissen“ und „Stöhnen“ dadurch zu objektivieren, dass er das „Stöhnen“ als Zeugnis des Geistes auffasst: Es wird [...] zur Befestigung unseres ‚Wissens‘ um die Bereitschaft solcher Behausungen [...] auf das testimonium spiritus in uns gewiesen, wie es sich einmal in dem Drucke kundgibt, den das irdische Haus auf uns ausübt, andererseits in dem Verlangen, jene himmlische Behausung überzuziehen [...]. Da der Mensch nicht geschaffen ist für solch eine ihn beengende Behausung, muss es noch eine andere geben, die seinem Wesen adäquat ist – dies ist die Logik der Beweisführung.58

Dagegen ist einzuwenden, dass Paulus das pneu`ma erst in V. 5 ins Spiel bringt. Der Passus V. 2–4 müsste aber doch, wie Baumert feststellt, zunächst aus sich selbst zu erklären sein.59 Baumert macht gegen Windisch außerdem geltend, das zwar „die Sehnsucht eine Auswirkung des (uns gegebenen) Geistes [ist], aber verbal ist mit kai; gavr [...] stenavzomen ein subjektives Phänomen angezeigt. Wohl können die Leser aus dem Verlangen auf das Vorhandensein eines subjektiven Wissens als einer psychologischen Voraussetzung jenes Verlangen schließen, aber nicht auf die Objektivität des so ‚gewussten‘ Gegenstandes. Auch wird Paulus daraus nicht ein Argument für sich selbst machen, als ob er aus seinem Stöhnen auf seine Überzeugung schließen wollte.“60 Die Schwierigkeiten, die ein kausales Verhältnis von V. 1 und V. 2 bereitet, erübrigen sich, wenn man mit Baumert die konjunktionale Funktion auf das kaiv beschränkt, diese auf den ganzen Satz bezieht,61 und gavr nicht

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So m.R. Baumert, Sterben 206 Anm. 366. Tatsächlich wurde stenavzein auch in diesem Sinne aufgefasst, so etwa in der Lutherübersetzung von 1912: „Und darüber sehnen wir uns auch nach unserer Behausung, die vom Himmel ist, und uns verlangt, dass wir damit überkleidet werden“ (vgl. Baumert, Sterben 207). 58 2Kor 161. So auch Demke, Auslegung 596: „Im Seufzen meldet sich das Pneuma.“ 59 Baumert, Sterben 206. Ähnlich unbefriedigend auch Prümm, 2Kor 272: „Paulus kann die Logik, auf die er mit diesem ‚denn‘ hindeutet, erst allmählich klären. Auch V. 5 wird dazu noch etwas, und zwar wohl nicht das Unwichtigste, beitragen.“ 60 Baumert, Sterben 206. 61 Anders Meyer, 2Kor 124, der kaiv allein auf ejn touvtwó bezieht und dies im Sinne von ejn touvtwó tw`æ swvmati versteht: „Nicht etwa erst nach der als möglich gesetzten katavlusi~ (V. 1) werden wir uns nach dem himmlischen Leibe sehnen, sondern schon jetzt, während wir noch nicht außer, sondern noch in dem irdischen sind, seufzen wir nach der Überkleidung mit dem himmlischen.“ Baumert, Sterben 205 nennt diese Interpretation schlicht „absurd“, und dies wohl zu Recht: Welchen Sinn sollte eine Aussage über ein solches nach der Zerstörung des irdischen Zelthauses stattfindendes „sehnsuchtsvolles Stöhnen“ haben?

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kausal, sondern asservativ (beteuernd) auffasst.62 Das gavr bindet dann V. 2 nicht an V. 1, sondern betont die Aussage in sich selbst als etwas, das der Adressant als wirklich und als ihm selbst oder ihm selbst und seinen Adressaten bekannt darstellt.63 Zu übersetzen ist gavr dann am besten mit „ja“: „Und ejn touvtwó stöhnen wir ja“. Die nächste Frage lautet nun, wie ejn touvtwó aufzufassen ist. Wegen oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei in V. 4 geben zahlreiche Ausleger einer pronominalen Deutung des Demonstrativums den Vorzug und verstehen es im Sinne von „in diesem Zelt“ bzw. „in diesem Leib“.64 Doch besagt die z.T. parallele Konstruktion von V. 2 und V. 4, die immer wieder als Argument angeführt wird, noch nichts darüber, ob auch die Wendungen ejn touvtwó und oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei inhaltlich gleichgesetzt werden dürfen. An dieser Stelle sind die beiden Verse gerade nicht parallel. Außerdem ist im Vorgang der Erstrezeption von V. 2 die Aussage von V. 4 ja noch nicht bekannt. Eine Verstehenshilfe für ejn touvtwó wäre oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei frühestens beim zweiten Lesen (oder Hören!). Deshalb bietet sich eine adverbielle Deutung von ejn touvtwó mit Bezug auf stenavzomen als die bessere Lösung an:65 „Und deshalb stöhnen wir ja“ Möglich ist in diesem Fall eine rück- oder vorausweisende Funktion des ejn touvtwó, d.h. das Stöhnen rührt entweder vom gewissen Besitz des Himmelshauses her (V. 1) oder aber von der Sehnsucht, dasselbe überzuziehen (V. 2b). Eine anaphorische Deutung auf V. 2b liegt näher, weil sich eine Herleitung des „Stöhnens“ aus dem sicheren Besitz der oijkodomh; ejk qeou` allzu hart ausnimmt. Das dem Bezugsverb vorgeschaltete, anaphorische ejn touvtwó ist gerade geeignet, diese Härte abzufedern: Mit ejn touvtwó wird signalisiert, dass auf den Übergang von oi[damen [...] o{ti [...] e[comen zu stenavzomen noch eine Erklärung folgt, die den Zusammenhang zwischen „Wissen“ und „Stöhnen“ plausibilisiert. Diese Erklärung liefert nun die Partizipialkonstruktion to; oijkhthvrion hJmw`n to; ejx oujranou` ejpenduvsasqai ejpipoqou`nte~ in V. 2b. Die anaphorische Funktion von ejn touvtwó wird in der Übersetzung am besten mit einem Doppelpunkt zwischen V. 1 und V. 2 und einer kausalen Deutung des Partizips ejpipo62

Baumert übernimmt den Terminus von Denniston, Particles 57. Vgl. dazu Baumert, Sterben 202f.205–208 und den ausführlichen philologischen Exkurs auf S. 350–380. Furnish, 2Kor 266 und Thrall, 2Kor 373 („kai; gavr“ as a simple connecitve with asservative force: ‚Also, indeed‘) sind Baumert hierin gefolgt; vgl. auch Denniston, Particles 109. 64 So etwa Meyer, 2Kor 124, der ejn touvtwó zu ejn touvtwó swvmati ergänzt und meint, dass das Pronomen „auf ein Wort bezogen sei, welchen im Vorherigen nur dem Sinne nach enthalten war“; ebenso ergänzt Windisch (2Kor 161), der zu ejn touvtwó tw`æ skhwvmati. Vgl. auch Collange, Enigmes 200: „‚dans la tente‘ à cause du parallelisme du V. 4“, Barrett, 2Kor 152: „verse 4 strongly suggests in this tent“; Thrall, 2Kor 371: „the ejn touvtwó of V. 2 will refer back to the skh`no~ of V. 1.“ 65 So etwa Bultmann, 2Kor 136; Lang, Forschung 196 Anm. 377 mit Bauer, Wörterbuch s.v. ou|to~ 1ba; Furnish, 2Kor 266. 63

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qou`nte~66 zur Geltung gebracht: „Und darum stöhnen wir ja: weil wir uns sehnen, unsere Behausung aus dem Himmel überzuziehen.“67 Das stenavzomen ist, wenn diese Interpretation zutrifft, so beiläufig wie möglich eingebracht als etwas den Adressaten wie dem Adressanten Geläufiges, indes mit einer ganz ungewöhnlichen Deutung, die das für die Adressaten Neue formuliert: Paulus interpretiert die Ausdrucksgestalt seines Leidens (Stöhnen als Äußerung von Schmerz und Leid) als phänomenal wahrnehmbaren Niederschlag seines Heilsverlangens, wie es sich aus der Differenz von gegenwärtigem leidvollem Zustand und verheißenem Heil ergibt. Paulus führt sein stenavzein einerseits als etwas Selbstverständliches bzw. Bekanntes in die Argumentation ein, gibt diesem negativ besetzten Affekt aber andererseits eine überraschende Deutung als Ausdruck seine Sehnsucht nach dem Heil.68 Hier dürfte der Grund zu suchen sein, warum Paulus überhaupt auf sein stenavzein zu sprechen kommt: Mit der konträren Referenz seines „Stöhnens“ setzt Paulus nämlich die apologetische Argumentationsstrategie fort, die er seit 4,7 verfolgt: Auch mit der in 5,2.4 vorgetragenen Deutung seines stenavzein reklamiert er für die sichtbare, unattraktive Außenseite seiner Erscheinung eine für deren rechtes Verständnis unabdingbare und eigentlich maßgebliche Innenseite. So wie die „irdenen Gefäße“ nicht verstandenen werden können ohne den darin befindlichen „Schatz“ (4,7), der am sw`ma des Paulus wirksam werdende „Tod“ nicht ohne das seinen Adressaten zuteil werdende „Leben“ (4,12), wie nicht der „äußere“ Mensch zählt, sondern der „innere“ (4,16), nicht die zeitliche qli`yi~, sondern die ewige dovxa (4,17) und nicht das „Sichtbare“, sondern das „Unsichtbare“ (4,18), so hat auch das äußerlich wahrnehmbare leidvolle „Stöhnen“ des Paulus einen für dessen rechtes Verständnis wesentlichen Innenaspekt des Heilsverlangens über den Tod hinaus. Paulus bringt seine affektive Disposition auf den Begriff des stenavzein, weil er sein hinfälliges 66

Vgl. Plummer, 2Kor 145: „The participle explains and gives reason for stenavzomen: ‚we groan because we yearn‘.“ 67 Für anaphorisches ejn touvtwó vgl. etwa Joh 15,8; 1 Joh 2,3.5 (Plummer, 2Kor 144). 68 Dies passt gut zu den Beobachtungen Baumerts, Sterben 356.359 zum asservativen Gebrauch des gavr mit konjunktionalem kaiv. Baumert unterscheidet hier anhand der bei Denniston, Particles 109 gebotenen Textbeispiele drei Untergruppen: (1) „bekanntlich = wie du weißt; wie du wissen solltest“, (2) „selbstverständlich, natürlich = wie jedermann aus den Voraussetzungen erkennt; erkennen sollte“ und (3) tatsächlich = wie es wirklich der Fall ist [...]. Gavr nimmt in dem dritten Fall nicht Bezug auf das Wissen (1) oder die Intelligenz (2) des Gesprächspartners, sondern betont den Tatbestand in sich selbst, welcher in diesem Fall nur dem Sprecher geläufig, ‚selbstverständlich‘ ist“ (359). Im Falle der Aussage kai; gavr [...] stenavzomen in 2Kor 5,2 oszilliert der Gebrauch des gavr zwischen Gruppe (1) und (3): Phänomenologisch ist den Adressaten das stenavzein des Paulus geläufig, weil sie ihn eben als jemanden erleben, der unter der Bürde seiner leiblichen Existenz „stöhnt“ (Gruppe 1). Die Deutung dieses Stöhnens als Ausdruck des Heilsverlangens ist dagegen nur Paulus bekannt und wird durch das kai; gavr als wirklich betont, ohne dass in dieser Hinsicht ein Einverständnis zwischen Adressant und Adressaten vorausgesetzt wäre (Gruppe 3).

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leibliches Dasein nun auch im Blick auf seine subjektive Einstellung so darstellen will, dass dies seinen Adressaten den Respekt abnötigt, den seine Konkurrenten ihm streitig machen wollen. Hierin liegt das apologetische Argumentationsziel der Rede vom „Stöhnen“: Der negativ besetzte Affekt wird interpretiert als affektiver Aspekt eines positiven Todesverständnisses, das stenavzein als Ausdruck eines über den Tod hinausblickenden ejpipoqei`n. Wo seine Verächter nur den emotionalen und affektiven Niederschlag einer schließlich zum Tode führenden „Krankengeschichte“ sehen, spricht Paulus von seiner persönlichen Ausrichtung auf die von Gott initiierte und vollendete „Heilsgeschichte“: Fürwahr, er „seufzt“, aber doch nicht aus Schmerz oder Verzweifelung, sondern aus schmerzlichem Verlangen nach dem verheißenen Heil. 2.2.2 Das Himmelshaus als neues Oberkleid Den Inhalt dieses sehnsüchtigen Verlangens benennt Paulus mit dem ejpenduvsasqai. Damit vollzieht er einen Doppelkompositum überraschenden Wechsel von der Bau- zur Gewandmetaphorik. Der eschatologische Ersatz für der irdischen Leib ist nun auf einmal nicht mehr eine „Behausung“, sondern ein „Gewand“, oder genauer eine Bauhausung, die man jedenfalls wie ein „Gewand“ tragen kann. Näherhin spricht Paulus nicht von einem einfachen „Ankleiden“, sondern von einem „Überkleiden“. Der vom Partizip ejpipoqou`nte~ abhängige Infinitiv ejpenduvsasqai wurde und wird zumeist in einen Zusammenhang mit dem Parusiethema gebracht, sei es, dass Paulus das „Überkleidetwerden“ mit dem Himmelshaus, das er nun to; oijkhthvrion hJmw`n to; ejx oujranou` nennt, als Vorgang bei der Parusie lediglich voraussetzt für eine inhaltlich anders gelagerte Aussage (hier fußt der verbreitetste Auslegungstyp auf der Gnostiker-Hypothese Bultmanns), oder aber dergestalt, dass Paulus mit dem Infinitiv ejpenduvsasqai das Parusieproblem bewusst aufgreift. Ohne diese Frage zunächst zu entscheiden, können wir festhalten, dass die subjektive Perspektive, wie sie sich aus unserer These ergibt, 2Kor 5,1– 10 sei eine in apologetischer Absicht entworfene Charakterskizze, durch den Wechsel von der Bau- zur Gewandmetaphorik eine Bestätigung erfährt: Das „Gewand“ ist einer Person näher als das „Haus“. Das Gewand, das jemand trägt, sagt unmittelbarer etwas über ein Individuum aus als das Haus, in dem es sich befindet. Dass Paulus vom Himmelshaus nun als von einem „Gewand“ spricht, das er an- oder überzuziehen sich sehnt, kann dadurch erklärt werden, dass er ein Bildfeld wählt, mit dem er seine Haltung gegenüber Sterben und Tod noch deutlicher als seine eigene, subjektive Haltung kenntlich machen kann. Er wechselt von der Bau- zur Gewandmetaphorik, um sich die Baumetapher nun gewissermaßen „auf den Leib zu schnei-

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dern“.69 Die Frage, warum er das tut, wird uns beschäftigen, wenn wir uns mit V. 3 befassen,70 doch kann hier schon so viel gesagt sein, dass es Paulus in 2Kor 5,1ff an keiner Stelle darauf ankommt, den von ihm ersehnten Vorgang des ejpenduvsasqai als einen Vorgang zu identifizieren, der sich bei der Parusie ereignet, und dass er die von der modernen Exegese so sehr in den Vordergrund gerückte Frage, wie sich das Datum seines in V. 1 angesprochenen individuellen Todes zum Datum der Parusie verhält (wenn dieses denn in der Rede vom ejpenduvsasqai vorausgesetzt ist), in diesem Text in keiner Weise problematisiert bzw. als problematisch empfindet.71 Will man am Parusiebezug des ejpenduvsasqai festhalten, so kann man sich damit behelfen, dass (a) Paulus die Zeitspanne zwischen Tod und Parusie als „Schlaf“ denkt und sie deshalb gar nicht eigens thematisiert,72 und dass (b) auch die Toten in ihren Gräbern noch einen Leib haben, dass also die definitive „Auflösung“ bzw. „Vernichtung“ des Leibes auch für die bereits Gestorbenen erst bei der Auferstehung stattfindet,73 dass also an ein Geschehen bei der Parusie gedacht ist, das jedoch auch für die vor der Parusie Gestorbenen gilt.74 Diese Interpretation kann sich darauf berufen, dass die Gewandmetaphorik in 1Kor 15,52f auf beide Personengruppen angewendet wird: Auf die nekroiv, die auferstehen, und auf „uns“ (d.h. die bei der Par69 In diese Richtung deutet auch Schröter, Versöhner 236: „Der Grund für den Wechsel der Metaphorik liegt in der Ausrichtung des Argumentes: Paulus möchte die Sehnsucht nach dem ‚Sein beim Herrn‘ dadurch verstärken, dass er die Bekleidungsmetaphorik einführt und in V. 3 dem Nacktsein konfrontiert.“ 70 Warum Paulus dann überhaupt mit der Baumetaphorik einsetzt, lässt sich unschwer erkennen, nämlich wegen der konventionellen Metapher des (instabilen) „Zeltes“ für den irdischen Leib, die als eschatologisches Pendant das Bild vom (dauerhaften) „Haus“ evoziert. 71 Wo die Gnostiker-Hypothese Bultmanns nicht rezipiert wird, landet die Exegese (mit Ausnahmen, darunter Baumert, Furnish, Schröter) früher oder später stets wieder bei dem unbefriedigenden Auslegungstyp, der genau dies zum Thema von 2Kor 5,1–5 erklärt. Als Beispiel unter den neueren großen Kommentaren sei auf Thrall, 2Kor 373 verwiesen: „it becomes possible to understand V. 1 as referring to the bestowal of the sw`ma pneumatikovn at death and V. 2 as expressing an even more intense longing for the Parousia which would anticipate this post-mortem bestowal and render it unnecessary.“ Spätestens mit V. 4 kommt diese Interpretation in Schwierigkeiten, weil sich dann ein schwerwiegender Widerspruch zu V. 1 auftut: Nach V. 1 ist ja für den Fall des Todes vor der Parusie dadurch gesorgt, dass das Himmelshaus dann sogleich als sicherer Besitz bereitliegt und, so Thrall, für Paulus immerhin die „zweite Wahl“ darstellt (warum aber nur die zweite, wenn doch der Erhalt des sw`ma pneumatikovn gewisser Heilsbesitz ist?). Dagegen qualifiziert die Aussage ouj qevlomen ejkduvsasqai in V. 4b nach dieser Auslegung den leiblichen Tod ausdrücklich als nicht wünschenswert. Das würde aber bedeuten, dass für Paulus die Gewissheit, im Tode das Himmelshaus zu erhalten, in keiner Weise tröstlich ist und gegen seinen Widerwillen gegen den physischen Tod nichts auszurichten vermag. Eine gründlichere Demontage der eigenen Argumentation wäre wohl kaum denkbar. 72 S.o. S. 234. 73 So Bultmann, 2Kor 136; Wolff, 2Kor 109. 74 Auch Mundle, Problem 100 hält es für „nicht undenkbar, dass das ejpenduvsasqai, mag es auch in erster Linie vom Standpunkt der Lebenden, die Parusie erwartenden Christen ausgesagt sein, die Auferstehung der vor der Parusie Gestorbenen mit umfasst.“

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usie noch Lebenden), die „verwandelt“ werden. Doch nimmt sich diese Konstruktion um so künstlicher aus, je realistischer sie ausformuliert wird.75 Paulus konnte offenbar Aussagen über die Möglichkeit seines eigenen Todes und über seine mit der Parusie verknüpfte Heilserwartung zu einem einzigen Sachzusammenhang verbinden, ohne die Inkongruenzen zu thematisieren, die sich sofort ergeben, wenn man aus diesem Sachzusammenhang einen Geschehensablauf zu rekonstruieren versucht. In 2Kor 5,1f nimmt Paulus eine Verschmelzung der Horizonte „individueller Tod“ und „Parusie“ vor, weil er auf diese Weise seine eigene Heilsgewissheit und – sehnsucht angesichts des Todes offenbar am treffendsten zum Ausdruck bringen kann.76 Ist der Parusiebezug des ejpenduvsasqai in V. 2 nicht Thema, so geht es Paulus erst recht nicht darum, einen etwaigen Wunsch nach dem Erleben der Parusie zu äußern, dem er dann in V. 4 den befürchteten Fall des vorzeitigen Todes gegenüberstellte. Die Opposition ejkduvsasqai/ejpenduvsasqai in V. 4b bezieht sich, wie zu zeigen sein wird, nicht auf den Gegensatz von Tod und Erleben der Parusie, sondern auf die Abgrenzung eines adäquaten gegen ein falsches Todesverständnis. Es besteht daher keine Notwendigkeit, das Doppelkompositum ejpenduvsasqai dahingehend aufzufassen, als habe Paulus den Erhalt des himmlischen Hauses bzw. Gewandes auf einen bestimmten Modus festlegen wollen, nämlich auf ein „Überkleidetwerden“ des noch vorhandenen irdischen Leibes mit dem himmlischen, d.h. noch bei Lebzeiten. Auch V. 3 legt ein solches Verständnis keineswegs nahe, weil sich die dort angesprochene „Nacktheit“ nicht, wie Lietzmann meinte, auf einen von Paulus gefürchteten leiblosen Zwischenzustand zwischen Tod und Parusie bezieht, dem Paulus durch das Erleben der Parusie zu entgehen wünscht.77 Eine Bedeutungsnuance des Doppelkompositums dergestalt, dass bei diesem Vorgang der irdische Leib als notwendigerweise noch vor75

Vgl. Bultmann, Probleme 12, der in V. 3 ejkdusavmenoi liest: „In gewissem Sinne“ seien die vor der Parusie Gestorbenen „schon ejkdusavmenoi [...]. Aber im vollen Sinne sind sie es nicht, da die definitive Vernichtung des irdischen sw`ma erst bei der Parusie erfolgt. Das ejkduvesqai ist bei ihnen gleichsam unterbrochen durch den Todesschlaf und kommt zu seinem Ende mit dem katapoqh`nai des qnhto;n uJpo; th`~ zwh`~.“ Die Unterscheidung zwischen vorläufigem und endgültigem „Entkleidetwerden“ bzw. „Vernichtetwerden des irdischen Leibes“ mag dazu dienen, 2Kor 5,1–5 als Teil einer konsistenten Eschatologie zu verstehen, doch scheint Paulus an einer solchen in diesem Text, in dem er sich zu seinem eigenen Todesgeschick äußert, nicht gelegen zu sein. 76 Mundle, Problem 100 sieht also etwas richtiges, wenn er zu ejpenduvsasqai in V. 2 anmerkt: „Auch hier will Paulus nur das Verlangen nach einem neuen Leibe zum Ausdruck bringen, ohne dass er auf die verschiedenen Möglichkeiten Rücksicht nimmt, wie die Christen diesen neuen Leib erhalten.“ Unserer These folgend ist hierzu lediglich kritisch anzumerken, dass es Paulus strikt um die Artikulation seines eigenen Heilsverlangens geht. Wie „die Christen“ den neuen Leib erhalten, interessiert ihn an dieser Stelle nicht. 77 Lietzmann, 2Kor 117f und außerdem Rissi, Studien 90; Osei-Bonsu, Resurrection 95. Zur neueren Diskussion vgl. Smith, Intermediate.

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handen gedacht wird, scheint also nicht vorzuliegen.78 Es ist allerdings voreilig, wenn Mundle (in dem berechtigten Anliegen, den Text von der unseligen Fixierung auf die Parusiethematik freizubekommen) das ejpenduvsasqai mit dem allgemeinen Hinweis auf den im späten Griechisch belegten lediglich verstärkenden Gebrauch von Doppelkomposita79 auf die Bedeutung des einfachen Kompositums einebnen will.80 Es bietet sich nämlich eine Deutung des ejpenduvsasqai an, die nicht nur dem doppelten Präfix voll gerecht wird, sondern auch hervorragend in den argumentativen Kontext passt, sobald man für die Interpretation der Bekleidungsmetaphorik in 2Kor 5,2–4 die in der Antike ganz selbstverständliche soziale Semantik des Gewandes berücksichtigt: Anhand seines Gewandes ist der antike Mensch, wie wir zu V. 3 ausführen werden, kenntlich in seiner sozialen Rolle und Identität. Wenn Paulus vom ejpenduvsasqai des Himmelshauses spricht, will er nicht andeuten, dass er noch etwas darunter trägt, sondern umgekehrt, dass jene nicht mit Händen gemachte Behausung für ihn deshalb so wichtig ist, weil sie die Funktion des Obergewandes übernimmt, desjenigen Teils seiner Kleidung also, in der er von anderen wahrgenommen wird. Zutreffend stellt Hughes fest: „The prefix ejpiv signifies the putting on of an additional or outer garment.“81 Die hier genannte zweite Bedeutungsvariante wurde nun aber in der bisherigen Exegese, soweit ich sehe, nirgends für die Interpretation des ejpenduvsasqai überhaupt nur in Erwägung gezogen. Man hat das Doppelkompositum stets als Anspielung auf das unter dem Himmelsgewand noch vorhandene Gewand des irdischen Leibes gelesen,82 anstatt den Wunsch des Paulus nach dem ejpen78 Unbefriedigend ist aber auch die Interpretation bei Lang, Forschung 187f, dem Furnish, 2Kor 297 folgt. Lang sieht im „Verhältnis von ejnduvw und ejpenduvw [...] das Verhältnis von Vorgabe und voller Gabe des Heils“ ausgesagt. „Die logische Voraussetzung einer Überkleidung ist, dass man schon etwas anhat, und die sachliche Bedingung für den Erhalt des ewigen Hauses ist, dass man schon jetzt am neuen Sein partizipiert.“ Ebenso unterscheidet Furnish zwischen der „inception [...] of the new life in Christ“ (= ejnduvw) und „the fulfillment of that salvation inaugurated at baptism“ (= ejpenduvw). Gegen diese Deutung spricht, dass dann mit ouj gumnoi; euJreqhsovmeqa in V. 3 und ouj qevlomen ejkduvsasqai in V. 4b die Abwehr des endgültigen Heilsverlusts thematisiert wäre. Es gibt aber, wie auch Wolff, 2Kor 109 Anm. 302 gegen Collange, Enigmes 221 geltend macht, keinen vernünftigen Grund, warum Paulus im argumentativen Kontext von 2Kor 5,2– 4 betonen sollte, dass er seines endgültigen Heils nicht verlustig gehen bzw. die Anwartschaft darauf nicht verlieren will; so auch die Kritik von Schottroff, Gaubende 153 an Oepke, gumnov~ 774. Dies gilt (trotz der Gerichtsthematik in V. 10) auch für die von Furnish für V. 4 angenommene implizite Appellfunktion, die Adressaten möchten ihr Heil nicht aufs Spiel setzen (zur Kritik vgl. schon unter I.2.3; zur forensischen Interpretation des gumnov~ in V. 3 vgl. S. 250f). 79 Beispiele hierzu gibt Radermacher, Grammatik 31f. 80 Hierin ist ihm Bultmann, Probleme 11; 2Kor 136 gefolgt. 81 Hughes, 2Kor 168 Anm. 31 (Kursivdruck im Original). 82 Auf das Befremdliche dieser Vorstellung macht Glasson, Platonism 149 zu Recht aufmerksam: „This is a most difficult idea, impossible to envisage, one body being super-imposed on another.“

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duvsasqai als Sehnsucht nach einem neuen „Oberkleid“ zu lesen, in dem er sich seinen Adressaten einst präsentieren wird. ejpenduvsasqai heißt im Unterschied zum bloßen ejnduvsasqai: Paulus will dieses Gewand nicht einfach „haben“, er will sich auch und vor allem dereinst83 darin „zeigen“.84 Diese zunächst überraschende Interpretation des ejpenduvsasqai wird durch die Analyse des Satzprädikats euJreqhsovmeqa in V. 3 gestützt, denn auch dieser Terminus zeigt, dass es Paulus um eine Art „Außenwirkung“ des Himmelsgewandes geht, die freilich noch näher zu bestimmen ist. Einstweilen bleibt festzuhalten, dass Paulus in V. 2 sein Todesverständnis weiter expliziert und zugleich auch eine weitere Aussage über sein Todesgeschick macht: Das oijkhthvrion ejx oujranou wird ihm als „Gewand“ dienen, näherhin als ein neues „Obergewand“, mit dem er vor anderen „in Erscheinung tritt“. Darauf richtet sich seine Sehnsucht, und diese Sehnsucht ist die Ursache seines „Stöhnens“. Was sich von außen als negativer Affekt eines mit Schmerzen und Leid behafteten Daseins ausnimmt, ist in Wahrheit eine positive Gemütsregung der Hoffnung über den Tod hinaus.

83 Der futurische Aspekt unterscheidet die hier vorgetragene Auslegung von der Baumerts. Es geht eben nicht um eine „Koexistenz [...], so dass wir zugleich ein Untergewand und Obergewand tragen“ (Sterben 173; Kursivdruck im Original), vielmehr darum, dass das neue Obergewand das alte ersetzt, und zwar als eschatologisches Heilsereignis, nicht als gegenwärtiger Zustand. 84 Drei Textbeispiele für ejpenduevsqai als „Anlegen eines (neuen, anderen) Obergewandes“ in der Absicht, eine veränderte Außenwahrnehmung zu erzielen: (a) Bei Josephus, Ant. 5,37 heißt es von den Israeliten, nachdem sie wegen Achans Unterschlagung von Kriegsbeute das Strafgeschick einer militärischen Niederlage ereilt hat: kai; savkkou~ ejpenduvnte~ tai`~ stolai`~, „und sie zogen Säcke über ihre Gewänder“, d.h. nicht mehr die stolaiv, sondern die Säcke bilden nun das Obergewand und fungieren als sichtbarer Ausdruck der Buße und Trauer. (b) Plutarch, Pelop. 11 berichtet von den Soldaten Charons und Melons: ejsqh`ta~ ejpendedumevnoi gunaikeiva~ toi`~ qwvraxi kai; dasei`~ stefavnou~ ejlavth~ te kai; peuvkh~ perikeivmenoi, kataskiavzonta~ ta; provswpa, „Diese hatten über ihre Panzer Weiberkleider gezogen und dichte Kränze von Tannen und Fichten aufgesetzt, welche das ganze Gesicht bedeckten.“ Die Soldaten werden, weil sie Frauenkleidung als Obergewand tragen, für Frauen gehalten und deshalb von den Feinden arglos hereingelassen. Im Unterschied zu diesen beiden Texten sagt 2Kor 5,2.4 nicht, worüber das Himmelsgewand als Oberkleid getragen wird. Wichtig ist offenbar allein, dass die oijkodomh; ejk qeou` diese Funktion eines Obergewandes hat. Näher an der Paulusstelle als die ersten beiden Belege ist deshalb (c) Aesop, Fab. 199,3: o[no~ dora;n levonto~ ejpenduqei;~ levwn ejnomivzeto pa`sin: Der Esel, der sich mit einer Löwenhaut „überkleidet“, wird für einen Löwen gehalten. Hier ist nicht eigens davon die Rede, dass der Esel das Löwenfell über seinem eigenen, dem Eselsfell trägt. Maßgeblich ist allein die veränderte Außenwirkung durch das fremde Obergewand, mit dem der Esel eine falsche Identität vortäuscht. Hierzu passt, dass die Suda das Nomen ejpenduvth~ mit to; ejpavnw iJmavtion erklärt (zitiert nach Bauer/Aland, Wörterbuch 577): Es handelt sich eben um dasjenige Kleidungsstück, das man „zu oberst“ bzw. „nach außen“ trägt.

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2.3 Das himmlische Obergewand als eschatologisches Statusmerkmal (V. 3) Paulus wird in V. 4 nochmals auf V. 2 zurückgreifen, um sein Todesverständnis dadurch zu präzisieren, dass er sich gegen ein verfehltes Todesverständnis abgrenzt. Bei unserer Auslegung von V. 4 werden wir dementsprechend auch wieder (und im Rahmen dieses Teils der Arbeit erstmals extensiv) auf Vergleichtexte des II. Teils zurückgreifen. Zunächst jedoch wenden wir uns in einem umfangreicheren Kapitel der in der Forschung stets als rätselhaft empfundenen Phrase V. 3 zu. Bevor Paulus in V. 4 den Blick wieder verstärkt auf sein subjektives Todesverständnis richtet, erläutert er in V. 3 das bisher Gesagte hinsichtlich seines persönlichen postmortalen Geschicks: Wenn er das Himmelshaus wie ein Obergewand trägt, dann gilt: ouj gumnoi; euJreqhsovmeqa. Es will scheinen, dass dieser Vers der dunkelste des ganzen Abschnitts ist. Nicht zu Unrecht hat ihn Bachmann „das eigentliche Rätsel der Periode“ genannt.85 Wir setzen für unseren eigenen Interpretationsversuch nicht bei den textkritischen86 und syntaktischen87 Proble85

Bachmann, 2Kor 223. Die beiden textkritischen Probleme des Verses sind ein Reflex der Verständnisschwierigkeiten, die die Stelle offenbar schon früh bereitet hat. Die Varianten ei[ ge und ei[per sind von der äußeren Bezeugung her beide gut vertretbar. Während das Bedeutungsspektrum von ei[ ge ein Moment des Zweifels zulässt, betont ei[per eindeutiger das Gegebensein der Bedingung (vgl. dazu Thrall 1962, 86f; Baumert, Sterben 385). Die Korrektur ist in beide Richtungen denkbar: Wenn ein Abschreiber V. 3 im Sinne einer für Paulus unsicheren Bedingung verstanden hat, mag er ei[per in ei[ ge geändert haben. Wer umgekehrt ei[ ge las und V. 3 im Blick auf die in V. 1 geäußerte Gewissheit als Aussage über etwas zweifelsfrei Gegebenes auffasste, konnte den Text in das eindeutigere ei[per abändern. Die Lesart ejndusavmenoi ist gegenüber ejkdusavmenoi, das nur der westliche Text bietet, im Vorteil, steht jedoch bei Nestle/Aland im Apparat; zur Begründung vgl. Metzger, Commentary 579f: „with ejndusavmenoi the apostle’s statement is banal and even tautologous, whereas with ejkdusavmenoi it is characteristicly vivid and paradoxical.“ Hier wirkt deutlich ein bestimmtes Paulusbild auf das textkritische Urteil ein! Metzger selbst distanziert sich von der Entscheidung des Komitees (580). ejkdusavmenoi hat außerdem unter den Exegeten namhafte Fürsprecher, allen voran Bultmann, 2Kor 137f. Wiederum ist eine Korrektur in beide Richtungen vorstellbar: ejkdusavmenoi ist im Kontext sperrig und kann in ejndusavmenoi geglättet worden sein; andererseits hat man ejndusavmenoi in Verbindung mit ouj gumnoiv möglicherweise schon früh als Tautologie aufgefasst und in ejkdusavmenoi abgeändert. Die äußere Bezeugung von ejndusavmenoi ist weitaus besser und verdient deshalb den Vorzug (so mit ausführlicher Begründung Thrall, Putting; Hanhart, Hope; Kuschnerus, Gemeinde 281 Anm. 882). Was die Varianten ei[ ge und ei[per betrifft, so halten wir uns an die 27. Auflage des Neste/Aland und lesen ei[ ge (vgl. die folgende Anm.). 87 Unklar ist, ob ei[ ge kaiv als eine einzige Wendung aufzufassen oder in ei[ ge und kaiv zu trennen ist. Im ersten Fall kann die Wendung als durch ge und kaiv doppelt verstärktes ei{, also konditional gelesen werden. Möglich ist aber auch ein konzessiver Sinn, dann nämlich, wenn man ei[ ge kaiv als ein um ge erweitertes ei[ kaiv interpretiert. Trennt man ei[ ge kaiv in ei[ ge und kaiv, dann kann kaiv als emphatische Wiederaufnahme des Doppelkompositums ejpenduvsasqai im Kompositum ejndusavmenoi, als Hervorhebung des ganzen folgenden Satzes, oder aber, die Lesart ejkdusavmenoi vorausgesetzt, in konzessivem Sinn verstanden werden. Strittig und von besonderer 86

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men an und stellen auch die Frage nach der Bedeutung des gumnov~ einstweilen zurück. In einem ersten Schritt soll vielmehr das Satzprädikat euJreqhsovmeqa in den Blick genommen werden. 2.3.1 Das Satzprädikat euJreqhsovmeqa Das Prädikat euJreqhsovmeqa wird in der Forschung häufig gar nicht oder nur am Rande in die Interpretation einbezogen und vielfach zu einem bloßen „nackt Sein“ verflüchtigt. Im Gegensatz dazu bringt euJreqhsovmeqa jedoch den Aspekt des Wahrgenommenwerdens durch andere in den Text ein. Damit greift V. 3 die soziale Konnotation auf, die wir bereits für das ejpenduvsasqai in V. 2 ermittelt haben. Die Pointe von V. 3 ist nicht einfach, dass Paulus bei der Auferstehung bzw. der Parusie nicht nackt „sein“, sondern dass er nicht nackt „erfunden“ bzw. genauer „vorgefunden“ oder „angetroffen“ werden will. Beim Wechsel von der Baumetaphorik in V. 1–2b zur verbal ausgeführten Gewandmetaphorik V. 2b–3 ist es Paulus also offenbar zentral um seine „Außenwirkung“ zu tun, nicht um einen abstrakten Zustand oder Besitzstand. Dem Apostel denkt an eine (im unmittelbaren Kontext nicht näher benannte) Begegnung, für die das Himmelshaus, das Paulus als Obergewand zu tragen ersehnt (ejpenduvsasqai), unabdingbar ist. Die „Nacktheit“ entscheidet, wenn man den Aussagegehalt vonҏ euJreqhsovmeqa berücksichtigt, nicht über die individuelle Befindlichkeit dessen, der „nackt“ oder „bekleidet“ ist, sondern darüber, welchen „Anblick“ er bietet, welches „Bild“ er „abgibt“. In diesem Wahrgenommenwerden durch andere kommt es Paulus darauf an, nicht „nackt“ dazustehen. Hierin liegt geradezu das Eigengewicht des ganzen Verses, wodurch auch die Wendung „als angezogen Habende nicht nackt“ alles andere als tautologisch erscheint, sofern nämlich V. 3 den bisher nicht thematisierten Zweck des Obergewandes zur Sprache bringt: Dieses Gewand ist dazu da, dass Paulus nicht „nackt angetroffen“ wird. Zutreffend stellt Windisch fest: „euJrivskesqai bedeutet immer: in einem bestimmten Zustand oder in einer bestimmten Qualität vor anderen Menschen und vor Gott sich zeigen“88. Vergleichbar innerhalb des Bedeutung für den Textsinn ist auch, inwiefern ei[ durch ge verstärkt wird, ob ge die Bedingtheit der Aussage von V. 2 unterstreicht und ein Moment des Zweifels in den Text einbringt, oder im Gegenteil die Gewissheit der Bedingung betont. Die syntaktische Anbindung von V. 3 an V. 2 kann auch durch eine direkte Beziehung von ei[ ge auf stenavzomen konstruiert werden. Die Wendung erhält dann einen fragend-dubitativen Sinn (stenavzomen [...] ei[ ge, etwa: „wir seufzen [...], ob wir wirklich“, so Bachmann, 2Kor 228f; Wonneberger, Syntax 195). Die Auslegung wird zeigen, dass ein dubitativer Sinn des ei[ ge ebenso ausscheidet wie ein konzessiver. Vielmehr ist mit Kühner/Gerth, Grammatik, Bd. 2, 177f ein konditionaler Sinn eines mit kaiv verstärkten ei[ ge anzunehmen, und zwar im Sinne einer selbstverständlich in Geltung stehenden Bedingung: „sofern es nämlich richtig ist, dass“ bzw. „natürlich unter der ja selbstverständlichen Bedingung“ (Windisch, 2Kor 162). 88 Windisch, 2Kor 162. Hervorhebung als Sperrdruck im Original. Zutreffend meint auch Wolff, 2Kor 109f, dass „dieses Verb das Erkennen einer Qualität durch andere ausdrückt [...],

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paulinischen Sprachgebrauchs ist etwa 2Kor 12,20 (fobou`mai ga;r mhv pw~ ejlqw;n oujc oi{ou~ qevlw eu{rw uJma`~, kajgw; euJreqw` uJmi`n oi|on ouj qevlete) wo es um die bevorstehende kritische Begegnung zwischen Paulus und den Korinthern geht.89 Es wird nun deutlich, warum sich 2Kor 5,3 keinesfalls in der Ablehnung der schon in 1Kor 15 widerlegten hellenstisch-jüdischen Anthropologie erschöpft. Selbst wenn das gumnov~-Sein in Korinth als positiv besetztes Schlagwort im Sinne der bei Philo belegten Synonymie von gumnov~ und ajswvmato~ präsent war, wofür es in 1Kor 15 freilich keinen Anhaltspunkt gibt,90 verwendet Paulus die Metapher der Nacktheit in 2Kor 5,3 keinesfalls einfach dazu, um sein Insistieren auf einem himmlischen Leib durch die Negation des logischen Gegenteils, d.h. aber durch eine Tautologie („da wir ja als solche, die einen Leib erhalten haben, nicht keinen Leib haben“) zusätzlich zu betonen. Die Situation, in der Paulus nicht „nackt angetroffen“ werden will, bestimmen nun mehrere Ausleger näherhin als die des Gerichts.91 In der Tat eignet dem Verb im Passiv eine forensische Konnotation, so dass sich die Bedeutung „vorgefunden werden als“ bisweilen in Richtung auf ein „beurteilt werden als“ verschiebt. nicht aber den eigenen Zustand.“ Die Beobachtung bleibt jedoch bei Wolff für das Verständnis des Verses bedeutungslos. Vgl. auch Dtn 20,11LXX e[stai pa`~ oJ lao;~ oiJ euJreqevnte~ ejn aujth`æ e[sontaiv soi forolovghtoi kai; uJphvkooiv sou, „Es soll geschehen, dass alles Volk, das in ihr [scil. der Stadt] angetroffen wird, dir fronpflichtig und untertan wird.“ Die Übersetzung „das sich in ihr befindet“ (Züricher Bibel) ist im Deutschen nicht zu beanstanden, nivelliert aber den Aspekt der Begegnung: Es geht um die Bevölkerung, die die Israeliten bei ihrem Eindringen in die Stadt vorfinden. In Mt 24,46 makavrio~ oJ dou`lo~ ejkei`no~ o}n ejlqw;n oJ kuvrio~ aujtou` euJrhvsei ou{tw~ poiou`nta geht es darum, womit man beim Eintreffen des Herrn gerade beschäftigt ist. Der kritische Moment ist die Begegnung mit dem Herrn; vgl. auch Mt 26,40parr; Mk 13,36. Acta 5,39 mhvpote kai; qeomavcoi euJreqh`te kann übersetzt werden mit „damit ihr nicht etwa als solche geltet, die wider Gott streiten.“ Heikel ist die zu treffende Entscheidung des Synhedriums, weil dieses auf seinen Ruf beim Volk bedacht sein muss. Auch hier ist mit dem euJrivskesqai die Aussenwirkung einer Handlung bezeichnet, nicht einfach die ihr inhärente Qualität. Unklar ist 2Petr 3,14 spoudavsate a[spiloi kai; ajmwvmhtoi aujtw`æ euJreqh`nai, „Setzt euren Eifer daran, fleckenund makellos von ihm erfunden zu werden“: Wegen a[spiloi kai; ajmwvmhtoi kann die Stelle auf den Zustand des „Kleides“ gedeutet werden, mit dem die Christen Gott (V. 12) dereinst „unter die Augen treten“. Möglich ist aber auch, dass sich die „Flecken- und Makellosigkeit“ erst im Endgericht selbst erweisen muss. 89 In Röm 7, 10 (kai; euJrevqh moi hJ ejntolh; hJ eij~ zwh;n au{th eij~ qavnaton) gebraucht Paulus das Verb abgeschwächt im Sinn eines bloßen „sich erweisen“, doch ist die Stelle, in der es um die Erkenntnis hinsichtlich einer Sache (der ejntolhv) geht, mit 2Kor 5,3 (Nacktheit als eine für andere wahrnehmbare Eigenschaft einer Person) nicht vergleichbar. Weitere ntl. Stellen zu euJrivskw in der übertragenen Bedeutung „erkennen, verstehen, einsehen, wahrnehmen, entdecken“ bei Bauer/Aland, Wörterbuch 658. 90 Vgl. dazu den folgenden Exkurs. 91 Bachmann, 2Kor 227; Collange, Enigmes 211; Lang, Forschung 188f; Furnish, 2Kor 268; Wenham, Found; Zeilinger, 2Kor 220; Zur Kritik vgl. Watson, Research 36.

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Bei Paulus ist etwa auf 1Kor 15,15 (euJriskovmeqa de; kai; yeudomavrture~ tou` qeou`) zu verweisen: Paulus müsste, wenn Christus nicht auferstanden ist, als Falschzeuge „beurteilt“ werden, oder aber auf Phil 3,9 (i{na Cristo;n kerdhvsw kai; euJreqw` ejn aujtw`æ, mh; e[cwn ejmh;n dikaiosuvnhn th;n ejk novmou ajlla; th;n dia; pivstew~ Cristou`), wo das „in Christus erfunden werden“ relevant ist für das Urteil, das Gott über den Apostel fällt. Für euJrivskein „as a result of a judicial investigation“ nennt Furnish die Stellen Acta 13,28; 23,9; 24,20 und 2 Petr 3,10.92 Diese Bedeutung passt fraglos zu den Actastellen, zu 2 Petr 3,10 (ÓHxei de; hJmevra kurivou wJ~

klevpth~, ejn h|æ oiJ oujranoi; rJoizhdo;n pareleuvsontai, stoicei`a de; kausouvmena luqhvsetai, kai; gh` kai; ta; ejn aujth`æ e[rga euJreqhvsetai) jedoch nur bedingt: Das Prädikat euJreqhvsetai in der Bedeutung „sichtbar wer-

den“, „angetroffen werden“ gehört zwar in den Sachzusammenhang eines apokalyptischen Gerichtsszenarios, doch ist die Ereignisfolge des schwierigen und auch textkritisch umstrittenen93 Verses 10 näherhin so vorzustellen, dass am „Tag des Herrn“ (V. 10a) durch die Verbrennung der Gestirnsphäre (V. 10bc) sozusagen der Sichtschutz zwischen Himmel und Erde überraschend und plötzlich94 weggenommen wird und somit die auf der Erde geschehenden Werke vor Gott offen daliegen (V. 10d).95 Mit euJreqhvsetai ist also ein Vorgang im Zusammenhang des eschatologischen Gerichts zu verstehen, nämlich die plötzliche Konfrontation mit dem Richter, nicht aber das Gerichtsgeschehen selbst (gerichtliche Untersuchung, Schuldspruch, etc.). Es geht zunächst nur darum, dass Gott bzw. die Engel der Erde und der Werke ansichtig werden, noch nicht um ein Gerichtsurteil. Die Interpretation des euJrivskesqai als Bezeichnung für das Urteil im Gericht bzw. im Endgericht hat Baumert grundsätzlich in Frage gestellt: Gewiss ist oft davon die Rede, dass wir vor dem prüfenden Auge Gottes und der Menschen uns so ‚erweisen‘, aber es ist noch ein Unterschied, ob ich einen Urteilsspruch (krivnomai) empfange oder nur von anderen ‚so gesehen‘ werde. Das erste spricht von einer Stellungnahme der anderen, das zweite nur von einer Wahrnehmung. Es geht darum, wie man mich ‚vor-findet‘, nicht über mich ‚be-findet‘. EuJ92

2Kor 268. Vgl. auch Lang, Forschung 188: „Verbunden mit einem prädikativen Adjektiv oder Substantiv heißt euJrivskomai im Passiv ‚sich erweisen als‘, vor einer richterlichen Instanz ‚erfunden werden als‘“, wobei er auf 1Kor 4,2; 15,15; Gal 2,17 und 2. Petr 3,14 verweist. Vgl. weiterhin Ps 16,3LXX; Joh 18, 38; 1Kor 4,2; Apk 20,15; Barn. 21,6 (dazu Windisch, Barnabasbrief 408); 1Clem. 35,4; IgnTrall. 2,2. 93 Die Diskussion referiert Vögtle, Judasbrief 233ff. 94 Das Moment des Überraschenden will Prümm, der den ganzen Zusammenhang 2Kor 5,1–5 konsequent auf die Parusie bezieht, auch in 2Kor 5,3 eintragen, wo es aber nicht hinpasst. In 2Kor 5,3 ist euJreqhvsesqai nicht „Fachausdruck für das ‚Überraschtwerden‘ von der Ankunft des Herrn“ (2Kor 280), da sich Paulus ja auf die Begegnung mit dem Kyrios bewusst vorbereitet und diese sogar ersehnt. 95 So überzeugend Vögtle, Judasbrief 236 mit Wilson, euJreqhvsetai.

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rivskesqai ist mit ‚er-funden werden‘ (was ist das eigentlich im Deutschen, außer im Sinne einer Erfindung?) nicht eindeutig genug übersetzt; genauer wäre ‚ge-funden, vorgefunden, angetroffen werden, sich zeigen, offen dastehen [...]‘, mit Partizip ‚man erkennt von mir, dass ich‘ [...]. Das ist zwar auch Voraussetzung eines Gerichtsspruches, aber noch nicht dieser selbst.96

Die von Baumert namhaft gemachte Differenzierung ist auch für das Verständnis der Wendung ouj gumnoi; euJreqhsovmeqa in 2Kor 5,3 von Bedeutung. Einerseits legt sich nämlich ein Zusammenhang zwischen V. 3 und V. 10 nahe, da in V. 10 mit dem „Offenbarwerden vor dem Gerichtssessel Christi“ eine Situation benannt ist, die konkret für die im Prädikat euJreqhsovmeqa angedeutete Begegnung in Frage kommt.97 Anderseits besteht kein Anlass, die Gewandmetaphorik von V. 2f so auf das in V. 10 beschriebene Gerichtsverfahren zu beziehen, dass das „nackt erfunden werden“ als Metapher für den Urteilsspruch zu verstehen ist. Da dieses Urteil ja ausdrücklich aufgrund der „Taten bei Leibesleben“ gefällt wird, gelänge diese Gleichsetzung nur, wenn in 5,1ff vom „Gewand“ der guten Werke die Rede wäre,98 wofür es aber keinerlei Hinweise gibt. Es ist in 5,1ff durch nichts angedeutet, dass der Erhalt des Himmelshauses durch das Vorhandensein guter Werke konditioniert wäre.99 2Kor 5,3 kann also nicht so verstanden werden, als rede Paulus im Vorgriff auf V. 10 von seinem Bestehen im Endgericht aufgrund entsprechend vorhandener Werke.100 Ein anders gearteter Bezug von V. 3 auf V. 10 läge dann vor, wenn man von einer Unterscheidung von Person und Werk ausgeht, wie Paulus sie in 1Kor 3,15 (ei[ tino~ to; e[rgon katakahvsetai, zhmiwqhvsetai, aujto;~ de; swqhvsetai, ou{tw~ de; wJ~ dia; purov~) andeutet, wohl an die Adresse des Apollos, den er kritisieren, mit dem er sich aber nicht überwerfen will. Pau96

Baumert, Sterben 192. So etwa Walter, Eschatologie 62: „[D]er vor dem Gerichtsthron Christi Stehende empfängt [...] ein neues, ihm individuell gehörendes ‚Gewand‘.“ 98 Vgl. dazu Kehl, Gewand 971: „Sich durch die guten Taten bei Lebzeiten das himmlische Gewand weben“. 99 Richtig (wenngleich christlich verallgemeinernd) Mattern, Verständnis 157: „In 2Kor 5,1–8 zeigte sich die Hoffnung auf ewiges Leben völlig unabhängig vom Ausgang dieses Gerichts [...]. Das ewige Leben ist den Christen gewiss, unabhängig vom durchaus noch unsicheren Ausgang des Gerichtes über das Werk des Christen.“ 100 So aber Schröter, Versöhner 240: Die Nacktheit wird vermieden mittels „der himmlischen Behausung [...], die Paulus in der Konsequenz seines apostolischen Wirkens erhält“, und 243: „Im Gericht kommt es [...] darauf an, einen Leib zu besitzen, der [...] vor dem Nacktsein bewahrt. Der Erhalt eines solchen ‚himmlischen Leibes‘ hängt nach V. 10 mit dem Handeln im irdischen Leib zusammen..“ Die Junktur von apostolischem Handeln und dem Erhalt des Himmelsleibes will jedoch nicht einleuchten: Nach V. 1 erhält Paulus den eschatologischen Leib einfach anstelle des irdischen, nicht jedoch als „Konsequenz“ (was genau ist gemeint?) seines apostolischen Wirkens. Erst recht geht die konditionierende Verknüpfung von V. 1 (Erhalt des Himmelsleibes) und V. 10 (Gericht über die Taten dia; tou` swvmato~) am Text vorbei. Denn der Erhalt der oijkodomh; ejk qeou` hängt in keiner Weise von der Beurteilung der Taten im Gericht ab. 97

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lus wollte dann sagen, dass, wenn über sein apostolisches Werk befunden wird, er ausweislich des himmlischen Gewandes persönlich unantastbar sein, sozusagen Immunität genießen wird, und dass er dem Gericht deswegen mit Zuversicht (5,6: qarrou`nte~ ou\n) entgegensieht. Gegen diese auch von mir bisher vertretene Deutung101 spricht jedoch dreierlei: (a) Die Möglichkeit der Verdammnis von Glaubenden im Gericht wird in V. 10 überhaupt nicht reflektiert, also muss Paulus sie in V. 3 also auch nicht für seine eigene Person ausschließen. (b) 2Kor 5,1–5 gehört in den Duktus von 4,7– 18. Hier geht es aber nicht um eine Bewertung von Paulus’ apostolischem Werk im Gericht, sondern um die den Korinthern anstößige Niedrigkeit des Apostels. (c) Die Metapher der „Nacktheit“ und die Äußerung des qarrei`n sind semantisch so polyvalent, dass für die Erstrezeption des Textes durch die Adressaten die Assoziation des erst in V. 10 expliziten forensischen Zusammenhangs nicht vorausgesetzt werden kann. Die in V. 3 angesprochene Begegnung, bei der Paulus nicht „nackt“ dazustehen gewiss ist, müsste auf eine Situation referieren, die im voranstehenden Kontext bereits angesprochen wurde. Hier kommt in der Tat eine Stelle in Betracht, nämlich 4,14b oJ

ejgeivra~ to;n kuvrion ÆIhsou`n kai; hJma`~ su;n ÆIhsou` ejgerei` kai; parasthvsei su;n uJmi`n.

Das Verständnis dieses Versteils hängt zum großen Teil an der Bedeutung des Prädikats parasthvsei. Die mit Blick auf 5,10 von einigen älteren Auslegern bevorzugte forensische Bedeutung „(dem Richter) vorführen“102 wird m.R. zumeist als dem Kontext zuwiderlaufend abgelehnt.103 Die Regel ist jedoch die stillschweigende Ergänzung eines eJautw`/,104 so dass Gott, Subjekt des kaqistavnai, zugleich als Bezugsgröße dieses Vorgangs, wenn auch nicht in der Funktion des Richters, präsent bleibt. Wolff übersetzt dement-

101 Vgl. Vogel, Warum 460: Paulus ist „dem Gerichtsforum anhand seines Gewandes kenntlich in seiner neuen bzw. nunmehr sichtbaren und endgültigen eschatologischen Identität. Wenn über seinen apostolischen Dienst geurteilt wird, über das, was er ‚bei Leibesleben‘ getan hat (V. 10), dann steht dieser von Gott selbst gewährte und verbürgte (V. 5) Status nicht zur Disposition. Deshalb sieht Paulus diesem Gerichtstermin, in dem es nicht um Heil oder Verdammnis geht, sondern um die Beurteilung seiner Werke, mit Zuversicht entgegen.“ Ich meine zwar, dass das Problem des Verhältnisses von christlichem Heilsstand und Gericht nach den Werken, das sich sofort stellt, wenn man einen Bezug zwischen V. 3 und V. 10 annimmt, zutreffend beschrieben ist. Paulus rechnet in V. 10 der Tat nicht mit der Möglichkeit, im Endgericht nicht zu bestehen, doch ist dies nicht die Mitteilungsabsicht von V. 3. Die Möglichkeit der Verdammnis ist in 2Kor 5,10 vielmehr überhaupt nicht Thema. 102 Vgl. Röm 14,10 und Bauer/Aland, Wörterbuch 1268 s.v. parivsthmi 1.e. 103 Bachmann, 2Kor 205; Plummer, 2Kor 134; Windisch, 2Kor 150; Lietzmann, 2Kor 116; Reicke, parivsthmi 839; Baumert, Sterben 285; Furnish 2Kor 286; Wolff, 2Kor 96; Schröter, Versöhner 214. 104 Vgl. Collange, Enigmes 165: „La proposition est un peu elliptique et il manque un eJautw/` ou un complement de ce genre.“

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sprechend „der [...] auch uns mit Jesus auferwecken und mit euch vor sich stellen wird.“105 Inhaltlich geht es nach Bultmann um „die Vorführung der Gerechtfertigten“,106 nach Wolff darum, dass „Gott uns in unserer Gemeinschaft mit Jesus vor sich“ stellt, „um uns in seine Herrschaft und Herrlichkeit aufzunehmen.“107 Nach Windisch schwebt Paulus „ein letzter Akt im Gange der die Einführung in die Seligkeit vorbereitenden und bedingenden Heilserlebnisse“ vor.108 Furnish109 verweist für das in der knappen Formulierung kai; parasthvsei su;n uJmi`n Gemeinte auf 2Kor 1,14 (kauvchma uJmw`n e[smen kaqavper kai; uJmei`~ hJmw`n ejn th`æ hJmevraæ tou` kurivou ÆIhsou`), Phil 2,16 (eij~ kauvchma ejmoi; eij~ hJmevran Cristou`, o{ti oujk eij~ keno;n e[dramon oujde; eij~ keno;n ejkopivasa) und 1Thess 2,19f (tiv~ ga;r hJmw`n ejl-

pi;~ h] cara; h] stevfano~ kauchvsew~ h] oujci; kai; uJmei`~ e[mprosqen tou` kurivou hJmw`n ÆIhsou` ejn th`æ aujtou` parousivaæÉ uJmei`~ gavr ejste hJ dovxa hJmw`n kai; hJ carav). Diese drei Stellen sind für das Verständnis des parasthvsei su;n uJmi`n in 2Kor 4,14 in doppelter Hinsicht aufschlussreich: (a)

In allen Texten qualifiziert Paulus anhand von eschatologischen Aussagen das aktuell bestehende Verhältnis zwischen sich und seinen Adressaten. Es geht nicht um eschatologische Heilsvollendung, sondern darum, das enge Verhältnis zwischen Apostel und Gemeinde zu betonen und zugleich mittels einer eschatologischen Letztbegründung zu festigen. Auch in 2Kor 4,14b dürfte es Paulus nicht um so etwas wie einen vorletzten Akt im Heilsdrama gehen, sondern darum, das bestehende Verhältnis zu den Korinthern durch eine eschatologische Aussage zu akzentuieren. Das su;n uJmi`n ist etwas anderes als der ekklesiologische Nebenaspekt einer soteriologischen Aussage.110 (b) Im Vergleich mit den genannten Texten nimmt sich die Formulierung in 2Kor 4,14 eigentümlich knapp und vage aus. Auffällig ist v.a., dass das Stichwort „Ruhm/rühmen“ hier nicht erscheint, dass Paulus also auf den Gedanken, dass Apostel und Gemeinde einander zum 105 Wolff, 2Kor 88 (Hervorhebung hinzugefügt). So auch Lietzmann, 2Kor 116: uns „mit euch (zusammen) vor sich stellen wird“; Bultmann, 2Kor 113: uns „mit euch vor sich stellen wird“; Lutherübersetzung (1984): „wird uns vor sich stellen samt euch“; Züricher Übersetzung: „und mit euch [vor sich] hinstellen wird.“ Schröter, Versöhner 214 paraphrasiert: „Mit ihnen [d.h. den Korinthern] wird er [d.i. Paulus] einst vor Gott stehen“ (Hervorhebung hinzugefügt), u.v.a. 106 Bultmann, 2Kor 124. 107 Wolff, 2Kor 96. 108 Windisch, 2Kor 150. 109 Furnish, 2Kor 259. 110 So aber Bultmann, 2Kor 124: „[F]ür Paulus ist das Wesentliche das su;n uJmi`n [...]. Nicht als Einzelner steht man im Heil, sondern in der Gemeinde.“ Für Wolff, 2Kor 96, zeigt das su;n uJmi`n an, „dass die Heilsvollendung als ein Geschehen am Apostel verstanden wird, in das die Gemeinde voll und ganz hineingenommen wird.“ Auch Schröter, Versöhner 214 sieht in 4,14 eine soteriologische Aussage, die er von der in 4,13 angesprochenen „Gemeinsamkeit hinsichtlich des PneumaBesitzes“ (212) her verstehen will.

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Ruhm gereichen, im Argumentationszusammenhang von 2Kor 4,14 nicht zurückgreift. Die eschatologische dovxa erwächst Paulus nach 4,17 aus der erlittenen irdischen qli`yi~, nicht wie in 1Thess 2,20 aus dem im Eschaton sich vollendenden Miteinander von Apostel und Gemeinde. Es empfiehlt sich deshalb nicht, diesen Aspekt mit Furnish111 aus den genannten Texten in 2Kor 4,14b einzutragen (s.u.). Vielmehr rückt Paulus das Verhältnis zwischen ihm und den Adressaten in einen eschatologischen Bedeutungszusammenhang, ohne diesen zunächst inhaltlich zu füllen. Auch die Ergänzung eines eJautw`/, die den meisten Deutungen zugrunde liegt,112 bedeutet bereits eine Eintragung. Der Gebrauch des transitiven paristavnai ohne indirektes Objekt ist sprachlich möglich und kann dann die Bedeutung „offen hinstellen, darstellen, präsentieren“ haben113: Gott wird Paulus bei der Auferstehung114 „offen hinstellen“, und zwar su;n uJmi`n. Dies heißt aber nun nicht einfach: Gott wird mich offen hinstellen, und euch auch“, genauso wenig, wie das voranstehende su;n ÆIhsou` heißt: „Gott wird uns auferwecken und Jesus auch.“115 Ausgesagt ist nur: Paulus wird sich in der Gemeinschaft mit den Korinthern befinden, wenn Gott ihn dereinst „präsentieren“, „öffentlich hinstellen“ wird. Das su;n uJmi`n soll somit nicht nur das schon jetzt bestehende gemeinschaftliche Verbundensein des Paulus mit den Korinthern betonen, das dann in

111 Furnish, 2Kor 286: „As Paul indicates more explicitly in other places (1:14; Phil 2:16; 1 Thess 2:19), this being together with his converts in the presence of the Lord will be the crowning evidence not only of the authenticity of their faith but also of the authenticity of those by whom they have come to faith.“ 112 So unter vielen anderen Lambrecht, Outlook 347. 113 Baumert, Sterben 284.297 führt Demosthenes, cor. 175 duvnamin deivxa~ kai; parasthvsa~

ta; o{pla tou;~ me;n eJautou` fivlou~ ejpa`rai kai; qrasei`~ poih`sai, tou;~ dÆ ejnantioumevnou~ kataplh`xai als Beispiel an: Philipp von Makedonien wollte, indem er „[seine] Macht demonst-

rierte und [seine] Waffen öffentlich präsentierte“, seine Freunde ermutigen und seine Feinde in Schrecken zu versetzen. 114 Wie in 2Kor 5,1ff geht es Paulus übrigens auch in 2Kor 4,14 nicht um eine Wiederholung oder Vertiefung der in 1Kor 15 entfalteten Argumentation. Vielmehr knüpft Paulus an diese Argumentation an, um sie auf das apologetische Thema von 2Kor 4f anzuwenden. So auch Furnish, 2Kor 286: „[N]othing [...] suggests, that he [d.i. Paulus] is still concerned about the denial of a general resurrection which had elicited the lenghty discussion of 1 Cor 15. On the contrary, he expects that this restatement of faith’s foundation in God’s resurrection power will convincingly support his claim that apostles can speak with boldness even in the midst of adversary. If Paul is intending to correct a false notion here, it is not the denial of a final resurrection but the beliefs that afflictions are inconsistent with true apostleship.“ 115 Es geht auch nicht um eine Parallelisierung der Auferweckung Jesu und der Christen, wie Windisch, 2Kor 149 in Erwägung zieht („su;n ÆIhsou` abgekürzt für w{sper e[geiren to;n jIhsou`n“), sondern: „er wird uns auferwecken, so dass wir dann zusammen mit Jesus sind und in der Gesellschaft Jesu erscheinen“, so Windisch, 2Kor 149f. Ähnlich Lietzmann, 2Kor 116: „in der Gemeinschaft mit Jesus“ und Kümmel, Anhang 202: kai; hJma`~ su;n ÆIhsou` ejgerei` heißt „dass Gott uns auferwecken wird, damit wir dann mit Christus zusammen sein können.“

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4,15, den Zusammenhang seit 4,7 rekapitulierend,116 mit ta; ga;r pavnta diÆ uJma`~ nochmals betont wird, sondern es führt auch den Aspekt der eschatologischen Wiederbegegnung des Apostels und seiner Gemeinde in den Gedankengang ein. „su;n uJmi`n“ heißt auch: „Gott wird mich dereinst in eurer Gegenwart öffentlich präsentieren.“117 Dass Paulus an dieser Stelle nichts vom eschatologischen „Ruhm“ verlauten lässt, der schon in 2Kor 1,14 nur die Auffassung des Paulus bezeichnet,118 und nicht wie in 1Thess 2,19f und Phil 2,16 das herzliche Einvernehmen zwischen Apostel und Gemeinde, ist ein beredtes Schweigen. Hätte Paulus sich im Zusammenhang der Deutung der Niedrigkeitsgestalt seines Aposteldienstes als „Ruhm“ seiner Gemeinde bezeichnet, hätte er vorausgesetzt, was er allererst zu beweisen war.119 Statt dessen belässt er es dabei, die Beziehung zwischen sich und den Korinthern schlaglichtartig in einen eschatologischen Zusammenhang zu rücken, ohne diesen zunächst näher zu beschreiben. Gerade in dieser Unbestimmtheit erschließt sich m.E. die Kontextfunktion der Aussage 4,14b: Mit der Ergänzung der traditionellen Auferweckungsaussage V. 14ba um die Aussage kai; parasthvsei [hJma`~] su;n uJmi`n in V. 14bb eröffnet Paulus die eschatologische Szene, die er bis 5,10 sukzessive ausgestaltet. Die Adressaten werden bereits in 4,14 auf den in 4,16 sich andeutenden und ab 4,17 vorherrschenden eschatologischen Duktus der paulinischen Argumentation vorbereitet, der in 5,3 einen ersten und in 5,10 einen zweiten szenischen Akzent erhält. Dabei greifen die nicht näher konkretisierte Situation der „öffentlichen Präsentation“ des Apostels durch Gott (4,14) und das eigentümlich situationslose „nicht nackt angetroffen Werden“ des von Gott mit dem Himmelsgewand ausgestatteten Apostels (5,2f) ineinander wie Schlüssel und Schloss: Wenn Gott den Apostel im Beisein seiner Gemeinde dereinst „öffentlich darstellen“ wird, wird er 116

Vgl. Bachmann, 2Kor 205. Den mit su;n uJmi`n artikulierten Aspekt der Begegnung hebt zutreffend Windisch, 2Kor 150 hervor: „Deutlich rechnet P[aulus] hier mit einem ‚persönlichen Wiedersehen‘ und einer Wiederaufnahme oder Fortsetzung der hienieden begründeten persönlichen Gemeinschaft im Jenseits.“ 118 Das genaue Verständnis von 1,14 hängt an der Bedeutung des ajpo; mevrou~ und der syntaktischen Funktion des o{ti. Mit Windisch, 2Kor 58 lese ich den o{ti-Satz als Begründung der in V. 13b ausgesprochenen Hoffnung, die Korinther möchten dereinst zu „vollkommenem“ Verstehen gelangen, nicht als Explikation ihres bereits gegebenen „teilweisen“ Verstehens. Nach dieser Interpretation ist das gegenseitige Ruhmesverhältnis gerade nicht aktueller „Kenntnisstand“ in Korinth. Ein solches Verständnis der Stelle legt auch die Situation von 2Kor insgesamt nahe: Aufgrund der Agitation der Gegner ist Paulus alles andere als der „Stolz“ seiner Gemeinde. 119 Dass dieses Ruhmesverhältnis Beweisziel und nicht Voraussetzung der paulinischen Argumentation ist, zeigt deutlich 5,12a: ajformh;n didovnte~ uJmi`n kauchvmato~ uJpe;r hJmw`n. „Wir geben euch (mit dem was wir schreiben), Anlass zum Ruhm unserthalben.“ Windisch, 2Kor 177 ergänzt den anakoluthischen Satz zutreffend um gravfomen bzw. levgomen tou`to. Paulus offenbare hier „das Motiv für all die Beteuerungen der eigenen Unbescholtenheit und Berufstauglichkeit.“ Die Aussage 5,12b determiniert nicht lediglich die Wirkabsicht der unmittelbar vorangehenden oder folgenden Äußerung, sondern ist auf einen größeren Textzusammenhang zu beziehen. 117

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die „himmlische Behausung“ wie ein „Obergewand“ tragen und infolge dessen nicht „nackt“ dastehen. Bevor wir die Rede von der „Nacktheit“ in unsere Überlegungen einbeziehen, ist nach einer möglichen Querverbindung des gumnov~ in 2Kor 5,3 zu dem in 1Kor 15,37 verwendeten Bild vom „nackten Korn“ zu fragen. Damit ist aber zugleich die viel weiter gehende Frage nach dem Verhältnis von 2Kor 5,1ff und dem in 1Kor 15 geführten Nachweis der Leiblichkeit der Auferstehung gestellt. Wir diskutieren nachfolgend in einem zweiteiligen Exkurs zwei Antworten, die in der neueren Forschung hierzu gegeben wurden, nämlich (1) die von G. Sellin in Aufnahme des polemischen Auslegungstyps vertretene These, dass 2Kor 5,1ff als Fortsetzung der in 1Kor 15 geführten Kontroverse zu verstehen ist, und (2) die gegensätzliche Auffassung N. Walters, Paulus habe sich der hellenistischen Anthropologie, die er noch in 1Kor 15 bekämpft hat, in 2Kor 5 ein ganzes Stück angenähert. Exkurs: Zum Verhältnis von 2Kor 5,1ff zu 1Kor 15 (a) Der Abschnitt 2Kor 5,1ff als Fortsetzung der Diskussion um die leibliche Auferstehung in 1Kor 15? (G. Sellin) Nach Sellin ist 1Kor 15 zu verstehen als Niederschlag einer zwischen Paulus und den Korinthern geführten Debatte um die Leiblichkeit der Auferstehung. Wegen der terminologischen Übereinstimmungen mit 1Kor 15 fasst Sellin 2Kor 5,1–10 als Fortsetzung dieser Debatte auf. Die Übereinstimmungen sind in der Tat auffällig:120 Dem ejnduvsasqai (1Kor 15,53) bzw. ejnduvshtai (1Kor 15,54) entspricht das Doppelkompositum ejpenduvsasqai in 2Kor 5,2.4. Von sw`ma ist in 1Kor 15 (V. 35.37.38.40.44) wie auch in 2Kor 5 (V. 6.8.10) mehrfach die Rede, und gumnov~ (2Kor 5,3) begegnete bereits in 1Kor 15,37. Hinzu kommt in 2Kor 5,4c die Reminiszenz an das Mischzitat 1Kor 15,54b.55 (qavnato~/to; qnhtovn, katapivnw). Für Sellin lässt sich daher der „Abschnitt 5,1–10 [...] deutlich als Fortsetzung der Gedanken von 1Kor 15 verstehen. Er richtet sich gegen die gleiche Front wie 1Kor 15: gegen einen Pneuma-Soma-Dualismus, der das postmortale Heil als Nacktheit der durch das Pneuma erlösten Seele versteht.“121 Dieser Dualismus entstammt, so Sellin, dem Denken des alexandrinischen Judentums, wie es v.a. in den Schriften Philos von Alexandrien greifbar ist. Die korinthische Gemeinde sei mit dem alexandrinisch-jüdischen Gedankengut durch die Vermittlung Apollos in Berührung gekommen, der nach Apg 18,24 aus Alexandrien stammt. Methodisch ergibt sich aus dieser 120 121

Vgl. zum Folgenden die gründliche Analyse bei Gillman, Comparison. Sellin, Streit 70.

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Hypothese, dass bei der Rekonstruktion der korinthischen Auffassung, die Paulus zu seiner Entgegnung in 1Kor 15 veranlasst hat, den Schriften Philos besondere Bedeutung zukommt, ohne dass eine direkte Kenntnis von Philos Schriften in Korinth vorausgesetzt werden könnte oder müsste.122 Auf die korinthischen Anschauungen hat nach Sellin besonders die soteriologische Abwertung des sw`ma gewirkt, wie sie bei Philo nahezu durchgängig zu beobachten ist.123 Innerhalb des anthropologischen Dualismus von nou`~ und sw`ma steht sw`ma für das Dasein in der Fremde.124 Die vom nou`~ zu vollziehende und im physischen Tod sich vollendende Loslösung vom sw`ma als dem „Gefängnis“125 und dem „Feind“126 der Seele bedeutet Heimkehr und Erlösung.127 Das sw`ma gehört somit nicht zum menschlichen Subjekt, dem nou`~, sondern ist etwas, das der Mensch (und das zu seinem Leidwesen) lediglich „hat“. Das soteriologische Ziel ist bei Philo folglich die „Nacktheit“ als Zustand der Körperlosigkeit.128 In Vir. 76 beschreibt Philo den Tod des Mose als Auflösung der körperlichen Hülle und als „Auswanderung“ (metanavstasi~) der vom Körper „entblößten“ (ajpogumnoumevnh) Seele: h[rxato metabavllein ejk qnhth`~ zwh`~ eij~ ajqavnaton bivon

kajk tou` katÆ ojlivgon sunhæsqavneto th`~ tw`n ejx w|n sunekevkrato diazeuvxew~, tou` me;n swvmato~ ojstrevou divkhn peripefukovto~ periairoumevnou, th`~ de; yuch`~ ajpogumnoumevnh~ kai; th;n kata; fuvsin ejnqevnde poqouvsh~ metanavstasin. In All. 2,55 (hJ filovqeo~ yuch; ejkdu`sa to; sw`ma; vgl. All. 2,80) und Somn. 1,43 (hJ yuch; [...] o{lon to;n swmatiko;n o[gkon ejkdu`sa kai; to;n tw`n aijsqhvsewn o[clon ajpodra`sa) wird die angestrebte Entkörperlichung der Seele mit der Metapher des „Ausziehens“ (ejkduvw) beschrieben. Die Rede vom sw`ma als „Gewand“ begegnet in Her. 54 (sfovdra dunatw`~ kai; eujqubovlw~ savkkon me;n to; sw`ma aijnixavmeno~, ai|ma de; zwh;n th;n e[naimon )129, Fug. 110 (ejnduvetai dÆ oJ me;n presbuvtato~ tou` o[nto~ lovgo~ wJ~ ejsqh`ta to;n kovsmon gh`n ga;r kai; u{dwr kai; ajevra kai; pu`r kai; ta; ejk

122

Sellin, Streit 292. Das Folgende nach Sellin, Streit 130–135. 124 Vgl. die Deutung von „Ägypten“ (Gen 26,2) auf das sw`ma in All. 2,59 (mh; katabh`nai eij~ Ai[gupton toutevsti to; sw`ma) u.ö. 125 Migr. 9 (von Abraham): ejkfugw;n desmwthvrion, to; sw`ma, kai; ta;~ w{sper eiJrktofuvlaka~ hJdona;~ kai; ejpiqumiva~ aujtou`. 126 All. 3,69: to; sw`ma [...] ponhrovn te kai; ejpivboulon th`~ yuch`~. 127 Mut. 119: to; ejxagagei`n ejk th`~ swmatikh`~ cwvra~ to;n oJratiko;n kai; filoqeavmona nou`n kai; filovsofon. 128 Vgl. v.a. die Wendungen ajei; de; gumnov~ ejsti kai; ajswvmato~ (All. 2,59) und ajswvmatov~ te kai; gumnov~ (Immut. 83,2). Zur Synonymie von gumnov~ und ajswvmato~ vgl. außerdem Kaiser, Bedeutung 130ff. 129 Vorausgesetzt ist hier die etymologische Deutung von ʷʹʮʣ („Damaskus“ in Gen 15,2) als ʷʹ ʭʣ („Blut des [groben] Gewandes“), griech. ai|ma savkkou. 123

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touvtwn ejpampivscetai, hJ dÆ ejpi; mevrou~ yuch; to; sw`ma) und QGen. 1,53,130 weniger deutlich in Gig. 53. Nach Sellin ist nun die Gewandmetaphorik in 2Kor 5,2.4 wie auch die Rede von der Nacktheit in V. 3 als gezielte Wiederaufnahme der in 1Kor 15 breit ausgeführten Argumentation zu verstehen. Mit der Negation in V. 4 (ouj gumnoiv) und der correctio in V. 4 (ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai) wiederhole Paulus seinen Widerspruch gegen jenes bei Philo belegte und auch in Korinth bekannte und akzeptierte anthropologischsoteriologische Modell: Das eschatologische Heil besteht nach seiner eigenen Auffassung, die Paulus auch in Korinth akzeptiert wissen will, nicht in der „Entkleidung“ der pneumabestimmten Seele vom Leib und dementsprechend auch nicht im Idealzustand unkörperlicher „Nacktheit“. Vielmehr folgt auf den Verlust des irdischen Leibes (des „irdischen Zelthauses“) der Erhalt des himmlischen (V. 1). Zunächst ist festzustellen, dass Sellins Interpretation von 1Kor 15 auf dem Hintergrund alexandrinisch-jüdischer Religionsphilosophie, wie wir sie bei Philo vorfinden, für das Verständnis dieses Kapitels einen erheblichen Gewinn darstellt. Überzeugend ist besonders die Erklärung von 1Kor 15,45ff als paulinische Umdeutung des alexandrinisch-jüdischen Motivs von den zwei Urmenschen, dem sich Philo in All. 1–3 ausführlich widmet.131 Für den Argumentationsgang 1Kor 15,35–49 insgesamt mit sw`ma als Leitwort legt sich eine dem philonischen Denken mindestens verwandte Auffassung eines leiblosen Heilszustandes nahe, in deren Rahmen eine Totenauferstehung als Auferstehung des Leibes keinen Platz hat. Auch eine thematische Affinität zwischen 1Kor 15 und 2Kor 5,1–10 ist angesichts der Wiederaufnahme zentraler Termini aus 1Kor 15 in 2Kor 5 nicht von der Hand zu weisen, zumal dann, wenn man mit einer kurzen Zeitspanne zwi-

130 Gott „made his [Adams] body also, calling it symbolically a tunic of skin, for it was proper that the mind and sense should be clothed in the body as in a tunic of skin“ (Übersetzung: Marcus). 131 Vgl. Sellin, Streit 79–114. Die correctio 1Kor 15,46 (ajllÆ ouj prw`ton to; pneumatiko;n ajlla; to; yucikovn, e[peita to; pneumatikovn) erklärt sich in der Tat am besten als Entgegnung auf eine bei Philo belegte und auch in der korinthischen Gemeinde maßgebliche anderslautende Anschauung, die in Anknüpfung an die Abfolge von Gen 1,27 (der a[nqrwpo~ katÆ eijkovna qeou`) und Gen 2,7 (e[plasen oJ qeo;~ to;n a[nqrwpon cou`n ajpo; th`~ gh`~) von einer ontologischen Priorität des pneumatischen vor dem psychischen bzw. irdischen a[nqrwpo~ ausgeht. Die von Lindemann gebotene kontextimmanente Erklärung, mit V. 46 beuge „Paulus einem möglichen Missverständnis vor“ (Korintherbrief 361), leuchtet nicht ein, da v 45 den Schluss auf die Priorität des Geistigen in keiner Weise nahelegt. Dass in 15,45ff der „Argumentationsgang des Paulus im Zusammenhang der von ihm verarbeiteten biblischen Tradition in sich verständlich“ ist (361), trifft nur dann zu, wenn man die alexandrinisch-jüdische Rezeption dieser Tradition für das Verständnis der paulinischen Aussagen berücksichtigt.

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schen der Abfassung von 1Kor 15 und der Apologie 2Kor 2,14–7,4 ausgeht.132 Als Ertrag aus Sellins Analyse von 1Kor 15 für 2Kor 5 kann jedenfalls festgehalten werden, dass es auch in letzterem Text um die Leiblichkeit geht, und zwar näherhin um die Leiblichkeit der Auferstehung. Die hier vorgetragene Auslegung wird damit in zwei entscheidenden Punkten bestätigt: (a) Die Baumetaphorik in 5,1f ist auf den individuellen Leib zu deuten und nicht etwa, so die Ausleger im Gefolge Robinsons, auf dem Hintergrund ekklesiologischer Baumetaphorik.133 (b) Die von Paulus abgelehnte „Nacktheit“ bezieht sich nicht auf einen Zwischenzustand zwischen individuellem Tod und Parusie, sondern wie in 1Kor 15,35 auf die Auferstehung. Der Zeitraum zwischen individuellem Tod und Parusie Christi/Auferstehung der Toten spielt wie in 1Kor 15 so auch in 2Kor 5 keine Rolle. Die von Sellin vertretene enge Anbindung von 2Kor 5,1–10 an das Thema von 1Kor 15 bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass die Mitteilungsabsicht in beiden Texten einfach identisch ist. Die Wiederkehr zentraler Termini aus 1Kor 15 in 2Kor 5 berechtigt noch nicht zu dem Schluss, dass Paulus in 2Kor 5,1ff in leichter Variation lediglich dasselbe nochmals geäußert hat. Wenn Sellin von „eine[r] Auseinandersetzung mit einem sw`ma-pneu`ma-Dualismus“ spricht, die „bis 2Kor 5 die Diskussion beherrscht“,134 dann wird die Bedeutung von 2Kor 5,1ff zu einer Art Nachwort zu der in 1Kor 15 geführten Auseinandersetzung verkürzt. Welchen Bezug sollte der so verstandene Passus im apologetischen Kontext von 2Kor 2,14– 7,4 haben? Sellin stellt diese Frage nirgends, deutet aber an einer Stelle eine mögliche Antwort an: „Bevor Paulus in 2Kor 5,6ff den Gedanken der Leiblichkeit als ‚Ferne vom Herrn‘ aufgreift, hat er in V. 1–5 dafür gesorgt, dass das erhoffte Sein beim Herrn nicht als ‚Nacktheit zu verstehen ist.“135 2Kor 5,1–5 wäre dann so etwas wie eine Rekapitulation der wesentlichen Inhalte von 1Kor 15,35ff, um dem möglichen Missverständnis vorzubeugen, Paulus rede in 5,6ff mit der Gleichung ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~/ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion (V. 8) implizit nun doch einem leiblosen Heilszustand das Wort. Der ganze Zusammenhang ab 2Kor 4,1ff spricht jedoch gegen ein solches Verständnis. Auffällig ist nämlich, wie v.a. N. Walter wiederholt fest-

132 Wenn 1Kor im Frühjahr 55 und 2Kor im Spätherbst desselben Jahres abgefasst wurde, wie Schnelle (unter Voraussetzung der Einheitlichkeit von 1Kor und 2Kor) annimmt, dann liegt zwischen beiden Texten eine Zeitspanne von nur etwa einem halben Jahr (Schnelle, Einleitung 71.90). Thrall, 2Kor 77 veranschlagt dagegen einen Zeitraum von eineinhalb Jahren. 133 S.o. Anm. 26. 134 Sellin, Streit 65. 135 Sellin, Streit 212.

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gestellt hat,136 dass Paulus in 2Kor 4f den Terminus sw`ma konsequent nur zur Bezeichnung des irdischen Leibes gebraucht: In 4,10 geht es um das sw`ma des Paulus, an welchem er die nevkrwsi~ tou` ÆIhsou „herumträgt“, damit auch die zwhv Jesu an seinem sw`ma „offenbar wird“. V. 10 ist in beiden Teilen eine Interpretation des irdischen Daseins des Apostels. Der Zusammenhang von zwhv und sw`ma in V. 10b bezieht sich also nicht wie in Röm 8,11 (zwóopoihvsei kai; ta; qnhta; swvmata uJmw`n) auf die Auferstehung, sondern auf das aktuelle Wirksamwerden der zwhv Jesu an den Korinthern, wie aus V. 12 eindeutig hervorgeht. In V. 14, wo Paulus auf die Auferweckung Jesu und das künftige Auferwecktwerden des Paulus und der Korinther zu sprechen kommt, fehlt der Leibbegriff ebenso, wie in 5,1–4, wo Paulus Bau- und Gewandmetaphern verwendet. In 5,6–9 operiert Paulus mit der Gleichung ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ / ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion, spricht also auch hier nur vom irdischen Leib, nicht aber von einem himmlischen. Schließlich geht es auch in der Gerichtsaussage V. 10 um ein nicht näher determiniertes fanerwqh`nai vor dem bh`ma tou` Cristou`. Vom sw`ma ist ausschließlich im Blick auf das irdische Dasein die Rede. Es ist anzunehmen, dass Paulus in 2Kor 5,1–5 eindeutiger formuliert hätte, wäre es ihm in 5,1–5 um die vorsorgliche Abwehr eines möglichen Missverständnisses seiner Ausführungen in 5,6ff in Richtung auf ein ideales Befreitsein vom Leib gegangen. Dies gilt um so mehr, als die Rede vom gumnov~-Sein in 5,3, die ja nach Sellin mit größtmöglicher Klarheit an die Diskussion von 1Kor 15 anknüpfen soll, durch die Terminologie in 1Kor 15 (nämlich das „nackte“ Samenkorn in V. 37) nicht in der Weise vorbereitet ist, dass sie in 2Kor 5 die ihr zugedachte Aufgabe erfüllen könnte. So prominent der Begriff der Nacktheit im Denken Philos auch ist, es gibt in 1Kor15 keine Anzeichen dafür, dass er in der korinthischen Diskussion eine Rolle gespielt hat. Paulus entlehnt ihn vielmehr aus einer frührabbinischen Tradition, in der es um den Nachweis der Auferstehung der Toten „in ihren Gewändern“ geht. Diese Tradition ist in der rabbinischen Literatur in vier Fassungen erhalten (PRE 33, bSanh. 90, bKet. 111, QohR. zu Qoh 5,10):137 Rabbi Eliezer sagte: Alle Toten werden bei der Wiederbelebung der Toten auferstehen und in ihren Kleidern heraufkommen. Woher lernst du das? Vom Samen der Erde durch einen Schluss von Geringeren auf das Größere, vom Weizenkorn aus. Wenn das Weizenkorn, das nackt in die Erde kommt, in vielen Bekleidungen herauskommt, um wieviel mehr gilt dann von den Gerechten, dass sie in ihren Kleidern auferstehen werden (PRE 33). Die Königin Kleopatra sprach zu Rabbi Meir: Ich weiß, dass die Toten auferstehen werden, denn es heißt (Ps 72,16): ‚Sie werden aus der Stadt hervorblühen wie die 136 137

Walter, Eschatologie; Walter; Auferstehung. Übersetzung nach Farina (Leiblichkeit), der die Texte gesammelt und kommentiert hat.

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Pflanzen aus der Erde.‘ Werden sie aber nackt auferstehen oder mit Gewändern? Er erwiderte ihr: Dies ist (durch ein Schlussverfahren) vom Leichteren auf das Schwerere, (das heißt) von einem Weizenkorn zu folgern. Wenn ein Weizenkorn, das nackt begraben wird, in viele Gewänder gehüllt hervorkommt, um wieviel mehr die Frommen, die in ihren Gewändern begraben werden (bSanh. 90b). Die Gerechten werden dereinst in ihren Kleidern auferstehen. Das ergibt sich aus einer Schlussfolgerung vom Geringeren auf das Größere, (nämlich) vom Weizenkorn aus. Denn, wenn das Weizenkorn, das nackt begraben wird, in vielen Bekleidungen herauskommt, um wieviel mehr gilt dann von den Gerechten, dass sie in ihren Kleidern auferstehen werden (bKet. 111b). Wie werden die Toten auferstehen, nackt oder in ihren Kleidern? – In ihren Kleidern. Woher kannst du mir dies beweisen? Nicht aus der Schrift, auch nicht aus der Tradition, sondern aus dem natürlichen Geschehen. Hast du je Bohnen gesät? – Ja. – Und wie sprosst der Same hervor, nackt oder bekleidet? – Bekleidet. – Nun, hören deine Ohren nicht, was dein Mund spricht? Wenn die nackt gesäten Bohnen bekleidet hervorkommen, um wieviel mehr die Toten, die in ihren Kleidern begraben werden (QohR. zu Qoh 5,10).

Die älteste rabbinische Autorität, der die Saatanalogie zugeschrieben wird, ist Rabbi Eliezer b. Hyrkanos (zweite tannaitische Generation). Sie reicht also, eine korrekte Zuschreibung vorausgesetzt, bis ins späte 1./frühe 2. Jh. n.Chr. zurück. Paulus repräsentiert eine noch ältere Überlieferungsstufe derselben Tradition.138 In allen vier rabbinischen Texten ist die Analogie zwischen Korn und Pflanze einerseits und Begrabenwerden und Auferstehung andererseits durch einen Schluss „vom Kleineren auf das Größere“ bzw. „vom Leichteren auf das Schwerere“ (ʸʮʧʥ ʬʷ) strukturiert, und zwar in der Form: „Wenn a, das nicht über y verfügt, x hat, dann hat b, das über y verfügt, gewiß x.“139 Vom Weizenkorn, das ohne (Blätter-)Gewand in die Erde gesät und später zur Pflanze „mit vielen Gewändern“, d.h. mit vielen Blättern wird, wird auf die Auferstehung der Toten bzw. der Gerechten geschlossen: Wenn schon das bloße Weizenkorn zur mit Blättern bekleideten Pflanze wird, um wie viel mehr dann die Toten bzw. Gerechten, die ja bereits in ihren Gewändern begraben werden. Entscheidend ist nun, dass das Motiv vom „nackten Korn“ in der paulinischen Argumentation seine eigentliche Funktion einbüßt. Während in der rabbinischen Verwendung des Bil138 Dass Paulus von dieser Tradition abhängig ist, macht neben dem Motiv vom „nackten Korn“ auch der explizite Bezug auf den Weizen (1Kor 15,37b) wahrscheinlich. Offenbar setzt Paulus den Vergleich mit dem bloßen Weizenkorn, das zu einer Pflanze mit vielen Blättern wird, bei seinen Adressaten als gängiges Bild für den Vorgang der Auferstehung voraus. Indem er in der Nachbemerkung V. 37b unter den möglichen Saaten eigens den Weizen hervorhebt, will er die Plausibilität seiner Argumentation durch den Rekurs auf Bekanntes zusätzlich stützen. Ob die rabbinische Analogie zwischen Aufwachsen der Saat und Totenauferstehung in Korinth tatsächlich bekannt war, muss freilich offen bleiben. 139 Vgl. Jacob, Hermeneutics 371.

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des eine analoge (nämlich antithetisch-überbietende) Relation zwischen der „Nacktheit“ des Saatkorns und dem Bekleidetsein der Toten in ihren Totengewändern besteht, ist diese Relation bei Paulus aufgegeben. Die Pointe in 1Kor 15,37 ist allein die unterschiedliche Gestalt von Saatkorn und Pflanze, mit der Paulus die unterschiedlichen Gestalt bzw. Qualität von irdischem und Auferstehungsleib illustriert. Dass er hierbei von einem „nackten“ Korn redet, verdankt sich ebenso wie die ausdrückliche Erwähnung des „Weizens“ der Reminiszenz an die rabbinische Tradition. Dies sieht auch Sellin nicht anders.140 Er entnimmt jedoch der Tatsache, dass Paulus nicht von den „Gewändern“ der fertigen Pflanze, sondern von ihrem sw`ma spricht, um das Gleichnis dann auf den Auferstehungsleib anzuwenden, dass bereits das Motiv vom „nackten“ Korn im Sinne der von Paulus diskutierten Anthropologie verstanden werden müsse: Paulus gehe es in V. 37 um einen Dualismus von pneumatischer und irdischer Existenz [...]. Das Saatkorn steht dann für die irdische Existenz, die Pflanze für die postmortale. Wenn Paulus nun in diesem dualistischen Schema die Bezeichnung für das Saatkorn beibehält, ergibt sich geradezu eine Antithetik gegen das Verständnis vom Heil als pneumatischer Nacktheit und Leiblosigkeit, wie wir es aus Philo kennen. ‚Nackt‘ wird nun Prädikat der irdischen, sw`ma Prädikat der postmortalen Existenzweise. [...] [D]eutlich ist dies eine Antithese zu einem anthropologischen Dualismus mit seiner prinzipiell negativen Wertung des Leibes.141

Die Pointe des Gleichnisses sieht Sellin dementsprechend im „Gegensatz von künftigem sw`ma-Kleid zum jetzigen ,Nacktsein‘“.142 So plausibel die Rekonstruktion der von Paulus in 1Kor 15 abgelehnten korinthischen Position aus den Schriften Philos auf weite Strecken ist, so wenig leuchtet doch der Versuch ein, auch das Motiv vom „nackten“ Korn in 1Kor 15,37 als Entgegnung auf einen Dualismus alexandrinisch-jüdischer Provenienz zu lesen. Denn welches Interesse sollte Paulus an einer Umkehrung der durch die korinthische Anschauung vorgegebenen Begrifflichkeit haben? Anders gefragt: Was ist argumentativ gewonnen, wenn Paulus nun das irdische statt des himmlischen Daseins als „Nacktheit“ bezeichnet? Und in welchem Sinne gebraucht Paulus den Begriff der Nacktheit? Unter der Voraussetzung der in 2Kor 5,3 vorliegenden negativen Konnotation eines Zustandes, den Paulus ablehnt bzw. vermeiden will, oder im Sinne des in 140 Sellin, Streit 212: „Wenn Paulus hier das Saatkorn als ‚nackt‘ bezeichnet, dann hat das zunächst seine Ursache in der Tradition des rabbinischen Gleichnisses.“ 141 Sellin, Streit 213. 142 Sellin, Streit 213. Vgl. auch 225: An V. 37 werde „im Zusammenhang deutlich, dass die psychische (irdische) Existenzweise des Menschen von Paulus als Nacktheit erklärt wird. Das ergibt nur Sinn auf dem Hintergrund der Auffassung von Erlösung als Nacktheit, als ‚Ausziehen‘ des Leibes (Philo). Paulus kehrt die Metaphorik um: Jetzt als Sterbliche sind wir nackt.“

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Korinth positiv besetzten Schlagwortes? Wenn wir die von Sellin vorgeschlagene Interpretation von 1Kor 15,37 innerhalb des von ihm vorgegebenen Rahmens weiterdenken, will Paulus entweder sagen, (a) das irdische Dasein sei leiblos, was eine im Kontext der paulinischen Argumentation völlig sinnlose Aussage ergäbe. Sellin zufolge ist dies ja insofern bereits die Auffassung Philos selbst, als der Weise sich schon während seines irdischen Dasein vom sw`ma emanzipieren soll. Insofern besteht der von Sellin skizzierte Gegensatz gar nicht, und folglich kann ihn Paulus auch nicht umgekehrt haben. Außerdem ist das irdische Dasein für Paulus selbstverständlich gar nicht als leibloses denkbar. Sellin zufolge hat sich ganze Diskussion um das sw`ma ja nicht erst an der Denkmöglichkeit eines himmlischen, sondern bereits in 1Kor 6 an der kreatürlichen Würde des irdischen Leibes entzündet.143 Das „nackte Korn“ kann also keinesfalls das irdische als irgendwie leibloses, und sei es in hellenistisch-jüdischem Sinne dem Leib pneumatisch enthobenes Dasein meinen. Dieses Konzept kritisiert Paulus ja gerade. Eine andere Möglichkeit wäre (b), dass Paulus mit der Rede vom „nackten“ Korn lediglich ein in Korinth positiv besetztes Schlagwort im Sinne einer Metapher für Erlösung aufgreift. Paulus wollte dann sagen: Der erstrebte Zustand der „Nacktheit“ ist auch und gerade im irdischen sw`ma möglich. Aber dies ist unbestreitbar nicht die paulinische Auffassung. Außerdem entstünde dann das Problem, dass der von Paulus in 1Kor 15,37 namhaft gemachte logische Gegensatz, nämlich das sw`ma der fertigen Pflanze als Bild für den himmlischen Leib, konsequenterweise als Zustand der Heillosigkeit aufzufassen wäre, was selbstverständlich völlig abwegig ist. Eine dritte Möglich wäre schließlich (c), dass Paulus von einer negativen Wertung des Begriffs der Nacktheit ausgeht, wie sie auch in 2Kor 5,3 vorliegt.144 Es wäre dann mit einer doppelten Umkehrung zu rechnen: Paulus bezeichnet nicht den himmlischen, sondern den irdischen status quo als Nacktheit, und er gebraucht ihn nicht als Metapher für Erlösung sondern für Erlösungsbedürftigkeit. Aber wie sollte dies ein Widerspruch zu „einem anthropologischen Dualismus mit seiner prinzipiell negativen Wertung des Leibes“145 sein? Die Erlösungsbedürftigkeit des irdischen Daseins bestreiten ja weder Paulus noch die Korinther. Dass die Existenz im irdischen Leib in einem negativ verstandenen Sinne „Nacktheit“ ist, hätten die Korinther Paulus sofort konzediert, vorausgesetzt, Paulus hätte sie zuvor über die von ihm vollzogene (einer Verständigung nicht sonderlich zuträgliche) Äquivo-

143

Vgl. Sellin, Streit 49–63. So bereits Wolff, Brief 197: „Der Apostel zeigt, daß das Nacktsein nicht das Ziel, sondern gerade für die irdische Existenz des Menschen charakteristisch ist, nämlich im Vergleich zur Herrlichkeit der kommenden neuen Existenz.“ 145 Sellin, Streit 213. 144

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kation aufgeklärt.146 Wie man es dreht und wendet: Der von Sellin unternommene Versuch, 1Kor 15,37 von philonischen Denkkategorien her zu verstehen, führt bei näherem Hinsehen zu einer erheblichen Begriffsverwirrung. Die nicht zu übersehende Gewaltsamkeit dieses Versuchs wird auch dadurch nicht abgemildert, dass Sellin für seine Interpretation 2Kor 5,3 zur Hilfe nimmt.147 Dort geht es Paulus nämlich darum, dass das „Gewand des Himmelshauses“ den Zustand postmortaler Nacktheit verhindert, nicht darum, dass jenes Gewand den Zustand prämortaler Nacktheit beendet. Dass Paulus das irdische Dasein in 2Kor 5 oder anderswo abwertend als „Nacktheit“ qualifiziert, ist nirgends angedeutet. Das Bild vom „Überkleidetwerden“ (ejpenduvsasqai) setzt vielmehr bereits ein „Gewand“ voraus, nämlich das des irdischen Leibes. Die Wortwahl in 1Kor 15,37 verdankt sich somit allein der rabbinischen Tradition. Das Bild vom „nackten Korn“ ist für sich genommen nicht auf die gemeinte Sache übertragbar. Dann aber kann ouj gumnoi; euJreqhsovmeqa in 2Kor 5,3 nicht als intendierte terminologische Anknüpfung an 1Kor 15,37 verstanden werden, die den Gedanken der leiblichen Auferstehung auch für 2Kor 5,6ff sicherstellen soll. Zwischen beiden Versen besteht vielmehr überhaupt kein sachlicher Zusammenhang.148 Paulus führt den Begriff der Nacktheit in 2Kor 5 neu in seine Argumentation ein. Dafür, dass er in der Diskussion zwischen Paulus und den Korinthern eine Rolle gespielt hat, gibt es in 1Kor 15 keinen Beleg. Die Frage nach dem Sachgehalt von 2Kor 5,3 muss also unabhängig von 1Kor 15,37 gestellt werden, und hierbei spielt, wie wir gezeigt haben, das in der Literatur notorisch vernachlässigte Satzprädikat euJreqhsovmeqa eine zentrale Rolle. Näher an der Leibthematik ist die Opposition ejpivgeio~/ejpouravnio~ in 1Kor 15,40, die dem Gegensatz von ejpivgeio~/ejn toi`~ oujranoi`~ (2Kor 5,1) korrespondiert. Doch bewegt sich Paulus in 1Kor 15,40 noch auf der Bildebene, die er erst in V. 42 mit ou{tw~ kai; hJ ajnavstasi~ tw`n nekrw`n verlässt. Die swvmata ejpouravnia in V. 40 sind die Himmelskörper, die sich nicht nur von den irdischen, sondern auch untereinander an dovxa (Glanz,

146

Vgl. auch das zurückhaltende Urteil bei Schottroff, Gaubende 147 und ihre leisen Zweifel an der argumentativen Zweckdienlichkeit einer so verstandenen Verwendung des Bildes vom „nackten Korn“ in 1Kor 15,37: „gumnov~ [ist] als terminus technicus dualistischer Texte so gängig, dass man zum mindesten vermuten – beweisen wäre zuviel gesagt – kann, Paulus spiele hier auf dualistisches gumnwqh`nai an. Dann ginge er allerdings hart mit den Gefühlen dualistischer Theologen um. Er würde einen von ihnen nur positiv verwendeten terminus technicus negativ verwenden [...] Paulus würde so zum Ausdruck bringen: das von Euch angestrebte gumnwqh`nai (die Befreiung vom irdischen Wesen) gilt mir so wenig, dass ich sie nicht anders einschätze, als dass es eine Charakterisierung des verlorenen Menschen ist, dessen Wesen fqorav etc. ist.“ 147 Sellin, Streit 212.225. 148 Knapp aber zutreffend Lindemann, Korintherbrief 357: „gumnov~ bei Paulus nur noch 2Kor 5,3, in anderem Sinn.“

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Lichtglanz) unterscheiden. Auch hier gelingt also keine glatte Übertragung der Terminologie von 1Kor 15 auf diejenige von 2Kor 5,1ff. Werfen wir nun einen Blick auf die Bekleidungsmetaphorik in 1Kor 15,53f und 2Kor 5,2–4: Zweifellos setzt 1Kor 15,53f den Begründungsgang, der in 15,35 mit der Leibthematik einsetzt, voraus. Die Tatsache, dass Paulus nach V. 45 den Leibbegriff nicht mehr verwendet, besagt nicht, dass sich Paulus mit dem in V. 53f maßgeblichen Gegensatz von fqartovn/ajfqarsiva bzw. qnhtovn/ajjqanasiva nicht mehr im Vorstellungszusammenhang des Gegensatzes von irdischem und himmlischem sw`ma bewegt, den er in 15,35ff breit entfaltet hat.149 Aber dass die unvergängliche bzw. unsterbliche Qualität des Auferstehungslebens ein himmlisches sw`ma voraussetzt, wird nicht nochmals eigens angesprochen. Ist aber bereits 1Kor 15,53f nur mittelbar mit der Leibthematik verbunden, dann ist erst recht die Bekleidungsterminologie in 2Kor 5,2–4 nicht geeignet, die in 1Kor 15,35– 45 zentrale Leibthematik zu rekapitulieren. Wenn wir fragen, woran genau Paulus mit der Bekleidungsterminologie in 2Kor 5,2–4 anknüpfen will, dann weist uns der unmittelbare Sachzusammenhang von 1Kor 15,53f nicht auf den eschatologischen Leib, sondern auf den Gegensatz von sterblichem und unsterblichem Sein, der ja dann in 2Kor 5,4c auch ausdrücklich namhaft gemacht wird. Zwar ist wegen 1Kor 15,35ff anzunehmen, dass Paulus das eschatologische Heil auch in 2Kor 5 als leiblich verfasstes denkt, und dass er mit der oijkodomh; ejk qeou in 2Kor 5,1 tatsächlich den individuellen Auferstehungsleib meint, doch geht es ihm nicht wie in 1Kor 15,35ff um den himmlischen Leib als solchen. Sonst läge mit 2Kor 5,3 tatsächlich nichts weiter als eine Tautologie vor, die man etwa mit „da wir ja als solche, die einen Leib erhalten haben, nicht keinen Leib haben“ paraphrasieren könnte. Vielmehr geht es Paulus um die mit dem Erhalt des Himmelsleibes verbundene Überwindung der Sterblichkeit und Hinfälligkeit, die zuvorderst an seinem eigenen sw`ma, dem „irdischen Zelthaus“, manifest wird. Der Rekurs auf den Auferstehungsleib in 2Kor 5 verdankt sich nicht der Notwendigkeit, die lehrhafte Argumentation von 1Kor 15 zu rekapitulieren, sondern der Intention, sie auf das apologetische Thema der Niedrigkeit des Apostels anzuwenden.150 Fazit: Sellin ist in soweit zuzustimmen, als Paulus in 2Kor 5,1ff an die in 1Kor 15,35ff geführte Debatte über die Leiblichkeit der Auferstehung 149 Sellin, Streit 225 gelingt die Verknüpfung zwischen der Bekleidungsmetaphorik in V. 53f und der Leibthematik freilich nur unter Zuhilfenahme seiner oben bereits kritisierten Interpretation von V. 37: Die „Neuschöpfung als Leibgebung“ könne deshalb als „Ankleiden“ verstanden werden, weil Paulus die sterbliche Existenz in V. 37 als Nacktheit qualifiziere. 150 Das Verhältnis zwischen 1Kor 15 und 2Kor 5 wie auch den apologetischen Skopos von 2Kor 5,1ff benennt zutreffend auch Lindemann, Eschatologie 393 (wobei es ihm im Zusammenhang nicht um die Leib-Thematik, sondern um das Thema der Auferstehung geht); s.o. S. 26.

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anknüpft. Auch in 2Kor 5,1ff geht es um den Erhalt eines himmlischen Leibes. Abzulehnen ist jedoch die Auffassung, als wiederhole Paulus in 2Kor 5,1ff lediglich nochmals die Aussagen von 1Kor 15,35ff in geraffter Form. Die Übereinstimmungen auf der terminologischen Ebene lassen nicht den Schluss zu, die Aussageabsicht sei in beiden Texten einfach identisch. Paulus wiederholt nicht die anthropologisch-eschatologischen Aussagen aus 1Kor 15,35ff, sondern er macht sie zur Voraussetzung inhaltlich anders gelagerter Aussagen über den eschatologischen Aspekt seiner eigenen Leidensexistenz, die seit 2Kor 4,7 Thema ist. (b) Hellenisierung der paulinischen Anthropologie in 2Kor 5,1–10? (N. Walter) Nikolaus Walter hat sich in zwei neueren Aufsätzen mit der Leib-Thematik von 1Kor 15 und 2Kor 5 befasst. Er macht darauf aufmerksam, dass Paulus in 2Kor 4f nicht mehr ausdrücklich vom himmlischen sw`ma spricht, sondern mit sw`ma konsequent nur den irdischen Leib bezeichnet (dazu s.o.). Walter wertet das durchgängige Fehlen des Terminus sw`ma zur Bezeichnung für den eschatologischen Heilszustand in 2Kor 4f als Hinweis darauf, dass sich Paulus der hellenistischen Anthropologie seiner korinthischen Gesprächspartner insofern angenähert hat, als er die Leiblichkeit der Auferstehung zwar nicht ablehnt, aber doch, und sei es nur aus Rücksicht auf die Anschauungen der Korinther, nun absichtsvoll nicht mehr betont.151 Die Argumentation von 1Kor 15,35ff „scheint Paulus inzwischen selbst als unzureichend erkannt zu haben, oder er hat jedenfalls gemerkt, dass sie seinen Gesprächspartnern nicht einleuchtet.“152 Walter zufolge hat Paulus die Bauund Gewandmetaphorik in 2Kor 5,1ff nicht verwendet, um an das Leibthema von 1Kor 15 anzuknüpfen, sondern im Gegenteil, um dieses Thema möglichst auszublenden: „Paulus kann [...] von der Auferstehungsexistenz jetzt nicht mehr als von einer ‚leibhaften‘ Existenz sprechen. Statt dessen redet er nur noch in der stärker bildhaften Sprache vom dem ‚neuen Gewand‘ oder von der ‚nicht mit (menschlicher) Hand verfertigten ewigen Wohnung‘, die ‚vom Himmel her‘ stammt.“153 Dass Walters Frage, ob und inwieweit der von ihm problematisierten sprachlichen Unterscheidung auch eine sachliche entspricht, durchaus berechtigt ist, zeigt in aller Deutlichkeit der griechische wie römische Sprachgebrauch; exemplarisch sei auf Cicero, Tusc. 1,51 verwiesen: 151 Die Frage, ob Paulus seine Eschatologie in 2Kor 5,1–10 hellenistisch modifiziert habe, hat die Forschung seit jeher beschäftigt und beschäftigt sie bis heute. Vgl. außer den ausführlicher diskutierten Aufsätzen von Walter noch Hettlinger, Corinthians; Berry, Death; Harris, Corinthians; Wiefel, Hauptrichtung; Schnelle, Wandlungen 44. 152 Walter, Eschatologie 59. 153 Walter, Auferstehung 116.

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Mihi quidem naturam animi intuenti multo difficilior occurrit cogitatio, multo obscurior, qualis animus in corpore sit tamquam alienae domi, quam qualis, cum exierit et in liberum caelum quasi domum suam venerit. – Was mich betrifft, so scheint mir, wenn ich die Natur der Seele überdenke, die Frage viel schwieriger und dunkler, in welcher Weise die Seele im Körper sei wie in einer fremden Behausung, als die andere Frage, wie sie ist, wenn sie frei ist und in den offenen Himmel, also gewissermaßen in ihr eigenes Haus gelangt.

Dieser Text, in dem es Cicero um den Beweis des unkörperlichen Fortlebens der Seele nach dem Tod geht, belegt eindeutig, dass die Gegenüberstellung zweier „Behausungen“ nicht automatisch die Gegenüberstellung zweier „Leiber“ implizieren muss, und zwar auch dann nicht, wenn sie mit der Gleichsetzung „irdischer Leib = Haus“ operiert: Der Leib, den die Seele bei Lebzeiten des Menschen bewohnt, ist in der metaphorischen Redeweise Ciceros ebenso wie der Himmel als Aufenthaltsort der entkörperten Seele nach dem Tod ein „Haus“.154 Die metaphorische Redeweise in 2Kor 5,1ff lasse, so Walter, weiterhin erkennen, dass Paulus selbst keine klaren Vorstellungen davon hatte, wie das eschatologische Sein gedacht werden soll, wenn denn der Leibbegriff nicht mehr zur Verfügung stand. „In 2Kor 5 wird das Neue, Erhoffte nicht mehr sw`ma genannt, ohne dass Paulus schon einen neuen, in sich klaren Begriff zur Verfügung hätte.“155 In 2Kor 5,1ff thematisiere Paulus nicht mehr „die Verwandlung des alten Leibes in einen neuen, auch nicht die Neuschaffung eines neuen Leibes anstelle des alten, sondern die Auflösung des (irdischen) Leibes und seine Ersetzung durch etwas Andersartiges, das nicht näher benannt, sondern mit den Bildern von der ‚himmlischen Wohnung‘ oder dem ‚himmlischen Gewand‘ nur andeutend umschrieben werden kann.“156 Da Paulus aber den Zustand eschatologischer „Nacktheit“ um jeden Preis vermieden wissen will, habe die Distanzierung vom Gedanken leiblicher Auferstehung für ihn auch etwas Beängstigendes. Weil sich die in 5,2 artikulierte Heilssehnsucht nicht mehr wie noch in 1Kor 15 auf den Auferstehungsleib bezieht, hat das in 5,4 angesprochene „‚Seufzen‘ [...] jedenfalls seine zwei Seiten, keineswegs nur die hoffnungsvolle“.157 Die Annäherung des Paulus an die hellenistische Anthropologie seiner korinthischen Gesprächspartner setzt nach Walter bereits in 1Kor 15 ein. Schon in 1Kor 15 sieht Walter erste Spuren einer Modifikation der paulini154 Vgl. schon Platon, Phaid. 113d114c. Auch hier wird die Haus-Metaphorik (kaqara; oi[khsi~, eij~ oijkhvsei~ e[ti touvtwn kallivou~) erklärtermaßen auf einen leiblos vorgestellten

Heilszustand angewendet. Für weitere Stellen vgl. die Kommentare von Windisch und Lietzmann, z. St. 155 Walter, Eschatologie 59. 156 Walter, Eschatologie 60. 157 Walter, Eschatologie 60. Vgl. auch 58: „Deutlich ist, dass für Paulus die Vorstellung von ‚Nacktheit‘ beklemmend, ja angsterregend ist.“

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schen Auffassung, sofern die Behauptung einer Auferstehungsleiblichkeit nur möglich ist unter der Voraussetzung einer qualitativen Verschiedenheit zwischen irdischem Leib und Auferstehungsleib (V. 36–44). Paulus hält es in 15,35ff für „nötig, verschiedene Arten von Leibern zu unterscheiden; wenn man das in der nötigen Weise tut, dann – so meint Paulus – sollten auch die Korinther sich mit dem Gedanken an eine leibliche Auferstehung anfreunden können.“158 Paulus kann den Korinthern den Gedanken an einen Auferstehungsleib nur „nach einer mühsamen [...] Differenzierung zwischen zwei tiefgreifend verschiedenen Kategorien von ‚Leibern‘“ zumuten,159 bis dahin, dass Paulus dem irdischen Leib ein sw`ma pneumatikovn gegenüberstellt, womit er „schon ein ganz wesentliches Zugeständnis an hellenistische Denkweise gemacht“ hat.160 Der Ausdruck sw`ma pneumatikovn liest sich in der Tat wie eine Art Kompromissformel, die den paulinischen Standpunkt und den der Korinther einander annähern soll. Dass er ihn in 2Kor 5 nicht mehr verwendet, liegt, so Walter, daran, dass ihn Paulus im Grunde für ungeeignet hält: „offenbar erschien es ihm (oder wurde ihm von den Diskussionspartnern vorgehalten), daß das [d.i. das sw`ma pneumatikovn] doch ein hölzernes Eisen sei.“161 Walter weist außerdem darauf hin, dass das Stichwort sw`ma über den Abschnitt 15,36–44 hinaus nicht mehr vorkommt. Paulus sei sich bereits im Zuge der Argumentation in 1Kor 15 „schon nicht mehr sicher, ob er das Beharren auf der ‚Leiblichkeit‘ der Auferstehung wird durchhalten können.“162 Deshalb verwende er in V. 52ff lieber „das Bild von der eschatologischen ‚Neu-Einkleidung‘“,163 das dann ja auch in 2Kor 5 eine zentrale Rolle spielt. Mit der paulinischen Annäherung an die korinthische Position in 1Kor 15 und 2Kor 5 liegt nach Walter nun freilich keine irreversible Abwendung des Paulus vom Gedanken eschatologischer Leiblichkeit vor.164 Dagegen sprechen die Formulierungen in Röm 8,11, Röm 8,23, und, wenn Paulus den Philipperbrief in der römischen und nicht in der ephesinischen Gefangenschaft geschrieben hat, auch Phil 3,21. An allen drei Stellen ist nämlich unmissverständlich von einem eschatologischen sw`ma die Rede: In Phil 3,21 gibt Paulus seiner Erwartung Ausdruck, dass der vom Himmel her erwartete Kyrios das sw`ma th`~ tapeinwvsew~ hJmw`n „umgestalten“ (metaschmativzw) wird in die Gleichgestalt des sw`ma th`~ dovxh~ aujtou`. Deutlicher noch ist in Röm 8,11 (oJ ejgeivra~ Cristo;n ejk nekrw`n zwóopoihvsei 158

Walter, Auferstehung 112. Walter, Auferstehung 114. 160 Walter, Auferstehung 114. 161 Walter, Auferstehung 117. 162 Walter, Auferstehung 115. 163 Walter, Auferstehung 115. 164 Vgl. Walter, Auferstehung 119f. 159

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kai; ta; qnhta; swvmata uJmw`n dia; tou` ejnoikou`nto~ aujtou` pneuvmato~ ejn uJmi`n) der irdische Leib Objekt des eschatologischen Handelns Gottes bzw. Christi, und auch bei der in Röm 8,23 angesprochenen ajpoluvtrwsi~ tou` swvmato~ hJmw`n geht es nicht um eine Erlösung vom Leib, sondern um die Erlösung des Leibes selbst. Dieser Befund ist für Walter ein Beispiel dafür, „daß Paulus eine einmal erreichte Gedankenbildung nicht unbedingt beibehält“, dass sich vielmehr „seine Gedanken in einem spezifischen Eingehen auf die jeweiligen Gesprächspartner bilden.“165 Mit Blick auf die zuletzt genannten Texte entsteht der Eindruck, Walter habe den Wechsel von der eigentlichen zur bildhaften Rede in 2Kor 5 überbewertet. Deutlich relativierend spricht er denn auch von einem „zumindest zeitweilige[n] [...] Verzicht des Paulus“ auf den Leibbegriff.166 Überbewertet ist bei Walter m.E. vor allem das Fehlen des Terminus sw`ma in 1Kor 15 nach V. 44. Es ist nicht anzunehmen, dass Paulus von der Vorstellung eines himmlischen Leibes, die er eben noch vehement verteidigt hat, nun stillschweigend wieder abgerückt sein sollte. Der im Zusammenhang des LeibThemas schrittweise entfaltete Gegensatz von irdischem und eschatologischem Sein bleibt vielmehr auch über 15,44 hinaus bestimmend, so dass die auf V. 44 folgenden Aussagen über das eschatologische Geschehen kaum anders denn unter der Voraussetzung gelesen werden können, dass dieses Geschehen mit dem Vorhandensein eines himmlischen Leibes verbunden ist. Angesichts von Röm 8,11, Röm 8,23 und ggf. Phil 3,21 ist es darüber hinaus ganz unwahrscheinlich, dass Paulus sich auf die in Korinth vorherrschende hellenistische Anthropologie so weit eingelassen hat, dass er wegen seiner Furcht vor der „Nacktheit“ an den Verlust des irdischen Leibes im Tod nunmehr nur noch mit beklommenen Seufzen denken kann. Wenn man sich nicht zu der gänzlich spekulativen Aussage versteigen will, Paulus habe die im Dialog mit den Korinthern zeitweilig verlorene Gewißheit hinsichtlich der leiblichen Auferstehung später eben wiedererlangt, dann kann das „Seufzen“ in 2Kor 5,4 keinesfalls als Ausdruck der Furcht vor dem ungewissen postmortalen Geschick verstanden werden, ganz abgesehen davon, dass überhaupt nicht einzusehen ist, welchen Sinn es briefpragmatisch gehabt haben sollte, diese Furcht sozusagen in absichtslosem lauten Nachdenken gegenüber den Korinthern zu äußern. Vom „Seufzen“ des expliziten Autors kann keinesfalls direkt auf die Gemütsverfassung des realen Autors geschlossen werden. Die Beobachtungen Walters zur Verwendung des Begriffs sw`ma in 1Kor 15 und 2Kor 4–5 machen jedoch ganz unabhängig von der Frage, in165 166

Walter, Auferstehung 120. Walter, Auferstehung. Hervorhebung hinzugefügt.

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wieweit seine Deutung zutrifft, nochmals deutlich, wie wenig die Terminologie von 2Kor 5 geeignet ist, den Argumentationsgang 1Kor 15,35ff zu rekapitulieren, wenn es Paulus denn darum gegangen sein sollte, die dort gewonnene Vorstellung von einem eschatologischen Leib für 2Kor 5 nochmals sicherzustellen. Dass Paulus den Terminus sw`ma in 2Kor 4f als Bezeichnung für den irdischen Leib mehrfach verwendet, zugleich aber nirgends ausdrücklich von einem himmlischen sw`ma spricht, verlangt eine Erklärung:167 Es ist gut denkbar, dass Paulus in 2Kor 5,1ff auch deshalb einer metaphorischen Umschreibung des Leibbegriffs den Vorzug gegeben hat, weil er die Argumentation nicht unnötigerweise mit einem Reizwort belasten wollte, das zwischen ihm und den Korinthern strittig war. Der himmlische Leib interessiert Paulus in 2Kor 5 nicht mehr als anthropologisches Problem, sondern in seiner Funktion als „Obergewand“, das ihn in der Situation der eschatologischen Wiederbegegnung mit seiner Gemeinde nicht „nackt“ dastehen lässt. 2.3.2 Ein sozialanthropologischer Zugang zur Gewandmetaphorik in 2Kor 5,2–4 Wir nehmen nun den Faden der Untersuchung wieder auf und fragen nach der semantischen Referenz der Rede von der gumnovth~. Da Paulus die Metapher des „Nacktseins“ im Zusammenhang der Gewandmetaphorik verwendet, liegt es nahe, diese in die Untersuchung mit einzubeziehen.168 2.3.2.1 Kleidung als Statusmerkmal Rolle und sozialer Status wurden in antiken Gesellschaften des Mittelmeerraumes und des Vorderen Orients entscheidend über die Kleidung artikuliert. „Clothing was not mere body covering, but indicated one’s role and status.“169 So reflektiert etwa das Jesuslogion Mt 11,8 ein antikes palästinisches Milieu, in dem die „weichen Kleider“ untrügliches Statusmerkmal derer sind, die an den Fürstenhöfen ein- und ausgehen. Der verlorene Sohn im Gleichnis Lk 15,11–24 wird bei seiner Rückkehr in einem Akt der Re167 Walter, Auferstehung 116 Anm. 19 macht außerdem darauf aufmerksam, dass auch 2Kor 12,2–4, wo Paulus mit der Möglichkeit rechnet, die in 12,4 erwähnte Audition ejkto;~ tou` swvmato~ bzw. sogar ausdrücklich cwri;~ tou` swvmato~ erlebt zu haben, zu einem Insistieren des Paulus auf der anthropologischen Unverzichtbarkeit des sw`ma nicht ohne weiteres passt. 168 Vgl. hierzu den materialreichen Überblicksartikel von Dahl/Hellholm, Metaphors. Das Folgende ist größtenteils eine Wiedergabe meiner Vorstudie zu 2Kor 5,3 (Vogel, Warum). 169 Neyrey, Clothing 20. Dieser Satz trifft in gewisser Weise natürlich auch auf heutige westliche Industriegesellschaften zu (Uniformen, Amts- und Anstaltskleidung, Trauerkleidung, Jugendkultur), doch haben der moderne Warencharakter von Kleidung im Kontext transnationaler Märkte und die quer zu den sozialen Milieus sich ausdifferenzierenden Stile, die frei, d.h. unabhängig von Geschlecht und sozialer Herkunft wählbar und v.a. beliebig variierbar sind, zur Folge, dass Kleidung als Statussignal heute grundlegend anders wahrgenommen wird oder diese Signalfunktion mitunter sogar eingebüßt hat.

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Investitur170 in seinen früheren Status als „Sohn“ eingesetzt, indem er neben Sandalen und einem Ring stolh;n th;n prwvthn erhält (15,22), also das „beste“ 171 oder aber das „erste“, d.h. „frühere“ Gewand,172 dasjenige nämlich, das er trug, als er noch Sohnesstatus im Hause seines Vaters genoss und das er zurückließ, als er in die Fremde zog. Freiwillige Statusminderung vor Gericht oder im religiösen Kontext (s.u. zu JosAs.) wurde durch Anlegen eines dunklen Gewandes vollzogen. In Rom hatte der Angeklagte zur Gerichtsverhandlung in der dunklen toga pulla zu erscheinen, sonst Zeichen der Trauer.173 Entsprechendes galt für Palästina, wie Josephus, Vita 138 zeigt: Als Kommandeur in Galiläa trat Josephus einmal in einem schwarzen Gewand vor ein Tribunal, vor dem er sich wegen falscher Anschuldigungen zu verantworten hatte.174 Wo eine derartige symbolische Statusminderung unterbleibt, wird dies als Missachtung des Gerichts aufgefasst. In Ant. 14,168–176 schildert Josephus, wie Herodes d. Gr. sich in jungen Jahren vor dem Hohen Rat verantworten muss. Er erscheint im Purpurmantel in Begleitung seiner Leibwache, was vom Gerichtsgremium als Einschüchterungsversuch und Affront aufgefasst wird (Ant. 14,172–173).175 Die Funktion des Gewandes als Statusmerkmal ist auch in metaphorischen Texten bestimmend, so etwa in der Rede vom „Christus anziehen“ in Gal 3,26–28. Der durch das „Anziehen“ des Christus realisierte neue Status der Gemeindeglieder hebt die früheren ethnischen, sozialen und geschlechtsspezifischen Statusunterschiede, die im unmittelbaren Kontext ausdrücklich genannt werden, im Umgang miteinander auf. Weil die Adressaten als Getaufte „Christus angezogen“ haben, sind untereinander nicht mehr die Rollen- und Rangunterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, Sklaven und Freien, sowie Männern und Frauen entscheidend, sondern der

170

Rengstorf, Re-Investitur. So Burchard, Fußnoten 160. 172 Rengstorf, Re-Investitur 42–44. 173 Für die ältere griechische Gerichtspraxis vgl. Aristophanes, Vesp. 552–575.976 und Platon, Apol. 34c. 174 Vorausgesetzt ist natürlich, dass Josephus nicht einfach römisches Milieu in die galiläische Zeit zurückprojiziert. Vgl. auch yRHSh 57b. 175 Einem gewissen Sameas (Schammai) legt Josephus folgende Rede in den Mund: „Ratsherren! König! Weder kenne ich jemanden, der, vor Gericht angeklagt, so vor uns aufgetreten ist, noch nehme ich an, dass ihr (von einem solchen) berichten könnt, sondern wer auch immer vor diesen Rat trat, um gerichtet zu werden, erschien demütig und in furchtsamer Haltung und auf unser Mitleid erpicht, mit langgewachsenem Haupthaar und bekleidet mit einem schwarzen Gewand. Der vortreffliche Herodes dagegen, der des Mordes beschuldigt und in einer solch gewichtigen Angelegenheit angeklagt ist, steht hier mit Purpur bekleidet und hat das Haupt geschmückt mit zurechtgemachtem Haar“ (eigene Übersetzung). 171

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gemeinsame, durch das „in Christus Sein“ bestimmte Status.176 Stand das Gewand in der Antike in engem Zusammenhang mit der sozialen Rolle seines Trägers, so ist zu erwarten, dass lebenszyklische, soziale und religiöse Statuswechsel mit einem Wechsel des Gewandes verbunden waren. Ein Beispiel hierfür aus dem römischen Kulturkreis ist toga praetexta als Kleidung der römischen freien Knaben. Der Statusübergang in das Erwachsenenalter und die damit verbundene Erlangung der Bürgerrechte wurde durch das Ablegen der toga praetexta und das Anlegen der toga virilis in einem Schwellenritus, dem tirocinium fori, symbolisch vollzogen. Der symbolische Wechsel des Gewandes spielt auch in einem von Bremmer aus Ephoros und epigraphischem Material rekonstruierten kretischen Passageritus eine bedeutende Rolle:177 Bis zum Alter von siebzehn Jahren trugen die kretischen Knaben Sommers wie Winters das gleiche schmutzige Kleidungsstück. Unter Aufsicht der aristokratischen Elite erhielten sie eine schulische und v.a. militärische Ausbildung. Das Ende der Ausbildungszeit war durch das „Ablegen“ des schmutzigen Kleidungsstücks (ejkdusiva) und die „Feier des Kleidungsstücks“ (periblevmaia) markiert. In der wahrscheinlich aus Ägypten stammenden jüdischen Schrift Joseph und Aseneth wird die Bekehrung der Aseneth vom Heidentum zum Judentum von mehreren An- und Umkleideszenen begleitet. Aseneth tritt als stolze Königstochter auf, die sich prächtig kleidet, um ihre Eltern zu begrüßen (3,6). Dem Ablegen der königlichen Gewänder (10,10f) korrespondiert der Rückzug aus der bisherigen öffentlichen Rolle und der Abbruch der bisherigen Sozialbeziehungen (11,4–6). Die religiös motivierte Selbsterniedrigung geht mit dem Anlegen eines dunklen Kleides einher (10,10). Der Engelfürst, der Aseneth am Ende ihrer Bußzeit erscheint, fordert sie auf, die Trauerkleidung abzulegen und ein noch nicht getragenes („unberührtes“) leinenes Gewand anzulegen (14,12). Dem damit vollzogenen erneuten Statuswechsel entspricht, dass Aseneth vom Engelfürsten einen neuen Namen erhält (15,7).178 Für ihre Hochzeit mit Joseph zieht Aseneth schließlich th;n stolh;n aujth`~ th;n prwvthn tou` gavmou an.179 Was moderner Wahrnehmung als Verkleidung des eigentlichen Personkerns erscheint, ist nach antik-vorderorientalischem Verständnis Ausdruck 176 Die Gewandmetapher beschreibt also nicht einfach den individuellen Heilsstand. Vgl. auch Strecker, Theologie 354–358, der eine „sozial-ekklesiologische Deutung“ des Zusammenhangs vertritt und die verbreitete „soteriologisch-heilsindividualistische Deutung“, die die sozialen Implikationen der Gewandmetapher außer acht lässt, m.R. ablehnt, sowie Berger, Psychologie 60–62. 177 Bremmer, Götter 51–53. 178 Vgl. auch die Verbindung von Namen und Gewand in Apk 3,5. 179 Nach Burchard, Fußnoten 160 das „beste“ Kleid, das nun Hochzeitskleid wird, oder aber das „erste“, von Anfang an für die Hochzeit bereitliegende Kleid (vgl. 15,10: th;n stolh;n th;n ajrcaivan kai; prwvthn), ein solches also, das noch nie getragen wurde und nun seiner Bestimmung gemäß verwendet wird.

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der Person selbst. Der Wechsel des Gewandes indiziert einen tiefgreifenden Wechsel sozial bestimmter Identität. Kleidung als „zweite, in der Öffentlichkeit getragene Haut“180 verhüllt also nicht die wahre Identität eines Individuums, sondern offenbart sie, macht sie öffentlich. Der ausgeprägte öffentliche Symbolcharakter antiker Bekleidungsrituale wird an folgendem Textbeispiel besonders deutlich. In 1Makk 10,59–66 wird die Begegnung zwischen dem Seleukidenkönig Alexander Balas und dem Hasmonäer Jonathan in Ptolemais berichtet. Hier wird eine Statussteigerung durch die Verleihung eines Kleidungsstücks von Seiten einer übergeordneten Instanz öffentlich deklariert und autoritativ vollzogen, so dass der verliehene Status nicht mehr bestritten werden kann: König Alexander aber schrieb an Jonathan, er möge zu einer Begegnung mit ihm kommen. Da zog er mit Pracht nach Ptolemais und traf mit beiden Königen zusammen; er gab ihnen und ihren Freunden Silber und Gold und viele Geschenke und fand Gnade vor ihnen. Es taten sich zwar verderbte Männer aus Israel gegen ihn zusammen, abtrünnige Männer, um gegen ihn Anklage zu erheben, aber der König achtete nicht auf sie. Der König befahl vielmehr, dass sie Jonathan die Kleider auszögen und ihm ein Purpur(gewand) anzögen (prosevtaxen oJ basileu;~ kai; ejxevdusan jIwnaqan ta; iJmavtia aujtou` kai; ejnevdusan aujto;n porfuvran), und sie taten so. Dann ließ ihn der König neben sich setzen und sprach zu seinen Obersten: ‚Geht mit ihm hinaus mitten in die Stadt und verkündet, dass niemand wegen irgendeiner Angelegenheit gegen ihn Anklage zu erheben und niemand wegen irgend einer Sache ihn zu belästigen habe!‘ (khruvxate tou` mhdevna ejntugcavnein katÆ aujtou` peri; mhdeno;~ pravgmato~). Als die Ankläger seine Ehrung sahen – ebenso wie er (es) verkündet hatte – und dass er mit einem Purpurgewand bekleidet war, flohen alle (wJ~ ei\don oiJ ejntug-

cavnonte~ th;n dovxan aujtou`, kaqw;~ ejkhvruxen, kai; peribeblhmevnon aujto;n porfuvran, kai; e[fugon pavnte~). Der König aber ehrte ihn (noch mehr) (ejdovxasen aujto;n oJ basileu;~); er ließ ihn (in das Verzeichnis) der ersten Freunde einschreiben und setzte

ihn als Befehlshaber und Teilherrscher ein. Danach kehrte Jonathan mit Frieden und Freude nach Jerusalem zurück.

Der Hasmonäer Jonathan wird in dieser Szene öffentlich und unanfechtbar in den Status eines Vertrauten des Seleukidenkönigs eingesetzt. Dies wird dadurch augenfällig, dass er auf Befehl des Königs seine Kleider ablegt und mit einem Purpurgewand bekleidet wird. Als die in V. 61 erwähnten „verderbten Männer aus Israel“ der durch das Purpurgewand manifestierten dovxa Jonathans ansichtig werden, stehen sie von ihren Anklagen ab und ergreifen die Flucht. 2.3.2.2 Nacktheit als Statuslosikeit, Tod als Statusverlust Ein für die Interpretation von 2Kor 5,3 entscheidender Schritt ist nun der Umkehrschluss aus den bisher angeführten Texten: Wenn in der Antike 180

Weippert, Kleidung 496.

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„ein Gewand haben“ soviel bedeutete wie „einen sozialen Status haben“, dann muss Statuslosigkeit als Bedeutungssegment von Nacktheit aufweisbar sein. In Ägypten, wo die ansonsten verbreitete rituelle und magische Konnotation von Nacktheit fehlte, lässt sich dies besonders an Kinderdarstellungen zeigen: Kinder besaßen keinen eigenen Sozialstatus und wurden durchgängig nackt abgebildet.181 Beachtung verdient auch der in Hi 1,21 („Nackt bin ich aus meiner Mutter Schoß gekommen, und nackt werde ich wieder dahingehen“) und Koh 5,14 („Wie er aus dem Mutterschoß hervorging, nackt geht er wieder dahin, wie er kam“) gezogene Vergleich zwischen Geburt und Tod:182 Zwar wird ein Mensch nackt geboren, jedoch entspricht es weder antiker noch moderner Alltagswahrnehmung, dass jemand unbekleidet stirbt oder gar beerdigt wird. Der Vergleich ist bei näherem Hinsehen also metaphorisch: Was Geborenwerden und Sterben vergleichbar macht, ist der Status, den man noch nicht oder eben nicht mehr hat. Die folgenden Texte wenden nun die in der Antike dominierende soziale Konnotation von Kleidung und Nacktheit metaphorisch auf das Thema des Sterbens und des Todes an, das mit Hi 1,21 und Koh 5,14 bereits angeklungen ist. Sie erweitern damit den bisher entfalteten Interpretationszusammenhang um einen für 2Kor 5,3 entscheidenden Aspekt. Der erste nun zu besprechende Text ist der Mythos über das Totengericht in der Schlussparänese des Gorgias (523a–e). In Gorg. 523a führt Sokrates die Institution des Totengerichts auf die Ersetzung eines älteren, unzureichenden Gerichtstyps zurück, in dem „Lebende die Richter von Lebenden“ waren (dikastaiv [...] zw`nte~ h\san zwvntwn),die Entscheidung über das postmortale Geschick also nicht nach dem Tode, sondern kurz vor dem Tode, d.h. am letzten Lebenstag eines Menschen stattfand (523b). Dieses Verfahren, das das vorherige Wissen um die Todesstunde voraussetzte (vgl. 523d), zeitigte schlechte Gerichtsurteile mit dem Resultat, dass „auf beiden Seiten“ (eJkatevrwse), also im Tartarus wie auf den Inseln der Seligen „unwürdige Menschen“ (a[nqrwpoi ajnavxioi) umherliefen. Nach den Worten des Zeus in 523c rührt dies daher, dass „die, die gerichtet werden, bekleidet gerichtet werden. Als Lebende werden sie nämlich gerichtet“ (ajmpecovmenoi [...] oiJ krinovmenoi krivnontai: zw`nte~ ga;r krivnontai). Näherhin ist diese Art des Gerichts folgendermaßen vorzustellen: polloi; ou\n [...] yuca;~ ponhra;~ e[conte~ hjmfiesmevnoi eijsi; swvmatav te kala; kai; gevnh kai; plouvtou~, kaiv, ejpeida;n hJ krivsi~ h\æ, e[rcontai aujtoi`~ polloi; mavrture~, marturhvsonte~ wJ~ dikaivw~ bebiwvkasin: oiJ ou\n dikastai; uJpov te touvtwn ejkplhvttontai, kai; a{ma kai; aujtoi; ajmpecovmenoi dikavzousi, pro; th`~ yuch`~ th`~ auJtw`n ojfqalmou;~ kai; w\ta kai; o{lon to; sw`ma prokekalummevno. – Viele nun, die 181 182

Behrens, Nacktheit 292. Stellen bei Winter, Nacktheit 887.

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schlechte Seelen haben, sind bekleidet mit schönen Leibern, Verwandtschaften und Reichtümern, und wenn dann das Gericht stattfindet, treten viele Zeugen auf, die für sie bezeugen, sie hätten gerecht gelebt. Die Richter nun lassen sich von diesen beeindrucken, und richten zugleich auch selbst eingehüllt, da ihre eigene Seele von Augen und Ohren und dem ganzen Leib verhüllt ist (523c–d).

Um diese Art von Gericht ihrer Grundlage zu berauben, entzieht Zeus den Menschen das Vorauswissen um ihre Todesstunde – nun kann endgültig erst nach dem Tode über einen Menschen entschieden werden – und verlagert das Gerichtsgeschehen auf einen postmortalen Zeitpunkt: e[peita gumnou;~ kritevon aJpavntwn touvtwn: teqnew`ta~ ga;r dei` krivnesqai. kai; to;n krith;n dei` gumno;n ei\nai, teqnew`ta, aujth`æ th`æ yuch`æ aujth;n th;n yuch;n qewrou`nta ejxaivfnh~ ajpoqanovnto~ eJkavstou, e[rhmon pavntwn tw`n suggenw`n kai; katalipovnta ejpi; th`~ gh`~ pavnta ejkei`non to;n kovsmon, i{na dikaiva hJ krivsi~ h\.æ – Sodann sollen sie entblößt von all dem gerichtet werden. Wenn sie tot sind, soll man sie nämlich richten. Auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, mit der Seele selbst die Seele selbst anschauend, nachdem ein jeder plötzlich gestorben ist, verlassen von allen Verwandten und nachdem sie auf der Erde all jenen Schmuck zurückgelassen haben, damit das Gericht gerecht sei (523e).

In 523c werden Leib (sw`ma), Verwandtschaft (gevnh) und Reichtum (plou`to~) als etwas vorgestellt, das man „anhat“ wie Kleidungsstücke. Mit diesen Elementen ist der Mensch „bekleidet“ (hjmfiesmevno~) und demonstriert so seinen Status, und zwar hier mit dem Ziel, vor Gericht einen vorteilhaften Eindruck zu erwecken. Deutlich charakterisiert die auf Leib, Familie und Besitz zugespitzte Gewandmetaphorik den Menschen hinsichtlich seiner sozialen Rolle. Dabei hat auch das sw`ma Gewandfunktion, beschreibt also den Menschen, sofern er zu anderen Menschen in Beziehung tritt und von diesen wahrgenommen wird, oder, wie im Falle des Richters, andere wahrnimmt. Der neue Gerichtstyp unterscheidet sich von dem bisherigen darin, dass die Beurteilung in programmatischer Diskontinuität zur sozialen Stellung des zu Richtenden stattfindet. An dieser Stelle kommt nun die Metapher der Nacktheit ins Spiel: Die Menschen stehen jetzt ohne ihren Reichtum vor Gericht, ohne die Verwandtschaft, und sogar ohne den Leib. Sie sind gumnoi; aJpavntwn touvtwn, „entblößt von all dem“.183 183 Der Gorgiastext wird in der neueren Literatur meist als Vergleichstext für 2Kor 5,3 genannt, jedoch für ein tieferes Verständnis der Paulusstelle durchgängig nicht herangezogen. Der Abstand zwischen beiden Texten liegt auf der Hand: Bei Platon ist eine Leib-Seele-Dichotomie vorausgesetzt, wogegen für Paulus eine körperlose Seele undenkbar ist. Bei Platon wird der Zustand der Nacktheit für die Gerichtssituation angestrebt, Paulus will ihn gerade vermeiden. Diese Unterschiede sprechen jedoch nicht gegen die Gorgiasstelle als Vergleichstext für 2Kor. 5,3. Worauf es im vorliegenden Zusammenhang allein ankommt, ist die soziale Konnotation der Elemente „Kleidung“ und „Nacktheit“.

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Die Deutung des Todes als Statusverlust liegt auch einer bei Athenaios überlieferten Notiz des Dioskurides zugrunde, Platon habe einmal die dovxa als das „letzte Gewand“ bezeichnet, das der Mensch im Tode ablegt (Athenaios, Deipn. 507d):184 e[scaton to;n th`~ dovxh~ citw`na ejn tw`æ qanavtwó aujtw`æ ajpoduovmeqa, ejn diaqhvkai~, ejn ejkkomidai`~, ejn tavfoi~. – „Als letztes legen wir im Tode selbst das Gewand der Ehre ab, in Testamenten, in Begräbnissen, in Grabstätten.“ Wiederum liegt eine soziale Konnotation der Gewandmetaphorik und die Deutung des Todes als Statusverlust vor: Die Ehre (dovxa) des Menschen, sein Ansehen oder Sozialprestige, ist etwas, das er wie ein Gewand (citwvn) trägt. Vorausgesetzt ist, dass auch der Leib den Charakter eines Gewandes hat, dasjenige Gewand nämlich, das der Verstorbene bereits abgelegt hat. Dennoch ist er durch die in der testamentarischen Willenskundgebung ausgeübte Macht, das feierliche Ritual der Bestattung und die Ehrung in einem Grabmal zunächst noch nicht ganz „nackt“ bzw. statuslos. Dass er auch jenes „Gewand“ der „Ehre“ schließlich „auszieht“, umschreibt die begrenzte zeitliche Reichweite dieser Elemente: Wenn der letzte Wille erfüllt ist, sind die Hinterbliebenen von diesem dispensiert; die Erinnerung an das prunkvolle Begräbnis verblasst, ein jedes Grab verwittert. Erst dann hat der Mensch wirklich gar nichts mehr an und ist völlig statuslos. Lukian hat in seinen Totengesprächen die Problematik des Todes als Statusverlust in satirischer Überzeichnung breit ausgestaltet. Im zehnten Dialog185 treffen sich einige verstorbene Personen am Ufer des Acheron, um sich von Charon ans jenseitige Ufer bringen zu lassen. Leider ist Charons Fähre ziemlich klein, leck und baufällig. Deshalb müssen alle Fahrgäste nicht nur sämtliches Gepäck zurücklassen, sondern auch ihre Kleider. Hermes, der die Toten zum Acheron geleitet hat, soll darauf zu achten, dass jeder Einsteigende auch wirklich nackt ist. Er soll sich an die Schiffsleiter stellen, die Einsteigenden mustern und sie „zwingen, nackt einzusteigen“ (gumnou;~ ejpibaivnein ajnagkavzwn). Es treten nun unter anderen auf der Tyrann Lampichos, der Athlet Damasias, ein Reicher namens Kraton und ein Philosoph. Auf die Frage des Hermes, warum er so bepackt ist, antwortet der Tyrann: „Wie nun? Darf, Hermes, ein Tyrann etwa nackt daherkommen?“ (Tiv ou\n e[crh`n, w\ ïErmh`, gumno;n h{kein tuvrannon a[ndraÉ), worauf Hermes antwortet: „Ein Tyrann keineswegs, wohl aber ein Toter. Also leg dies ab“ (Tuvrannon me;n oujdamw`~, nekro;n de; mavla: w{ste ajpovqou tau`ta). Lampichos muss nun neben seinem Reichtum (plou`to~) auch sein Diadem und sein Obergewand ablegen, dazu die ganze Überheblichkeit und 184 185

zung.

Eigene Übersetzung. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Herrn Prof. Dr. Folker Siegert. Eigene Überset-

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Gewaltsamkeit, mit der er zu Lebzeiten mit den Menschen umgegangen ist. Der Athlet Damasias wähnt sich im Vorteil, da er ja bereits nackt ist: „Nimm mich auf, der ich nackt bin“ (paravdexaiv me gumno;n o[nta), sagt er zu Hermes. Dieser erwidert jedoch: „Nicht doch nackt, mein Bester, da du in solche Fleischmassen eingepackt bist“ (Ouj gumnovn, w\ bevltiste, tosauvta~ savrka~ peribeblhmevnon), und er fordert ihn auf, diese abzulegen, dazu die Kränze (tou;~ stefavnou~) und Ehrungen (ta; khruvgmata). Dass der athletische Körper in einem Atemzug mit Siegeskränzen und Siegerehrungen genannt wird, macht deutlich, inwiefern auch der Leib die Funktion eines Gewandes haben kann, sofern er nämlich die soziale Stellung eines Menschen kenntlich macht. Der reiche Kraton muss Reichtum und edle Abstammung zurücklassen, dazu die öffentliche Ehrenstellung, die er bei Lebzeiten innehatte, und das prunkvolle Grabmal, das man ihm errichtet hat. Bei Lukian ist das Motiv der Nacktheit vom Gerichtskontext losgelöst, der am Ende des Dialogs nur kurz anklingt. Dadurch erhält das Element des Statusverlusts größeres Gewicht als im Gorgias. Die „Nacktheit“ ist also nicht nur Voraussetzung für die Gerechtigkeit im Totengericht, sondern ein Sachverhalt für sich: Sterben bedeutet, seinen bisherigen Status zu verlieren. 2.3.2.3 Konsequenzen für die Interpretation von 2Kor 5,3 Nach unserer Interpretation des ejpenduvsasqai in V. 2 und des Prädikats euJreqhsovmeqa in V. 3 haben wir nun mit dem prädikativen Adjektiv gumnoiv ein weiteres Indiz dafür vorliegen, dass Paulus in V. 3 einen eminent „sozialen“ Vorgang skizziert. Wir haben ejpenduvsasqai in V. 2 dahin gehend verstanden, dass Paulus sich danach sehnt, den neuen Leib, den er in V. 1 mit der Metapher des Hauses umschrieben hat, wie ein „Gewand“ überzuziehen, näherhin als „Obergewand“, als denjenigen Teil der Kleidung also, der maßgeblich die Außenwahrnehmung determiniert. In diese Richtung wies auch eine genaue Untersuchung des Prädikats euJreqhsovmeqa. Auch hierbei geht es um das intersubjektive Geschehen einer Begegnung, nämlich einer eschatologischen Wiederbegegnung von Apostel und Gemeinde. Hierzu passt das ouj gumnoiv im Sinne einer Statusaussage ganz ausgezeichnet: Wenn Paulus einst mit dem himmlischen Leib bekleidet vor seiner Gemeinde auftreten wird, wenn Gott ihn im Gewand der Himmelsleibes (mit 4,14b gesprochen) „präsentieren“ wird, dann wir er nicht statuslos, nicht als ein „Niemand“, nicht – hier hat das Englische den treffenden Ausdruck – als ein nobody dastehen. Paulus deutet sein Sterben nicht als Statusverlust (als zu erwartendes unrühmliches Ende eines ob seiner Niedrigkeit verachteten Daseins), sondern als eschatologischen Statusgewinn. Er wird durch das „Obergewand“ der oijkiva ajceiropoivhto~, die er von Gott selbst zu erhalten gewiss ist, kenntlich sein in seiner eschatologischen Ge-

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stalt ewiger dovxa.186 In der Sache berührt sich V. 3 mit der Rede vom sw`ma th`~ dovxh~ in Phil 3,21 [kuvrio~ ÆIhsou`~ Cristov~] o}~ metaschmativsei to; sw`ma th`~ tapeinwvsew~ hJmw`n suvmmorfon tw`æ swvmati th`~ dovxh~ aujtou. Der Begriff der dovxa in sw`ma th`~ dovxh~ ist ausweislich des Oppositums tapeivnwsi~ in sw`ma th`~ tapeinwvsew~ ebenso ein „sozial“ konnotierter Begriff, wie wir es für ouj gumnoiv in 2Kor 5,3 annehmen. Mit sw`ma th`~ tapeinwvsew~ bringt Paulus auf den Begriff, was von 4,7ff her auch in der ejpivgeio~ hJmw`n oijkiva tou` skhvnou~ in 5,1 anklingt, nämlich die Niedrigkeit seiner leiblichen Erscheinung, die den Korinthern anstößig ist. Diese Niedrigkeit wird durch das eschatologische Kleid des Himmelhauses verwandelt in die dovxa-Gestalt (4,17), die ihm von Gott selbst (5,1) zuteil wird. Mit dovxa ist deshalb in Phil 3,21 wie in 2Kor 4,17 nicht nur die Qualität einer himmlischen „Herrlichkeit“ im Blick, sondern auch der Aspekt der „Ehre“, die die „Niedrigkeit“ des irdischen Leibes beseitigt. Vergleichbar ist auch die Opposition ajtimiva/dovxa in 1Kor 15,43 speivretai ejn ajtimiva/, ejgeivretai ejn dovxhæ. Auch hier charakterisiert Paulus „die gegenwärtige Zeit irdischer Leiblichkeit“187 mit dem sozial konnotierten Begriff der „Unehre“ bzw. „Schande“, und dementsprechend ist die dovxa der Auferstehung auch dasjenige, was diesen Zustand beseitigt.188 Was Paulus sich unter ouj gumnoiv positiv vorstellt, war freilich durch Interpretation erst zu erschließen. Die konkrete Sprachgestalt der negativen Formulierung ist damit noch nicht erklärt. Paulus beschreibt in 2Kor 5,3 seinen eschatologischen Ehrenstatus nicht positiv, sondern stellt nur negativ fest, dass er dereinst „nicht nackt“ dastehen wird. Nachdem wir eine Erklärung dieser Negation als Abwehr hellenistischer Erlösungsvorstellungen zurückgewiesen haben, versuchen wir eine Antwort auf der Ebene der Rhe186 Zum hierbei vorausgesetzten Sachzusammenhang zwischen dem Erhalt des Himmelshauses (5,1) und dem aijwvnion bavro~ dovxh~ (4,17) vgl. S. 229. 187 So m.R. Schrage, Korinther 294 für speivretai. Schrage (296) verweist außerdem auf 1Kor 4,11 und 2Kor 6,8, wo dieselbe Opposition „Charakteristikum der innerweltlich-gegensätzlichen Erfahrungen apostolischer Existenz in den Urteilen und Reaktionen der Menschen“ ist. Die gesellschaftlich-soziale Bedeutung des Gegensatzes Ehre/Schande ist auch in Hos 4,7LXX; Prv 3,35LXX; Sir. 3,10f; 5,13 und TestAss. 5,2 greifbar (296 Anm. 1450). 188 Die Bedeutungskomponente „Ehre“ schwingt in dovxa also mindestens mit, und in 1Kor 15,43 wäre auch eine Übersetzung mit „Ehre“ zu erwägen (gegen Schrage, Korinther 296, aber mit Conzelmann, Korinther 332.336: „Es folgt ein Spiel mit dem Wort dovxa, das jetzt nicht mehr ‚Glanz‘ bedeutet [...], sondern ‚Ehre‘“), da die anderen Aspekte dessen, was eschatologische „Herrlichkeit“ bedeutet, durch die positiven Glieder der übrigen Oppositionen (ajfqarsiva, duvnami~) begrifflich aufgefächert werden. In der Apokalyptik ist die Vorstellung geläufig, dass das endzeitliche Handeln Gottes auch die Zuerkennung oder aber Verweigerung von Ehre umfasst. Für Paulus ist auf Röm 2,6–11 zu verweisen (dovxa kai; tivmh in 2,7.10), außerdem auf TestBenj. 10,8 tovte kai; pavnte~ ajnasthvsontai, oiJ me;n eij~ dovxan, oiJ de; eij~ ajtimivan. Vgl. auch äthHen. 50,1 „Herrlichkeit und Ehre wird sich den Heiligen zuwenden“ und 50,3 von den bußfertigen Sündern: „Ihnen wird keine Ehre zuteil werden im Namen des Herrn der Geister, aber in seinem Namen werden sie gerettet.“

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torik: Mit der Formulierung ouj gumnoiv in 2Kor 5,3 wendet Paulus das Stilmittel der Litotes an. Für die Litotes189 gilt, dass der intendierte „superlativische Grad der Bedeutung [...] durch die Negierung des Gegenteils umschrieben“ wird.190 Der Litotes eignet eine suggestive Wirkung, die durch die Sparsamkeit des Ausdrucks zustande kommt.191 Die stilistisch sparsame bloße Verneinung des gumnov~ (Statuslosigkeit) zielt also auf die Behauptung maximalen Statusgewinns. Die suggestive Kraft dieser Stilfigur kann an vergleichbaren Wendungen der deutschen Umgangssprache illustriert werden: Jemand oder etwas ist „nicht von schlechten Eltern“, d.h. von besonderer Herkunft oder Qualität; jemand ist „kein Niemand“, d.h. eine herausragende Autorität bzw. Persönlichkeit. Die Litotes ist dadurch, dass sie das gemeinte Superlativum nicht direkt ausspricht, zugleich eine Bescheidenheitsfigur. Sie vermeidet im Falle von 2Kor 5,3 explizites Selbstlob.192 Die Formulierung ouj gumnoiv ist damit Aussagen vergleichbar, in denen Paulus es unterlässt, sich selbst besondere pneumatische Fähigkeiten zuzuschreiben, so etwa 2Kor 12,2ff oi\da a[nqrwpon ejn Cristw`æ ktl, wo Paulus von sich selbst spricht, sich aber von seinen Kontrahenten dadurch abgrenzt, dass er aus extatischen Erlebnissen keine Selbstruhm ableitet. Analog dazu vermeidet Paulus in 2Kor 5,3, seine ihm von Gott zugesicherte und dereinst für alle sichtbar zuteil werdende eschatologische Identität begrifflich zu explizieren. Er deutet lediglich an, dass er im neuen Gewand des himmlischen Leibes „keine schlechte Figur machen“ wird. Die Interpretation des ouj gumnoiv als Litotes deckt sich mit der Pragmatik dieser Stilfigur in der dikanischen Rede. Die der Litotes eigene „Sparsamkeit des Ausdrucksmittels“ ist nämlich „im Parteienkampf als Protest gegen die übertriebene Epideixis der Gegenpartei“ aufzufassen.193 Dies lässt sich auf die kommunikative Situation der Apologie 2Kor 2,14–7,4 übertragen: Anders als seine Gegner ergeht sich Paulus nirgends in unverhohlenem Selbstruhm. Dieser Zurückhaltung ist auch die negative Formulierung in 5,3 geschuldet. Rhetorisch ist die Litotes freilich genauso wirkungsvoll wie die ausgeführte Epideixis, und in der Sache ist der Anspruch des Paulus nicht minder weitreichend: Er erwartet von seinen Adressaten, dass sie, vermittelt durch die in 2Kor 5,1–3 vorgetragene Deutung seines Todes als eines eschatologischen Statusgewinns, seine gegenwärtige Identität im Licht der zukünftigen sehen und bewerten.

189

Auch: ajntivfrasi~, ajntenantivwsi~, lat. exadversio. Lausberg, Handbuch 304. Lausberg, Handbuch 304. 191 Lausberg, Handbuch 304. 192 Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Selbstvorstellung des Josephus in Vita 1: Emoi; de; gevno~ ejsti;n oujk a[shmon „Ich stamme übrigens aus einer keineswegs unbedeutenden Familie.“ 193 Lausberg, Handbuch 304. 190

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2.4 „Den Tod bejahen, ohne das Leben zu verneinen“ (V. 4ab) Nachdem der Gedankengang mit V. 3 zu einem ersten Abschluss gelangt ist, hebt V. 4 zu einer weiteren Präzisierung des in V. 2 Gesagten an. Wie in V. 2 schließt Paulus das Folgende mit kai; gavr an.194 Zu dieser formalen Parallele kommt die Wiederaufnahme des stenavzomen, so dass V. 4ab als erweitere Wiederholung bzw. Wiederaufnahme von V. 2 erscheint.195 Für das Verständnis dieses Verses ist in erster Linie von Belang, ob Paulus die positive Konnotation des „Seufzens“ von V. 2 nun bestätigen, ob er sie modifizieren, oder ob er sie gar korrigieren will. Anders gefragt: Wird der Aspekt der Heilssehnsucht, der mit to; oijkhthvrion hJmw`n [...] ejpenduvsasqai ejpipoqou`nte~ als Qualifizierung des stenavzomen in V. 2 ausgesagt ist, in V. 4 bekräftigt oder um einen anderen, möglicherweise gegenteiligen Aspekt ergänzt? Mehrere moderne Ausleger nehmen letzteres an. Paulus charakterisiere sein „Seufzen“ in V. 4 nunmehr als ein „beschwertes“, weil ihm ein „Überkleidetwerden“, d.h. ein Verwandeltwerden bei der Parusie, inzwischen nicht mehr sicher sei. Trotz der in V. 1 zum Ausdruck gebrachten gewissen Aussicht auf das eschatologische Heil formuliere er deshalb in V. 4 seine Furcht vor dem Sterben, von dem er nun annimmt, dass es auch ihm bevorsteht. Dieses Verständnis setzt einen kausalen Bezug zwischen dem Partizip barouvmenoi und dem negativen Glied der mit ejfÆ w|æ anschließenden correctio ouj qevlomen ejkduvsasqai voraus. Mit stenavzomen barouvmenoi ejfÆ w|æ ouj qevlomen ejkduvsasqai wäre dann ein Affekt der Furcht vor dem Sterben artikuliert, der dem Apostel ungeachtet seiner Heilshoffnung zu schaffen macht. Diese Auffassung findet sich unter den älteren Kommentatoren etwa bei Heinrici. Er paraphrasiert: „Wir fühlen uns wie von einer Last beschwert, weil wir nicht gewillt sind, d.i. eine Abneigung davor verspüren, auszuziehen.“196 Das ouj qevlomen ist dann, so vor Heinrici schon Meyer, „das nolle, das Nichtgewilltsein [...] des abgeneigten natürlichen Gefühls“.197 Inhaltlich gehe es Paulus um den „Contrast der natürlichen Scheu vor dem Tode und der gewissen Hoffnung auf die Vollendung der mit Christus geeinten Persönlichkeit.“198 Das „Seufzen“ des Paulus wäre 194 Auch hier liegt kein Begründungszusammenhang zum Vorangehenden vor, weder zu V. 3 noch, über V. 2f zurückgreifend auf V. 1; s.o. S. 238ff und Baumert, Sterben 202. Erst recht ist kai; gavr also nicht wie bei Meyer, 2Kor 131 nur auf ejn tw`æ skhvnei bezogen. Paulus will nicht sagen „Auch in diesem Zelte seufzen wir“; vgl. den Einspruch bei von Hofmann, 2Kor 127f: „Aber wann denn sonst noch, als während des Seins im Leibe, könnte man in der Lage sein, ob dem zu seufzen, was der Satz ejfÆ w|æ ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai ausdrückt?“ 195 Vgl. Thrall, 2Kor 380: „The first part of the verse is an expanded repetition of the first half of V. 2.“ 196 Heinrici, 2Kor 182. 197 Meyer, 2Kor 133; Kursive im Original. 198 Heinrici, 2Kor 182.

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demnach zwar einerseits ein solches der Sehnsucht, nach V. 4 aber zugleich auch ein solches der Furcht, weil er unbeschadet der gewissen Hoffnung auf das himmlische Heil dem leiblichen Tod nicht enthoben ist. Er kann jenes nicht ersehnen, ohne diesen zu fürchten. Eine unterschiedliche Qualität des stenavzomen in V. 2 und V. 4 sieht auch Plummer: „In the one case groaning is caused by a feeling of intense longing, in the other by a feeling of intense depression.“199 Unter den neueren Stimmen seien Thrall und Garland genannt. Thrall sieht in V. 4 des Paulus „unwillingness to experience the event of death [...]. [I]t might well be an event which in prospect filled him with anguished forebodging.“200 Seine Hoffnung sei noch immer auf das ejpenduvsasqai gerichtet, d.h. aber auf das Erleben der Parusie: „What he positively desires [...] is ‚overclothing‘ with the heavenly body without prior death.“201 Dass die Furcht vor dem Tode gleichwohl von ihm Besitz ergreift, hängt damit zusammen, dass ihm das Erleben der Parusie inzwischen nicht mehr gewiss ist. Damit übereinstimmend äußert Garland in Abgrenzung zur alten These vom leiblosen Zwischenzustand, dass Paulus „expresses a natural, human aversion to death itself [...]. Death is [...] a fearful experience for humans, and Paul knows, that death is the last enemy to be destroyed (1 Cor 15:26).“202 Die Wortstellung lässt einen kausalen Bezug von V. 4b (ejfÆ w|æ ouj qevlomen ktl) auf das unmittelbar voranstehende barouvmenoi zunächst als naheliegend erscheinen. Eine andere Interpretation von V. 4 ist aber möglich, wenn man das Partizip barouvmenoi auf die Partizipialkonstruktion oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei203 in V. 4a bezieht und ein Beschwertsein nicht aus Furcht oder Ungewissheit, sondern auf Grund des beschwerlichen Daseins im Leib annimmt.204 Wir schieben die Diskussion dieser Möglichkeit jedoch noch etwas auf und versuchen zunächst, das bisher erörterte Verständnis von V. 4 auf der Basis der im II. Teil gesammelten Texte in den Kontext antiker ars moriendi zu stellen.205 Hierbei ergibt sich nun sofort ein recht 199

Plummer, 2Kor 148; ähnlich Bachmann, 2Kor 230f; Prümm, 2Kor 287. Thrall, 2Kor 382. 201 Thrall, 2Kor 382. 202 Garland, 2Kor 261. 203 Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass auch der pluralische Artikel in der Wendung oiJ o[nte~ auf einen Einzelnen gedeutet werden kann; vgl. dazu Anm. 84 im I. Teil. 204 Alle Interpretationsprobleme wären beseitigt, wenn man barouvmenoi mit Hanhart, Intermediate 176 von 4,17 her (bavro~ dovxh~) als Aussage über die Intensität des sehnsuchtsvollen Seufzens auffassen würde, etwa: „Wir seufzen voll drängender und drückender Erwartung“ o.ä. Doch reicht die Stichwortassoziation bavro~ – barouvmenoi für eine positive Konnotation des „Beschwertseins“ nicht aus. 205 Wir vergegenwärtigen uns an dieser Stelle nochmals die unter I.3 formulierte methodologische Grundentscheidung: Auch der folgende Textvergleich setzt keine Hypothesen über die Kenntnis bestimmter Einzeltexte oder -traditionen auf Seiten des Paulus oder seiner Adressaten voraus. Anhand der im II. Teil untersuchten Quellen fragen wir statt dessen in einem viel weiter 200

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eindeutiges Bild, dergestalt, dass der Paulus in V. 4 weithin unterstellte Affekt der Todesfurcht nach antiker Auffassung praktisch durchweg negativ bewertet wird. Der Ausweg, die Denkbewegung der Verse 4 und 5 als einen aktuellen oder paradigmatischen Prozess zu verstehen, der die Todesfurcht nur artikuliert, um sie zu überwinden bzw. die Adressaten zu solcher Überwindung anzuleiten, scheitert am Sachgehalt von V. 4a, denn ganz gleich, ob man stenavzomen barouvmenoi als Ausdruck von Furcht oder leiblichem Beschwertsein fasst, das angstvolle Seufzen betrifft Paulus (oder, nach anderer Lesart, die Christen insgesamt) nicht nur punktuell, sondern nach V. 4a qua „Sein im Zelt“, also während des Erdendaseins überhaupt.206 Liest man die Aussage stenavzomen barouvmenoi, ejfÆ w|æ ouj qevlomen ejkduvsasqai als Ausdruck der Furcht vor dem Sterben, so kommt man nicht umhin, diese Furcht zur Grundkonstante der apostolischen oder gar der christlichen Existenz zu erklären.207 Allenfalls dies ließe sich dann positiv feststellen, dass diese Furcht der immer wieder zu vollziehenden Überwindung durch die Vergegenwärtigung der göttlichen Heilszusage zwar bedürftig, aber auch fähig ist. Doch auch unter dieser Voraussetzung würde der paulinische Gedanke im Diskurs antiker ars moriendi eher schlecht abschneiden,208 zumal dann, wenn er sich, so die These dieser Studie, auf das in apologetischer Absicht vorgetragene Todesverständnis des Apostels bezieht. Soweit nämlich die einschlägigen Texte erkennen lassen, entspricht ein ständiges Schwanken zwischen Todesfurcht und Heilshoffnung weder den antiken Erwartungen an zeitgenössische Philosophien oder Heilslehren, noch gar den Anforderungen, die antikes Denken an einen vorbildlichen Charakter stellte. Wir beginnen unseren Durchgang durch die einschlägigen Texte mit der 31. Rede des Aelius Aristides.209 An diesem Text des 2. Jh. n.Chr., einem Epitaphios, den der Lehrer einem früh verstorbenen Schüler gewidmet hat, interessiert uns im vorliegenden Zusammenhang die innerhalb des gesteckten Rahmen nach dem konventionalisierten Wissen und den soziokulturellen Standards, die bei Menschen der griechisch-römischen Antike zum Thema Sterben und Tod als bekannt und gültig angenommen werden können. 206 Zu Recht stellt Bachmann, 2Kor 230 fest: „Das Verhältnis von 4 zu 2f. wird sich [...] dahin bestimmen, dass jetzt in 4 schärfer als dort hervorgehoben wird, dass das Seufzen das Verweilen im Leibe begleitet“, während es dort natürlich auch im Leibe geschah, aber sich richtete auf den Endpunkt des zeitlichen Lebens“ (Kursive als Sperrdruck im Original). Dieses Verständnis wird durch den Artikel in oiJ o[nte~ (gegenüber dem grammatisch ebenfalls möglichen einfachen Partizip o[nte~) bestätigt, wie von Hofmann, 2Kor 128 zutreffend festgestellt hat: „Der Artikel gibt zu erkennen, dass nicht bloß ein das Seufzen begleitender Zustand, sondern das Subjekt nach dem benannt sein soll, was es seufzen macht.“ 207 Am konsequentesten hat dies Heinrici getan, s.o. S. 280. 208 Abgesehen davon, dass sich dann ein gravierender sachlicher Widerspruch zu V. 6 ergibt; s.u. S. 315. 209 S.o. unter II.2.4.1.2.

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Trostteils (14–19) an die Adressaten gerichtete Mahnung ouj dei` [...] filoyucei`n, „Nicht sollen (wir) am Leben hängen.“ Der verfrühte Tod des Verstorbenen wird zur Aufforderung an die Lebenden, sich auf die Kürze des menschlichen Erdendaseins überhaupt zu besinnen und daraus eine Haltung zu entwickeln, die ihnen ihrerseits zu gegebener Zeit ein würdiges Ende ermöglicht. Der Begriff der filoyuciva ist in den Quellen durchweg negativ konnotiert. Es handelt sich nicht, wie eine wörtliche Übersetzung des Terminus zunächst vermuten ließe, um eine Art Lebenslust oder Lebensfreude, sondern um ein ängstliches Sich-Klammern an das Leben aus Furcht vor dem Sterben. Diese Haltung gilt, wie wir sahen,210 bereits bei Aristoteles als Ausdruck von Feigheit (deiliva), und diese Eigenschaft wiederum definiert Aristoteles als Befangensein in Todesfurcht bzw. als Mangel an Todesmut: deiliva~ dÆ ejsti; to; uJpo; tw`n tucovntwn fovbwn eujkivnhton ei\nai, kai; mavlista tw`n peri; qavnaton kai; ta;~ swmatika;~ phrwvsei~, kai; to; uJpolambavnein krei`tton ei\nai oJpwsou`n swqh`nai h] teleuth`sai kalw`~. – Feigheit besteht darin, dass man von zufälligen Ängsten leicht beunruhigt wird, vor allem von solchen vor dem Tod und vor körperlichen Verletzungen, sowie in der Auffassung, es sei besser, sich wie auch immer zu retten als auf gute Weise zu sterben (Virt. 1251a).

Für diese Haltung haben wir in den untersuchten Quellen zahlreiche biographische exempla gefunden. Valerius Maximus notiert von Gnaeus Papirius Carbo (9,13,2), er habe, schon dem Henker übergeben, seinen Tod um einen winzigen Moment hinauszuzögern versucht, als er darum bat, man möge ihn zuvor noch seine Notdurft verrichten lassen. Dadurch wurde er, so Valerius Maximus, „eine große Beschämung für Latiums Annalen“ (magna verecundia [...] Latinis annalibus). Auch das Verhalten eines D. Brutus ist schändlich, der wegen eines „unbedeutenden und unglücklichen Augenblicks des Lebens“ (exiguum et infelix momentum vitae) sein Haupt vor dem Richtschwert zurückzog (9,13,3), wo doch das gesunde Urteil (sana ratio) gebiete, zwar „das Leben zu lieben, den Tod (aber) nicht zu fürchten“ (vitam diligere, mortem non timere). Ein positives Gegenbeispiel finden wir in der Cäsar-Vita Suetons:211 Cäsar verzichtet gegen Ende seines Lebens auf eine Leibgarde, weil er lieber einem Attentat zum Opfer fällt, als in ständiger Furcht davor leben zu müssen. Es wird deutlich, wie differenziert antike Psychologie in solchen biographischen Texten verarbeitet ist. Zugleich zeigt sich an diesem Beispiel die Kunst rhetorischer Charakterdarstellung: Was man Cäsar als Leichtsinn auslegen könnte, schreibt ihm Sueton als Todesverachtung gut. Dagegen erscheint Nero in seiner Todesstunde bei Sueton als ausgesprochen lächerliche Figur, weil er aus Furcht vor dem Moment des Sterbens immer neue Ausflüchte erfindet, um seinen 210 211

S.o. S. 67. S.o. unter II.3.3.1.

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Tod hinauszuzögern. Seine Feigheit gipfelt darin, dass ihm sein Freigelassener Epaphroditus beim Dolchstoß die Hand führen muss. Ein weiteres biographisches Negativbeispiel für unbewältigte Todesfurcht finden wir in der Darstellung des Todes Herodes’ d. Gr. bei Flavius Josephus.212 Als unrühmliches Gegenstück zu jenen Gelehrtenschülern, die nach dem Anschlag auf den goldenen Adler am Jerusalemer Tempel gefasst in den Tod gehen, wiewohl sie in der Blüte ihres Lebens stehen, klammert sich Herodes, wo er doch schon auf den Tod krank und von schweren Schmerzen gezeichnet ist, an das Leben: oJ de; palaivwn tosouvtoi~ pavqesin

o{mw~ tou` zh`n ajnteivceto swthrivan te h[lpizen kai; qerapeiva~ ejpenovei

„Obwohl Herodes mit solchen Leiden zu kämpfen hatte, klammerte er sich doch an das Leben und war, weil er auf Genesung hoffte, noch darauf bedacht, Wege zur Heilung zu finden“ (Bell. 1,657). Wesentlich drastischer formuliert Josephus die negative Bewertung dieser Haltung im Falle des Hasmonäers Antigonos,213 und hier nun unter Verwendung des Verbums filoyucei`n (Bell.1,357), das wir schon aus der 31. Rede des Aristides kennen: tou`ton me;n ou\n filoyuchvsanta mevcri~ ejscavtou dia; yucra`~ ejlpivdo~ a[xio~ th`~ ajgenneiva~ pevleku~ ejkdevcetai, „Diesen, der bis zuletzt mit einer nichtigen Hoffnung am Leben hing, erwartete, würdig seines niedrigen Verhaltens, das Beil.“ Das filoyucei`n mevcri~ ejscavtou ist Ausdruck von ajgevnneia, Ausdruck eines niedrigen Charakters. Die Hinrichtung mit dem Beil wertet Josephus als verdientermaßen würdelose Todesart. Diese und zahllose andere Sterbeszenen sind als narrative Explikationen antiker Charaktertypen zu verstehen. Diese werden immer auch in der Absicht erzählerisch umgesetzt, moralisch-ethische exempla zu geben. Sie lassen deshalb nicht weniger als die explizite Mahnrede des Aristides Schlüsse zu auf geltende soziale und kulturelle Standards des antiken Umgangs mit dem Todesproblem. Wenn wir nun die paulinische Formulierung ouj qevlomen ejkduvsasqai in 2Kor 5,4 als Ausdruck eines mit Furcht behafteten Widerwillens gegen das Sterben auffassen, gerät diese in ein äußerst ungünstiges Licht. Modernes Denken mag die so verstandene Aussage im Sinne des von Heinrici namhaft gemachten „Contrast[s] der natürlichen Scheu vor dem Tode und der gewissen Hoffnung auf die Vollendung der mit Christus geeinten Persönlichkeit“ wertschätzen, doch ist es überaus fraglich, ob Paulus im antiken Diskurs mit einer solchen Selbstaussage hätte bestehen können, zumal in einer Situation, in der er sich gegenüber seinen Konkurrenten als legitimer Apostel der korinthischen Gemeinde zu profilieren hatte.

212 213

S.o. unter II.4.3.1. S.o. unter II.4.3.4.

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Dieses vorläufige Ergebnis wird bestätigt, wenn wir nun die im II. Teil untersuchten philosophischen Texte in unsere Überlegungen einbeziehen. Mit der Figur des platonischen Sokrates,214 der vor dem Forum seiner Ankläger (Apologie) und im Gespräch mit seinen Gefährten (Phaidon) den Nachweis führt, ihm könne mit dem Tod unmöglich ein Übel widerfahren, ist dem philosophischen Diskurs der folgenden Jahrhunderte die denkerische Verifikation dieser Zuversicht, oder umgekehrt: die Überwindung der Todesfurcht mit den Mitteln der Philosophie, als bleibende Aufgabe gestellt, ja als Kernproblem philosophischen Denkens. Die sokratische Überzeugung, o{ti oujk e[stin ajndri; ajgaqw`æ kako;n oujde;n ou[te zw`nti ou[te teleuthvsanti, „dass es für den guten Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode“ (Apol. 41d), qualifiziert das Todesproblem im doppelten Sinne als ein ethisches: Die Überwindung der Todesfurcht wird zum obligatorischen Merkmal einer philosophisch verantworteten Daseinshaltung, und sie wird zum entscheidenden Kriterium für das charakterliche Profil des ajnh;r ajgaqov~, des vir bonus. Im Blick auf 2Kor 5,4 bietet sich eine Aussage aus dem Phaidon für einen direkten Vergleich an. Sokrates will seinen Gefährten beweisen, w{~ moi faivnetai eijkovtw~ ajnh;r tw`æ o[nti ejn filosofivaæ diatrivya~ to;n bivon qarrei`n mevllwn ajpoqanei`sqai kai; eu[elpi~ ei\nai ejkei` mevgista oi[sesqai ajgaqa; ejpeida;n teleuthvshæ. – dass ich mit Grund der Meinung bin, ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben verbracht, müsse getrost sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, dass er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wenn er gestorben ist (63e–64a).

Ein Vergleich der Phaidon-Stelle mit 2Kor 5,4 liegt nahe, weil es in beiden Texten einerseits um das Sterben selbst und andererseits um die Hoffnung auf einen heilvollen Zustand nach dem Tod geht. Die Frucht eines mit Philosophie zugebrachten Lebens müsse eine getroste Haltung im Angesicht des Todes sein, meint Sokrates, wie auch eine Hoffnung darüber hinaus. Hat Paulus hier mit Absicht weniger sagen wollen? Wer möchte es diesem christlichen Denker nicht zutrauen, dass er in wissentlichem Widerspruch zu allen Konventionen antiker ars moriendi, die nach unserer Interpretation ja stets auch Teil eines gesellschaftlichen Sprachspiels um Ehre und Sozialprestige waren, dass er im Widerspruch dazu und in Abwehr triumphaler Formeln einer unauflöslichen Spannung von Todesfurcht und Heilsgewissheit das Wort reden wollte!215 Doch haben wir Anlass zu der Vermutung, 214

S.o. unter II.6.2. So etwa Strachan, 2Kor 100, der die (antiken) Versuche, einen schnellen Tod zu bagatellisieren, ausdrücklich als „flach“ abwertet und der paulinischen Äußerung „menschlicher“ Todesfurcht den Vorzug gibt: ouj qevlomen ejkduvsasqai bedeute „that Paul is possesed by the human longing to escape the dreary and repellent experience of dying, the shedding of the body of flesh. If so, his outlook on death is not the rather shallow one of those who ‚make quick-coming death a 215

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dass Paulus dieses Sprachspiel nicht nur sehr gut kannte, sondern dass er es, seinen Regeln folgend, auch selbst mitgespielt hat, und zwar in eigener Sache. Unter dieser Voraussetzung muss es als äußerst unwahrscheinlich gelten, dass Paulus tatsächlich die Beschreibung des christlichen status quo als gleichzeitiges Bestimmtsein von Todesfurcht und Hoffnung vorschwebte. Vielmehr ist anzunehmen, dass er auf diese Weise seinem eigenen Renommee und dem seines Evangeliums gleichermaßen geschadet hätte. Wir schließen uns deshalb dem Einspruch Mundles an, dass eine Motivierung des stenavzein durch die Furcht vor dem Tod vor der Parusie „in den Zusammenhang einen unerträglich störenden Nebengedanken hineintragen würde.“216 Wenn wir die aufgenommene Spur weiter verfolgen über Cicero als Vertreter der Mittleren Akademie, über den Platoniker Plutarch, über den Epikureismus eines Lukrez bis zur späten Stoa bei Seneca, so stellen wir fest, dass die Unduldsamkeit antiken Denkens gegenüber dem Affekt der Todesfurcht bis ins 1. Jh. n.Chr. eher noch zunimmt. Eine Ausnahme ist hier allenfalls Cicero, sofern er sich im ersten Buch der Tusculanen auf das Anführen positiver exempla einer noblen Todesverachtung beschränkt.217 Die übrigen Quellen von Epikur an über Lukrez bis hin zu Plutarch und Seneca zeugen dagegen von einer ausgeprägten Geringschätzung gegenüber jeglicher Unfähigkeit, sich der Furcht vor dem Tod zu entschlagen. Als unüberwindliches Problem will freilich auch Cicero die Todesfurcht nicht gelten lassen. Auf die These hin, der Tod könne für die Toten unmöglich ein Übel sein, legt Cicero seinem Dialogpartner den Einwand in den Mund, zwar nicht für die Toten sei der Tod ein Problem, weil diese das Unglück, das der Tod möglicherweise darstellt, nicht mehr empfinden können, wohl aber für die Lebenden, weil sie das Sterben noch vor sich haben. Der Todesfurcht sei deshalb erst dann die Grundlage entzogen, wenn bewiesen werden kann ne moriendum quidem esse miserum, dass „auch das Sterbenmüssen kein Unglück ist“ (Tusc. 1,15). Denselben Einwand formuliert Cicero kurz darauf nochmals: ego enim istuc ipsum vereor ne malum sit non little thing‘. Paul is very human, when he thus shrinks from the moment of dissolution.“ Man vergleiche dagegen die Einschätzung von Moule, Dualism 121, der von „a spasm of unbelief which passes like a cloud across the sun“ spricht! 216 „In demselben Augenblick“, so Mundle weiter, „in dem der Apostel machtvoll die Zuversicht seiner Erlösungshoffnung zum Ausdruck bringt, würde er die Korinther daran erinnern, dass auch dieser Hoffnung ein Moment der Unsicherheit innewohnt, insofern der Gedanke, vor der Parusie sterben zu müssen, auch für den Christen beängstigend ist. Diese alle Zuversicht lähmende Erinnerung ist im Zusammenhang der paulinischen Gedankenführung hier schlechthin unmöglich“ (Problem 99). Auch für Hoffmann, Toten 272 ist „stenavzein primär von ejpenduvsasqai her zu interpretieren. [...] Eine Interpretation, die diese Ausrichtung umgekehrt und ejkduvsasqai zum Ausgangspunkt der Erklärung nimmt, wird der gedanklichen Struktur des Abschnittes nicht gerecht.“ 217 S.o. unter II.6.4.

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dico carere sensu, sed carendum esse, „Ich fürchte nämlich, dass gerade dies ein Übel sei: nicht empfindungslos zu sein, sondern empfindungslos werden zu müssen“ (Tusc. 1,23). Wenn wir diese Distinktion auf die gängige Auslegung von 2Kor 5,4 anwenden, wird deutlich, warum ein solches Verständnis schlecht in den antiken Denkzusammenhang passt: Weil nämlich mit der Beantwortung der metaphysischen Frage (der Tod entweder kein Übel oder sogar etwas Gutes) erst das kleinere von zwei Problemen gelöst ist. Die größere Schwierigkeit besteht darin, dem Vorgang des Sterbens selbst seinen Schrecken zu nehmen, und genau dies leistet 2Kor 5,4 nach verbreiteter Meinung ja gerade nicht oder nur sehr unvollständig. Die Antwort Ciceros besteht in der lapidaren Einsicht, dass sich der eigentliche Moment des Sterbens auf einen winzigen Augenblick beschränke (Tusc. 1,82), ein Argument, das Seneca später mit großer Eindringlichkeit wiederholt (s.u.). Ansonsten arbeitet Cicero mehr mit exempla als mit Sachargumenten, doch sind auch jene sprechend. Am sterbenden Sokrates illustriert er die „Ausgeglichenheit eines großen Geistes im Angesicht des Todes“ (maximi animi aequitas in ipsa morte). Der Begriff der aequitas spielt besonders in der um Vermeidung oder wenigstens um Begrenzung der Affekte bemühten Stoa eine Rolle, so etwa bei Seneca, der an Lucilius die Mahnung richtet: Hoc cotidie meditare, ut possis aequo animo vitam relinquere, quam multi sic complectuntur et tenent quomodo qui aqua torrente rapiuntur spinas et aspera. – Darauf sei täglich bedacht, dass du die Kraft habest, mit Gleichmut das Leben zu verlassen, an dem so viele sich festklammern und festhalten, wie Menschen, die von einem Wildwasser fortgerissen werden (EpMor. 5,5).218

Auch für Plutarch ist ein ausgeglichener Seelenzustand im Angesicht des Todes Kennzeichen für „die Gemütsverfassung des Weisen“ (hj tou` fronivmou diavqesi~).219 Der „Tor“ dagegen, der „Unverständige“ (ajnovhto~) gerät in große Unruhe und Furcht, sowie er mit dem Tod konfrontiert wird. Auch dann, wenn er sein Erdendasein schon längst unerträglich findet, wagt er nicht, es zu verlassen: to;n me;n ga;r ajnovhton oJ tou` qanavtou fovbo~ oujc oJ tou` zh`n povqo~ ejkkrevmasqai tou` swvmato~ poiei`, peripeplegmevnon w{sper to;n ÆOdusseva tw`æ ejrinew`æ dedoikovta th;n Cavrubdin uJpokeimevnhn, e[nqÆ ou[te mivmnein a[nemo~ ou[te plei`n eja`æ, kai; pro;~ tau`ta dusarevstw~ kai; pro;~ ejkei`na peridew`~ e[conta. – Den Toren macht nur die Furcht vor dem Tode, nicht die Begierde nach dem Leben vom Körper abhängig. Er umschlingt, wie Odysseus, aus Furcht vor der unter ihm tobenden Charybdis einen wilden Feigenbaum, wo der Wind ihm weder zu bleiben noch fortzuschiffen

218 219

S.o. S. 197. S.o. S. 176.

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gestattet. Das eine will ihm nicht mehr behagen, und das andere erweckt ihm Furcht (Tranq. 76b).

Dieses von Plutarch als töricht gescholtene Verhaltensmuster erinnert an Josephus’ abschätziges Portrait des todkranken Herodes: Obwohl vorgerückten Alters und von entsetzlichen Schmerzen geplagt, klammert er sich dennoch an das Leben, ganz im Unterschied zu jenen zum Tode verurteilten Gelehrtenschülern, die ihrer Hinrichtung mit Gelassenheit entgegensehen.220 Wiederum legt sich ein direkter Vergleich mit 2Kor 5,4 nahe, da Paulus im Kontext der Stelle das beschwerliche Dasein im Leib ja ausdrücklich thematisiert, angefangen mit den „irdenen Gefäßen“ in 4,7. Eine Affinität zu dem von Plutarch angesprochenen Unbehagen des Toren im irdischen Dasein, dem er gleichwohl nicht zu entfliehen wagt, wie auch zur Figur des von Schmerzen geplagten Herodes ist jedenfalls nicht zu übersehen, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass man Paulus diese Affinität in Korinth in malam partem ausgelegt hat, wenn 2Kor 5,4 denn tatsächlich neben der Hoffnung auf das himmlische Heil auch die Furcht vor dem leiblichen Tod als konstitutiv für ein Dasein behauptet, das von der Hinfälligkeit des irdisches Leibes gezeichnet ist. Erst recht von einem epikureischen Standpunkt aus221 ist unbewältigte Todesfurcht nicht hinnehmbar. Die Formel Epikurs mhde;n pro;~ hJma`~ ei\nai to;n qavnaton (adMen. 124) wertet jede auf den Tod bezogene Erwartungshaltung als gegenstandslos, jede positive (als Hoffnung auf den Übergang in einen heilvollen Zustand), wichtiger aber noch jede negative. Deshalb ist „einfältig“ (mavtaio~), wer vom Gegebensein des Todes auf die Todesfurcht als unabänderliche negative Grundbefindlichkeit schließt: mavtaio~ oJ levgwn dedievnai to;n qavnaton oujc o{ti luphvsei parwvn, ajllÆ o{ti lupei` mevllwn. o} ga;r paro;n oujk ejnoclei`, prosdokwvmenon kenw`~ lupei`. – [J]ener (ist) einfältig, der sagt, er fürchte den Tod nicht, weil er schmerzen wird, wenn er da ist, sondern weil er jetzt schmerzt, wenn man ihn erwartet. Denn was uns nicht belästigt, wenn es wirklich da ist, kann nur einen nichtigen Schmerz bereiten, wenn man es bloß erwartet“ (adMen. 124).

Lukrez222 findet für die Gegenstandslosigkeit der Todesfurcht den wenig schmeichelhaften Vergleich mit kindlichen Angstphantasien bei Dunkelheit. Nicht Kinder, sondern erwachsene Menschen sind es, die sich vor dem Tod fürchten, und dies nicht nur bei Nacht, sondern auch am lichten Tag, und dabei ist ihre Furcht genau so unsinnig, wie die Angstgespinste der Kinder: 220

S.o. S. 117. S.o. unter II.6.6. 222 S.o. unter II.6.6.2 221

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Nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecisin tenebris metuunt, sic nos in luce timemus inter dum, nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura. – Denn wie die Kinder zittern vor Grauen und alles im blinden / Dunkel fürchten, sind wir bei Tage vor Dingen in Ängsten / manchmal, die man nicht mehr zu fürchten brauchte als das, was / Kinder im Dunkel bebend erwarten und drohend sich vorstelln (Nat. 3,79–90).

Ihren stärksten Ausdruck findet die negative Bewertung der Furcht vor dem Sterben bei Seneca.223 Wie Cicero argumentiert Seneca, dass der eigentliche Moment des Sterbens so kurz ist, dass eine beständige Furcht davor als unangemessen gelten muss. Im Schlussstück von De providentia, das Seneca als Gottesrede stilisiert, setzt er dieses Argument wirkungsvoll um in eine eindringliche Mahnung an die Adressaten der Schrift: „Schämt ihr euch nicht?“, lässt Seneca die Gottheit im Schlusssatz (6,9) ausrufen, „Was so schnell eintritt, fürchtet ihr so lange!“ (Ecquid erubescitis? quod tam cito fit timetis diu). Was Cicero als bloßen Denkfehler erweisen will, wird bei Seneca zu einem gravierenden und beschämenden Charakterfehler. Besonders in den Briefen an Lucilius ruft Seneca gezielt soziale Parameter auf, um den Affekt der Todesfurcht zu stigmatisieren. In EpMor. 4,2 vergleicht er, wie vor ihm schon Lukrez, die Todesfurcht gestandener Männer in hohen öffentlichen Ämtern mit dem Verhalten von Knaben und kleinen Kindern, die sich von Kleinigkeiten und Trugbildern schrecken lassen, und in EpMor. 70,19–26 hält er den philosophisch Gebildeten das Beispiel von „Menschen einfachsten Standes“ (vilissimae sortis homines; 70,19) entgegen – todesmutige Gladiatoren, Sklaven und Verbrecher – und fragt dann: Quid ergo? quod animi perditi quoque noxiosi habent non habebunt illi quos adversus hos casus instruxit longa meditatio et magistra rerum omnium ratio? – Was also? Den Mut, den auch verkommene und gefährliche Menschen haben, werden jene nicht besitzen, die auf diese Ereignisse vorbereitet hat langes Nachdenken und die Lehrmeisterin aller Dinge, die Vernunft? (70,27).

Nach EpMor. 36,11 schließlich ist es „sehr schimpflich“ (turpissimum), wenn der bei „Knaben“ (pueri) und sogar bei „Schwachsinnigen“ (mente lapsi) gelegentlich zu beobachtende Todesmut denen fehlt, denen er durch ihre Vernunft eigentlich sicherer Besitz sein sollte. Kehren wir zu 2Kor. 5,4 zurück. Es ist deutlich geworden, dass das verbreitete Verständnis dieses Verses die paulinische Aussage im Kontext antiker ars moriendi ausgesprochen ungünstig positionieren würde. Verschärfend kommt hinzu, dass Paulus mit der Konzession eines bleibenden Rests an unbewältigter Todesfurcht auch und gerade hinter die korinthische Konzeption, die er in 1Kor 15 offenbar bekämpft, an einem ganz entschei223

S.o. unter II.6.7.1.

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denden Punkt zurückgefallen wäre. Wenn die von Sellin (Streit) vorgelegte Rekonstruktion der in 1Kor 15 bekämpften Position einer dualistischen Weisheitstheologie zutrifft, hätte Paulus diese Position in 2Kor 5,4b in eklatanter und für seine Adressaten wohl nicht hinnehmbarer Weise unterboten. Sellin zufolge leistete nämlich die von Paulus kritisierte korinthische Weisheitstheologie nicht zuletzt eine Lösung des Todesproblems, dergestalt, dass der Tod als unwesentlicher Übergang vorgestellt wurde, bei dem sich die schon zu Lebzeiten dem Körper entfremdete Pneuma-Seele entgültig von diesem trennt.224 Die damit vollzogene Vergleichgültigung des physischen Todes wäre in 2Kor 5,4 ausgerechnet auf der Ebene des Affekts wieder rückgängig gemacht. Es besteht deshalb Anlass, nach einer alternativen Interpretation zu fragen. Wie oben bereits angesprochen, fußt eine solche auf dem Bezug des Partizips barouvmenoi auf die Partizipialkonstruktion oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei in V. 4a. Das „Beschwertsein“ ist dann nicht ein solches der Furcht vor dem „Entkleidetwerden“, sondern es rührt vom beschwerlichen Dasein im „Zelt“ her. So spricht etwa Windisch von dem „Drucke [...], den das irdische Haus [...] ausübt.“225 Ebenso versteht Wendland V. 4a dahin gehend, dass Paulus „das Dasein im irdischen Leibe als ein Belastetsein beschreibt.“226 Die Begründung für das Beschwert- oder Belastetsein ist dann nicht im Relativsatz V. 4b zu suchen, sondern in der Partizipialkonstruktion V. 4a. In diesem Fall liegt es nahe, einen modalen Bezug von barouvmenoi auf das Prädikat stenavzomen anzunehmen – das Beschwertsein gibt den 224 Vgl. dazu Sellin, Streit 135 zur philonischen Soteriologie, die er auch in Korinth voraussetzt: „So bedeutet der Tod nie einen Bruch, sondern eher einen kontinuierlichen ‚Übergang‘ [...] Der eigentliche Umbruch, nämlich der ‚Übergang‘ von einer fuvsi~ zur anderen, findet schon zu Lebzeiten des Menschen statt: die Abkehr des Körperlichen zum Ewigen, der soteriologische Akt. So hat der Tod eigentlich keine einschneidende Bedeutung für den Weisen.“ 225 2Kor 160. So bereits von Hofmann, 2Kor 128: „Mit einer Last, die uns drückt, sind wir damit beschwert, dass wir im Leibe sind, indem wir alles das tragen müssen, was dieses Leibesleben mit sich bringt.“ 226 Wendland, 2Kor 194. Vgl. auch die Übersetzung von Barrett, 2Kor 155: „For we who are in the tent, burdened as we are, groan.“ Noch deutlicher in diese Richtung geht die Paraphrase von barouvmenoi bei Hughes, 2Kor 169: „being burdened by its frailties and limitations“ (Kursive hinzugefügt). Ebenso Wolff, 2Kor 110: „Das Seufzen wird jetzt als ein ‚beschwertes‘ charakterisiert, nämlich beschwert von diesem ‚Zelt‘ [...], das so viele Leiden zu ertragen hat.“ Dass das Sein im Leib als beschwerliche Last empfunden wird, ist gut hellenistisch. Eine im Zusammenhang mit 2Kor 5,4 immer wieder genannte Sachparallele ist SapSal. 9,15: fqarto;n ga;r sw`ma baruvnei yuchvn, kai; brivqei to; gew`de~ skh`no~ nou`n polufrovntida, „denn ein sterblicher Leib beschwert die Seele und das irdische Zelt drückt den Verstand nieder, der voller Sorge ist.“ Vergleichbar ist auch Seneca, EpMor. 24,17: ad hoc me natura grave corporis mei pondus adstrinxit; „an dieses schwere Gewicht meines Körpers hat mich die Natur gefesselt.“ Das allen drei Texten gemeinsame Wortfeld „Leib“ (sw`ma, corpus)/„beschweren“, „Gewicht“ (baruvnw, grave pondus) ist sprechend, wenngleich Paulus den prinzipiellen anthropologischen Pessimismus, wie er in SapSal. und bei Seneca greifbar ist, nicht teilt.

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Umstand an, unter dem sich das Seufzen vollzieht227 – und den Relativsatz V. 4b kausal auf stenavzomen oder aber auf die ganze Phrase V. 4a zu beziehen:228 V. 4a benennt dann die Umstände und V. 4b die Ursache des Seufzens. V. 4a–b kann in diesem Fall als Verdeutlichung von V. 2 in doppelter Hinsicht aufgefasst werden: ejn touvtwó stenavzomen V. 2a wird durch oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei stenavzomen barouvmenoi dahin gehend erklärt, dass sich das Seufzen qua Sein im Leib als beschwertes vollzieht, und V. 4b präzisiert die Aussage to; oijkhthvrion hJmw`n [...] ejpenduvsasqai ejpipoqou`nte~ durch die correctio ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai. Ist V. 4b aber nicht kausal auf barouvmenoi zu beziehen, dann besteht kein Anlass, ouj qevlomen ejkduvsasqai als Äußerung eines negativen Affekts zu lesen. Kontrastiert werden nicht ein negativer und ein positiver Affekt (Furchtsamkeit auf der einen und Heilsverlangen auf der anderen Seite), sondern Paulus macht deutlich, worauf sein „Wollen“ (in V. 2: sein „Sehnen“) zielt, indem er zusätzlich klarstellt, worauf es nicht zielt: Bei aller Beschwernis im Leib ist sein Wollen nicht negativ bestimmt durch den Todeswunsch (ejkduvsasqai), sondern positiv durch Heilssehnsucht (ejpenduvsasqai).229 Das bedeutet, dass das ouj streng genommen vor den Infinitiv ejkduvsasqai gehört und nicht vor das regierende Verb. Dies hat zutreffend Bachmann beobachtet. Für einen analogen Fall, dass „die Negation zum regierenden Verbum gezogen [ist], anstatt dahin, wohin sie eigentlich gehört, nämlich zum Infinitiv“,230 verweist Bachmann auf Röm 1,13 ouj qevlw de; uJma`~ ajgnoei`n. Auch in 1Kor 15,51 pavnte~ ouj koimhqhsovmeqa ist das ouj disloziert (so, wie der Satz dasteht, würde er besagen, dass niemand stirbt. Paulus will aber sagen, dass „nicht alle sterben“).231 Wenn die Negation eigentlich als zu ejkduvsasqai gehörend erkannt ist, ist erstens gewährleistet, dass qevlomen nicht sinngemäß doppelt übersetzt wird, einmal wie lat. nolle und einmal wie velle, und zweitens wird dann deutlich, dass die Negation der positiven Aussage subordiniert ist. Zu übersetzen ist dann: „Und nämlich weil wir im Zelt sind, seufzen wir beschwert, auf Grund dessen, dass wir wollen nicht entkleidet sondern überkleidet werden.“ Besser noch wäre die Negation in Klammern zu setzten, also „auf Grund dessen, dass wir wollen (nicht ent-, sondern) überkleidet werden.“

227 So Furnish, 2Kor 269: barouvmenoi „should be interpreted here as circumstantial, not causal.“ Zustimmend Thrall, 2Kor 380 Anm. 1333. 228 So konstruiert Hoffmann, Toten 278: „stenavzomen [...] ejfÆ w|æ ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai.“ 229 Zutreffend Lang, Forschung 197: „Denn nicht das Negative (ejkduvsasqai), sondern das Positive (ejpenduvsasqai) begründet (ejfÆ w|)æ das Seufzen.“ 230 Bachmann, 2Kor 231. 231 Vgl. dazu Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik § 433.3.

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Es ist nun zuzugeben, dass die Stellung der Partikel ouj (ob vor oder nach qevlomen) nicht ganz reibungslos zu der hier vorgeschlagenen Interpretation passen will. Das Gemeinte wäre klarer ausgesprochen, würde die Formulierung lauten oujk ejfÆ w|/ qevlomen ktl,232 mit sinngemäßer Ergänzung eines adversativen ajllav: „wir seufzen beschwert, (doch) nicht auf Grund dessen, dass wir wollen entkleidet, sondern überkleidet werden.“ Bultmann, der V. 4b ebenfalls so versteht, dass Paulus nicht der Furcht vor dem Tode Ausdruck verleihen, sondern seine Heilssehnsucht betonen will, meint denn auch, die paulinische Formulierung sei „etwas unlogisch“.233 Doch ist die Stellung der Partikel in der vorliegenden Übersetzung korrekt wiedergegeben, und die vorgeschlagene Interpretation lässt sich als eine vom Wortlaut her ohne weiteres mögliche vertreten.234 Die Formulierung wird aber vielleicht verständlich, wenn man V. 4b nicht als Korrektur von V. 4a, sondern selbst noch als Teil der Erläuterung auffasst, zu der Paulus mit dem abermaligen kai; gavr anhebt. Der argumentative Forschritt liegt dann nicht in einer Relativierung des Beschwertseins durch die Hoffnung auf das Himmelsgewand, sondern in einer Präzisierung, die die Qualität des paulinischen „Wollens“ betrifft. Dass sich die Heilshoffnung des Paulus inmitten seines beschwerlichen Daseins behauptet und äußert, ist ihm nämlich im Grunde schon in 5,2 nicht mehr fraglich. Die Zuversicht des Apostels unter den Bedingungen seiner angefochtenen und angegriffenen Leiblichkeit ist ja seit 4,7 mehrfach aus verschiedenen Blickwinkeln Thema. Mit der invertierten Stellung der Partikel würde V. 4b das Überkleidetwerdenwollen als neue Information einführen, was es aber seit V. 2b schon nicht mehr ist. Mit der correctio will Paulus vielmehr klarstellen, dass seine in V. 2 geäußerte Sehnsucht nach Überkleidung eine bestimmte Ausrichtung sei232

So konstruiert hypothetisch Thrall, 2Kor 381. Bultmann, 2Kor 139f: „der wirkliche Grund des stenavzein wird angegeben; wir seufzen unter der gegenwärtigen Last: ejfÆ w|æ ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai. Die Formulierung ist etwas unlogisch, denn Paulus will offenbar sagen: ‚nicht, weil wir nur (an sich) vom Leib frei werden wollen, sondern weil wir einen neuen Leib ersehnen‘.“ Die invertierte Stellung der Partikel findet sich auch in anderen Übersetzungen, etwa bei Strachan, 2Kor 99: „not that I want to be stripped, no, but to be under the cover of the other“ und Hughes, 2Kor 169: „not for that we would be unclothed, but that we would be clothed upon.“ Vgl. auch Wolff, 2Kor 110: „Das Seufzen im irdischen Leib hat aber, so stellt Paulus klar, seinen Grund nicht etwa in dem Wunsch, dieser Leib möge ersatzlos fortfallen.“ 234 Ganz in unserem Sinne interpretiert V. 4ab auch Demke, Auslegung 597, wenngleich in der Annahme, Paulus beziehe sich auf eine von Paulus kritisierte korinthische Anschauung. Auch er versteht V. 4b dergestalt, dass Paulus hier den positiven Skopos des Seufzens deutlich machen will. In V. 4b „muss Paulus präzisieren: –, weil wir nicht ausziehen, sondern darüber ziehen wollen – sonst würden wir ja wahrlich nicht seufzen, sondern in tollem Mut [...] uns der triumphierenden Nichtung der vor Augen liegenden ‚Last‘ widmen; aber wir sind auf anderes gerichtet: –, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde. Das ist der Skopos des Seufzens und der Hoffnung, dass das Leben sich einverleibe, was der Macht des Todes und des Vergehens unterworfen ist.“ (Kursivdruck als Sperrdruck im Text). 233

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nes „Wollens“ impliziert, die eine gegenteilige Ausrichtung ausschließt. Es kommt Paulus anscheinend darauf an, einem möglichen Missverständnis bzw. einer Fehlinterpretation dessen vorzubeugen, worauf sein Wollen sich richtet. Dies mag die thesenartige Formulierung ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai erfordert und somit den etwas undeutlichen Anschluss an V. 4a verursacht haben.235 Ist aber V. 4b nicht als Antithese von Todesfurcht und Heilshoffnung zu verstehen, sondern als eine sachliche Klarstellung über Richtung und Inhalt des paulinischen qevlein, dann stellt sich die Frage, warum Paulus an einer solchen Klarstellung gelegen war. Die Vertreter des polemischen Auslegungstyps236 sehen in der correctio in V. 4b eine polemische Frontstellung gegen gnostische oder gemeinhellenistische Erlösungsvorstellungen. Dass sich der Abschnitt 2Kor 5,1–5, einer antignostischen „polemischen Abschweifung“ verdankt, findet etwa für Bultmann in der correctio ouj – ajllav in V. 4 den deutlichsten sprachlichen Ausdruck.237 Wenn Paulus versichert, 235

Dass ejfÆ w|æ für ein kausales ejpi; touvto, o{ti steht (vgl. Blass/Debrunner/Rehkopf, Grammatik § 235,2 Anm. 3), ist praktisch Konsens; vgl. Thrall, 2Kor 381 Anm. 1336. Allein Baumert, Sterben 195–198 versteht das Relativum als kontrahiertes ejpi; touvto, o{ und deutet das Relativum auf das schon im irdischen Leben vorhandene Himmelsgewand. Das „Belastende“ sei für Paulus die spannungsvolle Gleichzeitigkeit von altem und neuem Leben, von irdischem Leib und himmlischen Gewand. In V. 4b wolle Paulus sagen, dass es für ihn nicht in Frage kommt, diesen belastenden Zustand dadurch zu beenden, dass er das Himmelsgewand wieder auszieht. Vielmehr wolle er es (Baumert meint wohl: je und je) über den sterblichen Leib darüberziehen und lieber die belastende Spannung zwischen Altem und Neuem aushalten, als das Neue wieder aufzugeben. Allein, die Interpretation des ganzen Kontextes als Beispiel einer konsequent präsentischen Eschatologie, ohne die auch das skizzierte Verständnis von V. 4b keinen Bestand hat, wirft mehr Probleme auf, als sie löst. Für V. 4b gilt, dass dann die Alternative ejkduvsasqai/ejpenduvsasqai unlogisch wird, so mit Recht Wolff, 2Kor 111, der feststellt, „dass ein Gewand, das man nicht mehr ausziehen will, nicht noch einmal übergezogen werden kann; vielmehr will man dann bekleidet bleiben.“ Baumert argumentiert gegen den herrschenden Konsens indes auch philologisch: er zeigt in einem mehrseitigen Exkurs (386–401), dass ejfÆ w|æ – „seit der Väterzeit ein Gegenstand des Unbehagens“ (195) – als kontrahiertes ejpi; touvto, o{ti auch für die anderen Paulusstellen (Röm 5,12; Phil 3,12; 4,10) keineswegs zwingend, ja sogar auf der Textbasis der bei Bauer (Wörterbuch) als Belege für ejfÆ w|æ = ejpi; touvto, o{ti genannten Stellen überhaupt erst um das Jahr 400 sicher nachweisbar ist. Es scheint deshalb angeraten, von Hofmann, 2Kor 128 folgend eine alternative Deutung des ejfÆ w|æ zumindest in Betracht zu ziehen, nämlich nicht als kausales ejpi; touvto, o{ti, sondern umgekehrt als Folge, und zwar mit einem lockeren relativischen Anschluss: V. 4b „bezieht sich relativisch auf das Seufzen unter Beschwernis [...], so jedoch, dass hier einer der häufigen Fälle vorliegt, wo wir demonstrativisch fortfahren würden und also die relativische Verbindung eine losere ist. Dies ist aber, würden wir fortfahren, für uns nicht ein Grund ausziehen zu wollen, sondern drüberanziehen zu wollen.“ Paulus „verneint, dass sie [d.i. die Lebenslast] für ihn ein Grund sei, den Leib ausziehen, sterben zu wollen.“ Dies dürfte in der Tat den Sinn von 2Kor 5,4b genau treffen. 236 Allen voran Bultmann, Probleme 4. 237 „Der Blick auf die gemeinchristliche Hoffnung 4,17f hat nun zu der Abschweifung 5,1–5 geführt, und zwar zu einer polemischen Abschweifung, was schon durch das ouj – ajllav V. 4 [...] zu erkennen ist.“ (Bultmann, Probleme 4). Später als Bultmann aber offenbar unabhängig von ihm hat auch Hettlinger die These vertreten, dass Paulus sich in V. 4b gegen griechische Erlösungsvorstellungen richtet. Er paraphrasiert V. 4ab folgendermaßen: „for indeed, we who are in this tent

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„dass unsere Sehnsucht nicht auf das ejkduvsasqai, sondern auf das ejpenduvsasqai geht“, dann tut er dies „im Blick auf die gnostischen Gegner.“238 Die gnostische Einordnung der Gegner des Paulus durch Bultmann hat auch Hoffmann die Richtung seiner Interpretation von V. 4 vorgegeben, nur dass er die von Paulus bekämpfte Anschauung nicht für gnostisch, sondern für unspezifisch hellenistisch hält. In v 4. strebe Paulus „nach einer Formulierung, durch welche er die christliche Heilshoffnung und die Abwehr der gegnerischen Auffassung gleichzeitig zum Ausdruck bringen kann.“ Beide Prädikatsaussagen „meinen den Vollendungszustand. Bei ejkduvsasqai ist dieser hellenistisch als Befreiung vom irdischen sw`ma, bei ejpenduvsasqai ist er christlich als Empfang des neuen Leibes verstanden.“239 Auch Wolff versteht V. 4b als Polemik gegen „eine bei den Korinthern verbreitete Geisteshaltung [...], wonach die vom Körper befreite, nackte, mit dem göttlichen Pneuma verbundene Seele als das Vollendungsideal galt.“240 Wenn wir für den Moment einmal annehmen, dass die polemische Interpretation von V. 4b zutrifft, bleibt gleichwohl völlig unklar, warum Paulus diesem Versteil die Aussage über das beschwerliche Dasein im Leib vorgeschaltet hat. Auch V. 4a müsste doch innerhalb des für 5,1ff angenommenen polemischen Duktus einordnen lassen. Es zeigt sich jedoch, dass dieser Auslegungstyp an dieser Stelle entweder einen blinden Fleck oder erhebliche Interpretationsprobleme hat. Als Ausnahme unter den Vertretern des polemisch-dogmatischen Auslegungstyps hat Schottroff auch V. 4a in ihre Überlegungen einbezogen. Sie versteht das Leiden an der Leiblichkeit (das „beschwerte Seufzen im Zelt“) als Beweis dafür, dass dieses dem Selbst nicht äußerlich ist: „Gerade weil er [scil. der Mensch] in der irdischen Existenz leidet (stenavzomen barouvmenoi), deshalb (ejfÆ w|)/ ist die Vorstellung, dass der Erlöste nackt ist, falsch. Denn dann hätte ja sein Leiden in der irdischen Existenz nicht wirklich ihn betroffen. Weil er in seinem ganzen Wesen an das Irdische gebunden ist, deshalb ist es falsch zu meinen, er könne das Irdische ausziehen, als sei er davon nur scheinbar betroffen worden.“241 Aber welcher „Gnostiker“ hätte denn bestritten, dass die Pneuma-Seele unter ihrer Gefangenschaft im Leib leidet? Die angebliche Streitfrage, wer nämlich das Subjekt ist, das „seufzt“ (Pneuma-Seele oder „ganzer Mensch“) wird doch durch die paulinische Formulierung überhaupt groan, being burdened with the pains and limitations of the physical body, but this is not because we want to be unclothed like the Greeks, but because we want to be clothed upon“ (Corinthians, 191; Kursive im Original). 238 Bultmann, Probleme 11. Ähnlich Schmithals, Gnosis 228: Das ejpenduvsasqai verweise „auf die gnostische These, der P[au]l[u]s diesen Ausdruck als Antithese gegenüberstellt: Das Ziel der Gnostiker ist das ejkduvein jedes Leibes und damit die gumnovth~ des Pneuma-Selbst.“ 239 Hoffmann, Toten 127f. 240 Wolff, 2Kor 110. 241 Schottroff, Gaubende 149 (Kursive im Original).

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nicht berührt. Außerdem ist das Bild vom „Sein im Zelt“ selbst schon dualistisch (ein Zelt kann man verlassen und bleibt trotzdem ganz man selbst). Wie soll da der schiere Hinweis auf eine existentielles stenavzein beweisen, dass Selbst und Leib (dem Bild zuwider) nicht von einander ablösbar sind?242 Gegen die polemische Interpretation spricht jedoch auch unabhängig von der ungelösten Frage nach der polemischen Argumentationsfunktion von V. 4a der Umstand, dass für eine solche auch in V. 4b keine oder mindestens keine hinreichend deutlichen Textsignale vorliegen. Paulus sagt in V. 4, was er „will“ und was er „nicht will“, nicht wie sich die Erlösung vollzieht und wie sie sich nicht vollzieht. Die Formulierung lässt nicht erkennen, dass und inwiefern Paulus für die in V. 4b formulierte positive und negative Explikation seines qevlein autoritative Kraft oder gar normative Geltung beansprucht. Es ist nicht anzunehmen, dass Paulus bei seinen Adressaten den Schluss von seinem eigenen subjektiven Wollen auf das tatsächliche Geschehen als so selbstverständlich vorausgesetzt hat, dass eine bloße Willensäußerung als hinreichendes Argument in dem angenommenen Streit um die richtige Anthropologie und Eschatologie gelesen werden kann.243 Dieser Einwand trifft analog auch auf die Interpretation Furnishs zu, der V. 4b wie die Bekleidungsmetaphorik in 5,2–4 insgesamt christologisch von Gal 3,27 (Cristo;n ejneduvsasqe) her verstehen will. Furnish legt wie schon in V. 2f so auch in V. 4b die Unterscheidung von Heilszueignung in der Taufe (ejnduvsasqai) und endgültigem, eschatologischem Heilsgewinn (ejpenduvsasqai) zu Grunde244 und versteht die correctio in V. 4b als Ausdruck der Entschlossenheit des Paulus, sein Heil nicht schließlich doch noch zu verspielen, im Bild gesprochen: Christus wieder auszuziehen (ouj qevlomen ejkduvsasqai). Dieses entschlossene Festhalten am Heil sei, so Furnish, ein Appell an die Adressaten, selbst auch eine solche Haltung einzu242 Erst recht fügt sich V. 4ab nicht in den angenommenen polemischen Duktus, wenn man diesen Versteil mit von der Osten-Sacken, Römer 118 als „Ausdruck der Sorge um eine mögliche Entkleidung“ versteht, ist diese doch „im Grunde bereits mit V. 2 überholt“. Es bleibt von der Osten-Sacken dementsprechend auch nichts anderes übrig, als die „Künstlichkeit des ganzen Satzes“ zu konstatieren und das ouj qevlomen ejkduvsasqai als lediglich „theoretische Erwägung“ gelten zu lassen, die verdeutlichen soll, „dass die von Paulus abgelehnte mögliche Erwartung eines ejkduvesqai nur ein von der Sorge bestimmtes Seufzen hervorrufen kann.“ 243 Dieses Problem ist zwar behoben, wenn man die 1. Pers. Pl. in V. 4b mit Bultmann gemeinchristlich auffasst, doch ist gerade dann, wenn man in Korinth einen noch nicht entschiedenen Streit über die anthropologischen Prämissen christlicher Soteriologie annimmt, höchst unwahrscheinlich, dass Paulus sich zu einer Aussage darüber verstiegen hätte, wie sich „die Christen“ das Erlösungsgeschehen vorstellen. Die angenommene Polemik in 5,1–5 setzt ja gerade voraus, dass Paulus ein solches Einverständnis noch nicht für erreicht hält. Sein Problem wäre dann ja gerade, dass seine Adressaten durchaus „entkleidet“ werden wollen. 244 So auch Hanhart, Paul’s 455.

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nehmen. V 4b. sei „a statement of resolve – and thus an implicit appeal to the readers – to remain faithful to the gospel of Christ.“245 Wiederum ist kritisch zu fragen, welche Textsignale für einen solchen intendierten Appellcharakter der paulinischen Äußerung namhaft gemacht werden können. Viel näher liegt es doch, die Explikation des qevlein in V. 4b auf der Textoberfläche zu interpretieren als bloße subjektive Willensäußerung, ohne dieser eine darüber hinausgehende argumentative Reichweite zuzumuten. Als bloße Willensäußerung ergibt V. 4b im Kontext antiker ars moriendi einen guten Sinn: Es geht Paulus darum, sein eigenes vorbildliches, ihn als geistige Autorität ausweisendes Todesverständnis dadurch zu profilieren, dass er es gegen ein nach seiner Auffassung falsches Todesverständnis ausdrücklich abgrenzt. Wenn die These zutrifft, dass 2Kor 5,1–10 vom antiken Diskurs über eine Ethik des Sterbens her zu verstehen ist, der auf weite Strecken in Charakterskizzen, Persönlichkeitsbildern und biographischen exempla seinen Ausdruck gefunden hat, dann ist es nicht überraschend, dass auch Paulus seine eigene Haltung zum Todesproblem möglichst differenziert vorträgt. Der häufig als überzählig empfundene246 V. 4 dürfte hierin seine Erklärung finden: Paulus will deutlich machen, dass sein Wollen nicht negativ determiniert ist von dem Streben, den irdischen Leib loszuwerden, sondern positiv von der Sehnsucht nach dem himmlischen. In den im II. Teil untersuchten Quellen sind wir wiederholt auf Texte gestoßen, die eine vorbildliche oder aber verwerfliche Haltung angesichts des Todes durch die Negation ihres Gegenteils zusätzliches Profil verleihen. (a) Xenophon charakterisiert am Schluss seiner Apologie die Figur des sterbenden Sokrates folgendermaßen:247 ejpedeivxato de; th`~ yuch`~ th;n rJwvmhn: ejpei; ga;r e[gnw tou` e[ti zh`n to; teqnavnai aujtw`æ krei`tton ei\nai, w{sper oujde; pro;~ ta\lla tajgaqa; prosavnth~ h\n, oujde; pro;~ to;n qavnaton ejmalakivsato, ajllÆ iJlarw`~ kai; prosedevceto aujto;n kai; ejpetelevsato. – Er stellte aber seine Seelenstärke unter Beweis: Als er nämlich zu der Überzeugung gelangt war, dass das Sterben für ihn besser wäre als weiter zu leben, wurde er nicht zaghaft angesichts des Todes, wie er sich ja auch den anderen guten Dingen gegenüber nicht versperrte, sondern heiteren Gemüts erwartete er ihn, und (so) ertrug er (ihn auch)“ (Apol. 33).

Dem paulinischen Selbstportrait in 2Kor 5,4 nicht unähnlich verwendet Xenophon eine correctio, um die vorbildliche Haltung des Sokrates, seine 245 Ähnlich schon Mundle, Problem 104: „Die gegensätzliche Formulierung bezieht sich [...] auf das Endschicksal, das für den Christen [...] kein ejkduvsasqai, sondern ein ejpenduvsasqai mit einem neuen Herrlichkeitsleibe ist.“ Von der Taufe her deuten auch Collange, Enigmes 217f.221; Paulsen, Einheit 91f. 246 Vgl. etwa Mundle, Problem 102: „Ein eigentlicher Gedankenfortschritt ist in diesem Vers nicht zu finden, er wiederholt im Gunde nur V. 2f.“ 247 S.o. S. 162.

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„Seelenstärke“ (hJ th`~ yuch`~ rJwvmh), noch deutlicher herauszustellen: oujde; [...] ejmalakivsato, ajllÆ iJlarw`~ [...] prosedevceto. (b) Vergleichbar ist auch eine Formulierung aus Ciceros SokratesPortrait in Tusc. 1,71.248 Als Sokrates „schon den tödlichen Becher in der Hand hielt, da redete er so, dass er nicht zum Tode geschleift, sondern in den Himmel aufzusteigen schien“ (paene in manu iam mortiferum illud tenens poculum, locutus ita est, ut non ad mortem trudi, verum in caelum videretur escendere). Die noble Geisteshaltung des Sokrates, die sich in seinen Worten während seiner letzten Unterredung mit seinen Freunden niederschlägt, wirft auf sein Sterben ein helles Licht: Es erscheint als ein „Aufsteigen in den Himmel“. Eine mögliche gegenteilige Interpretation seines Endes als ein „zum Tode geschleift werden“ wird explizit ausgeschlossen.249 (c) Das Gegenbild eines unwürdigen Sterbens finden wir bei Seneca, Brev. 11,1.250 Im Kontext dieser Stelle äußert sich Seneca abfällig über Menschen, die ihren Tod bis ins Alter scheinbar erfolgreich verdrängt haben, dann aber umso härter getroffen werden, wenn sie durch Krankheit und Gebrechen ihrer Endlichkeit inne werden: Iam vero cum illos aliqua imbecillitas mortalitatis admonuit, quemadmodum paventes moriuntur, non tamquam exeant de vita sed tamquam extrahantur. – Vollends aber, wenn sie irgendeine Schwäche an ihre Sterblichkeit erinnert hat, wie sterben sie zitternd, nicht als ob die aus dem Leben gingen, sondern gerissen würden (11,1).

Die Antithese non tamquam exeant de vita sed tamquam extrahantur stellt ein erlittenes und ein selbstmächtiges Sterben, einen gefürchteten und einen bejahten Tod einander gegenüber als konträre und äußerst gegensätzlich bewertete Möglichkeiten, das eigene Ende zu bestehen oder eben nicht zu bestehen. Die paulinische Formulierung ouj qevlomen ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai in 2Kor 5,4 ist auf dem Hintergrund dieser Vergleichstexte zu lesen als Präzisierung des eigenen, positiv konnotierten Todesverständnisses durch die ausdrückliche Abgrenzung gegen ein negatives. Paulus will sagen, dass ihn nicht Lebensverdruss, sondern Heilssehnsucht an den Tod denken lässt, und zwar gerade angesichts des in V. 4 eigens betonten Sachverhalts, dass er sein Dasein im irdischen Leib als Last empfindet. Auch und gerade unter diesen Umständen ist sein Verlangen nicht auf den Tod 248

S.o. S. 170. Diese Absicherung gegen eine Negativinterpretation von Sokrates’ Tod kann als Reflex einer literarischen Kontroverse um die Sokates-Figur gelesen werden, die sich bis Libanios verfolgen lässt (s.o. Anm. 256 im II. Teil). Dies würde den apologetischen Hintergrund der paulinischen Formulierung indirekt bestätigen: Hier wie dort ginge es um die kontroverse Bewertung eines individuellen Charakters anhand seines Todesverständnisses. 250 S.o. unter II.6.7.1.2. 249

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ausgerichtet als Möglichkeit der Flucht aus einem leidvollen Dasein, sondern auf das ihm von Gott selbst verbürgte Heil.251 Eine solche Klarstellung passt zu den Vorgaben antiker Sterbe-Ethik, die Todessehnsucht aus Lebensverdruss nicht weniger missbilligt als den Affekt der Todesfurcht. Schon im Phaidon (64b) sieht sich der platonische Sokrates dem Verdacht ausgesetzt, die von ihm propagierte philosophische Todesbereitschaft sei eine lächerliche Ausflucht von Gescheiterten, die im Leben nichts mehr hält.252 Schon dieser frühe Text zeigt, dass die individuelle Bewältigung des Todesproblems stets auch etwas mit dem Gewinn oder Verlust von Sozialprestige zu tun hat. An der sokratischen Antwort (levlh-

qen ga;r aujtou;~ h|/ te qanatw`si kai; h|/ a[xioiv eijsin qanavtou kai; oi{ou qanavtou oiJ wJ~ ajlhqw`~ filovsofoi, „denn weder wissen sie, wie die

wahrhaften Philosophen den Tod wünschen, noch, wie sie ihn verdienen und was für einen Tod“) wird außerdem deutlich, dass sich antike Todesdeutung, da sie vorrangig mit der Bewertung subjektiver Einstellungen und charakterlicher Dispositionen befasst ist, in einem Feld phänomenologischer Uneindeutigkeit bewegt. Im Phaidon kommt dies in Sokrates’ Betrachtung über den Gesang der sterbenden Schwäne (84e–85b) anschaulich zum Ausdruck.253 Es verhält sich, wie Sokrates seinen Freunden erklärt, nämlich so, dass die Schwäne, oi} ejpeida;n ai[sqwntai o{ti dei` aujtou;~ ajpoqanei`n, a[ædonte~ kai; ejn tw`æ provsqen crovnwó, tovte dh; plei`sta kai; kavllista a[ædousi, geghqovte~ o{ti mevllousi para; to;n qeo;n ajpievnai ou|pevr eijsi qeravponte~. oiJ dÆ a[nqrwpoi dia; to; auJtw`n devo~ tou` qanavtou kai; tw`n kuvknwn katayeuvdontai, kaiv fasin aujtou;~ qrhnou`nta~ to;n qavnaton uJpo; luvph~ ejxavædein. – welche, wenn sie merken, dass sie sterben sollen, wie sie sonst immer gesungen haben, dann am meisten und vorzüglich singen, weil sie sich freuen, dass sie zu dem Gotte gehen sollen, dessen Diener sie sind. Die Menschen aber, wegen ihrer eigenen Furcht vor dem Tode, lügen auch über die Schwäne und sagen, dass sie, über den Tod jammernd, aus Traurigkeit sängen (84e–85a).

Der Gesang der sterbenden Schwäne ist, so Sokrates, für zwei völlig entgegengesetzte Deutungen offen: als Ausdruck der Freude über das baldige Hinübergehen zu ihrem Gott, aber auch als Ausdruck der Trauer und des Jammerns über den Tod. Sokrates sagt nun, dass die Menschen, indem sie letztere Deutung favorisieren, über die Schwäne „lügen“, und zwar aus ei251 So hat V. 4ab auch von Hofmann, 2Kor 128f verstanden: „Auch die Lebenslast macht ihn ja seufzen. Aber nicht den Leib, der sie mit sich bringt, auszuziehen, ist deshalb sein Wille, sondern darüber anziehen will er den Leib der Herrlichkeit. Dies ist seine Stellung zum Tode [...] Und er seufzt unter des Last des Lebens im irdischen Leibe, aber ohne dass deswegen sein Verlangen nach der Überkleidung zu einem Verlangen nach dem Tode wird, der ihn dieses Leibes entkleidet.“ 252 S.o. S. 153. 253 S.o. S. 157f.

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nem Grund, der ihre negative Interpretation auf sie selbst zurück fallen lässt, nämlich auf Grund ihrer eigenen Todesfurcht. Die sokratische Betrachtung über den Gesang der Schwäne legt einen Vergleich mit dem „Seufzen“ des Paulus nahe. Es dürfte dieselbe phänomenologische Uneindeutigkeit bei gleichzeitig möglicher kontradiktorischer Deutung sein, die Paulus zu der correctio in 2Kor 5,4b veranlasst hat. Sein vom hinfälligen Leib beschwertes „Seufzen“ kann ebenso, wie es Sokrates für den der Gesang der Schwäne ausführt, in einer für ihn vorteilhaften oder aber höchst unvorteilhaften Weise gedeutet werden. V. 4b dient der Absicherung gegen letztere. Was dabei der Sache nach auf dem Spiel steht, zeigt ein weiterer Blick in die Texte des II. Teils. Zunächst kann ouj qevlomen ejkduvsasqai als Ablehnung des Suizids gelesen werden: Die Last des irdisch-leiblichen Daseins ist für Paulus kein Grund aus dem Leben scheiden zu wollen. Seneca, der den Diskussionsstand des 1. Jh. am besten repräsentiert,254 befürwortet den Suizid dann, wenn der körperliche Verfall den Geist in einer Weise beeinträchtigt, dass nurmehr ein Dahinvegetieren möglich ist:255 Si inutile ministeriis corpus est, quidni oporteat educere animum laborantem? – „Wenn unbrauchbar für seinen Dienst der Körper ist, warum sollte es nicht nötig sein, ins Freie zu führen die leidende Seele?“ Wenn dagegen die Beschwerden des Körpers in einem zumutbaren Rahmen bleiben, si modo mens sine iniuria est et integri sensus animum iuvant nec defectum et praemortuum corpus est, „wenn nur der Geist ohne Beeinträchtigung ist, unversehrt die Sinne die Seele unterstützen und nicht entkräftet und fast schon tot der Körper ist“ (EpMor. 58,33), dann ist kein rechtmäßiger Grund gegeben, aus dem Leben zu scheiden. Wenn körperliche Schmerzen nicht übermäßig stark sind, kann ein gefestigter Charakter sie ertragen: Morbum morte non fugiam, dumtaxat sanabilem nec officientem animo. non afferam mihi manus propter dolorem: sic mori vinci est, – Vor einer Krankheit werde ich nicht mit Hilfe des Todes fliehen, solange sie heilbar und nicht beeinträchtigt die Seele. Nicht werde ich Hand an mich legen wegen des Schmerzes: So zu sterben heißt unterliegen (58,36).

Der Vergleich mit Seneca, EpMor. 58 besagt nicht, das Paulus V. 4b als Ablehnung des Suizids verstanden wissen wollte, doch liefert uns dieser Text einen Anhaltspunkt für einen möglichen Problemhorizont, in welchen antike Rezipienten die Aussage ouj qevlomen ejkduvsasqai eingeordnet haben können. Wir kommen der Interpretation von 2Kor 5,4b als bloßer Willensäußerung noch näher, wenn wir die paulinische Aussage nicht als Ablehnung 254 255

Vgl. dazu Benz, Todesproblem 74f; Ebeling, Selbstmord 495. S.o. S. 199.

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des Suizids, sondern als Distanzierung von einer habituellen Todessehnsucht auffassen. Hierzu finden wir bei Epikur, Seneca und Martial aufschlussreiche Kommentare. (a) Epikur unterzieht den als Lebenshaltung gepflegten Wunsch zu sterben scharfer Kritik.256 Wer dauernd betont, er wolle sterben, gleichwohl aber keine Anstalten macht, aus dem Leben zu scheiden, gibt damit zu verstehen, dass er sein Leben so unerträglich offenbar nicht findet, und macht sich eitler philosophischer Koketterie verdächtig, die dem Ernst des Themas nicht angemessen ist: polu; de; ceivrwn kai; oJ levgwn: kalo;n mh; fu`nai, fuvnta dÆ o{pw~ w[kista puvla~ ÆAivdao perh`sai. eij me;n ga;r pepoiqw;~ tou`tov fhsin, pw`~ oujk ajpevrcetai ejk tou` zh`n; ejn eJtoivmwó ga;r aujtw`æ tou`tÆ ejstivn, ei[per h\n bebouleumevnon aujtw`æ bebaivw~: eij de; mwkwvmeno~, mavtaio~ ejn toi`~ oujk ejpidecomevnoi~. – Noch viel schlimmer steht es mit dem, der sagt: ,Das beste ist, nicht geboren zu sein – wenn man aber geboren ist, so eilig als möglich zu den Toren des Hades zu streben.‘ Wenn er das nämlich aus Überzeugung sagt, warum scheidet er dann nicht aus dem Leben? Dies steht ihm ja frei, wenn er wirklich zu einem festen Entschlusse gekommen ist. Wenn es aber bloßer Spott ist, so ist es ein einfältiger Spott bei Dingen, die Spott nicht vertragen (adMen. 127f).

(b) Auch für den Stoiker Seneca257 zeugt der ständig wiederholte und öffentlich kund getane Todeswunsch von einem unernsten Charakter. Da dieser Wunsch durch den Suizid grundsätzlich erfüllbar ist, gibt es, wenn er denn ernst gemeint ist, keinen Grund, ihn nicht sofort in die Tat umzusetzen. Jedes Zögern, vollends aber eine habitualisierte Todessehnsucht ist nichts weiter als das Mitleid heischende Gebaren einer „schwachen Seele“ (inbecilla mens): Nihil mihi videtur turpius quam optare mortem. nam si vis vivere, quid optas mori? sive non vis, quid deos rogas quod tibi nascenti dederunt? nam ut quandoque moriaris etiam invito positum est, ut cum voles in tua manu est; alterum tibi necesse est, alterum licet. turpissimum his diebus principium diserti mehercules viri legi: itaque, inquit, quam primum moriar. homo demens, optas rem tuam. ita quam primum moriar. fortasse inter has voces senex factus es; alioqui quid in mora est? [...] ita quam primum moriar: quam primum, istud quid esse vis? quem illi diem ponis? citius fieri quam optas potest. inbecillae mentis ista sunt verba et hac detestatione misericordiam captantis: non vult mori qui optat. – Vollends scheint mir nichts schimpflicher, als den Tod zu wünschen. Denn wenn du leben willst, was wünschst du zu sterben? Oder wenn du es nicht willst, was bittest du die Götter um etwas, das sie dir bei der Geburt gegeben haben? Denn dass du irgendwann einmal stirbst, ist dir auch gegen deinen Willen gesetzt; dass du stirbst, wann du willst, liegt in deiner Hand. Das eine ist für dich unausweichlich, das andere steht dir frei. Einen überaus empörenden An256 257

S.o. S. 181. S.o. S. 201f.

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fang habe ich in diesen Tagen bei einem, weiß Gott, wortgewandten Mann gelesen. ‚So‘, sagt er, ‚möchte ich möglichst bald sterben.‘ Verrückter Mensch, du wünschst dein Eigentum. ‚So möchte ich möglichst bald sterben.‘ Vielleicht bist du unter diesen Worten ein alter Mann geworden: Was sonst ist denn ein Hindernis? [...] ‚So möchte ich möglichst bald sterben.‘: Dieses ‚möglichst bald‘, was soll es sein? Welchen Termin setzt du dir? Schneller kann er kommen, als du wünschst. Einer schwachen Seele Worte sind das, die mit dieser Verwünschung nach Mitleid hascht: nicht will sterben, wer es wünscht (EpMor. 117,22–24).

(c) Martial verhöhnt im 56. Epigramm des 11. Buches den Stoiker Chairemon, weil dieser „den Tod gar zu sehr lobt.“ Ob er denn dafür bewundert werden wolle, fragt er ihn spöttisch: vis animum mirer suspiciamque tuum?, „willst du, dass ich deinen Mut deshalb bewunder und bestaun?“ Wie Epikur und Seneca stößt sich Martial offenbar an einer Todessehnsucht, die mit philosophischem Gestus zur Schau gestellt wird. Er entlarvt sie als geistig verbrämtes Hungerleidertum und äußert die Vermutung, sie würde sich rasch von selbst erledigen, wenn der Philosoph materiell nur besser dastünde. Dass den Tod wünscht, wer ein armseliges Leben lebt, ist nicht der Rede wert. Anerkennung verdient dagegen, wer sein Los akzeptiert, ohne viel Aufhebens darum zu machen: rebus in angustis facile est contemnere vitam / fortiter ille facit qui miser esse potest, „Ist man in Not, ist es leicht, das Leben nicht weiter zu achten / Tapfer nur handelt, wer still Elend zu tragen vermag.“ Die Übersetzung („still [...] zu tragen“) interpretiert an dieser Stelle, doch mit richtigem Gespür für das Gemeinte: Tapferkeit äußert sich nicht in zur Schau gestellter Todessehnsucht, sondern in einer Lebenshaltung, die zu ertragendes Leid nicht ständig nach außen kehrt.258 Die Textbeispiele aus Epikur, Seneca und Martial thematisieren das Todesproblem ausschließlich auf der Ebene der charakterlichen Disposition. Daran, wie jemand zu Sterben und Tod sich verhält, werden wesentliche Merkmale seiner Persönlichkeit kenntlich. Auf diesem Hintergrund wird nicht nur 2Kor 5,4b als Ausdruck einer bloßen Willenskundgebung verständlich, ganz unabhängig von der Frage, wie nahe Paulus seinen eigenen Tod wähnt, sondern es erhält gerade auch die negative Formulierung ouj qevlomen ejkduvsasqai ein eigenes Gewicht. Paulus will sein eigenes Todesverständnis dahingehend präzisieren und gegen eine für ihn nachteilige Deutung absichern, dass er sich von einer negativ konnotierten Todessehnsucht distanziert.

258 Nicht von ungefähr gilt deshalb schon die sokratische Auffassung in Phaid. 64a (die wahren Philosophen sind solche, die „nach gar nichts anderem streben als nur zu sterben und tot zu sein“, oujde;n a[llo aujtoi; ejpithdeuvousin h] ajpoqnhvæskein te kai; teqnavnai), nur mit einer entscheidenden Einschränkung: „ohne dass es freilich die anderen merken“ (lelhqevnai tou;~ a[llou~).

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2.5 Ein Bekenntnis zum Leben angesichts des Todes (V. 4c) Wir wenden uns nun dem i{na-Satz V. 4c zu. Die Finalkonstruktion macht deutlich, dass es Paulus hier noch immer um die Explikation seines „Wollens“ geht,259 und nur insofern auch um eine Beschreibung dessen, wie das ejpenduvsasqai sich vollzieht. Das Verschlungenwerden des Sterblichen vom Leben interessiert Paulus als die gewünschte Folge des ejpenduvsasqai. Dass es auch die zu erwartende Folge ist, geht selbst aus V. 5 nicht hervor, weil hier nicht von einer Vergewisserung des in V. 4c Ausgesagten durch den Hinweis auf den Geist die Rede ist.260 Wäre es Paulus in V. 4c darum gegangen, den Vorgang der Erlösung in einer Weise zu beschreiben, die anderslautende soteriologische Vorstellungen ausschließen soll,261 wäre mindestens ein Konsekutivsatz zu erwarten. So aber hängt noch alles am Hauptverb qevlomen in V. 4b. Unzweifelhaft erinnert die Terminologie an 1Kor 15,54f. Doch kann kaum von mehr als von einer Anspielung die Rede sein. Als Selbstzitat, das den in 1Kor 15 erzielten Erkenntnisfortschritt auch für 2Kor 5 sichern soll, kann 2Kor 5,4c keinesfalls gelten. Dazu ist die Basis der terminologischen Gemeinsamkeiten (qnhtovn, katapivnw) zu schwach.262 Außerdem ist die Aussage in 2Kor 5,4c gegenüber 1Kor15,54 leicht verschoben.263 Dass Paulus mit Termini arbeitet, die er auch in 1Kor 15,54 verwendet hat, beantwortet noch nicht die Frage nach Sachgehalt und Argumentationsfunktion von 2Kor 5,4c im Kontext von 2Kor 5,1ff. Zwar ist anzunehmen, dass Paulus bei jenem „Verschlungenwerden des Sterblichen vom Leben“ wie in 1Kor 15,43 der Sache nach an ein Geschehen dachte, das sich bei der Parusie ereignet, doch ist die Formulierung zu undeutlich, als dass man die Aussageabsicht von V. 4c in dieser Richtung suchen könnte. Es liegt Paulus offenbar auch in V. 4c nichts daran, den Zeitpunkt des Erlösungsgeschehens auf die Parusie zu fixieren264 bzw. den in V. 4c benannten Modus der 259 Dies gilt auch dann, wenn i{na wie in Mk 4,12 ein Schriftzitat bzw. eine Anspielung auf ein solches (Jes. 25,8) einführen sollte (Lambrecht, Vie 359). Sowohl in Mk 4 wie auch in 2Kor 5 indiziert das i{na jedenfalls eine finale Aussage, nicht eine verkürzte Schrifterfüllungsformel (Mt 1,22 u.ö.: i{na plhrwqh`æ to; rJhqevn ktl; Joh 15,25: i{na plhrwqh`æ oJ lovgo~ ktl). 260 Zur Begründung s.u. unter III.2.6. 261 Diese Deutung vertritt am prononciertesten Schottroff (s.o. S. 18). 262 So m.R. Lambrecht, Vie passim. 263 In 1Kor 15 spricht Paulus davon, dass das Sterbliche „Unsterblichkeit anzieht“, in 2Kor 5 dagegen davon, dass das Sterbliche „vom Leben verschlungen“, d.h. offenbar vernichtet wird. Sodann wird in 1Kor 15 der „Tod“ verschlungen, nicht „das Sterbliche“, und dies auch nicht „vom Leben“, sondern „in den Sieg“. 264 V. 4c hat denn auch keinen Ausleger, der in 2Kor 5,1–10 eine gegenüber 1Thess 4 und 1Kor 15 gewandelte, nunmehr konsequent auf den individuellen Tod ausgerichtete Eschatologie gefunden hat, von seiner Interpretation abgehalten. So hat etwa Windisch wie kaum ein anderer den Parusiebezug gesehen, der dem Wortlaut von 2Kor 5,4c eigentlich anhaftet, und dennoch

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Erlösung auf die Gruppe derer einzugrenzen, die die Parusie erleben.265 Lietzmann hat zwar mit Nachdruck betont, dass das in 2Kor 5,4c verwendete Bildfeld nur dann passt, „wenn über den noch als Kleid der PneumaSeele vorhandenen irdischen Leib der neue himmlische wie ein Gewand übergezogen wird [...] und ihn dann verzehrt, so dass er nicht mehr existiert.“ Dagegen passe es „nicht für die Vorstellung, dass der irdische Leichnam auf dem Totenbett liegen bleibt, während die Seele (d.h. das Pneuma des Christen) ihn verlässt und einen neuen Leib empfängt.“266 Es ist jedoch fraglich, ob das Bild derart gepresst werden darf. Dies gilt schon für 1Kor 15,54: Dass das Vergängliche Unvergänglichkeit „anzieht“, würde der Logik des Bildes zufolge ja bedeuten, dass das Vergängliche erhalten bleibt wie ein Leib, der mit einem Gewand „bekleidet“ wird. Dies kann aber (allein schon wegen 1Kor 15,50b) nicht gemeint sein.267 Auch 2Kor 5,4c muss nicht notwendigerweise als realistische Beschreibung des Erlösungsvorgangs bei der Parusie verstanden werden. Es wird sich vielmehr einfach um eine Metapher für die Totalität der Erlösung handeln (s.u.). Die häufig angeführte religionsgeschichtliche Parallele vom „Nessusgewand, das mit seiner Lebensflamme die alte Körperlichkeit verzehrt“268 ist so suggestiv wie anschaulich, doch muss offen bleiben, ob Paulus sich den Vorgang der Verwandlung tatsächlich in dieser Weise konkret vorgestellt hat. Eine derart realistische Vorstellung ergibt sich erst durch die religionsgeschichtliche Parallele, noch nicht durch den Wortlaut von 2Kor 5,4c selbst: „Verschlungen“ wird doch das Abstraktum to; qnhtovn, nicht to; qnhtovn sw`ma, und logisches Subjekt des Verschlingens ist auch nicht das himmlische Gewand, sondern die zwhv.269 Zudem evoziert das Bild vom „Bekleidetwerden“ des Sterblichen in 1Kor 15,54 noch nicht die Vorstellung von dessen Vernichtung, und in 2Kor 5,4c scheint sich diese Konnotation eher beiläufig durch die paradoxe Junktur von „Sterblichem“ und „Leben“ ergeben zu haben. Dieser scheint auch der Begriff der zwhv geschuldet, der weder in 1Kor

konnte er die Aussage im Zusammenhang von 2Kor 5,1ff auf den individuellen Tod vor der Parusie beziehen (s.u. Anm. 300). 265 So aber Bultmann, 2Kor 140: „Dass das die Sehnsucht nach der Parusie ist, macht der i{naSatz deutlich“; Barrett, 2Kor 156: Paul is thinking of those who are still living when the parousia takes place“, Hughes, 2Kor 172; Klauck, 2Kor 50 u.a. 266 2Kor 119. 267 Darauf hat schon Mundle, Problem 103 hingewiesen. 268 Windisch, 2Kor 163. Vgl. auch Plummer, 2Kor 146: „the former [d.i. das Himmelshaus/gewand] comes over the latter [d.i. das „Zelt“] and extinguishes and absorbs it.“ 269 Vgl. auch Hoffmann, Toten 274: „Der Vergleich mit dem Nessusgewand kann nur als eine moderne Veranschaulichung gewertet werden, für Paulus lässt sich diese Vorstellung nicht nachweisen. Wir wissen nicht, wie er sich die Einzelheiten des Verwandlungsaktes vorgestellt hat.“ Berechtigt sind auch die Einwände, die Baumert, Sterben 172 gegen eine realistische Interpretation des ejpenduvsasqai und des Finalsatzes V. 4c vorgebracht hat.

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15,54 noch in Jes 25,8 vorkommt und in 2Kor 5,4c als Oppositum zu to; qnhtovn fungiert. Der Parusiebezug kann für 2Kor 5,4c zwar vorausgesetzt werden, doch dürfte die Aussageabsicht des Versteils nicht darin bestehen, die Bekleidungsmetaphorik von V. 4b als einen für die Parusie zu erwartenden Vorgang kenntlich zu machen. Bultmann ist an dieser Stelle unklar. Der Finalsatz „macht deutlich“, notiert er, dass sich im qevlein von V. 4b „die Sehnsucht nach der Parusie“ äußert.270 Ist damit s.E. aber bereits die paulinische Mitteilungsabsicht ermittelt? Spätere Vertreter des polemischen Auslegungstyps haben auch V. 4c eine Rolle in der polemischen Argumentation zugewiesen. Nach Schmithals will Paulus mit dem Bild vom „Verschlungenwerden“ des Sterblichen ebenso wie mit der Metapher vom „Überkleidetwerden“ klarstellen, dass „kein Moment der Nacktheit, d.h. der Nichtexistenz, zwischen dem irdischen und dem himmlischen Leben [liegt].“271 Auch Schottroff, der sich neuerdings Kuschnerus angeschlossen hat,272 versteht das katapivnesqai als Verdeutlichung des ejpenduvsasqai. Gegen die dualistische Option des ejkduvsasqai, des Ablegens der sterblichen Natur, wolle Paulus betonen, dass das Sterbliche „verschlungen“, mithin „ins Heil einbezogen“ wird.273 Ähnlich interpretiert Wünsch: Paulus gehe es um den Aufweis „einer[r] Kontinuität zwischen der gegenwärtigen, bedrängten irdischen Existenz und einer erwarteten zukünftigen.“274 Die Frage ist jedoch, ob die Metapher vom „Verschlungenwerden“ des Sterblichen leistet, was ihr damit aufgebürdet wird. Das Bild des „Verschlingens“ kann zwar positiv im Sinne von „in sich Aufnehmen“ verstanden werden, weitaus häufiger, zumal im Septuagintagriechisch,275 ist jedoch die negative Bedeutung völliger Vernichtung. Die Metapher bezeichnet dann „einen totalen, Endgültiges setzenden Vorgang, und zwar im negativen Sinne einer feindlichen Vernichtung.“276 Wolff dürfte deshalb richtig liegen, wenn er in V. 4c die „totale Beseitigung des Sterblichen durch das Auferstehungsleben“ ausgesagt findet.277 Dies aber ist der angenommenen antidualistischen Tendenz der paulinischen Argumentation nicht eben förderlich. Die Zurückhaltung Bultmanns, V. 4c in den (vermeintlichen) polemischen Duktus der umliegenden Verse einzuordnen, kommt deshalb nicht von ungefähr.

270

Bultmann, 2Kor 140. Schmithals, Gnosis 228. 272 Kuschnerus, Gemeinde 292. 273 Schottroff, Gaubende 149. 274 Wünsch, Brief 266. 275 Goppelt, pivnw 158f. 276 Goppelt, pivnw 159. 277 Wolff, 2Kor 111. So auch Gillman, Comparison 453: „‚To swallow up‘ suggests elimination“; Zeilinger, 2Kor 221: „Verschlungen- ja Vernichtetwerden“. 271

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Die Kontextfunktion des Finalsatzes dürfte vielmehr darin bestehen, dass Paulus die positive Ausrichtung seines „Wollens“ inmitten der Hinfälligkeit und Beschwerlichkeit seines leibliches Daseins nochmals betont: Er will nicht dem Leben durch den Tod entfliehen, sondern umgekehrt durch den Tod hindurch ein unzerstörbares Leben gewinnen. Es dürfte Paulus nicht um den antidualistisch zugespitzten Modus des Heilsgewinns gehen, sondern um eine klare „Stellungnahme“, wo er seine eigene Haltung innerhalb des Antagonismus von Leben und Tod positioniert: Sie ist konsequent am Sieg des Lebens orientiert. Auffällig sind hierbei die paradoxe Formulierung und das Achtergewicht des gegenüber 1Kor 15,54 neuen Terminus zwhv. Wenn wir die Formulierung einmal nicht auf ihre Implikationen für die materialen Probleme paulinischer Eschatologie hin befragen, was sich als hypothetisch genug erwiesen hat, sondern wiederum auf der Textoberfläche als Explikation des voluntativen Aspekts paulinischen Todesverständnisses, finden wir in den Texten zur antiken ars moriendi aufschlussreiche stilistische Parallelen. Diese betreffen (a) die paradoxe Formulierung und (b) die Schlussposition des Terminus zwhv. (a) Wo das Todesproblem Gegenstand philosophischer Reflexion ist, begegnen gelegentlich Aussagen, in denen sich das Gedachte zu formelartigen, thesenhaften, mit Vorliebe paradoxen Sätzen verdichtet. Hierzu zwei Beispiele: Bei Lukrez, Nat. 3,869 findet sich die Formulierung, dass es, „wenn der unsterbliche Tod hat das sterbliche Leben genommen“ (mortalem vitam mors cum inmortalis ademit), keinen Unterschied macht, ob man einmal gelebt hat oder nie geboren wurde.278 Die beiden in einem einzigen kurzen Satz verarbeiteten Oxymora vita mortalis und mors immortalis geben die epikureische Auffassung, dass man sich weder um die Länge seines Lebens, noch über das, was danach kommt, Gedanken machen muss, besonders pointiert und eingängig wieder. Noch näher an der paulinischen Formulierung ist Epikur, adMen. 124.279 Für Epikur „macht die rechte Einsicht, dass der Tod uns nichts angeht, die Sterblichkeit des Lebens genussreich“ (gnw`si~ ojrqh; tou` mhqe;n ei\nai pro;~ hJma`~ to;n qavnaton ajpolausto;n poiei` to; th`~ zwh`~ qnhtovn). Wieder ist es eine paradoxe Formulierung, die das Gemeinte prägnant zum Ausdruck bringt: to; th`~ zwh`~ qnhtovn. Gerade als etwas „Sterbliches“ kann das „Leben“ für den Epikureer zum Genuss werden. Die paulinische Aussage in 2Kor 5,4 ist mit den genannten Texten in stilistischer Hinsicht vergleichbar. Auch Paulus spitzt sein Todesverständnis in einer paradoxen, prägnant formulierten Aussage

278 279

S.o. S. 185. S.o. S. 180.

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zu: Im Sterben wird nicht der Tod das letzte Wort haben, sondern das Leben. (b) In einer Sterbeszene bei Josephus finden wir eine Formulierung, die der Aussage 2Kor 5,4c hinsichtlich der Schlussposition des Terminus zwhv vergleichbar ist. Josephus schildert in Bell. 1,271f den Tod von Herodes’ Bruder Phasaël, der sich der parthischen Gefangenschaft durch einen ehrenvollen Freitod entzieht.280 Als er im Sterben liegt, erfährt er, dass Herodes seinem hasmonäischen Rivalen Antigonos entkommen ist. Nun weiß er, dass sein Bruder ihn rächen wird, deshalb stirbt er guten Mutes. Josephus legt dem Sterbenden folgende Worte in den Mund: nu`n [...] eu[qumo~ a[peimi to;n meteleusovmenon tou;~ ejcqrou;~ katalipw;n zw`nta, „Jetzt gehe ich bereitwillig dahin, da ich lebend zurücklasse den, der meine Feinde bestrafen wird“ (Bell. 1,272). Die Partizipialkonstruktion to;n meteleusovmenon tou;~ ejcqrou;~ katalipw;n zw`nta bringt das wohlgemute Sterben Phasaëls rhetorisch wirkungsvoll zur Geltung: Dass sein Rächer lebt, ist das letzte und als solches hoffnungsvolle Wort dessen, der heldenhaft zu sterben versteht. In gleicher Weise qualifiziert der Ausblick auf die eschatologische zwhv in 2Kor 5,4c das vorbildliche Todesverständnis des Paulus. Mit der Phrase i{na katapoqh`æ to; qnhto;n uJpo; th`~ zwh`~ rückt er sein vom Streben nach dem Himmelsgewand motiviertes Seufzen unmissverständlich und unabweisbar in einen positiven Zusammenhang und macht damit nach der correctio in V. 4b nochmals deutlich, dass nicht Todessehnsucht, sondern die gewisse Hoffnung auf ein unzerstörbares Leben sein beschwerliches Dasein im irdischen Leib bestimmt. Das Umgekehrte würde derjenige erstreben, der sich nach dem ejkduvsasqai sehnt: dass das (qua stenavzein ejn tw`æ skhvnei beschwerliche) Leben vom Tod verschlungen wird. Paulus will betonen, dass bei ihm das dezidierte Gegenteil der Fall ist. Mit der Deutung des „Verschlungenwerdens“ als Aussage über den spezifischen Modus des Heilsgewinns durch Vertreter des polemischen Auslegungstyps dürfte demgegenüber eine Verzeichnung des Aussage vorliegen: Es geht nicht um das „Wie“ der Überwindung des Sterblichen, sondern um das „Wer“ im Antagonismus von Leben und Tod, darum nämlich, wer wen besiegt. Paulus präsentiert sich seinen Adressaten als derjenige, der am eschatologischen Sieg der zwhv partizipiert.

280

S.o. S. 122.

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2.6 Die Ermächtigung zu einem positiven Todesverständnis durch Gott (V. 5) Wir haben V. 4 aufgefasst als Explikation des paulinischen Todesverständnisses, nicht als Aussage über den Zeitpunkt oder Modus eschatologischer Heilsvollendung, auch nicht als Polemik oder Kritik einer nach paulinischer Auffassung falschen Anthropologie. Paulus will deutlich machen, dass er trotz seines mühseligen und beschwerlichen Daseins im Leib nicht danach trachtet, diesem Dasein durch den Tod zu entgehen. Vielmehr ist sein Wollen (qevlein) im Blick auf den Tod positiv bestimmt von der Erwartung des Überkleidetwerdens mit dem himmlischen Gewand. Diese Interpretation, die die paulinische Aussage im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Ausleger nicht auf der Sachebene eschatologischer Lehraussagen, sondern auf der Ebene der subjektiven Haltung versteht, lässt sich mit guten Argumenten auch in V. 5 anwenden. Die entscheidende Weichenstellung für das Verständnis von V. 5 ist lexikalischer Natur: Es geht darum, ob die Wortbedeutung von katergasavmeno~ zunächst unabhängig vom personalen Objekt hJma`~ oder von vornherein im Zusammenhang mit diesem bestimmt werden muss. Die Bedeutung von katergavzesqai und damit der Sinn des ganzen Verses differiert, je nachdem, für welche Möglichkeit man sich entscheidet, ganz erheblich. Aktives katergavzesqai mit direktem personalen Objekt ist innerhalb des paulinischen Sprachgebrauchs ein Einzelfall. Das Verbum steht bei Paulus, wie Bachmann zutreffend feststellt,281 sonst immer mit sächlichem Objekt.282 katergavzesqai bedeutet in diesem Fall nach Liddell/Scott/Jones entweder (a) „effect by labour, achieve“ oder (b) „earn, gain by labour, acquire“283. Beispiele für erstere Bedeutung sind u.a. Röm 1,27 th;n ajschmosuvnhn katergazovmenoi, und Röm 2,9 ejpi; pa`san yuch;n ajnqrwvpou tou` katergazomevnou to; kakovn. An diesen und anderen Stellen bezeichnet das direkte Objekt im Akkusativ „unmittelbar das Produkt des Arbeitens selbst oder seinen Inhalt, also ‚das, was dabei herauskommt‘“.284 Zur zweiten Gruppe gehören z.B. Röm 4,15 oJ ga;r novmo~ ojrgh;n katergavzetai, 2Kor 4,17 to; ga;r parautivka ejlafro;n th`~ qlivyew~ hJmw`n

kaqÆ uJperbolh;n eij~ uJperbolh;n aijwvnion bavro~ dovxh~ katergavzetai hJmi`n, 2Kor 7,10 hJ ga;r kata; qeo;n luvph metavnoian eij~ swthrivan ajme281

Bachmann, 2Kor 232; ebenso Carrez, 2Kor 133. Röm 1,27: aijschmwsuvnh; 2,9: to; kakovn; 4,15: ojrghv; 5,3: uJpomonhv; 7,8: ejpiqumiva; 7,13: qavnato~; 7,15: o{J (neutrisches Relativum); 7,17: aujtov; 7,18: to; kalovn; 7,20: aujtov; 15,18 w|n (neutrisches Relativum); 1Kor 5,3: tou`to; 2Kor 4,17: bavro~ dovxh~; 7,10: qavnato~; 7,11: spoudhv; 9,11: eujcarisiva; 12,12: shmei`a; Phil 2,12: swthriva. 283 Liddel/Scott/Jones, Lexicon s.v. katergavzomai I,1.a.b. 284 Baumert, Sterben 346. 282

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tamevlhton katergavzetai (v.l.) und 2Kor 9,11 eij~ pa`san aJplovthta, h{ti~ katergavzetai diÆ hJmw`n eujcaristivan tw`æ qew`æ. Hier „werden die Objekte nicht von dem Wirken selbst hergestellt, sondern werden dadurch verdient, ver-schafft, erworben aus der Hand eines anderen; wenn man will: sie sind nicht Produkt, sondern Lohn für das Produkt.“285 Die angeführten Beispiele machen den Unterschied hinreichend deutlich: So ist etwa in 2Kor 4,17 das aijwvnion bavro~ dovxh~ nicht Werk oder Produkt der qli`yi~ – dessen Urheber ist vielmehr Gott –, sondern die qli`yi~ „verschafft“ Paulus die von Gott gewährte dovxa. Es leuchtet nun sofort ein, dass oJ de; katergasavmeno~ hJma`~ [...] qeov~ in 2Kor 5,5 zu keiner der beiden Möglichkeiten passen will. Weder „verschafft“ „uns“ Gott irgendwem, noch sind „wir“ (=Paulus) im strengen Sinne als „Werk“ oder „Produkt“ des göttlichen „Schaffens“ im Blick.286 Die Kommentatoren nehmen deshalb in der Regel einen von Bedeutung (a) abgeleiteten Wortsinn an, etwa „Herrichten“, „Vorbereiten“, „Zurüsten“ u.ä. Nun gibt es aber für diese Bedeutung von katergavzesqai offenbar keine Belege. Bei Bauer/Aland ist unter katergavzomai tina ei[~ ti in der Bedeutung „jemanden zu etwas instand setzen“ nur die Stelle 2Kor 5,5 aufgeführt, und darüber hinaus wird lediglich vergleichsweise auf Herodot, Hist. 7,6,1 und Xenophon, Mem. 2,3,11f verwiesen. Die beiden Stellen geben die bei Bauer/Aland vorgeschlagene und sinngemäß auch von den allermeisten Auslegern vertretene Übersetzung aber nicht her: Bei Herodot geht es darum, dass Mardonios, Cousin und Berater des jungen Xerxes, den Perserkönig zu einem Feldzug gegen Griechenland bewegen will. 285

Baumert, Sterben 346. Es sei denn, man versteht katergavzesqai als göttlichen Schöpfungsakt, so die griechische Väterexegese, die das Verbum von der ersten Schöpfung her im Sinne von plavvttein, dhmiourgei`n, oijkonomei`n oder poiei`n aufgefasst hat (Baumert, Sterben 347). Ein Beispiel ist Johannes Chrysostomus, ResMort. 50,430 ïO de; katergasavmeno~ hJma`~ eij~ aujto; tou`to Qeov~. 286

ÕO de; levgei tou`tov ejstin: ÆEx ajrch`~ dia; tou`to to;n a[nqrwpon e[plasen, oujc i{na ajpovlhtai, ajllÆ i{na pro;~ ajfqarsivan oJdeuvh,æ d.h. Gott hat den Menschen „dazu“ (eij~ aujto; tou`to) geschaffen, dass er unvergänglich sei. Doch ist katergavzesqai schwerlich Schöpfungsterminolo-

gie, wie überhaupt der Schöpfungsgedanke sich im Zusammenhang als ziemlich weit hergeholt, mithin als Notlösung ausnimmt. Dasselbe gilt für den Gedanken der „Urbestimmung zur körperlichen Doxa“ (kritisch m.R. Prümm, 2Kor 289) und der Neuschöpfung (so aber Plummer, 2Kor 149: „it refers rather to the kainh; ktivsi~, to our regeneration, as what follows shows“). Immerhin stellt die schöpfungstheologische Deutung von katergasavmeno~ in Rechnung, dass das so bezeichnete Handeln bei sächlichem Objekt in der Regel etwas „schafft“ oder „bewirkt“, nicht etwas schon bestehendes „bearbeitet“ oder „(für etwas vor)bereitet“. Zu zwei Septuagintastellen, auf die sich Furnish, 2Kor 271 mit Bertram, katergavzomai 636 beruft, nämlich Ex 15,17 und Ps 67,29, vgl. Thrall, 2Kor 383 Anm. 1357: „In Exod 15.17 the sense could be ‚create‘, whilst in Ps 67(LXX).29 the idea is that of wielding power.“ Thrall selbst (2Kor 383 Anm. 1357) entscheidet sich für die Bedeutung „schaffen“ (create), in der Erwägung, dass „[t]he sense ‚prepare‘ is poorly attested.“ In diese Richtung weist auch der Hinweis Plummers, 2Kor 149, dass in der lateinischen Überlieferung für katergavzesqai „nowhere does instruere, praeparare, disponere, concinnare or elaborare seem to be used.“ Üblich sind vielmehr Termini wie operari, facere, perficere u.ä.

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Schließlich hat er damit Erfolg: Crovnwó de; katergavsatov te kai; ajnevpeise Xevrxhn w{ste poievein tau`ta, „nach einiger Zeit aber bewegte und überredete er Xerxes dazu, dies zu tun.“ Der Perserkönig wird hier nicht physisch zu etwas „befähigt“ oder „instandgesetzt“, sondern „überredet“. Das katergavzesqai des Mardonios zielt auf das Wollen des Königs, um ihn dazu zu bringen, etwas bestimmtes zu tun. Dasselbe gilt für die Xenophon-Stelle. Sokrates fragt seinen Dialogpartner Chairekrates: Levge dhv moi [...] ei[

tina tw`n gnwrivmwn bouvloio katergavsasqai, oJpovte quvoi, kalei`n se ejpi; dei`pnon, tiv a]n poioivh~É – „Sage mir doch, wenn du einen der Ange-

sehenen dazu bewegen wolltest, dich, wenn er ein Opferfest feiert, zum Mahl einzuladen, was würdest du tun?“, und die Antwort lautet: Dh`lon o{ti katavrcoimÆ a]n tou` aujtov~, o{te quvoimi, kalei`n ejkei`non, „Klar ist, dass ich meinerseits anfinge, jenen, wenn ich ein Opferfest feierte, einzuladen.“ Auch hier richtet sich das katergavsasqai nicht auf eine Befähigung, sondern wiederum auf seinen Willen. Es geht nicht darum, den Würdenträger zu etwas zu befähigen, sondern ihn sich geneigt zu machen. Die beiden bei Bauer/Aland genannten Stellen sind also nicht geeignet, die Bedeutung „jemanden zu etwas instand setzen“ für katergavzomai tina ei[~ ti zu stützen.287 Beide Belege gehören vielmehr zu einer anderen Untergruppe, in der katergavzomai stets mit dem Akkusativ der Person steht und ein Handeln meint, das auf das Wollen und Tun einer Person gerichtet ist. Liddell/Scott/Jones übersetzen mit „prevail upon“,288 Menge mit „jemanden gewinnen oder auf seine Seite bringen, willig machen, zu etwas bringen oder bewegen“.289 Mit katergavzesqai ist dann kein „realistischer“290 Vorgang bezeichnet, sondern gewissermaßen ein kommunikativer. Die Exegese war und ist indes zumeist so einseitig auf die „Realien“ von 2Kor 5,1–10 fixiert, dass diese Interpretation bisher so gut wir keine Rolle gespielt hat. Eine der wenigen Ausnahmen stellt von Hofmann dar, der die Berücksichtigung des personalen Akkusativobjekts hJma`~ für die Interpretation des Partizips katergasavmeno~ wie auch für das Verständnis des eij~ aujto; tou`to angemahnt hat. Von diesem Verbum gilt, so von Hofmann, dass es

287 Auch der Hinweis bei Windisch, 2Kor 164 auf Epiktet, Diss. 3,24,63 diÆ oujdevna de; proshvkei dustucei`n, ajlla; eujtucei`n dia; pavnta~, mavlista de; dia; to;n qeo;n to;n ejpi; tou`to hJma`~ kataskeuavsanta, „Es gebührt sich nicht, wegen jemandes unglücklich zu sein, sondern

glücklich zu sein wegen aller, besonders aber Gottes wegen, der uns dazu bereitet hat“ trägt nicht, denn hier ist der für 2Kor 5,5 mehrheitlich angenommene Gedanke zwar der Sache nach ausgesagt, aber hier steht nun einmal nicht katergasavmenon, sondern kataskeuavsanta. 288 Liddel/Scott/Jones, Lexicon s.v. katergavzomai I,2.c. 289 Menge, Großwörterbuch 379, s.v. katergavzomai 2.b. 290 So Bachmann, 2Kor 232 in zutreffender Charakterisierung der gängigen Interpretation.

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nun einmal, mit einem Accusativus der Person verbunden, die Bedeutung nicht hat, die man ihm giebt, wenn man es von einem Erschaffen oder Fertigmachen für die ersehnte Ueberkleidung oder Verklärung versteht. Ueberall, wo es die Benennung eines damit erreichten Zwecks [...] bei sich hat, ist es so viel, als einen dahin bringen, daß er etwas thut.291

Geht man im Einklang mit dem lexikalischen Befund von dieser Bedeutung aus, dann ergibt sich von selbst ein Anhaltspunkt für die Frage, worauf eij~ aujto; tou`to zu beziehen ist,292 nämlich auf einen Vorgang oder Sachverhalt, in dem Paulus handelndes Subjekt ist, und nicht etwa Objekt des göttlichen Heilshandelns. Letzteres wäre der Fall, wenn eij~ aujto; tou`to auf ejpenduvsasqai in V. 4b referierte, oder auf das „Verschlungenwerden“ des Sterblichen vom Leben in V. 4c.293 Diese beiden Möglichkeiten müssen also ausscheiden. Dagegen ist Paulus grammatisch betrachtet handelndes Subjekt in V. 4a in o[nte~ ejn tw`æ skhvnei und stenavzomen, sowie im regierenden Verb qevlomen in V. 4b. Die Partizipialkonstruktion o[nte~ ejn tw`æ skhvnei dürfte indes wegen des großen Abstandes zu V. 5 kaum in Frage kommen, aber auch deshalb nicht, weil sie dem Prädikat stenavzomen syntaktisch wie sachlich untergeordnet ist, der Rückverweis eij~ aujto; tou`to in V. 5 aber, wie von Hofmann zu Recht fordert, auf die „Hauptsache“ von V. 4 bezogen werden muss.294 Diese Hauptsache ist aber nach unserer Interpretation von V. 4 nicht das „Seufzen“, sondern das in V. 4b negativ wie positiv determinierte qevlein des Paulus im Blick auf den Tod: Gott selbst hat Paulus dazu gebracht, nicht am Leben zu verzweifeln und es ob seiner Beschwernis 291

Von Hofmann, 2Kor 130. Thrall, 2Kor 382 geht den umgekehrten Weg, wenn sie zuerst nach dem Bezug von eij~ aujto; tou`to fragt und nur in zweiter Linie nach der Wortbedeutung des Partizips katergasavmeno~. Doch zu Unrecht, denn hierbei wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre, augenscheinlich aber nicht zu beweisen ist, dass nämlich das personale Objekt hJma`~ als Sonderfall des bei Paulus üblicherweise sächlichen behandelt werden kann. 293 Meyer, 2Kor 134; Windisch, 2Kor 164; Hughes, 2Kor 174; Bultmann, 2Kor 140; Furnish, 2Kor 271. 294 Von Hofmann, 2Kor 130: „Auf die Hauptsache des vorigen Verses muss es gehen, nicht auf Nebensächliches.“ Für den paulinischen Sprachgebrauch wäre Röm 13,6 leitourgoi; ga;r qeou` eijsin eij~ aujto; tou`to proskarterou`nte~ zu vergleichen, doch ist die Stelle noch unklarer als 2Kor 5,5 (vgl. Cranfield, Romans 669). Röm 9,17 hilft nicht weiter, denn hier ist eij~ aujto; tou`to anaphorisch verwendet. Im NT kommt eij~ aujto; tou`to sonst nur noch in Eph 6,22 und Kol 4,8 vor, auch hier anaphorisch. Ein Rückverweis liegt dagegen Platon, Phaid. 115e to; mh; kalw`~ levgein ouj movnon eij~ aujto; tou`to plhmmelev~ vor. Hier ist anscheinend ein genauer syntaktischer Rückbezug überhaupt nicht gegeben, sondern die Wendung bezieht sich auf den Sachgehalt des größeren vorangehenden Kontextes seit 115c. Von Hofmann scheint also im Recht zu sein, wenn er rückverweisendes eij~ aujto; tou`to auf die „Hauptsache“ des Vorangegangenen bezieht, und nicht, wie Bachmann, 2Kor 232 es für den normalen Sprachgebrauch hält, „auf das nächstliegende“ (das wäre dann V. 4c, wozu sich Bachmann indes nicht entschließen will). Im klassischen Griechisch ist die Wendung ansonsten selten; in den späten Belegen, meist Kirchenvätertexten, ist sie in der Regel anaphorisch gebraucht (TLG-Recherche zu eij~ aujto; tou`to). 292

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wegzuwerfen (ejkduvsasqai), sondern, in diesem Leben ausharrend, dem Tod als einem Heilsereignis entgegen zu sehen (qevlomen ejpenduvsasqai). Auch von Hofmann versteht V. 5 in dieser Weise: Das, wozu Gott seinen Apostel „willig gemacht“ bzw. „bewegt“ hat, ist, „dass ihn die Beschwernisse des Lebens im irdischen Leibe nicht dazu bringen, seiner entledigt sein zu wollen.“ Vielmehr macht ihn die Gabe des Pneuma „stark, den Druck des irdischen Daseins ohne Verlangen nach dem Tode auszuhalten, so dass er nur nach der Verklärung verlangt.“295 Die Mitteilungsabsicht von V. 5 erschließt sich von dem emphatischen Verweis auf Gott als Geber des pneu`ma her:296 Das positive Todesverständnis, das Paulus für sich in Anspruch nimmt, schreibt er nicht seiner eigenen Leistung oder Veranlagung zu, sondern der Initiative Gottes. Gott selbst war es, der ihn durch die Gabe des Geistes zu der in V. 4 beschriebenen Haltung gebracht hat. Man wird mit der Feststellung nicht fehl gehen, dass in V. 5 der ganze Gedankengang seit V. 1 erstmals ein originäres paulinische Gepräge erhält: Der Sache nach geht es in V. 5 um nichts anderes als um die Ablehnung eines falschen Sich-Rühmens, bzw. positiv gesprochen um die Verwirklichung dessen, was Paulus schon in 1Kor 1,31 mit der Forderung oJ kaucwvmeno~ ejn kurivwó kaucavsqw in Worte gefasst hat und was innerhalb der Apologie des 2. Korintherbriefes am deutlichsten in 2Kor 3,5 zum Ausdruck kommt. Während antike ars moriendi ein positives Todesverständnis zu den Vorzügen eines respektablen Charakters rechnet, weiß sich Paulus hierin von Gott abhängig, der ihn durch das pneu`ma allererst zu einem solchen Verständnis gebracht hat. Ist V. 5 damit in seiner Mitteilungsabsicht recht verstanden, passt zu katergavzesqai durchaus auch das persuasive Element, das in einem der o. g. Textbeispiele vorliegt (vgl. katergavsatov te kai; ajnevpeise in Herodot, Hist. 7,6,1),297 aber auch der Aspekt des Überlistens, der in Xenophon, Mem. 2,3,11f anklingt. Im katergavzesqai Gottes scheint dementsprechend das Moment der „sanften Gewalt“ mitzuschwingen: Gott überwindet das natürliche menschliche Empfinden, das angesichts des beschwerlichen leiblichen Daseins nur zu leicht am Le295

Von Hofmann, 2Kor 130. Anders Borse, Jenseitserwartung 133f, der einen Bezug auf die als eigenständige Aussage interpretierte Negation ouj qevlomen ejpenduvsasqai sieht: „Durch das Angeld des Geistes hat Gott uns dafür zubereitet, dass wir dem belastenden und widerstrebenden Gedanken, im Tode das irdische Zelt verlassen zu müssen, zuzustimmen vermögen.“ Aber wo sagt Paulus etwas über diese vermeintliche geistgewirkte Zustimmung zu einem angstbesetzten Sterbenmüssen? Das Pneuma bewirkt kein Sich-Schicken in die Todesfurcht, sondern es wehrt dem Lebensverdruss. 296 Hier wie in 1,21 und 4,6 ist qeov~ Prädikativum, oJ de; katergasavmeno~ ist Subjekt. Das attributive Partizip oJ douv~ ist eine Näherbestimmung Gottes als des katergasavmeno~: „Der uns aber dazu gebracht hat, ist (der bekannte) Gott, insofern er uns gegeben hat“ (Baumert, Sterben 217). 297 Von Hofmann, 2Kor 130 meinte, dies als dem Wortsinn von 2Kor 5,5 zuwiderlaufend ansehen zu müssen. Dagegen hat Baumert, Sterben 349 diesen Aspekt m.R. hervorgehoben.

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ben verzweifelt, wenn er Paulus durch das pneu`ma als einem schon hier und jetzt erfahrbaren Vorgeschmack der künftigen Erlösung dazu bringt, dass er nicht das Leben wegwerfen, sondern einzig das Heil erlangen will. Das persuasive Element liegt darin, dass Gott das pneu`ma als Mittel gegen den Lebensverdruss als natürliche Reaktion auf die Beschwernisse eines mühseligen Dasein aufbietet.298 Mit der Wahl des Verbums katergavzesqai verleiht Paulus also dem Gedanken, dass sein positives Todesverständnis nicht seine eigene Leistung ist, zusätzliches Profil.299 Wir blicken an dieser Stelle nochmals auf V. 4b zurück. Wenn es zutrifft, dass das von Gott gewirkte katergavzesqai auf das qevlein des Paulus im Blick auf den Tod zu beziehen ist, dann ergibt sich hieraus ein weiteres Argument gegen die Interpretation des ouj qevlomen ejkduvsasqai als Ausdruck von Todesfurcht. Es ist nämlich schwerlich vorstellbar, dass Paulus die Wirkung des pneu`ma in einem Widerwillen gegen den Tod sieht, gar einem Widerwillen, der, wie es sich aus dem Zusammenhang mit V. 4a ergäbe, den Rang einer Grundkonstante christlicher Existenz erhält. Zwar geht unsere Deutung von V. 5 tendenziell durchaus in eine vergleichbare Richtung, dergestalt, dass das pneu`ma ein Einverständnis mit der beschwerlichen Situation des „Seins im Zelt“ evoziert, doch ist der Affekt der Todesfurcht, wie wir gezeigt haben, in allen antiken Vergleichstexten so eindeutig negativ belegt, dass der Gedanke eines geistgewirkten Ertragens existentieller Todesfurcht als Eigenart oder gar Vorzug der paulinischen Verkündigung (bzw. nach unserer Lesart: seiner Persönlichkeit) völlig unhaltbar erscheint.300 Weder ist ouj qevlomen ejkduvsasqai, wie unsere Interpretation von 298 Der Terminus ajrrabwvn, den Paulus bereits in 2Kor 1,21 im selben Syntagma verwendet, stammt aus der antiken Rechts- und Geschäftssprache. Gemeint ist „eine Vorleistung beim Abschluss eines Vertrages [...], die vom Käufer dem Verkäufer zu entrichten ist.“ Der ajrrabwvn „dient beiden Parteien zur Sicherheit, dass die Vertrags- bzw. Kaufbedingungen eingehalten werden“ (Erlemann, Geist 208). Paulus scheint es indes in 2Kor 5,5 nicht auf den formalen Garantiecharakter des ajrrabwvn anzukommen, sondern, wie Kerr (ARRABWN) überzeugend herausgearbeitet hat, auf seinen materialen Wert als Vorausgabe und Vorgeschmack der künftigen Erlösung, so auch Baumert, Sterben 212ff. 299 Gleichwohl schreibt sich Paulus dieses Todesverständnis zu als etwas, das in die Bewertung seiner Person mit einfließen soll. Genauso wie die iJkanovth~ in 3,5, von der er ja sogar ausdrücklich sagt: oujc o{ti ajfÆ eJautw`n iJkanoiv ejsmen, ist auch sein in 5,1ff entfaltetes Todesverständnis coram hominibus sein eigenes. Durch den Hinweis auf Gott wird die Wirksamkeit des Arguments eher noch gesteigert, weil Paulus die unbezweifelbare Autorität Gottes in eigener Sache geltend macht. 300 Nur am Rande sei bemerkt, dass die Interpretation von V. 4b als Ausdruck von Todesfurcht mit der weithin üblichen Auslegung von V. 5 (katergavzesqai als „Bereitung“ zum Heil, die von Gott durch die Gabe des pneu`ma sicher verbürgt ist) in noch weitaus größere Schwierigkeiten gerät. Es leuchtet dann nämlich nicht ein, warum die in v 4c genannte Folge des ersehnten, aber eben unsicheren Überkleidetwerdens, wegen der Paulus dasselbe ja überhaupt so erstrebenswert erscheint, in V. 5, so die Mehrheit der Ausleger, als von Gott selbst verbürgt gedacht wird. Paulus erstrebt das „Überkleidetwerden“, i{na katapoqh`æ to; qnhto;n uJpo; th`~ zwh`~, und „eben dazu“

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V. 4 ergeben hat, kausal auf barouvmenoi zu beziehen, noch handelt es sich hierbei überhaupt um eine eigenständige Aussage. Der Ton liegt vielmehr auf qevlomen [...] ejpenduvsasqai. Dass das „Wollen“ des Paulus auf dieses positive Heilsdatum gerichtet und nicht negativ von Todessehnsucht aus Lebensverdruss bestimmt ist, „eben dieses“ (aujto; tou`to) ist dem Wirken Gottes mittels der Gabe des pneu`ma zuzuschreiben.

(eij~ aujto; tou`to) hat Gott den Apostel bereitet. Das „Verschlungenwerden“ des Lebens vom Tod ereignet sich nach der Logik von V. 4 im Falle des ejpenduvsasqai, nicht aber im Falle des ejkduvsasqai, und da es für Paulus den o. g. Auslegern zufolge zweifelhaft ist, ob ihm das ejpenduvsasqai zuteil wird, dürfte ihm dann doch eigentlich die erwünschte und nur durch das ejpenduvsasqai gewährleistete Folge desselben, nämlich das Verschlungenwerden des Lebens vom Tod, nicht wiederum gewiss sein. Hinzu kommt, dass die Alternative ejkduvsasqai/ejpenduvsasqai nach diesem Auslegungstyp untrennbar mit der Parusieproblematik verbunden ist, dass aber die in V. 5 erwähnte Gabe des Geistes bei Paulus nirgends das Erleben der Parusie garantiert (so m.R. Mundle, Problem 105). Damit würde das Verhältnis zwischen der für das barouvmenoi in V. 4 postulierten ungewissen Furcht einerseits und der in V. 5 angeblich geäußerten Gewissheit andererseits, dem Apostel werde das „Verschlungenwerden des Lebens vom Tode“ von Gott zuteil werden, noch undurchsichtiger. Die Kommentatoren lösen dieses Problem meist so, dass sie meinen, Paulus habe sich in V. 5 mit dem Gedanken trösten wollen, dass ihm jener endgültige Sieg des Lebens schließlich und endlich so oder so zuteil wird, ganz gleich, ob er den physischen Tod erleiden muss oder die Parusie erleben wird. So heißt es etwa bei Thrall, 2Kor 384: „The assurance that God does intend the annihilation of mortality, whatever way this may come about, counteracts the negative tone of V. 4.“ Ähnlich hat sich schon Prümm, 2Kor 290 beholfen: „Sollte Gott die mit der Pneuma-Vorgabe gegebene Zusicherung der Vollverklärung vielleicht auch nicht einlösen auf eben diesem hier in 5,2–4 von Paulus zunächst ersehnten Weg, so wird er das durch die Vorgabe vergewisserte Versprechen doch gewiss wahr machen durch die Wiedererweckung des Leibes aus dem Zerfall des Todes.“ Doch hat diese psychologisierende Hilfskonstruktion eines Wechsels von der angstvoll erwogenen Alternative in V. 4b zu ihrer tröstlichen Vergleichgültigung in V. 5 am Wortlaut des Textes keinen Anhalt. Einen anderen Ausweg findet Windisch, 2Kor 163, wenn er das Verschlungenwerden des Todes vom Leben kurzerhand von der Parusiethematik loslöst und auf den Todeszeitpunkt bezieht: „Es ist also derselbe Vorgang gemeint, der I [Kor] 1552–54 für die, die die Parusie erleben, in Aussicht genommen ist [...]. Dennoch darf auch hier nicht gefolgert werden, dass der Wunsch des P[aulus] auf nichts anderes gehe als auf Bewahrung vor dem vorzeitigen Tode und auf Erleben der Parusie [...], denn das Moment der Parusie, das in I [Kor] 15 und I Thess 4 deutlich angegeben ist, fehlt hier. Hätte P[aulus] dennoch den mit der Parusie verknüpften Vorgang im Auge gehabt, so hätte er irgend einen Hinweis auf die erwünschte Nähe der Parusie [...] anbringen müssen [...]. Wie der zu erwartende natürliche Tod den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet (V. 1), so ist auch hier ein ‚im Tode‘ zu ergänzen.“ Die Alternative lautet nach Windisch also nicht Tod oder Parusie, sondern Tod oder Verwandlung im Augenblick des Sterbens: „Unser Sorgen und Sehnen [...] kristallisiert sich in dem heißen Wunsch, keinen Tod, sondern eine Verwandlung im Augenblick des Sterbens zu erleben.“ Aber was soll Paulus denn dann noch Anlass zum sorgenvollen Seufzen geben? Beides wäre ihm doch völlig gewiss: dass er sterben wird, und dass sich sein Sterben qua Geistbesitz als Verwandlung vollzieht. Die Unterscheidung „Tod oder Verwandlung im Augenblick des Sterbens“ ist ein wenig glücklicher Notbehelf, der V. 4b in der von Windisch angenommenen Eschatologie unterbringen soll.

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

2.7 Todesbereitschaft und Distanzierung vom irdischen Leib (V. 6) Für unsere These, dass der ganze Zusammenhang 2Kor 5,1–10 vom Diskurs antiker ars moriendi her entworfen ist, liefert der Passus V. 6–8 mit dem zweimaligen Hinweis auf das qarrei`n des Paulus ein starkes Indiz. Bevor hierauf näher eingegangen werden kann, ist festzuhalten, dass zu Beginn von V. 6 nichts auf einen Wechsel von einem gemeinchristlichen zurück zum apostolischen „Wir“ hindeutet.301 Vielmehr wird die Sequenz von Verbal- und Partizipialsätzen mit qarrou`nte~ ou\n [...] kai; eijdovte~ fortgesetzt, und zwar bis einschließlich V. 9. Erstmals V. 10 markiert mit tou;~ ga;r pavnta~ hJma`~ einen expliziten Subjektwechsel, nämlich vom individuellen Subjekt des Adressanten zu einem kollektiven, die Adressaten mit einschließenden „Wir“. Bis dahin ist der gesamte Text als Aussage des Paulus über seine eigene Person zu lesen. Eine gewisse inhaltliche Zäsur ist allein dadurch angezeigt, dass das ou\n nicht auf V. 5 einzuschränken,302 sondern, unbeschadet des für die Begründung des qarrei`n entscheidenden Hinweises auf das pneu`ma, anscheinend auf V. 1–5 insgesamt zu beziehen ist: „qarrou`nte~ [folgt] aus der 5,1–5 entwickelten Hoffnung.“303 Diese Zäsur bedeutet indes keinen Themawechsel. Auch in V. 6ff geht es, wie zu zeigen sein wird, noch um die paulinische Einstellung zu Sterben und Tod.304 Zunächst bestätigt dies nochmals unsere Interpretation von V. 4, nämlich dahingehend, dass mit stenavzomen barouvmenoi, ejfÆ w|æ ouj qevlomen 301 Dies nimmt Bultmann, Probleme 4 an: „Das gemeinchristliche Wir redet auch in 5,1–5; dagegen ist in 5,6 das Wir wieder das des Apostels.“ 302 So aber von Hofmann, 2Kor 130f: „Und so schließt sich denn auch mit ou\n ein Satz an, welcher von seinem [d.i. des Paulus] im Besitze des Geistes begründeten tapferen Muthe handelt“; Bachmann, 2Kor 184: V. 6 sei „Folgerung aus V. 5 für die Schätzung seiner irdischen Widerfahrnisse“ und Lang, Forschung 198. 303 Bultmann, 2Kor 141. So auch Barrett, 2Kor 157: „Paul’s ou\n refers back to verses 1–5.“ Nach Furnish, 2Kor 271 reicht der relevante Zusammenhang sogar bis 4,16b zurück, doch dürfte der Bezug des paulinischen qarrei`n auf das Todesthema (s.u.) und die Wiederaufnahme des oi[damen aus V. 1 im Partizip eijdovte~ dafür sprechen, dass sich Paulus allein auf 5,1–5 bezieht. Collange, Enigmes 228 lässt die Frage überhaupt offen: „Il n’est pas nécessaire de choisir ici“ – nicht ganz zu Recht, denn auch an der Reichweite des Rückbezuges des ou\n entscheidet sich, ob mit V. 6 ein Stimmungsumschwung gegenüber einem angeblich angsterfüllten stenavzein vorliegt oder nicht (s.u.). 304 Anders Grundmann, qarrevw 27, der die Stelle allgemein vom In-derWelt-Sein der Christen her versteht: Paulus spreche in 2Kor 5,6.8 davon, „daß inmitten der Lage der Christen, die durch das Getrenntsein von Christus bezeichnet ist [...], die Möglichkeit des qarrei`n gegeben ist. Als qarrou`nte~ sind die Christen in der Welt, und zwar deshalb, weil sie durch das Angeld des Geistes Verbindung mit dem Herrn haben und um die Erfüllung im peripatei`n dia; ei[dou~ wissen.“ Auch Wendland, 2Kor 196 sieht keinen Bezug von V. 6–8 auf das Todesproblem: „Vom Tode ist in unserem Zusammenhange überhaupt nicht die Rede.“ Ebenso spricht Wolff, 2Kor 112 unspezifisch von „ständige[r] Furchtlosigkeit [...] inmitten aller Existenzbedrohung“. Doch umschreibt das ejkdhmh`sai in V. 8 genauso wie das ejkduvsasqai in V. 4 den Vorgang des Sterbens (s.u.).

Exegese von 2Kor 5,1–10

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ejkduvsasqai ajllÆ ejpenduvsasqai schwerlich ein Affekt der Furcht vor dem Sterben gemeint sein kann. Wir hatten ja festgestellt, dass Paulus diesen Affekt dann nach dem Wortlaut von V. 4a oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei zur Grundkonstante seiner eigenen, christlichen Existenz erklären würde.305 stenavzomen barouvmenoi meint laut V. 4a nicht nur eine momentane Gefühlsregung, die Paulus gewissermaßen schreibend überwände. Sieht man hierin nun einen Affekt der Furcht, dann entsteht ein nicht unerheblicher sachlicher Widerspruch zu V. 6, über den auch die Hypothese vom „Stimmungsumschwung“ nicht hinweg hilft, denn das jeglicher Frucht diametral entgegengesetzte qarrei`n306 ist nach V. 6 erklärtermaßen ebenfalls keine erst im Schreiben angeeignete Haltung, sondern sie bestimmt den Apostel pavntote, „stets“, analog zu oiJ o[nte~ ejn tw`æ skhvnei, was so viel heißt wie: „während des irdisch-leiblichen Lebens“.307 Zwischen einem als Ausdruck der Furcht verstandenen V. 4 und V. 6 läge dann also kein Stimmungsumschwung, sondern eine Korrektur der paulinischen Einschätzung seines eigenen Daseinsgefühls. Hätte er in V. 4 eben noch erklärt, sein Dasein sei trotz aller Heilshoffnung von einem unbewältigten Rest an Todesfurcht gekennzeichnet, so würde er nun das Gegenteil erklären, nämlich, dass er pavntote, „stets“ guten Mutes sei. Ist schon die These reichlich gezwungen, dass Paulus in V. 6 anders (nämlich gegenteilig) fühlt als noch in V. 4,308 so 305

S. o . S. 282. Vgl. Aristoteles, Rhet. 2,5,16/1383a: tov te ga;r qavrso~ to; ejnantivon tw`æ fovbwó, kai; to; qarralevon tw`æ foberw`æ, „Der Mut aber ist das Gegenteil der Furcht und das zum Mut Inspirierende das Gegenteil zum Furchterregenden.“ Nach Polybios, Hist. 6,10,9 ist es ein Vorzug der Verfassung Lykurgs, dass die Regierenden nicht übermütig werden aufgrund ihrer Furcht vor dem Volk, tou` de; dhvmou pavlin mh; qarrou`nto~ katafronei`n tw`n basilevwn dia; to;n ajpo; tw`n gerovn tw`n fovbon, „das Volk wiederum nicht wagen kann, sich über die Könige hinwegzusetzen aus Furcht vor dem Rat der Alten.“ Auch hier schließen qavrso~ und fovbo~ einander aus. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Vgl. auch die Imperative Mk 6,50 (qarsei`te, ejgwv eijmi: mh; fobei`sqe), JosAs. 14,11 (qavrsei, ÆAsenevq, kai; mh; fobou`), u. ö. 307 Wie in 2,14 tw`æ de; qew`æ cavri~ tw`æ pavntote qriambeuvonti hJma`~ ktl und 4,10 pavntote th;n nevkrwsin tou` ÆIhsou` ejn tw`æ swvmati perifevronte~ meint pavntote auch in 5,6, dass die jeweilige Aussage die Existenz des Apostels als Ganzes bestimmt. Gemeint ist nicht „im Blick auf jeden anzunehmenden Fall“, wie die Erklärung von Plummer, 2Kor 150 dies voraussetzt: „whether we die soon or live till the Lord returns.“ Ob Paulus die Parusie erlebt oder nicht, ist in 2Kor 5,1– 10 nicht Thema. 308 Unter den neueren Kommentaren findet sich die These vom Stimmungsumschwung am profiliertesten bei Thrall, 2Kor 385: „Paul’s mood changes as he begins to draw conclusions from V. 5 and to counteract the sense of oppression apparent in V. 4. He expresses his confidence, and implicitly recognises that the prospect which in V. 4 inspired aversion might after all have its advantages.“ Der hier unternommene Versuch, den für V. 4 angenommenen Affekt der Furcht und das qarrei`n von V. 6 in einen psychologisch nachvollziehbaren Folgezusammenhang zu bringen, mündet im Grunde in einem Stimmungsbild der Verunsicherung: Paulus erkenne implizit an, dass die in V. 4 noch fruchteinflößende Aussicht auf den Tod „might after all have its advantages“: so ganz wohlgemut klingt das nicht, das Urteil bleibt unsicher. Es muss nicht eigens betont werden, dass Paulus seinen Gegnern mit solchem Schwanken eine willkommene Angriffsfläche geboten 306

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

ist es erst recht ganz unwahrscheinlich, dass sich innerhalb weniger Sätze sein Denken hinsichtlich seiner eigenen Daseinshaltung grundlegend geändert haben sollte. Befassen wir uns nun mit dem Partizip qarrou`nte~ selbst. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat Dupont unter Hinweis auf einschlägige Passagen aus Platons Phaidon, die auch im II. Teil der vorliegenden Studie eine Rolle spielen, die These vertreten, dass es Paulus in 2Kor 5,6.8 speziell um das qarrei`n angesichts des Todes geht.309 Später hat Spicq daran angeknüpft und weitere Texte hinzugefügt, in denen das Verbum qarrevw bzw. das Nomen qavrso~ eine Haltung getroster Todesbereitschaft meint. In die Kommentare zum 2. Korintherbrief haben diese Beobachtungen indes erst durch Thrall Eingang gefunden. Sie meint mit Berufung auf Dupont und Spicq: „The verb qarrevw occurs in Greek philosophy in relation to death, as does the general idea that death should be met with confidence.“310 Hier dürfte in der Tat der Schlüssel zum Verständnis von V. 6.8 liegen: Paulus artikuliert seine Todesbereitschaft und das dieser Bereitschaft korrespondierende Wissen um die Vorläufigkeit des Daseins im Leib. Wir wenden uns zunächst den Vergleichstexten zu, in denen die Haltung des qarrei`n in Zusammenhang mit dem Todesproblem steht. Der platonische Sokrates äußert im Phaidon,311 w{~ moi faivnetai eijkovtw~ ajnh;r tw`æ o[nti ejn filosofivaæ diatrivya~ to;n bivon qarrei`n mevllwn ajpoqanei`sqai kai; eu[elpi~ ei\nai ejkei` mevgista oi[sesqai ajgaqa; ejpeida;n teleuthvshæ, – dass ich mit Grund der Meinung bin, ein Mann, welcher wahrhaft philosophisch sein Leben verbracht, müsse getrost sein, wenn er im Begriff hätte, wie Heinrici, 2Kor 187 betont: „Hätte P[aulus] ein Stimmungsbild geben wollen, das einen vollständigen Wechsel und eine Abklärung seiner Gefühle darstellte (aus der unruhigen Sehnsucht V. 1–5 zu der festen Zuversicht V. 6–8), so minderte er das Vertrauen zu seiner inneren Klarheit, die von seinen Gegnern in Frage gestellt war.“ Dagegen scheint Hughes ein Ausgleich zwischen Zuversicht und abgeschwächter Furcht vorzuschweben: Zum qarrei`n bemerkt er: „This confidence, moreover, is constant (‚always‘); it is not dependent on moods or circumstances“ (2Kor 176). Diese „moods“ im Blick auf den Tod bestehen nun nicht in regelrechter Furcht, sondern in einer Art moderatem Widerwillen, der mit dem qarrei`n nicht unvereinbar ist: „Death, although no longer feared, is still repulsive to the Christian; it is still a disruptive event“ (2Kor 171). In dieser Weise könnten V. 4 und V. 6 durchaus zusammengedacht werden, da man ja den eigenen Mut auch und gerade gegen die eigene Furcht aufbieten kann, wenn sie nicht übermächtig ist. Doch nimmt sich die Wendung stenavzomen barouvmenoi in jedem Fall als Umschreibung einer starken Beeinträchtigung aus, sei es (wie in unserer Interpretation) durch die Beschwerden des Daseins im „Zelt“, oder aber durch den Affekt der Furcht vor dem Sterben. Man kann nicht mit Hughes von einer bloßen „Stimmung“ oder gar „Laune“ („mood“) reden, die durch das qarrei`n dauerhaft überflügelt wird. 309 Dupont, SUN XRISTW 158–160. 310 Thrall, 2Kor 385. Zutreffend auch Bultmann, 2Kor 141: „qarrou`nte~ sind wir also in dem Wissen von V. 1–5 angesichts des Todes, angesichts dessen wir uns nicht ängstlich an unser irdisches sw`ma klammern, sondern es gern fahren lassen“; ähnlich Zeilinger, 2Kor 231. 311 S.o. S. 153.

Exegese von 2Kor 5,1–10

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ist zu sterben, und der frohen Hoffnung, dass er dort Gutes in vollem Maß erlangen werde, wenn er gestorben ist (63e–64a).

Das qarrei`n im Angesicht des Todes ist hier (a) vorgestellt als Frucht eines „wahrhaft philosophischen“ Lebens, und es ist (b) verbunden mit einer positiven Erwartung über den Tod hinaus. (a) Ist solcher Mut im Blick auf den Tod nur dem möglich, der richtig gelebt hat, dann wird das qarrei`n gewissermaßen zur Visitenkarte einer vorbildlichen Ethik. Wer für sich in Anspruch nimmt, angesichts des Todes guten Mutes zu sein, stellt damit zugleich seiner Lebensführung und seinem Charakter ein denkbar gutes Zeugnis aus. Nicht nur allgemein das lebhafte antike Interesse an biographischen Beispielen würdigen oder aber unwürdigen Sterbens dürfte hierin seinen Grund haben, sondern auch die (relativ zum Umfang seiner Briefe) ausführliche paulinische Darstellung seines Todesverständnisses in 2Kor 5,1–10. Dass insbesondere das qarrei`n angesichts des Todes im antiken Diskurs ethisch hoch angereichert ist, zeigen drei weitere Texte mit je unterschiedlichem Akzent. (a) Ein anderer Passus aus dem Phaidon macht deutlich, dass nur der mit Grund „guten Mutes“ stirbt, der auf eine vorbildliche Lebensführung verweisen kann. Sokrates äußert im Rückblick auf den Unterweltmythos 107d–114c312 über das postmortale Geschick der guten, mittelmäßigen und schlechten Seelen: touvtwn dh; e{neka qarrei`n crh; peri; th`æ eJautou` yuch`æ a[ndra o{sti~ ejn tw`æ bivwó ta;~ me;n a[lla~ hJdona;~ ta;~ peri; to; sw`ma kai; tou;~ kovsmou~ ei[ase caivrein, wJ~ ajllotrivou~ te o[nta~, kai; plevon qavteron hJghsavmeno~ ajpergavzesqai, ta;~ de; peri; to; manqavnein ejspouvdasev te kai; kosmhvsa~ th;n yuch;n oujk ajllotrivwó ajlla; tw`æ aujth`~ kovsmwó, swfrosuvnhæ te kai; dikaiosuvnhæ kai; ajndreivaæ kai; ejleuqerivaæ kai; ajlhqeivaæ, ou{tw perimevnei th;n eij~ ÓAidou poreivan wJ~ poreusovmeno~ o{tan hJ eiJmarmevnh kalh`æ. – Also um dessen willen muss ein Mann guten Mutes sein (qarrei`n crhv) seiner Seele wegen, der im Leben die anderen Lüste, die es mit dem Leibe zu tun haben und dessen Schmuck und Pflege, hat fahren lassen, als etwas ihn selbst nicht Angehendes und wodurch er nur Übel ärger zu machen befürchtete; jener Lust hingegen an der Forschung nachgestrebt und seine Seele geschmückt hat nicht mit fremdem, sondern mit dem ihr eigentümlichen Schmuck, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Edelmut und Wahrheit, so seine Fahrt nach der Unterwelt erwartend, um sie anzutreten, sobald das Schicksal rufen wird (114d–115a).

Das qarrei`n angesichts des Todes ist hier unmittelbarer Ausdruck ethischer Integrität. Nur wer sich bei Lebzeiten um die Tugenden bemüht hat,313 kann in Erwartung des Jenseitsgerichts „guten Mutes“ sterben. 312

S.o. S. 158f. Die Aufzählung in 115a nennt mit swfrosuvnh, dikaiosuvnh und ajndreiva drei der vier Kardinaltugenden; anstelle der frovnhsi~ stehen ejleuqeriva und ajlhqeiva. 313

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(b) Das qarrei`n angesichts des Todes verliert dort, wo die im Phaidon entwickelte Jenseitsperspektive nicht geteilt wird, nichts von seiner ethischen Relevanz. Ohne die Instanz eines Jenseitsgerichts wird der Todesmut zur reinen Charaktereigenschaft und die Sokratesgestalt zum exemplum würdigen Sterbens.314 In der Diatribe Peri apatheias des Kynikers Teles von Megara (3. Jh. v.Chr.), die in einem Exzerpt bei Johannes Stobaios erhalten ist, stoßen wir auf die Auffassung w{ste ou\n mhvte ejpi; fivlou mhvte ejpi; tevknou teleuth`æ luphqh`nai, ei[per mhde; ejpi; th`æ auJtou`. h] oujk a[nandroiv soi dokou`sin ei\nai oiJ to;n eJautw`n qavnaton ajgennw`~ kai; mh; eujqarsw`~ prosdecovmenoi; h] ouj dei` to;n eu[yucon kai; ajndrei`on eujyuvcw~ th;n eJautou` teleuth;n fevrein, w{sper Swkravth~. – Also soll man nun weder über den Tod eines Freundes, noch über den eines Kindes betrübt sein, und schon gar nicht über den eigenen. Oder scheinen dir nicht feige (a[nandroi) zu sein, die den eigenen Tod ehrlos (ajgennw`~) und nicht guten Mutes (eujqarsw`~) erwarten, oder muss nicht der Entschlossene (eu[yuco~) und Tapfere (ajndrei`o~) mit Entschlossenheit (eujyuvcw~) seinen eigenen Tod auf sich nehmen, gleichwie Sokrates? (56f).

Hier wie in zahllosen anderen antiken Texten wird das Sterben zur Nagelprobe für die Qualität eines Charakters. Der Begriff des qavrso~ korrespondiert den Charaktereigenschaften Entschlossenheit und Tapferkeit und bildet das Oppositum zu negativen Charaktereigenschaften Feigheit und Ehrlosigkeit. (g) Wichtig für das Verständnis von 2Kor 5,6 ist auch Epiktet, Diss. 2,1,13–15.315 Auch bei Epiktet als Vertreter der jüngeren Stoa finden wir den Gegensatz von mutigem und unwürdigem Sterben: ouj ga;r qavnato~ h] povno~ foberovn, ajlla; to; fobei`sqai povnon h] qavnaton. dia; tou`to ejpainou`men to;n eijpovnta o{ti ouj katqanei`n ga;r deinovn, ajllÆ aijscrw`~ qanei`n. e[dei ou\n pro;~ me;n to;n qavnaton to; qavrso~ ejstravfqai, pro;~ de; to;n fovbon tou` qanavtou th;n eujlavbeian. – Nicht nämlich Tod oder Schmerz sind furchtbar, sondern die Furcht vor Schmerz oder Tod. Deshalb loben wir den, der gesagt hat: ‚Nicht das Sterben ist schrecklich, sondern schändlich zu sterben‘. Man sollte also gegen den Tod den Mut anwenden, gegen die Todesfurcht aber die Gewissenhaftigkeit.316

Auch für den Stoiker Epiktet ist es, wie er mit dem Vers eines unbekannten Tragödiendichters sagt,317 das aijscrw`~ qanei`n, das es durch die richtige Haltung dem Tod gegenüber zu vermeiden gilt. Dem Tod muss man mit „Kühnheit“ begegnen, meint Epiktet, der Todesfurcht aber mit „Gewissen314 Auf die Rezeptionsgeschichte der Sokratesgestalt in der altkirchlichen Martyrologie sei hier nur eben verwiesen; vgl. dazu Butterweck, Martyriumssucht 19ff.62ff. 315 Zu Epiktet vgl. außerdem S. 202ff. 316 Eigene Übersetzung. 317 Vgl. Oldfather, Epictetus 216 Anm. 1.

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haftigkeit“, d.h. man muss seine Konzentration darauf verwenden, sie zu überwinden, um dann den Tod verachten zu können.318

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Der Invarianz des qarrei`n angesichts des Todes als ethischer Forderung bei wechselnden (bzw. vorhandenen oder nicht vorhandenen) Vorstellungen über ein heilvolles postmortales Geschick entspricht die viel umrätselte Beliebtheit der in zahlreichen Grabinschriften überall im römischen Reich belegten Formel qavrsei oujdei;~ ajqavnato~ (auch lateinisch: CIL 12,2366: animo forte, sanctissima, omines [= omnes] mortales sumus; zitiert nach Siebourg, Goldtäien 398) gerade auch in jüdischen und christlichen Grabepigrammen. Hier scheint die „Kühnheit“ gegenüber dem Todesverhängnis, das ja auch den gläubigen Juden und Christen ungeachtet eschatologischer Heilsvorstellungen zunächst einmal ereilt, als positive (und als solche einzuübende) Charaktereigenschaft im Blick zu sein. Dies könnte erklären, warum sich die verglichen mit christlicher Jenseitshoffnung eher resignativ klingende Formel (Simon, qavrsei: „un appel à la resignation“; Delling, Grabinschriften 521: „banale, trostlose Wendung“; Joly, Courage 162 meint gar im Blick auf die christlichen Inschriften, dass „rien ne peut être plus choquant que cette affirmation si l’on songe au credo universel et indiscuté de la nouvelle religion“) auch im christlichen wie jüdischen Bereich bis in die Spätantike gehalten hat. Dass in der Regel der Tote so angeredet wird (Delling, Grabinschriften 521 Anm. 2 verweist auf die bei Frey, Corpus, unter Nr. 335 und 401 aufgeführten jüdischen Inschriften, in denen der Name des Verstorbenen vokativisch wiederholt wird), sagt nichts darüber aus, ob der Verstorbene als in der Unterwelt existent oder gar ansprechbar vorgestellt wird oder nicht. Die Appellfunktion (bisweilen auch negativ formuliert: mh; luph`/~ o.ä. oder synonym mit eujyuvcei, pagane Belege bei Lattimore, Epitaphs 253 Anm. 299–301) dürfte doch durchweg auf den Betrachter des Grabsteins zielen, zumal dann, wenn man die Formel als „einfache Abschiedsgrüße an den Dahingegangenen“ auffasst (Delling, Grabinschriften 522; vgl. auch Simon, qavrsei 192f und Horbury, Inscriptions 37f Anm. 42): Der Leser der Inschrift wird angeleitet, dem Toten diesen „Mut“ zuzusprechen – und damit sich selbst. Park, Afterlife 61 im Anschluss an Lattimore, Epitaphs 253 Anm. 300 relativiert hinsichtlich des konsolatorischen Effekts der Formel m.R. die Frage, ob der Tote oder der Hinterbliebene angesprochen ist: „the effect of consolation is present regardless who is adressed.“ Dass die Formel eine Ermutigung des Toten auf seiner gefährlichen Reise in ein seliges Jenseits sein soll, wie Simon (qavrsei) angenommen hat, legt in den Wortlaut zu viel hinein; vgl. die Kritik von Park, Afterlife 47ff. Der epigraphische Befund zeigt, dass im heidnischen, jüdischen und christlichen Bereich alle Facetten von der bloßen Feststellung der Sterblichkeit aller Menschen bis hin zu einer expliziten Eschatologie möglich sind. Die Formel ist, wie Park, Afterlife 50 feststellt, „in itself speaking neither for nor against afterlife beliefs.“ Ohne jegliche Andeutung einer Jenseitshoffnung sind zwei fast identische Inschriften, die eine pagan: Mh; luph`/~, oujdei;~ ajqavnato~ ejn tw/` bivw/ touvtw/, die andere christlich: Mh; luph`/~, oujdei;~ ajqavnato~ ejn tw/` bivw/ kovsmw/ (zitiert nach Simon, qavrsei 194). Folgende jüdische Inschrift aus der Trachonitis verweist rein innerweltlich auf ein erfüllt zu Ende gebrachtes Leben: Qavrsei, oujdei;~ ajqavnato~. ejtelewvsa~ to;n bivon sou` kavlw~ kai; eujschmovnw~ eujcaristou` aije;n tw`/ pantokravtori qew`/ tw`/ bohqhvsanti hJmi`n (zitiert nach Simon, qavrsei 194). Ob in qew`/ tw`/ bohqhvsanti hJmi`n eine „Hilfe“ Gottes für den Toten angedeutet ist, lässt sich nicht entscheiden, ebenso wenig, ob die Aufforderung zur Dankbarkeit den Toten als existierend vorstellt. Dankbarkeit ist Sache der Lebenden, die am Grab den Lebensweg des Verstorbenen bedenken. Unklar ist der Verweis auf Herkules in der paganen Inschrift eujyuvcei Mivdwn, oujdei;~ ajqavnato~ ù kai; oJ JHraklh`~ ajpevqane. Simon, qavrsei 196 sieht hier wegen der Apotheose des Herkules „une raison d’espérer“. Anders Park, Afterlife 51: „The purpose of this addition is not to imply an afterlife, but to strengthen the consolation by pointing out that even the greatest of men had to die.“ Einen entwickelten jüdischen Auferstehungsglauben bezeugt dagegen ein Inschriftenpaar aus Beth She’arim: Eujtucw`~ th`/ uJmw`n ajnastavsei und daneben von selber Hand qavrseite, patevre~ o{sioi, oudei;~ ajqavnato~ (zitiert nach van der Horst, Epitaphs 121f). Ausdrücklich nicht auf die Sterblichkeit, sondern auf die Unsterblichkeit der Seele bezieht sich eine christliche In-

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

Für den paulinischen Rekurs auf sein als Todesbereitschaft verstandenes qarrei`n in 2Kor 5,6.8 ist diese doppelte Konnotation zu berücksichtigen, wie sie sich aus der Rezeption der Sokratesgestalt bei Platon einerseits und bei Teles (und Epiktet) andererseits ergibt: Die paulinische Selbstaussage qarrou`nte~ ou\n pavntote weist ihn einerseits als vorbildlichen Charakter aus und impliziert andererseits den Anspruch auf ethische Integrität.319 (b) Sodann ist das sokratische qarrei`n nach Phaid. 63e–64a keine grundlose Gemütsregung, es erwächst vielmehr aus der Gewissheit, dass der Tod „Gutes in vollem Maß“ bringt. Hier wie auch in 2Kor 5,6.8 hat der Todesmut also eine „Wissensgrundlage“. Das Verhältnis zwischen dem, was Paulus über seine postmortales Geschick „weiß“ (V. 1: oi[damen; V. 6: eijdovte~), und seiner Todesbereitschaft (V. 6: qarrou`nte~) finden wir analog auch bei Platon: Für Paulus wie für den Sokrates des Phaidon ist es erklärtermaßen das sichere Wissen um ein positives postmortales Geschick, das die Haltung des qarrei`n im Angesicht des Todes ermöglicht und begründet. Der im Phaidon geführte Nachweis der Unsterblichkeit der Seele ist kein Selbstzweck, sondern er legitimiert die Todesbereitschaft des Sokrates als angemessene Haltung. Insofern verdankt sich der im Phaidon erzielte Erkenntnisfortschritt (Beweis der Unsterblichkeit der Seele) zumindest auf der Ebene der literarischen Einkleidung des Dialogs (Abschied des zum Tode verurteilten Sokrates von seinen Freunden und Schülern) einem eminent apologetischen Erkenntnisinteresse. Wenn die über den Kreislauf einer begrenzten Anzahl an Wiedergeburten hinausgehende Unsterblichkeit der Seele nicht bewiesen werden kann, dann ist die Todesbereitschaft, wie Sokrates sie propagiert, ein „unverständiger Mut“ (ajnohvtw~ qarrei`n), dann „kann doch von keinem, der über den Tod guten Mutes ist, gesagt werden, dass er nicht auf eine unverständige Weise mutig sei, wenn er nicht zu beweisen vermag, dass die Seele ganz und gar unsterblich und unvergänglich ist“ (oujdeni; proshvkei qavnaton qarrou`nti mh; oujk ajnohvtw~ qarrei`n, o}~

a]n mh; e[chæ ajpodei`xai o{ti e[sti yuch; pantavpasin ajqavnatovn te kai; ajnwvleqron, 88b). Noch deutlicher kommt der ständige Bezug des philoso-

phisches Diskurses auf dessen apologetisch-ethisches Beweisziel an späterer Stelle zum Tragen, als Sokrates’ Gesprächspartner Kebes resümiert:

schrift aus einer römischen Katakombe (zitiert nach Simon, qavrsei 194): Eujyuvci, Mousena jIrhv-

nh, hJ sh; yuch; ajqavnato~ para; Cristw`/.

319 Insofern können wir Schröter, Versöhner 244 folgen, der vom „qarrei`n angesichts des kommenden Gerichts“ spricht. In der Tat spielt die ethische Integrität des Paulus, die sich im Endgericht zu bewähren hat, in V. 9f eine zentrale Rolle, doch deckt dies nur einen Aspekt des Begriffs ab. Es geht Paulus auch unabhängig vom Gerichtsgedanken, coram hominibus gewissermaßen, um die Selbstdarstellung als vorbildlicher Charakter.

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ajxioi`~ ejpideicqh`nai hJmw`n th;n yuch;n ajnwvleqrovn te kai; ajqavnaton ou\san, eij filovsofo~ ajnh;r mevllwn ajpoqanei`sqai, qarrw`n te kai; hJgouvmeno~ ajpoqanw;n ejkei` eu\ pravxein diaferovntw~ h] eij ejn a[llwó bivwó biou;~ ejteleuvta, mh; ajnovhtovn te kai; hjlivqion qavrro~ qarrhvsei. – Du verlangst, es soll gezeigt werden, dass unsere Seele unvergänglich und unsterblich ist, wenn doch ein philosophischer Mann, der, im Begriff zu sterben, guten Mutes ist und der Meinung, dass er nach seinem Tode sich dort unverzüglich wohl befinden werde, mehr als wenn er einer anderen Lebensweise folgend gestorben wäre, wenn ein solcher nicht ganz unverständig und töricht sein soll bei seinem guten Mut (95b–c).

Der Nachweis der Unsterblichkeit der Seele dient hier ganz entscheidend der Legitimation der sokratischen Todesbereitschaft. Das qarrei`n des zum Tode verurteilten Philosophen wird damit gegen die mögliche Negativinterpretation abgesichert, es handele sich um einen „unverständigen und törichten Mut“ (ajnovhtovn te kai; hjlivqion qavrro~). Ein vergleichbarer Zusammenhang besteht unserer Interpretation zufolge auch zwischen dem qarrei`n des Paulus (2Kor 5,6) und der Explikation seines „Wissens“ (2Kor 5,1.6). Auch Paulus geht es um den Nachweis, dass seine Todesbereitschaft begründet ist in einem sicheren Wissen um sein positives postmortales Geschick. Seine Todesbereitschaft erklärt320 Paulus über das in V. 1–5 Gesagte hinaus mit seinem Wissen um die Vorläufigkeit seines Daseins im Leib. Sein qarrei`n rührt von seinem Wissen her, dass das ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati zugleich ein ejkdhmei`n ajpo; tou` kurivou ist. Was Paulus in V. 8 positiv formuliert, kommt hier zunächst negativ zur Sprache: Die ersehnte volle Gemeinschaft mit dem kuvrio~ ist während des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati, d.h. bei Lebzeiten, nicht möglich. Deshalb blickt er guten Mutes über sein irdisches Dasein hinaus, wie er in V. 8 ausführen wird, deshalb nimmt er aber auch Abstand vom gegenwärtigen Sein im Leib. Das nach dem Tod zu erwartende Sein beim Herrn ist das Kriterium, dem das ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati nicht genügt, es zu einem defizitären Zustand macht. In V. 6 liegt ihm zunächst offenbar daran, die eigene Distanz zum ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati zu artikulieren. Paulus will sagen, dass dieser Zustand mit dem Mangel des Vorläufigen, Uneigentlichen behaftet ist, und er will zum Ausdruck bringen, dass er ständig im Bewusstsein (kai; eijdovte~) dieses Mangels lebt. Dieses Mangelbewusstsein ist der negative Aspekt seines als Todesbereitschaft verstandenen qarrei`n: Aus dem genannten Grund, dass das ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati zugleich ein ejkdhmei`n ajpo; tou` kurivou ist, fällt ihm der Abschied aus diesem Leben nicht schwer. Es geht Paulus nicht darum, das Sein im Leib als solches zu disqualifizieren oder ein fal-

320 Das kaiv in kai; eijdovte~ ktl fassen wir mit Wolff, 2Kor 97 Anm. 242 explikativ auf: „nämlich in dem Wissen“.

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sches Heimischsein im Leib zu tadeln,321 er will nur deutlich machen, dass ihm das „Zuhausesein im Leib“ nicht genügt und er deshalb keine Schwierigkeiten damit hat, seinen sterblichen Leib zu verlassen. Paulus sieht dem Tod getrost entgegen, weil es das volle Heil in diesem Leben nicht geben kann.322 Wieder gilt, dass Paulus der Sachverhalt, den er im von eijdovte~ abhängigen Relativsatz formuliert, vorrangig insofern interessiert, als er Inhalt seines persönlichen Wissen ist, das ihm eine positive Haltung gegenüber dem Tod ermöglicht.323 Auch V. 6 ist, wie gleich zu zeigen ist, im 321 Dies betont m.R. Thrall, 2Kor 383 gegen Ellis, Eschatology; Baumert, Sterben. Thrall meint, dass „[t]he phrase he [d.i. Paulus] uses, ejndhmou`nte~ ejn tw`æ swvmati, is not in itself pejorative.“ Dem ist hinzuzufügen, dass ejndhmei`n wertneutral gebraucht zu sein scheint und nicht im Sinne eines sarkischen „sich Verlassens“ auf den Leib oder ein Verhaftetsein in der savrx, wie Ellis, Eschatology 222 dies im Anschluss an Robinson, Body 29 auffasst: „‚At home in the body‘ means ‚in the solidarities and securities of earthly exisence‘“; ähnlich Baumert, Sterben 223f: die „sündige und sterbliche Existenz“. Wenn Paulus mit dem ejndhmei`n eine falsche und als solche zu verurteilende Orientierung im Sinne gehabt hätte, die er für sich selber ablehnt, hätte er doch wohl einen irrealen Bedingungssatz formuliert. Dagegen beschreibt die Partizipialkonstruktion einen Sachverhalt, der (auch) auf Paulus so zunächst einmal zutrifft. Andernfalls hätte er die Alternative ejndhmou`nte~/ejkdhmou`nte~ keinesfalls ausgerechnet im Blick auf das „dem Herrn wohlgefällig Sein“ (V. 9) vergleichgültigen können, ohne sicherzustellen, dass sich diese Alternative an dieser Stelle auf den kuvrio~ bezieht und nicht auf das sw`ma. D.h. ejndhmei`n „in der Heimat, zu Hause sein“ oder auch einfach „verweilen“ (Grundmann, dh`mo~ 62) ist – wie auch der Gegenbegriff ejkdhmei`n „außer Landes, in der Fremde sein“ (Grundmann, dh`mo~ 62) – als räumliche Metapher zu verstehen, nicht als unangemessenes „sich zuhause Fühlen“. Der Aspekt der persönlichen Orientierung kommt erst dadurch ins Spiel, dass die Aussage von V. 6b als Ganze Inhalt des paulinischen „Wissens“ wird. Thrall, 2Kor 386 Anm. 1376 weist außerdem darauf hin, dass „in 5.10 the sw`ma is the instrument of good deeds as well as evil ones. In itself, the term is ethically neutral.“ Es geht weder in 2Kor 5,6 noch in 2Kor 5,8 (wo der Aspekt der persönlichen Haltung, wie zu zeigen sein wird, durchaus eine Rolle spielt) um das sw`ma th`~ aJmartiva~ (Röm 6,6), wie Ellis, Eschatology 222 meint. 322 Übereinstimmend Barrett, 2Kor 157f: „We face the dissolution of this body with boldness partly because we are confident that God will supply a superior replacement for it, partly also because we know that life in the body, familiar as it is, has disadvantages.“ Einen völlig anderen Sinn erhält V. 6, wenn man das kaiv mit Windisch, 2Kor 166 im Sinne von kaivper konzessiv deutet und das Folgende als „Erwägung“ versteht, „die kleinmütig stimmen muss“, also etwa „Wir sind guten Mutes, wenngleich wir wissen“; so auch Klauck, 2Kor 51. Dagegen zutreffend Bultmann, 2Kor 142: „Das eijdovte~ steht [...] zu dem qarrou`nte~ keineswegs im Gegensatz [...]. Das qarrei`n ist ja die Furchtlosigkeit vor dem bevorstehenden, pavntote drohenden [...] Tod; und die Furchtlosigkeit folgt ja gerade aus dem Wissen, dass unsere jetzige Existenz nur eine vorläufige ist, dass wir, so lange sie dauert [...] von unserem eigentlichen Ziel noch fern sind [...]. Wie könnten wir also um ihre Dauer besorgt sein!“ 323 Geradezu als Kommentar zu 2Kor 5,6 liest sich Cicero, Sen. 83: Quid, quod sapientissimus quisque aequissimo animo moritur, stultissimus iniquissimo, nonne vobis videtur is animus qui plus cernat et longius, videre se ad meliora proficisci, ille autem cuius obtusior sit acies, non videre? – „Wie steht es damit, dass gerade die größten Weisen in größtem Gleichmut sterben, die größten Toren aber in größtem Unmut? Scheint euch etwa nicht eine Seele, die mehr wahrnimmt und weiter blickt, zu sehen, dass sie zu einer besseren Welt aufbricht, während die, deren Blick weniger scharf ist, das nicht sieht?“ Hier wird erstens ein Zusammenhang zwischen Todesbereitschaft (aequissimo animo moritur) und dem Wissen um ein positives Todesgeschick (videre se ad meliora proficisci) hergestellt, wie wir ihn analog auch für 2Kor 5,6 annehmen, und zweitens wird

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Kontext antiker ars moriendi als paulinische Selbstaussage verständlich, ohne dass eine polemische Aussageabsicht angenommen werden muss. Schmithals hatte ejndhmou`nte~ ejn tw`æ swvmati ejkdhmou`men ajpo; tou` kurivou als Polemik gegen gnostische Christen in Korinth gedeutet, die „nur noch scheinbar im Leibe und faktisch schon im Herrn, d.h. im kosmischen sw`ma Cristou`“ lebten.324 Diese Auffassung habe Paulus mit der gegenteiligen Aussage in V. 6 bestreiten wollen und sich dabei mit ejndhmei`n und ejkdhmei`n korinthischer Terminologie bedient. In leichter Abwandlung dieses Gedankens meinte Lang, Paulus habe seinen Gegnern das, was sie für den „Vollendungszustand“ hielten, negativ auslegen wollen als „IdentischSein mit dem Leib und Distanziert-Sein vom Herrn“.325 Paulus habe sich, weil er „in polemischer Antithese sehr grundsätzlich, fast gnomisch“ formuliert hat, selbst mit einbezogen, „obwohl der Satz so auf ihn nicht zutrifft.“ Auch Furnish hält es für wahrscheinlich, „that Paul is taking over a favourite image of his opponents in order to correct their use of it.“326 Anders wiederum von der Osten-Sacken, der V. 6b.8b für die genuine korinthische Tradition hält, die Paulus zitiert habe, um ihr den Gedanken des zuversichtlichen Seins im Leibe gegenüberzustellen,327 so auch MurphyO’Connor: „V. 6b should be understood, not as reflecting Paul’s position, but that of his opponents.“328 Eine gegen den „Vollendungsenthusiasmus“ der Korinther gerichtete polemische Veranlassung von V. 6 nimmt schließlich auch Wolff an, ohne sich jedoch inhaltlich näher festzulegen.329 Hier ist derselbe Einwand zu erheben, den wir bereits für V. 4b geltend gemacht haben: Es gibt schlicht keinerlei Textsignale, die eine polemische Interpretation von V. 6 stützen. Lang hat spürt dies deutlich, wenn er anmerkt, Paulus habe sich in die von ihm angeblich kritisierte Aussage mit einbezogen, obwohl sie auf ihn gar nicht zutrifft. Aber Paulus schreibt nun einmal in der 1. Pers. Pl., die ihn mindestens mit einschließt, nach unserer Lesart sogar allein ihn selbst meint. Eine Distanzierung von der Aussage des V. 6 oder eine irgendwie geartete kritische Bezugnahme auf gegnerische oder korinthische Anschauungen ist am Wortlaut nirgends ablesbar. Paulus redet hier schlicht von sich selbst, und so lässt sich V. 6 wie der Passus 5,1–10 überhaupt auch interpretieren. die über den Tod hinausblickende positive Erwartungshaltung, indem sie der Erkenntnis des „Weisen“ zugeschrieben und gegen die Erkenntnislosigkeit des „Toren“ ausdrücklich abgegrenzt wird, in einen ethischen Deutungshorizont gerückt, der auch für das Verständnis der paulinischen Aussage einschlägig sein dürfte. 324 Schmithals, Gnosis 232. 325 Lang, Forschung 192. 326 Furnish, 2Kor 302. 327 Von der Osten-Sacken, Römer 120–123. 328 Murphy-O’Connor, Body 215. 329 Vgl. Wolff, 2Kor 112 Anm. 326.

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Es besteht auch kein Anlass, die anakoluthe Satzkonstruktion von V. 6 darauf zurückzuführen, dass Paulus mit der Aussage dieses Verses selber nicht ganz zufrieden war,330 oder dass gar Textverderbnis vorliegt.331 An der in V. 6.8 thematisierten Alternative „daheim im Leib“ vs. „daheim beim Herrn“ wird außerdem deutlich, dass es in 5,1–5 schwerlich das Anliegen des Paulus gewesen sein kann, in Anknüpfung an 1Kor 15 das Vorhandensein eines himmlischen sw`ma sicherzustellen,332 denn sonst hätte er kaum gleich anschließend von einem „Auswandern aus dem Leib“ gesprochen, ohne das Vorhandensein eines himmlischen sw`ma ebenso unmissverständlich zur Sprache zu bringen, wie er seine Distanzierung vom irdischen sw`ma betont.333 Wie aber kommt es zu dieser Distanzierung? Was hat Paulus veranlasst, ausdrücklich festzustellen, dass er sein sw`ma zu verlassen wünscht? Die Antwort im Rahmen unserer These lautet, dass das dauerhafte334 Bewusstsein der Abständigkeit vom eigenen Leib im Diskurs antiker ars moriendi ein wesentliches Erfordernis an einen vorbildlichen Charakter darstellt. Seine Wurzeln hat dieser Gedanke im Platonismus – Schlüsseltexte hierzu finden sich einmal mehr im Phaidon – doch wurde er auch in der Stoa rezipiert. Gemeinsame anthropologische Determinante ist der Dualismus von sw`ma und yuchv. Stets ist es die Seele, die nach diesen Texten dem Körper wesensfremd ist und schon bei Lebzeiten alles daransetzen muss, sich vom Körper zu distanzieren, damit die Auflösung der Verbindung von Leib und Seele, die sich im Augenblick des Todes ereignet, nicht misslingt. Es muss kein Wort darüber verloren werden, dass Paulus die anthropologische Prämisse dieser Anschauung nicht teilt. In der Literatur wird dies zur Genüge 330 So Furnish, 2Kor 302: „That Paul is not entirely pleased with the polemically formulated antithesis in V. 6b is suggested [...] by the fact that he interrupts his own sentence.“ Lang, Forschung 192 hält die inklusive Formulierung des s. E. polemischen V. 6b für unangemessen und meint. „Er [Paulus] spürt das offenbar [...] und bricht die Konstruktion ab.“ 331 Dies hat Windisch, 2Kor 166 angenommen. 332 Vielmehr will er den Begriff des Auferstehungsleibes, der ausweislich 1Kor 15 zwischen ihm und den Korinthern strittig war, in 2Kor 5 offenbar lieber metaphorisch umschreiben, als ihn beim Namen zu nennen; vgl. die Auseinandersetzung mit Sellin (Streit) und Walter (Eschatologie, Auferstehung) auf S. 256ff, bes. S. 270. 333 Es ist doch sehr ausweichend formuliert, wenn Sellin, Streit 212 feststellt, dass „Paulus in 2Kor 5,6ff den Gedanken der Leiblichkeit als ‚Ferne vom Herrn‘ aufgreift.“ Das tut er natürlich auch, aber das Pendant zu diesem Gedanken, dass das Sein beim Herrn das Ablegen des irdischen Leibes erfordert, schaut doch der hellenistischen Position, die Sellin zufolge auch in 2Kor 5,1–10 die Frontstellung der paulinischen Argumentation bildet, zum Verwechseln ähnlich, und das mit Grund (s. dazu gleich). 334 Das pavntote spricht nicht gegen eine Deutung des qarrei`n auf das Todesthema zugunsten einer unspezifischen Daseinshaltung (so die in Anm. 304 genannten Ausleger). Man vergleiche die vorbildliche Haltung zum Sterben, die Josephus der Gestalt des Mose attestiert (s.o. S. 130): Die positive Einstellung zu seinem eigenen Sterben hatte Mose a{panti tw`æ crovnwó. Vgl. auch das von Seneca geforderte cotidie meditare einer gelassenen Todeserwartung (s.o. S. 197).

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immer wieder betont: Der bewusste Wesenskern des Menschen ist bei Paulus nirgends eine vom Leib unterschiedene, autark „lebensfähige“ Seele.335 Hierin liegt in der Tat ein Proprium paulinischer Anthropologie im Gegenüber zum hellenistischen (und hellenistisch-jüdischen)336 mainstream seiner Zeit. Damit ist indes die Frage nicht geklärt, warum Paulus dann überhaupt auf diese Denkfigur zurückgreift, im Gegenteil, die Frage wird dann überhaupt erst richtig interessant. Wenn nämlich der Gedanke, das irdische Dasein sei qua ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati defizitär, quer zur sonstigen paulinischen Anthropologie liegt, ist ja erst recht zu fragen, warum Paulus ihn so prononciert vorträgt. Eine in der Sache grundsätzlich nicht undenkbare, durch Wortlaut und Kontext jedoch nicht gerechtfertigte polemische Interpretation von V. 6 erübrigt sich, wenn man in Rechnung stellt, dass die bewusst vollzogene Distanzierung vom Leib nach antiker Auffassung eine Haltung von erheblicher ethischer Tragweite darstellt. Dieser ethische Aspekt hat neben dem anthropologischen (Leib-Seele-Dualismus) stets ein eigenes Gewicht. Deutlich wird dies etwa an einer Phaidon-Stelle, auf die wir weiter oben bereits gestoßen sind (114d–e):337 Angesichts des Todes kann derjenige mit Recht guten Mutes sein, o{sti~ ejn tw`æ bivwó ta;~ [...] a[lla~ hJdona;~ ta;~ peri; to; sw`ma kai; tou;~ kovsmou~ ei[ase caivrein, „der im Leben die anderen Lüste, die es mit dem Leibe zu tun haben und dessen Schmuck und Pflege, hat fahren lassen.“ Hier ist nicht nur die Distanzierung vom Leib ethisch motiviert, sondern es besteht auch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer ethisch verantworteten Lebenshaltung und einem positiven Todesverständnis. Nach Phaid. 68b–c gilt analog der Umkehrschluss von fehlender Todesbereitschaft auf ein dem Leib Verhaftetsein, und dies ist seinerseits Ausdruck schwerer charakterlicher Mängel. Sokrates äußert gegenüber seinem Dialogpartner:338 oujkou`n [...] iJkanovn soi tekmhvrion, e[fh, tou`to ajndrov~, o}n a]n i[dhæ~ ajganaktou`nta mevllonta ajpoqanei`sqai, o{ti oujk a[rÆ h\n filovsofo~ ajllav ti~ filoswvmato~; oJ aujto;~ dev pou ou|to~ tugcavnei w]n kai; filocrhvmato~ kai; filovtimo~, h[toi ta; e{tera touvtwn h] ajmfovtera. – Also [...] ist dir auch das wohl ein hinlänglicher Beweis von einem Manne, wenn du ihn unwillig siehst, indem er sterben soll, dass er nicht die Weisheit liebte, sondern den Leib irgendwie? Denn wer den liebt, derselbe ist auch geldsüchtig und ehrsüchtig, entweder eines von beiden oder beides.

335

Vgl. etwa Hoffmann, Toten 282f. Einschlägige Texte außer Philo sind TestAbr. Rez. A 1,7; 15,7 (freilich schon Windisch, 2Kor 166 „christlicher Beeinflussung verdächtig“, ein Verdacht, der später auch von Dupont, SUN XRISTW 160f und Hoffmann, Toten 284 Anm. 150 ausgesprochen wurde); 4Esra 7,78; syrBar. 14,12f; ApkSedr. 11,16. 337 S.o. S. 317. 338 S.o. S. 155. 336

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Der filoswvmato~ ist nach dieser Definition das Gegenteil des filovsofo~, und als solcher notwendigerweise ein schlechter Mensch, bei dem man allerhand niedere Beweggründe vermutet. In 80e–81c wird diese ethische Disjunktion physikalisch expliziert:339 Während die Seele des Philosophen sich im Augenblick des Todes mühelos vom Leib zu lösen vermag, gelingt diese Ablösung dem nicht, dessen Seele bei Lebzeiten in zu engem Verkehr mit dem Leib stand. Eine solche Seele ist dazu verurteilt, erneut in den Kreislauf der Wiedergeburten einzutreten. An dieser Stelle wird der Unterschied zur paulinischen Anthropologie und Soteriologie hinreichend deutlich. Gleichwohl haben die platonische Seelenmetaphysik und der paulinische Gedanke in der im Horizont des Todesproblems vollzogenen, ethisch relevanten Distanzierung vom eigenen sw`ma ein gemeinsames Substrat. Paulus macht sich diese Distanzierung soweit zu eigen, dass die damit verbundene ethische „Signalwirkung“ seinem vom Todesproblem her entworfenen Selbstportrait in 2Kor 5,1–10 zugute kommt: Die grundlegende Orientierung „weg vom Leib“, die für den common sense hellenistischer Popularphilosophie einen vorbildlichen Charakter auszeichnet, ist auch seine eigene. Weitere Vergleichstexte lassen die ethischen Implikationen der paulinischen Aussage noch deutlicher zu Tage treten. Auch im Platonismus philonischer Prägung korrespondiert dem anthropologischen Dualismus stets ein ethischer. Philo führt zu Gen. 15,13 aus, o{ti tw`æ filarevtwó katoikei`n ouj divdwsin oJ qeo;~ wJ~ ejn oijkeivaæ gh`æ tw`æ swvmati, ajlla; paroikei`n wJ~ ejn ajllodaph`æ movnon ejpitrevpei cwvraæ. ginwvskwn gavr fhsi gnwvshæ, o{ti pavroikon e[stai to; spevrma sou ejn gh`æ oujk ijdivaæ. panto;~ de; fauvlou suggene;~ to; swvmato~ cwrivon, ejn w|æ meleta`æ katoikei`n, ouj paroikei`n. – dass Gott dem Freunde der Tugend nicht gestattet in dem Körper wie in einem Heimatlande zu wohnen, sondern dass er von ihm verlangt, darin wie ein Fremdling im fremden Lande zu weilen. ‚Wissen sollst du‘, sagt er, ‚dass ein Fremdling dein Same sein wird in einem nicht ihm gehörigen Lande‘. Zu jedem Schlechten dagegen passt die Örtlichkeit des Körpers, in dem er zu wohnen trachtet, nicht zu verweilen wie ein Fremdling (Her. 267).

Es zeichnet den filavreto~ aus, dass er sich im Leib nicht zu Hause weiß. Der Leib ist zwar sein Aufenthaltsort, er ist aber nicht aber sein Heimatland (oijkeiva gh`), im Unterschied zum fauvlo~, der sich im Leib bleibend zu Hause wähnt und sich dort dauerhaft niederlassen (katoikei`n), anstatt bloß als Fremder verweilen will (paroikei`n).

339

S.o. S. 156.

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Das Bewusstsein der Fremdheit im irdischen Leben spielt auch für den Neuakademiker Cicero eine Rolle. In Sen. 84 legt Cicero dem alten Cato Censorius die Worte in den Mund:340 Ex vita ita discedo tamquam ex hospitio, non tamquam e domo. commorandi enim natura devorsorium nobis, non habitandi dedit. o praeclarum diem, cum in illud divinum animorum concilium coetumque proficiscar cumque ex hac turba et conluvione discedam. – Ich scheide aus dem Leben wie aus einer Herberge, nicht wie aus einer Behausung. Die Natur hat uns ja eine Unterkunft zum vorübergehenden Verweilen, nicht zum Wohnen gegeben. Wie herrlich wird der Tag sein, an dem ich mich zu jener göttlichen Versammlung und Gemeinschaft der Seelen aufmache und aus diesem verworrenen Gedränge scheide.

Dieser Text steht der paulinischen Aussage in zweifacher Hinsicht näher als die angeführte Philostelle. Erstens steht hier an der Stelle der autarken Seele einfach das Subjekt des Sprechers, und zweitens wird das irdische Dasein nicht als solches abqualifiziert – vielmehr äußert Cato unmittelbar vorher: ita vixi, ut non frustra me natum existimem, „ich habe so gelebt, dass ich meine, nicht vergeblich geboren worden zu sein“ –, sondern es erscheint lediglich als das im Vergleich mit dem erwarteten postmortalen Geschick weniger Wünschenswerte. Wie bei Platon und Plutarch ist indes auch bei Cicero die bewusste Distanz vom Dasein im Leib341 zugleich auch Merkmal eines vorbildlichen Charakters (Platon: filovsofo~; Philo: filavreto~; Cicero: sapientissimus342). Dieser ethische Aspekt ist in den einschlägigen Texten so flächendeckend vorhanden, dass für die antike Rezeption von 2Kor 5,6 ein analoger Deutungshorizont angenommen und in einem zweiten Schritt auf eine entsprechende Mitteilungsabsicht der paulinischen Aussage geschlossen werden darf: Es geht Paulus auch in V. 6 nicht um die Formulierung eines gemeingültigen eschatologischen Lehrsatzes, sondern um die Beschreibung seiner persönlichen Daseinshaltung im Blick auf den Tod, die ihn als ethisch hochstehenden Menschen ausweist. Damit ergänzt er sein vom Todesproblem her entworfenes Selbstportrait um einen weiteren wichtigen Aspekt.

340

Zu Cicero s. außerdem unter II.6.4. Hier liegt die Besonderheit der paulinischen Aussage im Vergleich zum allgemein christlichen Fremdheitsgefühl, das Hoffmann, Toten 282f für „eine Bestimmung der Herkunft der paulinischen Vorstellung“ für ausreichend hält. Die in V. 6 konstatierte Fremdheit im sw`ma und die in V. 8 erklärte Entschlossenheit, das sw`ma zu verlassen, erfordert die Einordnung von V. 6.8 in einen weiteren hellenistischen Zusammenhang. 342 S.o. Anm. 323 zu Sen. 83. 341

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2.8 Die pivsti~ als adäquate Wahrnehmung des Vorläufigen (V. 7) Paulus hat sich in V. 6 eine Todesbereitschaft attestiert, die im Wissen um die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit des leiblichen Daseins wurzelt. Er schreibt sich damit eine Haltung zu, die in der hellenistischen Kultur hoch geschätzt wurde als Eigenschaft eines integeren Charakters. Diese Haltung erläutert Paulus in der gnomisch formulierten Parenthese V. 7 dia; pivstew~ ga;r peripatou`men ouj dia; ei[dou~. Semantisch ist diese Aussage alles andere als eindeutig. In der Forschung behaupten sich bis heute zwei Auslegungstypen, die sich in erster Linie in der Interpretation des Nomens ei\do~ („Gestalt“, „das Geschaute“)343 voneinander unterscheiden: Einmal kann darunter die „Gestalt“ des kuvrio~ verstanden werden, aber auch die irdischsichtbare (vielleicht auch: die eschatologische) „Gestalt“ des sw`ma. Hieran entscheidet sich dann die Bedeutung von pivsti~: Entweder ist die vorläufige Erkenntnis des kuvrio~ bzw. die vorläufige Gemeinschaft mit dem kuvrio~ im Blick – der intendierte Gegensatz ist dann die volle Christusgemeinschaft im Eschaton –, oder aber die rechtmäßige Orientierung am nicht Sichtbaren im Gegensatz zu einer inadäquaten Orientierung am Sichtbaren.344 Im Rahmen unserer These setzt die Aussage des V. 7, je nachdem, welcher Auslegung wir uns anschließen, lediglich unterschiedliche Akzente. Es will außerdem nicht gelingen, einen der beiden Auslegungstypen mit hinreichender Sicherheit als dem Kontext zuwiderlaufend auszuscheiden. Beide Interpretationen ergeben im argumentativen Zusammenhang der Aussage einen guten Sinn. Wir lassen deshalb zunächst beide Deutungen je für sich zu ihrem Recht kommen und versuchen anschließend, sie als komplementäre Aspekte einer mit Absicht offen gehaltenen Semantik zu verstehen. 2.8.1 Die pivsti~ als vorläufiger Modus der Gemeinschaft mit dem kuvrio~ Diese Deutung, die ei\do~ auf die eschatologische Schau der „Gestalt“ Christi bezieht, wird von der Mehrheit der Ausleger vertreten.345 Paulus prä343

Gegen die aktivische Übersetzung „Schauen“, wie sie u.a. Windisch, 2Kor 167; Lietzmann, 2Kor 121 und Bauer/Aland, Wörterbuch 446 (wohl um der Parallelität zu der als fides qua verstandenen pivsti~ willen) annehmen, haben schon Heinrici, 2Kor 185 und Kittel ei\do~, 372 eingewendet, dass es für eine aktive Bedeutung von ei\do~ keine Belege gibt. Auch die bei Bauer/Aland (Wörterbuch) hierfür angeführte Stelle Num 12,8LXX stovma kata; stovma lalhvsw aujtw`æ, ejn ei[dei kai; ouj diÆ aijnigmavtwn, kai; th;n dovxan kurivou ei\den verfängt nicht, wie Baumert, Sterben 227f und Thrall, 2Kor 387f gezeigt haben. 344 Vgl. dazu die bei deLorenzi, Diakonia 113–119 protokollierte Diskussion im Anschluss an das Referat von Dautzenberg, Glaube. 345 Meyer, 2Kor 136; Heinrici, 2Kor 185; Plummer, 2Kor 151; Bachmann, 2Kor 234; Windisch, 2Kor 167; Strachan, 2Kor 103; Allo, 2Kor 131; Hering, 2Kor 49; Hughes, 2Kor 176f; Prümm, 2Kor 300f; Kümmel, Anhang 203; Klauck, 2Kor 51; Thrall, 2Kor 388f; Scott, 2Kor 116.

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zisiert dann die Aussage ejndhmou`nte~ ejn tw`æ swvmati ejkdhmou`men ajpo; tou` kurivou dahin gehend, dass der pivsti~ als der bei Lebzeiten allein möglichen Form der Christusgemeinschaft und -erkenntnis346 der Aspekt des Vorläufigen inhärent ist, sofern sie noch nicht der „Gestalt [...] des erhöhten Herrn in seiner verklärten Leiblichkeit“347 ansichtig wird. Es ist derselbe Gegensatz von vorläufigem und vollkommenem Erkennen, den Paulus auch in 1Kor 13,12 thematisiert.348 Durch diesen Gegensatz gerät die pivsti~, der Definition von Röm 8,24 entsprechend (ejlpi;~ de; blepomevnh oujk e[stin ejlpiv~), in die Nähe der ejlpiv~.349 Allerdings sagt Paulus ouj dia; ei[dou~, nicht ou[pw dia; ei[dou~, ganz abgesehen davon, dass V. 7 nicht so verstanden werden kann, als werde dereinst das peripatei`n dia; pivstew~ durch das peripatei`n dia; ei[dou~ abgelöst; peripatei`n meint bei Paulus vielmehr stets den irdischen Lebenswandel und nicht den Vollendungszustand. Die Vorläufigkeit der pivsti~ ist also in erster Linie im Sinne einer qualitativen Beschränkung zu verstehen, nicht eines chronologischen „noch nicht“. Wiederum geht es Paulus nicht um die Formulierung eines eschatologischen Sachverhalts, sondern um die Beschreibung seiner persönlichen Haltung: Sein Dasein im Leib ist „nur“ ein solches dia; pivstew~, nicht dia; ei[dou~. Anscheinend wird hier der negative Akzent von V. 6 (das „Fernsein vom Herrn“ während des leiblichen Daseins) mit anderer Begrifflichkeit nochmals wiederholt und damit verstärkt. Warum mag Paulus daran gelegen haben, die Negativität des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati durch den Hinweis auf die Vorläufigkeit der pivsti~ nochmals zu betonen? Die Vertreter der antignostischen Interpretation von 2Kor 5,1–10 haben hier eine polemische Aussage vermutet, die gegen gnostisches Vollendungsbewusstsein gerichtet ist. Für Bultmann liegt mit V. 7 ein „antignostischer christlicher Fundamentalsatz“ vor.350 Paulus kann den Gedanken von V. 6 in V. 8 erst wieder aufnehmen, nachdem „in V. 7 durch die Betonung der vorläufigen Existenz der gnostische Wahn abgewiesen und das ejkdhmou`men ajpo; tou` kurivou gesichert ist.“351 Auch nach Schmithals 346

Vergleichbar ist Gal 2,20 o} de; nu`n zw` ejn sarkiv, ejn pivstei zw` th`æ tou` uiJou` tou` qeou` ktl, jedoch nur hinsichtlich der durchgängigen Bestimmtheit des zh`n ejn sarkiv durch die pivsti~. Der vorläufige Charakter der pivsti~ spielt an dieser Stelle, wie mit Furnish, 2Kor 302 gegen Windisch, 2Kor 167 und Bultmann, 2Kor 142 zu betonen ist, keine Rolle. Die sarkischen Lebensvollzüge werden durch die pivsti~ reglementiert, nicht die pivsti~ durch die Vergleichsgröße ei\do~ relativiert. 347 Klauck, 2Kor 51. 348 Windisch, 2Kor 167 sieht in V. 7 geradezu „ein Verkürzung und Verdeutlichung“ von 1Kor 13,12: „dia; pivstew~ entspricht dem diÆ ejsovptrou ejn aijnivgmati und ejk mevrou~, dia; ei[dou~ dem provswpon pro;~ provswpon.“ 349 Bultmann, 2Kor 142. Auch Hebr 11,1 gehört hierher: e[stin de; pivsti~ ejlpizomevnwn uJpovstasi~, pragmavtwn e[legco~ ouj blepomevnwn. 350 Bultmann, 2Kor 143 mit H. Jonas, Gnosis 48. 351 Bultmann, 2Kor 143.

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ist V. 7 gegen das Selbstverständnis korinthischer Gnostiker gerichtet, die „bereits im Schauen [wandeln]“,352 eine Interpretation, die ebenso Hoffmann in Erwägung zieht.353 Doch liegen auch hier keine Textsignale für eine polemische Aussageabsicht vor.354 Vielmehr präzisiert Paulus in V. 7 die in V. 6b explizierte Wissensgrundlage seiner persönlichen Todesbereitschaft, und für diese Präzisierung lässt sich ein sachlicher Grund anführen, der die Hypothese einer polemischen Frontstellung überflüssig macht: V. 7 modifiziert die Antithese von V. 6 dahin gehend, dass das ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati nicht als totale Ferne von Christus aufzufassen ist. Vielmehr ist Gemeinschaft mit ihm im Modus der pivsti~ möglich. In diese Richtung gehen die Auslegungen von Plummer, Hughes und Zeilinger. Plummer meint, dass „[t]he Apostle seems to feel that ejkdhm[ou`men] ajpo; tou` kurivou may cause perplexity, and he hastenes to explain in what sense such an expression is true.“355 Nach Hughes will Paulus in V. 6bb nicht in Abrede stellen, „that in this life Christ in already very really present with believers [...]. It is precisely for the purpose of averting misunderstanding that the parenthesis of verse 7 is inserted.“356 Ähnlich interpretiert Zeilinger: „Die Unsichtbarkeit des erhöhten Herrn bedeutet für Paulus [...] nicht, keine Gemeinschaft mit Christus zu haben, da die Beziehung des Glaubens die sinnenhafte Trennung überwindet und der gegenwärtigen Lebensführung als Basis dient.“357 Der argumentative Fortschritt von V. 7 bestünde dann nicht darin, dass es bei Lebzeiten „nur“ die pivsti~ gibt, sondern umgekehrt, dass „immerhin“ diese Form der Gemeinschaft mit dem kuvrio~ möglich ist, „wenngleich“ die pivsti~ nicht ei\do~ ist.358 Wenn wir den so verstandenen V. 7 versuchsweise in den weiteren Horizont antiker Sterbe-Ethik rücken, bietet sich als nächste Parallele ein Pas-

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Schmithals, Gnosis 232. Hoffmann, Toten 280 Anm. 126; zustimmend auch Carrez, 2Kor 135. 354 Vgl. schon S. 295f zu V. 4b. 355 Plummer, 2Kor 151. 356 Hughes, 2Kor 176. Ähnlich Furnish, 2Kor 303: Die Aussage V. 7 „makes it equally clear that Paul does not believe life in the body is incompatible with life in Christ. Lest that false conclusion be drawn from the [...] antithesis of V. 6b, he repeats the antithesis now in a radically altered form.“ 357 Zeilinger, 2Kor 233f. 358 Vgl. auch Grundmann, dh`mo~ 63: „Mit dem Begriff der pivsti~ ist eine Wirklichkeit im menschlichen Leben genannt, die die absolute Trennung überwindet.“ Diese Auslegung operiert mit einer Vertauschung von Thema und Rhema, aber doch nicht notwendigerweise mit einer der ursprünglichen Mitteilungsabsicht zuwiderlaufenden Verwechselung. Es ist durchaus möglich, dass Paulus die zentrale Aussage von V. 7 absichtlich beiläufig einflicht. V. 7 bleibt formal im argumentativen Duktus von V. 6b, setzt aber inhaltlich einen gegenläufigen Akzent. Erst recht wird V. 7 verständlich, wenn Paulus diese Aussage, wie wir vermuten, bewusst auch für die Deutung des Auslegungstyps (b) offen halten wollte, s. dazu unten. 353

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sus bei Seneca an. In EpMor. 102,22 lässt Seneca den humanus animus folgende Worte sprechen: Cum venerit dies ille qui mixtum hoc divini humanique secernat, corpus hic ubi inveni relinquam, ipse mediis reddam. Nec nunc sine illis sum, sed gravi terrenoque detineor. – Wenn gekommen ist jener Tag, der die Mischung aus Göttlichem und Menschlichem trennt, werde ich den Körper hier, wo ich ihn gefunden habe, zurücklassen, mich selbst den Göttern wiedergeben. Und jetzt bin ich nicht ohne sie, doch von der Erdenschwere werde ich zurückgehalten.

Die Aussage nec nunc sine illis sum, sed gravi terrenoque detineor ist dem mit Plummer und Hughes nach Auslegungstyp (a) verstandenen Vers 2Kor 5,7 direkt vergleichbar: Auch bei Seneca wird die Fremdheit der Seele in der irdisch-leiblichen Existenz dahingehend modifiziert, dass damit keine totale Gottferne ausgesagt ist. Auch im irdischen Leben ist die Seele „nicht ohne sie [d.h. die Götter]“ – das entspricht dem dia; pivstew~ [...] peripatou`men – und wie in 2Kor 5,7 (ouj dia; ei[dou~) wird dieses Positive gleich wieder eingeschränkt: sed gravi terrenoque detineor. Seneca entwirft hier keine Lehre vom postmortalen Geschick der Seele, vielmehr skizziert er eine ideale Geisteshaltung, die das Ende der irdischen Existenz zwar ersehnt, aber doch nicht so massiv, dass sie sich in ihrer Sehnsucht verzehren würde: Mit der nachgeschobenen Erläuterung nec nunc sine illis sum legt Seneca der Seele das Argument in den Mund, das sie trotz ihrer Sehnsucht nach dem Drüben im Diesseits verharren lässt. Der totale Dualismus wird damit zurückgewiesen, doch so wenig wie in 2Kor 5,7 aus der Ablehnung der gnostischen Option heraus, sondern im Interesse einer seelischen Balance, die den Tod zwar ersehnt, jedoch keinen Anlass hat, ihr Gleichgewicht damit aufs Spiel zu setzen, dass sie ihn erzwingen will. Antiker ars moriendi ist alles daran gelegen, dass der Affekt der Todessehnsucht beherrschbar bleibt. Er braucht, um nicht außer Kontrolle zu geraten, ein argumentatives Gegengewicht.359 Die Aussage dia; pivstew~ ga;r peripatou`men ouj dia; ei[dou~ kann als ein solches Gegengewicht verstanden werden: Paulus will zu verstehen geben, dass er ungeachtet seiner Todesbereitschaft im Leib auszuharren vermag, weil auch dieser Zustand 359 Von der notwendigen Balance zwischen Lebenswillen und Todesbereitschaft her lässt sich auch die gegenläufige Charakterisierung des irdischen Lebens als frourav im Sinne der „Bewachung“ von Gefangenen einerseits und als Wirkungsbereich der göttlichen „Fürsorge“ andererseits in Phaid. 62b–63a verstehen (s.o. S. 154). Sokrates’ Dialogpartner Kebes greift in 62d das Stichwort des göttlichen ejpimelei`sqai auf, das Sokrates in 61b in die Diskussion eingebracht hat, und entwickelt daraus den Gedanken, dass es nicht nur nicht statthaft sei, die frourav des Lebens ohne göttliches Geheiß zu verlassen, sondern dass, wenn denn das Erdendasein doch der Bereich der Fürsorge der Götter für die Menschen ist, schon der Wunsch zu sterben als solcher zu verwerfen sei. Sokrates lässt diesen Einwand in seiner Entgegnung in 63b unwidersprochen und erwidert lediglich, dass er „zu anderen Göttern“ komme, „die auch weise und gut sind“ (para; qeou;~ a[llou~ sofouv~ te kai; ajgaqouv~).

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kraft der pivsti~ eine – wenngleich unvollkommene – Gemeinschaft mit dem kuvrio~ zeitigt. Die so verstandene Aussage von V. 7 hätte zugleich Konsequenzen für das Verständnis von V. 8, wo Paulus ja ausdrücklich seine Entschlossenheit thematisiert, den Leib zu verlassen und beim kuvrio~ zu sein. Dadurch, dass der irdische Lebenswandel als peripatei`n dia; pivstew~ qualifiziert ist, kann der Wunsch nach dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ nicht als angestrebte Flucht aus der totalen Negativität aufgefasst werden. Wer zu sterben wünscht, aber gleichwohl am Leben bleibt, muss dies nach antikem Verständnis begründen können, wenn er sich nicht unglaubwürdig machen will.360 Für Paulus ist mit dem peripatei`n dia; pivstew~ der Grund namhaft gemacht, der ihn bei aller Todesbereitschaft im Leib verharren lässt. Insofern ist die pivsti~ dem in V. 5 angesprochenen pneu`ma vergleichbar: Mit der Gabe des pneu`ma lässt Gott Paulus schon hier und jetzt einen „Vorgeschmack“ des noch ausstehenden vollen Heils zuteil werden, und dies determiniert sein Wollen im Blick auf den Tod als Heilssehnsucht, nicht aber, trotz des beschwerlichen Seins im Zelt, als Todessehnsucht. 2.8.2 Die pivsti~ als adäquate Orientierung am Nicht-Sichtbaren Die Ausleger, die ei\do~ auf die „Gestalt“ des sw`ma beziehen, sind bisher in der Minderheit, doch findet diese Deutung in der neueren Forschung zunehmend Anhänger.361 Die pivsti~ ist nach dieser Interpretation nicht der vorläufige Modus der Christuserkenntnis bzw. –gemeinschaft, sondern die adäquate Orientierung an der nicht sichtbaren Wirklichkeit im Gegensatz zu einem inadäquaten Verhaftetsein im Sichtbaren. Die pivsti~ steht in diesem Fall nicht für ein Erkenntnisdefizit, sondern umgekehrt für einen Erkenntnisgewinn, defizitär ist nun vielmehr das peripatei`n dia; ei[dou~. Die pivsti~ bildet dann die Erkenntnisgrundlage, die die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati offenlegt. Einem peripatei`n dia; ei[dou~ wäre diese Erkenntnis verschlossen. Es wäre ein Lebenswandel, der der äußerlichen, sichtbaren „Gestalt“ des sw`ma verhaftet wäre, und dem der das ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati relativierende Erkenntnisstandpunkt verschlossen bliebe. 5,7 gerät damit in unmittelbare Nähe zu 4,18b mh; skopouvntwn hJmw`n ta; blepovmena ajlla; ta; mh; blepovmena. Das peripatei`n dia; pivstew~ öffnet den Blick für (bzw. nach 5,6: das Wissen um)362 das nicht Sichtbare, das ewig ist und das Sichtbare relativiert. 360 Vgl. die im II. Teil gesammelten Texte, die Kritik an habitueller Todessehnsucht üben: Martial (I.4.2), Epikur (S. 181) und Seneca (S. 201). 361 Sie wurde Ende des 19. Jh. vertreten von von Hofmann, 2Kor 131f, später von Kittel, ei\do~ 372 und in neuerer Zeit erst wieder von Barrett, 2Kor 159 sowie von Lang, Forschung 190f; Baumert, Sterben 226ff; Furnish, 2Kor 303; Wolff, 2Kor 112f; Garland, 2Kor 265. 362 Das erläuternde ist gavr dann mit Collange, Enigmes 231 auf eijdovte~ auf zu beziehen.

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Mit dem peripatei`n dia; ei[dou~, das Paulus für sich selbst zurückweist, dürfte indes nicht nur die fehlende Einsicht in die Wirklichkeit des Glaubens im Blick sein, sondern in der Folge auch eine Fehleinschätzung seiner (des Paulus) körperlichen Erscheinung durch die Adressaten. So nimmt Wolff an, dass Paulus mit der correctio von V. 7 diejenigen im Blick hat, „die an seinen Leiden Anstoß nehmen und der Ansicht sind, daß an einem Apostel Gottes Herrlichkeit sichtbar sein müsse.“363 Paulus betont mit der Negation ouj dia; ei[dou~ nicht nur, dass er sich nicht am Sichtbaren orientiert, sondern er gibt auch zu verstehen, dass er seinerseits nicht nach dem äußeren Augenschein beurteilt werden will. Die Form der Aussage lässt keine polemische Absicht erkennen. Paulus unterstellt niemandem ein peripatei`n dia; ei[dou~. Man wird deshalb nicht mit Lang sagen können, Paulus unterscheide hier „zweierlei Menschengruppen. Die einen, zu denen er sich selber rechnet, lassen ihre Lebensführung durch den Glauben bestimmt sein, die anderen durch die äußere Erscheinung, d.h. durch das, was sie darstellen und aneinander sehen.“364 Die Wirkabsicht von V. 7 kann ja nicht darin bestehen, die Adressaten in zwei Lager zu spalten; vielmehr will Paulus seine Gemeinde geschlossen wieder für sich gewinnen. Der Sache nach ist die Formulierung Langs aber treffend: Paulus lehnt, was seine eigene Person betrifft, eine Sichtweise ab, die sich an dem orientiert, was man vor anderen darstellt, also am Ansehen und Sozialprestige.365 Die Qualität seines apostolischen Dienstes ist nur dann recht verstanden, wenn man, mit 4,7 gesprochen, um den „Schatz“ weiß, der sich unter der Oberfläche der „irdenen Gefäße“ verbirgt.366 Eine Variante dieser Auslegung hat mit Auslegungstyp (a) die eschatologische Komponente gemeinsam. Die Negation ouj dia; ei[dou~ ist nach dieser Deutung die gegenwärtig noch nicht sichtbare eschatologische Gestalt des Paulus (bzw. allgemein der Glaubenden). Kittel sieht im Begriff des ei\do~ „die Gestaltwerdung der Christen“ angesprochen, „welche in ihrem eigentlichen und vollen Sinn erst dem Zeitpunkt des ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion (v 8) angehört“,367 und Wolff versteht ei\do~ im Sinne der 363

Wolff, 2Kor 113. Lang, Forschung 190f. 365 Kritik und Zustimmung gilt in gleichen Teilen auch der Formulierung Furnishs, 2Kor 302, die Aussage in V. 7 sei „directed against those who have been guided by appearance rather than by faith when evaluating apostolic credentials“ (im Original z.T. kursiv). Paulus richtet sich hier weder direkt noch indirekt gegen seine Konkurrenten, die ihn in Korinth in Misskredit bringen wollen. Paulus will seine Gegner hier weder angreifen noch überzeugen, sondern ihre Argumente widerlegen, weil man diesen in Korinth Beachtung schenkt. Er will seinen Adressaten begreiflich machen, dass sie ihn falsch einschätzen, wenn sie sich deren Urteilskriterien, die er mit der Wendung dia; ei[dou~ auf den Begriff bringt, zu eigen machen. 366 Zutreffend auch Garland, 2Kor 265: „those who judge things only by outward appearances (physical weaknesses, suffering, near death experiences), cannot see the whole truth about him.“ 367 Kittel, ei\do~ 372 (im Original z.T. kursiv). 364

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„kommende[n] neuen[n] Leiblichkeit“.368 In diesem Fall lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen V. 7 und V. 1–5: Das ei\do~, von dem Paulus in V. 7 konstatiert, dass es für die irdische Existenz noch nicht zugänglich ist, ist dann identisch mit der oijkiva ajceiropoivhto~, die Paulus wie ein Gewand tragen und in der Gott ihn dereinst präsentieren wird.369 Damit wäre der Begriff des ei\do~ wieder aufgewertet: Gemeint wäre nun nicht eine oberflächliche Orientierung am Sichtbaren, sondern die noch ausstehende eschatologische Verwandlung. Der Gegensatz von pivsti~ und ei\do~ bedeutet dann, dass der eschatologische Status, den Paulus in 5,1–5 (und hier besonders in V. 1 und V. 3) für sich in Anspruch nimmt, noch nicht verwirklicht ist, sondern sich einstweilen allein vom Erkenntnisstandpunkt der pivsti~ aus erschließt.370 2.8.3 Versuch einer Zusammenschau Die beiden dargestellten Möglichkeiten, V. 7 in den argumentativen und gedanklichen Kontext einzuordnen, können und müssen nicht als strikte Auslegungsalternativen verstanden werden. Die formelhaft kurze Ausdrucksweise, die einen sachlichen Bezug in beide Richtungen zulässt, kommt möglicherweise nicht von ungefähr: Paulus musste die in V. 6 konstatierte Distanzierung vom sw`ma als Ausdruck idealer Todesbereitschaft einerseits auf den konkreten apologetischen Argumentationszusammenhang zuspitzen, andererseits aber modifizieren. Die apologetische Zuspitzung nimmt den Gedanken von 4,18b auf und verwirft noch einmal die Orientierung an der sichtbaren Gestalt des irdischen Leibes. Aus der Gegenüberstellung von peripatei`n dia; pivstew~ und peripatei`n dia; ei[dou~ kann die Aussage abgeleitet werden, dass wer „durch Glauben wandelt“, gar nicht auf den Fehler verfallen kann, Paulus nach der Niedrigkeitsgestalt seines irdischen Leibes zu beurteilen. Das sw`ma (V. 6) kommt durch das Stichwort ei\do~ in V. 7 also in den Blick nicht als das anthropologisch Gegebene, sondern als das empirisch Vorfindliche: Paulus distanziert sich nicht von der Leiblichkeit als solcher, sondern von seinem eigenen Leib, sofern er dessentwegen von seinen Konkurrenten verachtet wird, und er stellt seine Adressaten implizit vor die Alternative, entweder die Sichtweise der Gegner zu teilen und sich der pivsti~ zuwider 368

Wolff, 2Kor 113. Zum hierbei vorausgesetzten Bezug von 5,3 auf 4,14 vgl. S. 255. 370 Vielfach wird in den Kommentaren auf 1Joh 3,2 ou[pw ejfanerwvqh tiv ejsovmeqa als Sachparallele hingewiesen. Die Einschränkung bezieht sich hier wegen V. 1 oJ kovsmo~ ouj ginwvskei hJma`~ wohl nicht auf mangelnde Selbsterkenntnis der Glaubenden, sondern auf das noch ausstehende Offenbarwerden vor der Welt. Auch in 2Kor 5,7 meint die Negation ouj dia; ei[dou~ kein Erkenntnisdefizit – vielmehr macht Paulus ja in 5,1–5 höchst präzise Aussagen über seine eschatologische Identität – sondern das noch ausstehende Sichtbarwerden vor anderen, in seinem Fall: vor seiner Gemeinde. 369

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zu verhalten, oder aber wie er selbst „durch Glauben zu wandeln“ und die Sichtweise der Gegner zu verwerfen. Die gleichzeitige Relativierung der in V. 6 konstatierten Distanzierung vom sw`ma ist dadurch gegeben, dass das peripatei`n dia; pivstew~ ein Tatbestand ist, der sich – bei beiden Auslegungsvarianten – unter den Bedingungen des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati vollzieht. Wird der relationale Aspekt der pivsti~ betont, kann von einem vorläufigen Modus der Gemeinschaft mit dem kuvrio~ schon während des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati gesprochen werden. Wenn man pivsti~ stärker kognitiv als dasjenige auffasst, woraus Paulus sein in V. 6 formuliertes „Wissen“ erwächst, ist das peripatei`n dia; pivstew~ die Erkenntnisgrundlage, die die Einsicht in die Vorläufigkeit des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati eröffnet, dasselbe eschatologisch „einklammert“ und dadurch erträglich macht. 2.9 Todesbereitschaft aus Heilsverlangen (V. 8) Nach der parenthetisch formulierten Erläuterung seiner Distanzierung vom

sw`ma durch den Hinweis auf die pivsti~ in V. 7 nimmt Paulus den Faden von V. 6 wieder auf, indem er mit qarrou`men dev an qarrou`nte~ ou\n in V. 6 anknüpft,371 wobei das Anakoluth eher ein gezielter rhetorischer Effekt zur Hervorhebung des qarrei`n als ein syntaktischer Unfall zu sein scheint.372 Wir haben gesehen, dass Paulus das qarrei`n nicht trotz, sondern gerade wegen seines in V. 6 thematisierten und in V. 7 erläuterten „Wissens“ um die Vorläufigkeit des Daseins im irdischen Leib zu eigen ist. Deshalb ist es unbegründet, das an V. 7 anknüpfende dev adversativ zu verstehen, so als pflege Paulus das qarrei`n, obwohl das Sein im Leib Ferne vom Herrn bedeutet und obwohl das irdische Dasein ein peripatei`n dia; pivstew~ ouj dia; ei[dou~ ist. So wenig wie in V. 6 kaiv in kai; eijdovte~ konzessiv ist, so wenig ist in V. 8 dev in qarrou`men dev adversativ.373 Vielmehr besteht ein positives Entsprechungsverhältnis zwischen dem qarrei`n und dem Wissen

371 Die Funktion der Partikel dev ist mit Denniston, Particles 182 als wiederaufnehmend („resumptive“) aufzufassen. Dies ist häufig nach Anakoluthen zu beobachten: „Usually a word (or words) at the beginning, or in the middle, of a clause is picked up by repetition. [...] Often the insertion of dev seems due to anacoluthon.“ Vgl. auch Liddel/Scott/Jones, Lexicon 372 s.v. dev III.2: „to resume after an interruption or parenthesis“; Baumert, Sterben 238; Furnish, 2Kor 273; Thrall, 2Kor 389. 372 So sehr es für gesprochene Sprache zutrifft, dass das Anakoluth „Ergebnis mangelnder Satzplanung oder von Korrekturabsichten“ ist (Bussmann, Lexikon 77), so sehr ist doch zu beachten, dass das Anakoluth „auch bewusst als Stilmittel eingesetzt“ werden kann (Bussmann, Lexikon 78). In geschriebenen Texten dürfte letzteres der weitaus wahrscheinlichere Fall sein. 373 So m.R. schon von Hofmann, 2Kor 132.

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um den in V. 6f thematisierten Sachverhalt.374 In V. 8 wird außerdem nochmals deutlich, dass Paulus mit qarrei`n nicht einen unspezifischen „guten Mut“ meint, sondern eine positive Todesbereitschaft bzw. -erwartung. Sein qarrei`n geht nämlich einher mit dem Wunsch nach dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ kai; ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion. Der in V. 6 formulierten bewussten Distanz vom Dasein im Leib entspricht der in V. 8 artikulierte entschlossene Wille, diesen Leib zu verlassen, um in die volle Gemeinschaft mit dem kuvrio~ zu gelangen. Doch was ist mit dem „Auswandern aus dem Leib“ genau gemeint? Der Wortlaut legt auf den ersten Blick eine Interpretation des ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ als metaphorische Umschreibung des Sterbens nahe. Diese von der überwiegenden Mehrheit der Ausleger vertretene Deutung375 wird jedoch von Collange, Lang, Baumert und Furnish bestritten. Nach Auffassung dieser Exegeten geht es Paulus mit dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ nicht um das ersehnte Sterben, sondern um eine während des irdischen Daseins zu vollziehende Distanzierung von etwas, das Paulus hier mit sw`ma umschreibt. Collange versteht die Wendung im Sinne des paulinischen Begriffs der savrx und meint, „que ejn tw/` swvmati marquait [...] une manière d’être. C’est dans cette perspective, là aussi, qu’il faut comprendre, au V. 8, ejk tou` swvmato~.“ Das ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ fasst er dementsprechend nicht als Eingehen in die postmortale Christusgemeinschaft auf, sondern, in Analogie zu urchristlicher Bekehrungssprache (Beispiel: 1 Thess 1,9 ejpestrevyate pro;~ to;n qeo;n ajpo; tw`n eijdwvlwn ktl), als auch für den Christen immer wieder zu vollziehende Hinwendung zum kuvrio~, als Prozess, der mit der Taufe anhebt und durch das Leben des Christen hindurch andauert.376 Lang, der das ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ ebenfalls als kontinuierlichen Prozess auffasst, nennt Phil 3,13 ta; me;n ojpivsw ejpilanqanovmeno~ toi`~ de; e[mprosqen ejpekteinovmeno~ sowie 2Kor 4,16 eij

kai; oJ e[xw hJmw`n a[nqrwpo~ diafqeivretai, ajllÆ oJ e[sw hJmw`n ajnakai-

374 Das qarrei`n meint also weder in V. 6 noch in V. 8 ein getrostes Sich-Einrichten in der Welt trotz des Fernseins vom Herrn, wie Windisch, 2Kor 167f angenommen hat. Wäre dies der Fall, würde der Anschluss mit kai; eujdokou`men ma`llon ktl in V. 8 in der Tat schwierig, denn das erwünschte ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ stünde dann dem als Lebensmut verstandenen qarrei`n tatsächlich entgegen. Paulus würde dann sein qarrei`n gleich wieder erheblich relativieren, indem er „einen Wunsch“ formuliert, „der aus der entgegengesetzten Stimmung hervorgeht, nämlich aus der Unzufriedenheit mit der gegebenen Lage“ (167). Ein solcher doppelter Bruch – ein qarrei`n trotz des Fernseins vom Herrn (V. 6) und geschmälert durch den Wunsch nach dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ (V. 8) würde V. 6–8 in die Nähe einer (so Windisch selbst) „fruchtlose[n] Erörterung“ rücken, der Paulus dann mit V. 9 eine Ende setzte. Vgl. dazu des weiteren die Überlegungen zu V. 9. 375 U.v.a. Bachmann, 2Kor 235: „Das ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ geschieht durch das Sterben, die Entleiblichung.“ Garland, 2Kor 265: „to be away from the body“ als „a metaphor for death“. 376 Collange, Enigmes 236.

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nou`tai hJmevraæ kai; hJmevraæ als Sachparallelen dafür, „daß Paulus seine Existenz unter dem Doppelaspekt von Abkehr und Zukehr gesehen hat.“377 Ganz ähnlich paraphrasiert Baumert ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ mit „das Sichtbare als Lebenselement immer weiter aufzugeben“ und ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion mit „die Verbindung zu ihm [d.h. dem kuvrio~] immer intensiver zu gestalten.“378 Furnish schließt sich der Argumentation Langs an und meint, im Unterschied zu Phil 1,23, wo Paulus seinen physischen Tod im Blick hat, gehe es in 2Kor 5,8 um die persönliche Orientierung weg vom sw`ma und hin zum kuvrio~.379 Wir werden auf die (den Vertretern dieser Auslegung zufolge: vermeintliche) Parallele in Phil 1 noch zurückkommen. Zunächst ist auf sprachliche Argumente einzugehen. Die referierte Interpretation kann sich darauf berufen, dass die vorherrschende Übersetzung von eujdokou`men ma`llon mit „wir wollen lieber“, „wir bevorzugen“ o.ä. im Sinne einer Äußerung bloßen subjektiven Wünschens philologisch auf schwachen Füßen steht. Vielmehr dominiert bei eujdokei`n mit Infinitiv der Aspekt des Willensentschlusses,380 d.h. das Verbum bezieht sich in der Regel auf eine Handlung, deren „Ausführung im Vermögen des Wollenden steht.“381 Der individuelle, biologische Tod sei aber, so wird argumentiert, nicht möglicher Gegenstand eines solchen Entschlusses.382 Wird aber der Aspekt des Willensentschlusses ernst genommen, dann passt für ma`llon auch nicht mehr die gängige Übersetzung „lieber“, denn die Übersetzung „wir sind entschlossen, lieber auszuwandern“ (oder: „wir sind lieber entschlossen, auszuwandern“) würde den subjektiven Aspekt des Wollens (einmal als Entschluss und dann als Bevorzugung) sinnwidrig duplizieren. Baumert bezieht deshalb ma`llon auf das folgende ejkdhmh`sai und versteht es im Sinne einer „Intensivierung oder Steigerung des folgenden Verbalbegriffes“.383 Hierfür gibt es innerhalb der Paulusbriefe mit 2Kor 7,7 w{sqe me ma`llon crh`nai „sodass ich mich noch mehr freute“ und 2Kor 7,13 ma`llon ejcavrhmen „wir freuten uns noch mehr“ enge Parallelen. Dementsprechend wäre eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ zu übersetzen mit „wir sind entschlossen, noch mehr (oder: immer mehr) auszuwandern aus dem Leib.“ Dieses Auswandern würde in der Tat auf den punktuellen Vor377

Lang, Forschung 193. Baumert, Sterben 222. 379 Furnish, 2Kor 302. 380 Vgl. die Belege bei Schrenk, eujdokevw 737,20–22; 739,11ff. 381 Lang, Forschung 192. Baumert, Sterben 235 Anm. 436: Gemeint ist „die freie Verantwortlichkeit und eigene Entschlussfähigkeit“. Furnish, 2Kor 273: „that one determines by deliberate choice to do something.“ 382 So Lang, Forschung 192 und Baumert, Sterben 234: „als ob dies [d.i. das Sterben] in seiner [d.i. des Paulus] Hand läge!“ 383 Baumert, Sterben 235. 378

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gang des biologischen Todes nicht passen, wohl aber auf das prozesshafte Geschehen einer immer stärker und entschiedener einzuübenden Haltung. Thrall, die die Deutung des ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ auf den individuellen Tod mit Nachdruck gegen Baumert verteidigt, verweist für ejudokevw in der Bedeutung „bevorzugen, lieber wollen“ auf Sir 25,16 sunoikh`sai lev-

onti kai; dravkonti eujdokhvsw h] sunoikh`sai meta; gunaiko;~ ponhra`~

„mit Löwe oder Drache zu wohnen zöge ich vor dem Wohnen mit einer schlechten Frau“, doch formuliert Thrall vorsichtig, dass „[i]t is not obvious that the meanings given to ejudokevw entirely preclude the sense ‚prefer‘.“384 Diese Vorsicht ist angebracht, denn in Sir 25,16 fehlt ma`llon, und in 2Kor 5,8 fehlt der ausdrückliche, mit h[ konstruierte Vergleich. Besser passt Polybios, Hist. 21,23,8 ajllÆ o{mw~ eujdokei`te touvtwó ma`llon h] toi`~ para; Karchdonivwn fovroi~, „und doch haltet ihr dies [d.h. die Ehre im Krieg] für besser (oder: achtet ihr dies höher) als den Tribut der Karthager.“385 Freilich steht auch hier das in 2Kor 5,8 fehlende komparative h[, und außerdem ist hier nicht wie in 2Kor 5,8 mit verbalem Infinitiv, sondern mit pronominalem und nominalem Dativ konstruiert, doch scheint die Stelle das vorsichtige Urteil Thalls wenigstens zu stützen. Interessant ist dagegen die bisher unbeachtete Stelle Herm. 55,11 oiJ de; e[ti ma`llon suneudovkhsan genevsqai to;n dou`lon sunklhronovmon tw`æ uiJw`æ aujtou` „Sie aber stimmten noch mehr zu, dass der Sklave Miterbe mit seinem Sohn werde.“386 Hier steht zwar statt ejudokevw das Doppelkompositum suneudokevw, doch besteht der Unterschied lediglich darin, dass die Willenskundgebung (Zustimmung des Sohnes und seiner Freunde zum Erbenstatus des Sklaven) in Übereinstimmung mit einem zuvor gemachten Vorschlag vollzogen wird. Interessant ist die Stelle deswegen, weil (a) mit Infinitiv konstruiert ist, (b) wie in 2Kor 5,8 ma`llon vorkommt, (c) sich dieses eindeutig auf (sun)eudokevw bezieht, und das (d) ohne komparatives h[, sondern im Sinne der von Baumert angenommenen Intensivierung: Der Sohn und seine Freunde stimmen, als sie vom Verhalten des Sklaven erfahren „noch mehr“ zu, dass dieser Miterbe werden sollte. Für 2Kor 5,8 bedeutet dies, dass ein intensivierendes ma`llon durchaus auch mit Bezug auf eujdokou`men möglich ist, also nicht notwendig

384

Thrall, 2Kor 390. Die Stelle nennt Schrenk, eujdokevw 737,2 für eudokei`n ma`llon h[ in der Bedeutung „etwas lieber wollen als“. Gegen Lang, Forschung 193 Anm. 368 und Furnish, 2Kor 273 ist festzuhalten, dass es hierbei nicht um eine Entscheidung, sondern um eine Einschätzung, genauer gesagt um eine höhere Wertschätzung geht. Dies geht aus dem Kontext der Stelle (Rede der Rhodier vor dem athenischen Senat) klar hervor: Der angesprochene Krieg gegen Philipp ist ein zurückliegendes Ereignis, und die Rede rekurriert auf die gegenwärtige Beurteilung dieses Ereignisses durch die Adressaten. 386 Der Fund verdankt sich einer TLG-Recherhe zu mallon eudokh. 385

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339

auf ejkdemh`sai bezogen werden muss, wie Baumert annimmt.387 Damit kann ejkdemh`sai auch punktuell verstanden werden, und die Deutung auf den physischen Tod steht wieder offen: „Wir sind desto mehr entschlossen, auszuwandern etc.“388 Auch von der Wortstellung her ist ein Rückwärtsbezug von ma`llon auf eujdokou`men ohne weiteres möglich.389 Es kommt indes noch eine andere Übersetzung in Frage, der, soweit ich sehe, bisher nur Bultmann beiläufig Beachtung geschenkt hat. Die intensivierende und steigernde Funktion bezieht sich hierbei nicht auf die Wort-, sondern auf die Satzebene.390 Nicht eujdokou`men wird gesteigert, sondern eujdokou`men steigert das vorangehende qarrou`men: Bultmann übersetzt eujdokou`men ma`llon zwar konventionell mit „wir ziehen vor“, fügt dann aber (in Abgrenzung zu Windisch) hinzu: „Das qarrei`n heißt ja: wir schauen dem Tod getrost ins Auge, das eujdokou`men ma`llon: ja, wir begrüßen ihn

387 Man kann eben, pace Baumert, Sterben 234, durchaus etwas „mehr für gut halten“ oder „mehr entschlossen sein“. Es trifft auch nicht zu, dass ein Bezug von ma`llon auf eujdokou`men „merkwürdig [wirkt], da das Verb selbst schon ein definitives Gutdünken oder einen Willensentschluss bezeichnet“ (Sterben 234). Mit ma`llon wird gerade das euj- in eujdokou`men (gewissermaßen ersatzweise, weil es das Doppelkompositum mit komparativem Präfix eben nicht gibt) gesteigert. Vergleichbar ist Philo, Det. 143 kakodaimonivzomen ma`llon (vgl. Anm. 389): ma`llon steigert kako- in kakodaimonivzomen. 388 Zum Argument, dass der eigene Tod (zumindest für Paulus) keine Sache des eigenen Entschlusses sein kann s.u. 389 Bei folgenden Stellen (Auswahl aus einer TLG-Recherche zu men mallon) steht ma`llon nach dem Bezugswort (Verbum oder Partizip), ohne dass dies durch ein anschließendes komparatives h[ verursacht wäre: Thukydides, Hist. 4,108 Lakedaimovnioi ta; me;n kai; fqovnwó ajpo; tw`n

prwvtwn ajndrw`n oujc uJphrevthsan aujtw`æ, ta; de; kai; boulovmenoi ma`llon touv~ te a[ndra~ tou;~ ejk th`~ nhvsou komivsasqai kai; to;n povlemon katalu`sai, „Doch die Lakedämonier säumten,

teils aus Neid einiger ihrer vornehmsten Bürger, ihn gehörig zu unterstützen, teils weil ihnen mehr daran gelegen war, ihre Leute von der Insel wiederzubekommen und dem Krieg ein Ende zu machen“; Aristoteles, EthEud. 1234b ejnantivan de; tivqemen th;n e{xin ejfÆ h{n te aJmartavnomen ma`llon kai; ejfÆ h}n oiJ polloiv, „Als Gegensatz (zur Tugend) gilt uns jenes Verhalten, auf das zu wir leichter Fehler machen und auf das hin die Vielen (tendieren)“; EthNic. 1152a o} me;n ga;r ejmmevnei ma`llon o} dÆ h\tton th`~ tw`n pleivstwn dunavmew~, „Die eine [d.i. die Unenthaltsamkeit] bleibt ihrem Vorsatze mit mehr Entschiedenheit, die andere [d.i. die Enthaltsamkeit] mit weniger treu, als der die meisten fähig sind.“; Rhet. 1,2,4/1356a toi`~ ga;r ejpieikevsi pisteuvomen ma`llon kai; qa`tton, „denn den Tugendhaften glauben wir lieber und schneller“; Probl. 956a kaqavper kai; mnhmoneuvomen ma`llon oi|~ a]n e{wqen prw`ton ejntugcavnwmen, „wie wir uns auch besser an Leute erinnern, die wir frühmorgens getroffen haben“; Philo, Det. 143 povte de; tou;~ a[frona~ kakodaimonivzomen ma`llon; – „Wann aber halten wir die Toren für noch unglücklicher?“ 390 Vergleichbar den bei Bauer/Aland, Wörterbuch 993 s.v. ma`llon 3.d genannten Stellen, wo ma`llon dev „zur Einführung eines ergänzenden und dadurch berichtigenden Ausdrucks oder Gedankens“ verwendet wird, so in Gal 4,9 nu`n de; gnovnte~ qeovn, ma`llon de; gnwsqevnte~ uJpo; qeou, „da ihr Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt worden seid.“ Der Unterschied besteht darin, dass in 2Kor 5,8 das korrigierende dev fehlt.

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

sogar.“391 Indem Bultmann ma`llon mit „sogar“ wiedergibt, fasst er eujdokou`men als Steigerung von qarrou`men auf.392 Auch für diese Bedeutung lassen sich Belege finden: Bei Thukydides, Hist. 4,34,1 heißt es im Zusammenhang der Schilderung einer Schlacht zwischen Athen und Sparta: kai; aujtoi; th`æ te o[yei tou` qarsei`n to; plei`ston eijlhfovte~ pollaplavsioi fainovmenoi kai; xuneiqismevnoi ma`llon mhkevti deinou;~ aujtou;~ oJmoivw~ sfivsi faivnesqai, o{ti oujk eujqu;~ a[xia th`~ prosdokiva~ ejpepovnqesan, w{sper o{te prw`ton ajpevbainon. – wobei der Augenschein selbst ihnen [d.i. den Athenern] einen ungemeinen Mut machte, da sie ihre Anzahl dem Feind vielfältig überlegen sahen (pollaplavsioi fainovmenoi), auch nunmehr sich schon daran gewöhnt hatten (kai; xuneiqismevnoi ma`llon), dass ihnen der Feind [...] nicht mehr so furchtbar vorkam.

Hier ist ma`llon dem Bezugverb wie in den in Anm. 389 genannten Belegen nachgestellt, steigert oder intensiviert aber nicht die Handlung selbst, sondern führt die Handlung als etwas ein, das über eine zuvor genannte Handlung hinausgeht. Die Wiedergabe von kaiv [...] ma`llon mit „auch nunmehr“ in der zitierten Übersetzung (Heilmann) könnte noch prägnanter gefasst werden: „und da sie sich darüber hinaus (oder eben: sogar) schon daran gewöhnt hatten etc.“. Das bloße Wahrnehmen der zahlenmäßigen Überlegenheit gegenüber dem Feind wird durch die angesprochene Verinnerlichung des Überlegenheitsgefühls fraglos gesteigert, und dieses steigernde Moment wird durch ma`llon ausgesagt. Als weiterer Beleg kommt Homer, Ilias 24,220–222 in Frage: eij me;n gavr tiv~ mÆ a[llo~ ejpicqonivwn ejkevleu-

en, h] oi} mavntiev~ eijsi quoskovoi h] iJerh`e~, yeu`dov~ ken fai`men kai; nosfizoivmeqa ma`llon. Hampe übersetzt die Stelle folgendermaßen: „Hätte mir

dies ein andrer der Erdenmenschen geraten / Einer der Seher etwa, der Opferbeschauer und Priester / Würden wir Lüge es nennen und kehrten ihm eher den Rücken.“ Die Übersetzung von ma`llon mit „eher“ ist zu beanstanden, da der Kontext weder einen Vergleichspunkt noch einen Gegensatz aufweist. Wieder ist vielmehr die zweite Handlung eine Steigerung der ersten: Die Worte eines Sehers o.ä. hätte Priamos Lüge genannt und diesem „darüber hinaus“, „außerdem“, oder „sogar“ (und nicht etwa „eher“) den Rücken gekehrt, ihn einfach stehen gelassen.393 Als Fazit kann festgehalten werden, dass ma`llon, so Bachmann, „wie in seiner Stellung, so auch in seiner Beziehung zwischen eujdokou`men und 391

Bultmann, 2Kor 144. Vgl. schon Heinrici, 2Kor 186: „eujdokou`men ktl. ist etwas Größeres als das qarrou`men.“ In diesem Sinne übersetzt auch Lang, Forschung 195: „wir sind zuversichtlich, sage ich, und sogar entschlossen.“ 393 Vgl. auch Epiktet, Diss. 2,24,3: oJ de; blaptovmeno~ ma`llon kai; blavptwn ou|to~ a[peiro~ a]n ei[h th`~ tevcnh~ tauvth~ th`~ tou` levgein, „wer aber sich (selbst) langweilt und darüber hinaus (ma`llon) andere langweilt, dieser wäre unkundig in dieser Kunst des Redens.“ 392

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dem ejkdhmh`sai schwebt.“394 Ein Bezug in beide Richtungen ist möglich. Die von Baumert favorisierte Deutung (Steigerung des ejkdhmh`sai) ist sprachlich gut begründet, sie ist aber keinesfalls die einzig mögliche und noch nicht einmal die wahrscheinlichere. Denkbar ist auch, dass ma`llon zu eujdokou`men gehört und dies als Steigerung von qarrou`men ausweist. In soweit kann keiner der beiden Auslegungstypen (ejkdhmh`sai als physischer Tod oder als eine bestimmte Lebenshaltung) mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Auch die bei eujdokevw offenbar obligatorische Aoristform des Infinitivs395 passt zu beiden Deutungen: auf den momentanen Vorgang des Sterbens,396 oder ingressiv auf den durch den Entschluss markierten Beginn der Handlung.397 Wie steht es aber mit dem Argument, ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ könne nicht auf den physischen Tod bezogen werden, weil ejudokevw mit Infinitiv einen Willensentschluss bezeichnet, der eigene Tod für Paulus aber kein Sachverhalt ist, der innerhalb der Reichweite des Handelns liegt? Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dass der Entschluss zu einer Handlung mit ihrer Durchführung keineswegs identisch ist. Wenn Paulus sagt, dass er „entschlossen ist zu sterben“, dann beschreibt er damit – einmal mehr – zunächst nur seine eigene Einstellung zum Tod. Dass er darüber hinaus eigenmächtig aus dem Leben zu scheiden gedenkt, ist damit keineswegs ausgesagt. Zwar ist richtig, dass Paulus, die Deutung des ejkdhmh`sai ktl auf das Sterben vorausgesetzt, seine „Entschlossenheit“ zu etwas betont, das er (es sei denn durch den Freitod, der aber nirgends in den Horizont paulinischer Ethik tritt) gar nicht selber ins Werk zu setzen vermag, doch dürfte hierin gerade der Schlüssel zum Verständnis der Aussage liegen: Wir haben gesehen, dass es antiker Sterbe-Ethik elementar darum geht, „gelungenes“ Sterben als selbstbestimmte Tat darzustellen, als einen Akt, der im Einklang mit der eigenen Willensentscheidung steht. Dieses Motiv bestimmt entscheidend bereits die Darstellung der Sokrates-Figur im Phaidon und es determiniert maßgeblich das antike Ideal eines würdigen Sterbens in seiner weiteren Entwicklung. Wenn Sokrates den Schierling zum Munde führt, ist er in platonischer Zeichnung nicht Opfer eines ungerechten Tribunals, sondern er handelt selbsttätig, ermächtigt und gerufen von den Göttern, die ihm in Gestalt einer ajnavgkh das lang ersehnte Signal geben, 394

Bachmann, 2Kor 234. Ein von eujdokevw abhängiger Infinitiv steht offenbar stets im Aorist, wie allein schon die neutestamentlichen Belege zeigen: Lk 12,32; Röm 15,26; 1Kor 1,21; Gal 1,15f; Kol 1,19; 1Thess 2,8; 1Thess 3,1. 396 Wolff, 2Kor 113; Thrall, 2Kor 390. 397 Vgl. Grundmann, dh`mo~ 62 und Furnish, 2Kor 273, der ejkdhmh`sai dementsprechend mit „to get away from being at home“ paraphrasiert und dazu anmerkt, dass der Aorist „should probably be interpreted as an ingressive aorist, thus focussing on the inception of the action [...]. The English, somewhat awkwardly, seeks to exhibit this.“ 395

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das Erdenleben zu beenden (Phaid. 62c). Von hier aus lässt sich die antike Diskussion um den Suizid auf weite Strecken als Versuch einer Antwort auf die Frage lesen, wie würdiges Sterben möglich ist. Zugleich ist aber der Freitod nur ein Modus würdigen Sterbens unter anderen. Sterben muss nicht selbsttätig sein, um selbstbestimmt zu sein. Dies lässt sich in aller Deutlichkeit beispielsweise an der Cäsar-Vita Suetons studieren:398 Sueton interpretiert, wie wir sahen, den gewaltsamen Tod Cäsars als Erfüllung des von ihm selbst gehegten Wunsches nach einem schnellen und plötzlichen Tod. Obwohl Cäsar an den äußeren Umständen gemessen ganz und gar Opfer seiner Mörder ist, gelingt es dem Biographen, dessen Tod als ein von seiner Intention her selbstbestimmtes Ende darzustellen. Lesen wir das paulinische kai; eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ in 2Kor 5,8 vor diesem Hintergrund als Ausdruck seines persönlichen „Entschlossenseins zu sterben“, dann entspricht die logische Unstimmigkeit dieser Aussage genau den Konventionen einer antiken Rhetorik des Sterbens. Dass Paulus diese Rhetorik perfekt beherrscht hat, lässt sich anhand einer anderen Stelle mühelos zeigen: Wenn Paulus in Phil 1,22 aus der Gefängnishaft und in Erwartung von Prozess und möglichem Todesurteil schreibt: kai; tiv aiJrhvsomai ouj gnwrivzw. sunevcomai de; ejk tw`n duvo ktl, dann entspricht dies in keiner Weise seiner tatsächlichen Lage, denn wie der Prozess für ihn ausgeht, hängt am allerwenigsten daran, was er „wählt“. Und dennoch entspricht die paulinische Äußerung passgenau den rhetorischen Standards einer positiven Deutung des eigenen Sterbens, wie sie antike Biographen und Geschichtsschreiber ihren Protagonisten in den Mund zu legen pflegten. Paulus stilisiert Gefängnishaft und anstehenden Prozess als „Entscheidungshilfe“ für etwas, das er selbst nicht zu entscheiden vermag, weil er für beide Alternativen (Leben oder Sterben) starke Argumente hat, die einander die Waage halten.399 Paulus artikuliert hier wie in dem ganzen Abschnitt Phil 1,18b–26 ein Todesverständnis, das einem möglichen Tod durch Hinrichtung mit einer positiven Deutung vorgreift, einer Deutung also, die sein Ansehen nicht beschädigt und möglichen Negativdeutungen

398

S.o. S. 96. Zutreffend Gnilka, Philipperbrief 72: Paulus „scheint über die konkrete, harte Situation im Gefängnis hinwegzusehen, die ihm ja selber keine aktive Entscheidungsmöglichkeit lässt. Ist doch der Ausgang seines Prozesses in die Hände von Menschen gelegt.“ Gnilka zieht jedoch, da er wie die meisten anderen Ausleger die Rhetorik der paulinischen Aussage nicht erfasst, aus dieser Beobachtung keine weiteren Schlüsse für die Auslegung der Stelle. Wenn Droge, Suicide 278 mit Lightfoot, Philippians 92 von einem „conflict of feeling in the apostle’s mind“ spricht, dann ist dies höchst missverständlich. Allenfalls kann man sagen, dass Paulus einen solchen „Konflikt“ inszeniert, um sein völliges Einverständnis mit beiden Möglichkeiten, Leben oder Tod, zu artikulieren. M.R. verweist Vollenweider, Waagschalen 100 auf die „souveräne rhetorische Gestaltung“ des Textes. 399

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(und sei es in Gestalt von nachträglichen Zweifeln seiner Adressaten an der göttlichen Autorisierung seines Apostolats) zuvorkommt. In 2Kor 5,8 ist im Unterschied zu Phil 1 eine akute Bedrohung mit dem Tod nicht erkennbar, vielmehr ergibt sich der Rekurs auf das Todesthema aus dem apologetischen Duktus des Kontextes von 2Kor 5,1–10. Nach dem „Wissen“ (V. 1.6), dem „sehnsuchtsvollen Seufzen“ (V. 2.4), dem „Wollen“ (V. 4) und dem qarrei`n (V. 6.8) ergänzt Paulus mit dem eujdokei`n seine in apologetischer Absicht vorgetragene Charakterskizze um ein weiteres Element, das dem voluntativen Aspekt seines Todesverständnisses einen zusätzlichen Akzent verleiht. Der Bezug dieses „Entschlossenseins“ auf den physischen Tod ist indes nach wie vor nur eine von zwei Auslegungsmöglichkeiten. Die sprachlichen Beobachtungen konnten keine der beiden Deutungen mit hinreichender Sicherheit ausschließen. Sachliche Gründe legen es nun nahe, die Entscheidung überhaupt offen zu lassen. Aus dem Blickwinkel antiker Sterbe-Ethik ist nämlich die bei Lebzeiten vollzogene Distanzierung vom irdischen Leib die Voraussetzung dafür, dass das Verlassen des Leibes im Tode allererst gelingen kann. Die beiden genannten Auslegungstypen müssen einander daher keineswegs ausschließen. Auch dann, wenn Paulus mit dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ nicht seinen physischen Tod, sondern eine Distanzierung vom sw`ma bei Lebzeiten meint, bewegt sich die Aussage noch immer im Horizont antiker ars moriendi. Schon bei Platon findet der Gedanke der Distanzierung vom Leib als notwendige Einübung ins Sterben einen klaren Ausdruck. Hier ist auf einschlägige Passagen des Phaidon zu verweisen, die bereits im Zusammenhang unserer Überlegungen zu V. 6 eine Rolle gespielt haben:400 Nach Phaid. 68b–c besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer dem Leib verhafteten Existenz und fehlender Todesbereitschaft, und in Phaid. 114d–e heißt es umgekehrt, dass derjenige guten Mutes sterben kann, o{sti~ ejn tw`æ bivwó ta;~ [...] a[lla~ hJdona;~ ta;~ peri; to; sw`ma kai; tou;~ kovsmou~ ei[ase caivrein, „der im Leben die anderen Lüste, die es mit dem Leibe zu tun haben und dessen Schmuck und Pflege, hat fahren lassen.“ In Übereinstimmung damit ist für den Platoniker Philo das geistige „Verlassen“ des Leibes bei Lebzeiten die Voraussetzung dafür, dass der natürliche Tod die endgültige Erlösung der Seele erwirkt und nicht etwa ihre endgültige Vernichtung. Nur für die von allem Somatischen „völlig gereinigte Seele“ (kekaqarmevnh a[krw~ yuchv) des „Vollkommenen“ (ajstei`o~) ist der Tod als Ende des irdischen Daseins nicht ein „Sterben“ (ajpoqnhvæskein), sondern – ähnlich dem paulinischen ejkdhmh`sai – ein „Weggehen“ (ajpevrcesqai):

400

S.o. S. 325.

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dogmatikw`~ de; to;n ajstei`on oujk ajpoqnhvæskonta, ajllÆ ajpercovmenon eijshvgagen, i{nÆ a[sbeston kai; ajqavnaton to; th`~ kekaqarmevnh~ a[krw~ yuch`~ ajpofanh`æ gevno~, ajpodhmivaæ th`æ ejnqevnde pro;~ oujrano;n crhsovmenon, ouj dialuvsei kai; fqora`æ, h}n ejpavgein qavnato~ dokei`. – Zu unserer Belehrung führt die heilige Schrift den Vollkommenen uns nicht als sterbend, sondern ‚weggehend‘ vor, um das Wesen der völlig geläuterten Seele als unvertilgbar und unsterblich zu erklären, da es einer Versetzung von hier aus zum Himmel teilhaftig wird, nicht einer Auflösung und Vernichtung, die der Tod anscheinend herbeiführt (Her. 276f).

Auch für die Stoa ist das existentielle Verlassen des Leibes ein Vorgriff auf das Sterben. Deshalb kann, so Seneca, für den, der sich schon bei Lebzeiten aus dem Leib zurückgezogen hat, der Tod nicht mehr schrecklich sein, weil im Sterben doch nur das seinen Abschluss findet, wonach der philosophische Mensch sein Leben lang gestrebt hat. „Leg ab die Last“, ruft er Lucilius in EpMor. 102,26 zu, „was zögerst du, als hättest du nicht auch vorher schon den Körper, in dem du geborgen warst, verlassen und dennoch gelebt? (Depone onus: quid cunctaris tamquam non prius quoque relicto in quo latebas corpore extiteris?)“, und wenig später setzt er hinzu: Quid ista sic diligisquasi tua? istis opertus es: veniet qui te revellat dies et ex contubernio foedi atque olidi ventris educat. hinc nunc quoque tu quantum potes subvola voluptatique, nisi quae necessariis usque cohaerebit, alienus iam hinc altius aliquid sublimiusque meditare. – Was liebst du diese Körperlichkeit, als sei sie ein Teil von dir? Sie bedeckt dich nur: kommen wird der Tag, der dich davon losreißt und aus der Gemeinschaft mit dem scheußlichen und stinkenden Leib befreit. Ihm entzieh dich auch jetzt, soweit du kannst, und dem Genuß, wenn er nicht mit Lebensnotwendigem zusammenhängt (EpMor. 102,27f).

Die angeführten Vergleichstexte lassen es geraten erscheinen, das paulinische ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ für beide Deutungen offen zu halten. Im Kontext antiker ars moriendi schieben sich die Horizonte „physischer Tod“ und „existentielle Distanz vom Leib“ so ineinander, dass es im Blick auf 2Kor 5,8 weder möglich noch nötig ist, das semantische Spektrum der Aussage auf einen der beiden Aspekte einzugrenzen. Entsprechendes gilt dann auch für das ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion. Das Entschlossensein des Paulus „auszuwandern zum Herrn“ kann ebenso auf die bei Lebzeiten zu pflegende Orientierung „hin zum kuvrio~“ bezogen werden wie auch, analog zum su;n Cristw/` ei\nai in Phil 1,23, auf das endgültige „Übersiedeln“ in die eschatologische Gemeinschaft mit ihm nach dem Tod. In jedem Fall bleibt ein Bezug auf den Diskurs antiker Sterbe-Ethik gewahrt, und in jedem Fall ist das Bewusstsein der Abständigkeit vom sw`ma die gemeinsame Determinante paulinischen und gemeinhellenistischen Denkens. Dass Paulus diesen Gedanken im Verlauf von 2Kor 5,1–10 aufgreift, hat indes nichts damit zu tun, dass er mit hellenistischer Anthropologie liebäugelt. Grundmann hat recht, wenn er gegen die von Windisch behauptete allzu große Nähe des paulini-

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schen Gedankens zum Hellenismus401 einwendet, dass in 2Kor 5,6–8 „die Frage des Wie des ejndhmei`n pro;~ kuvrion nicht behandelt wird“, und dass insofern „die sonstige paulinische Anschauung von einem leiblichen Sein im Jenseits, das unter anderen Kategorien als das Diesseits steht, nicht eingeschränkt wird.“402 Es ist jedoch zu kurz gegriffen, wenn Grundmann meint, die von Windisch beigebrachten Parallelen hätten „nur formalen Wert“.403 Vielmehr verhält es sich so, dass das existentielle „Verlassen“ des Leibes als Einübung ins Sterben im Kontext antiker ars moriendi eine Denkfigur von erheblicher ethischer Tragweite ist. Bei Paulus begegnet uns diese Denkfigur wieder, weil sie nach antiker Auffassung offenbar ein unverzichtbares Element idealen Todesverständnisses bildet. Paulus greift auf diese Denkfigur zurück, weil er sich ein solches ideales Todesverständnis zuschreiben und damit seine Autorität in Korinth festigen will. In welcher Weise die Selbstaussage eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ für antike Rezipienten zur Steigerung seines Ansehens beitragen muss, mag man anhand einer Formulierung Senecas ermessen: Nec umquam magnis ingeniis cara in corpore mora est, „Und niemals ist großen Geistern lieb das Verweilen im Körper“, äußert er in Marc. 23,2, exire atque erumpere gestiunt, aegre has angustias ferunt, uagi per omne, sublimes et ex alto adsueti humana despicere, „hinauszukommen und auszubrechen bemühen sie sich, unwillig ertragen sie diese Beengung – unbeschwert, durch alles zu streifen, und daran gewöhnt, aus der Höhe auf die Dinge der Menschen herabzublicken.“ Seneca hätte in Kenntnis von 2Kor 5,6–8 zweifellos auch Paulus attestiert, ein „großer Geist“ zu sein, und man wird in der Annahme nicht fehlgehen, dass Paulus mit der Rede vom ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ an einer vergleichbar vorteilhaften Selbstdarstellung gelegen war. Die Seneca-Stelle ist indes auch geeignet, die spezifisch paulinische Prägung des Gedankens in 2Kor 5,6–8 zu ermessen. Diese besteht nämlich nicht erst oder gar nicht einmal in erster Linie darin, dass Paulus sein Heilsverlangen auf den kuvrio~ ausrichtet, so sehr dieser Aspekt das Christliche des Gedankens ausmacht. Schon der platonische Sokrates hatte doch sein Verlangen zum Ausdruck gebracht, dass ihn der Tod in die Gemeinschaft der Götter versetze,404 und für Cicero unterscheidet sich der Philosoph von den übrigen Menschen durch das Wissen, dass ihm sein Todestag die Auf-

401 Grundmann bezieht sich auf Windisch, 2Kor 166: „P[aulus] teilt mit dem Hellenismus die Überzeugung, daß wir hier in der Fremde wohnen [...], und dass der Tod ein erwünschter Auszug aus dem Leibe ist; griechisch-hellenistisch ist es auch, wenn Paulus] nur ein Verlassen des Körpers ins Auge fasst und von dem Übergang in einen anderen Körper schweigt!“ 402 Grundmann, dh`mo~ 63 Anm. 2. 403 Grundmann, dh`mo~ 63 Anm. 2. 404 S.o. S. 153 zu Phaid. 63b–c.

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nahme in den Bereich der unsterblichen Götter beschert.405 Ebenso lässt Seneca in EpMor. 102,22 den hypostasierten humanus animus sagen: Cum venerit dies ille qui mixtum hoc divini humanique secernat, corpus hic ubi inveni relinquam, ipse me diis reddam. – Wenn gekommen ist jener Tag, der die Mischung aus Göttlichem und Menschlichem trennt, werde ich den Körper hier, wo ich ihn gefunden habe, zurücklassen, mich selbst den Göttern wiedergeben.

Wenn Paulus die heidnischen Götter durch Christus ersetzt, dann wird hier ein Motiv paganer ars moriendi verchristlicht, keineswegs aber ein neues geschaffen.406 Paulinisch wird 2Kor 5,6–8 vielmehr durch das, was dem Text verglichen mit der eben zitierten Seneca-Stelle Marc. 23,2 fehlt, nämlich die Geringschätzung des Leiblichen und die behauptete Souveränität des Subjekts gegenüber dem Leib. Paulus leidet unter der Beschwerlichkeit des leiblichen Daseins, aber er verachtet es nicht. Er leidet unter der Niedrigkeit und Anfälligkeit seines Leibes und darunter, dass er seiner Gemeinde darin zum Anstoß wird, aber er schätzt den Leib nicht gering und entwirft sich nicht als reines Geistwesen, das gegenüber den Vollzügen des Leibes ein freies Leben lebt. Die V. 6–8 werden uns auch in den nachfolgenden Überlegungen zu V. 9 noch beschäftigen. Wir haben uns nämlich mit einigen neueren Vertretern des polemisch-existentialen Auslegungstyps auseinander zu setzen, die V. 9 als eine Relativierung, wenn nicht gar als Aufhebung des Gedankengangs in V. 6–8 verstehen. An dieser Stelle sei vorerst nur darauf aufmerksam gemacht, dass die hier vorgetragene Interpretation einer Schwierigkeit entgeht, mit der ausnahmslos alle Vertreter des polemischen Auslegungstyps zu kämpfen haben, nämlich mit der augenscheinlichen Spannung zwischen ouj qevlomen ejkduvsasqai in V. 4 und eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ in V. 8: Warum sagt Paulus eben noch, dass er den Leib nicht ausziehen, kurz darauf aber, dass er ihn verlassen will? Wenn Paulus in V. 4 tatsächlich gegen hellenistische Anthropologie die Unverzichtbarkeit des sw`ma betonen wollte, dann wäre die Formulierung in V. 8 gelinde gesagt 405

S.o. S. 327 zu Sen. 84. Wenn Grundmann, dh`mo~ 63 Anm. 1 das spezifisch Christliche von 2Kor 5,6–8 darin sieht, „dass sich alles um die Christusgemeinschaft bewegt, ein Befund, zu dem es keine hellenistischen Analogien gibt“, dann wäre zu klären, was in diesem Fall unter einer Analogie verstanden werden soll. Dupont, SUN XRISTW 166–171 hat gerade für die Wendung ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion (über die bereits genannten Texte hinaus) wichtige griechische Sachparallelen beigebracht, darunter auch briefliche und epigraphische Texte. Für das „zu Gott gelangen“ nach dem Tod gibt es naturgemäß auch zahlreiche jüdische Parallelen (vgl. nur das bei Bousset/Gressmann, Religion 298–301 gesammelte Material), so dass für sich betrachtet eine Herleitung des ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion aus dem Hellenismus nicht bewiesen werden kann. Aber es ist (und darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an) auch umgekehrt nicht möglich, die genuin christliche Denkstruktur des ganzen Zusammenhangs an der Formulierung ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion festzumachen: Strukturell gibt es hierzu eben durchaus gewichtige hellenistische Parallelen. 406

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erstaunlich. In diesem Sinne äußern sich etwa Brandenburger und von der Osten-Sacken, die beide einen antidualistischen Skopos für V. 4 annehmen. Brandenburger merkt an, dass „die Wendung vom ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~“ dem kurz zuvor noch bekämpften dualistischen „Denkhorizont“ entstammt, Paulus sie also „eigentlich nicht verwenden dürfte.“407 Ebenso urteilt von der Osten-Sacken, „daß Paulus sich mit dem Wunsch ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ in V. 8 in erhebliche Nähe zu der Anschauung begibt, die er in V. 4 gerade abgewehrt hat.“408 Keine derartige Spannung entsteht dagegen bei der hier vorgeschlagenen Interpretation: Mit ouj qevlomen ejkduvsasqai bringt Paulus zum Ausdruck, dass er keinen Widerwillen gegen sein beschwerliches Dasein im Leib hegt, doch ist er diesem Dasein auch nicht ängstlich verhaftet, sondern er ist jederzeit bereit, sich davon loszumachen: eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~. Die damit gegebene Balance zwischen Lebensbejahung und Todesbereitschaft thematisiert Paulus in V. 9. 2.10 Gebändigte Todessehnsucht (V. 9) Der Anschluss von V. 9 an V. 8 ist merkwürdig: Einerseits schließt V. 9 mit

dio; kaiv gradlinig409 an V. 8b an, andererseits wird der seit V. 6 sukzessiv aufbaute und in V. 8b pointiert auf das ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ zugespitzte Gegensatz von „Heimat“ und „Fremde“ mit der Disjunktion ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ nivelliert. Es ist Paulus nun anscheinend plötzlich gleichgültig, ob er „in der Fremde“ oder „daheim“ ist. Die Frage lautet also: Warum setzt Paulus, nachdem er in V. 8 seine entschlossene Todesbereitschaft betont hat, in V. 9 nun auf einmal einen retardierenden Akzent? Anders gefragt: Warum lautet V. 9 nicht einfach: dio; kai; filotimouvmeqa eujavrestoi aujtw`æ ei\nai? Ausgeschlossen werden kann, dass mit ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ die Möglichkeit und Notwendigkeit ausgesagt ist, auch „in der Heimat beim Herrn“, d.h. nach dem Tod nach 407

Brandenburger, Fleisch 177. Von der Osten-Sacken, Römer 120. Die Vertreter des traditionellen Auslegungstyps behelfen sich entweder mit der Hypothese vom Stimmungsumschwung (zur Kritik s.o. S. 315f mit Anm. 308), oder aber man nimmt mit Heinrici, 2Kor 186; Plummer, 2Kor 152; Bachmann, 2Kor 234; Sevenster, Remarks 208f; Cullmann, Zeit 214; ähnlich Borse, Jenseitserwartung 133; Craig, Dilemma u.a. einen Wechsel der Perspektive an: Für sich betrachtet ist das Verlassen des Leibes furchterregend, im Blick auf die damit gegebene volle Gemeinschaft mit dem kuvrio~ hingegen wünschenswert. Doch welchen Sinne hätte eine – man müsste dann doch wohl sagen: hypothetische – abstrakte Reflexion auf das Sterben als solches (V. 4), wenn für den Apostel de facto doch die Sehnsucht nach dem kuvrio~ den Ausschlag gibt? 409 Vgl. Bauer/Aland, Wörterbuch 399 s.v. diov mit Verweis auf 2Kor 5,9: dio; kaiv bezeichnet die Selbstverständlichkeit einer Folgerung. Im Deutschen wäre dies mit einem eingeschobenen „ja“ zu verdeutlichen: „Deshalb setzen wir ja auch unsere Ehre darein etc“. 408

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dem Wohlgefallen des kuvrio~ zu streben. Doch auch die Reduktion des disjunktiven ei[te – ei[te auf seine Funktion als rhetorische Figur, die „die entscheidende Wichtigkeit des ungeteilten Einsatzes für den Herrn heraus[stellen]“ soll,410 vermag nicht zu überzeugen, weil damit noch nicht erklärt ist, warum Paulus seine seit V. 6 entwickelte Argumentation in dieser Weise relativiert haben sollte. Lediglich um die tolerierte Nebenwirkung einer rhetorischen Emphase kann es sich schwerlich handeln. Wo dem damit gegebenen Problem in der neueren Forschung Rechung getragen wird, wird V. 9 zumeist konträr zu der Periode V. 6–8 oder zu Teilen daraus aufgefasst. Eine Reihe von Forschern sehen in V. 9 nicht nur eine Relativierung der Heimat-Fremde-Opposition, sondern geradezu eine Destruktion derselben, so als falle sich Paulus mit ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ nun auf einmal selbst ins Wort und nehme vorangegangene Aussagen über das ejndhmei`n und ejkdhmei`n regelrecht wieder zurück, und zwar deshalb, weil er entweder mit seiner eigenen Argumentation nicht zu Rande kommt oder aber, weil er eine gegnerische Anschauung kritisiert. Wir setzen uns im Folgenden kritisch mit diesem Auslegungstyp auseinander und versuchen anschließend eine eigene Lösung. Unter den älteren Auslegern hat Windisch mit aller Deutlichkeit eine Position bezogen, die in diese Richtung geht. Er sieht ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ als eine „Wendung, die dazu dient, eine fruchtlose Erörterung abzuschneiden.“411 Windisch meint mit der „fruchtlosen Erörterung“ den Passus 5,6–8 mit seiner – Windisch zufolge – doppelten sachlichen Spannung in V. 6 (konzessives kaiv: das qarrei`n wird geschmälert durch das Wissen um das Sein in der Fremde) und V. 8 (qarrei`n als Lebenshaltung, aber doch auch Sehnsucht nach dem Sterben). Spätere Ausleger haben diese Interpretation vertieft und verfeinert. Sie sehen in den von Windisch angenommenen Spannungen den Niederschlag einer bewussten argumentativen Strategie, die in V. 9 darauf hinaus läuft, dass Paulus mit der Disjunktion ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ einen nur hypothetisch aufgebauten Gegensatz als irrelevant entlarvt. Lang sieht in V. 6b paulinische Kritik am Vollendungsbewusstsein seiner Gegner, die sich fälschlicherweise schon hier und jetzt im Leib zuhause wähnen (V. 6ba). Diese Haltung qualifiziere Paulus als Entfremdung vom kuvrio~ ab (V. 6bb).412 In V. 8 formuliert Paulus dann seine eigene, entgegengesetzte Position, seine Orientierung hin zum kuvrio~. Doch erst in V. 9 vollziehe Paulus die Rückkehr von der gegnerischen zu der ihm eigenen Sprache. Paulus hat das Bild von Heimat und Fremde Lang zufolge nur 410

So zuletzt Grässer, 2Kor 198. Windisch, 2Kor 168. 412 S.o. S. 323. 411

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deshalb verwendet, weil die gegnerische Begrifflichkeit ihm dies aufgenötigt hat. Von sich aus wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, die Orientierung an Christus mit einer Distanzierung vom Leib zu verknüpfen. Er tut dies nur, weil er das Existenzverständnis seiner Gegner in deren eigener Sprache kritisieren will. Paulus sei hier, wie der Abbruch der Satzkonstruktion in V. 6 zeige, „mit der von den Gegnern überkommenen Terminologie nicht zu Rande“ gekommen.413 Erst in V. 9 kehre er zu der „ihm eigenen juridischen Ausdrucksweise zurück“414 und lege den Akzent ganz auf die positive Beurteilung durch Christus. Sein eigenes Anliegen ist gar nicht die Frage nach Heimat oder Fremde, und wenn er diese Begrifflichkeit in V. 9 nochmals verwendet, dann tut er es „quasi entschuldigend“ und „nur um sie durch ei[te – ei[te zu relativieren und auf die ihm gemäße Terminologie überzuleiten.“415 Auch Heckel fasst V. 9 als den eigentlichen Zielpunkt des mit V. 6 anhebenden Gedankens auf. Auch er sieht in der paulinischen Verwendung des Bildes von Heimat und Fremde sachliche Spannungen, die er auf die Verarbeitung gegnerischer Begriffe („Tradition“) durch Paulus („Redaktion“) zurückführt. Paulinische Äußerung ist das qarrou`nte~ in V. 6a, gegnerisch-traditionell das Bild von Heimat und Fremde in V. 6b, das auf der hel413

Lang, Forschung 199. Lang, Forschung 199. 415 Lang, Forschung 193. Lang attestiert Paulus bei der Formulierung des ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ also ein leichtes Unbehagen, weil er um der erhofften Verständigung mit seinen Gegnern willen etwas sagen muss, was er von sich aus nicht sagen würde. Verwandt ist hierin die Interpretation, die Schmithals zu V. 9 vorgelegt hat, mit dem Unterschied freilich, dass Schmithals in 5,6–8 keine Schwierigkeiten mit gegnerischer Sprache ausmacht, sondern eine klare polemische Argumentationslinie nachzeichnet. Er versteht V. 6b als paulinische Polemik gegen korinthisches Vollendungsbewusstsein – die Auffassung, man sei als Christ dem Leib schon enthoben und pneumatisch schon ganz beim Herrn, wird in V. 6b durch die gegenteilige Aussage bestritten: der Christ ist eben durchaus noch im Leib und durchaus noch nicht beim Herrn – und sieht die Pointe von V. 8 darin, dass das Auswandern aus dem Leib bei Lebzeiten bloßer Wunsch bleibt und erst noch bevorsteht (dann würde man freilich ajlla; eujdokou`men movnon statt kai; eujdokou`men ma`llon erwarten). Die Formulierung ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ in V. 9 sei nun eine Konzession an das gnostische Seinsverständnis, zu der Paulus bereit ist, weil er die Adressaten (ob sie nun von ihrem Seinsverständnis abrücken oder nicht) von der Wichtigkeit überzeugen will, in diesem Leben das Wohlgefallen des kuvrio~ zu erlangen: „Da wir unzweifelhaft erst auf dem Weg zum Herrn sind, bemühen wir uns um sein Wohlgefallen, sei es, dass wir beim Herrn sind (wie ihr Gnostiker ja wohl seltsamerweise behauptet), sei es, dass wir noch fern von ihm sind“ (Gnosis 237). Erst durch diese Konzession, die Paulus von seinen eigenen Denkvoraussetzungen her eigentlich gar nicht machen dürfte, leidet nun die Logik des Gedankengangs. Dass Paulus anders als in V. 6 und V. 8 offen lässt, wie die Partizipien ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ zu ergänzen sind, hat, so Schmithals, seinen Grund darin, dass Paulus diese Unstimmigkeit zu kaschieren versucht: „Die Kürze und Undeutlichkeit des ‚ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~‘ mag [...] von Paulus absichtlich oder unbewusst gewählt worden sein, um die mangelnde strenge Logik in der für ihn ohnehin schwierigen Gedankenführung zu verbergen“ (Gnosis 237). Vgl. auch Luz, Geschichtsverständnis 366: Paulus habe mit V. 9 „seine eigenen hellenisierenden und ans dualistische grenzenden Ausführungen korrigieren“ wollen. 414

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lenistischen Leib-Seele-Dichotomie fußt. Dadurch, dass Paulus ein „Beruhigt-Sein“ (so versteht Heckel das qarrei`n) trotz der Ferne der Seele von der himmlischen Heimat behauptet, „beginnt der Apostel, die Heimatmetapher zu untergraben. Wie kann man immer beruhigt sein, obwohl man im Leib fern vom Herrn wohnt?“ Es liegt somit ein „Widerspruch zwischen erschließbarer Intention der Heimat-Metapher und tatsächlicher Verwendung bei Paulus“ vor. Dieser Widerspruch erklärt sich nach Heckel „durch eine Überlagerung des übernommenen Bildes mit Formulierungen und Interessen, die der eigenen paulinischen Theologie entsprechen“, und dadurch kommt es zum Abbruch der Satzkonstruktion. „Die Überlagerung und die damit verbundenen inhaltlichen Probleme lassen den Apostel zunächst stocken: V 6 endet im Anakoluth.“416 Erst in V. 9 hat Paulus sein argumentatives Ziel erreicht: Das Bestreben, dem kuvrio~ wohlgefällig zu sein, überholt die Leib-Seele-Unterscheidung.417 Nach Wünsch versucht Paulus in 5,6–10 „in erkennbar polemischer Absicht [...], eine bestimmte Rede- und Denkweise seiner Konkurrenten als irrelevant zu diskreditieren und das Augenmerk auf den seiner bisherigen Rede nach einzig wichtigen Gesichtspunkt zu lenken.“418 Wünsch macht diese argumentative Strategie wie vor ihm schon Schmithals419 am Fehlen der präpositionalen Appositionen in ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ fest: Das seiner grammatischen Funktion nach disjunktive ei[te – ei[te wird dadurch unterlaufen. Da auf beiden Seiten der Disjunktion ein Partizip steht, das je nach zur Wahl stehender Determination (aus 5,6 oder 5,8) jeweils dasselbe oder das Gegenteilige seines Pendants bezeichnet, ist die Wirkung der Disjunktion aufgehoben, das ei[te – ei[te hat nur noch kopulativen Charakter. Der argumentative Effekt dieser Konstruktion ist die Nivellierung der zuvor aufgezählten Gewichtungen und Differenzierungen von ejn- bzw. ejkdhmei`n.420

Bezieht man die Disjunktion, wie Wünsch vorschlägt, in beiden Teilen auf die Existenz ejn tw`æ swvmati, dann verflüchtigt sich der Gegensatz von Heimat und Fremde zu einer angesichts der allein wichtigen Einschätzung durch Christus belanglosen Differenz in der Einschätzung des irdischen Daseins: „Gleichgültig, ob das Leben ejn tw`æ swvmati als ejn- oder ejkdhmei`n bezeichnet wird, in jedem Fall gilt es, dieses Leben vor dem Christus zu

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Heckel, Mensch 118. Die Argumentation ist an dieser Stelle freilich recht merkwürdig: „Die Seele allein kann sich schwerlich Gott gegenüber als wohlgefällig erweisen“ (Heckel, Mensch 118). Auch wie sich V. 8 hierzu verhält, lässt Heckel offen. 418 Wünsch, Brief 266. 419 S.o. Anm. 415. 420 Wünsch, Brief 268. 417

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verantworten.“421 Vollends V. 10 zeige, so Wünsch, dass es Paulus in 5,6ff um eine „Diskreditierung der spekulativen Differenzierungen“ und die „Fokussierung des Interesses auf das praktische Handeln in diesem Leben“ geht. In neuester Zeit wird die Interpretation von V. 9 als Nivellierung der in V. 6–8 getroffenen Unterscheidungen von Kuschnerus vertreten. Zwar „scheint die Semantik der Sequenz 2Kor 5,6–8 [...] zunächst auf eine Adaption des im Hellenismus verbreiteten Konzepts von der entfremdeten Existenz im Leibe hinzuweisen“,422 doch sieht Kuschnerus wie vor ihm schon Heckel bereits in der Partizipialphrase qarrou`nte~ ou\n pavntote einen Widerspruch gegen die nachfolgend artikulierte Auffassung vom heillosen Dasein ejn tw`æ swvmati. „Gilt nämlich das Hervorgehobene qarrei`n immer, also auch für das Sein ejn tw`æ swvmati, so läuft dieses gerade einem Selbstverständnis zuwider, das eine somatische Existenz als ein heilloses Sein in der Fremde erfährt und die Erlösung allein durch die Rückkehr in das himmlische Zuhause erwartet.“423 Kuschnerus spricht von einer konventionellen hellenistischen „Modellmetaphorik“, die Paulus in V. 6b.8b anwende, um sie in V. 9 ironisch zu unterlaufen: „Die Adaption der Modellmetaphorik weist [...] eine hintergründige Ironie auf, in der sie den zuvor so stark gewichteten Gegensatz von ‚fremd‘ und ‚heimisch‘ nivelliert. Das an ihm sich orientierende anthropologische und soteriologische Modell wird als irrelevant überführt.“424 Eine klar erkennbare Tendenz dieses Auslegungstyps ist die immer stärkere Vernachlässigung von V. 8 zugunsten von V. 9. Hatten Schmithals und Lang der Aussage eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ noch ein relativ eigenständiges inhaltliches Profil zuerkannt,425 so rechnen Heckel, Wünsch und Kuschnerus V. 8 noch zu jenem hellenistischen Daseinsverständnis, das Paulus nur deshalb paraphrasiert, weil er es in V. 9 als gegenstandlos entlarven will. Dabei fällt auf, dass sich die genannten Ausleger zu V. 8 ausgesprochen wortkarg verhalten. Heckel übergeht den Vers gänzlich, Wünsch interessiert lediglich die chiastische Anordnung der Verbalpräfixe in V. 6b.8b, die s.E. die intendierte sachliche Unklarheit der ei[te-ei[te-Disjunktion in V. 9 vorbereitet, und Kuschnerus beschränkt sich auf die Bemerkung, V. 8 artikuliere eine „gesteigerte Zustimmung“ zu der

421

Wünsch, Brief 268. Kuschnerus, Gemeinde 300. 423 Kuschnerus, Gemeinde 300. 424 Kuschnerus, Gemeinde 301. 425 Schmithals: Paulus betont gegen die korinthische Gnosis, dass das „Auswandern aus dem Leib“ irdisch nur als Wunsch möglich ist; Lang: Paulus formuliert in Abgrenzung zu dem seinen Gegnern unterstellten „Zuhausesein im Leib“ seine eigene Orientierung hin zu Christus. 422

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schon in V. 6 adaptierten Modell-Metaphorik, die in V. 9 dann aber „ins Leere“ läuft.426 Auf diese Weise ist V. 8 jedoch keinesfalls beizukommen. Für die der ei[te-ei[te-Disjunktion in V. 9 aufgebürdete nivellierende Textfunktion ist V. 8 viel zu gewichtig und die Verknüpfung beider Verse mit dio; kaiv zu glatt, als dass V. 9 das prononcierte eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ ktl auch nur andeutungsweise als ironische Paraphrase eines nachfolgend als gegenstandslos entlarvten Daseinsverständnisses kenntlich machte. Der Anschluss mit dio; kaiv „suggeriert“ eben nicht bloß hohe Evidenz,427 sondern beansprucht sie tatsächlich. Die Verse 8 und 9 geben beide die Auffassung des Adressanten wieder, und es deutet nichts darauf hin, dass der Text anders gelesen will als so.428 Die angebliche intendierte sachliche Unklarheit der ei[te-ei[te-Disjunktion ist nichts weiter als die Überinterpretation einer notwendigen stilistischen Verschlankung. Nachdem die Heimat-Fremde-Opposition bereits zwei mal durch den Gegensatz sw`ma – kuvrio~ konkretisiert wurde, wäre eine nochmalige Erweiterung der Partizipien um die bereits bekannten präpositionalen Appositionen eine so störende wie unnötige Überfrachtung der Konstruktion.429 Überdies hat sich gezeigt, dass eine Interpretation von V. 6–8 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi auch ohne die Annahme sachlicher Spannungen oder Brüche auskommt. Auch insofern erübrigt sich deshalb die Annahme, Paulus bediente sich hier (mehr oder weniger geglückt) gegnerischer bzw. seiner eigenen Auffassung entgegenstehender Sprache. Eines jedoch haben die genannten Ausleger richtig gesehen: Die Argumentation erhält in V. 9 trotz des mit dio; kaiv gegebenen glatten Anschlusses zumindest eine neue Wendung, die nicht ignoriert werden darf. Wenn auch keine Destruktion der Heimat-Fremde-Opposition vorliegt, so doch eine Relativierung derselben. Näherhin relativiert Paulus seine in V. 8b massiv zum Ausdruck gebrachte Todesbereitschaft durch das als noch wichtiger eingestufte Streben nach dem Wohlgefallen des kuvrio~. Der mit eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ktl artikulierte Gemütszustand erhält mit 426 Kuschnerus, Gemeinde 301. Vgl. schon Murphy-O’Connor, Body 218: Paulus operiere in V. 6.8 „with terms that he has not himself chosen.“ Die ihm fremde Terminologie werde „abandoned in V. 9, where eite endêmountes eite ekdêmountes is dismissed as irrelevant“ (Kursivdruck im Original). 427 Kuschnerus, Gemeinde 297. 428 Deshalb ist auch die Interpretation Käsemanns, Leib 125 abzulehnen: V. 9 sei „ein Musterbeispiel für die Umwandlung einer hellenistisch-metaphysischen Tradition zugunsten des Paulus leitenden geschichtlichen Interesses.“ In 2Kor 5,6–9 steht keineswegs Geschichte gegen Metaphysik, sondern ein ethischer Sachverhalt wird folgerichtig durch einen anderen erläutert. 429 Wollte man die Disjunktion ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~ den Vorgaben von V. 6 und V. 8 folgend ausformulieren, entstünde ein unlesbarer Text: ei[te ejndhmou`nte~ ejn tw`æ swvma-

ti kai; ejkdhmou`nte~ ajpo; tou` kurivou ei[te ejndhmou`nte~ suvn tw`æ kurivw`æ kai; ejkdhmou`nte~ ejk tou` swvmato~.

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dem filotimei`sqai eujavrestoi aujtw`æ ei\nai ein Kontergewicht: Die entschlossene Todesbereitschaft wird gewissermaßen flankiert durch die Konzentration auf die zu erlangende Wertschätzung durch Christus. Dieser material christliche Gedanke hat formal auffällige Parallelen im Diskurs antiker Sterbe-Ethik. Die der gedanklichen Linie V. 8b.9 zu Grunde liegende Argumentationsstruktur finden wir in biographischen exempla wie auch in philosophischen Texten wieder. Näherhin geht es um zwei weitere wichtige Elemente eines idealen Todesverständnisses: (a) die Vergleichgültigung von Leben und Sterben durch das Kriterium der Pflichterfüllung und (b) die im Leben wie im Sterben zu bewährende Verantwortung gegenüber einer göttlichen Instanz. Beide Aspekte sollen nun an paganen Vergleichstexten illustriert und anschließend zur paulinischen Argumentation in 2Kor 5,8f in Beziehung gesetzt werden. (a) Mit eujavrestoi aujtw`æ ei\nai benennt Paulus eine Ausrichtung seines Handelns, die für ihn noch wichtiger ist als die Frage nach Leben oder Tod. Die Entschlossenheit zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ kai; ejndhmh`sai pro;~ to;n kuvrion wird nicht zurückgenommen oder gar als unangemessen qualifiziert, wohl aber wird sie mit der Aussage filotimouvmeqa [...] eujavrestoi aujtw`æ ei\nai einer noch wichtigeren Handlungsorientierung untergeordnet. Der Affekt der entschlossenen Todesbereitschaft, den Paulus in V. 8 so prononciert herausstreicht, erhält damit ein Gegengewicht und bleibt auf diese Weise beherrschbar. Hier dürfte der argumentative Fortschritt von V. 9 liegen: Antiker Sterbe-Ethik ist entscheidend daran gelegen, dass positiv bewertete Todesbereitschaft nicht zu unkontrollierter Todessehnsucht ausartet. Der philosophische Charakter sokratischen Zuschnitts wünscht zwar den Tod herbei, doch behält er unter allen Umständen einen klaren Kopf und weiß sich in der ihm verbleibenden Lebenszeit gegenüber seinen Mitmenschen in der Pflicht. Seine existentielle Bestimmtheit durch das vom platonischen Sokrates zum philosophischen Ideal erhobene „Sterbenwollen“ (Phaid. 64) hindert ihn nicht daran, ganz „bei der Sache zu sein“, die ihm als Lebensaufgabe übertragen ist. Antiker ars moriendi liegt daran, das Todesproblem stets im Blick zu haben, aber doch sozusagen immer nur im Augenwinkel, nicht als Hauptaugenmerk. Gerade wer sterben gelernt hat, verfügt nach antiken Verständnis über eine bemerkenswerte Lebenszugewandtheit. Er weiß sich in der Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen und in Bezug auf das, was ihm im Leben zu tun aufgetragen ist. Dieser Gedanke findet sich keineswegs, wie man vermuten könnte, nur in philosophischen Texten, sondern etwa auch in Sterbeszenen antiker Biographien. Wir greifen drei Beispiele aus Suetons Kaiserviten heraus. (aa) Mit nur einem Satz, der aber alles andere als nebensächlich ist, bringt Sueton die Verschränkung von Todesbereitschaft und Pflichtbe-

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wusstsein in der Augustus-Biographie zur Geltung.430 Nach Suetons Darstellung hat sich das Sterben des Augustus folgendermaßen zugetragen: Während er sich bei den eben aus Rom Eingetroffenen nach dem Befinden der kranken Tochter des Drusus erkundigte, verschied er plötzlich in den Armen seiner Gattin Livia mit den Worten: ‚Livia, gedenke unserer glücklichen Ehe und lebe wohl‘ leicht und schmerzlos, wie er es sich immer gewünscht hatte (Aug. 99).

Sueton überlässt hier nichts dem erzählerischen Zufall. Er verbindet in dieser Sterbeszene drei Elemente antiker Sterbe-Ethik zu einer narrativen Einheit: (a) Die positive Deutung des eigenen Lebens aus dem Munde des Sterbenden („letzte Worte“), (b) ein sanfter Tod431 und (g) das fürsorgliche Interesse des Sterbenden für andere. Auf den dritten Punkt kommt es uns im Augenblick an: Obwohl er schon im Sterben liegt, richtet der Princeps seine Aufmerksamkeit dennoch nicht auf seinen eigenen Tod, sondern auf die Nöte ihm nahe stehender Menschen. Diese Haltung äußert sich konkret darin, dass er sich bei Reisenden, die gerade aus Rom zurückgekehrt sind, danach erkundigt, wie es Drusus’ kranker Tochter geht. Das Verhalten des Princeps wirft ein denkbar positives Licht auf seinen Charakter: Die unmittelbare Todesnähe beeindruckt ihn offenbar so wenig, dass er noch im Sterben seinen Mitmenschen zugewandt ist. Die Frage nach dem Gesundheitszustand der Verwandten verrät gleichermaßen Selbstlosigkeit und völlige Gefasstheit angesichts des Todes. (bb) In der Biographie Othos432 arbeitet Sueton das Motiv selbstlosen Pflichtbewusstseins und nüchterner Gefasstheit in der Situation des Sterbens noch ungleich stärker heraus als in der Augustus-Vita. Othos Freitod ist die verantwortliche Tat eines Feldherrn, der das Leben seiner Soldaten nicht für einen aussichts- und letztlich sinnlosen Kampf um die Macht noch länger aufs Spiel setzen will. Ausführlich schildert Sueton die letzten Stunden seines Lebens: Am Abend vor seinem Tod ist Otho darauf bedacht, dass sich seine engsten Gefolgsleute in Sicherheit bringen. Er verfasst Trostschreiben an seine Schwester und an Neros Witwe, vernichtet Beweismaterial, das seine Parteigänger später belasten könnte, und verteilt Geldbeträge unter den Militärs. Obwohl er den Entschluss gefasst hat zu sterben, zögert er seinen Tod noch eine Nacht hinaus, weil er fürchten muss, dass nach seinem Tod Chaos im Heerlager ausbricht. In dieser letzten Nacht seines Lebens wirkt er mäßigend und beruhigend auf alle Beteiligten ein. Nachdem er bis spät abends allen Gehör geschenkt hat, die ihn noch einmal sprechen wollen, geht er zu Bett, schläft tief und fest bis zum nächsten Morgen und gibt sich dann mit einem Dolchstoß den Tod. In Suetons 430

S.o. unter II.3.3.2. Vgl. hierzu S. 59ff. 432 S.o. unter II.3.3.6. 431

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Darstellung bildet das Pflichtbewusstsein Othos die gemeinsame Determinante seiner Todesbereitschaft und seines Entschlusses, den Tod noch eine kurze Zeitspanne hinauszuzögern. Mit beidem geht Otho souverän um, und in beiden Fällen ist die Frage nach Leben und Tod nur von mittelbarem Interesse. Entscheidend ist jeweils das Wohlergehen der Menschen, für die er verantwortlich ist. (cc) Von Vespasian433 berichtet Sueton, dass er bis zuletzt mit den Regierungsgeschäften befasst war. Schon auf den Tod krank empfing er auf seinem Landgut Bittsteller und gewährte sogar noch auf dem Sterbelager Gesandten eine Audienz. Mitten aus dieser Beschäftigung mit den Obliegenheiten des Staates erleidet er einen Schwächeanfall und stirbt. Vespasian weiß, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht, und als er merkt, dass es mit ihm zu Ende geht will er sich erheben, um (gleich einem Soldaten) stehend zu sterben. Doch bis zum Schluss überwältigt die Todesnähe weder seine Gefühle noch raubt sie ihm den Verstand oder bringt ihn dazu, sich ausschließlich mit sich selber zu beschäftigen. Insofern bedeutet die Konzentration auf die Pflichterfüllung, die Sueton am Beispiel Augustus’, Othos und Vespasians vorführt, eine Versachlichung des Todesproblems zum limitierenden Faktor der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Am Beispiel dieser drei Herrscher führt Sueton vor, dass Pflichterfüllung faktisch ein Modus der Bewältigung des Todesproblems sein kann: Wer sich bis zum Schluss auf seine Aufgaben konzentriert, findet gar keine Zeit, den eigenen Tod zum alles beherrschenden Thema werden zu lassen. Was in den Kaiserviten Suetons in Form biographischer exempla narrativ ausgestaltet wird, begegnet auf diskursiver Ebene auch in antiken philosophischen Texten. Wir greifen eine Stelle aus Senecas De tranquilitate animi heraus.434 In Tranq. 11,2–3 führt Seneca aus, dass der homo religiosus sanctusque Leben und Sterben gleichermaßen als verantwortliche Tat gegenüber dem Schicksal begreift. Das Leben ist eine Leihgabe des Schicksals, die ebenso sorgfältig verwaltet wie bereitwillig zurückgegeben werden muss. Die Verantwortung für die Gabe des Lebens erstreckt sich auch und gerade auf die Rückgabe desselben. Wer in diesem Bewusstsein lebt, der weiß, se suum non esse, sed omnia tam diligenter faciet, tam circumspecte, quam religiosus homo sanctusque solet tueri fidei commissa. quandoque autem reddere iubebitur, non queretur cum fortuna, sed dicet: ,gratias ago pro eo quod possedi habuique‘. – dass er nicht sein Eigentum ist; sondern alles wird er so sorgfältig tun, so umsichtig, wie ein gewissenhafter und integerer Mann zu bewahren pflegt, was ihm anvertraut. Wann immer er aber es zurückzugeben geheißen wird, hadert er nicht mit dem 433 434

S.o. unter II.3.3.7. S.o. S. 193.

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Schicksal, sondern wird sagen: ,Dankbar bin ich für das, was ich besessen und gehabt habe. Um großen Zins freilich habe ich deinen Besitz gepflegt, aber weil du so gebietest, gebe ich es hin, füge ich mich dankbar und willig‘.

(b) In Tranq. 11,2–3 wird der Aspekt Vergleichgültigung von Leben und Tod durch das Kriterium der Pflichterfüllung bereits überlagert vom Gedanken der im Leben wie im Sterben zu bewährenden Verantwortung gegenüber dem Schicksal bzw. den Göttern. Wie das Leben, so soll sich auch das Sterben im Einklang mit dem Willen der Götter vollziehen. Ist der Mensch zu Lebzeiten den Göttern verantwortlich und untersteht ihrer Führung und Fürsorge, dann ist er ihrem Willen gegenüber auch im Sterben nicht autonom. Auch und gerade das Sterben hat im Einklang mit dem Schicksal bzw. mit dem Beschluss der Götter zu geschehen. Wieder ist es die Figur des platonischen Sokrates,435 die hierin die weitere Tradition maßgeblich geprägt hat. In Phaid. 61c–62c entwickelt Sokrates den Gedanken, dass der Philosoph bei aller Todesbereitschaft und aller philosophisch motivierter Todessehnsucht doch seinem Leben nicht selber ein Ende setzen darf. Zwar ersehnt der Philosoph den Tod, aber „Gewalt wird er sich doch nicht selbst antun“ (ouj mevntoi i[sw~ biavsetai auJtovn, 61b), wenn denn zutrifft, „dass die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind“ (qeou;~ ei\nai hJmw`n tou;~ ejpimeloumevnou~ kai; hJma`~ tou;~ ajnqrwvpou~ e}n tw`n kthmavtwn toi`~ qeoi`~ ei\nai, 62b). Wie es einen Hirten mit Recht erzürnen würde, wenn sich eines der Tiere unaufgefordert von der Herde entfernen würde (62bc), so gilt auch für die Menschen, dass sie nicht eigenmächtig aus dem Leben scheiden dürfen. Im Blick auf seine eigene Situation äußert Sokrates, „dass man nicht eher sich selbst töten dürfe, bis der Gott irgendeine Notwendigkeit dazu verfügt hat wie die jetzt uns gewordene“ (mh; provteron auJto;n ajpokteinuvnai dei`n, pri;n ajnavgkhn tina; qeo;~ ejpipevmyhæ, w{sper kai; th;n nu`n hJmi`n parou`san, 62c). Dieses Moment der Verantwortlichkeit, das die subjektive Verfügungsmacht über das eigene Leben einschränkt bzw. reglementiert, spielt im antiken Diskurs keineswegs überall eine solch zentrale Rolle wie im Phaidon, es geht jedoch, vom Kynismus und Epikureismus einmal abgesehen, nirgends völlig verloren. Selbst Seneca, dessen Auffassung dem Gedanken eines freien Verfügungsrechts über Leben und Tod teilweise sehr nahe kommt,436 kennt, wie die Stelle Tranq. 11,2–3 zeigt, doch eine Verantwortung gegenüber dem 435

S.o. 154. Benz, Todesproblem 74f verweist auf EpMor. 91,15: In eum intravimus mundum, in quo his legibus vivitur. Placet? Pare. Non placet? Quacumque vis exi. – „In eine Welt sind wir eingetreten, in der man nach diesen Gesetzen lebt. Gefällt sie: gehorche. Gefällt sie nicht: wohin immer du willst – geh.“ 436

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Schicksal, und die Sprache, die er hierbei verwendet, hat vernehmbar einen religiösen Klang. Später hat Epiktet den Zusammenhang von Schicksal, Vernunft und göttlicher Vorsehung konsequent ausgearbeitet und damit vorgeführt, dass eine (anderen Menschen gegenüber) freie und selbstbestimmte Willensentscheidung437 und ein religiöses Bewusstsein keineswegs in Widerspruch zu einander stehen. Maßgebliche Instanz für die eigene sittliche Entscheidung und Tat ist allein die Seele des Einzelnen, aus der mit den Worten der Vernunft die Stimme Gottes spricht.438 Somit unterliegt auch die Frage nach Leben oder Tod strengen sittlichen Kriterien, und in diesen Kriterien wiederum manifestiert sich der Wille Gottes. Weder ist Lebensverdruss ein hinreichender Grund, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, noch ist umgekehrt Lebensfreude ein Grund dafür, dem Tod auszuweichen. In beiden bestimmt vielmehr ein göttliches „Zeichen“ den Moment, das Leben zu verlassen, ganz gleich, ob man dies gern schon viel früher getan hätte oder aber sich damit lieber noch Zeit ließe. Gegen ein vorzeitiges Verlassen des Lebens wendet sich Epiktet in Diss. 1,9,10–17. Epiktet entwirft hier einen Disput mit seinen Schülern, unter denen offenbar Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht überhand nehmen.439 Er formuliert diese von ihm kritisierte Geisteshaltung folgendermaßen: ejpivkthte, oujkevti ajnecovmeqa meta; tou` swmativou touvtou dedemevnoi kai; tou`to trevfonte~ kai; potivzonte~ kai; ajnapauvonte~ kai; kaqaivronte~, ei\ta diÆ aujto; sumperiferovmenoi toi`sde kai; toi`sde. oujk ajdiavfora tau`ta kai; oujde;n pro;~ hJma`~ kai; oJ qavnato~ ouj kakovn kai; suggenei`~ tine~ tou` qeou` ejsmen kajkei`qen ejlhluvqamen a[fe~ hJma`~ ajpelqei`n o{qen ejlhluvqamen, a[fe~ luqh`naiv pote tw`n desmw`n touvtwn tw`n ejxhrthmevnwn kai; barouvntwn. – Das ertragen wir nicht länger, Epiktet, an diesen armen Leib gefesselt zu sein, ihn zu speisen und zu tränken, ihn schlafen zu legen, ihn zu waschen und zu baden und uns um seinetwillen nach allerlei Leuten zu richten. Sind das nicht gleichgültige Dinge, die uns nichts angehen? Der Tod ist ja kein Übel, dazu sind wir mit Gott verwandt und kommen von ihm her. Lass

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Diesen Aspekt kann Epiktet genauso einseitig betonen wie Seneca auch; vgl. Diss. 1,25,18:

kapno;n pepoivhken ejn tw`æ oijkhvmati; a]n mevtrion, menw`: a]n livan poluvn, ejxevrcomai. touvtou ga;r memnh`sqai kai; kratei`n, o{ti hJ quvra h[noiktai. – „Man hat Rauch im Zimmer gemacht. Ist er erträglich, so bleibe ich. Ist er zu stark, so gehe ich hinaus. Denn man muss dessen eingedenk sein und es wohl behalten, dass die Tür offen steht.“ 438 „[D]ie Lehre von der Willensfreiheit und von der göttlichen Vorbestimmung finden sich also darin zusammen, daß das Gesetz, das sich als Schicksal in Gottes Willen offenbart, dasselbe ist, das als innere Stimme und göttliche Offenbarung dem Menschen den vernünftigen Weg der Tugend weist, dass der Wille Gottes die gleiche Manifestation als Schicksal wie als innere Stimme ist, dass im Kosmos wie im Einzelmenschen die gleiche auf das Gute gerichtete Vernunft wirksam ist, dass der Wille des Weisen als ein seinem sittlichen Bewusstsein entsprungener dem Willen Gottes homogen ist“ (Benz, Todesproblem 78). 439 Vgl. dazu Droge, Suicide 272.

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

uns hingehen, woher wir kommen! Lass uns endlich einmal die Bande, die uns so schwer anhangen, zerreißen! (1,9,12–15)

Epiktet will seinen Schülern, die ihn derart mit ihrem Todeswunsch bestürmen, folgendes erwidern: a[nqrwpoi, ejkdevxasqe to;n qeovn. o{tan ejkei`no~ shmhvnhæ kai; ajpoluvshæ uJma`~ tauvth~ th`~ uJphresiva~, tovtÆ ajpoluvesqe pro;~ aujtovn: ejpi; de; tou` parovnto~ ajnavscesqe ejnoikou`nte~ tauvthn th;n cwvran, eij~ h}n ejkei`no~ uJma`~ e[taxen. ojlivgo~ a[ra crovno~ ou|to~ oJ th`~ oijkhvsew~ kai; rJavædio~ toi`~ ou{tw diakeimevnoi~. [...] meivnate, mh; ajlogivstw~ ajpevlqhte. – Wartet auf Gott, ihr Menschen! Sobald er euch das Zeichen gibt und euch dieses Dienstes entlässt, so habt ihr die Freiheit, zu ihm zurückzugehen. Noch zurzeit aber haltet geduldig auf dem Posten aus, auf den er euch gestellt hat. Die Zeit, die ihr hier zu bleiben habt, ist ja kurz und kann Leuten von solchen Grundsätzen nicht schwer ankommen. [...] Bleibet hier, gehet nicht ohne hinlängliche Gründe weg (1,9,16–17).

Muss Epiktet an dieser Stelle die Balance individueller Verantwortlichkeit im Leben wie im Sterben gegen übermäßige Todessehnsucht schützen, so macht er das Motiv des göttlichen „Zeichens“ zum Aufbruch in 1,29,28f auch nach der anderen Seite hin geltend und betont gleichermaßen die Bereitschaft zu leben wie zu sterben. Der in der Vernunft offenbare Gotteswille entscheidet, ob ein Mensch, gleich einem Soldaten, auf seinem Posten verharrt oder ihn auf den entsprechenden Befehl hin verlässt. Der Philosoph ist bereit, im Leben auszuharren und seine Pflicht zu tun, mevcri~ a]n ou| lovgo~ aiJrh`æ sunei`naiv me tw`æ swmativwó: o{tan de; mh; aiJrh`æ, lavbete aujto; kai; uJgiaivnete. movnon mh; ajlogivstw~, movnon mh; malakw`~, mh; ejk th`~ tucouvsh~ profavsew~. pavlin ga;r oJ qeo;~ ouj bouvletai: creivan ga;r e[cei kovsmou toiouvtou, tw`n ejpi; gh`~ ajnastrefomevnwn toiouvtwn. eja;n de; shmhvnhæ to; ajnaklhtiko;n wJ~ tw`æ Swkravtei, peivqesqai dei` tw`æ shmaivnonti wJ~ strathgw`.æ – [s]olange die Vernunft es für vorzüglicher findet, dass ich in dem Leibe bleibe. Sobald sie es aber nicht mehr für ratsam hält, so lasse ich euch den Leib und sage Lebewohl. Nur muss ich nicht ohne zureichenden Grund, nicht aus Weichlichkeit, nicht aus geringem Anlass dazu schreiten. Denn auch das will Gott nicht haben. Denn er hat eine solche Welt und solche Leute auf der Erde zu seinen Absichten vonnöten. Wenn er aber einem das Zeichen zum Abzuge gibt, wie dem Sokrates, so muss man ihm, wie einem Feldherrn, auf das Kommando Folge leisten (1,29,28f).

Epiktet achtet hier sorgsam auf ein ausgeglichenes „Kräfteverhältnis“ zwischen Lebenswillen und Todesbereitschaft. Dem Philosophen ist beides recht, solange er die Gewissheit hat, im Einklang mit seiner Vernunft und dem Willen Gottes zu handeln. Würde eine Option prinzipiell stärker gewichtet als die andere, würden Leben und Tod den Status als adiaphora verlieren, an dem stoischer Ethik so viel gelegen ist. So aber neutralisiert ein Affekt den anderen, weil beides dem Gedanken der Pflichterfüllung ge-

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genüber dem in Vernunft und Schicksal waltenden Gott untergeordnet wird. Weder günstige noch ungünstige Lebensverhältnisse haben hierbei eine eigene Qualität, jene sind wie diese bloße „Zeichen“ des göttlichen Willens, der im Leben zu verharren oder eben zu sterben gebietet. Es kann also für den Weisen kein Scheitern oder endgültiges Unterliegen in den zwischenmenschlichen Machtverhältnissen geben, ist doch das lebenswerte wie das unerträglich gewordene Dasein für ihn immer nur insofern von Interesse, als er darin den göttlichen Fingerzeig erblickt, der ihn weiterzuleben oder aus dem Leben zu scheiden heißt. Ist das Leben noch irgend erträglich, wird er dies als Zeichen verstehen, dass seine Lebensaufgabe noch nicht getan ist, dass Gott ihn noch braucht, und er wird ungeachtet seiner auf den Tod gerichteten Stetsbereitschaft seine ganze Kraft darauf verwenden, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Es wird hier ganz deutlich, dass ars moriendi nach antikem Verständnis weitaus mehr ist als die am Sterbebett zu leistende consolatio. Es geht vielmehr um eine vom Todesproblem her aufgegebene lebenslange Formung des Charakters. Wer diese Schule durchlaufen hat, kann mit Recht kalo;~ kai; ajgaqov~ genannt werden, wie Epiktet dies in Diss. 3,24,95 tut. Ein solcher „sittlich hochstehend[r] Mann [...] ist nur darauf bedacht, dass er seinen Platz in völliger Unterwerfung und Gehorsam gegen Gott ausfülle.“ – oJ kalo;~ kai; ajgaqov~ [...] pro;~ movnwó touvtwó ejstivn, pw`~ th;n auJtou` cwvran ejkplhrwvshæ eujtavktw~ kai; eujpeiqw`~ tw`æ qew`.æ Seine Seele befindet sich in ständigem Dialog mit Gott: e[ti mÆ ei\nai qevlei~ wJ~ ejleuvqero~, wJ~ gennai`o~, wJ~ su; hjqevlhsa~ [...] ajllÆ oujkevti mou creivan e[cei~É kalw`~ soi gevnoito: kai; mevcri nu`n dia; se; e[menon, diÆ a[llon oujdevna, kai; nu`n soi peiqovmeno~ ajpevrcomai. – Willst du, Gott, dass ich länger da sei? Ich will es, so frei, so edel, so, wie du es wolltest. [...] Aber du hast mich wohl nicht mehr nötig? Gut so! Bis auf diese Stunde bin ich deinet- und keines anderen wegen dageblieben: also gehorche ich dir jetzt und scheide (3,24,96f).

Wenn wir nun erneut die paulinische Aussage 2Kor 5,9 in den Blick nehmen, wird deutlich, dass von einem sachlichen Bruch zwischen V. 6–8 einerseits und V. 9 andererseits nicht die Rede sein kann. Es mag angehen, im Hinblick auf V. 6–8 mit Kuschnerus von einer von Paulus übernommenen „Modellmetaphorik“ zu reden.440 Unzutreffend ist aber die Auffassung von V. 9 als einer ironischen Nivellierung dieser Metaphorik. Die zu V. 9 herangezogenen Vergleichstexte zeigen vielmehr, dass sich Paulus hier noch immer innerhalb des gedanklichen Horizonts antiker Sterbe-Ethik bewegt, dass mithin auch V. 9 noch zu dieser „Modellmetaphorik“ zu rechnen wäre. In V. 9 ergänzt Paulus die Explikation seines Todesverständnisses nämlich um einen weiteren wichtigen Aspekt: Die seine Todesbereitschaft moti440

S.o. S. 351.

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

vierende Sehnsucht nach der vollen Gemeinschaft mit dem kuvrio~ (V. 8) geht einher mit einer stets empfundenen und im Leben wie im Sterben (ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~) zu bewährenden Verantwortung ihm gegenüber. Dieser Gedanke ist, wie wir sahen, antiker ars moriendi gewissermaßen in die Wiege gelegt: Schon der Sokrates des Phaidon weiß sich unbeschadet seines „Sterbenwollens“ auch schon bei Lebzeiten den Göttern gegenüber in der Pflicht, weil er sich zu ihrem „Besitz“ zählt und sich ihrer „Fürsorge“ gewiss ist. Auch für Seneca besteht kein qualitativer Unterschied zwischen der Sorgfalt und Umsicht beim Umgang mit der Gabe des Lebens und ihrer gehorsamen Rückgabe, wenn das Schicksal dies fordert. Ebenso betont Epiktet den notwendigen Zusammenhang pflichtbewussten Lebens und gehorsamen Sterbens. Erst durch dieses Bewusstsein einer Leben und Tod übergreifenden Verantwortlichkeit ist gewährleistet, dass, wer den Tod wünscht, nicht zugleich auch am Leben verzweifelt. Andernfalls könnte Sterben nicht mehr als freier Akt begriffen werden. Der Affekt der Todessehnsucht würde, wenn nicht auch das Leben als vom Schicksal, der Natur, der Vernunft und/oder den Göttern gestifteter sinnhafter Zusammenhang begriffen werden könnte, übermächtig und destruktiv. Er würde, wenn ihm nicht eine gleich starke Lebensbejahung entgegen stünde, aus dem Ruder laufen und das Individuum wäre nicht mehr Subjekt einer freien sittlichen Entscheidung. So aber bietet gerade die doppelte Nichtzuständigkeit des Weisen für Leben und Tod die Gewähr dafür, dass weder Todessehnsucht noch Lebenswille in ihm überhand nehmen. Leben und Tod gehen ihn nur mittelbar etwas an als Geltungsbereiche des göttlichen Willens, der für ihn allein absolute Geltung hat. Es ist diese Logik einer Leben und Tod vergleichgültigenden Verantwortlichkeit gegenüber Gott, der auch Paulus in 2Kor 5,9 folgt: Nachdem er in V. 8 seine entschlossene Todesbereitschaft artikuliert hat, betont er in V. 9, dass diese Bereitschaft ihren Bezugsrahmen in der Leben und Tod gleichermaßen umfassenden Verantwortung gegenüber dem kuvrio~ hat. Nur innerhalb dieses Bezugsrahmens ist die Entschlossenheit zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ als Lebenshaltung überhaupt möglich, würde sich doch, wer sich solche Entschlossenheit zuschreibt, andernfalls dem Verdacht aussetzen, es sei ihm damit gar nicht ernst, denn sonst wäre er ja bereits nicht mehr am Leben. Wenn wir an dieser Stelle von 2Kor 5,9 nach V. 4 zurückblicken, so zeigt sich, das die dort durchgeführte Interpretation von V. 4b mit der nun vorgeschlagenen Deutung von V. 9 übereinstimmt: Ging es Paulus in V. 4b um eine Präzisierung seines Todesverständnisses dergestalt, dass dieses (positiv) von Heilssehnsucht bestimmt ist (qevlomen [...] ejpenduvsasqai) und nicht etwa (negativ) von Lebensverdruss (ouj qevlomen ejkduvsasqai), so macht er nun deutlich, dass er ungeachtet seiner entschlos-

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senen Todesbereitschaft (eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~) sein irdisches Leben nicht gering achtet, sondern die ihm gegebene Lebenszeit als Gelegenheit versteht, das Wohlgefallen des kuvrio~ zu erlangen. Inhaltlich hat Paulus hierbei zweifellos sein apostolisches Amt im Blick, das er zur Zufriedenheit des kuvrio~ auszuüben bestrebt ist. Dies ist seine Lebensaufgabe, und diese Aufgabe nimmt er so ernst, dass er gar keine Zeit findet, um sich über Gebühr mit dem Problem seines Todes zu befassen. Der sachlichen Gleichrangigkeit von Leben und Tod aufgrund der umfassenden Verantwortung gegenüber Gott korrespondiert also eine mentale Vergleichgültigung von Leben und Tod, die sich aus der Konzentration auf die gestellte Lebensaufgabe ergibt. Auch diese mentale Vergleichgültigung ist ein wesentliches Element im Diskurs antiker Sterbe-Ethik, und folgerichtig fanden wir entsprechendes auch im motivischen Arsenal biographischer exempla: Sueton führt in mehreren Sterbeszenen (Augustus, Otho, Vespasian) vor, dass für den, der gewissenhaft seine Pflicht tut, der eigene Tod zum Problem zweiter Ordnung wird. Von philosophischer Warte betonen umgekehrt Seneca und Epiktet die Gewissenhaftigkeit, mit der sich gerade der, der seinen eigenen Tod akzeptiert hat, seinen Pflichten zu widmen versteht. Aus dieser Perspektive stellt sich die Aussage 2Kor 5,9 keineswegs als Abbruch einer fruchtlosen Erörterung (Windisch), als Rückkehr von der gegnerischen zur paulinische Sprache (Lang) oder gar als ironische Nivellierung einer als gegenstandslos entlarvten Unterscheidung (Heckel, Wünsch, Kuschnerus) dar. Vielmehr bildet V. 9 (zusammen mit V. 10) den folgerichtigen Abschluss der mit V. 1 anhebenden Explikation des paulinischen Todesverständnisses, sofern dieses als Lebenshaltung plausibilisiert werden soll.441 441 Auch in Phil 1,21–24 konzipiert Paulus den Gedanken der Pflichterfüllung als affektives Kontergewicht zu einer unabweisbar positiv gewerteten Todesbereitschaft. Er betont, dass er für beides gleich starke Argumente hat, sowohl für das Weiterleben (ejpimevnein ejn th`/ sarkiv), das ihm die Möglichkeit gäbe, weiterhin für die Philipper dazusein und seiner apostolischen Aufgabe nachzukommen, wie auch für das Sterben (ajnalu`sai), das ihm die Gemeinschaft mit Christus einbrächte (su;n Cristw`æ ei\nai). Seine Gefangenschaft und den ungewissen Prozessausgang stilisiert er als willkommene Entscheidungshilfe in einer Frage, die er, weil Todesbereitschaft (ejpiqumivan e[cwn ktl) und Pflichtgefühl (ejpimevnein [...] ajnagkaiovteron diÆ uJma`~) einander die Waage halten (sunevcomai de; ejk tw`n duvo), selber nicht zu entscheiden vermag (tiv aiJrhvsomai ouj gnwrivzw). Die ejpiqumiva [...] eij~ to; ajnalu`sai hat in der Einsicht in den Vorrang der apostolischen Aufgabe ihr notwendiges Gegengewicht, damit sie als Affekt nicht überhand nimmt und zur alleinigen (und dann lebensverneinenden) Handlungsorientierung wird. Sie wird aber als solche nicht negativ beurteilt und durch den Gedanken der apostolischen Pflichterfüllung in keiner Weise diskreditiert. Mit der ejpiqumiva [...] eij~ to; ajnalu`sai lässt sich ja gerade deshalb leben, weil es daneben und mit gleichem Recht auch die zu bewältigende Lebensaufgabe gibt (nach Phil 1,24: der apostolische Dienst an den Adressaten des Briefes). Paulus erreicht damit erstens, dass er für den Fall einer Verurteilung seinem eigenen Tod mit einer positiven Deutung seines Todesgeschicks vorgreift: Müsste er sterben, wäre dies nichts anderes als die Erfüllung seines sehnlichen Wunsches nach der Gemeinschaft mit Christus. Einer möglichen (und aus der Außenperspektive ja

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2.11 Die ethische Dimension idealer Todesbereitschaft (V. 10) Der Hinweis auf das Gericht in V. 10 unterstreicht den subjektiven Ernst und das sachliche Schwergewicht der in V. 9 thematisierten apostolischen Pflichterfüllung. Es geht um mehr als um den persönlichen Eifer des Apostels, es geht darum, vor Christus als dem Richter zu bestehen. Auf diese Weise verleiht Paulus seinem Anspruch auf persönliche Integrität bei der Ausübung seines apostolischen Amtes zusätzlich Gewicht. Sofern V. 10 die Begründung für den zuvor zum Ausdruck gebrachten Eifer um das Wohlgefallen Christi liefert, gehört auch dieser Vers noch zur Explikation des paulinischen Todesverständnisses: Sterben heißt für ihn, für sein Lebenswerk Rechenschaft abzulegen. Bewusstes Sterben hat in pflichtbewusstem Leben seine notwendige Kehrseite, oder, in der paulinischen Formulierung ausgedrückt, das Entschlossensein zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ (V. 8) ist ohne das Wissen um das bevorstehende Urteil über ta; dia; tou` swvmato~ [pepragmevna]442 (V. 10) nicht denkbar. Weil Paulus das Sterben als Weg vor den Richterstuhl Christi begreift, kommt für ihn eine ethische Indifferenz gegenüber seinen Taten „bei Leibesleben“ nicht in Frage. Der Gerichtsgedanke erweist sich damit als ethische Sinnspitze der paulinischen Erörterung des Todesproblems.443 Rechtes Todesverständnis kann nach ankeineswegs abwegigen) gegenteiligen Deutung seines Todes als Scheitern oder verdiente Strafe beugt er auf diese Weise vor. Paulus tut hier dasselbe, was antike Biographen mit ihren Protagonisten taten, wenn sie ihnen wohlgesonnen waren, nämlich ihnen bei Lebzeiten die Gelegenheit zu einer positiven Deutung ihres eigenen Todes zu geben. Paulus artikuliert damit zweitens ein respektables Todesverständnis, das ihn als herausragenden Charakter ausweist: Die Versachlichung des Todesproblems in der Situation potentieller Todesnähe durch die zu erfüllende Pflicht zeugt von einem souveränen Umgang mit dem eigenen Sterben, das einen Vergleich mit herausragenden biographischen exempla nicht zu scheuen braucht und sich an den anspruchsvollsten philosophisch-ethischen Lehrsätzen zum Todesproblem messen lassen kann. Auch in Phil 1,21–24 führt Paulus somit ein Stück antiker ars moriendi vor, anders als in 2Kor 5 mit der realistischen Möglichkeit seines baldigen Todes, aber doch mit einer vergleichbaren Mitteilungsabsicht: Auch hier geht es Paulus um den Nachweis, dass und wie er durch seinen Glauben an Christus und seine Aussicht auf das eschatologische Heil zu einem positiven Todesverständnis gelangt. Vgl. auch die erhellenden Überlegungen bei Jaquette, Life 33–38 zur Verarbeitung des adiaphora-Topos in Phil 1,21–26 unter der Überschrift „Exemplification and Creating a Positive Ethos“. 442 Die Phrase ist elliptisch. Sinngemäß ist mit Windisch, 2Kor 172 pepragmevna o.ä. zu ergänzen. diav hat instrumentellen Sinn (172). 443 Die Formulierung ta; dia; tou` swvmato~ in V. 10 lässt sich also sachimmanent als argumentatives Gegenstück zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ in V. 8 erklären. Dies ist gegen die von Synofzik vertretene antienthusiastische Deutung geltend zu machen. Synofzik sieht in der Wendung ta; dia; tou` swvmato~ die auf die korinthische Situation zugeschnittene Zuspitzung einer ansonsten traditionellen Gerichtsaussage. Die Formulierung richte sich gegen die „in Korinth propagierte enthusiastische Loslösung vom eigenen, negativ verstandenen sw`ma.“ Paulus behaupte „[i]n pointiertem Gegensatz zu dem Überspringen und Verachten des eigenen Soma bei seinen Gegnern“ seine eigene „Verantwortlichkeit vor Gott dia; tou` swvmato~“ (Vergeltungsaussagen 76). Paulus geht es in der Tat um solche Verantwortlichkeit, doch wirft die Annahme einer antienthusiastischen Stoßrichtung des Arguments die Frage auf, warum Paulus dann in V. 6 und V. 8

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tiker Auffassung niemals darauf hinauslaufen, dass Sterben als Möglichkeit begriffen wird, sich den Konsequenzen des eigenen Handelns zu entziehen. In diese Richtung weisen auf ihre Art bereits die zu V. 9 angeführten biographischen Vergleichstexte aus Sueton: Wer zu sterben versteht, weiß sich auch und gerade im Angesicht des Todes von den Pflichten gegenüber seinen Mitmenschen nicht entbunden. Wir ergänzen die genannten Texte an dieser Stelle um ein biographisches exemplum, das Seneca in Prov. 2,11 verwendet,444 um den sittlichen Ernst eines in der Situation des Sterbens bewährten vorbildlichen Todesverständnisses zu akzentuieren. Er nennt Cato, der sich noch in unmittelbarer Todesnähe um die Sicherheit der ihm anbefohlenen Menschen sorgt, den „leidenschaftlichsten Richter seiner selbst“ (acerrimus sui vindex), und indem er so gehandelt hat und gestorben ist, war er ein Schauspiel für die Götter: Liquet mihi cum magno spectasse gaudio deos, dum ille uir, acerrimus sui vindex, alienae saluti consulit et instruit discedentium fugam, „Klar ist mir: mit großer Freude haben die Götter zugesehen, während jener Mann, der leidenschaftlichste Richter seiner selber, für fremde Rettung sorgte und ordnete der Davongekommenen Flucht.“ Seneca verwendet hier zwar nicht das Motiv des himmlischen Gerichts, doch ist die Stelle der paulinischen Aussage insofern vergleichbar, als Cato an sein Verhalten in Todesnähe einen strengen sittlichen Maßstab anlegt, sich damit selbst zur quasi-richterlichen Instanz wird und auf diese Weise das Wohlgefallen der Götter erlangt. Cato erweist sich darin als respektabler Charakter, dass ihn seine Entschlossenheit zu sterben nicht zur Nachlässigkeit gegenüber seinen Mitmenschen verleitet. Er achtet vielmehr darauf, dass er trotz seines nahen Endes das in die Tat umsetzt, was die Situation ihm zu tun gebietet. Im antiken philosophischen Diskurs spielt die ethisch motivierte Rückbindung entschlossener Todesbereitschaft an eine pflichtbewusste Lebensführung schon bei Platon eine gewichtige Rolle, und zwar wie bei Paulus im Rekurs nicht nur auf das Motiv eines postmortalen Gerichts, sondern auch auf die Leib-Thematik. So sehr Sokrates im Phaidon die philosophische Notwendigkeit betont, sich schon im Leben vom Leib loseiner Distanzierung vom sw`ma so ungeschützt das Wort redet. Man müsste in diesem Fall mit Synofzik von einer „Konzession“ an den korinthischen Enthusiasmus reden (vgl. 76), der er in V. 10 gegensteuert. Doch gibt es für diese Argumentationsstrategie keine Anhaltspunkte (s.o. S. 351f zur Auseinandersetzung mit verwandten Deutungen) und v.a. keinen ersichtlichen Grund. Furnish, 2Kor 305 greift die Interpretation Synofziks auf, argumentiert aber vorsichtiger, Paulus habe seine Ausführungen in V. 6.8 lediglich gegen ein mögliches enthusiastisches Missverständnis schützen wollen. Furnish kommt der hier vorgeschlagenen Deutung insofern näher, als Paulus in V. 10 sachimmanent argumentiert, doch kann die Formulierung ta; dia; tou` swvmato~, wie gleich zu zeigen sein wird, auch ohne die Annahme einer der korinthischen Situation Rechnung tragenden vorsorglichen Selbstkorrektur verständlich gemacht werden. 444 S.o. S. 195.

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zumachen, so wenig hat dies doch ethische Beliebigkeit zur Konsequenz. Vielmehr ist gerade durch die Unsterblichkeit der Seele gewährleistet, dass der Tod nicht zugleich die Grenze moralischer Verantwortlichkeit darstellt. Die Seele entledigt sich im Tode zwar des Leibes, nicht aber der schlechten Taten, die sie während des irdischen Lebens getan hat. Sokrates leitet den Unterweltmythos des Phaidon (107c–114d), an dessen Ende das Geschick der Seelen im Jenseitsgericht geschildert wird (113d–114c), mit einer Erläuterung der ethischen Implikationen der im Phaidon entwickelten Seelenlehre ein:445 eij me;n ga;r h\n oJ qavnato~ tou` panto;~ ajpallaghv, e{rmaion a]n h\n toi`~ kakoi`~ ajpoqanou`si tou` te swvmato~ a{mÆ ajphllavcqai kai; th`~ auJtw`n kakiva~ meta; th`~ yuch`~: nu`n dÆ ejpeidh; ajqavnato~ faivnetai ou\sa, oujdemiva a]n ei[h aujth`æ a[llh ajpofugh; kakw`n oujde; swthriva plh;n tou` wJ~ beltivsthn te kai; fronimwtavthn genevsqai. – Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre, so wäre es ein Fund für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil, als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden wie möglich (107c–d).

Dass die Seele den Leib überdauert, bedeutet auch, dass sie für das, was sie bei Lebzeiten – mit 2Kor 5,10 gesprochen: dia; tou` swvmato~ – getan hat, zur Rechenschaft gezogen werden kann. Schon für den platonischen Sokrates ist also das als erstrebenswertes Ablegen des Leibes verstandene Sterben kein Argument für ethische Indifferenz. Der paulinische Rekurs auf das Gericht lässt sich auf diesem Hintergrund wie schon V. 9 sachimmanent als christliche Variante des hohen ethischen Anspruchs verstehen, der nach antiker Auffassung mit einem vorbildlichen Todesverständnis verbunden ist. Mit dem ethischen Aspekt ist V. 10 jedoch noch nicht Genüge getan. Der Hinweis auf das Endgericht schärft nämlich abschließend zugleich auch das apologetische Profil des ganzen Abschnitts, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens benennt Paulus mit dem Gericht Christi diejenige Instanz, der er sich als Apostel der korinthischen Gemeinde in all seinem Tun bis in die kleinste Einzelheit verantwortlich weiß. Das Bewusstsein der Rechenschaftspflicht gegenüber einem Gerichtsforum, das dereinst über seine Taten befinden wird, lässt auf eine tadellose Ausübung seines Amts schließen und ist deshalb ein gewichtiges Argument für die Legitimität seines Apostolats. Das Wissen um das Gericht Christi ist gewissermaßen ein „Gütesiegel“ für die paulinische Amtsführung. Der erwartete eschatologische Statuswechsel, den Paulus in 5,1–4 mit den Bildern von Haus und Gewand beschreibt, verleitet ihn nicht zu einer triumphalen Haltung, weil seine Perspektive auf Sterben und Tod nicht nur von Heilssehnsucht und Heilsge445

S.o. S. 158.

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wissheit bestimmt ist, sondern – dies kommt deutlicher noch als in V. 9 in V. 10 zum Ausdruck – eben auch vom Verantwortungsbewusstsein gegenüber Christus als seinem Richter. 446 Damit weiß sich Paulus mittelbar auch gegenüber seinen Adressaten in der Pflicht, denn an sie verweist ihn ja sein apostolischer Auftrag. Zwar hat also die korinthische Gemeinde nicht über Paulus zu urteilen, wohl aber urteilt Christus darüber, ob Paulus seinem Auftrag an den korinthischen Christen gerecht geworden ist. Der unmittelbare Bezug von V. 10 auf die Apologie des paulinischen Apostolats kommt in V. 11 klar zur Geltung: Das Bewusstsein künftigen Gerichtetwerdens, das Paulus in V. 11 mit dem „Wissen um den fovbo~ kurivou“ umschreibt, ist notwendige Voraussetzung für das apostolische ajnqrwvpou~ peivqein.447 Zweitens impliziert der Rekurs auf das eschatologische Gericht eine Emanzipation des Apostels gegenüber seinen menschlichen Richtern. Die „letztinstanzliche“ Verantwortung gegenüber Christus und seinem Gerichtsurteil entbindet ihn von der Notwendigkeit, das Urteil von Menschen als letztgültig anzuerkennen: Was zählt, ist nicht, wie Menschen seinen Apostolat beurteilen, Menschen, die die Legitimität seines Anspruchs auf dieses Amt anzweifeln, sondern wie Christus ihn beurteilt, der Paulus in dieses Amt berufen hat. Hierbei koinzidieren die Letztgültigkeit einer aus der Perspektive des Todes entworfenen Lebensdeutung, wie Paulus sie in 2Kor 5,1ff entfaltet, und die Letztgültigkeit des Urteils Christi über sein Lebenswerk. Da Paulus in V. 9 betont, dass er alles nur Erdenkliche daran setzt, um das Wohlgefallen Christi zu erlangen, kann V. 10 kaum anders verstanden werden denn als Ausdruck der Erwartung, Paulus werde in diesem Gericht bestehen. Das heißt aber: Paulus interessiert das fanerwqh`nai [...] e[mprosqen tou` bhvmato~ tou` Cristou` vorrangig als Szenario seiner eigenen eschatologischen „Rehabilitation“ gegenüber den Menschen, die ihn jetzt geringachten oder gar ablehnen. Das göttliche Urteil überbietet das menschliche und hebt es auf. Die apologetisch motivierte exklusive Ausrichtung des Paulus am Urteil Gottes klingt schon in 2Kor 2,17b wJ~ ejk qeou` katevnanti qeou` ejn Cristw`æ lalou`men an. Der Anspruch auf ein „Reden katevnanti qeou`“ ist, wie Windisch zutreffend festgestellt hat, „eine Berufung auf Gottes prüfendes und bestätigendes Urteil“.448 Es dürfte nun kein Zufall sein, dass Paulus das Gerichtsmotiv im Kontext des seit 5,1 ent446 Diesen Aspekt hat m.R. Schröter, Versöhner 248 betont: Paulus bringt durch den Gerichtsgedanken „zum Ausdruck, dass sich seine apostolische Existenz im Bewusstsein künftigen Gerichtetwerdens vollzieht und sie daher ihre Legitimation von Gott erhält“, vgl. auch 225.246.251. 447 So auch Schröter, Versöhner 249. 448 Windisch, 2Kor 102; zustimmend Thrall, 2Kor 216: „an appeal to God as witness of his activity“. Dieselbe Phrase verwendet Paulus fast wörtlich auch in 2Kor 12,19b pavlai dokei`te o{ti uJmi`n ajpologouvmeqa katevnanti qeou` ejn Cristw`æ lalou`men, hier nun unter ausdrücklicher Zurückweisung des Gedankens, Paulus habe sich vor den Korinthern zu verteidigen.

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falteten Todesthemas in V. 10 geradezu zu einer kleinen Gerichtsszene ausarbeitet.449 Zwar hängt dies zunächst einmal generell damit zusammen, dass der Tod den Zeitpunkt markiert, an dem überhaupt erst abschließend über ein Leben geurteilt werden kann, d.h. es besteht eine sehr allgemeine, in der Natur der Sache liegende Affinität zwischen Todes- und End- bzw. Totengerichtsthema, wofür die Religionsgeschichte denn auch reiches Material aus unterschiedlichsten Kulturkreisen bietet. Auf dem Hintergrund der im II. Teil untersuchten Texte lässt sich indes der von Paulus namhaft gemachte Zusammenhang von Tod und Gericht noch schärfer konturieren und zum apologetischen Skopos des ganzen Abschnitts 2Kor 5,1ff in Beziehung setzen. Hierfür ist die Beobachtung maßgeblich, dass Paulus in V. 10 erstmals wieder nach V. 3 nicht mehr primär sein Todesverständnis zum Thema macht, sondern sein Todesgeschick. In V. 10 geht es nicht mehr ausschließlich um eine Explikation seiner Auffassung von Sterben und Tod, sondern wie schon in 5,1–3 auch um sein postmortales Ergehen. Hatte Paulus in 5,1–3 seine eschatologische Identität mit den Metaphern des himmlischen Hauses bzw. Gewandes beschrieben und den eschatologischen Leib als Gegenbild seiner irdisch-leiblichen Niedrigkeit aufgeboten, so entwirft er nun mittels der Szenerie des eschatologischen Gerichtsforums ein Gegenbild zu seinem gegenwärtigen Beurteiltwerden durch seine Konkurrenten bzw. seine Gemeinde. Die „Umgruppierung“ der irdischen zur himmlischen Gerichtsszene erreicht Paulus mit der simplen aber wirkungsvollen Ausdehnung der 1. Pers. Pl. auf die Adressaten: Nicht nur Paulus wird sich vor Christus verantworten müssen, sondern auch die Korinther, die ihn jetzt gering achten. „Alle“ (pavnte~) werden vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen und zwar „jeder“ (e{kasto~) für sich.450 Entscheidend wird dann sein, wie man selbst gehandelt, nicht wie man andere beurteilt hat. Wenn wir V. 10 nun in den weiteren Kontext antiker Wahrnehmungen des Todesproblems stellen, stoßen wir einmal mehr auf den platonischen Sokrates, der sich als von Menschen Verurteilter auf die höhere Instanz des Jenseitsgerichts beruft, das ihn gerecht sprechen und seine irdischen Richter ins Unrecht setzen wird. Diese Konstellation von diesseitig-menschlichem und höherrangigem jenseitig-göttlichem Urteil spielt sowohl in der Apologie wie im Phaidon eine Rolle.451 In der Apologie verleiht Sokrates seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihn der Tod nicht nur dem Zugriff der „sich so 449 Die umständliche Formulierung des Verses, dessen philologische und semantische Detailanalyse wir uns ersparen können (vgl. dazu Zeilinger, 2Kor 239–248), dürfte der szenischen Zerdehnung des gemeinten Sachverhalts dienen. 450 „Wir alle“ sind also Paulus und die korinthischen Christen. Ein universales Weltgericht ist hier schwerlich im Blick, so m.R. Mattern, Verständnis 155 und zuletzt Konradt, Gericht 481. 451 Vgl. S. 160, Anm. 235.

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nennenden Richter“ (oi} favskonte~ dikastai; ei\nai) entzieht, sondern dass er auch „dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, dass sie dort Recht sprechen“ (oi} wJ~ ajlhqw`~ dikastaiv, oi{per kai; levgontai ejkei` dikavzein), dazu auch große Gestalten der Vergangenheit, die – wie er selbst – „eines ungerechten Gerichtes wegen“ (dia; krivsin a[dikon) zu Tode gekommen sind (41a–b). Die in Apol. 41a erwähnten „Richter“ des Jenseits treten auch an einer Stelle im Unterweltmythos des Phaidon auf, dort nämlich, wo die Rolle der Opfer bei der möglichen Begnadigung der Täter im Jenseitsgericht beschrieben wird.452 Diejenigen, die sich bei Lebzeiten schwer verfehlt haben und in den Tartaros geworfen wurden, können durch ein Votum ihrer Opfer vorzeitig begnadigt werden. Verweigern die Opfer der bei Lebzeiten begangenen Verbrechen die Begnadigung der Täter, müssen diese weiterhin im Tartaros ausharren. Dies ist, so Platon, die „Strafe“ (divkh), die über sie „von den Richtern“ (uJpo; tw`n dikastw`n) verhängt wurde (114b). Der Rekurs auf das Motiv eines Jenseits- bzw. Totengerichts ergibt sich in der Apologie wie im Phaidon aus dem apologetischen Argumentationszusammenhang, in dem der platonische Sokrates das Todesproblem erörtert. Man mag gegen eine Deutung des Gerichtsmotivs in 2Kor 5,10 in Analogie zu den angeführten Platon-Stellen einwenden, dass dasselbe in der situativen Einkleidung der Platon-Dialoge auf der Hand liegt, da sich für Sokrates das Todesproblem unmittelbar aus der Perspektive des zum Tode Verurteilten stellt, nicht aber bei Paulus, der in 2Kor 5 gar nicht aktuell vom Tode bedroht ist, geschweige denn von der Todesstrafe. Weitere Vergleichstexte zeigen jedoch, dass die Vorstellung eines göttlichen Gerichts generell dort eine Rolle spielen kann, wo über Personen im Kontext ihres Todes geurteilt wird, und zwar keineswegs nur im Rückblick auf denselben,453 ja sogar unabhängig von konkreten „Todesfällen“. Die hellenistischjüdische Sapientia Salomonis bietet hierfür ein anschauliches Beispiel.454 Das Schicksal des „verachteten Gerechten“ wird in dieser Schrift, wie wir gesehen haben, auf die Deutung eines nach außen hin schmachvollen Lebensendes zugespitzt, und zwar offenbar ohne Bezug zu konkreten Einzelschicksalen. Der Gerechte erscheint vielmehr als Typus, dessen gesellschaftliche Rolle bestimmte soziale Deutungsmuster und Wertmaßstäbe zu erkennen gibt und damit wichtige Rückschlüsse auf die soziale Dimension antiker Wahrnehmungen des Todesproblems zulässt. Der Typus des Gerechten, der für seine Treue gegenüber dem Gesetz Gottes gesellschaftliche 452

S.o. S. 159. Die erzählte Situation des platonischen Dialogs ist selbst ein Beispiel dafür, wie ein Lebender sich auf die Instanz des Jenseitsgerichtes beruft, um sich als Lebender in einer apologetischen Kommunikationssituation zu rechtfertigen. 454 S.o. S. II.7. 453

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Desintegration und soziale Deklassierung in Kauf nimmt, wird von den Reichen und Mächtigen dafür verachtet, dass er sein Leben so elend beendet, wie er es zugebracht hat. Weisheitlichem Denken gilt das schwere Los des Gerechten dagegen als göttliche Läuterung und sein frühes Ende als Erweis göttlicher Wertschätzung.455 Unter Verwendung apokalyptischer Motive wird nun außerdem ein eschatologisches Gegenbild zur äußerlich wahrnehmbaren Unscheinbarkeit und Machtlosigkeit des Gerechten entworfen: Für die Gottlosen, die den Gerechten verachtet haben, wird eine „Abrechnung ihrer Sünden“ (sullogismo;~ aJmarthmavtwn aujtw`n) stattfinden und es „werden ihre Gesetzlosigkeiten ihnen entgegentreten und sie überführen“ (ejlevgxei aujtou;~ ejx ejnantiva~ ta; ajnomhvmata aujtw`n, 4,20). In dieser Gerichtssituation (tovte) erscheint auch „der Gerechte“ (oJ divkaio~), und er wird „in souveräner Freiheit seinen Bedrängern vor Augen treten“ (sthvsetai ejn parrhsivaæ pollh`æ [...] kata; provswpon tw`n qliyavntwn aujtovn, 5,1). Dann werden die Gottlosen ihren Irrtum erkennen, das nonkonforme „Leben“ (bivo~) des Gerechten für „Wahnsinn“ (maniva) gehalten zu haben, und sein „Ende“ (teleuthv) für „ehrlos“ (a[timon). Es ist die eschatologische Gerichtssituation, die die Gottlosen ihrer Untaten überführt und dem Gerechten an Ehre erstattet, was ihm bei Lebzeiten versagt geblieben ist. Im eschatologischen Gericht erscheinen bivo~ und teleuthv des Gerechten in einem ganz anderen Licht, als seine Verächter es einst darstellten. Die Gerichtsszene dient also dazu, das vom Lebensende des Gerechten her entworfene Negativbild in sein Gegenteil zu verkehren. Der Verurteilte und Verachtete ist nun der vor seinen Feinden und Verächtern Gerechtfertigte. Nun erst wird auch offenkundig, dass das Geschick der Gerechten nicht als Strafe Gottes aufgefasst werden kann. Zwar gelten sie „in der Sicht der Menschen“ (ejn o[yei ajnqrwvpwn) als von Gott gestraft (3,4a), doch ist dies eben der Irrtum, den das eschatologische Gericht aufklären wird. Was die Gerechten zu leiden hatten, diente in Wahrheit ihrer Läuterung. So haben sie die richterliche ejpiskophv Gottes nicht mehr zu fürchten; vielmehr werden sie dann „hervorleuchten“ (ajnalavmyousin) und sogar selbst „Nationen richten und über Völker herrschen“ (krinou`sin e[qnh kai; krathvsousin law`n, 3,8a). V. 10 kontrastiert die eschatologische Ehrenstellung der Gerechten mit dem Strafgeschick der Gottlosen (ajsebei`~). Diese „werden Strafe empfangen gemäß dem, was sie planten, sie, die den Gerechten missachteten und vom Herrn abfielen“ (kaqa; ejlogivsanto e{xousin ejpitimivan oiJ ajmelhvsante~ tou` dikaivou kai; tou` kurivou ajpostavnte~). Indem das strafwürdige logivzein sich in der Missachtung der Gerechten konkretisiert, 455 Letzterer Gedanke findet sich auch unter den Enkomientopoi der griechischen Grabrede; vgl. S. 64 zu Dio Chrysostomos, Or. 29.

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impliziert die Bestrafung der Gottlosen zugleich die Rechtfertigung der Gerechten: Das ihnen widerfahrene Unrecht wird „in letzter Instanz“ als solches festgestellt.456 Anders als bei Platon (Apologie, Phaidon) und in der Weisheit Salomos vollzieht Paulus in 2Kor 5,10 keine Scheidung zwischen „Guten“ und „Bösen“, sondern unterscheidet lediglich zwischen „gutem“ und „bösem“ Tun, ohne dieses auf bestimmte Personengruppen zu verteilen. Ihm kann an einer solchen Scheidung im kommunikativen Kontext des Briefes ja auch gar nicht gelegen sein, da er seine Adressaten für sich gewinnen und nicht sich mit ihnen überwerfen will. Die herangezogenen Vergleichtexte sind gleichwohl geeignet, die apologetische Wirkabsicht des Gerichtsmotivs in 2Kor 5,10 stärker zu konturieren. Der um Anerkennung durch seine Adressaten werbende Paulus ist nämlich der Figur des platonischen Sokrates und dem Typus des Gerechten in der Weisheit Salomos darin vergleichbar, dass 456 Wir werfen an dieser Stelle einen Seitenblick auf einen weiteren Text, in dem das Motiv eines jenseitigen Gerichts ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt, nämlich auf Senecas Apocolocynthosis (S.o. unter II.5.2). Diese Spottschrift auf den verstorbenen Kaiser Claudius ist das seltene aber sprechende Beispiel für einen paganen Text, in dem der Verfasser sich für die Beurteilung – und zwar die höchst negative Beurteilung – einer Person der breit ausgestalteten Szenerie eines Totengerichts bedient. Nachdem Seneca in einer an Pietätlosigkeit nicht zu überbietenden Weise den körperlichen Verfall des sterbenden Claudius beschrieben und dabei auch ekelhafte Details über den Kontrollverlust des Sterbenden über elementare Körperfunktionen nicht ausgespart hat, lässt er Claudius vor dem Gerichtsforum der Götter auftreten. Dort werden ihm unter Hohn und Spott seine zahllosen Verbrechen vorgehalten, die er bei Lebzeiten begangen hat, und schließlich wird ihm statt der von ihm beantragten Erhebung unter die Götter die Verbannung in die Unterwelt und schließlich die entwürdigende Rolle des Gerichtsbüttels im Forum der Götter zuteil. Von hier aus lassen sich Querverbindungen zu den im II. Teil untersuchten rhetorischen Texten ziehen. Die Verwendung des Gerichtsmotivs in Senecas Apocolocynthosis lässt sich nämlich mit den Vorgaben antiker Rhetoriklehrbücher in Einklang bringen, wonach bei Lob und Tadel eines Verstorbenen unter Umständen auch Ereignisse nach seinem Tod eine Rolle spielen. Die Anweisung der Herennius-Rhetorik, dass in der Rede auf einen Verstorbenen auch zu berücksichtigen ist, cuiusmodi res mortem eius sit consecuta, „welches Ereignis auf seinen Tod gefolgt sei“ (3,14), findet sich analog auch bei Cicero (Part. 3,82). Der Tod eines Verstorbenen soll u.a. dann zur Sprache kommen, si modo quid animum advertendum [...] in iis rebus, quae post mortem erunt consecutae, „wenn ja irgend etwas bemerkenswert ist [...] an den Vorgängen, die nach dem Tod eintraten.“ Ebenso zählt PsHermogenes zu den Enkomientopoi außer der „Weise des Todes“ (trovpo~ th`~ teleuth`~) auch „die Ereignisse nach dem Tod“ (ta; meta; th;n teleuthvn), besonders dann, wenn numinose oder wunderbare Vorgänge auf göttliches Wirken schließen lassen. Ähnliches umfasst schon für Quintilian die im Enkomion zu thematisierende „Zeit, die dem Lebensende folgt“ (tempus, quod finem hominis insequitur; Inst. 3,7,17), nicht nur Ehrungen, die dem Verstorbenen von menschlicher Seite widerfahren, sondern auch divini honores et decreta, „göttliche Ehrungen und Beschlüsse“, und er fügt gleich anschließend hinzu, dass diese und andere Enkomientopoi ins Negative gewendet auch für den Tadel verwendet werden können (3,7,19). Genau dies tut Seneca, wenn er dem ihm verhaßten Claudius nun durchaus keine „göttliche Ehrungen“ zuteil werden lässt, sondern Spott und Verachtung aus Göttermund und die Aburteilung von höchster Stelle. Hier wird der Enkomientopos des tempus, quod finem hominis insequitur (Quintilian) in sein Gegenteil verkehrt, d.h. auf den rhetorischen Kasus des Tadels (hier freilich in satirischer Überzeichnung und Verfremdung) angewendet.

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er sich für die Beurteilung seiner Person auf die allem menschlichen Urteilen überlegene Instanz eines postmortal-jenseitigen Gerichts beruft. Dass das fau`lon pra`ttein analog zu SapSal. 3,10 auch und gerade in der Missachtung des Paulus und seiner apostolischen Autorität bestehen könnte, wird nicht explizit ausgesprochen, liegt aber auf der Linie des Arguments: Jeder Einzelne wird sich im Gericht für sein Tun verantworten müssen, und hierzu zählt gegebenenfalls auch die Ablehnung des von Christus berufenen Apostels.457

3. Zusammenfassung und Ertrag Den Impuls zu dieser Studie gab eine einfache Frage: Wie lässt sich der in der Forschung bis heute umrätselte Text 2Kor 5,1–10 als Teil der Apologie des paulinischen Apostolats 2Kor 2,14–7,4 verstehen? Es zeigte sich, dass die bisherigen Auslegungen eine Antwort hierauf schuldig bleiben und 2Kor 5,1–10 in aller Regel als Exkurs zur paulinischen Eschatologie (so der traditionelle Auslegungstyp) oder zur anthropologischen Unverzichtbarkeit des Leibes (so der polemische Auslegungstyp) interpretieren. Hierbei bleibt jedoch nicht nur die Frage nach dem Kontextbezug unbeantwortet, es ergeben sich nach den Vorgaben der bisherigen Auslegungen auch textintern gravierende sachliche Spannungen und Brüche. Der traditionelle Auslegungstyp vermag keine schlüssige Rekonstruktion des von Paulus angeblich diskutierten eschatologischen Problems vorzulegen, und der polemische Auslegungstyp scheitert an der dualisierenden Ausdrucksweise des ganzen Abschnitts, die sich allenfalls bruchstückhaft damit erklären lässt, dass Paulus in gegnerischer Sprache wider die gegnerische Sache argumentiert. Der in der vorliegenden Studie unternommene Versuch einer Neuauslegung führte unvermutet ziemlich weit weg von den forschungsgeschichtlich etablierten Interpretationsansätzen – und mitten hinein in ein eminent wichtiges Feld antiker Geistes- und Kulturgeschichte. Maßgeblich waren hierbei v.a. drei Beobachtungen: (a) Paulus spricht mit der Metapher vom „Zer457 Übereinstimmend auch Konradt, Gericht 484: Mit der Gerichtsaussage in V. 10 unterstreicht Paulus „nicht nur [...] seine von der Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit dem Herrn angetriebene Lauterkeit und unermüdliche Einsatzbereitschaft, sondern mit der offenen Einleitung tou;~ ga;r pavnta~ hJma`~ fanerwqh`nai dei` e[mprosqen tou` bhvmato~ tou` Cristou` sind zugleich die Fremdmissionare wie auch die Adressaten im Blick, d.h. das kommende Gericht wird zugleich als Horizont für die Entscheidung der Korinther zwischen Paulus und den Fremdmissionaren aufgebaut. Lassen sie sich überzeugen, dass Paulus ein von Gott beauftragter, vollgültiger Apostel ist, stimmen sie, so V. 11, mit der Wahrheit, wie sie vor Gott selbst natürlich offenbar ist, überein. Für V. 10 suggeriert dies: Wenn sie von Christus im Endgericht ein positives Urteil erhalten wollen, wenn ihr Tun vor seinem Richterstuhl als ‚gut‘ erscheinen soll, müssen sie sich für den Apostel entscheiden und sich von den Fremdmissionaren trennen.“

Zusammenfassung und Ertrag

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störtwerden des irdischen Zelthauses“ das Thema des – seines! – physischen Todes an, ohne dass dieser ihm erkennbar unmittelbar bevorstünde. (b) Er äußert sich nachfolgend mehr zu seiner individuellen Haltung zu Sterben und Tod als über die eschatologischen Rahmenbedingungen oder anthropologischen Realien des Todesproblems. (c) 2Kor 5,1–10 liegt auf derselben gedanklichen Linie wie der voranstehende Kontext seit 4,7, wo es um die Niedrigkeits- und Leidensgestalt des irdischen Leibes geht. Paulus reflektiert das Todesgeschick des Leibes (V. 1) als Extremfall seiner Bedrängnis, die er durch sein leibliches Dasein erfährt. Mithin erweisen sich in diesem Text Todesgeschick und Todesverständnis als die bestimmenden Elemente, wobei letzteres eindeutig Vorrang hat. 2Kor 5,1–10 lässt sich entlang der Verbal-Aussagen des Textes als eine vom Todesproblem her entworfene Charakterskizze lesen, in die Paulus Aussagen über sein eschatologisches Geschick als Gegenbild zur Niedrigkeitsgestalt seines irdischen Leibes einflicht. Der apologetische Duktus des so verstandenen Textes wurde umso deutlicher, je weiter wir im II. Teil der Studie in die Materie antiker ars moriendi eindrangen. Antike Wahrnehmungen des Todesproblems, denen wir uns auf einer möglichst breiten und umfassenden Quellenbasis angenähert haben, lassen nämlich eine überraschende Querverbindung zu antiker Popularethik und Charakterkunde erkennen: Im Todesgeschick und im Todesverständnis eines Menschen zeigen sich nach antikem Verständnis wesentliche Charakterzüge, positive wie negative. Insofern unterliegen Sterben und Tod in der Antike einer ausgeprägten sozialen Kontrolle. Dies äußert sich elementar darin, dass das Todesproblem in der griechischen wie römischen Rhetorik nach den Regeln von Lob und Tadel behandelt wird. Die epideiktische Rede hat das Todesthema zum Gegenstand, sofern sie würdiges Sterben lobt und unwürdiges tadelt. Todesbereitschaft und Todesmut werden als herausragende Charaktereigenschaften gepriesen, unbewältigte Todesfurcht als schweres charakterliches Manko gerügt. Die Deutungsmuster der Rhetorik kommen auch in antiken Biographien und Geschichtswerken zur Anwendung, aus denen Exemplasammlungen ihr Material für den rhetorischen Gebrauch extrahierten. Der auf breiter Front geführte philosophische Diskurs zum Todesproblem bewegt sich überwiegend auf dem Gebiet populärer Ethik, z.T. unter programmatischer Unterordnung oder gar Vernachlässigung der metaphysischen Probleme. Die Bewältigung des Todesproblems ist der antiken Philosophie mit der Figur des sterbenden Sokrates als bleibende Aufgabe gestellt und wird mit Epikur, vollends aber seit der späteren Stoa (Seneca) zum beherrschenden Problem philosophischer Ethik. Die in der Rhetorik geltenden Beurteilungskriterien eines guten oder schlechten Charakters gelten auch im philosophischen Diskurs, ja, sie werden hier noch erheblich ausdifferenziert und

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mit viel psychologischem Scharfblick verfeinert. Es ist die angemessene Balance von Lebensbejahung und Todesbereitschaft, die den vir bonus, den ajnh;r ajgaqov~, auszeichnet. Auf diesem Hintergrund erschließt sich ein plausibler Interpretationszusammenhang für den Text 2Kor 5,1–10 als integrierenden Bestandteil der Apologie 2Kor 2,14–7,4. Wenn es zutrifft, dass sich nach antikem Verständnis eine respektable Persönlichkeit wesentlich durch eine verantwortete und reflektierte Haltung zu Sterben und Tod auszeichnet, dann lässt sich unschwer erklären, warum Paulus seine Reflexionen über die Leidensgestalt seines irdischen Leibes (4,7ff) in eine Betrachtung zu seinem Todesgeschick münden lässt und diese mit einer ausführlichen Darlegung seines Todesverständnisses verknüpft (5,1ff): Er konnte seine Autorität als Apostel der korinthischen Gemeinde, die ihm seine Konkurrenten nicht zuletzt durch das Mittel gezielter persönlicher Herabsetzung streitig zu machen versuchten, kaum wirksamer stärken, als durch ein vom Todesproblem her entworfenes Charakterportrait, in welchem er seine positive Todesbereitschaft darlegt, eine Todesbereitschaft, die gleichwohl seine Lebensbejahung trotz aller körperlicher Leiden nicht schmälert und im Bewusstsein apostolischer Pflichterfüllung und künftigen Gerichtetwerdens ihre Determinante hat. Die Ausführungen zu seinem Todesverständnis verbindet Paulus mit Aussagen über sein Todesgeschick, um dem irdischen Leib den himmlischen als Kontrastbild gegenüberzustellen. Rhetorisch gesprochen äußert sich Paulus damit zum tempus, quod finem hominis insequitur (Quintilian) als einer für Lob und Tadel relevanten Größe. Die dovxa-Gestalt des himmlischen Leibes, den er nach dem Tode zu erhalten beansprucht, ist geeignet, das Bild des Lebenden positiv zu akzentuieren: Die sichtbare Gestalt des irdischen Daseins wird „durchsichtig“ für die letztgültige Wirklichkeit seines eschatologischen Ehrenstatus. Wir fassen abschließend die Hauptthesen unserer Auslegung von 2Kor 5,1– 10 in einer kurzen Auslegungsskizze zusammen. In V. 1 thematisiert Paulus die Möglichkeit seinen physischen Todes als Extremfall seines leidvollen und verachteten leiblichen Daseins. Damit ist einerseits das Todesthema angeschnitten, das ihm nachfolgend Gelegenheit gibt, sein eigenes Todesverständnis darzulegen, andererseits ist es ihm auf diese Weise möglich, ein eschatologisches Kontrastbild zur Niedrigkeitsgestalt seines irdischen Leibes zu entwerfen: Wenn der irdische Leib im Tode der Zerstörung anheim fällt, ist ihm bei Gott ein eschatologischer Leib gewiss, eine ewige Behausung, ein himmlisches Gewand, das ihn dereinst in ewiger dovxa (4,17) kleiden wird. Letzterer Gedanke kommt in V. 2 zum Ausdruck, und zwar dadurch, dass Paulus von der Bau- zur Gewandmetaphorik wechselt. Ist ihm das Bild

Zusammenfassung und Ertrag

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vom „Haus“ gewissermaßen als eschatologisches Pendant zur hellenistisch konventionalisierten Zelt-Metapher als Ausdruck für den Leib vorgegeben, so wechselt er in V. 2 zum Bild des „Gewandes“, um den Aspekt der Aussenwirkung, des Wahrgenommenwerdens durch andere, in den Gedankengang einzubringen. Für das viel umrätselte Doppelkompositum ejpenduvsasqai haben wir eine so ungewöhnliche wie naheliegende Interpretation vorgeschlagen: ejpenduvomai hat hier die Bedeutung „etwas als Obergewand tragen“. Das Obergewand ist aber im kulturellen Kontext der Antike dasjenige, woran eine Person in ihrer sozialen Rolle erkennbar ist. Das ejpenduvsasqai des Himmelsleibes besagt also nicht, dass der irdische Leib beim Erhalt des himmlischen als noch vorhanden gedacht wird, weder bei der Parusie oder im Augenblick des Todes (so der traditionelle Auslegungstyp), noch als anthropologische Notwendigkeit (so der polemische Auslegungstyp). Gemeint ist vielmehr: Paulus wird den Himmelsleib dereinst wie ein Obergewand tragen, das ihn weitaus besser und ganz anders kleidet, als es jetzt der irdische Leib tut. Nach diesem neuen Kleid „sehnt“ sich Paulus, und dieses Sehnen (ejpipoqei`n) äußert sich in seinem „Seufzen“ bzw. „Stöhnen“ (stenavzein). Hatte Paulus in V. 1 den kognitiven Aspekt seines Todesverständnisses angesprochen, so folgen mit dem stenavzein und dem ejpipoqei`n der affektive und intentionale: Paulus erwartet den Tod in dem sicheren Wissen, dass ein Himmelsleib für ihn bereit liegt, und in diesem Wissen gründet sein sehnsuchtsvolles Seufzen. Paulus reklamiert damit das phänomenal als Ausdruck von Leid und Schmerz wahrnehmbare „Seufzen“ als Ausdruck seiner Heilssehnsucht. Die Funktion des Himmelsleibes als eschatologisches „Obergewand“ wird in V. 3 zusätzlich akzentuiert: Paulus wird, wenn er es dereinst trägt, „nicht nackt angetroffen werden“. Das Satzprädikat euJreqhsovmeqa ist ein weiteres Indiz dafür, dass es Paulus bei der Gewandmetaphorik um eine Art Außenwirkung geht, näherhin, wie es der Wortlaut in 4,14b nahe legt, um die eschatologische Wiederbegegnung von Apostel und Gemeinde. Gott wird den Apostel seiner Gemeinde im neuen Kleid des Himmelsleibes „präsentieren“, und seine Gestalt wird nicht mehr von qli`yi~, sondern von ewiger dovxa (4,17) bestimmt sein. Die Rede von der „Nacktheit“, der Paulus dank des Himmelsleibes zu entgehen gewiss ist, dürfte mit einem leiblosen Interim zwischen Tod und Parusie ebenso wenig zu tun haben wie mit der Abwehr eines anthropologischen Dualismus, der Erlösung als Befreiung der Seele vom Leib denkt. Vermittelt über die Gewandmetapher ist die von Paulus angesprochene „Nacktheit“ vielmehr soziokulturell zu verstehen als Statuslosigkeit infolge des als Statusverlust verstandenen Todes. Die negative Formulierung ouj gumnoiv anstelle einer positiven Statusaussage kann rhetorisch als Litotes verstanden werden. Die Litotes hat hier die Funktion

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einer Bescheidenheitsfigur, die den beanspruchten eschatologischen Statusgewinn durch die Negation des Gegenteils aussagt. Ab V. 4 ist der Text als weitere Explikation des paulinischen Todesverständnisses zu lesen. Die „Realien“ seines Todesgeschicks – eschatologischer Statusgewinn durch den Erhalt des Himmelsleibes – sind mit V. 3 abgehandelt. Erst V. 10 wird mit der Gerichtsaussage hierzu eine weitere Aussage machen. In V. 4 verdeutlicht Paulus die positive Ausrichtung seiner Todesbereitschaft auf den von Gott verheißenen eschatologischen Heilsgewinn: Sein sehnsuchtsvolles „Seufzen“ vollzieht sich qua „Sein im Zelt (=Leib)“ als ein von Leid und Schmerz „beschwertes“, und doch gilt seine Sehnsucht nicht negativ dem Ansinnen, diesen beschwerlichen Leib durch den Tod abzulegen (ejkduvsasqai), sondern dem Verlangen nach dem neuen Leib (ejpenduvsasqai). Sein „Seufzen“, will Paulus klarstellen, verdankt sich nicht einer etwaigen Todes-, sondern einer ausgeprägten Heilssehnsucht. Der betonte Rekurs auf das beschwerliche leibliche Dasein macht das Respektable dieser Haltung kenntlich: Wer sich so plagen muss, hätte allen Grund, nach dem ejkduvsasqai zu verlangen, aber gerade dies ist bei Paulus nicht der Fall. Seine Todesbereitschaft definiert sich nicht dadurch, dass die Gegenwart so elend, sondern dass die Zukunft so glanzvoll ist. Der Finalsatz V. 4c macht diese positive Ausrichtung seines qevlein nochmals deutlich: Er wartet nicht darauf, dass der Tod sein leidvolles Leben beendet, sondern umgekehrt, dass die eschatologische zwhv die Sterblichkeit seines Daseins ganz und gar beseitigt. Diese Deutung hat gegenüber dem in der deutschsprachigen Exegese bis heute vorherrschenden polemisch-dogmatischen Auslegungstyp den erheblichen Vorteil, dass sie V. 4 entlang seiner Oberflächenstruktur interpretiert als Explikation des paulinischen qevlein und nicht mit der Hypothese polemischer Implikationen operieren muss, für die es keine eindeutigen Textsignale gibt. Erst recht kann es Paulus in V. 4 nicht darum gehen, seine subjektive Furcht vor dem Sterben bzw. seine Unsicherheit darüber zum Ausdruck zu bringen, ob er die Parusie noch erleben wird oder nicht. Diese hauptsächlich im angelsächsischen Raum noch immer verbreitete Deutung würde die ganze Argumentationsstruktur des Textes empfindlich stören und im Kontext antiker ars moriendi ein äußerst schlechtes Licht auf die paulinische Position werfen. In V. 5 schreibt Paulus sein positives Todesverständnis einer Initiative Gottes zu: Die Gabe des Pneuma als Vorausgabe, als „Vorgeschmack“ der künftigen Erlösung richtet sein auf den Tod bezogenes qevlein (hierauf referiert die Phrase eij~ aujto; tou`to) ungeachtet seiner körperlichen Leiden positiv auf das eschatologische Heil aus und nicht etwa negativ auf eine Todessehnsucht aus Lebensverdruss. Diese Interpretation kann sich gegen den fast vollständigen Konsens der Forschung darauf berufen, dass katergavzomai mit personalem Objekt stets auf den Willen oder das Verhalten der

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betreffenden Person zielt, nicht selten mit einer persuasiven Nuance. Ein objektives „Bereiten“ im Sinne einer Prädisposition zum Heil o.ä. entbehrt jeder philologischen Grundlage. Paulus will vielmehr sagen: Dass er ein derart positives Todesverständnis hat, verdankt er Gott als dem Geber des Pneuma. Die paulinische Charakterskizze erhält mit dem Hinweis auf das qarrei`n in V. 6 einen weiteren wichtigen Akzent. Paulus attestiert sich im Blick auf sein Sterben einen „guten Mut“ und stellt seinem Charakter damit ein denkbar gutes Zeugnis aus. Seit Platon die Figur des zum Tode verurteilten Sokrates als Inbegriff idealer Todesbereitschaft in die antike Geistesgeschichte eingeführt hat, gilt das qarrei`n angesichts des Todes als unverkennbares Merkmal einer respektablen Persönlichkeit. Dem Ideal antiker ars moriendi entspricht auch das Bewusstsein einer existentiellen Distanz vom Leib als notwendiger Bedingung gelingenden Sterbens. Es gibt keinen Grund, in V. 6b (kai; eijdovte~ o{ti ejndhmou`nte~ ktl) eine hypothetische Konzession an den gegnerischern Dualismus anzunehmen, die Paulus sich eigentlich gar nicht zu eigen machen will. Vielmehr rezipiert Paulus den hellenistischen Dualismus insoweit, als die Artikulation eines vorbildlichen Todesverständnisses dies fordert. Der parenthetische V. 7 kann als sachimmanente Korrektur wie auch als apologetische Zuspitzung von V. 6 aufgefasst werden, ohne dass beide Deutungen einander ausschließen. Als Korrektur besagt der Vers, dass durch die pivsti~, weil sie einen zumindest vorläufigen Modus der Gemeinschaft mit dem kuvrio~ darstellt, gewährleistet ist, dass das mit dem Mangel der Ferne vom kuvrio~ behaftete ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati gleichwohl kein heilsleeres Dasein bedeutet, denn das peripatei`n dia; pivstew~ vollzieht sich ja fraglos unter den Bedingungen des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati. Diese von einer Reihe von Auslegern vertretene Deutung lässt sich in Beziehung setzen zu einem Grundgedanken antiker ars moriendi, dass nämlich ideale Todesbereitschaft nie in absolute Lebensverachtung umschlägt, weil sie stets Gründe für das Ausharren im Leben namhaft zu machen weiß. Als apologetische Zuspitzung akzentuiert V. 7 in augenfälliger Sachverwandtschaft mit 4,18b die in V. 6 ausgesagte Distanzierung vom sw`ma. Die pivsti~ ist dann die Erkenntnisgrundlage, die allererst die Einsicht in den qua Ferne vom kuvrio~ gegebenen defizitären Charakter des ejndhmei`n ejn tw`æ swvmati eröffnet. Das peripatei`n dia; ei[dou~ ist dann nicht das ejn tw`æ swvmati Unmögliche, sondern das Unangemessene, näherhin eine unangemessene Orientierung an der sichtbaren Gestalt des sw`ma, die Paulus für seine Person ablehnt, d.h. er lehnt es ab, nach der sichtbaren Gestalt seiner leiblichen Erscheinung beurteilt zu werden. In V. 8 nimmt Paulus das partizipiale qarrou`nte~ aus V. 6 wieder auf, verwendet es nun in der Stellung des Satzprädikats des der Partizipialphrase

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V. 6 übergeordneten Hauptsatzes und verursacht damit ein Anakoluth. Dies indiziert schwerlich sachliche Schwierigkeiten des Paulus mit der nur widerwillig verwendeten dualistischen Terminologie seiner Gegner. Vielmehr dürfte hier ein Stilmittel vorliegen, um das paulinische qarrei`n effektvoll in den Vordergrund zu stellen. Dass hier wie schon in V. 6 vom qarrei`n des Apostels angesichts des Todes die Rede ist und nicht etwa von einer unspezifischen Daseinshaltung, zeigt die Fortsetzung des Verses mit kai; eujdokou`men ma`llon ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ ktl. Spätestens hier gerät der polemische Auslegungstyp in größte Schwierigkeiten, weil er nicht erklären kann, warum Paulus hier auf einmal so ungeschützt von einem Verlassen des sw`ma spricht, ohne in derselben terminologischen Eindeutigkeit die Unverzichtbarkeit himmlischer Leiblichkeit zu konstatieren. Die syntaktische Funktion des ma`llon besteht in der Steigerung von qarrou`men durch das Folgende: Paulus ist angesichts des Todes guten Mutes, ja, er ist um der vollen Gemeinschaft mit dem kuvrio~ willen „sogar“ (ma`llon) entschlossen den Leib zu verlassen, d.h. zu sterben. Damit verleiht Paulus seiner Todesbereitschaft das größtmögliche Gewicht. Die Deutung des ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ auf den eigentlichen Vorgang des Sterbens ist indes nicht exklusiv zu fassen. Es gehört zu den Grundeinsichten antiker Sterbe-Ethik, dass die Distanzierung vom Leib schon bei Lebzeiten eingeübt werden muss, wenn das Sterben dereinst würdig vonstatten gehen soll. Mit dem ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ kann durchaus beides im Blick sein: Entschlossene Todesbereitschaft und eine existentielle Distanz vom sw`ma. Mit V. 9 gibt Paulus seiner Argumentation eine auf den ersten Blick erstaunliche Wendung: Die Frage nach dem ejndhmei`n und ejkdhmei`n wird nun auf einmal vergleichgültigt im Blick auf das eigentlich entscheidende Wohlgefallen des kuvrio~. Der polemische Auslegungstyp hat V. 9 dahingehend missverstanden, dass Paulus hier vom Gedankengang seit V. 6 ganz oder in Teilen abrückt, weil er entweder mit gegnerischer Terminologie nicht zurechtkommt oder aber gegnerische Anschauungen als verfehlt entlarven will. Auf dem Hintergrund antiker ars moriendi lässt sich V. 9 dagegen als stringente Fortsetzung von V. 8 verstehen: Ideales Todesverständnis ist als Merkmal einer respektablen Lebenshaltung nur dann glaubwürdig, wenn Todesbereitschaft und Lebensbejahung einander die Waage halten. Zumal die spätere Stoa Senecas und Epiktets achtet sorgsam auf ein ausgeglichenes „Kräfteverhältnis“ zwischen beidem, weil sich philosophische Todesbereitschaft sonst dem (im antiken Diskurs vielfach explizit erhobenen) Vorwurf aussetzt, nichts weiter als leeres Pathos unreifer und unernster Charaktere zu sein. Nachdem Paulus in V. 8 seine Entschlossenheit zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~ betont hat, ist, wie einschlägige Vergleichstexte gezeigt haben, eine retardierende Fortführung des Gedankens geradezu obligatorisch. Was für Seneca und Epiktet die Verantwortung gegenüber

Zusammenfassung und Ertrag

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dem Schicksal oder den Göttern ist, ist für Paulus die Erfüllung seiner apostolischen Pflicht, der er die Frage nach Leben und Tod unterordnet. Seine Todesbereitschaft steht zu keiner Zeit in der Gefahr, sich als lebensverneinende Todessehnsucht absolut zu setzen, weil er sich im Leben wie im Sterben (ei[te ejndhmou`nte~ ei[te ejkdhmou`nte~) dem kuvrio~ verantwortlich weiß. Weil Paulus Leben und Tod dem Willen des kuvrio~ als gleichrangige (freilich nicht, so die polemische Auslegung, gleichgültige, in der Sache letztlich gegenstandslose!) Optionen unterordnet, kann seine entschlossene Todesbereitschaft nicht überhand nehmen und zur alleinigen Handlungsorientierung werden. Mit V. 10 äußert sich Paulus erstmals seit V. 3 wieder zu seinem Todesgeschick: Er wird sich nach dem Tod wie alle anderen Christen auch vor Christus als seinem Richter für sein Tun zu verantworten haben. Auch hier ist ein grundlegend wichtiger Gedanke antiker ars moriendi angesprochen, dass sich nämlich ideale Todesbereitschaft nicht zu moralisch-ethischer Indifferenz gegenüber dem eigenen Handeln bei Lebzeiten verleiten lässt. Paulinisch gesprochen verlangt gerade die Entschlossenheit zum ejkdhmh`sai ejk tou` swvmato~, weil sie nämlich auf Christus als den Richter hin orientiert, ein besonderes Verantwortungsbewusstsein für das Tun dia; tou` swvmato~. Insofern lässt sich V. 10 auch noch als weitere Explikation des paulinischen Todesverständnisses lesen: Er tut seinen apostolischen Dienst im Bewusstsein küftigen Gerichtetwerdens. So koinzidieren Todesbereitschaft und ethische Integrität. Nicht minder wichtig ist ein zweiter Gedanke: Mit dem Hinweis auf das Gericht Christi macht Paulus eine Instanz namhaft, die allem menschlichen Richten übergeordnet ist. Schon der platonische Sokrates relativiert das von Menschen über ihn gefällte Urteil unter Berufung auf „bessere Richter“ im Jenseits. Vor diesen müssen sich die athenischen Richter, die ihn schuldig gesprochen haben, dereinst selbst verantworten. Wenn Paulus seine Adressaten in den Kreis derer, die vor dem Richterstuhl Christi werden erscheinen müssen, ausdrücklich einbezieht, werden die Rollen ähnlich verteilt: Diejenigen, die Paulus jetzt beurteilen, werden für ihr Tun Rechenschaft geben müssen. Die Verquickung von Todes- und Gerichtsthema dürfte also als eschatologische Extrapolation der apologetischen Kommunikationssituation unseres Textes zu verstehen sein: Paulus beruft sich auf das Gericht als auf diejenige Instanz, die alle menschlichen (Fehl-)Urteile zurechtrückt. Die vorgelegte Neuinterpretation von 2Kor 5,1–10 nötigt zum Abschied von liebgewordenen Auslegungstraditionen, sei es, dass man von diesem Text aus einem existentiellen Erkenntnisinteresse heraus allgemeingültige oder doch

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Antike ars moriendi in 2Kor 5,1–10

wenigstens verallgemeinerbare Auskünfte über Einzelheiten des Geschicks der christlichen Seele post mortem erwartete,458 sei es, dass man ihn als Kronzeugen für eine Annäherung des Paulus an eine hellenistische, d.h. aber: aufgeklärtem Denken verwandtere Eschatologie las (Eingehen der Seele in das jenseitige Heil im Augenblick des Todes), oder dass man darin umgekehrt paulinische Polemik gegen den korinthischen Dualismus fand. Eine Lektüre des Textes als Teil der individuell auf die Person des Apostels zugeschnittenen Apologie 2Kor 2,14–7,4 führt uns statt dessen auf das weite Feld antiker ars moriendi. Die hellenistisch-römische Antike verstand die Bewältigung des Todesproblems als Lebensaufgabe und als Charakterschule sondergleichen. Wir haben gesehen, dass Paulus sich hierin ausgesprochen vorteilhaft zu positionieren weiß. Der Apostel wird damit als antike Persönlichkeit kenntlich. Sein Denken erschließt sich anhand eines so zentralen wie umrätselten Textes der korinthischen Korrespondenz in seiner tiefen Verwurzelung im soziokulturellen Kontext der hellenistisch-römischen Antike. Die im II. Teil dieser Studie entwickelte Perspektive auf antike Wahrnehmungen des Todesproblems dürfte darüber hinaus auch auf zahlreiche andere paulinische und neutestamentliche Texte gewinnbringend anwendbar sein. Auf dem Hintergrund der sokratischen melevth qanavtou fällt auf die von Paulus reichlich verwendete Todesmetaphorik als Beschreibungskategorie christlicher Ethik ein ganz neues Licht.459 Im Blick auf die Passionserzählungen der Evangelien könnte die in biographischen Sterbeszenen maßgebliche Rhetorik von Lob und Tadel von erheblichem Interesse sein: Wird die Passion Jesu so erzählt, dass Jesus nach antiker Auffassung würdig stirbt?460 Die Ergebnisse des II. Teils betreffen aber auch die neutestamentliche Christologie, angefangen vom möglicherweise sehr frühen Kontrastschema,461 das die Auferweckung Jesu als göttlichen Widerruf der Verurteilung Jesu in Anschlag bringt,462 bis hin zur hohen Christologie des Philipperhymnus, der den Tod Jesu als letzte Konsequenz nicht nur seines Gehorsams (Phil 2,8), sondern auch einer freien Tat des Verzichts auf göttliche Hoheit darstellt (2,6f).

458

Vgl. v.a. das in Teil I, Anm. 14 zitierte Votum von Cassidy, Attitude. Erste wichtige Überlegungen hierzu hat Aune, Ethics angestellt. 460 Vgl. etwa Pilch, Death (zu Mk); Frickenschmidt, Evangelium passim; Wördemann, Charakterbild 259–285 (zu Mk). 461 Vgl. etwa Acta 4,10: [ÆIhsou`~ Cristov~], o}n uJmei`~ ejstaurwvsate, o}n oJ qeo;~ h[geiren ejk nekrw`n. 462 Zur Sache vgl. Schenke, Kontrastformel. Rese (Aussagen) hält das Kontrastschema freilich für lukanisch. 459

Abkürzungen

Verzeichnis der abgekürzt angeführten Titel deuterokanonischer, frühchristlicher, frühjüdischer und paganer Quellentexte 1Clem. 1Makk. 1QH 4Makk. adHer. adMen. Aem. Alex. Alk. Alkib. All. Ann. Ant. Anth. Antiq. ApkSedr. Apoc. Apol. Archid. Ars äthHen. Aug. Ax. Barn. bBer. Bell. Bibl. bKet. bMen. Brev. bSanh. CA Cor. CorpHerm. Deipn. DMort. Det. Diss. Div. Ep. Epist. EpMor. EthEud.

Clemens von Rom, der Clemens-Brief 1. Makkabäerbuch Qumran: Hymnenrolle 4. Makkabäerbuch Rhetorica ad Herennium Epikur, Ad Menoikeum Plutarch, Aemilius Paulus Plutarch, Alexander Euripides, Aklestis Platon, Alkibiades Philo von Alexandrien, Legum allegoriae Tacitus, Annalen Flavius Josephus, Antiquitates Vettius Valens, Anthologium Dionysios von Halikarnass, Antiquitates Romanae Apokalypse des Sedrach Seneca, Apocolocynthosis Apologie Isokrates, Archidamos PsDionysios, Ars rhetorica äthiopisches Henochbuch Sueton, Augustus PsPlaton, Axiochos Barnabasbrief Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot Flavius Josephus, Bellum Diodor, Bibliotheca Babylonischer Talmud, Traktat Ketubbot Babylonischer Talmud, Traktat Menachot Seneca, De brevitate vitae Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin Flavius Josephus, Contra Apionem Demosthenes, De corona Corpus Hermeticum Athenaios, Deipnosophistae Lukian, Totengespräche Philo von Alexandrien, Quod deterius potiori insidiari soleat Epiktet, Dissertationes Cicero, De divinatione Plinius, Epistulae Platon, Epistulae Seneca, Epistulae Morales Aristoteles, Eudemische Ethik

380 EthNic. Euthyd. Fab. Fact. Fin. FrgmMor. Fug. Geogr. Gig. Gorg. Her. Herm. Hist. HistEccl. HistNat. IgnTrall. Immut. Inst. Inv. JosAs. Krat. MagnMor. Marc. Med. Mem. Metam. Migr. Mithr. Mort. Mut. Nat. Noct. Nom. Or. Orat. Orator Part. Pelop. Peregr. Phaid. Phaidr. Phileb. Pol. PRE Probl. Prog. Prov. PsSal. Publ. QGen. QohR. ResMort. Rhet. RhetAlex. Sacr. SapSal.

Abkürzungen Aristoteles, Nikomachische Ethik Platon, Euthydemos Aesop, Fabulae Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia Cicero, De finibus Chrysipp, Fragmenta moralia Philo von Alexandrien, De fuga et inventione Strabo, Geographica Philo von Alexandrien, De gigantibus Platon, Gorgias Philo von Alexandrien, Quis rerum divinarum heres Hirt des Hermas Historia(e) Eusebius von Cäsarea, Historia ecclesiastica Plinius, Historia naturalis Ignatius von Antiochien, Brief an die Trallianer Philo von Alexandrien, Quod deus sit immutabilis Quintilian, Institutio oratoria Cicero, De inventione Joseph und Aseneth Platon, Kratylos Aristoteles, Magna moralia Seneca, Ad Marciam Marc Aurel, Meditationes Xenophon, Memorabilia Ovid, Metamorphosen Philo von Alexandrien, De migratione Abrahami Appian, Historia Romana, Mithridates Lukian, De morte Peregrini Philo von Alexandrien, De mutatione nominum Lukrez, De rerum natura Gellius, Noctes Atticae Platon, Nomoi Oratio Cicero, De oratore Cicero, Orator Cicero, Partitiones oratoriae Plutarch, Pelopidas Lukian, De morte Peregini Platon, Phaidon Platon, Phaidros Platon, Philebos Aristoteles, Politica Pirqe deRabbi Eli‘eser Aristoteles, Problemata Progymnasmata Seneca, De providentia Psalmen Salomos Plutarch, Publicola Philo von Alexandrien, Quaestiones in Genesin Qohelet Rabba Johannes Chrysostomus, De resurrectione mortuorum Aristoteles, Rhetorik Rhetorica ad Alexandrum Philo von Alexandrien, De sacrificiis Abelis et Caini Sapientia Salomonis

Abkürzungen Sen. Sir. Somn. Spec. Strom. syrBar. Teleph. TestAbr. TestAss. TestBenj. Tranq. Tusc. Vesp. Vir. Virt. Vit. VitHom. VitPar. VitPhil. yRHSh

Cicero, De senectute Jesus Sirach Philo von Alexandrien, De somniis Philo von Alexandrien, De specialibus legibus Clemens von Alexandrien, Stromata Syrische Baruchapokalypse Aischylos, Telephos Testament Abrahams Testamente der zwölf Patriarchen, Testament Assers Testamente der zwölf Patriarchen, Testament Benjamins De tranquilitate animi Cicero, Tusculanae disputationes Aristophanes, Vespae Philo, De virtutibus Aristoteles, De virtutibus et vitiis Philo von Alexandrien, De vita Mosis Ps[?]Plutarch, Vita Homeri Plutarch, Vitae parallelae Diogenes Laertios, Vitae philosophorum Jerusalemer Talmud, Traktat Rosh ha-Shana

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Register

I. Altes Testament

Sapientia Salomonis

Genesis

3,4

368

3,8

368

1,27

258

4,7–12

210

2,7

258

4,7ff

226

15,15

163

4,17–19

211

Numeri 12,8

328

Deuteronomium 20,11

4,20

368

5,1

368

5,1–15 249

Hiob

9,15

212 230, 290

Jesus Sirach

1,21

274

2,10

128

4,19

230

25,16

338

Psalmen Salomos 2,26ff

92, 107

Kohelet 5,14

274

II. Neues Testament

25,8

304

Matthäusevangelium

36,12

230

Jesaja

1. Makkabäerbuch 10,59–66

1,22 8,11

273

2. Makkabäerbuch 6,19

215

6,23

214

302 270

10,28

31, 91, 93

24,46

249

26,40

249

Markusevangelium

6,27f

214

4,12

6,30

215

6,50

315

7,11

217

13,36

249

7,14

216

7,18

217

12,4

7,36

216

15,11–24

4. Makkabäerbuch

302

Lukasevangelium 31, 91, 93 270

Johannesevangelium

6,27–29

218

6,30

219

9,7

218

15,25

302

Apostelgeschichte 5,39

249

12,1

125

400

Register

12,20–23

126

2,14

18,24

256

2,14–7,4

Römerbrief

2,17

315 13, 24, 34 365

1,27

307

3,1–3

2,7

278

3,5

2,9

307

3,6

2,10

278

3,18

34, 41

4,15

307

4,1ff

41, 260

7,10

249

4,2

35

8,11

233, 260, 268

4,3

25

8,23

226, 237, 268, 269

1. Korintherbrief

4,3f 4,5

35 312 34

35 36, 37, 42

1,31

311

4,6

36

3,15

251

4,7

30, 36, 231, 255, 288, 333

4,11

278

4,7–15

7,28

38

4,7–18

13,12

329

15 15,15 15,20–28

17, 227, 232, 249, 256

4,7ff 4,8

250

4,8f

26 40 42, 227 38 37, 38

24

4,9

15,26

281

4,10

39, 235, 315

15,35

256

4,10f

37, 231, 235

15,35–49

258

4,11

38

259, 265, 266, 268, 270

4,12

37, 42, 241

15,35ff 15,36–44 15,37

268

4,13–15

30

37

256, 261, 262, 263, 264

4,14

15,38

256

4,15

37, 42, 255

15,40

256, 264

4,16

27, 30, 234, 235, 241, 255, 336

15,43

302

15,44

231, 269

15,50–55

4,16–18 4,17

25, 42, 252, 253, 255

37, 39, 228 38, 241, 255, 278, 281

24

4,17f

15,51

291

4,18

32, 241, 332, 334

15,52

232, 233

5,11

41

15,52–54

313

5,11f

15,52f

243

5,12

15,53 15,53f

18, 256 265

6,8 6,11

34

13 13, 255 278 25, 35

15,54

256, 302, 303, 305

7,3

36

15,55

256

7,7

337

7,10

307

2. Korintherbrief 1,14

253, 255

7,13

337

2,13

35

9,11

308

Frühes Christentum 10,1

11

10,10

11, 32

10–13

43

11,6

11

12,2–4

270

12,2ff

279

12,7–9

40

12,19

365

12,20

249

13,3

11

Galaterbrief

401

1. Johannesbrief 3,2

334

Johannesapokalypse 3,5

272

III. Frühes Christentum Clemens von Alexandrien Stromata 5,11,68

60

Eusebius

3,26–28

271

3,27

Historia ecclesiastica

21, 295

4,9

339

12,20

329

Philipperbrief

2,10,1

126

Hirt des Hermas 55,11

338

Johannes Chrysostomus

1,20

236

1,21–24

361

1,22

342

1,23

337, 344

2,6f

378

2,8

378

2,16

253, 255

De resurrectione mortuorum 50,430 IV. Antikes Judentum Apokalypse des Sedrach 11,16

325

Baruchapokalypse, syrische

3,9

250

3,12–21

232

14,12f

3,13

336

4. Esrabuch

3,21

20, 226, 233, 237, 268, 278

4,12

141

1. Thessalonicherbrief

308

7,78

325 325

Henochbuch, äthiopisches 50,1

278

50,3

278

1

227

1,9

336

2,19

253

3,6

2,19f

255

10,10f

272

17, 232

11,4–6

272

4 4,13–18

24

Hebräerbrief 11,1

329

13,7

29, 30

Joseph und Aseneth 272

14,11

315

15,7

272

Josephus Antiquitates 1,170

118

3,10

250

4,315

130

3,14

249

4,318

130

4,322

130

2. Petrusbrief

402

Register 4,326

131

5,37

246

5,10

14,168–176

271

Qumran

14,172f

271

Hymnenrolle

14,369

122

VII,4f

230

15,9f

124

VII,8f

230

15,232–237

131

Qohelet Rabba

Talmud, Babylonischer

17,152–154

117

17,159

118

44b

17,168

118

Ketubbot

17,173

120

17,174–181

119

18,200

127

30a

19,328–343

129

Sanhedrin

19,345

127

19,346

127

Talmud, Jerusalemer

19,347

128

Rosh ha–Shana

Berakhot

111b

230 261

Menachot

90b

Bellum

57b

131 260

271

1,271

121

1,272

121, 122, 306

1,357

123, 284

1,650

117

1,653

117, 118

1,656

118

1,657

118, 284

1,659

120

1,659f

119

1,660

119

1,662

120

Oratio

2,152f

122

31

2,155

123

31,14–19

283

2,157

123

31,15–19

66

3,382

121

6,184

122

Contra Apionem 2,142–144

Testament Abrahams Rez. A 1,7

325

15,7

325

Testamente der zwölf Patriarchen Testament Benjamins 10,8

278

V. Griechische und römische Antike Aelius Aristides 65

Aesop Fabulae 199,3

133

Vita

246

Appian Historia Romana

1

279

138

271

364–367

129

Mithridates 21,80

82

Aristophanes Vespae

Pirqe deRabbi Eli‘eser 33

261

260

552–575

271

403

Griechische und römische Antike 976

271

Aristoteles De virtutibus et vitiis 1251a

67, 283

Eudemische Ethik 1234b

339

Problemata 956a

339

Rhetorik 1,2,3–5/1356a

52

1,78–96

51

2,177f

51

De oratore 1,5,18

339

Nikomachische Ethik 1152a

1,78

74

1,6,20

74

2,341

64

De senectute 83

322

84

327

Orator 12

120

74

1,2,4/1356a

339

1,2,8/1356b

74

40

1,3,1/1358b

50

61–138

52

1,3,5/1358b

45

70

53

1,9,1/1366a

53

70–83

52

1,9,18/1367a

56

71

53

1,9,33/1367b

49

72

52

2,5,16/1383a

315

74f

53

74

80

53

2,20,2/1393a–b Topik 1,12/105a

74

Athenaios Deipnosophistae 507d Historia Romana 138

Chrysipp Fragmenta moralia 601,33–37

74

81

53

82

52, 54, 56, 57, 84

83

53

Tusculanae disputationes 276

Cassius Dio 61,35,3

Partitiones oratoriae

61

Cicero De divinatione

1,9

168

1,5f

167

1,14

168

1,15

168, 286

1,23

169, 286

1,51

230, 267

1,71

171, 297

1,71b

170, 227

1,74

153, 172

2,8

75

1,82

287

2,22

77

1,82b

173

De inventione

1,96

173

1,20–109

51

1,98

174

1,34

52

1,118

175

1,35

52

5,57–59

1,36

51, 57, 84

1,55

74

83

404

Register

Demosthenes

Gellius

De corona 175

Noctes Atticae 254

Dio Chrysostomus Oratio 29,19

6,18,11 Historiae

65, 85

7,6,1

Diodor

7,46,2

Bibliotheca 17,107

144

83

Ilias 24,220–222

Vitae Philosophorum

340

Isokrates 219

Archidamos

Dionysios von Halikarnass

90

Antiquitates Romanae 5,17

309, 311

Homer

Diogenes Laertios 7,130

76

Herodot

67

Livius 64

Epiktet

Historia Romana 1 praef. 10

Dissertationes

75

Lukian

1,9,12–15

357

1,9,16–17

205, 358

1

1,17

204

8

1,25,18

357

21

143, 144

1,29,28f

De morte Peregrini 143 143

205, 358

23

144

2,1,13–15

318

32

146

2,1,34–36

203

2,24,3

340

3,24,63

309

3,24,95 3,24,96f 4,7,4

359

10. Dialog

276, 277

Lukrez De rerum natura

205, 359

3,31–40

204

3,59–64

183

3,79–90

184, 289

3,91–93

184

Epikur ad Menoikeum 81

Totengespräche

178

182

3,863–869

185

124

288, 305

3,869

305

124f

179, 224

3,900–903

186

125f

180

3,933–943

186

126f

181

3,943

183

127f

181, 300

Euripides Alkestis 383–385

3,954–962

187

3,1045–1053

188

Marc Aurel 33

Meditationes 10,36

60

405

Griechische und römische Antike Martial

Quod deterius potiori insidiari soleat

Epigramme 11,56

143 140, 301

Menander Rhetor 435,10–14

Quod deus sit immutabilis 83,2

73

Ovid

339 257

Platon Apologie

Metamorphosen 15,791

128

Philo De fuga et inventione 110

257

De gigantibus 53

258

De migratione Abrahami 9

257 257

De sacrificiis Abelis et Caini 100

150

40c–41d

150

40c–42a

174

41a

160

41a–b

366

41d

151

523a–e

274

523c–d

274

523e

275

Kratylos 60

De somniis

400c

154

Nomoi

1,43

257

1,122

230

De specialibus legibus 1,345

271

40a–c

Gorgias

De mutatione nominum 119

34c

165

De vita Mosis

9,873c–d

155

Phaidon 61b

154

61c–62c

356

62b–63a

331

2,51

131

62c

154, 342

2,291

131

63b

152, 155, 331

63c

155

De virtutibus 76

257

Legum allegoriae

63e 63e–64a

152 153, 285, 316, 320

1,105–108

165

64a

153, 301

2,55

257

64b

153, 298

2,59

257

64c

3,69

257

68b–c

Quaestiones in Genesin

69e

153 155, 343 152

1,16

165

72e

1,53

258

80e–81a

153, 172

3,11

163

80e–81c

156, 326

84e–85a

157, 298

Quis rerum divinarum heres

156

54

257

84e–85b

171

267

326

85b

157

276f

344

88b

320

406

Register 95b–c

158, 321

Sertorius

107c–d

158, 364

26f

89

107d–114c

317

113c–114d

267

113d–114c

158

1

68

114b

160, 367

2

69

114d–e

325, 343

Polemon von Laodikeia Deklamationen

Polybios

117a

160

Historia

117d–e

131

5,38f

61

6,10,9

315

Plinius d.Ä. Historia naturalis

6,53f

64

7,182

80

10,21

109

10,7

78

21,23,8

338

Plinius d.J.

32,19

Epistulae 5,5,3

111

8,12,4

111

Plutarch

18

60

Vita Homeri

26,7

67

34,3

67

Alexander

2,56

33

PsHermogenes Progymnasmata

109

Comparatio Eumenis et Sertorii 2

Fragmenta Ps[?]Plutarch

Aemilius Paulus

1,2

60

Poseidipp von Kassandreia

7,43–51

62

Quintilian 90

De tranquilitate animi

Institutio oratoria 1 prooem. 9

55

467a–b

224

2,2,1

57

476a

176

3,7,1–6

55

476b

176

3,7,2

De tranquilitates animi 76b

3,7,7–9 287

Eumenes 13–19

3,7,10–25 89

Pelopidas 11

3,7,10 3,7,12–16 3,7,17

246

Pompeius

49, 64 55 55, 56 55 56 56, 84, 369

3,7,17f

55

3,7,18

56

10

82

3,7,19

56, 369

79

92

3,7,20

56, 84

80

92

3,7,22–25

Publicola 9

3,7,25 64

56, 105 57

3,7,26–28

55

3,20f

55

Griechische und römische Antike

407

3,28

49

5,11,1–31

74

5,5

5,11,6

74

20,3,14

230

5,11,17f

74

24,6–8

195

5,12,9

12

24,17

290

9,3,76

58

24,22

198

12,1,1

55

24,23

198

12,4,1

75

24,24

198

12,6,6

48

26,5

198

74

26,9

198

58

30,3

199

Rhetorica ad Alexandrum 1436a Rhetorica ad Herennium

Epistulae morales 197, 287

36,11

289

2,18,28

74

58,33

199, 299

2,20,31

74

58,36

199, 299

2,29,46

74

70,9

199

3,8,15

48

70,11

200

3,10

50

70,17

200

3,11f

50

70,27

200, 289

3,13–14

50

82,16

200

49, 56, 57, 84, 369

82,17

201

74

82,18

201

3,14 4,49,62 Seneca

91,15

ad Marciam

345

102,22

9,1–2

190

102,27f

23,2

346

Apocolocynthosis 139

5,2

139

5,3

139

De brevitate vitae 7,3 11,1

344 202, 300

Strabo

4,3

3,4

117,22–24

356 331, 346

Geographica 15,717

144

Sueton Augustus

191

89

191

97

98

192, 297

99

97, 354

De providentia

76

Cäsar

2,11

363

82

95

2,11–12

195

86–87

96

197, 289

Domitian

6,9 De tranquilitate animi 2,15

14 193

107

Nero

11,2–3

193, 355

11,4–6

194

Otho

14,10

195

9

49

100 102

408

Register 10f

102

12

32

Tiberius 73

98

Titus 10

106

Vespasian 1

9,2 ext. 2

78

9,12,2

80

9,12,3

80

9,12,4

80

9,12,5

81, 82

9,12,6

81

9,12,8

79

104

9,12 ext. 1

1,1–2

104

9,12 ext. 5

79

16,1–3

105

9,12 ext. 5–6

78

23,4

105

9,12 ext. 7

78, 79

9,12 ext. 8

79

Vitellius 17

103

Tacitus Annalen

81, 82

9,13 praef.

82

9,13

82

9,13,1

82

13,2–3

138

9,13,2

82, 283

15,60–64

113

9,13,3

82, 283

15,64

115

9,13 ext. 1

83

9,13 ext. 3

83

12 praef.

78

Teles von Megara Peri apatheias 56f

318

Theon von Alexandria

Historia Romana

Progymnasmata 1,15f

Velleius Paterculus 2,7,2

58

1,18f

58

9,4–6a

59

9,6b–8

59

Thukydides

2,22,4

81 80, 81

Vettius Valens Anthologium 126,25–31

60

Xenophon

Geschichte des Peloponnesischen

Apologie

Krieges

1

161

4,34,1

340

6

161

4,108

339

7

Valerius Maximus

33

Facta et dicta memorabilia

161 162, 224, 296

Memorabilia

1 praef.

76

4,4 praef.

76

2,3,11f

309, 311