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German Pages 422 Year 1991
REINHARD WITTENBERG (HG.)
Person -
Situation -
Institution -
Kultur
Günter Büschges zum 65. Geburtstag
Person - Situation - Institution - Kultur Günter Büschges zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von
Reinhard Wittenberg
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Person - Situation - Institution - Kultur: Günter Büschges zum 65. Geburtstag I hrsg. von Reinhard Wittenberg. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 ISBN 3-428-07260-X NE: Wittenberg, Reinhard [Hrsg.]; Büschges, Günter: Festschrift
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-07260-X
Vorwort Günter Büschges, Ordinarius für Soziologie im Sozialwissenschaftlichen Institut der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Aiexander-Universität Erlangen-Nümberg, vollendet am 4. September 1991 sein 65. Lebensjahr. Auch wenn er von diesem Ereignis wenig Aufhebens gemacht sehen möchte: Ein solches Datum muß für einen, der ihn seit mehr als 20 Jahren zunächst als Student, dann als Mitarbeiter und schließlich als Freund - erlebt und auf dem Weg durch mehrere Hochschulen begleitet hat, dennoch ein willkommener Anlaß sein, ihm zu danken, und eine gute Gelegenheit, ihn mit der Herausgabe dieser Festschrift zu ehren. An ihrem Zustandekommen haben zwei Personengruppen mitgewirkt. Die eine setzt sich aus früheren und heutigen Schülern, Assistenten, Kollegen und Freunden Günter Büschges' zusammen, die Ergebnisse aus ihren aktuellen Forschungen berichten; sie sind anhand ihrer Beiträge zu identifizieren. Die andere besteht aus den Sekretärinnen und zwei studentischen Hilfskräften des Lehrstuhls für Soziologie, die - unter erschwerten Bedingungen - maßgeblich an der Fertigstellung des Manuskriptes mitgearbeitet haben; sie sind vom Leser nicht zu identifizieren und seien deshalb hier genannt: Michael Frank, Gerdi Grösch, Hannelore Herrmann und Birgit Wellisch. Ihnen allen danke ich herzlich für die kollegiale und großartige ·Unterstützung. Der Verlagsbuchhandlung Duncker & Humblot GmbH danke ich, daß sie die Festschrift in ihr Verlagsprogramm aufgenommen hat, dem "Institut für praxisbezogene sozial- und erziehungswissenschaftliche Forschung gem.e.V.", Münster, dafür, daß es einen Druckkostenzuschuß gewährt hat. Nümberg, im August 1991 Reinhard Wittenberg
Inhalt Reinhard Wittenberg: Einführung . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .
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A. Beiträge zur Soziologischen Theorie und Methode I. Hans Benninghaus: Sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen: Muß oder Mode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Norman Braun: BasicHuman Capital Earinings Functions: Specification, Reestimation and Application in Decomposing the Gender Income Gap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Hartmut Esser: Die Erklärung systematischer Fehler in Interviews: Befragtenverhalten als "rational choice" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Kar/ Gabriel: Wertwandel in der Bundesrepublik - Erklärungsansätze im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Clausjohann Lindner: Bedeutung und Voraussetzungen der Verbreitung des Gefühls politischer Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Werner Raub: Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus: Ein spieltheoretisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Werner Schulte: ,Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Wolfgang Sodeur: Zusammensetzung lokaler Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Beiträge zur Wirtschafts- und Organisationssoziologie I. Martin Abraham und Bernhard Prosch: Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize am Beispiel der Cari-Zeiss-Stiftung . . . . . . . . . . . .
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II. Waller Funk: Private Haushalte als sozialer Kontext individuellen Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 111. Berndt Keller: Regulierungspolitik als Arbeitspolitik . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Hans Gerd Schütte: Experten und Laien . .. ..... .. ... .. .. ... .... ...
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V. Thomas Voss: Die Evolution optimaler Organisationsstrukturen und der Transaktionskostenansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Inhalt
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C. Beiträge zur Medizinsoziologie I. Hendrik Faßmann: Probleme der Realisierung des Postulats "Rehabilitation vor Rente" unter besonderer Berücksichtigung der medizinischen Rehabilitation in der Gesetzlichen Rentenversicherung . .
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II. Wolfgang Slesina: Zur Messung wahrgenommener Arbeitsbelastungen und gesundheitlicher Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 III. Manfred Stosberg und Krista Stosherg: Gesundheits- und Krankheitsverhalten als soziale Prozesse .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
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D. Beiträge zur Straßenverkehrssoziologie I. Walter Schneider: Über den Umgang mit Risiken im Straßenverkehr . . . . .. .. . .. .. . . .. .. .. .. . .. . .. . . . . .. .. . . . . .. .. . . . . . . .. .. .. .. . . . . . . 381
II. Reinhard Wütenberg und Jürgen Hilzendegen: Zur Entwicklung der Straßenverkehrsunfälle in Deutschland von 1906- 1989
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E. Anhang I. Verzeichnis der Schriften von Günter Büschges
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II. Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Einrührung Von Reinhard Wittenberg Der programmatische Titel der vorliegenden Festschrift kennzeichnet den theoretischen Kern Günter Büschges' wissenschaftlicher Arbeit. Sie ist geprägt von der Annahme, daß jegliches menschliche Handeln ein komplexes Produkt aus kulturellen Rahmenbedingungen, institutionellen Regeln, situationsbezogenen Gegebenheiten und persönlichkeitsspezifischen Faktoren ist. Theoretische Modelle zur Analyse sozialer Sachverhalte, deren Entwicklung und Überprüfung soziologische Arbeit ausmacht, müssen dieser Vorstellung Rechnung tragen: Weder kann es ausreichen, "Gesellschaft" als unabhängige, das Handeln von Individuen und dessen Folgen - darunter insbesondere indirekte, in der Regel unbeabsichtigte und oftmals unerwünschte Folgen einschließlich Nebenfolgen und Rückwirkungen absichtsgeleiteter individueller Handlungen - determinierende Kategorie zu betrachten. Noch kann es umgekehrt genügen, von "Gesellschaft" gänzlich abzusehen, und kollektive Sachverhalte allein aufgrund von Annahmen über individuelles Verhalten von Akteuren zu bestimmen, die "Gesellschaft" konstituieren. Vielmehr muß es der theoretisch-empirischen Soziologie "um zwei verschiedene Aspekte sozialen Handelns, die gleichsam die zwei Seiten der Münze 'soziale Tatsache' ausmachen und die im Zeitablauf wechselseitig miteinander verknüpft sind" (Büschges 1985, S.63), gehen: Um die sozialen Folgen individuellen Handeins auf der einen Seite, die als Konsequenz individuellen menschlichen Handeins kollektive Effekte für andere Individuen oder Gruppen von Individuen darstellen, und um die sozialen Bedingtheilen individuellen Handeins auf der anderen Seite, die als Konsequenz kollektiver Gegebenheiten individuelle Effekte für die Handlungen von Individuen nach sich ziehen. Ein soziologischer Ansatz, der geeignet ist, beide Analyseebenen zu integrieren, erfährt in der soziologischen Profession als "strukturell-individualistischer Ansatz" zunehmend an Aufmerksamkeit. Er zeichnet sich dadurch aus, daß er für die Erklärung sozialer Sachverhalte Aussagen darüber enthält, (1) "wie die jeweiligen sozialen Bedingungen die Handlungsziele und die Handlungsmöglichkeiten der Individuen beeinflussen", und (2), "wie die
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Reinhard Wittenberg
jeweiligen sozialen Bedingungen in Verbindung mit den Handlungen der Individuen zu überindividuellen, kollektiven Folgen führen" (Büschges 1985, S.67). Für die Erklärungskraft dieses Ansatzes, der es ernst meint mit der Integration von Mikro- und Makroebene, ist es besonders wichtig, welche Annahmen vom Menschen die verwendete grundlegende soziologische Verhaltenstheorie jeweils macht. Günter Büschges entscheidet sich für die Annahme des Menschen als eines intentional handelnden und als solchem rational abwägenden Akteurs, der auf der Basis seiner Möglichkeiten und unter Berücksichtigung der ihn umgebenden Umstände unter Einsatz ihm geeignet erscheinender Mittel versucht, seine Ziele zu verwirklichen. Wir haben es also auf der Mikroebene mit einem "rational-choice"-Ansatz zu tun, der auf der Makroebene durch einen "constrained-choice"-Ansatz komplettiert wird. Infolgedessen läßt sich "Handeln als das Resultat zweier aufeinanderfolgender Filterprozesse betrachten. Der erste bewirkt, daß die Menge der abstrakt möglichen Handlungen auf die realisierbare Menge beschränkt wird, d.h. diejenige Menge von Handlungen, die gleichzeitig mit einer Reihe von physischen, technischen, ökonomischen und rechtlichpolitischen Rahmenbedingungen vereinbar sind. Der zweite bewirkt, daß eine Möglichkeit aus der realisierbaren Menge als auszuführende Handlung ausgewählt wird" (Elster 1987, S.106 f.). Für Günter Büschges' Konzeption dieses Ansatzes ist von großer Bedeutung, daß er - je nach theoretischem Erfordernis - Raum läßt, um für den Ausgang des zweiten Filterprozesses die individuellen Wünsche und Präferenzen sowohl als gegeben als auch als "rationalisierbar" modellieren zu können - etwa durch Selbstbindung an höherrangige Ziele oder durch Einsicht in fehlende Realisierungschancen. Bedingungen wie Folgen individuellen Handeins können demzufolge trotz der Annahme einer konstanten menschlichen Natur im Kontext situationaler sowie kultureller und institutioneller Gegebenheiten personal erheblich varüeren - und zwar im Ausmaß abhängig von der spezifischen Struktur des Interaktionsgeflechts, in dem der jeweilige Akteur sich bewegt. Um zwei Gegenstandsbereiche Günter Büschges' Forschungen zur Verdeutlichung des Letztgesagten heranzuziehen: Obwohl die funktionale Rollenstruktur einer Organisation hinsichtlich des Ausmaßes an eingeforderten und kontrollierbaren Handlungskonsequenzen anders einzuschätzen ist als die Interdependenzstruktur beispielsweise im Straßenverkehr, muß die jeweilige Reaktion der beteiligten Akteure in einer funktionalen Struktur nicht in jedem Fall stärker determiniert sein als in einem Interdependenzsystem. 1 Wie Präferenz- und,
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Vgl. zu funktionalen- und Interdependenzsystemen Boudon (1980).
Einführung
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weitergehend, Persönlichkeitsstrukturen, die das Denken und Handeln von Individuen im Hinblick auf Wert- und Moralprobleme bestimmen, im einzelnen entstehen oder erworben werden, wie sie wirken und wie sie beeinflußt werden können, sind Fragen, die wissenschaftlich bisher nicht abschließend beantwortet sind. Lern- und reifungstheoretische Erklärungsskizzen konkurrieren hier mit konstruktivistisch-strukturalistischen. Derlei Fragen nach dem komplexen und oft schwierigen interdependenten Verhältnis von individuellen und kollektiven Sachverhalten und die Suche nach Antworten darauf sind in Günter Büschges' Leben nicht nur von akademischem Interesse; sie sind, so scheint es mir, in Teilen auch zugleich Inhalt und Folge seines sonstigen privaten und beruflichen Lebensweges. Günter Büschges nimmt seine wissenschaftliche Tätigkeit erst 1968 im Alter von 41 Jahren als Akademischer Rat am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Regensburg auf. Nach der Erfahrung von Arbeits- und Wehrdienst, Verwundungund Kriegsgefangenschaft, Kaufmannsgehilfenausbildung, Abitur für Kriegsteilnehmer, Kaufmännischer Angestelltentätigkeit bei einer Gewerkschaft, Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln mit der Diplomprüfung für Kaufleute 1952 und, daran anschließend, 16 Jahre währender Tätigkeit als Assistent, Stellvertreter und - seit 1965 - Leiter (Prokurist) der zentralen personal- und sozialpolitischen Abteilung einer großen Seidenweberei in Westdeutschland, in die auch die neben dem Beruf absolvierte Promotion zum Dr.rer.pol. 1961 in Köln fällt, beginnt damit für ihn, seine Frau Gretel und die Kinder Beatrix, Birgitta und Ansgar ziemlich unvermittelt ein völlig neuer Lebensabschnitt Die Regensburger Zeit währt allerdings nur zwei Jahre. Seine breiten und langen Erfahrungen in der Privatwirtschaft und in seinen vielfältigen Neben- und Ehrenämtern - so als Dozent für Betriebs-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie sowie Betriebs- und Volkswirtschaftslehre in christlichen Institutionen, als Jugendschöffe und Arbeitsrichter, als Vorsitzender und Mitglied des Vorstands einer Reihe von betrieblichen Sozialeinrichtungen, darunter Kranken- und Ruhegeldskassen, als Mitglied des Heimarbeitsausschusses beim Arbeitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen und Mitglied des Massenentlassungsausschusses beim Arbeitsamt Krefeld - tragen sicherlich dazu bei, daß er bereits zwei Jahre später an der Fakultät für Soziologie der Universität Biclefeld die Stelle als Wissenschaftlicher Rat und Professor für das neugeschaffene, praxisorientierte Lehrgebiet "Betriebliches Organisations- und Personalwesen" erhält. In der "Bielefelder Zeit" beginnen seine Aktivitäten für Fragen der Straßenverkehrssicherheitsforschung, die er bis heute in einer Reihe von Forschungsprojekten fortsetzt: 1972 wird er Mitglied der multidisziplinären Projektgruppen "Systemanalyse Straßenverkehrssicherheit" und des Großversuchs "Tempo 100" der Bundesanstalt für
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Straßenwesen in Köln. 1974 betrauen ihn, den praktizierenden Katholiken, die Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands mit der Durchführung organisationssoziologischer Seminare für Dekane, Pröbste und Superintendenten in Pullach bei München. 1975 wird er zum o. Professor für empirische Sozialforschung (Theorie und Methoden) im Fachbereich Philosophie, Religions- und Sozialwissenschaften der Universität Essen - Gesamthochschule, 1980 zum o. Professor für empirische Sozialwissenschaften im Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität Hagen berufen. 1982 folgt Günter Büschges schließlich einem Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie im Sozialwissenschaftlichen Institut der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort übernimmt er 1983 als Direktor sowohl das Institut für Freie Berufe an der Universität Erlangen-Nürnberg als auch das Institut für empirische Soziologie, in dem insbesondere betriebs-, industrie- und berufssoziologische, aber auch medizinsoziologische Forschung, vor allem zu Problemen der Rehabilitation, betrieben wird. Seit 1986 ist er Mitglied des Kuratoriums der "Stiftung DER PRIVATE HAUSHALT", Düsseldorf, seit 1990 zudem Direktor des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums der Universität Erlangen-Nürnberg. Hatte Günter Büschges sich früher- während der Arbeit in der Privatwirtschaft - immer auch Zeit für nebenberufliche und ehrenamtliche Tätigkeiten genommen, so widmet er sich später zusätzlich der akademischen Selbstverwaltung. 1968 wird er gleich nach Eintritt in den universitären Bereich Vertreter der wissenschaftlichen Mitarbeiter in Satzungskommission und Kleinem Senat der Universität Regensburg; 1970 Vorsitzender des Ausschusses für Lehre der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, 1972 Mitglied des Senats und der Senatskommission des "Zentrums für Wissenschaft und berufliche Praxis" der Universität Bielefeld. 1973 wird er Mitglied der Aufbaukommission für die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Bielefeld und Mitglied des vom Kultusminister bestellten Fachausschusses für das Lehrfach Sozialwissenschaften. Dekan und anschließend Prodekan des Fachbereichs Philosophie, Religions- und Sozialwissenschaften der Universität Essen-Gesamthochschule ist er von 1975 bis 1978, Mitglied des Ausschuß für Lehre der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zur seihen Zeit sowie von 1985 bis 1987 Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und seit 1988 Mitglied der ständigen Kommission für Haushalts-, Raum- und Bauangelegenheiten der Universität Erlangen-Nürnberg. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten engagiert er sich auch für den Aufbau der Sozialwissenschaften in den neuen Bundesländern: Seit 1990 als Mitglied der Aufbaukommission für ein Sozialwissenschaftliches Institut der "Friedrich-Schiller"-Universität Jena, seit
Einführung
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1991 als Mitglied der Besetzungskommission des Instituts für Unternehmensführung der Technischen Hochschule "Carl Schorlemmer", Leuna-Merseburg. Breite und Fülle seiner in den verschiedenen Lebensabschnitten übernommenen Aufgaben, die dabei gesammelten und anschließend wieder eingesetzten praktischen, theoretisch-empirischen, methodologischen und methodischen Kenntnisse und Erfahrungen wendet Günter Büschges in Lehre, Forschung und Veröffentlichung im wesentlichen auf vier Bereiche soziologischer Arbeit an, nämlich auf die - Allgemeine soziologische Theorie und Methode, - Wirtschafts- und Organisationssoziologie, - Medizinsoziologie, - Straßenverkehrssoziologie, wobei er den "Bindestrich-Soziologien" jedoch nur den Status von Anwendungsbereichen der Allgemeinen Soziologie und ihrer Methodik beimißt. Diesen vier Bereichen lassen sich auch die in die vorliegende Festschrift aufgenommenen Beiträge zuordnen. Wenn auch nicht alle Autoren- Schüler, Assistenten, Kollegen und Freunde von Günter Büschges - damit einverstanden wären, wollte ich behaupten, sie redeten explizit einem "rational choice"-Ansatz das Wort, so meine ich, keinerlei Widerspruch zu provozieren, wenn ich behaupte, nicht einer unter ihnen verlöre das Individuum als zentrale soziologische Kategorie aus den Augen. 1 Wenn auch thematisch stark ausdifferenziert, so sind die nach den o.g. Bereichen und Autoren alphabetisch ausgewiesenen Beiträge zumindest insofern integriert. Im ersten Abschnitt - "Beiträge zur soziologischen Theorie und Methode" beinhaltend - kommt zuerst Hans Benninghaus zum Zuge. Sein Anliegen ist es, nachzuweisen, daß die Durchführung von Zwei-Wellen-Untersuchungen oder gar reiner Querschnittstudien in der Einstellungs-Verhaltens-Forschung, einem zentralen Bereich soziologischer und sozialpsychologischer Forschung, eigentlich unzulässig ist, weil damit kausalanalytisch unzureichende Ergebnisse produziert werden. Strikte Längsschnittuntersuchungen - solche mit (mindestens) drei Erhebungszeitpunkten - zeigen dagegen, daß zwischen
1 Ansätze, in denen das Individuum kaum einer Erwähnung wert ist, werden dennoch zur Kenntnis genommen. So hat beispielsweise Esser jüngst (1991) in der Zeitschrift für Soziologie auf sehr amüsante Weise die Systemtheorie als konträre soziologische Auffassung persifliert; zu einem ähnlich ironischen Ergebnis, systemtheoretische Bemühungen betreffend, kommt Büschges (1992) in einem Besprechungs-Essay für die Soziologische Revue.
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zentralen Merkmalen der beruflichen Tätigkeit und zentralen Facetten der Persönlichkeit tatsächlich wechselseitige Beziehungen bestehen. Norman Braun wendet sich sozialer Ungleichheit als einem anderen zentralen Bereich soziologischer Forschung zu. Unter Anwendung des bildungsökonomischen Humankapital-Ansatzesauf Daten des "General Social Survey 1987'' zeigt er, daß Gary S. Becker's "schooling model" an Erklärungskraft dem Modell von Jacob Mincer überlegen ist. Unterschiede im durchschnittlichen Einkommen von Männern und Frauen sind nicht ausbildungsbedingt, sondern fast ausschließlich auf Geschlechtsdiskriminierung von Frauen zurückzuführen. Eine strikte "rational choice"-Erklärung systematischer Fehler in Interviews, die als Beitrag für die weitere Entwicklung einer allgemeinen Theorie des Befragtenverhaltens gedacht ist, stellt Hartmut Esser vor. Wichtigstes Resultat seiner Analyse für die Praxis der Befragung und die Analyse ihrer Ergebnisse ist es, daß nicht die Entwicklung von Maßnahmen zur nachträglichen Korrektur systematisch auftretender "Fehler", sondern vielmehr die Unterstützung der traditionellen "Lehre der Befragung" im Hinblick auf die Vermeidung solcher Fehler geboten sei. Karl Gabrief untersucht herkömmliche Ansätze zur Beschreibung und Erklärung des Wertwandels in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie dort die problematische Beziehung zwischen am Individuum erhobenen Daten und den weitreichenden strukturellen und kulturellen Annahmen Inglehart'scher Herkunft modelliert wird. Angesichts der entmutigenden Schlüsse, die er aus seinem Unterfangen ziehen muß, sieht er in einer strukturell-individualistischen Theorie einen probaten Weg aus der konstatierten mißlichen Forschungslage. "Wertbezogen" ist auch der Beitrag von Clausjohann Lindner. Er stellt die Frage, welche Faktoren eine mehr oder weniger große Verbreitung des Gefühls politischer Wirksamkeit - als wesentlicher Komponente des Bestands einer demokratischen Ordnung - bewirken. Schlußfolgerung aus seinen Daten ist, daß durch Sachzwänge legitimierte Tendenzen zur Zentralisierung und Bürokratisierung politischer Entscheidungsprozesse weiterhin, wenn auch abgeschwächt, wirksam sind. Diese sind aber für das befriedigende Funktionieren repräsentativ-demokratischer Institutionen kontraproduktiv; das "Glück der Bürger", das nach klassischen Rechtfertigungen der Demokratie Maßstab zur Beurteilung jeder Regierungsform sein muß, es will noch entdeckt werden. Werner Raub untersucht aktive und intentionale Präferenzänderungen als Mechanismus der Kooperation für "problematische" soziale Situationen, in
Einführung
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denen individuell rationales Handeln zu Pareto-suboptimalen Resultaten führen kann. Nachdem er solche Situationen und unterschiedliche Mechanismen für die Sicherstellung Pareto-optimaler Ergebnisse diskutiert und Opportunitätsstrukturen für endogene Präferenzänderungen skizziert hat, stellt er ein spieltheoretisches Modell für die strategische Änderung von Präferenzen mitsamt den Implikationendes Modells vor. Anband von zwei einfachen Beispielen und einem Theorem wird gezeigt, daß intentionale Präferenzänderungen in problematischen sozialen Situationen zu (verallgemeinerten) Assurance Game Präferenzen i.S. von Sen führen können. Schließlich werden Erfordernisse für die anreizgeleitete Anpassung von Präferenzen, die vor allem Information(smöglichkeit)en der Akteure betreffen, beleuchtet. WolfgangSodeur demonstriert die Bedeutung von Modellen zur Mikrosimulation bei der Aufklärung komplexer Veränderungsprozesse. Am Beispiel der Zusammensetzung lokaler Populationen, die als Opportunitätsstruktur für die Aufnahme altcrsheterogener Kontakte unter Kindern verstanden wird, kann er nachweisen, daß Mikrosimulationen immer dann äußerst fruchtbar sein können, wenn es darum geht, die theoretische Bedeutsamkeil von Prozeßeigenschaften oder Rahmenbedingungen für soziales Verhalten selbst in solchen Fällen zu prüfen, in denen die zu betrachtenden Zusammenhänge komplex, die vorhandenen Vorkenntnisse dagegen gering sind.
Den ersten Abschnitt abschließend, schlägt Werocr Schulte eine Brücke zu Problemen, die Günter Büschges bereits in seiner Dissertation (Büschges 1961) beschäftigt haben, und entwickelt für Zeitbudgetuntersuchungen ein Auswahlverfahren, das neben wahrscheinlichkeitstheoretischen Erfordernissen auch den Zeitfaktor angemessen berücksichtigt. Der zweite Abschnitt - "Beiträge zur Wirtschafts· und Organisationssoziologie" betitelt - wird von Martin Abraham und Bernhard Prosch mit der spieltheoretischen Modeliierung eines klassischen Problems der Organisationsforschung, der Sicherung langfristiger Kooperation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, eröffnet. Indem sie die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Situation strategischer Interdependenz begreifen, können sie am historischen Beispiel der Gründung der Carl-Zeiss-Stiftung nachweisen, daß die Änderung der Organisationsform Mechanismen anstieß, die sich für beide Seiten als fruchtbar erwiesen. Walter Funk zeigt anschließend, daß es auch in der Umfrageforschung großen Stils Wege gibt, über die reine "Variablensoziologie" hinwegzukommen - ein wichtiges Anliegen, dessen Realisierung seit langem, wenn meist auch vergeblich, gefordert wird. Er kann belegen, daß die Erfassung des personellen Haushaltskontextes eine theoretisch sinnvolle und methodisch
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mögliche Strategie zur Berücksichtigung individueller, sozial relevanter Kontexte in der empirischen Sozialforschung darstellt. Die problematische Beziehung zwischen Experten und Laien, die durch informationeile Asymmetrie gekennzeichnet ist, betrachtet Hans Gerd Schütte. Er macht deutlich, daß es unumgänglich ist, sich zur Analyse des komplexen Sachverhalts sowohl auf die Mikroebene strategischer Handlungen als auch auf die Makroebene funktionaler Differenzierung zu begeben, und dabei des weiteren sowohl soziologische als auch ökonomische Erklärungswege zu betreten. Thomas Voss diskutiert alternative evolutionäre Mechanismen, die zu einer Ausbreitung effizienter Organisationsformen beitragen. Zu diesem Zweck wird das Argument der "ökonomischen natürlichen Auslese" in Beziehung zum Transaktionskasten-Ansatz gesetzt. Anschließend wird eine evolutionäre Konzeption skizziert, deren zentrale Gesichtspunkte die Annahmen begrenzter Rationalität und "sozialen Lernens" sind. Die Anwendung der vorgestellten Konzeption auf das empirische Beispiel der Ausbreitung divisionaler Organisationsstrukturen, vor allem in der amerikanischen Großindustrie, belegt die Erklärungskraft der alternativen Konzeption. Der dritte Abschnitt - "Beiträge zur Medizinsoziologie" umfassend beginnt mit einer detaillierten Analyse der restriktiven Rahmenbedingungen, die eine effektive Erfüllung des Postulats "Rehabilitation vor Rente" behindern. Hendrik Faßmann beläßt es nicht dabei, sondern er erörtert für den Bereich medizinischer Maßnahmen zur Rehabilitation in der Rentenversicherung auch Ansatzpunkte, die zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation führen könnten. WolfgangSiesina beschäftigt sich, wenn auch aus anderem Blickwinkel, mit ähnlichen Problemen. Er wirft die Frage auf, wie in verschiedenen OrganisationenArbeitsbelastungen und -beanspruchungen im Rahmen sozialepidemiologischer Untersuchungen über arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken gemessen werden können. Es geht also darum, Sozialmedizinische Testverfahren zu entwickeln und einzusetzen, um spätere Rehabilitationsmaßnahmen erst gar nicht notwendig werden zu lassen. Zwei solcher Verfahren mit den Kürzeln EWA und EWAB werden vorgestellt und ausführlich hinsichtlich der Gütekriterien Reliabilität und Validität methodenkritisch evaluiert. Krista und Manfred Stosberg greifen mit ihrem Aufsatz über Gesundheitsund Krankheitsverhalten als soziale Prozesse ein geradezu klassisches Thema medizinsoziologischer Forschung auf. Natur- und sozialwissenschaftliche Paradigmen zur Erklärung dieser Verhaltensmuster werden zunächst mit dem Ergebnis kontrastiert, daß sie komplementär einzusetzen wären. Eine
Einführung
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soziologische Analyse des infragestehenden Verhaltens hinsichtlich wirksamer potentieller Einflußfaktoren schließt sich an. In einem Abschnitt über Prävention unterstützen auch sie Gedanken, wie sie in den beiden vorangehenden Beiträgen bereits angesprochen wurden. Eine detaillierte Analyse der Krankenrolle rundet die Darstellung ab. Der vierte und letzte Abschnitt - "Beiträge zur Straßenverkehrssoziologie" betitelt - ist zugleich der kürzeste. Walter Schneider präsentiert eine sozialpsychologische Analyse des Umgangs mit dem Risiko im Straßenverkehr. Ausgehend von der Annahme, daß gegenwärtig- in der Kohlberg'schen Klassifikation - ein Lebensstil vorherrscht, der durch Dominanz des Motivs des eigenen Vorteils gekennzeichnet ist, sucht er nach Möglichkeiten, diese Motivstruktur zu erforschen, um daraus Anhaltspunkte für ihre Veränderung in Richtung auf die Reduzierung des Unfallrisikos abzuleiten. Reinhard Wittenbe1g und Jürgen Nilzendegen beschreiben zunächst die Entwicklung des Straßenverkehrsunfallgeschehens in Deutschland seit Beginn seiner statistischen Erfassung. Positive Veränderungen im Unfallgeschehen werden identifiziert und daraufhin untersucht, inwieweit sie auf institutionelle Interventionen zurückzuführen sind. Für das Gebiet der "alten" Bundesrepublik Deutschland wagen sie eine Prognose des zukünftigen Unfallgeschehens.
Literatur Büschges, G.: Die Gebietsauswahl als Auswahlmethode in der empirischen Sozialforschung. Grundlagen, Probleme, Bedeutung, Dissertation, Köln 1961. Büschges, G.: Empirische Soziologie und soziale Praxis. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 8, 1985, S.61 ff. Büschges, G.: "Empirischer Theorienvergleich" - Sackgasse, dorniger Pfad oder Königsweg? ßesprechungs-&sayvon K.-D. Opp und R Wippler (Hrsg.), Empirischer Theorienvergleich. Erklärungen sozialen Verhaltens in Problemsituationen, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1991. In: Soziologische Revue 1992 [im Erscheinen). Boudon, R: Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied / Darmstadt 1980.
Elster, J.: Subversion der Rationalität. Frankfurt/M. 1987. Esser, H.: Der Doppelpaß als soziales System. In: Zeitschrift für Soziologie 20, 1991, S.153 ff.
2 Büschges
A. Beiträge zur Soziologischen Theorie und Methode
I. Sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen Muß oder Mode? Von Hans Benninghaus
1. Einleitung Noch vor Monaten, als ich den schlagzeilenartigen Titel dieses Beitrages formulierte, war ich der Überzeugung, sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen hätten einen deutlichen Aufschwung erfahren. Wenn zutraf, was ich beobachtet zu haben glaubte, daß nämlich sozialwissenschaftliche Querschnittuntersuchungen immer häufiger als unzulänglich und vom professionellen Zeitgeschmack abweichend beurteilt wurden, dann sprach vieles dafür, daß Längsschnittuntersuchungen in Mode gekommen waren. Ich war tatsächlich der Meinung, Untersuchungen longitudinalen Zuschnitts hätten seit Jahren Hochkonjunktur. Diese Auffassung habe ich inzwischen revidiert. Wie einem von Bahr, Caplow und Chadwick (1983) verfaßten Übersichtsartikel zu entnehmen ist, scheint es zwar mehr sozialwissenschaftliche Langzeituntersuchungen zu geben, als manchmal angenommen wird, doch stellen Replikationen - offenbar anders als in den Naturwissenschaften - einen unangemessen kleinen Teil der empirischen Sozialforschung dar. Vor allem gibt es, wie ich nun glaube, keine Anzeichen für die von mir vermutete Tendenz zu vermehrten sozialwissenschaftliehen Replikationen. In der auf die Jahre 1973-1981 gerichteten Recherche war mit Hilfe des 'Social Science Citation Index' nach Forschungsbeiträgen gesucht worden, die als Replikationen anzusehen sind, d.h. als Langzeituntersuchungen, die in irgendeiner Weise auf eine sog. "baseline study'' Bezug nehmen. Unter den rund 300 gefundenen Beiträgen, die im weiteren Sinne als Replikationen gelten konnten, befanden sich nur etwa 10 Prozent Forschungsarbeiten, die man als
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Hans Benninghaus
strikte oder klassische Längsschnittuntersuchungen bezeichnen konnte, d.h. als Untersuchungen, in denen dieselben Untersuchungseinheiten mit denselben Methoden in möglichst denselben Kontexten erneut untersucht werden. Obwohl es longitudinale Untersuchungen gibt, in denen mehrere Methoden kombiniert werden, sieht die typische sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchung Befragungen vor, bei denen man dieselben Personen wiederholt mit denselben Meßinstrumenten, die sich auf dieselben Gegenstände beziehen, konfrontiert. Erlangt man auf diese Weise mindestens zwei zeitverschobene Messungen, ohne - was die Regel ist - die intervenierenden Bedingungen kontrollieren zu können, so spricht man, zumal bei relativ kurzen Perioden zwischen den Messungen, von einem Panel (oder einer Panel-Untersuchung). Bahr, Caplow und Chadwick (1983, S.254) fassen ihre Recherche wie folgt zusammen: "First, there was no trend toward increasing numbers of replications from 1973 to 1981. If anything, there was a slight tendency in the other direction." Und: "Second, ... over half of the replications appeared in psychology journals, about one fourth in sociology journals, and very few in journals of other social science disciplines." Von einer zahlenmäßigen Zunahme substantieller Beiträge auf dem Gebiet der sozialwissenschaftliehen Langzeitforschung kann demnach, jedenfalls bis zum Beginn der 80er Jahre, keine Rede sein. Andererseits konstatieren dieselben Autoren ein zunehmendes, an der wachsenden sozialwissenschaftliehen Literatur über Methoden zur Erlangung und Analyse longitudinaler Daten abtesbares Interesse an den Problemen longitudinaler Forschung. Dieser in der Methodenliteratur beobachtbare Trend - er hat mich möglicherweise dazu angestiftet, eine überproportionale Zunahme inhaltlicher Forschungsprojekte langzeitliehen Zuschnitts zu vermuten - hält zweifellos an. Ich deute ihn als Zeichen einer von immer mehr Sozialforschern geteilten Ansicht, daß viele Fragestellungen - zwecks Erlangung geeigneter Daten - Meßwiederholungen verlangen. Das möchte ich nachfolgend anband einiger Beispiele demonstrieren. Die Auswahl der Beispiele ist ziemlich willkürlich; sie erklärt sich allein aus der Tatsache, daß mir einige Forschungsbereiche näher liegen als andere. Das erste Beispiel entstammt einem Forschungsfeld, auf dem sich Soziologen, Psychologen und Sozialpsychologen gleichermaßen betätigen, nämlich dem der Einstellungs-Verhaltens-Forschung. Die Beispiele zwei und drei entstammen einem Forschungsgebiet, wo es um die Beziehung zwischen der Sozialstruktur und dem Individuum geht, genauer: um die wechselseitige Beziehung zwischen der beruflichen Arbeit und der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen. Das vierte und letzte Beispiel entstammt der sozial-
Sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen - Muß oder Mode?
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wissenschaftlichen Gemeindeforschung; es handelt vom sozialen Wandel in der berühmten amerikanischen Lokalgemeinde "Middletown".
2. Probleme üblicher Querschnittuntersuchungen Am Ende einer längeren Forschungsarbeit, die ich vor etlichen Jahren der Suche nach empirischen Überprüfungen der Beziehung zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen gewidmet hatte (Benninghaus 1973, 1976), war ich zu einigen erstaunlichen Einsichten gelangt. Die erste war, daß Untersuchungen zum Einstellungs-Verhaltens-Komplex geradezu Seltenheitswert hatten (sie haben ihn sicherlich heute noch). In der von mir durchgesehenen Forschungsliteratur war ich auf nur 102 empirische Untersuchungen gestoßen, die den folgenden (zugegeben strengen) Auswahlkriterien genügten: (a) Die Untersuchungseinheit mußte nicht eine Gruppe, sondern das Individuum sein. (b) Für jedes Individuum mußte mindestens eine Einstellungsmessung und eine Verhaltensmessung bezüglich desselben Einstellungsobjekts vorgenommen worden sein. (c) Die Einstellung und das Verhalten mußten bei verschiedenen Gelegenheiten gemessen worden sein. (d) Die Information über das objektbezogene Verhalten durfte nicht nur aus einem retrospektiven verbalen Bericht des Individuums über sein eigenes Verhalten bestehen (Benninghaus 1976, S.55).
Angesichts der zentralen Stellung, die das Konzept der sozialen Einstellung in den Sozialwissenschaften einnimmt, undangesichtsder Tatsache, daß sich die empirische Sozialforschung zunehmend mit der Messung von Einstellungen begnügt, ohne ihren Anspruch aufgegeben zu haben, menschliches Verhalten in sozialen Kontexten vorherzusagen und zu erklären, konnte ich mich nur wundern, wie selten die von vielen Autoren kurzerhand als eng unterstellte Beziehung zwischen verbal gemessenen Einstellungen und overten Verhaltensweisen überprüft worden war. Als noch überraschender empfand ich das Ergebnis meiner Sichtung und Reanalyse der 102 Untersuchungen: In nur einem Drittel der Forschungsarbeiten waren Assoziationskoeffizienten ermittelt worden, die über 0.30 lagen; starke EinstellungsVerhaltens-Beziehungen ( d.h. Assoziationskoeffizienten, die über 0.50 lagen) waren in nur 13 Prozent der Fälle beobachtet worden (Benninghaus 1976, S.262). Meine Erkenntnis führte nicht zu einer Revision der von Allen W. Wicker (1969) auf der Basis einer ganz ähnlichen Durchsicht und Reanalyse von 45 Untersuchungen getroffenen Feststellung, nach der "product-moment correlation coefficients relating the two kinds of responses are rarely above
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Hans Benninghaus
0.30, and often are near zero. Only rarely can as much as 10 % of the variance in overt behavioral measures be accounted for by the attitudinal data" (S.65). Im Ergebnis stimmte meine und Wiekees Feststellung mit der Aussage William J. McGuirt:s (1969) überein, der zufolge "attitude research has long indicated that the person's verbal report of bis attitude has a rather low correlation with bis actual behavior toward the object of the attitude" (S.156). Zu einem ganz ähnlichen Fazit war auch Waltee Misehel (1968) nach einer kritischen Durchsicht und Würdigung zahlreicher empirischer Untersuchungen der Beziehung zwischen psychometrisch erfaßten Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften einerseits und beobachteten Verhaltensweisen andererseits gekommen: "... the phrase 'personality coefficient' might be coined to describe the correlation between 0.20 and 0.30 which is found persistently when virtually any personality dimension inferred from a questionnaire is related to almost any conceivable extemal criterion involving responses sampled in a different medium - that is, not by another questionnaire" (S.78). Sowohl Misehel (1968) als auch Wicker (1969) zogen aus ihren gleichlautenden Resümees sehr weitreichende Schlußfolgerungen, die sich auf die Relevanz der "personality traits" (Mischet) bzw. der "underlying attitudes" (Wicker) als stabile Reaktionsprädispositionen, d.h. als nicht gemessene hypothetische Konstrukte bezogen. Auf diese Schlußfolgerungen, die von vielen Autoren geteilt werden, möchte ich nachfolgend eingehen, um erstens zu zeigen, daß die häufig aus Ergebnissen der üblichen Zwei-Wellen-Untersuchungen (mit einer Einstellungsmessung und einer Verhaltensmessung) abgeleiteten theoretischen Folgerungen unzulässig sind, und um zweitens zu zeigen, daß wichtige theoretische Fragen entschieden werden können, wenn Untersuchungen der Beziehung zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen mehr als zwei Meßzeitpunkte vorsehen. Was die Beziehung zwischen Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften einerseits und overten Verhaltensweisen andererseits betrifft, so kam Misehel zu folgendem Fazit: "With the possible exception of intelligence, highly generalized behavioral consistencies have not been demonstrated, and the concept of personality traits as broad response predispositions is thus untenable" (1968, S.146). Nach Misehel hat die von Charakterpsychologen und Attitüdentheoretikern geteilte Annahme als widerlegt zu gelten, daß stabile Reaktionsprädispositionen transsituationale Verhaltenskonsistenzen bewirken. Was die Beziehung zwischen Einstellungen und overten Verhaltensweisen angeht, so kam Wicker zu diesem Schluß: "(There is) little evidence to support the postulated existence of stable, underlying attitudes within the individual
Sozialwissenschaftliche Unpschnittuntersuchungen - Muß oder Mode?
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which influence both his verbal expressions and his actions ... and the assumption that feelings (attitudes) are directly translated into actions has not been demonstrated" (1969, S.75). Das heißt, sowohl Misehel als auch Wicker bezweifeln erstens die Stabilität und zweitens die Bedeutung von Reaktionsprädispositionen (Bedeutung im Sinne der Stärke des Einflusses auf das Verhalten des Individuums). Es ist offensichtlich, daß beide Autoren ihre Schlußfolgerungen aus der Tatsache ableiten, daß die in vielen Untersuchungen gemessenen Reaktionsprädispositionen keine guten Prädiktaren des Verhaltens sind. Wie problematisch solche aus bivariaten Beziehungen abgeleiteten Schlußfolgerungen sind, hat Duane F. Alwin (1973) in einem Beitrag gezeigt, der sich mit der theoretischen Spezifikation der Beziehung zwischen verbalen Einstellungen und aktuellen Verhaltensweisen befaßt. Alwin bestreitet nicht, daß die Versuche, Verhaltensweisen auf der Basis von verbalisierten Einstellungen vorherzusagen, enttäuschend waren, moniert aber, daß bei diesen Versuchen typischerweise nicht zwischen Einstellungen und verbalisierten Einstellungen ("attitudes and verbal attitudes") unterschieden werde. Auf der theoretischen Ebene seien die Verhältnisse ähnlich entmutigend wie auf der Ebene der Vorhersage, "at least in terms of understanding the nature of the relationship between verbally stated (or written) attitudes and actual behavior" (1973, S.255). Alwins Hauptvorwurf besteht darin, daß sich die Einstellungs-Verhaltens-Forscher selten Rechenschaft über das theoretische Modell ablegten, das ihren Forschungen zugrunde liege. So sei beispielsweise die Unterscheidung zwischen "attitudes and verbal reports of attitudes" wichtig. "Since a verbal report does not always adequately reflect the true underlying attitude, the two are not necessarily isomorphic and we must allow for this in our model of the relationships among verbal attitudes, attitudes and behavior" (1973, S.255 ff.). Die Frage der Vorhersage und die der theoretischen Spezifikation sind zwar verschieden, haben aber ihren Berührungspunkt dort, wo EinstellungsVerhaltens-Forscher Schlußfolgerungen aus Untersuchungen ziehen, in denen sich verbale Einstellungen als schlechte Prädiktaren des Verhaltens erwiesen. Dies sind drei typische Schlußfolgerungen, die man in der Forschungsliteratur antrifft:
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Hans Benninghaus
1. Die zugrundeliegenden (wahren) Einstellungen sind über die Zeit hinweg nicht stabil (Instabilitätsthese).
2. Die verbalisierten Einstellungen sind keine adäquaten Messungen der zugrundeliegenden Einstellungen (Inadäquanzthese). 3. Die Einstellungen sind keine zentralen Determinanten des Verhaltens (Irrelevanzthese). Beispiele für die erste und dritte Schlußfolgerung sind die oben zitierten Aussagen von Misehel und Wicker. Die zweite Schlußfolgerung bezieht sich auf die Adäquanz der bekundeten Einstellungen als Messungen der wahren Einstellungen der Individuen, d.h. auf die Validität (Gültigkeit) und Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Einstellungsmessungen. Die Validität der Einstellungsmessungen ist sehr häufig in Zweifel gezogen worden, beispielsweise schon von Richard T. LaPiere (1934), der das, was mit "attitude questionnaires" gemessen wird, als weitgehend "irrelevant" bezeichnete. Irwin Deutscher (1966, 1969, 1973) hat wiederholt betont, daß das Problem der Validität der Einstellungsdaten stets zugunsten der Beschäftigung mit dem Problem der Reliabilität vernachlässigt worden sei, während Howard J. Ehrlich (1969) die mangelnde Reliabilität der Einstellungsmessungen behauptete. Die dritte Schlußfolgerung, nach der Einstellungen keine zentralen Determinanten des Verhaltens seien, ist fast immer mit der Behauptung der größeren Bedeutung anderer (z.B. situationaler) Variablen für das Verhalten des Individuums verknüpft worden. Jede dieser drei Schlußfolgerungen ist mit der häufig beobachteten Tatsache vereinbar, daß verbale Einstellungen relativ schlechte Prädiktaren des Verhaltens sind; in gegebenen Fällen können sie einzeln oder allesamt völlig plausibel sein. Es läßt sich jedoch zeigen, daß aufgrund einer bivariaten Beziehung zwischen einer verbalen Einstellung und einer overten Verhaltensreaktion nicht entschieden werden kann, welche dieser drei Schlußfolgerungen korrekt ist. Das heißt, die aus einer Nahe-Null-Korrelation gezogene Schlußfolgerung, die Einstellung sei instabil, oder die Schlußfolgerung, die zugrundeliegende Einstellung habe keinen Einfluß auf die Verhaltensreaktion, kann falsch sein. Alwin (1973) demonstriert das an einem Kausalmodell, bei dem die Beziehung zwischen einer verbalen Einstellungsmessung und einer Verhaltensreaktion wie folgt spezifiziert ist: (1) Die wahre ("underlying") Einstellung des Individuums hat die Tendenz, im Zeitablauf stabil zu sein, (2) die wahre Einstellung des Individuums determiniert, "with a certain amount of error", die verbale Reaktion des Individuums, und (3) die wahre Einstellung
Sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen - Muß oder Mode?
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beeinflußt, neben anderen Faktoren, das Verhalten des Individuums. Dieses Modell ist in Abbildung 1 dargestellt.
wt+1
Abbildung 1: Kausalmodell der Beziehung zwischen einer verbalen Einstellungsmessung und einer Verlulltensreaktion (Alwin 1973)
In dem abgebildeten Kausalmodell verursacht die wahre Einstellung (A) sowohl die Variation der verbalen Einstellung (V) zum Zeitpunkttals auch das Verhalten (B) zum Zeitpunkt t + 1. Das Modell postuliert außerdem einen Einfluß der wahren Einstellung zum Zeitpunkt t (A.) auf sich selbst zum Zeitpunkt t + 1 (A1 +J)· Das heißt, obwohl es sich um dieselbe Einstellung handelt, sieht das Modell wegen des Zeitintervalls zwischen den Messungen t und t + 1 zwei Variablen vor. Das Modell berücksichtigt ferner den Einfluß der zum Zeitpunkt t gemessenen verbalen Einstellung (V) auf das Verhalten (B) und auf die wahre Einstellung (A) zum Zeitpunkt t + 1. (Die Darstellung folgt den Konventionen der Pfadanalyse.) Der Parameterb repräsentiert die Stabilität der Einstellung (A). Wenn b gleich 1 ist, hat sich die relative Position der Individuen in der Verteilung
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Hans Benninghaus
der Einstellungsmeßwerte zwischen t und t + 1 nicht verändert. Wenn b gleich Null ist, liegt eine Zufallsfluktuation zwischen t und t + 1 vor; in diesem Fall gibt es keine Stabilität der Einstellung (A). Der Parameter a repräsentiert die Validität der verbalen Einstellung in Bezug auf die wahre Einstellung. Validität in diesem Sinne ist definiert als die Korrelation zwischen einem wahren Wert und einem beobachteten Wert, im vorliegenden Beispiel als die Korrelation zwischen der wahren und der gemessenen Einstellung. 1 Der Parameter c repräsentiert das Ausmaß, in dem die wahre Einstellung einen direkten Einfluß auf die Verhaltensreaktion (B) ausübt. Wenn die Variation der wahren Einstellung die gesamte Variation der Verhaltensreaktion determinierte, wäre c gleich 1. Dieser Fall ist unrealistisch, da andere, von Null verschiedene Einflüsse auf B angenommen werden müssen. Unter bestimmten Umständen mag die wahre Einstellung so wenig Einfluß auf das Verhalten ausüben, daß c nahe Null ist. Um schlußfolgern zu können, daß eine bestimmte Einstellung eine bestimmte Verhaltensreaktion nicht determiniert, muß diese Situation gegeben sein. Außer den Parametern a, b und c berücksichtigt das Modell die potentielle Sensibilisierung des Befragten, d.h. den Reaktivitätseffekt der Einstellungsmessung. Dieser Effekt wird durch den Parameter d repräsentiert. Schließlich repräsentiert der Parameter e den Einfluß der verbalen Einstellung auf das overte Verhalten, d.h. den in Konsistenztheorien postulierten Effekt dessen, "was Leute sagen", auf das, "was sie tun". 2 In diesem Modell ist die Korrelation zwischen der verbalen Einstellung und dem overten Verhalten: Pvs
= c(d+ba)+e
Da es nur eine Gleichung, aber fünf Unbekannte gibt, ist das in Abbildung 1 dargestellte Modell unterbestimmt, d.h. es gibt keine eindeutige Lösung für die unbekannten Parameter. Alwio schlägt deshalb eine einfachere Version des Modells vor, die nichtsdestoweniger den theoretischen Vorstellungen der meisten Forscher, die sich mit Einstellungs-VerhaltensBeziehungen befassen, entsprechen dürfte. Dieses einfachere Modell geht
1 Diese Definition der Validität hängt von einer Definition der Reliabilität der wahren Einstellung als a2 ab, d.h. die Reliabilität ist definiert als die quadrierte Korrelation zwischen der wahren und der gemessenen Einstellung.(Siehe Lord und Novick 1968, S55 ff.)
2 Es gilt im übrigen die Annahme, daß die Residualterme E 1, U 1+ 1 und W 1+ 1 weder untereinander noch mit anderen Variablen des Systems korrelieren.
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davon aus, daß die Parameter d und e gleich Null sind - eine Annahme, die dann realistisch sein dürfte, wenn das Zeitintervall zwischen den Messungen groß genug ist, um Transfer- und Reaktivitätseffekte auszuschalten. Das mit dieser Annahme (d = e = 0) verbundene Problem ist allerdings, daß bei einem langen Zeitintervall möglicherweise auch b gegen Null tendiert. Man kann jedoch so argumentieren, daß d und e sich verflüchtigende Meßeffekte sind, während b eine mehr oder weniger dauerhafte Reaktionstendenz darstellt. In diesem simpleren Modell ist die Korrelation zwischen der verbalen Einstellung und dem overten Verhalten:
Pvu = cba Es ist offensichtlich, daß die (d = e = 0)-Annahme nicht zu einer Identifizierung der anderen Parameter des Modells führt; bei nur einer empirischen Korrelation bleiben drei unbekannte Parameter zu schätzen. Daraus folgt: Akzeptiert man eines der beiden Modelle, dann dürfte klar sein, daß die Stärke einer bestimmten Einstellungs-Verhaltens-Beziehung keine Evidenz für die Größe irgendeines Parameters des Modells liefert. Das kann anband des vereinfachten Modells verdeutlicht werden. Eine Nahe-Null-Beziehung kann vieles bedeuten- irgendeiner oder aber mehrere der Parameter a, b oder c kann (können) nahe Null sein. Eine solche Korrelation erlaubt nicht den Schluß, daß a, b oder c oder irgendeine Kombination gleich Null ist (sind). Mit anderen Worten: Akzeptiert man das eine oder andere Modell, dann ist es nicht möglich, auf der Basis bivariater Beziehungen der oben beschriebenen Art zu schlußfolgern, (1) daß Einstellungen instabil seien (Wicker 1969), (2) daß verbale Einstellungen notwendig inadäquate Messungen wahrer Einstellungen seien (LaPiere 1934, Deutscher 1966, 1969) oder (3) daß Einstellungen nicht das Verhalten beeinflußten (Wicker 1969, Deutscher 1966, Schwartz und Alwin 1971, Tarter 1970). Solche Schlußfolgerungen setzen die Kenntnis der anderen Parameter des Modells voraus, eine Kenntnis, die mit den üblichen Zwei-Wellen-Untersuchungen nicht erlangt wird. Legt man zum Beispiel das einfachere Modell zugrunde und zieht aus einer Nahe-Null-Korrelation (rvu) den Schluß, daß die Einstellung das Verhalten nicht beeinflußt (d.h. c = rvu), dann impliziert dieser Schluß die Annahme, daß die verbale Einstellung eine perfekte Reflektion der wahren Einstellung ist (a = 1) und daß die wahre Einstellung perfekt stabil ist (b = 1). Hat man, um ein anderes Beispiel zu nehmen, etwa für die Reliabilität einer Einstellungsskala (Vt) einen Wert von rvv = 0.50 (so daß ä s 0.70) und eine Einstellungs-Verhaltens-Beziehung von rvu = 0.35 ermittelt, so kann man die Frage stellen, welcher Bereich von b- und c-Werten bei dem
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angenommenen Schätzwert von a solche Ergebnisse ermöglicht. Ein Resultat könnte b = 0.50 und c = 1 sein, ein anderes b = 1 und c = 0.50. Bei solchen Werten müssen folglich b und c in einem Wertebereich von 0.50 bis 1 liegen. In diesem hypothetischen Fall ist demnach weder eine Beweis für einen schwachen Einstellungs-Verhaltens-Effekt noch für eine hohe Instabilität der Einstellung gegeben, obwohl der angenommene Wert von rVB = 0.35 keineswegs hoch ist.
3. Vorteile von Längsschnittuntersuchungen Diese Situation läßt sich nur dadurch überwinden, daß man zusätzliche Variablen einführt, seien es verbale Einstellungen, seien es Verhaltensreaktionen oder beide Variablentypen. Eine naheliegende Lösung ist dann möglich, wenn man die (verbale) Einstellung zweimal, nämlich zum Zeitpunkt t und zum Zeitpunkt t + 1, und die Verhaltensreaktion einmal, nämlich zum Zeitpunkt t +2, mißt. Das von Alwin spezifizierte zweite Modell sieht dies vor (siehe Abbildung 2). Das Modell nimmt an, daß vier Parameter gleich Null sind, nämlich d1 = d2 = e = f = 0, ferner daß die Stabilität oder Instabilität der Einstellung in Zeitintervallen gleicher Länge konstant ist (b 1 = b2) und daß die Gültigkeit der verbalen Einstellungsmessung zu beiden Zeitpunkten gleich ist (a1 = a2). (Das Modell enthält einen weiteren Parameter (f), der den Effekt der verbalen Einstellung zum Zeitpunkt t auf die verbale Einstellung zum Zeitpunkt t + 1 repräsentiert. Für die Residualterme gilt wieder die Annahme, daß sie weder untereinander noch mit anderen Variablen des Systems korrelieren.)
Sozialwissenschaftliche Längsschnittuntersuchungen - Muß oder Mode?
Et
I
Vt
Et+1
f
[ Vt+1
Ja 1 At
ut•2
e
I
Bt+2
c
a2 b1
29
b2 At+1
At+2
Abbildung 2: Kausalmodell der Beziehungen zwischen zwei verbalen Einstellungsmessungen und einer Verhaltensreaktion (Alwin 1973)
Mit der zusätzlichen Messung der Einstellung (V1 +1) und den erforderlichen Annahmen ist es möglich, zu Schätzungen von a, b und c zu kommen. Die Pfadschätzungsgleichungen für dieses Modell lauten (wobei V1 = XI> V1+1 = X 2 und B1+2 = X3):
rZ3
= abc
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Für b ergibt sich folgende Lösung:
Durch Einsetzen dieser Lösung in die Gleichung für r 12 erhalten wir:
Und für a: ä = ..fr
12
r
2 3
Ir
13
Die Lösung für c sieht wie folgt aus:
= r23j..f r
1 3
r
1 2
Ir
2 3
Angenommen, es würden in dieser Situation (Abbildung 2) folgende Beziehungen ermittelt: r 12 = 0.30, r13 = 0.20 und r23 = 0.30. Korrelationen dieser Größenordnung sind, wie erwähnt, in der Einstellungs-VerhaltensForschung durchaus üblich. In diesem Fall wären:
ä = 0.67,
b = 0.67, c = 0.67
Das heißt, obwohl die empirischen Korrelationen ziemlich niedrig sind (die erklärte Varianz liegt unter 10 Prozent), würde man sicherlich nicht schlußfolgern, daß die wahre Einstellung instabil sei, daß die Einstellung keine beachtliche Determinante des Verhaltens sei, oder daß die verbale Einstellung eine inadäquate Messung der wahren Einstellung sei. Das in Abbildung 2 dargestellte Modell dürfte aus folgenden Gründen das akzeptabelste sein: In den meisten Fällen wird es leichter sein, zwei zeitverschobene Einstellungsmessungen als zwei Verhaltensmessungen vorzunehmen, weil Einstellungsmeßsituationen leichter zu standardisieren sind als Verhaltensmeßsituationen. Was die zur Identifizierung der Parameter notwendigen Annahmen angeht, so ist die Annahme, daß von der verbalen Einstellungsmessung keine andauernden Effekte auf die wahre Einstellung und auf das spätere Verhalten ausgehen (d = f = 0), plausib-
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ler als die alternative Annahme, daß von Verhaltensreaktionen keine andauernden Effekte auf die wahre Einstellung und/oder das spätere Verhalten ausgehen. Obwohl die Modelle die Realität in dem Sinne vereinfachen, als sie andere Variationsquellen der verbalen Einstellung und des overten Verhaltens außer acht lassen, machen sie doch klar, daß die Überprüfung der Beziehung zwischen der zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessenen Einstellung und dem zu einem bestimmten anderen Zeitpunkt gemessenen Verhalten nicht die von vielen Autoren gezogenen theoretischen Schlußfolgerungen erlauben. Nur wenn zusätzliche Erhebungen durchgeführt werden, etwa entsprechend dem Drei-Wellen-Design des in Abbildung 2 dargestellten Modells, können die sonst unbekannten Parameter geschätzt werden. Die beiden Forschungsarbeiten, die ich als Beispiel zwei und drei ausgewählt habe, untersuchten die wechselseitige Beziehung zwischen der Arbeit und der Persönlichkeit, genauer: zwischen bestimmten Dimensionen der beruflichen Arbeit und bestimmten Facetten der Persönlichkeit des arbeitenden Menschen. Beide Beispiele sind klassische Längsschnittuntersuchungen mit zwei Meßzeitpunkten und einem Zehnjahresabstand zwischen den Messungen; sie stammen von Melvin L. Kohn und Carmi Schooler (1978) und Jeylan T. Mortimer, Jon Lorence und Donald S. Kumka (1986). Man kann sagen, daß die Autoren dieser Untersuchungen nicht nur das gleiche Forschungsinteresse teilen, sondern auch durch eine gemeinsame (sozialisations-)theoretische Perspektive verbunden sind. Das Modell, von dem beide Forschergruppen ausgehen, ist das von Kohn und Schooler (1983) so genannte "learning-generalization model". Es besagt, daß die strukturellen Bedingungen der Arbeit die Erwachsenenpersönlichkeit durch einen kontinuierlichen Prozeß des Lernens und Generalisierens beeinflussen, d.h. daß eine direkte Übertragung der Lehren aus dem Beruf auf die außerberufliche Wirklichkeit stattfindet (anstelle eines indirekten Prozesses der Reaktionsformation oder Kompensation). Das, was jemand an seinem Arbeitsplatz tut, wirkt sich auf sein Denken, seine intellektuelle Flexibilität, sein Selbstwert- und Kompetenzgefühl, seine Wertvorstellungen und seine Orientierungen aus. Menschen, die intellektuell herausfordernde Arbeit verrichten, wenden ihre geistige Kraft nicht nur im Beruf, sondern auch im außerberuflichen Leben an. Sie tendieren zu einer höheren Bewertung der Selbstbestimmung sowohl für sich als auch für ihre Kinder (Slomczynski, Miller und Kohn 1981); sie gehen sogar anspruchsvolleren Freizeitbeschäftigungen nach (Miller und Kohn 1983). Der (Job-)Sozialisations- und Generalisierungsthese steht die keineswegs unplausible (Selbst- und Fremd-)Selektions- und Fithypothese gegenüber, die
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Hans Benninghaus
auf der Annahme beruht, daß die Persönlichkeit geformt werde, noch ehe die berufliche Lautbahn beginnt. Gemäß dieser rivalisierenden Hypothese halten Jobsuchende nach beruflichen Tätigkeiten Ausschau (und werden Jobsuchende für Tätigkeiten ausgewählt), die ihren Kenntnissen, Fähigkeiten, Neigungen usw. am besten entsprechen. Wegen eines universellen Prozesses selektiver Rekrutierung, so die Erklärung, könne es nicht überraschen, daß es statistische Beziehungen zwischen strukturellen Elementen der Arbeit und Eigenschaften der Berufstätigen gebe. Die Selektions- und Fithypothese vermutet einen anderen Effekt als die Sozialisations- und Generalisierungshypothese: Nicht die strukturellen Elemente der Arbeitssituation beeinflussen die Persönlichkeit; vielmehr wird die Erlangung und Ausgestaltung der beruflichen Position wie auch die Ausgestaltung der arbeitsfreien Zeit als von stabilen Persönlichkeitseigenschaften abhängig begriffen. Die Selektions- und Fithypothese hat jedoch große Schwächen. So ist unmittelbar einsichtig, daß die Wahl des Berufes und Arbeitsplatzes durch unterschiedliche Erfahrungen und Berufsqualifikationen, die ihrerseits vom Zufall der Geburt, von ökonomischen Verhältnissen und von verfügbaren sozialen Ressourcen abhängen, eingeschränkt ist. Viele Menschen, zumal Unterschichtangehörige, ergreifen keinen Beruf - sie werden von einem Beruf ergriffen. Des weiteren ist klar, daß die Möglichkeiten des einzelnen, bei der Ausübung seiner Tätigkeit bestimmten Neigungen zu folgen und etwa Selbstbestimmung zu praktizieren, durch objektive Gegebenheiten des Arbeitsplatzes und durch die Definition und Gestaltung der Arbeitsprozesse begrenzt sind. Und wenn Veränderungen von Arbeitsplätzen und Arbeitsaufgaben stattfmden, dann sind diese selten das Ergebnis von Entscheidungen oder auch nur Mitentscheidungen der Beschäftigten, die von diesen Maßnahmen betroffen sind. Die Selektionshypothese geht im übrigen davon aus, daß Jobsuchende über ein umfassendes und genaues Wissen über die Merkmale zahlreicher beruflicher Alternativen verfügen. In Wahrheit ist dieses Wissen, zumal in Zeiten raschen Wandels vieler Berufe (Jobs) und Tätigkeitsmerkmale, unvollständig und überdies weitgehend stereotypisiert (vgl. das Stereotyp "die Beamten"). Schließlich setzt die These von der selektiven Rekrutierung unbeschränkte Möglichkeiten der Wahl zwischen alternativen Arbeitsplätzen (in der Region) voraus, die faktisch nicht gegeben sind, schon gar nicht in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und akuten Mangels an beruflichen Ausbildungs plätzen. Obwohl die angeführten Schwächen gegen die Selektions- und Fithypothese sprechen, kann nicht einseitig zugunsten der Sozialisations- und Generalisierungshypothese interpretiert werden, was oft genug empirisch nachgewiesen wurde, nämlich "a congruence between occupational characteristics and personality traits" (Mortimer und Simmons 1978, S.445). Vielmehr ist
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davon auszugehen, daß beide Prozesse wechselseitig wirksam sind, (a) ein Prozeß der selektiven Rekrutierung und (b) ein Prozeß der Sozialisation durch Arbeit. Kohn und Schooler (1978) waren die ersten Forscher, die diese Hypothese mit geeigneten Längsschnittdaten überprüften. Ihre Langzeitanalyse (siehe Abbildung 3) demonstriert, was keine Querschnittanalyse leisten kann, nämlich daß die Beziehung zwischen der substantiellen Komplexität der Arbeit und der intellektuellen (ideationalen) Flexibilität des Individuums in der Tat reziprok ist. Dabei hat die inhaltliche Komplexität einen zeitgleichen Einfluß (.17) auf die geistige Beweglichkeit. Hingegen hat die geistige Beweglichkeit einen verzögerten Einfluß (.45) auf die Komplexität der Arbeit. Normalerweise ist ein Pfadkoeffizient von .17 nicht besonders beeindruckend, doch ein anhaltender Einfluß von dieser Größe auf ein so stabiles Phänomen wie die geistige Beweglichkeit (.71) hat sehr wohl Gewicht, d.h. der kumulative Effekt ist erheblich stärker als der unmittelbare Effekt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Man beachte, daß der Einfluß der geistigen Beweglichkeit auf die inhaltliche Komplexität (.45) vollständig verzögert ist, d.h. es ist die frühere geistige Beweglichkeit (die von 1964), nicht die gegenwärtige, die einen signifikanten Einfluß auf die inhaltliche Komplexität der Tätigkeit (der von 1974) hat. So zeigt die Analyse der longitudinalen Daten, daß die Beziehung zwischen der inhaltlichen Komplexität der Arbeit und der geistigen Beweglichkeit des arbeitenden Menschen über die Zeit hinweg tatsächlich wechselseitig ist. Dabei ist die Wirkung der inhaltlichen Komplexität auf die geistige Beweglichkeit schneller: Die Anforderungen der gegenwärtigen Tätigkeit wirken sich auf die gegenwärtigen Denkprozesse aus. Hingegen hat die geistige Beweglichkeit einen verzögerten Einfluß auf die inhaltliche Komplexität: Die gegenwärtige geistige Beweglichkeit hat keinen Einfluß auf die gegenwärtige Tätigkeit, aber sie hat einen beträchtlichen Einfluß (.45) auf die weitere berufliche Karriere. Ähnlich wie Kahn und Schooler (1983), die sich bei ihren Langzeitanalysen auf Daten stützen konnten, die durch eine nach zehn Jahren wiederholte Befragung eines repräsentativen Sampies zivilberuflich erwerbstätiger Männer aus den USA erlangt worden waren, konnten sich Mortimer, Lorence und Kumka (1986) auf longitudinale Daten stützen, die bei zwei Befragungen junger amerikanischer Männer erlangt worden waren, von denen die erste zur Zeit des College-Abschlusses und die zweite etwa zehn Jahre später
3 Büschges
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.09
Race - - - - - - - -.05
1974
Age - - - - - - - - Substantive - u Complexity .07
'Earlier' substantive complexity
'I
.41
1964 Substantive complexity
.17
.45
1964 ldeational flexibility Age National background Father's education Region of origin
.71 -.14
fixed 61 o.
I
.04 .07
1974 ldeational -u
.OB
Flexibility
Abbildung 3: Reziproke Effekte der substantiellen Komplexität und der intellektuellen (ideationalen) Flexibilität (Kohn und Schooler 1978, 1983)
(1976) durchgeführt worden war - woraus sich ergibt, daß die letztere Befragtenpopulation einen relativ homogenen "highly advantaged sector of the work force" (1986, S.27) repräsentiert. Mortimer, Lorence und Kumka untersuchten u.a. die Frage, in welchem Maße sich die "work autonomy'', eine zentrale Dimension der beruflichen Tätigkeit, auf die "self competence", eine zentrale Facette der Persönlichkeit, bei jungen erwerbstätigen Männern auswirkt. Das in Abbildung 4 dargestellte "reciprocal effects model" unterstützt die Hypothese der Autoren, daß die berufliche Selbstbestimmung signifikante sozialisierende Einflüsse hat.
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Der von der Variablen "work autonomy" auf die Variable "self competence" weisende Pfad ist .229 und signifikant, hingegen der in die entgegengesetzte Richtung weisende Pfad lediglich .042 und nicht signifikant. Dieses Ergebnis legt die Vermutung nahe, daß die berufliche Selbstbestimmung eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Selbstbildes relativ junger (aber bereits erwachsener) Menschen spielt. Der Pfadkoeffizient von .229 - die Autoren nennen ihn "occupational socialization path" - erscheint zwar wiederum als nicht besonders hoch, doch beträgt der Einfluß fast ein Drittel des Stabilitätskoeffizienten (.751), d.h. des direkten Effekts desselben psychischen Konstrukts zum Zeitpunkt des College-Abschlusses.
Self ______._ 75_1_ _ _ _ _ Self Competence Competence
.,y7)
\92/
lntrinsic _ _ _ .2_as_ _ _ Work Values Autonomy
·i
Career Stability
Abbildung 4: Analyse der wechselseitigen Beziehung zwischen der Arbeitsautonomie und der Se/bstlwmpetenz (Mortimer, Lorence und Kumka 1986)
Die Analyse der Längsschnittdaten demonstriert folglich ein weiteres Mal, was keine Analyse von Querschnittdaten leisten kann, daß nämlich die Selbstbestimmung im Beruf einen signifikanten Einfluß auf die Entwicklung des Gefühls der eigenen Kompetenz hat.
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4. Probleme von Replikationsuntersuchungen
Beim vierten und letzten Beispiel handelt es sich um die von Howard M. Bahr, Theodore Caplow und Bruce A. Chadwick (1983)durchgeführte ehrgeizige Replikation der berühmten "Middletown studies" des Ehepaars Helen M. und Robert S. Lynd (1929, 1937). Der besondere Vorzug dieser "Middletown 111" genannten Replikation aus den Jahren 1976-79 ist darin zu sehen, daß die replizierenden Forscher an eine "baseline study" ("Middletown I") aus den Jahren 1924-25 anknüpfen konnten, die außergewöhnlich gut dokumentiert ist und die auf nicht weniger als fünf systematischen Surveys der Lynds basiert: "The Lynds, in Middletown I, carried out five systematic surveys - a remarkable achievement for that day. They administered a long questionnaire to nearly the entire high-school population, interviewed a sample of 164 housewives about family life, sent a questionnaire to every voluntary association they could find and another to all of Middletown's ministers, and collected descriptive budgets from a sample of working-class families" (Bahr, Caplow und Chadwick 1983, S.246). Die später (im Jahre 1935) von den Lynds durchgeführte Replikation "Middletown in Transition" ("Middletown II") kann hier ebenso übergangen werden wie darauf verzichtet werden kann, auch nur die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung des sozialen Wandels in einer amerikanischen Mittelstadt zu referieren. Hier sollen nur zwei kritische Punkte von methodischem Interesse (für Längsschnittuntersuchungen) angesprochen werden, nämlich eine Schwachstelle der Lyndschen Forschungsarbeit und eine Versuchung der replizierenden Sozialforscher, auf die Bahr, Caplow und Chadwick mit schonungsloser Offenheit hinweisen. Die Schwachstelle betrifft den Versuch der beiden Lynds, rückblickend (im Jahre 1924) ein Bild der Stadt Middletown, wie sie im Jahre 1890 aussah, zu zeichnen. Bahr, Caplow und Chadwick kritisieren dieses Unterfangen mit folgenden harten Worten: "Die Methode, den sozialen Wandel zu studieren, indem man die Gegenwart analysiert und versucht, die Vergangenheit aus der Gegenwart zu rekonstruieren, ist derart unzuverlässig, daß wir ihre Nützlichkeit bezweifeln" (1983, S.248), um dann auszuführen: "Unsere lange Beschäftigung mit der Lyndschen Rekonstruktion Middletowns im Jahre 1890 als eine 'baseline' für den sozialen Wandel bis 1924 stimmt uns skeptisch. Wir wissen nicht genau, was an ihrem Bild Middletowns im Jahre 1890 falsch ist, aber es überzeugt uns nicht mehr. Man erhält beispielsweise keine Antwort auf Fragen wie diese: Waren Middletowns Fabrikarbeiter im Jahre 1890 zufriedener als 1924? Waren die Kinder ihren Eltern gegenüber gehorsamer? Wieviel Unterstützung erhielten aus dem Arbeitsleben ausgeschie-
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dene Arbeiter von ihren erwerbstätigen Kindern? Veränderte sich zwischen 1890 und 1924 der Anteil der Wähler Middletowns, die politischen Clubs angehörten? Sobald man derartige Fragen stellt, erweist sich die Lyndsche Rekonstruktion Middletowns als eher impressionistisch denn faktisch". 1 Daß eine retrospektive Untersuchung sozialen Wandels, insbesondere des Wandels von Einstellungen, Werten und subjektiven Erfahrungen, höchst anfällig für Fehleinschätzungen ist, rührt wahrscheinlich daher, daß die vereinfachten Modelle sozialen Wandels, die derartigerekonstruktive Bemühungen leiten, eine größere Konsistenz erwarten, als man sie normalerweise vorfmdet, wenn man den Wandel eines sozialen Systems mit Hilfe geeigneter empirischer Daten, die zu verschiedenen Zeitpunkten erfaßt wurden, untersucht. Als Bahr, Caplow und Chadwick das taten und sich auf Daten der Lyndschen "baseline study" und die ihrer eigenen "replication" stützten, um Middletown im Jahre 1977 mit Middletown im Jahre 1924 zu vergleichen, entdeckten sie keine konsistenten Trends der Egalisierung, Säkularisierung, Bürokratisierung und Depersonalisierung, wie sie von verschiedenen Theorien des sozialen Wandels nahegelegt werden. Statt eines generellen Trends in Richtung auf eine Egalisiernng zeigten die Daten zwar eine signifikante Egalisierung der Ausbildungsleistung, aber eine signifikante Ungleichverteilung ("disequalization") des Einkommens und eine nur geringe Veränderung der beruflichen Ungleichheit. Anstelle einer Säkularisiernng gab es eine signifikante Zunahme der Kirchenbesuche, der kirchlichen Einrichtungen pro Kopf, der kirchlichen Beiträge pro Familie sowie des Einflusses und des Prestiges der Geistlichen (der Kirchengemeindeführer). Zugleich bezeugen die Daten einen signifikanten Rückgang des Bibellesens, eine Verkürzung der Gottesdienstzeit und eine Abnahme der religiösen Erziehung. Die religiöse Endogamie nahm ab, während die Zahl der kirchlichen Trauungen zunahm. Es gab eine beträchtliche Zunahme der religiösen Toleranz, aber eine sehr viel stärkere politische Beteiligung im Rahmen kirchlicher Organisationen. Statt eines einheitlichen Trends in Richtung auf eine Bürokratisiernng wurde eine größere Streuung der Arbeitskräfte auf kleinere Arbeitsorganisationen festgestellt, während die Aktivitäten föderativer Agenturen, im Jahre 1924 ziemlich unbedeutend, 1977 an jeder
1 Bahr I Caplow I Chadwick 1983, S.248. Die Autoren bekräftigen ihre erheblichen Bedenken und Vorbehalte gegenüber dieser Vorgehensweise mit dem Hinweis darauf, daß William Lloyd Warncrs retrospektive Rekonstruktion der Stadt "Yankee City" im 19. Jahrhundert von Thernstrom (1964) und anderen Kritikern (Themstrom und Sennett 1969) mit Hilfe von Zensusmaterialien und anderen spärlichen, aber zeitgenössischen Daten "vollständig zerstört worden" sei.
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Ecke der Stadt zu finden waren. Statt einer ständig zunehmenden Mobilität wurde bei Arbeiterfamilien eine Abnahme, bei Mittelschichtfamilien hingegen eine nur geringe Veränderung der horizontalen Mobilität beobachtet, des weiteren eine abnehmende Migration, eine abnehmende berufliche Intragenerationenmobilität, aber eine zunehmende berufliche Intergenerationenmobilität Was die vermutete Depersonalisierung betrifft, so pflegten die Bürger Middletowns im Jahre 1977 mehr verwandtschaftliche Kontakte als 1924, sie betätigten sich weniger in Logen und politischen Clubs, aber mehr in Bürgervereinigungen, und sie waren weniger mit lokalen Berühmtheiten vertraut. Die eheliche Zufriedenheit war 1977 größer, und der Abstand zwischen den Generationen hatte sich im Laufe von 50 Jahren verringert. Die Scheidungsrate war angestiegen, die Frauen arbeiteten außer Hauses, und es hatte eine sexuelle Revolution stattgefunden. Angesichts dieser Ergebnisse sprechen die Autoren von einer "konsistenten Tendenz zur Inkonsistenz", die sich auch auf kleinere Details der Kultur erstreckte. So war die Winterkleidung der Männer im Jahre 1977 praktisch nicht von der des Jahres 1924 zu unterscheiden, während die der Frauen sehr verschieden war. Die normale Sommerkleidung beider Geschlechter war 1977 sehr viel einfacher als 1924, die Sport- und Freizeitkleidung hingegen sehr viel elaborierter. Im Hinblick auf die Trinkgewohnheiten und bezüglich vorehelicher sexueller Aktivitäten gab es 1977 mehr Freizügigkeit, bezüglich außerehelicher sexueller Aktivitäten und nicht bezahlter Schulden eine annähernd gleiche Permissivität. Hingegen wurde bei Automobildelikten und beim Suchtmittelmißbrauch sehr viel weniger Nachsicht geübt. Hieraus ziehen die Autoren den bemerkenswerten Schluß: "Die Fakten des sozialen Wandels in einer lokalen Gemeinde sind intellektuell schwerer handhabbar als die Mythen, die wir uns zurechtlegen, wenn unsere Imaginationen nicht mit harten Daten überprüft werden" (1983, S.249 f.). Bahr, Caplow und Chadwick kritisieren nicht nur die rekonstruktiven Bemühungen der Lynds, sondern sprechen auch mit seltener Offenheit von eigenen Fehlern, die sie bei ihrer Replikation machten. Leider hätten sie abweichend von der bekannten Forderung Otis Dudley Duneans (1%9), nach der "the same question should be put to respondents in the same way and in the same context on both occasions of measurement" (S.10) - der Versuchung nachgegeben, bestimmte Fragebogen- und Interview-ltems der Lynds, wenn auch nur geringfügig, zu verändern, "to bring them up to date" (1983, S.247). Wenn diese "unnötigen Verbesserungen" kurz vor einer vollständigen Revision der Originalmeßinstrumente haltgemacht hätten, dann "more by luck than design". Glücklicherweise seien bei der Replikation genügend viele Fragen wortwörtlich wiederholt worden, so daß auf der Basis dieser unver-
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änderten Fragen Einstellungs- und Verhaltensmuster der Heranwachsenden Middletowns im Jahre 1977 mit denen ihrer Großeltern hätten verglichen werden können. Die meisten Fragen der Lynds über die Arbeit, das Familienleben, die Erziehung, die Glaubensvorstellungen, die Freizeit und die Beteiligung am kommunalen Leben seien ohne jede Textveränderung wiederverwendet worden. Das habe einen direkten Vergleich der sozialen Muster Middletowns in den zwanziger und siebziger Jahren ermöglicht. Rückblickend seien die Veränderungen der Originalmeßinstrumente zwar zu bedauern, doch seien sie nicht so gravierend gewesen, daß sie die Replikation unterminiert hätten. Weshalb die Replikation beinahe unterminiert worden wäre, liegt auf der Hand: Bei Mißachtung des Diktums, die "errors" der Originaluntersuchung ebenso zu wiederholen wie die "good ideas" (Duncan 1969, S.27), "kann jede Veränderung nicht nur als Wandel gedeutet werden, sondern auch als Artefakt der veränderten Verfahren" (Allerbeck und Hoag 1984, S.757). Deshalb ist Duncan (1969, S.27) zuzustimmen, wenn er urteilt, daß "a replication is probably not worth doing unless one has serious intention to replicate."
S. Resümee
Längsschnittuntersuchungen implizieren Messungen, die im Zeitablauf wiederholt werden. Ihr Ziel ist die Gewinnung und Analyse von Daten, deren zeitliche Folge geklärt ist. Damit erleichtern sie kausale Schlußfolgerungen. Diese Vorteile lassen longitudinale Untersuchungen als unverzichtbar erscheinen. Das gilt jedenfalls für Fragestellungen, wie sie im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen, die hier als Beispiele ausgewählt wurden. Die Kausalmodelle des ersten Beispiels machen klar, daß wichtige theoretische Fragen nur dann angegangen und einer Lösung zugeführt werden können, wenn mehr als zwei Meßzeitpunkte vorgesehen werden. Insbesondere zeigen die Modelle, daß die von vielen Autoren aus den üblichen ZweiWellen-Untersuchungen der Einstellungs-Verhaltens-Forschung gezogenen theoretischen Schlußfolgerungen (daß Einstellungen instabil seien, daß verbalisierte Einstellungen notwendig inadäquate Messungen "wahrer" Einstellungen seien und daß Einstellungen keine zentralen Determinanten des Verhaltens seien) unzulässig sind.
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Hans Benninghaus
Als strikte Längsschnittuntersuchungen, deren Daten in einem Zehnjahresabstand erhoben wurden, demonstrieren die Beispiele zwei und drei, was keine Querschnittuntersuchung leisten kann: Zwischen zentralen Merkmalen der beruflichen Tätigkeit und zentralen Facetten der Persönlichkeit bestehen in der Tat wechselseitige Beziehungen. Beide Langzeitanalysen unterstützen sowohl die Sozialisationsthese, wonach sich die Arbeit unmittelbar (d.h. zeitgleich) auf die Persönlichkeit auswirkt, als auch die Selektionsthese, wonach sich Persönlichkeitseigenschaften auf den Verlauf der Berufskarriere ( d.h. verzögert) auswirken. Als Replikation der klassischen "Middletown Studies" zeigt schließlich Beispiel vier, daß Untersuchungen des sozialen Wandels nicht auf "empirical data of good quality collected at different times" verzichten können. Darunter sind Daten zu verstehen, die mit unveränderten Meßinstrumenten erhoben werden. Da retrospektive Rekonstruktionen von der Annahme konsistenter Trends ausgehen und dem Verdacht ausgesetzt sind, verzerrte Bilder der sozialen Realität zu zeichnen, stellen sie keinen Ersatz für "gute Daten" dar.
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II. Basic Human Capital Earnings Functions: Specitication, Reestimation and Application in Decomposing the Gender lncome Gap 1 Von Norman Braun
1. lntroduction
Sociologists have a long tradition in studying phenomena and processes of social stratification. Many quite different aspects of social stratification have drawn their attention and virtually any aspect of inequalities between human beings has been studied to some degree. There exist more or less precise theories for the explanation of cultural, economic, social structural, ethnic or gender differences in modern societies. In principle, two basic approaches to stratification research can be distinguished, viz. the functional approach (e.g. Davis and Moore 1945) and the conflict approach (e.g. Dahrendorf 1959). The former approach is a version of an inequalitarian argument which asserts that in any society there are some positions that are of greatest importance and that require the greatest amount of training or talent. To ensure that these important positions are ftlled by the most qualified persons, there must be inequalities in the distribution of social rewards as income, status, and power. Accordingly, stratification is seen as the unconsciously evolved device by which societies ensure that there is an optimal matehing process between differently qualified actors and differently important social positions. The persons who receive the highest reward are those who perform the tasks most important for a smooth functioning of society and who have the most talent or the best training. The conflict perspective can be seen as mainly in opposition to the functional approach. Being derived from the writings of Marx, conflict theory 1
I would like to thank Thomas Voss for helpful suggestions. Remaining errors are mine.
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Norman Braun
sees society as an arena of combating group struggles over the distribution of scarce resources, where the groups' "social power" is seen as the significant key to the final allocation of those resources. The common idea underlying much of the work being clone in that direction is that the more powerful get the most of the scarce resources, the associated privileges and the related opportunities. From this point of view, justifications of inequality seem to be nothing eise than convenient rationalizations by those who get the most. These two general approaches do not only allow to structure most of the sociological writings on stratification. Rather, they are also the ultimate groundings for most of the economic Iiterature on income attainment. The conflict perspective has its outgrowth in Marxian Economics, whereas the functional point of view underlies the neoclassical theory of work income determination. It is the lauer theory which will be focussed in this paper. Clearly, work income represents one of the most important stratification variables in modern industrial societies. lt is easy to measure and it constitutes a sufficiently precise measuring rod for differences in individual endowments and consumption opportunities. We will focus upon the question for individual determinants of work income and test some propositions derived by neoclassical economists in human capital theory. This theory is, in its most basic version, based on the assumption that there exists a perfectly competitive Iabor market in which Iabor demand is the consequence of profitmaximizing factor-input decisions of neoclassical firms and Iabor supply results from optimal consumption plans and time allocation decisions of utility maximizing workers. Given Iabor supply and demand, an optimal real wage rate is determined by the Iabor market equilibrium. Starting from the condition for that equilibrium, human capital theory identifies some observable variables that may affect the marginal productivity of Iabor supply and thus individual earnings. The reason for restricting attention to human capital theory is simple. This theory seeks to explain much with only a few variables and it is formulated in mathematical terms. In contrast to most of the relevant sociological approaches, mathematical theorizing led there to empirically testable regression equations, viz. the schooling model (e.g. Mincer 1974 or, for a different derivation of a similar model within a supply and demand framework, Becker 1975) and Mincer's (1974) equation. The propositions will be tested on data from the General Social Survey 1987, where the reestimations concern both male and female annual earnings. The observed considerable average income difference between fulltime employed white men and warnen
Basic Human Capital Eamings Functions
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will be decomposed and discrimination towards women will be identified as the main source for the earnings gap. It is useful to derive before the relevant regression equations.
2. Theory
Neoclassical economists have developed a theory of income determination that essentially consists of three subtheories and their interrelations. These subtheories refer to the different sides of the Iabor market, supply and demand. The demand side of that market is explained by the help of marginal productivity theory, whereas the supply side of the market has a "quantity" aspect associated with the theory of rational individual time allocation, and a "quality" aspect which is the subject of human capital theory. Assuming perfectly competitive Iabor and product markets, the process of wage determination is the result of the equilibrium between Iabor supply and demand. This equilibrium determines the market-clearing wage rate so that there is an optimal quantity of working time or Iabor input fulfilling the optimizing plans of both workers and firms. Every worker gets paid an optimal wage in the sense that he can buy the desired bundle of commodities. That is, he can realize the utility maximum at the boundary of bis opportunity set. Every firm maximizes its profits by the cost minimal input rule "factor price = marginal productivity x product price" and the relevant output rule "product price = marginal costs of production". Moreover, each firm produces at the boundary of its production technology, so that its production process is also efficient. Everything what is offered on both Iabor and product markets is sold and the capital market is balanced, too. In this highly idealized picture of an economy, there is an optimal wage rate, an optimal quantity of Iabor input, an optimal product price, an optimal quantity of the produced commodity, and an optimal market interest rate (instead of refering to scalars, one can extend this statement to non-negative real vectors in finite-dimensional spaces). Every actor in that economy has reached bis individual optimum in terms of utility or profit. Given neoclassical technology, every firm produces at minimum costs in the most efficient way. To put it differently, the economy is in a Pareto-optimal state. It is clear that these models and their interrelation in competitive equilibrium theory are far from being a complete map for existing phenomena and processes in real Iabor and product markets. However, as neoclassical
Norman Braun
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economists usually argue, the basic features of these models and the conclusions drawn from them can be expected to be of importance in reality, too. From this point of view, it can be understood why neoclassical economists such as Becker or Mincer built human capital theory on the basis of the described ideas. In cantrast to the theory of optimal time allocation, human capital theory tries to explain the "quality" side of Iabor supply. That is, starting from the assumption that frrms hire and pay workers such that the individual real wage rate equals the marginal productivity of the respective worker (i.e., just a concrete individualized formulation of the above factor input rule ), human capital theory focusses on differential income attainment by individuals as reflecting differences in abilities or skills. Skills are obtained through education and training at a cost in the form of eamings foregone (i.e., opportunity costs) and direct costs of being a student, an apprentice, or a trainee such as expenses for tuition and study materials. Every actor makes rational investment decisions, i.e., he chooses the most prefered combination of schooling or training time and pure working time, so that he can realize the optimal future retums on bis investments. To put it differently, the marginal productivity of Iabor is viewed as a function of human capital investments and the marginal productivity itself determines the realized wage rate. From this theoretical approach several empirical predictions can be derived - examples are the concave shape of the age-earnings profile, the impact of wage differentials on the demand for education, the allocation of training costs for general and specific on-the-job training, explanations for individual income differences and the two regression models we are interested in. To derive the laUer, we rely on surveys of Rosen (1989) and Willis (1986) and we use the following notation:
E F k r s n w W y g x
• individual human capital stock or earnings capacity • marginal productivity of worker "' fraction of earnings capacity devoted to human capital investment • real market interest rate z period of completing school = retirement period "' real wage rate = human capital wealth of worker • individual work income • instantaneous growth rate of E due to human capital investments • periods of the worker's occupational experience
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Given perfectly competitive Iabor and product markets, each firm hires and pays workers in accordance with the input rule w = F. In its most basic version human capital theory assumes that the individual marginal productivity depends positively on school investment, i.e., F(s) with F'(s) >0. Since w = F always holds at the Iabor market equlibrium, it holds also w(s) with w'(s) > 0 and, since w determines income y, y(s) with y'(s) > 0. That is, income is a monotone increasing function of schooling. Consider a continuum of t = O, ... ,s, ...,n consecutive points in time representing the time of school entry (t=O) to the retirement period (t=n), where work life starts immediately after completing schal at t=s. Assuming riskneutrality, each rational individual maximizes bis utility stream by maximizing the present value of human capital wealth W. The latter is, of course, determined by the worker's income y and thus a function of schooling investments. The present value of W in period s is n
W(s)=
J
y(s)exp(-rt)dt = -(y(s)/r) (exp(-rn)-exp(-rs):
s
where exp(-rt) is the continuous time discounting factor. Since n is relatively !arge, exp (-rn) converges to zero. Thus, every actor solves the problern rnax W(s)•(y(s)/r)exp(-rs)
by choosing s suchthat y'(s)/y(s) = r. This means that the marginal internal rate of return on investment in schooling y' jy must be equalized to the market interest rate by the choice of the optimal Ievel of schooling time. Since the capital market is a perfectly competitive one, r is a constant and, thus, the marginal internal rate is too. By choosing an appropriate s, it is always the case that marginal benefits y' jy equal marginal costs r. This familiar result from price theory can be interpreted as a first -order linear differential equation with constant coefflcient and constant term because y'(s) - ry(s) = 0. It is weil known that differential equations ofthat type have the generat solution y(s) =Aexp(rs),
where A denotes an arbitrary constant. Since we want to have a solution that holds also for a person without any schooling, we choose A = y(O), so that we end up with the definite solution
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Norman Braun
y(s)=y(O)exp(rs). lnserting of the defmite solution into the initial optimization problern gives
W(s)=y(O)exp(rs)exp(-rs)/r=y(O)/r.
That is, the optimal human capital wealth is independent of s, i.e. W(s) = W, and thus y(O) = rW. This means that the worker has a Ievel income in amount y(s) = (rW)exp(rs) over the work life cycle, given that he has completed s years of schooling. Taking logarithms, we end up with
ln y(s) =ln (rW) +rs.
This result can be considered as the regression equation associated with the schooling model. Since r = y'(s)/y(s) at any choice of s, the regression coefficient of s may be interpreted as the marginal internal rate on schooling investments. The term In (rW) represents the intercept in the regression equation - defining the earnings capacity as E = rW, we also can interpret the intercept in a theoretically meaningful way. This model deals only with investments in schooling. Mincer (1974) has suggested an extension of the model by incorporating also post-school investments. To describe the more general approach as weil, we need some additional assumptions. Again, we consider a continuum of t = O, ... ,s, ... ,n consecutive points in time beginning from school entry to retirement from work. For notational purposes, however, it is useful to split the continuum into the schooling period O RD > pn > sn
und damit ist unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Präferenzen die Strategie D; ("Defektion"; i = 1,2) für jeden Akteur seine einzige beste Antwort gegen alle Strategien des Partners. Wenn beide Akteure ihre stark dominante Strategie wählen und defektieren, stellen sie sich jedoch schlechter als durch beiderseitige Wahl von C; ("Kooperation"). Sen betrachtet den Fall, daß die Akteure in der Lage sind, die natürliche Präferenzordnung (1) zu ändern oder sich jedenfalls so zu verhalten, als ob sie diese natürliche Präferenzordnung geändert hätten. Für die Repräsentation unterschiedlicher Arten von Präferenzordnungen, die mit den vier Kom-
1 Vgl. Begseimann u.a. 1986 und Raub f Voss 1990 für eine Anwendung des Präferenzänderungsmodells auf die Analyse der Übernahme moralischer Präferenzen durch rationale Akteure.
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Wemer Raub
Akteur 2
c2
02
Ct
Rn. Rn
sn. Tn
Dt
T~ Sn
pn, pn
Akteur 1
Abbildung 1: Das Gefangenendilemma
binationen von (reinen) Strategien im Gefangenendilemma verknüpft sind, läßt sich eine weitere Auszahlungsmatrix (Abbildung 2) verwenden. Die Auszahlungen in dieser Matrix sind mit "e" indiziert, weil sie diejenigen Präferenzen repräsentieren, die das Verhalten der Akteure effektiv steuern. In Sens Analyse können sich in diesen effektiven Präferenzen moralische Gesichtspunkte manifestieren. Dies ist der Fall, wenn es sich bei den effektiven Präferenzordungen um Ordnungen handelt, die unter moralischen Gesichtspunkten anderen Ordnungen vorzuziehen sind (vgl. Sen 1974, S.80) und die in diesem Sinn das Resultat einer moralischen Meta-Ordnung effektiver Präferenzordnungen sind. Wie Sen zeigt, können moralische Erwägungen zu unterschiedlichen effektiven Präferenzordnungen führen. Ein erstes Beispiel sind Präferenzordnungen, die moralische Erwägungen eines kantischen Typs, etwa den kategorischen Imperativ oder andere Verallgemeinerungsprinzipien modellieren. In diesem Fall schreibt die moralische Regel unbedingte Kooperation vor, d.h. Kooperation unabhängig vom Verhalten des Partners. Dieser Typ von Moralität kommt zum Ausdruck in effektiven Präferenzordnungen der Art (2) R·;
: T;
: ~i für mindestens ein i. Es ist hier nicht erforderlich, die Frage zu beantworten, warum der ineffiziente Strategienvektor a 0 von "defektiven" Strategien die Lösung von G ist, nicht aber der effiZiente Vektor ac von "kooperativen" Strategien, der zumindest zu einer schwachen Pareta-Verbesserung führen würde. Grob gesprochen (vgl. Harsanyi 1977: Kap. 7 und 14 für eine allgemeine Diskussion des spieltheoretischen Hintergrunds und Raub und Voss 1986 für Hinweise im Zusammenhang mit dem vorliegenden Kontext) wird ac entweder kein (Nash) Gleichgewicht von G sein (wie im Fall des Gefangenendilemmas) oder aber ac erfüllt bestimmte Stabilitätseigenschaften nicht, welche Gleichgewichte erfüllen müssen, die als Lösungen in Frage kommen. Nachdem wir die zugrundeliegende problematische soziale Situation spezifiZiert haben, nehmen wir nun an, daß die Akteure über einen Commitment-Mechanismus verfügen, der es ihnen erlaubt, ihre natürlichen Präferenzen zu modifizieren. Für die Modeliierung und die Analyse von Änderungen der natürlichen Präferenzen und der Wahl von effektiven Präferenzen verwenden wir ein Präferenzänderungsspiel G' in Normalform. Dieses Spiel ist ein N-Personen Spiel, in dem die Strategien Oi der Spieler Wahlen von effektiven Präferenzordnungen über dem Strategienraum ~von 9 Büschges
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Wemer Raub
G sind. Effektive Präferenzordnungen werden repräsentiert durch (kardinale) effektive Auszahlungsfunktionen uei( a ). Die Akteure wählen in G • ihre effektiven Ordnungen Oi simultan. Unser Ziel wird es sein, die Wahl solcher Ordnungen durch rationale Akteure zu untersuchen und dabei v.a. die Frage zu beantworten, ob solche Akteure Ordnungen wählen werden, die zur Folge haben, daß der kooperative Strategienvektor ac die Strategienlösung von G im Hinblick auf die gewählten effektiven Präferenzen der Spieler ist. Wie wählen rationale Akteure ihre effektiven Präferenzordnungen? Ausgehend von der Annahme, daß Wahlen effektiver Präferenzen abhängen von ihren Folgen für die Realisierung natürlicher Präferenzen, werden diese Wahlen bestimmt werden durch die Folgen für die Ausgänge von Spiel G. Diese Ausgänge lassen sich im Hinblick auf die natürlichen Auszahlungen der Akteure bewerten. Auf diese Weise können rationale Akteure effektive Präferenzen unter dem Gesichtspunkt ihrer natürlichen Präferenzen bewerten. Mit 0 = (Oh···•ON) notieren wir einen Vektor von Strategien im Präferenzänderungsspiel G•. Oi ist die effektive Präferenzordnung von Akteur i für das effektive Spiel Ge, wobei Ge jenes Spiel se~ welches sich aus G ergibt, wenn die natürliche Auszahlungsfunktion U 0 i( a) eines jeden Akteurs ersetzt wird durch die effektive Auszahlungsfunktion uei( a ), die die effektive Präferenzordnung Oi repräsentiert. Eine Strategienkombination 0 in G• legt auf diese Weise die Auszahlungsfunktionen der Akteure im effektiven Spiel Ge fest und damit auch die Normalform von Ge. In diesem Sinn bestimmen Wahlen effektiver Präferenwrdnungen in G• die Anreizstruktur des effektiven Spiels. Für das effektive Spiel wird die Standardannahme eines nichtkooperativen Spiels mit vollständiger Information verwendet.' Das heißt insbesondere, daß die effektive Präferenzordnung eines jeden Akteurs allen (anderen) Akteuren bekannt ist (bzw. ihnen bekannt gemacht wird), nachdem die effektiven Präferenzordnungen gewählt wurden und bevor das effektive Spiel selbst gespielt wird. Jeder Akteur spielt das effektive Spiel so, als ob seine effektiven Präferenzen seine "wahren" Präferenzen wären.
1 Die Annahme eines effektiven Spiels mit vollständiger Information läuft v.a. darauf hinaus, daß jeder Akteur seine eigene Auszahlungsfunktion und die Auszahlungsfunktionen seiner Partner für das effektive Spiel kennt. Das bedeutet wiederum, daß Akteure im Präferenzänderungsspiel a• keine gemischten Strategien (Wahrscheinlichkeitsverteilungen über effektiven Präferenzordnungen) wählen können. Die Berücksichtigung von effektiven Spielen mit unvollständiger Information wäre natürlich eine sehr interessante Erweiterung der vorliegenden Analyse.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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Eine Lösungstheorie für nichtkooperative Spiele spezifiziert die Strategiewahlen rationaler Akteure in solchen Spielen.1 Wendet man eine Lösungstheorie auf das effektive Spiel Ge an, kann man also die Strategiewahlen rationaler Akteure in diesem Spiel ableiten. Die Anwendung einer Lösungstheorie auf das effektive Spiel ergibt eine Strategienlösung a' = (a •17 ... , a 'N) des effektiven Spiels mit effektiven Präferenzordnungen 0 = (0 17 ... ,0N). Man kann nun für jeden Akteur i die natürliche Auszahlung un;(a') bestimmen, die für i mit a' verbunden ist. Diese natürlichen Auszahlungen un;( a ') sind dann die Auszahlungen der Akteure im Präferenzänderungsspiel G'. Wir betrachten also rationale Akteure i, die sich so verhalten als ob sie die Konsequenzen effektiver Präferenzordnungen in der beschriebenen Weise antizipieren. Die Auszahlungen U';(O) = U';(0 1, ...,0N) dieser Akteure im Präferenzänderungsspiel G' sind jene natürlichen Auszahlungen, die mit denjenigen Strategien a' 17 ...,a 'N verbunden sind, die Elemente der Strategienlösung a' des effektiven Spiels Ge sind, falls 0 17 ... ,0N die effektiven Präferenzordnungen sind. Damit können wir die Normalform des Präferenzänderungsspiels G' charakterisieren durch Strategienmengen der Spieler als Mengen von Präferenzordnungen 0; für das effektive Spiel Ge und durch Auszahlungsfunktionen U';(O). Abbildung 3 enthält eine schematische Darstellung der Entscheidungssituation der Akteure im Präferenzänderungsspiel G'. Es wird angenommen, daß es sich auch bei G' um ein nichtkooperatives Spiel handelt. Bindende und extern erzwingbare Vereinbarungen über die Wahl von effektiven Präferenzordnungen sind damit ausgeschlossen. Der Grund für diese Annahme entspricht dem Argument für die Voraussetzung, daß das zugrundeliegende Spiel G selbst ein nichtkooperatives Spiel ist und folgt dem Einwand gegen die Zwangslösung des Ordnungsproblems. Bindende und externerzwingbare Vereinbarungen über effektive Präferenzen mögen Präferenzänderungen erleichtern und Pareto-Optimalität (auch im Hinblick auf natürliche Präferenzen) sichern. Wir wollen aber gerade vermeiden, daß das Problem der Präferenzänderungen trivialisiert wird durch die Annahme von Möglichkeiten der externen Erzwingbarkeit von Verein-
1 Zwei
Beispiele für allgemeine Lösungstheorien für nichtkooperative Spiele stammen von I Selten 1988. Die Theorie von Harsanyi 1977, Kap. 6, 7, 14 zeichnet als Lösungen Gleichgewichtspunkte aus, wenn diese bestimmte Stabilitätsbedingungen erfüllen, oder aber (wenn solche Gleichgewichtspunkte nicht existieren) Maximinpunkte. Die neuere Theorie von Harsanyi I Selten 1988 führt stets auf einen Gleichgewichtspunkt als Lösung. Eine besonders einfache Lösungstheorie für nichtkooperative 2x2-Spiele ist die Theorie der natürlichen Ergebnisse von Rapoport I Guyer 1966, in der entweder Gleichgewichtspunkte oder Maximinpunkte Lösungen sind.
Harsanyi 1977 und von Harsanyi
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Wemer Raub
barungen, welche wir ihrerseits nicht endogen erklären können. Wir nehmen in der Tat an, daß Akteure über Commitment-Mechanismen verfügen, die es den Akteuren erlauben, sich im effektiven Spiel im Einklang mit ihren effektiven Präferenzordnungen zu verhalten. Wir nehmen außerdem an, daß jeder Akteur die effektiven Präferenzen aller Akteure kennt. Wir setzen aber keine Möglichkeiten für bindende und extern erzwingbare Vereinbarungen über effektive Präferenzen voraus. Commitments auf effektive Präferenzen müssen daher selbsttragend sein. Solche Commitments sind im hier untersuchten Kontext außerdem ausschließlich durch die Verfolgung natürlicher Neigungen beeinflußt.
b) Weitere Annahmen für die Analyse des Präferenzänderungsspiels: Einige Sensitivitätsprobleme
Die bislang eingeführten Annahmen reichen für eine Analyse des Verhaltens der Akteure im Präferenzänderungsspiel G' noch nicht aus. Für diese Analyse werden vielmehr drei weitere Arten von Annahmen benötigt, die exogene Bedingungen im Hinblick auf die Entscheidungssituation der Akteure in G' betreffen. Diese exogenen Bedingungen lassen sich Abbildung 3 entnehmen. Zunächst müssen Eigenschaften der Normalform des zugrundeliegenden Spiels G näher spezifiziert werden, insbesondere Eigenschaften des Strategienraums E und der natürlichen Auszahlungsfunktionen un;( a ). Wir benötigen außerdem eine Spezifikation der Strategienmengen der Akteure im Präferenzänderungsspiel G', also eine Spezifikation der Menge der wählbaren effektiven Präferenzordnungen 0;. Schließlich müssen wir Annahmen über Eigenschaften der Lösungstheorie für das effektive Spiel machen, die wir verwenden, um für gegebene effektive Präferenzen die Strategiewahlen der Spieler im effektiven Spiel a• abzuleiten. Im Zusammenhang mit der Formulierung von Annahmen dieser Art tauchen verschiedene Probleme auf, insbesondere Sensitivitätsprobleme. Ein erstes Problem betrifft die Spezifikation des zugrundeliegenden Spiels G. Es ist gewiß zweckmäßig, bei der Analyse von Präferenzänderungsspielen G' zunächst sehr einfach strukturierte zugrundeliegende Spiele G anzunehmen, also z.B. davon auszugehen, daß G ein klassisches 2-Personen Gefangenendilemma ist. Resultate, die sich ausgehend von dieser einfachen Annahme ergeben, sind sicher nicht ohne Interesse. Dennoch wäre es wünschenswert, darüber hinaus auch festzustellen, ob sich ähnliche (oder aber gänzlich andere) Resultate ergeben, wenn man zugrundeliegende problematische Si-
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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Abbildung 3: Die Entscheidungssituation im Präferenzänderungsspiel G'
tuationen unterstellt, die mit dem klassischen 2-Personen Gefangenendilemma nicht adäquat modelliert werden können. Ein zweites Sensitivitätsproblem betrifft die Robustheit der Ergebnisse im Hinblick auf verschiedene Mengen wählbarer Präferenzordnungen im Präferenzänderungsspiel G'. Man würde zweifellos zögern, aus der Analyse des Modells weiterreichende Schlüsse zu ziehen, wenn sich ergeben sollte, daß die Modelloutputs, also Wahlen von effektiven Präferenzordnungen, sehr stark abhängen von Modifikationen der Menge wählbarer Präferenzordnungen.
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Wemer Raub
Eine allgemeinere Lösung dieser ersten beiden Sensitivitätsprobleme wird erst im fünften Teil dieses Beitrags vorgestellt werden. Wir werden also die Analyse von Präferenzänderungsspielen mit sehr einfachen und restriktiven Annahmen im Hinblick auf beide Probleme beginnen, um so einen klaren ersten Eindruck zu bekommen, was in diesen Spielen geschieht. Ein drittes Sensitivitätsproblem, welches noch schwerwiegender als die beiden bereits erwähnten ist, können wir jedoch unmittelbar untersuchen. Dieses Problem bezieht sich auf die Lösungstheorie, die auf das effektive Spiel angewendet wird. Es ist bekannt, daß unterschiedliche Lösungstheorien bei vielen nichtkooperativen Spielen auch zu unterschiedlichen Lösungen führen 1• Es liegt dann die Befürchtung nahe, daß die Ergebnisse von Präferenzänderungsspielen sehr sensitiv sind im Hinblick auf Modifikationen bei den Annahmen für die Lösung des effektiven Spiels. In diesem Fall würden aber die Ergebnisse in hohem Maße von umstrittenen technischen Feinheiten der Theorie nichtkooperativer Spiele abhängen und das würde die Plausibilität des Modells erheblich beeinträchtigen. Wir müssen also auf die Robustheil der Resultate relativ zu Annahmen über die Lösung nichtkooperativer Spiele achten. Um Robustheil zu sichern, bietet sich es sich an, nicht mit einer bestimmten Lösungstheorie für alle Arten nichtkooperativer Spiele zu arbeiten. Vielmehr beschränken wir uns auf einige wenige und sehr einfache allgemeine Annahmen über die Lösung des effektiven Spiels, von denen problemlos angenommen werden kann, daß sie Teil einer jeden Lösungstheorie sem werden, die überhaupt minimalen Adäquatheilskriterien genügt. Annahmen über die Lösung nichtkooperativer Spiele:
(A 1)
Die Strategienlösung eines nichtkooperativen N-Personen Spiels ist ein Gleichgewichtspunkt oder ein Max:iminpunkt.
(A 2)
Eine Strategienkombination a = (a1> ...,aN) ist Strategienlösung eines nichtkooperativen N-Personen Spiels, wenn für jeden Akteur i seine mit a verbundene Auszahlung Uj( a) das eindeutige Maximum aller möglichen Auszahlungen ist, wenn also Uj( a) > Uj( a') für alle Strategienkombinationen a' 9= a.
Spieltheoretisch dürfte (A 1) unumstritten sein. Diese Annahme setzt keine spezifische Antwort auf das zentrale Problem voraus, wie aus einer Menge von Gleichgewichtspunkten ein bestimmter Gleichgewichtspunkt als Lösung
1 Das gilt z.B. für die drei Lösungstheorien, die in der vorangegangenen Anmerkung genannt wurden.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
135
eines Spiels auszuwählen ist. Die Annahme ist außerdem neutral im Hinblick auf die Frage, ob die Lösung eines nichtkooperativen Spiels auch dann ein Gleichgewicht sein muß, wenn alle Gleichgewichtspunkte bestimmten Stabilitätsbedingungen nicht genügen. Ungeachtet der schließliehen Entscheidung derartiger Fragen wird man sich kaum eine adäquate Lösungstheorie vorstellen können, die weder zu Gleichgewichtspunkten noch zu Maximinpunkten als Lösungen führt. Man betrachte nun Eigenschaften einer Strategienkombination a, die (A 2) erfüllt. Eine solche Strategienkombination ist ein starker Gleichgewichtspunkt (i.S. von Harsanyi 1977, S.104, d.h. jeder Akteur verwendet seine einzige beste Antwort gegen die Strategien der anderen Akteure). Außerdem ist a die einzige Pareto-optimale Strategienkombination, also auch der einzige Pareto-optimale Gleichgewichtspunkt Natürlich ist a auch für jeden Akteur ein profitabler Gleichgewichtspunkt ( a ist für jeden Akteur mit einer höheren als seiner Maximinauszahlung verbunden, vgl. Harsanyi 1977, S.106). Schließlich wird a von jedem Akteur strikt präferiert gegenüber allen anderen Strategienkombinationen, also auch gegenüber allen anderen Gleichgewichtspunkten die das Spiel haben mag. Obwohl also a im allgemeinen weder das einzige Gleichgewicht des Spiels noch zugleich ein Maximinpunkt sein wird, erfüllt a doch jedenfalls sehr weitgehende Stabilitätsbedingungen für Gleichgewichtspunkte in nichtkooperativen Spielen (vgl. Harsanyi 1977, S.124 ff. und S.273 ff. für eine Diskussion solcher Bedingungen). Zudem sind mit a keinerlei nichtkooperative EffiZienz-, Verhandlungs- oder Koordinationsprobleme verbunden (vgl. Harsanyi 1977, S.127 ff.). Eine unmittelbare Konsequenz der Annahme (A 2) ist natürlich, daß beiderseitige Kooperation Lösung von Sens Assurance Game wird. Die Annahmen (A 1) und (A 2) sind Implikationen verschiedener Lösungstheorien, die sich ansonsten in vielen Hinsichten unterscheiden und man mag vermuten, daß jede ernstzunehmende Lösungstheorie diesen Annahmen genügen wird.' Die beiden Annahmen zeichnen nur für wenige nichtkooperative Spiele sehr einfacher Struktur eindeutig eine bestimmte Strategienlösung aus. Dennoch - und das mag überraschen - sind sie für die Zwecke unserer Analyse hinreichend.
1
Die Lösungstheorien, die in Anmerkung 4 genannt wurden, enthalten (A 1) und (A 2).
Es gibt übrigens noch einen weiteren Vorteil der Einfachheit von (A 1) und (A 2). Wir
untersuchen Strategiewahlen rationaler Akteure, die sich so verhalten als ob sie Annah.men wie (A 1) und (A 2) bei der Antizipation der Folgen ihrer Entscheidungen im Präferenzänderungsspiel G' verwenden. Skrupel hinsichtlich zu starker Unterstellungen über solche "als ob"-Fähigkeiten legen es nahe, diese Annahmen so einfach wie möglich zu halten.
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4. Zwei einfache Beispiele Wir beginnen nun die Untersuchung des Präferenzänderungsspiels G' mit der Analyse einiger Spezialfälle. Diese ergeben sich, wenn man erstens voraussetzt, daß das zugrundeliegende Spiel G ein klassisches 2-Personen Gefangenendilemma mit der in Abbildung 1 dargestellten Normalform ist. Strategienkombinationen in G haben also die Form a = ( a.,a 2), wobei ai eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über {Ci,Di} ist. Insbesondere gilt a 0 = (a 0 .,a 0 2) = (D 1,D2) und ac = (ac.,ac2) = (C.,C2). Die entsprechenden natürlichen Auszahlungen sind dann un( a 0 ) = (~..~2) = (Pn,Pn) und un( a~ = (x'\,x"2) = (Rn,Rn). Wir setzen für unsere Spezialfälle des Präferenzänderungsspiels zweitens voraus, daß die Mengen der in G' wählbaren Strategien lediglich die von Sen diskutierten effektiven Präferenzordnungen enthalten. Auf diese Weise ergeben sich zwei einfache Fälle. Als erstes Beispiel für ein Präferenzänderungsspiel G' betrachten wird eine Situation, die bereits im Zusammenhang mit den in Sens Modell ungelösten Anreizproblemen eine Rolle spielte. Jeder Akteur i ist in der Lage, zwischen zwei effektiven Präferenzordnungen zu wählen. Eine dieser Ordnungen, die wir mit oci notieren, erfüllt Bedingung (2), d.h. R"i ~ s•i > T"i ~ P"i. Die effektive Präferenzordnung oci führt also dazu, daß Kooperation i's stark dominante Strategie im effektiven Spiel ist. Die zweite für i im Präferenzänderungsspiel wählbare effektive Präferenzordnung wird mit 0°i notiert und entspricht der Ordnung der natürlichen Auszahlungen. 0°i ist also eine effektive Ordnung mit (4) T"i > R"i > P"i > s·i· Die effektive Präferenzordnung 0°i ändert also die natürliche Präferenzordnung nicht. Wenn i diese Ordnung wählt, dann ist Defektion seine stark dominante Strategie im effektiven Spiel. Wie werden sich rationale Akteure im Präferenzänderungsspiel G' verhalten, wenn sie zwischen Ordnungen oci und 0°i wählen können? In diesem Fall hat jeder Akteur im effektiven Spiel stets eine stark dominante Strategie. Die Kombination der stark dominanten Strategien ist der einzige Gleichgewichtspunkt und zugleich der einzige Maximinpunkt des effektiven Spiels. Wegen Annahme (A 1) muß also die Kombination dieser dominanten Strategien auch die Strategienlösung des effektiven Spiels sein. Abbildung 4 können wir als die extensive Form von G' für den Fall betrachten, daß oci und 0°i die wählbaren effektiven Präferenzordnungen sind. Im jeweiligen
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
137
ersten Zug wählt jeder Akteur eine der beiden möglichen effektiven Präferenzordnungen, ohne die entsprechende Wahl des Partners zu kennen. Der (triviale) zweite Zug repräsentiert die (antizipierten) Züge im effektiven Spiel. Ein Akteur wählt diejenige Strategie im effektiven Spiel, die sich aus (A 1) und den im ersten Zug gewählten effektiven Präferenzordnungen ergibt. Hat also etwa Akteur 1 im ersten Zug oc1 gewählt, Akteur 2 hingegen 0°2, dann ist a· = (ChD 2) die Strategienlösung für das effektive Spiel und die Spieler erwarten, daß genau diese Strategien im jeweils zweiten Zug gewählt werden. Die Auszahlungen an den Endknoten des Baumes sind die natürlichen Auszahlungen, die den Lösungen des effektiven Spiels entsprechen. Die erste Auszahlung ist jeweils die für Akteur 1, die zweite die für Akteur 2. Für unser Beispiel gibt Abbildung 5 die Normalform des Präferenzänderungsspiels a· an. Zeilen und Spalten repräsentieren also Wahlen effektiver Präferenzordnungen.
Für dieses Beispiel ergibt sich, daß das Präferenzänderungsspiel a· selbst ein Gefangenendilemma ist mit 0°; als stark dominanter Strategie für jeden Akteur. Wir erhalten also das Resultat, daß rationale Akteure 0°; in a· wählen werden, wenn ihre wählbaren effektiven Präferenzordnungen 0°; und Oe; sind. Rationale Akteure werden sich also nicht endogen solche effektiven Präferenzen zu eigen machen, die Kooperation ermöglichen, wenn diese effektiven Präferenzen dazu führen, daß Kooperation dominante Strategie wird. Ein Akteur, der unter diesen Umständen seine natürlichen Präferenzen ändern würde, könnte ausgebeutet werden. In einer solchen Situation würden also rationale Akteure ihre natürlichen Präferenzen nicht modifizieren und wären daher auch nicht in der Lage, effiziente Resultate zu erreichen. Ungeachtet aller Simplizität macht unser erstes Beispiel für ein Präferenzänderungsspiel a· die erheblichen Anreizprobleme deutlich, mit denen rationale Akteure bei der Modifikation von Präferenzen konfrontiert werden. Wir erhalten ein neuerliches Indiz für die allgemeine These, daß Effizienzgewinne durch Präferenzänderungen allein kein ausreichendes Argument für die Annahme von Präferenzänderungen liefern. 1
1 Derartige Anreizprobleme legen skeptische Vermutungen nahe: "Man darf ( ... ) nicht übersehen, daß die Internalisierung faktischer Moralvorstellungen einer Stützung durch gesellschaftlich durchgesetzte moralische Institutionen bedarf, die grundsätzlich 'indoktrinierenden' Charakter besitzen müssen. Denn es kann gerade nicht interessen-rationale Einsicht sein, die die Individuen dazu führt, ihre Werte individuell und gleichsam 'autosuggestiv' zu verändern." (Kliemt 1986, S.181 f.) Wir werden im folgenden zeigen, daß extrem pessimistische Einschätzungen dieser Art zu weit gehen.
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Wemer Raub
1
2
Abbildung 4: Extensive Form von
o·, wenn fY; und oD; wählbare effektive Präferenzordnungen
In unserem ersten Beispiel stehen die Akteure vor der Alternative, ihre natürlichen Präferenzen entweder unverändert zu lassen oder aber sich Präferenzen zu eigen zu machen, die dazu führen, daß Kooperation ihre dominante Strategie wird. Unser zweites Beispiel wirft Licht auf die Möglichkeiten einer bescheideneren Art von Präferenzänderungen. Wiederum nehmen wir an, daß jeder Akteur zwischen zwei effektiven Präferenzordnungen wählen kann. Die der Ordnung der natürlichen Auszahlungen entsprechende effektive Präferenzordnung 0°; ist auch in diesem Beispiel für jeden Akteur eine der beiden wählbaren Ordnungen. Im Gegensatz zum ersten Beispiel wird aber angenommen, daß die Assurance Game Ordnung (3) R"; > 'I'"; > P"; > S"; für jeden Akteur die zweite mögliche effektive Präferenzordnung ist. Diese Ordnung notieren wir mit OAG;· Um die Auszahlungsfunktionen u·;(O) für dieses Präferenzänderungsspiel G• zu bestimmen, wenden wir die Annahmen (A 1) und (A 2) an, um Strate-
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
Akteur 1
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o1
Abbildung 5: Auszahlungsmatrix für G•, wenn Oe; und oD; wählbare effektive Präferenzordnungen
gienlösungen für effektive Spiele mit den Präferenzordnungen (0°1>0°2), (~Gl>~G2) und (0°;,~Gi) abzuleiten. Es ist klar, daß (A 1) wechselseitige Defektion als Strategienlösungjenes effektiven Spiels impliziert, in dem beide Akteure effektive Präferenzordnungen 0°; haben. Wenn die effektiven Präferenzordnungen beider Akteure Assurance Game Präferenzordnungen ~Gi sind, kann (A 2) angewendet werden. In diesem Fall erfüllt nämlich die Strategienkombination (C~>C2) die Bedingungen von (A 2) und ist daher die Strategienlösung a·. Wenn also beide Akteure effektive Assurance Game Präferenzen haben, dann ist beiderseitige Kooperation das Ergebnis des effektiven Spiels. Übrig bleiben effektive Spiele, in denen Akteur i die effektive Präferenzordnung 0°; hat, während j G= 1,2 und j=l=i) die effektive Präferenzordnung ~Gi hat. In diesen effektiven Spielen ist D; stark dominante Strategie für i, während Di einzige beste Antwort von j gegen D; und zugleich einzige Maximinstrategie von j ist. Damit ist (D;,Di) einziger Gleichgewichtspunkt und einziger Maximinpunkt des effektiven Spiels, d.h. (D;,Dj) ist zufolge (A 1) die Strategienlösung a· des effektiven Spiels. Damit können die natürlichen Auszahlungen angegeben werden. Es zeigt sich, daß das Präferenzänderungsspiel G• in diesem zweiten Beispiel ganz andere Eigenschaften als im ersten Beispiel hat. G• ist im zweiten Beispiel selbst kein Gefangenendilemma. Die Strategienkombination, in der beide Akteure die effektive Ordnung 0°; wählen, ist zwar immer noch ein Gleichgewichts- und sogar ein Maximinpunkt, sie ist aber weder das einzige G Ieichgewicht noch der einzige Maximinpunkt. Vielmehr ist ( ~G l>~G2), also die beiderseitige Wahl von Assurance Game Präferenzen ebenfalls ein Gleichgewichtspunkt Die Wahl von Assurance Game Präferenzen ist auch
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Wemer Raub
Maximinstrategie und sogar schwach dominante Strategie. Außerdem hat die beiderseitige Wahl von Assurance Game Präferenzen mehrere weitere Eigenschaften, die der Gleichgewichtspunkt (0°1>0°2) nicht hat. Anders als bei (0°~>0°2) handelt es sich um einen starken Gleichgewichtspunkt, der für beide Spieler profitabel und mit Pareto-optimalen Auszahlungen verbunden ist. (oA0 I>oA0 2) erfüllt sogar die Bedingung von (A 2)!
Akteur 2
Akteur 1
OA~
ao2
oAG
Rn. Rn
pn,pn
oD1
Pn.Pn
Pn. pn
1
Abbildung 6: Auszahlungsmatrix für G', wenn at 0 ; und oD; wählbare effektive Präferenzordnungen sind
Im Hinblick auf das zweite Beispiel ergibt sich also, daß rationale Akteure ihre natürlichen Präferenzen durch die Wahl von Assurance Game Präferenzen als effektiven Präferenzen ändern werden. Sie wählen also effektive Präferenzen, die beiderseitige Kooperation möglich machen. Der wesentliche Grund für dieses Ergebnis ist natürlich, daß ein rationaler Akteur mit Assurance Game Präferenzen im effektiven Spiel zwar kooperiert, wenn der andere Akteur ebenfalls Assurance Game Präferenzen hat, daß er aber nicht durch einen anderen Akteur ausgebeutet werden kann, der seine natürlichen Präferenzen nicht modifiziert: ein rationaler Akteur mit Assurance Game Präferenzen defektiert im effektiven Spiel, wenn Defektion stark dominante Strategie des anderen Akteurs im effektiven Spiel ist. Auf diese Weise kann das Anreizproblem im Zusammenhang mit endogenen Präferenzänderungen gelöst werden. 1 Am Rande sei bemerkt, daß (oA0 1,oA0 ,) sogar ein (trembling hand) perfekter Gleichgewichtspunkt i.S. von Selten ist. Das ergibt sich unmittelbar aus einem Theorem von van Damme 1987, S.48, Theorem 3.2.2. V an DammesTheorem impliziert auch, daß (0°1,0°,) kein trembling hand-perfekter Gleichgewichtspunkt ist.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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5. Ein allgemeines Ergebnis Wir werden nun die Analyse verallgemeinern. Im Hinblick auf Sensitivitätsprobleme sind zwei Arten von Verallgemeinerungen interessant. Es wurde bislang einerseits angenommen, daß das zugrundeliegende Spiel G ein klassisches Gefangenendilemma ist. Bekanntlich können aber zahlreiche problematische soziale Situationen mit diesem sehr einfachen Spiel nicht adäquat modelliert werden (vgl. z.B. Raub 1988). Es ist daher wünschenswert, die Analyse auf komplexere zugrundeliegende Spiele G auszudehnen. Insbesondere wäre es interessant, die Annahme eines 2-Personen Spiels aufzugeben und den allgemeineren Fall von N-Personen Spielen G zu berücksichtigen. Die Annahme, daß Akteure im zugrundeliegenden Spiel G stark dominante defektive Strategien haben, ist ebenfalls sehr restriktiv und sollte aufgelockert werden. Schließlich wäre der Fall zu untersuchen, daß die Akteure im zugrundeliegenden Spiel G mehr als nur zwei reine Strategien haben. Verallgemeinerungen eines zweiten Typs sind auf dem Hintergrund der Ergebnisse der Analyse der beiden Beispiele interessant. Das erste Beispiel mag als ausreichendes Indiz dafür betrachtet werden, daß rationale Akteure nicht in der Lage sind, sich effektive Präferenzordnungen zu eigen zu machen, denen zufolge Kooperation dominante Strategie wird. Demgegenüber ist große Vorsicht geboten bei der Verwendung des zweiten Beispiels für allgemeinere Schlußfolgerungen über endogene Präferenzänderungen. Hier ergibt sich nämlich ein offensichtliches Problem. Es hat sich gezeigt, daß ein Akteur mit effektiven Assurance Game Präferenzen nicht durch einen Akteur ausgebeutet werden kann, der seine natürlichen Präferenzen überhaupt nicht modifiziert. Dies schließt aber noch keineswegs die Möglichkeit aus, daß es andere Arten effektiver Präferenzordnungen gibt, die es sehr wohl erlauben würden, einen Akteur mit Assurance Game Präferenzen auszubeuten. Diese Überlegung führt zum zweiten der oben besprochenen Sensitivitätsprobleme zurück, dem Problem der Robustheit der Ergebnisse relativ zu Modifikationen in den Mengen wählbarer effektiver Präferenzordnungen für die Akteure im Präferenzänderungsspiel G •. Spieltheoretisch gesehen ist das entscheidende Problem die Untersuchung von Optimalitätseigenschaften und Gleichgewichtseigenschaften (der Wahl) von Assurance Game Präferenzen als effektiven Präferenzordnungen. In unserem zweiten Beispiel ist dieWahlvon Assurance Game Präferenzen beste Antwort und in diesem Sinn optimal für Akteur ~ wenn der andere Akteur j ebenfalls Assurance Game Präferenzen wählt. Daher ist beiderseitige Wahl von Assurance Game Präferenzen in diesem Beispiel ein Gleichgewichtspunkt
142
Werner Raub
Bleiben Assurance Game Präferenzen immun gegen Ausbeutungsversuche in dem Sinn, daß sie diese Optimalitäts- und Gleichgewichtseigenschaften behalten, wenn Spieler über andere und im Prinzip über beliebige Mengen wählbarer effektiver Präferenzordnungen verfügen? Im folgenden geben wir ein Theorem über individuell rationale Präferenzänderungen an. Dieses Theorem bezieht sich auf eine recht allgemeine Klasse zugrundeliegender Spiele G. Im Hinblick auf die Menge der im Präferenzänderungsspiel G• wählbaren effektiven Präferenzordnungen werden lediglich relativ schwache Annahmen benötigt. Mit Hilfe von Radners (1980) Verallgemeinerung des Nash-Gleichgewichtsbegriffs läßt sich zeigen, daß verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen individuell rationale Strategiewahlen im Präferenzänderungsspiel G• sein können. Diese effektiven Präferenzen ermöglichen Lösungen des effektiven Spiels G, die auch im Hinblick auf die natürlichen Präferenzen der Akteure optimal sind. Für dieses Theorem benötigen wir zunächst zwei einfache Annahmen im Hinblick auf das zugrundeliegende Spiel G. Im nächsten Schritt definieren wir verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen.
b) Das zugrondeliegende Spiel G Im Hinblick auf die Nonnalfonn des zugrondeliegenden Spiels G verwenden wir die in Abschnitt 3.1 erwähnten Annahmen. Wir nehmen außerdem an, daß die Strategienlösung a 0 = (a 0 1>····a0 N) von G ein Gleichgewichtspunkt relativ zu den natürlichen Präferenzen der Akteure ist. Es gilt also: (5)
uni(ao) = ~i ~ uni(aob····aoi·bai,aoi+b····aoN) für alle i und alle ai. 1
Noch eine weitere Annahme wird benötigt. Wir nehmen nämlich an, daß uni( ac) = x'\, also i's natürliche Auszahlung bei allseitiger Kooperation, die höchste Auszahlung ist, die i erzielen kann, wenn i selbst kooperiert und wenn jeder seiner Partner j die kooperative Strategie aci oder die defektive Strategie a 0 i spielt. Es muß also gelten
1 Die Strategienlösung aD kann im zugrundeliegenden Spiel G zusätzlich auch ein Maximinpunkt sein, muß diese weitere Eigenschaft aber nicht haben.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
143
(6) uni( a') = x'\ :2: uni( aci,aC/O\i) für alle aC/O\i, wobei acfo\i = (acfo., ...,acfoi-bacfoi+ ., ...,acfoN) und ac;oi ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über { aci,a 0 i}. Nunmehr bezieht sich das Präferenzänderungsspiel G' auf ein zugrundeliegendes N-Personen Spiel G, in welchem die Akteure zwar u.U. dominante Strategien haben können, für das aber die Existenz dominanter Strategien nicht vorausgesetzt werden muß. Jeder Akteur kann auch mehr als zwei reine Strategien im zugrundeliegenden Spiel haben. Beispiele, die den Anforderungen an G genügen, sind etwa Schellings (1978: Kap. 1) "uniform multi-person prisoner's dilemmas", wobei zu berücksichtigen ist, daß SeheHing zwar N-Personen Spiele betrachtet, aber auch seinerseits die restriktiven Annahmen von nur zwei reinen Strategien und einer dominanten defektiven Strategie verwendet.
b) Verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen Im nächsten Schritt wird Sens Konzept der Assurance Game Präferenzen verallgemeinert. Sens Assurance Game Präferenzordnungen haben mehrere spezifische Eigenschaften. Zunächst ist für einen Akteur mit Assurance Game Präferenzen Kooperation die einzige beste Antwort gegen einen Partner, der seinerseits sicher oder jedenfalls mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit kooperiert. Zweitens ist Defektion einzige beste Antwort für einen Akteur mit Assurance Game Präferenzen, wenn die Wahrscheinlichkeit der Kooperation des Partners zu gering ist oder wennn der Partner mit Sicherheit defektiert. Drittens ist die mit beiderseitiger Kooperation verbundene Auszahlung die höchste mögliche Auszahlung für einen Akteur mit Assurance Game Präferenzen. Schließlich ist viertens Defektion die einzige Maximinstrategie eines Akteurs mit Assurance Game Präferenzen. Verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen im Hinblick auf das effektive Spiel Ge werden nun so definiert, daß alle vier Eigenschaften erhalten bleiben. Die erste Bedingung für verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen ist, daß i's effektive Auszahlung uei( a~ = ~i bei Kooperation aller Akteure i's eindeutig bestimmte höchste effektive Auszahlung ist, d.h. {7) uei( ac) = ~i > uei( a) für alle a
=f ac.
Diese Bedingung hat mehrere Effekte. Zunächst ist aci, also Kooperation, relativ zu effektiven Präferenzen i's einzige beste Antwort gegen Kooperation aller Partner, also gegen ac\i = (ac., ...,aci-baci+b···•acN)· Demzufolge ist
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Wemer Raub
Kooperation aller Akteure ein Gleichgewichtspunkt im effektiven Spiel G", wenn die effektiven Präferenzen aller Akteure (7) erfüllen. Da nur reine Strategien einzige beste Antworten sein können (vgl. Harsanyi 1977: 102, Lemma 2), müssen also die kooperativen Strategien aci reine Strategien sein. Es dürfte bereits intuitiv klar sein, daß (7) benötigt wird, damit allseitige Kooperation ein individuell rationales Ergebnis des effektiven Spiels G" werden kann. Wie aber bereits die beiden oben behandelten einfachen Beispiele gezeigt haben, werden noch weitere Bedingungen benötigt, die dazu führen, daß die individuelle Rationalität der Kooperation eines Akteurs im effektiven Spiel davon abhängt, daß die effektiven Präferenzen seiner Partner ausreichend strengen Anforderungen genügen. SolcheAnforderungen ergeben sich durch geeignete Eigenschaften der effektiven Präferenzen eines Akteurs im Hinblick auf seine defektive Strategie a 0 i. Für die Angabe dieser Eigenschaften ist die Einführung weiterer Notation nützlich. Man betrachte eine Strategienkombination a\i der Partner j von i und es sei % die Wahrscheinlichkeit, mit der j zufolge aiseine kooperative Strategie aci spielt. Dann ist:
Qi (a\i): =
N
II qj
j
=1
J .,tl die Wahrscheinlichkeit, daß alle Partner von i, gegeben a\i, ihre kooperativen Strategien aci spielen. Für verallgemeinerte effektive Assurance Game Präferenzen verlangen wir, daß (8) u"( a 0 i,a\i) > u"J ai,a\i) für alle ai =!= a 0 i und alle a\i mit Qi( a\i) = 0. Diese Bedingung hat Folgen im Hinblick auf Eigenschaften der defektiven Strategie a 0 i. Wenn i's effektive Präferenzen (8) erfüllen, dann ist seine defektive Strategie a 0 i relativ zu seinen effektiven Präferenzen i's einzige beste Antwort, wenn mindestens ein Partner j seine kooperative Strate&ie aci nicht mindestens mit positiver Wahrscheinlichkeit spielt. Es folgt daraus u.a., daß allseitige Defektion, also die Strategienkombination a 0 , ein Gleichgewichtspunkt des effektiven Spiels G" ist, wenn alle Akteure effektive Präferenzen haben, die (8) erfüllen. Allerdings ist für jeden Akteur die mit allseitiger Defektion verbundene effektive Auszahlung niedriger als die mit allseitiger Kooperation verbundene effektive Auszahlung, wenn die effektiven Präferenzen auch (7) erfüllen. Außerdem hat (8) zur Folge, daß defektive
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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Strategien o 0 ; reine Strategien sein müssen, weil sie andernfalls keine eindeutigen besten Antworten sein könnten.' Die nächste Bedingung für effektive Präferenzen führt dazu, daß im effektiven Spiel Ge nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen über {oc;,o 0 ;} rationale Strategien für Akteur i sein können. Es wird angenommen, daß i's defektive Strategie o 0 ; relativ zu seinen effektiven Präferenzen alle reinen Strategien o; stark dominiert, die von seiner kooperativen Strategie oc; verschieden sind. Wir nehmen also an: (9) ue;( o 0 ;,o\i) > Ue;( CJ;,o\i) für alle o\i und alle reinen Strategien CJ; oc;·
+
Zwei weitere Bedingungen für effektive Präferenzen werden noch benötigt. Die erste besagt, daß im effektiven Spiel G• die maximale effektive Auszahlung für einen Akteur ~ der selbst die defektive Strategie o 0 ; wählt, diejenige ist, die er erhält, wenn alle Partner j kooperieren, also oci wählen. Das ist der Fall, wenn: (10) Ue;( CJ 0 ;,oc\i) = '{; ~ Ue;( CJ 0 ;,o\i) für alle o\i.
Schließlich verwenden wir als letzte Bedingung: (11) o 0 ; ist i's einzige Maximinstrategie relativ zu i's effektiven Präferenzen.
VerallgemeinerteAssurance GamePräferenzordnungen notieren wirweiterhin mit ()AG; und definieren sie als effektive Präferenzordnungen, die die Bedingungen (7)- (11) erfüllen. Aus (A 2) und Bedingung (7) folgt dann, daß die kooperative Strategienkombination ac die Strategienlösung des effektiven Spiels Ge ist, wenn alle Akteure verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen haben. Zu beachten ist auch, daß die oben aufgeführten Merkmale von Sens Assurance Game Präferenzen auch für die Verallgemeinerung gelten. Schließlich implizieren die Bedingungen (7) - (11) (12) Re; > T'';
~
pe; > Se;
für die Auszahlungen eines Akteurs im dem klassischen 2-Personen Gefangenendilemma zugeordneten effektiven Spiel.
1 Die Bedingung, daß sowohl die kooperativen Strategien tP; als auch die defektiven Strategien tP; reine Strategien sein müssen, dürfte im Hinblick auf das zugrundeliegende Spiel G eine der restriktivsten Bedingungen unseres Modells sein. Sie führt dazu, daß die hier vorliegende Analyse nicht angewendet werden kann auf solche nichtkooperativen Spiele mit ineffizienten Lösungen, in denen ac; oder tP; für mindestens einige Akteure echt gemischte Strategien sind.
10 Büschges
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c) Epsilon-Gleichgewichte im Präferenzändero.ngsspiel Wir kehren nun zum Präferenzänderungsspiel G • zurück. Es stellt sich die Frage, ob in G. die Wahl verallgemeinerter Assurance Game Präferenzen, die zu allseitiger Kooperation führen würde, individuell rational sein kann. Außerdem ist zu prüfen, ob die Antwort auf diese Frage von restriktiven Annahmen im Hinblick auf in G. wählbare effektive Präferenzordnungen abhängt. Für die Klärung dieser Probleme verwenden wir die folgende Annahme über die Strategienmengen der Spieler im Präferenzänderungsspiel G·: (A 3)
Für alle Akteure sind alle 1 verallgemeinerten Assurance Game Präferenzordnungen wählbare Ordnungen im Präferenzänderungsspiel G·.
Diese Annahme ist in wichtigen Hinsichten nicht restriktiv. Mit ihr ist vereinbar, daß die Strategienmengen der Spieler in G• außer verallgemeinerten Assurance Game Präferenzordnungen alle logisch möglichen effektiven Präferenzordnungen enthalten oder beliebige Teilmengen dieser Menge von Ordnungen. Wir setzen außerdem nicht etwa voraus, daß die Strategienmengen verschiedener Spieler für G• identisch sind. Wenn man lediglich die Annahmen (A 1) und (A 2) zusammen mit (A 3) verwendet, läßt sich wenig sagen über Gleichgewichtspunkte aus verallgemeinerten Assurance Game Präferenzordnungen im Präferenzänderungsspiel G·. Das ist auch nicht überraschend, weil (A 3) im Prinzip eine Untersuchung der Strategienlösungen aller logisch möglichen effektiven Spiele Ge erfordert. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß (A 1) und (A 2) lediglich für eine kleine Teilmenge dieser Spiele eine eindeutige Lösung erzeugen. Das überraschende Resultat ist, daß selbst mit den schwachen Annahmen (A 1), (A 2) und (A 3) ein recht weitgehendes Resultat über Eigenschaften von verallgemeinerten Assurance Game Präferenzen gewonnen werden kann, wenn man eine Verallgemeinerung des Nash Gleichgewichtsbegriffs für das Präferenzänderungsspiel G• verwendet. Diese Verallgemeinerung geht auf Radner (1980) zurück. Im Rahmen einer Theorie begrenzter Rationalität führt Radner den Begriff des Epsilon-Gleichgewichts ein. Diese Verallgemeinerung des üblichen Nash Gleichgewichtskonzepts geht von der Idee aus, daß sich
1 Man
beachte, daß wir für das effektive Spiel kardinale Auszahlungsfunktionen annehmen.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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Akteure mit Strategien begnügen, die gegen die Strategien der anderen Akteure Auszahlungen liefern, die hinreichend dicht bei den optimalen Auszahlungen liegen, ohne daß die optimalen Auszahlungen selbst erreicht werden müssen. Epsilon-Gleichgewichte sind Kombinationen von in diesem Sinn "befriedigenden" Strategien. Für die Präzisierung dieser Idee (vgl. für eine kurze Diskussion Radner 1980, S.153 f.) betrachte man Strategienvektoren 0 = (O~>···•ON) im Präferenzänderungsspiel G'. Strategienkombinationen der Akteure j =f i werden notiert mit 0\i = (O~>···•Oi. 1 ,0i+~>····ON), so daß 0 = (Oi,O\i). Sei weiterhin e ::!: 0. Wir definieren dann (vgl. Radner 1980, S.137,145): Oi ist f}-beste Antwort gegen 0\i := U'(Oi,O\i) Strategien O'i von Akteur i. 0 = (Oi,O\i) ist 0\i für alle i.
~Gleichgewichtspunkt
::!:
U'(O'i,O\i) - e für alle
: = Oi ist e-heste Antwort gegen
Es ist klar, daß beste Antwort-Strategien 0-beste Antworten und Nash Gleichgewichtspunkte 0-Gieichgewichtspunkte sind. Wir können nun ein allgemeines Theorem für das Präferenzänderungsspiel G' angeben. Theorem: Unter den Annahmen (A 1), (A 2) und (A 3) gibt es für jedes e > 0 verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen ~Gi• so daß ~G (~G1> ... ,~G N) in G' ein e-Gleichgewichtspunkt ist. Beweis: Raub (1990, S.89 ff.).
Dieses Theorem zeigt, daß die schwachen Annahmen (A 1) und (A 2) über die Lösung des effektiven Spiels G• ausreichen, um zu zeigen, daß verallgemeinerteAssurance Game Präferenzen eine interessante Eigenschaft haben, die nicht abhängig ist von der Menge der ansonsten wählbaren effektiven Präferenzordnungen: Wenn sich alle Partner eines Akteurs geeignete verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen zu eigen machen, dann kann der Akteur höchstens e gewinnen, falls er selbst keine verallgemeinerten Assurance Game Präferenzen wählt. Es liegt nahe, e als den Anreiz für einen Akteur zu interpretieren, sich selbst keine verallgemeinerten Assurance Game Präferenzen zu eigen zu machen, wenn alle Partner ihrerseits solche Präferenzen wählen. Akteure, die verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen wählen, können diesen Anreiz e beliebig klein machen. Auf diese Weise können in problematischen sozialen Situationen endogene Präferenzänderungen unter rationalen und gegebenenfalls vollständig
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Wcrner Raub
egoistischen Akteuren entstehen. Solche Präferenzänderungen können beruhen auf der allseitigen Übernahme von verallgemeinerten Assurance Game Präferenzen. Diese geänderten effektiven Präferenzen machen individuell rationale Kooperation möglich, die auch im Hinsicht auf die natürlichen Präferenzen der Akteure kollektiv rational ist. Die allseitige Wahl solcher geänderten effektiven Präferenzen ist Epsilon-Gleichgewicht in einem strategischen Kontext, der Möglichkeiten für die Modifikation von Präferenzen bietet, wobei die Modifikationen allein abhängen von den zugrundeliegenden natürlichen Interessen der Akteure. Dieses Resultat ist in mehreren Hinsichten robust. Es hängt nicht ab von umstrittenen spieltheoretischen Annahmen (Lösungstheorien) im Hinblick auf die Folgen effektiver Präferenzen für individuelles Verhalten im effektiven Spiel. Es hängt auch nicht ab von spezifischen Annahmen über die Menge der wählbaren effektiven Präferenzordnungen. Zwei verschiedene, wenn auch ähnliche Interpretationen bieten sich an für die Epsilon-G leichgewichtseigenschaftvon verallgemeinertenAssurance Game Präferenzen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen stabil in dem Sinn sind, daß der positive Anreiz e für eine Abweichung von diesen Präferenzen bei verallgemeinerten Assurance Game Präferenzen der Partner beliebig klein gemacht werden kann. Ebenso ließe sich zeigen, daß ein Akteur durch Wahl geeigneter verallgemeinerter Assurance Game Präferenzen auch den Verlust beliebig klein machen kann, den er erleiden würde, wenn die anderen Akteure nicht ebenfalls Assurance Game Präferenzen wählen. Eine andere Interpretation stellt ab auf die Beziehung des EpsilonGleichgewichtskonzepts zur Theorie begrenzter Rationalität. In dem hier betrachteten strategischen Kontext können sich Akteure verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen zu eigen machen, wenn sie sich mit Auszahlungen zufrieden geben, die genügend dicht bei ihren optimalen Auszahlungen liegen, diese aber im allgemeinen nicht erreichen. Radner (1980, S.153) hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Grund für ein solches Verhalten liegen könnte in "the various costs of discovering and using alternative strategies, and (... ] the possibility that a truly optimal response might be more costly to discover and use than some alternative, 'nearly optimal' strategy. In this interpretation the 'epsilon' (... ] represents ajudgement (... ] that the additional benefits from improving [the] strategy would be outweighed by the additional costs." Die (mögliche) Komplexität des Präferenzänderungsspiels G' unter Annahme (A 3) kann eine derartige Argumentation stützen und plausibel machen: Man betrachte dazu lediglich den Fall, daß die Strategienmenge eines jeden Akteurs tatsächlich alle logisch möglichen effektiven Präferenwrdnungen umfaßt.
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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6. Voraussetzungen für die Änderung von Präferenzen Es hat sich gezeigt, daß selbst egoistische Akteure in problematischen sozialen Situationen effektive Präferenzen wählen können, die allseitige Kooperation erlauben. Insbesondere kann individuell rationales Verhalten dazu führen, daß sie sich (verallgemeinerte) Assurance Game Präferenzen zu zeigen machen. Dieses Resultat gilt allgemein. Es bezieht sich auf das 2-Personen Gefangenendilemma, auf N-Personen Spiele vom Gefangenendilemma-Typ und auf andere spieltheoretische Modelle problematischer sozialer Situationen.
Aus unserer Analyse ergeben sich drei strategische Bedingungen für Kooperation durch Präferenzänderungen. Zunächst muß die Menge der wählbaren effektiven Präferenzordnungen verallgemeinerte Assurance Game Präferenzen enthalten. In gewisser Weise bestätigt dies die Intuition, daß Kooperation rationaler Akteure in problematischen sozialen Situationen nur bedingte Kooperation sein kann. Assurance Game Präferenzen führen zur Kooperation mit Partnern, die sich solche Präferenzen ihrerseits zu eigen gemacht haben. Assurance Game Präferenzen führen aber gerade nicht zur Kooperation gegen Partner, die geeignete Änderungen ihrer natürlichen Präferenzen vernachlässigt haben (vgl. das zweite Beispiel in Abschnitt 4). Akteure mit Assurance Game Präferenzen haben keinen Anreiz zur Ausbeutung ihrer Partner, es gibt aber andererseits für defektierende Partner auch keine Möglichkeit, einen Akteur mit Assurance Game Präferenzen auszubeuten. Zwei weitere strategische Voraussetzungen beziehen sich auf die Infonnationen der Akteure. Wir haben angenommen, daß das effektive Spiel ein Spiel mit vollständiger Infonnation ist. Dies ist eine konservative Annahme, die "klassische Spiele" i.S. von Harsanyi (1977) auszeichnet. Vollständige Information im Hinblick auf das effektive Spiel bedeutet, daß jeder Akteur im Präferenzänderungsspiel G. seine effektiven Präferenzen unter der Annahme wählen muß, daß es im effektiven Spiel unmöglich sein wird, seine "wahren" effektiven Präferenzen zu kaschieren bzw. daß "Mimikry'' im Hinblick auf effektive Präferenzen mit prohibitiv hohen Kosten verbunden ist. Die Annahme der vollständigen Information hat Folgen für Anreize, andere Akteure über die eigenen effektiven Präferenzen zu täuschen und für Anreize, von einer gegebenen effektiven Präferenzordnung abzuweichen. Wenn es möglich wäre, die eigenen effektiven Präferenzen zu kaschieren, würden Anreize für Betrugsversuche entstehen. Man betrachte z.B. zwei Akteure in einem zugrundeliegenden Spiel G, das ein klassisches 2-Personen Gefangenen-
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Wemer Raub
dilemma ist. Es sei angenommen, daß einer der beiden Akteure sich effektive Assurance Game Präferenzen zu eigen gemacht hat. Die wahre effektive Präferenzordnung des anderen Akteurs sein vom Typ 0°i, entspreche also seinen natürlichen Auszahlungen. Wenn dieser letztere Akteur seinen Partner glauben machen könnte, daß er ebenfalls Assurance Game Präferenzen übernommen hat, könnte er sich besser stellen. Er könnte nämlich im effektiven Spiel defektieren und seinen kooperierenden Partner ausbeuten. Die Annahme der vollständigen Information schließt derartige Mimikry aus. Weitere Konsequenzen ergeben sich aus der Annahme der vollständigen Information für ein verwandtes Anreizproblem. Man betrachte wiederum den Fall des klassischen 2-Personen Gefangenendilemmas. Ein Akteur, der effektive Präferenzen vom Typ des Assurance Game übernommen hat, interagiere mit einem Partner, der ebenfalls Assurance Game Präferenzen übernommen hat, der nun aber erwägt, sein Commitment im Hinblick auf diese effektiven Präferenzen zu ändern und statt dessen effektive Präferenzen zu übernehmen, die dazu führen daß Defektion eine dominante Strategie im effektiven Spiel wird. Die Struktur des hier betrachteten Spiels führt unter der Annahme der vollständigen Information dazu, daß es für einen solchen "Abweichler" nicht möglich ist, den Akteur mit Assurance Game Präferenzen auszubeuten, weil dieser im effektiven Spiel auch seinerseits unmittelbar zur Defektion übergehen würde. Es gibt nicht nur keine Anreize von effektiven Assurance Game Präferenzen abzuweichen, sondern sogar positive Anreize, ein Commitment auf Assurance Game Präferenzen einzugehen. Ein solches Commitment zahlt sich aus in dem Sinn, daß eine höhere Auszahlung relativ zu den natürlichen Präferenzen erreicht wird. In diesem Sinn ist das Commitment auf Assurance Game Präferenzen tatsächlichselbsttragend. Dies zeigt auch, daß das Commitment-Problem im Präferenz-Änderungsspiel G' in einer spezifischen Hinsicht weniger schwerwiegend ist als die Commitment-Probleme, die bei Schelling vorwiegend untersucht werden. Schelling beschäftigt sich mit Verhandlungssituationen, in denen jeder Akteur einen Anreiz hat, "als erster" ein Commitment einzugehen bzw. ein "stärkeres" Commitment einzugehen als der Partner. Das ist Folge des Umstands, daß Schelling (1960, S.21) das Verteilungsproblem bei Verhandlungen untersucht: Akteure müssen sich auf eine von mehreren verschiedenen Pareto-effizienten Auszahlungskombinationen einigen, so daß die Präferenzen der Akteure hinsichtlich dieser Auszahlungskombinationen nicht übereinstimmen (das "payoff-distribution problem" bei Harsanyi 1977, S.128 ff.). Derjenige Akteur, dem es gelingt, "zuerst" ein Commitment einzugehen oder ein "stärkeres" Commitment einzugehen, ist in der Lage eine Lösung des Verteilungsproblems durchzusetzen, die günstig für ihn selbst und ungünstig für den Partner ist. Im hier untersuchten Kontext sind Commitments für die Lösung
Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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von Verteilungsproblemen nicht erforderlich. Vielmehr geht es hier um das Effizienzproblem bei Verhandlungen (Schelling 1960, S.21). Commitments führen zu beiderseits vorteilhaften und efftzienten Lösungen (vgl. das "joint-efftciency problem" bei Harsanyi 1977, S.127 f.). Das Commitment von Akteur i ist daher nützlich für i und für j. Kein Akteur hat ein individuelles Interesse daran, daß der Partner kein Commitment eingehen kann. Vielmehr hat jeder Akteur ein positives individuelles Interesse, daß der Partner die Möglichkeit für Commitments hat. Die beiden bislang diskutierten Bedingungen (verallgemeinerte Assurance Game Präferenzenals wählbare effektive Präferenzordnungen und vollständige Information im Hinblick auf das effektive Spiel) sichern die Möglichkeit der Kooperation im effektiven Spiel G" auf der Grundlage von (verallgemeinerten) effektiven Assurance Game Präferenzen und stellen sicher, daß ein Akteur mit solchen Präferenzen im effektiven Spiel nicht ausgebeutet werden kann. Kooperation im effektiven Spiel hängt aber noch von einer dritten strategischen Bedingung ab. Diese läßt sich als eine weitere lnfonnationsvoraussetzung auffassen, die sich aus den Merkmalen vonAssurance Game Präferenzen ergibt. Diese Merkmale werden deutlich, wenn man Akteure in einem Gefangenendilemma mit Akteuren in Sens Assurance Game vergleicht. Im Gefangenendilemma hat jeder Akteur eine stark dominante Strategie. Antizipationen hinsichtlich der Strategie des Partners sind daher nicht notwendig für die Wahl der optimalen eigenen Strategie. Akteure im Assurance Game haben demgegenüber keine dominante Strategie. Die Wahl der eigenen Strategie hängt daher ab von der erwarteten Strategie des Partners. Die Akteure müssen einerseits informiert sein über die Präferenzen des Partners. Nur dann können sie überhaupt erkennen, daß wechselseitige Kooperation ein Gleichgewichtspunkt ist. Die Annahme der vollständigen Information im Hinblick auf das effektive Spiel stellt sicher, daß die Akteure ihre Präferenzen wechselseitig kennen. Ein zusätzliches Problem entsteht aber dadurch, daß es mehr als einen Gleichgewichtspunkt gibt. Ein rationaler Akteur wird daher nur dann seine kooperative Strategie wählen, wenn er über ausreichende Informationen darüber verfügt, daß sich sein Partner auch selbst rational verhalten wird. Wechselseitige Informationen darüber, daß das Verhalten des Partners üblichen Rationalitätspostulaten für Situationen strategischer Interdependenz genügt, stellen sicher, daß das Prinzip wechselseitig erwarleter Rationalität (Harsanyi 1977) erfüllt ist. Diese Informationen führen zu konvergierenden wechselseitigen Erwartungen hinsichtlich der Wahl der kooperativen Alternative. Auf diese Weise wird verhindert, daß Akteure ihre nichtkooperative Maximinstrategie spielen (vgl. Raub und Keren, im Erscheinen, für empirische Evidenz im Zusammenhang mit dem Problem wechselseitig erwarteter Rationalität).
Wemer Raub
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In gewisser Hinsicht führt die Analyse des Präferenzänderungsspiels G • auf ein Dilemma. Kooperation wird am einfachsten erreicht von Akteuren mit effektiven Präferenzen, die Kooperation zu einer dominanten Strategie machen. Ist Kooperation (stark) dominante Strategie für jeden Akteur, dann wird allseitige Kooperation selbst dann entstehen und stabil bleiben, wenn eine Reihe von Informationsbedingungen nicht erfüllt ist. Diese Art unbedingter Kooperation setzt aber entweder eine extreme und unplausible Restriktion der Menge der wählbaren effektiven Präferenwrdnungen voraus (diese darf zumindest keine Präferenzordnungen enthalten, die Defektion zur dominanten Strategie im effektiven Spiel machen) oder irrationales Verhalten der Akteure. In einer Situation ohne derartige a priori-Einschränkungen der Menge der effektiven Präferenzordnungen ist es für rationale Akteure unmöglich, "unbedingt" zu kooperieren. Rationale Akteure, die im Hinblick auf ihre strategische Situation "aufgeklärt" sind, können nur "bedingt" kooperieren. Das Dilemma entsteht dadurch, daß Kooperation in diesem letzteren Fall brüchiger wird. Das liegt daran, daß die Informationsvoraussetzungen erheblich restriktiver werden.
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Endogene Präferenzänderungen als Kooperationsmechanismus
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Wemer Raub
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VII. 'Time-Sampling'-Verfahren f"ür Zeitbudgetuntersuchungen Von Werner Schulte
1. Einleitung: Der Faktor 'Zeit' im Auswahlprozeß
Zeit ist eine Schlüsselkategorie in der Gesellschaft. Die Ökonomisierung des Zeitfaktors in Bereichen der Produktion und Reproduktion1 hat seine Bedeutung in der empirischen Sozialforschung weiter verstärkt. Die Diskussion von sozialwissenschaftliehen Erhebungs- und Analyseveifahren für zeitbezogene Fragestellungen2 hat keine Parallele in der Berücksichtigung angemessener Auswah/methoden. Zeitbezogene Auswahlverfahren, wie sie vereinzelt in ökonometrischen Publikationen erörtert werden/ sind in der soziologischen Methodendiskussion kaum verankert.4 Im folgenden soll dieser vernachlässigte Aspekt der Zeit in sozialwissenschaftliehen Auswahlverfahren in den Mittelpunkt gerückt werden. Am Beispiel von - in der Regel deskriptiv ausgerichteten - Zeitbudgetuntersuchungen wird gezeigt, wie ein Auswahlplan aussehen könnte, der nicht nur eine Wahrscheinlichkeitswahl (Zufallsauswahl) ist, sondern zugleich auch den Zeitfaktor angemessen berücksichtigt. 1 Zeit begriffen als Rationalisierungsgröße, Effiziemkriterium oder Ordnungsfaktor schlechthin.
2 Bezüglich der Analyseverfahren ist hier zum Beispiel auf Diekmann und Mitcer 1984, Andress 1985 und Blossfeld u.a. 1986 und die dort zitierte Literatur zu verweisen. 3 Zu nennen wäre hier zum Beispiel die Arbeit von Lee 1976 zu den Verfahren "Laufender Stichprobenerhebungen mit Hilfe von Rotationsstichproben". 4 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Rosander 1977. Die Stichprobenproblematik von zeitbezogenen Untersuchungen taucht in der soziologischen Methodendiskussion u.a. im Zusammenhang mit Panel-Erhebungen auf. Dann aber unter dem Aspekt, wie man bei der Analyse und Interpretation der Daten mit dem Problem der u.a. zeitbedingten Ausfalle von Erhebungseinheiten zu verfahren hat.
156
Wemer Schulte
Die Frage der Repräsentativität ist nicht in jedem Fall empirischer Forschung von Bedeutung. Sie stellt sich vor allem in Untersuchungen, deren Ergebnisse (Merkmalsgrößen und -Verteilungen) nicht nur für die erforschte Population (der Erhebungsauswahl) zutreffen sollen, sondern für die gesamte Population, die durch die Erhebungsauswahl stellvertretend erforscht wird (also für die Grundgesamtheit). Sie stellt sich also nicht bei Vollerhebungen, in denen die gesamte Population in die Untersuchung einbezogen wird, oder bei Erhebungen, in denen es vorrangig darauf ankommt, erste Informationen über ein Untersuchungsfeld zu erheben (explorative Untersuchungen). Die Repräsentativität einer Erhebungsauswahl hat dagegen nur eine nachrangige Bedeutung in Untersuchungen, die primär zum Ziel haben, Zusammenhänge im Sinne von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu erforschen (analytische UntersuchungenV Zu unterscheiden sind zwei Gruppen grundsätzlich verschiedener Verfahrensweisen zur Bestimmung repräsentativer Erhebungsauswahlen. 2 Die einen werden zusammenfassend als Auswahlen nach Gutdünken bezeichnet. Charakteristisch für diese Verfahrensweisen, zu denen die gezielte Auswahl und die quotenkontrollierte Auswahl gezählt werden, ist, daß der Forscher bereits vorab Kenntnisse über relevante3 Merkmalsverteilungen der Grundgesamtheit besitzen muß, um den Auswahlprozeß auf ein bestimmtes, annähernd repräsentatives Ergebnis hin zu steuern. Zu der anderen Gruppe zählen die Verfahren zur Herstellung einer WahrscheinlichkeitsauswahL Für diese ist kennzeichnend, daß die Auswahl nach einem wahrscheinlichkeitstheoretischen Modell vorgenommen wird, durch das sichergestellt werden soll, daß nur der Zufall darüber entscheidet, welche Einheiten ausgewählt werden. Die repräsentative Erhebungsauswahl ist also Ergebnis eines entsprechenden Vorgehens bei der Auswahl.4 Zu den Voraussetzungen dieser Auswahlverfahren gehören genaue Aussagen über die zeitliche, räumliche und sachliche Eingrenzung der Grundgesamtheit Die Probleme der sachli-
1 Das Verhältnis von Untersuchungsziel und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse ist unter der Überschrift Repräsentativität oder Vergleichbarkeit schon von Büschges beschrieben worden. Siehe die Ausführungen in Büschges / Lütke-Bomefeld 1m, S. 278 ff. 2
14 ff.
Ich beziehe mich auch hier auf die zusammenfassende Dan;tellung von Büschges 1961, S.
3 Als relevant werden jene Auswahlmerkmale bezeichnet, von denen man weiß, daß sie mit den zu erhebenden Merkmalen in einem engen Zusammenhang stehen. 4 Vorausgesetzt ist, daß im Verfahren selbst eine Reihe von mathematisch-statistischen und sachlichen Vorschriften eingehalten worden sind, um von einer repräsentativen Erhebungsauswahl sprechen zu können. Vgl. dazu Büschges 1961, S. 93 ff.
'Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
157
eben und räumlichen Definition von Grundgesamtheilen sind bekannt und lassen sich bei konkreten Auswahlen entscheiden.• Für eine zeitliche Eingrenzung trifft dieses noch zu, wenn es um Merkmale geht, die im Zeitablauf relativ invariant sind. In diesem Fall wäre ein Zeitpunkt bzw. ein Zeitraum für die Definition der Grundgesamtheit festzulegen. Wenn aber - die zu erfassenden Merkmale oder die Beziehungen zwischen diesen Merkmalen sich im Zeitablauf verändern oder - die zu erhebenden Merkmale im Zeitablauf entstehen bzw. eine längere zeitliche Dauer aufweisen, muß 'Zeit'2 explizit in ein Auswahlmodell einbezogen werden, so daß Variationen der Merkmalswerte im Zeitablauf sich entsprechend der Verteilung in der Grundgesamtheit im Ergebnis einer Auswahl widerspiegeln. Die zeitlichen Entstehungsbedingungen von Merkmalsverteilungen sind aber für zukünftig auftretende Ereignisse gar nicht oder nur vage vorhersehbar. Deshalb würde eine Auswahl nach Gutdünken (z.B. eine gezielte Auswahl) hinsichtlich der Zeit zu Merkmalsverteilungen führen, über deren Repräsentativität keine gesicherten Aussagen gemacht werden können. Ein Auswahlmodell müßte gewährleisten, daß prospektiv der Zufallsprozeß im Zuge der Auswahl wirksam werden kann. Dieses wird nun am Beispiel von Zeitbudgetuntersuchungen verdeutlicht.
2. Auswahlmethodische Besonderheiten von Zeitbudgetstudien Allgemein geht es in Zeitbudgetuntersuchungen um die Beschreibung oder Abbildung menschlicher Aktivitäten unter Verwendung zeitlicher Kategorien. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß Tätigkeiten - ihr Auftreten an sich, ihre Dauer und ihre Reihenfolge - gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen und sich diese in gruppenspezifisch charakteristischen Zeit-Aktivitäts-Mustern widerspiegeln? Zeitbudgetuntersuchungen werden
1 Dies gilt für Gesellschaften, in denen die Mehrzahl der Bewohner einen "festen Wohnsitz" haben und somit eine Lokalisierung relativ eindeutig möglich ist.
2
Hier verstanden als lineare Kalender- oder Weltzeit.
3
Siehe hierzu vor allem Rjnderspacher 1985.
158
Wemer Schulte
mit mindestens zwei Fragestellungen durchgeführt. Die eine zielt darauf ab, die Zeitverwendung für verschiedene Aktivitäten zu ermitteln. Dieser Ansatz vergleichbar mit Erhebungen zum Geldbudgeti - stellt die Frage heraus, wie 24 Stunden eines Tages (das Zeitbudget) auf verschiedene Aktivitäten aufgeteilt werden. Die zweite Fragestellung zielt auf eine Deskription von Tagesläufen. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Tätigkeiten einer Person auf die 24 Stunden eines Tages verteilt werden: in welcher Reihenfolge und zu welcher Uhrzeit sie mit welcher Häufigkeit und Dauer ausgeführt werden. Ziel wäre demnach zu ermitteln, "wie Personen ihren Tagesablauf zeitlich organisieren: wie Auftreten und Dauer bestimmter Tätigkeiten abhängen von der Tageszeit, von der vorangegangenen Beschäftigung, von anderen Tätigkeiten an diesem Tag überhaupt und von der Art des Tages" (Rosenbladt 1969, S.66). Um das Problem repräsentativer Stichproben bei Zeitbudgetuntersuchungen zu verdeutlichen, ist ein Blick auf den Auswahlprozeß selbst und in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung von Grundgesamtheit und Auswahlgesamtheit notwendig. Zu den Voraussetzungen einer Zufallsstichprobe gehört, daß im Auswahlprozeß stellvertretend für die Einheiten der Grundgesamtheit andere, korrespondierende Einheiten gefunden werden, die einer für ein Zufallsverfahren notwendigen Manipulation unterworfen werden können (die Auswahlgesamtheit). Sind Personen Einheiten der Grundgesamtheit, können zum Beispiel Karteien bzw. Dateien des Einwohnermeldeamtes, Mitgliedslisten von Vereinen oder Organisationen und vergleichbares personenbezogenes Adressenmaterial als Auswahlgesamtheit genommen werden. Bei Zeitbudgetuntersuchungen hat man es jedoch nicht mit Personen als Untersuchungseinheiten zu tun, sondern mit Tagesläufen. Ein Verzeichnis von Tagesläufen, das als Auswahlgesamtheit dienen könnte, liegt jedoch nicht vor. Die Frage stellt sich, ob eine repräsentative Auswahl von Personen nicht gleichzeitig eine repräsentative Auswahl der bei ihnen erhobenen Merkmale ist. Diese Frage liegt deshalb nahe, weil bei jeder empirischen Teilerhebung eine Übereinstimmung stillschweigend unterstellt wird. Dies ist auch vertretbar, soweit es sich um unveränderliche personale Merkmale wie Geburtsjahr, Geschlechtszugehörigkeit oder um im Laufe der Zeit einmal erworbene Attribute wie Jahr des Eintritts in das Berufsleben, Jahr des Schulabschlusses u.ä. handelt. Problematisch wird die Annahme einer Korrespondenz aber bei Merkmale.n, die voraussehbar in der Zeit der Datenerhebung Veränderungen unterliegen: Eine empirische Erhebung von beispielsweise politischen
1 Auf
diesen Sachverhalt verweist Scheuch 1972b, S. 193.
Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
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Einstellungen bei einem repräsentativen Personensample, welche sich über ein halbes Jahr erstreckt, beinhaltet möglicherweise verschiedene, und zwar jeweils unterschiedliche Gesamtheiten repräsentierende Merkmalspopulationen. Die Faktoren, die die Merkmalspopulationen generieren, sind im Zeitablauf andere, als diejenigen, auf die die Population der Personen zurückgeführt werden kann.1 Damit wird auch deutlich, daß bei zeitlich gestreckten Erhebungen die Annahme der Korrespondenz von Personen und zu erhebenden Merkmalen dann nicht zu vertreten ist, wenn es sich um Erhebungsmerkmale handelt, die im Zeitablauf entstehen und Veränderungen unterliegen, wie dies bei Zeitbudgetuntersuchungen der Fall ist.
3. Das Problem der Repräsentativität zeitbezogener Daten Diese Problematik zeitabhängiger und -veränderlicher Erhebungsmerkmale wurde bislang vor allem unter dem Aspekt der Wochentagsverteilung der Erhebungstage angesprochen. In Arbeiten zur Zeitbudgetforschung ist insbesondere versucht worden, im Sinne einer gezielten Auswahl eine Repräsentativität der Erhebungsauswahl zu erreichen. Dabei wird vertreten, daß nur eine Gleichverteilung der Wochentage die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse sicherstellen kann. Im internationalen Zeitbudget-Projekt (Szalai 1972) ist dazu gesagt: "... it takes no social science background to know that in virtually all parts of the world, people allocate their time much differently at weekends then they do during the week. Therefore it is critical to know, for any given set of time-budget estimates, what mix of weekend and weekday interviews are involved" (Converse 1972, S.47). Um eine unverzerrte Wochentagsverteilung in den Erhebungsprotokollen zu erreichen, sollte deshalb ein jeweils gleicher Anteil von Erhebungsprotokollen von jedem Wochentag erzielt werden. 2 Dieses Problem der Wochentagsverteilung wird dann deutlich und führt zu Verzerrungen, "wenn alle
1 Die Tatsache unterschiedlicher Populationen und deren Entstehung ist Thema bei Nagl 1970/71. 2 Dies konnte jedoch nicht realisiert werden. Dem angestrebten Gleichverteilungsanteil von 14,3% standen zum Beispiel für den bundesrepublikanischen Teil der Untersuchung Anteile zwischen 10% (Donnerstag) und 17% (Mittwoch) gegenüber (Converse 1972, S. 47). Siehe auch die Ausführungen von Scheuch 1972a zu den Problemen des Zeitbudget-Interviews.
160
Wemer Schulte
Tage des Wochenzyklus Befragungstage sind, und dann Durchschnittswerte für mehrere oder alle Tage der Woche gebildet werden. Da die Wochentage sich in typischer Weise voneinander unterscheiden, sind die Durchschnittswerte verzerrt, sobald in ihnen nicht alle Wochentage in gleicher Anzahl vertreten sind" (Rosenbladt 1969, S.62). Aber auch eine Gleichverteilung der Protokolle auf alle Wochentage reicht nicht - wie Förster (1972) anmerkt - aus, die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zu sichern. Er fordert deshalb, daß bei der Auswahl der Protokollwoche darauf zu achten ist, "daß diese typisch für einen längeren Zeitabschnitt ist" (Förster 1972, S.166). In bestimmten Fällen sei es sogar zu empfehlen, eine Erhebung über einen Monat zu strecken und - um jahreszeitliche Variationen in der Zeitverwendung feststellen zu können Budgetuntersuchungen mehrmals im Jahr an derselben Population stattfinden zu lassen. Ähnliche Vorstellungen entwickelte das Statistische Bundesamt für die 1991/92 geplante Zeitbudgeterhebung bei 10000 Personen in ca. 4900 Haushalten: "Um saisonale Änderungen der Zeitverwendung zu erfassen und eine Beeinflussung der Ergebnisse z.B. durch eine Schlechtwetterperiode möglichst gering zu halten, wird an vier Zeitpunkten (erste Befragungsphase Oktober/November 1991, die drei anderen folgen im Abstand von jeweils drei Monaten) je ein Viertel der Stichprobenhaushalte befragt werden." (Ehling 1990, S.3). Das Problem der Repräsentativität zeitbezogener Daten, die bei Teilgesamtheilen erhoben worden sind, wird hier gesehen und als ein Auswahlproblem diskutiert. Die vorgeschlagenen Lösungen können zwar annäherungsweise als Auswahlen typischer Zeiteinheiten bezeichnet werden. Sie sind aber unzureichend, weil - wie eingangs ausgeführt - die notwendigen Vorabinformationen über relevante Verteilungen nicht oder nur begrenzt vorliegen. Unsere Alltagserfahrung sagt, daß es nicht beliebig für Ergebnisse von Zeitbudgeterhebungen sein kann, an welchen Wochentagen die Tageslaufschilderungen protokolliert werden. Auch läßt sich begründet von jahreszeitlichen Wirkungen ausgehen. Ob aber noch andere im Zeitablauf entstehende Einflußfaktoren wirksam werden, ist nicht bekannt. In einem solchen Fall sollte auf ein wahrscheinlichkeitstheoretisch begründetes Auswahlverfahren zurückgegriffen werden, bei dem vorab keine Informationen über Verteilungen bestimmter Merkmale erforderlich sind.
'Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
161
4. Ein wahrscheinlichkeitstheoretisches Auswahlverfahren Wir müssen zunächst daran erinnern, daß es hier nicht primär um eine Repräsentativität von Personen oder Tagen geht, sondern um eine Repräsentativität von Tagesläufen. Es muß somit eine Auswahlgesamtheit gebildet werden, die alle Tagesläufe der in die Untersuchung einzubeziehenden Personen beinhaltet. Ein Beispiel: Auf das Jahr 1991 bezogen verlebt jede Person 365 Tagesläufe. Bei einer Anzahl von 1000 Personen, die in eine Befragung einbezogen werden sollen, ergibt sich eine Auswahlgesamtheit von 365 000 Tagesläufen, aus der eine Stichprobe gezogen werden müßte (vgl. Tabelle 1). 1. Tag
2. Tag
1. Person 2. Person
1/001 2/001
1/002 2/002
n. Person
n/001
n/002
... ... ... ... ... ... ...
365. Tag 1/365 2/365
n/365
Tabelle 1: Matrix der Tagesläufe von n Personen im Jahr
Es muß im Auswahlprozeß ein Zufallsverfahren zur Anwendung kommen, welches garantiert, daß jeder Tageslauf eine angehbare Wahrscheinlichkeit größer 0 erhält, in die Stichprobe einbezogen zu werden! Je größer die Anzahl der in die Erhebung einbezogenen Personen ist, desto zweckmäßiger ist eine computergestützte Realisierung des beschriebenen Verfahrens. Dazu ist vom Verfasser ein Programm entwickelt worden.2 1 Die bekannten Formeln zur Berechnung von Auswahlfehlern sind dann anwendbar. Siehe die ausführliche Beschreibung der Berechnungvon Auswahlfehlern bei Büschges 1961. Handelt es sich bei der angegebenen Personenzahl bereits um eine Auswahl aus einer größeren Gesamtheit, haben wir es mit einer sog. Klumpenauswahl (duster sample) zu tun. Der Auswahlvorgang bezieht sich zunächst nicht auf die eigentlichen Untersuchungeinheiten (hier: Tagesläufe), sondern auf "Klumpen• von solchen Einheiten. Alle Tagesläufe der im ersten Schritt nicht ausgewählten Personen werden im zweiten Auswahlschritt (bei der Auswahl von Tagesläufen) nicht berücksichtigt. 2 Hierbei sind die Programmiermöglichkeiten des Programmsystems SAS (SAS Institute 1990) genutzt worden. Das Auswahl-Programm für Zeitbudgetuntersuchungen ist im Anhang II Büschges
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Wemer Schulte
Es müssen darin die geplanten Zeiträume, die Anzahl der Personen, die Auswahlquote sowie ein Startwert für eine automatische Zufallsauswahl vorgegeben werden. Als Ergebnis werden für jede Zeiteinheit die zu befragenden Personen bzw. für jede Person die ausgewählten Protokolltage ausgegeben. Der folgende Ausdruck (Tabelle 2) zeigt einen Ausschnitt des Ergebnisses dieser computergestützten Zufallsauswahl von Tagesläufen. Dabei ist von 100 Personen, 365 Zeiteinheiten (Tage eines Jahres) und von einer 1%-Auswahlquote ausgegangen worden. Diese Liste kann zur Planung einer Zeitbudgeterhebung herangezogen werden, weil sie zum einen - sortiert nach Personenkennziffer - anzeigt, an welchen Tagen die ausgewählten Personen Tageslaufprotokolle erstellen sollen und zum anderen - zeitsortiert - angibt, welche Personen an welchen Tagen einbezogen werden sollen. Damit wird eine Kontrolle über diese als Stichtagsbefragungen konzipierten Zeitbudgetuntersuchungen möglich, um Abweichungen vom Auswahlplan zu verhindern bzw. rechtzeitig zu erkennen und korrigierend eingreifen zu können.
dieses
Beitra~
abgedruckt.
'Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
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Tage, an denen die ausgewählten Personen befragt werden: Person 001 am: 07FEB91 08SEP91 31DEC91 Person 002 am: 05JUL91 24JUL91 Person 003 am: 15FEB91 24JUN91
Person 098 am: 26JAN91 28MAR91 27APR91 28APR91 10SEP91 09DEC91 Person 099 am: 03APR91 Person 100 am: 09AUG91 04DEC91
Personen, die an folgenden Tagen befragt werden: Am 01JAN91 Person: 072 094 Am 03JAN91 Person: 043 056 057
Am 04JAN91 Person: 025
Am 29DEC91 Person: 009 043 Am 30DEC91 Person: 054 089 Am 31DEC91 Person: 001 044 Tabelle 2: Ausgabe des SAS-Programms (Ausschnitt)
S. Resümee Nun hängt die Repräsentativität einer Merkmalsreihe nur zu einem Teil von der Realisierung eines Zufallsverfahrens im Auswahlprozeß ab. Ebenso bedeutsam dafür sind u.a. auch, daß sich die eingesetzten Mitarbeiter (Interviewer) an den Auswahlplan halten, daß die in jeder Erhebung auftretenden Ausfälle infolge Nichtauffindens, Nichtantreffens oder Verweigerns nicht aus Gründen geschehen, die in einem systematischen Zusammenhang mit dem
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Erhebungszweck stehen, sowie daß keine Fehler bei der Planung und Vorbereitung der Untersuchung, bei der Erhebung selbst und bei der Autbereitung und Auswertung der Daten auftreten. 1 Das hier vorgeschlagene Verfahren einer kontrollierten Auswahl gibt zwar keine Antwort auf diese den Forschungsprozeß insgesamt betreffenden Probleme, aber Fehler, die auf die Auswahlmethodik zurückzuführen sind, haben jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Gültigkeit der Ergebnisse und - noch gravierender - lassen sich im Erhebungsprozeß selbst kaum noch korrigieren. Die Anwendung eines nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Prinzipien durchgeführten Auswahlverfahrens schließt den die Erhebungsauswahl und den Erhebungsprozeß verzerrenden "subjektiven Faktor" zwar nicht aus, erlaubt aber eine Kontrolle des Datenerhebungsprozesses und trägt dazu bei, Verzerrungen zu vermeiden.
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1 Vergleiche die detaillierte Auflistung der möglichen Fehler bei Repräsentativerhebungen in Büschges I Lütke-Bomefeld 1977, S. 233 ff. Daß in der Frage der Realisierung einer repräsentativen Auswahl eines der größten Probleme der empirischen Sozialforschung liegt, wird aus dem Beitrag von Kreutz 1970171 über "Die tatsächliche Repräsentativität soziologischer Befragungen" deutlich. Bedenklich ist eben weniger, daß eine Realisierung selten gut gelingt, sondern eher, daß die Konsequenzen einer Nichtrealisierung für die Generalisierung von Ergebnissen nicht reflektiert werden.
'Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
165
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I
Paris (Mouton) 1972
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Anhang: SAS-Programm %Iet %Iet %Iet %Iet %Iet
n = 100; pct = 10; beg="01JAN91"D; end="31DEC91"D; seed = 54325;
* Anzahl Personen * Auswahlsatz in Prozent * Beginn des Befragungszeitraumes *Ende des Befragungszeitraumes * Startziffer fuer Zufallsauswahl muss sein eine numerische Konstante kleiner als 2**31 -1
***** DATA-Step zur Herstellung einer Datenmatrix ***** mit den Variablen p (Personen) und t (Zeit) ***** z (Personen-Tage:Tageslaeufe)
******· ******·' ******·'
'
data ptage(keep=t p z); retain z 0; beg = &beg; end= &end; do t = beg to end; do p=1 to &n; z=z+1; output; end; end; ***** DATA-Step zur Herstellung einer Datenmatrix ***** mit Zufallszahlen p (Personen) und t (Zeit) data r&seed (keep=z); tage= &end - &beg + 1; zn=tage*&n; na=int(&pct*zn/100 +0.5); do l= 1 to na; z=int(ranuni(&seed)*zn +0.5); output; end; proc sort data=r&seed; by z;
******·
•••••••''
* Befragungszeit; * Tageslaeufe; * Auswahlsatz absolut; * Erzeugung von; * Zufallszahlen;
* Sortierung der Zufallszahlen;
***** DATA-Step zur Auswahl aus der Datei mit den ***** Personen-Tagen mit Hilfe der Zufallszahlen: data auswahl; merge ptage r&seed(in=a); by z;
if a;
******· ' ******·
'
'Time-Sampling'-Verfahren für Zeitbudgetuntersuchungen
***** DATA-Step zur Herstellung einer Liste, ge***** ordnet nach Personenkennziffern
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******·
•••••••'
'
title'Tage, an denen die ausgewaehlten Personen befragt werden:'; proc sort data = auswahl out= auswahlp; • Sortierung nach; by p t; • Personen und Zeit; data _null_; set auswahlp; file print; by p; formalt date7. p z3.; if frrst.p then put I 'Person ' p ' am: ' t @; eise put t @; ***** DATA-Step zur Herstellung einer Liste, ge- ••••••; ***** ordnet nach Tagen des Befragungszeitraumes ••••**;
proc sort data = auswahl out= auswahlt; • Sortierung nach ; by t p ; • Zeit und Personen; title 'Personen, die an folgenden Tagen befragt werden:'; data null ; set auswahlt; print; by t; format t date7. p z3.; if first.t then put I 'Am' t' Person:' p @; eise put p @; run;
file
VIII. Zusammensetzung lokaler Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindern Von Wolfgang Sodeur
1. Einführung und Zielsetzung In dieser Arbeit soll innerhalb eines engen Anwendungsbereichs gezeigt werden, welchen Beitrag Modelle zur Mikrosimulation bei der Aufklärung komplexer Veränderungsprozesse leisten können. Im Mittelpunkt werden Versuche stehen, Gelegenheiten von Kindern zur Kontaktaufnahme ("Opportunitäten") und die daraus möglicherweise sich ergebende Strukturierung der tatsächlichen Kontaktaufnahme mit etwa gleichaltrigen gegenüber älteren Kindern zu modellieren. Dem Vorhaben liegt das folgende allgemeinere Problem zugrunde: Die Struktur von apportunitäten läßt sich oft in einigen Aspekten begründet beschreiben. In anderen und möglicherweise ebenfalls wichtigen Aspekten besteht jedoch Unklarheit über die empirischen Gegebenheiten und/oder Wirkungsweisen. Nun wäre es wichtig zu wissen, ob die zu analysierenden Prozesse durch die bekannten Aspekte der Opportunitätsstruktur bereits weitgehend festgelegt sind oder ob sich unter dem Einfluß der anderen, mit Unklarheiten belasteten Aspekte größere Spielräume für unterschiedliche Entwicklungen ergeben könnten. Im erstgenannten Fall könnte man die weiteren Aspekte vernachlässigen, im letztgenannten Fall müßte man sich gezielt ihrer Aufklärung widmen (vgl. Fischer / Herter / Sodeur 1991). Mikrosirnutationen in der hier vorgeschlagenen Verwendung dienen also der theoretischen Bedeutsamkeilsprüfung ("Sensitivitätsanalyse") einzelner Prozeßeigenschaften oder Rahmenbedingungen. Sie sind vor allem dann angezeigt, wenn die Zusammenhänge komplex sind und die Vorkenntnisse nicht weit genug reichen, um die Zusammenhänge begründet im Rahmen stärker formalisierter Modelle zu beschreiben.
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Wolfgang Sodeur
Bevor wir das Simulationsmodell genauer beschreiben, sei an einem Beispiel ein möglicher Anwendungsbezug illustriert: In seinem Buch "Geschichte der Jugend" beschreibt John R. Gillis (1980, S.SOff.) einige gesellschaftliche Veränderungen in Westeuropa zwischen den Jahren 1770 bis 1870, einem "Zeitalter des Umbruchs" (J.St.Mill, zitiert ebenda). Das Ergebnis dieses Umbruchs kennzeichnet Gillis (S.52) als eine gründliche Störung der alten Strukturen: Der Status der Jugend veränderte sich und "ließ neue Verhaltensmuster für Individuen und Gruppen entstehen, die sich in früheren Zeiten starken Bevölkerungswachstums nur vorläufig angedeutet hatten" (S.53). Wir können hier Gillis' Argumente nicht in ihrer Gesamtheit nachzeichnen. Hingegen genügt es uns festzuhalten, daß er bei seiner Deutung der Entwicklungen - mit der üblichen Vorsicht des Historikers - einmal Zusammenhänge herstellt zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Veränderungen über eine Senkung des Heiratsalters bis zum Bevölkerungswachstum dieser Zeit, zum anderen (allerdings weit weniger ausgeführt) zwischen diesen Veränderungen bzw. den von ihnen induzierten Folgen über die formellen und informellen Gruppierungen der Jugendlichen bis zu den Veränderungen in der Übertragung gesellschaftlicher Normen und Verhaltensweisen. Dabei ist aber offensichtlich, daß die Zusammenhänge über gewisse Plausibilitäten hinaus nicht als aufgeklärt gelten können und daß auch die Informationen über die zugrundeliegenden Ereignisse in ihrer zeitlichen und räumlichen Zuordnung zu wünschen übrig lassen. Wenn man also versuchen will, einige der Veränderungen im genannten Zeitraum auf veränderte Übertragungsprozesse und diese auf einen Wandel der Beziehungsstrukturen sowohl zwischen Personen unterschiedlicher Generationen wie auch innerhalb der jungen Leute zurückzuführen, dann muß aus den vorliegenden, bruchstückhaften Informationen zunächst einmal durch Interpretation erschlossen werden, auf welche Weise die behaupteten Veränderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen das Beziehungsgefüge unter Kindern und Jugendlichen beeinflußt haben könnten. Solche Interpretationen müssen sich unvermeidlich auf Annahmen stützen, hier z.B.: - Welche Entwicklung der altersmäßigen Zusammensetzung der Kinder bzw. Jugendlichen hätte sich ergeben, wenn allein die von Gillis als Folge der wirtschaftlichen Veränderungen beschriebene Herabsetzung des Heiratsalters ( d.h. bei im übrigen zunächst unveränderten Kohortengrößen der Eltern, unverändertem generativen Verhalten, gleichen Überlebensbedingungen der Kinder usf.) eingetreten wäre?
Lokale Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindern
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- Weiche weiteren räumlichen, institutionellen und sozialen Bedingungen könnten für die Gruppierung der jungen Leute verantwortlich gewesen sein? Hätten solche Bedingungen die sonst möglichen Folgen der Veränderungen in der altersmäßigen Zusammensetzungen der Population am Ort eher ausgleichen oder weiter verstärken können? Zur Beurteilung solcher Annahmen müßte man genauer wissen, inwieweit die behaupteten Enwicklungen allein durch die bekannten Bedingungen festgelegt wurden bzw. welche Spielräume sich vor diesem Hintergrund für die Einflußnahme anderer, ebenfalls als bedeutsam angesehener Faktoren ergeben hätten.
2. Realisierung des Modells
In diesem Kapitel beschreiben wir den geplanten Umfang und die derzeitige Realisierung eines Simulationsmodells, mit dem das Zusammenwirken von Bevölkerungsentwicklungen, räumlicher Anordnung von Haushalten, sozialer Gestaltung von Aktionsräumen und Auswahlprozessen bei der Aufnahme von Kontakten untersucht werden sollen. 1 Das Modell ist modular aufgebaut, so daß einzelne Teile ohne Änderungsbedarf bei anderen modifiziert werden können. Die folgende Beschreibung der Module folgt einer inhaltlich möglichst einsichtigen Anordnung und weicht damit teilweise von der tatsächlichen Reihenfolge ab, in der die Module in der augenblicklich realisierten Form bearbeitet werden. Im ersten Schritt werden "Wohnungen" erzeugt, einander räumlich zugeordnet und mit erwachsenen Personen belegt ("Haushalte", Abschnitt a)). Die Haushalte bestehen zunächst nur aus je einer Frau (potentiell "Mutter") eines bestimmten Geburtsjahrgangs. Variationen in den Altersverteilungen der Mütter bilden Ansatzpunkte, um Bevölkerungsentwicklungen wie z.B. allgemeine Veränderungen in den Stärken der Elternkohorten oder altersspezifische Wanderungen zwischen Regionen zu modellieren.
1 Das hier beschriebene Simulationsmodell ist in der Programmiersprache FORTRAN realisiert. Ein Teil der behandelten Merkmale kann über Parameter verändert werden, ein Teil ist nur durch Modifikation der Programm-Quelltexte und durch erneute Übersetzung an veränderte Anforderungen anzupassen. Programme, Beschreibung der Parameter und Quelltexte sind beim Autor erhältlich.
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Die Haushalte haben im Modell (wie in der Realität) unterschiedliche Entfernungen voneinander. Diese Entfernungen dienen später zur ModelIierung von Aktionsräumen im Nahbereich ("Nachbarschaft"). Eine festzusetzende Zahl von Haushalten wird zu einer "Gemeinde" zusammengefaßt. Auf die Kinder bezogen sind dadurch die Grenzen bestimmt, innerhalb derer sich ihre Verkehrskreise entwickeln können. Die Gemeindegröße ist nach oben auf ungefähr 10000 Haushalte bzw. auf etwa 22000 Kinder begrenzt. Das Modell erlaubt (ohne Wiederholung bereits erzeugter Strukturen) die sequentielle Erzeugung und Auswertung einer größeren Zahl von Gemeinden. Im zweiten Schritt werden pro Haushalt die Zahl der Kinder und die Verteilung ihrer Geburtsjahrgänge modelliert ("Geburten"; Abschnitt b)). Grundlage dafür sind je nach Spezifikation des Modells bedingte Geburtenwahrscheinlichkeiten nach Jahrgang und Alter der Mutter, nach der Zahl früherer Geburten und dem zeitlichen Abstand von der letzten Geburt. An dieser Stelle wäre auch die Einführung regionsspezifischer Geburtenraten (etwa unterschieden nach Stadt-Land) möglich. Schließlich wird das Entstehen von Kontaktnetzen simuliert (Abschnitt c). Innerhalb von Haushalten werden die Kontakte als undifferenziert angenommen, was zu paarweisen Verbindungen zwischen allen Geschwistern führt. Altershomogenität bzw. -heterogenität der Kontaktnetze sind auf dieser Ebene also vollständig durch die Zahl der Geschwister und die Altersabstände zwischen ihnen bestimmt. In NachbarschafteD dagegen ergeben sich die Kontakte durch Selektion aus dem Kreis prinzipiell erreichbarer Kinder. Hier ist zu modellieren, wie diese Selektion bei unterschiedlicher Zahl und Altersverteilung der erreichbaren Kinder, bei unterschiedlichen räumlichen Distanzen, bei unterschiedlichen Altersabständen, bei unterschiedlichen Präferenzen für Gleich- bzw. Ungleichaltrige usf. erfolgt. Weitere, nicht unmittelbar durch Haushalt und Nachbarschaft bestimmte Verkehrskreise der Kinder sind in unserer Gesellschaft weitgehend durch Institutionen wie Kindergarten, Schule, Kirche, Vereine und durch die Verkehrskreise der Eltern bestimmt. Im vorliegenden Modell sind diese weiteren Verkehrskreise nur durch bislang leere Module vertreten. In einem letzten Schritt werden ausgewählte Eigenschaften der entstandenen Beziehungsnetze für jeweils eine Gemeinde analysiert und die Ergebnisse gegebenenfalls über mehrere Gemeinden aggregiert (vgl. Beispiel in Kapitel 3).
Lokale Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindem
173
a) Modeliierung der räumlichen Anordnung von Haushalten und ihrer gegenseitigen Emichbarkeit Im Hinblick auf die beabsichtigte Verwendung der Simulationsergebnisse besteht das Ziel darin, die Kontaktwahrscheinlichkeit zwischen Kindern unter anderem aufgrund der räumlichen Lage der Wohnungen zu modellieren. Dabei kommt es einmal auf die Entfernungen zwischen ihren Wohnungen an. Darüber hinaus müssen Barrieren wie z.B. verkehrsreiche Straßen beachtet werden. In der derzeitigen Fassung des Modells wird versucht, diesen Zielsetzungen bei gleichzeitig möglichst einfacher räumlicher Anordnung der Haushalte Rechnung zu tragen: Haushalte werden (im Modell) entweder auf einer Geraden oder auf einem Kreis angeordnet. Erreichbar sind jeweils die Nachbarn zu beiden Seiten, soweit die Entfernung zu ihrer Wohnung eine bestimmte Größe nicht übersteigt ("Aktionsraum"). Bei der Anordnung auf einem Kreis haben alle Wohnungen denselben Grad an Zentralität bzw. gibt es keine "Randlagen"; bei der Anordnung auf einer Geraden oder auf mehreren getrennten Teilstücken einer Geraden befinden sich die jeweils äußeren Wohnungen in Randlagen mit verminderter Zahl erreichbarer Nachbarn. Das Nebeneinander von Zentral- und Randlagen gibt aber nur einen Sinn, wenn die Folgen dieser Differenzierung im Hinblick auf unterschiedliche Positionen im Beziehungsnetz untersucht werden sollen. In anderen Fällen wird man darauf verzichten und einheitlich entweder nur Zentrallagen oder nur Randlagen erzeugen, was dann auch allein durch Variation der Größe der Aktionsräume erreicht werden kann: Kleine Aktionsräume mit einem Durchmesser von z.B. nur 5 Wohnungen repräsentieren dann Randlagen, Aktionsräume mit großem Durchmesser von vielleicht 500 Wohnungen Zentrallagen. 1 Eine systematische Verteilung potentieller Mütter nach Jahrgängen auf die Wohnungen bildet im Modell ab, was in der Realität als meist wanderungs-bedingte Alterssegregation erscheint. Diese Alterssegregation ist z.B. gering in einem "gewachsenen" Gebiet, das ohne einen wesentlichen Anteil von Neubauten seit vielen Generationen besteht und dessen Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung nicht durch systematischen Fort- oder Zuzug be-
1 Die
Größe der Aktionsräume kann statt dessen auch als Wohndichte interpretiert werden.
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stimmter Bevölkerungsgruppen verändert wurde: In diesem Fall ist das Gebiet hinsichtlich der Altersgruppen der Elterngeneration gut durchmischt Im Modell wird diese Situation angemessen dadurch abgebildet, daß die Population der erwachsenen Personen (Mütter) mit einer gleichmäßigen (oder mit einer "repräsentativen") Altersverteilung nach Zufallsgesichtspunkten auf die Wohnungen verteilt wird. Demgegenüber wird eine ("externe") Alterssegregation simuliert, indem spezielle Altersverteilungen der erwachsenen Personen erzeugt werden, die das gesamte Gebiet zum Segregationsgebiet mit überproportionalem Auftreten einiger und entsprechend unterproportionalem Auftreten anderer Altersgruppen ausweisen. Und schließlich wird eine ("interne") Alterssegregation durch die systematische Verteilung einer gegebenen Population innerhalb der Gemeinde erzeugt, etwa indem man die erwachsenen Personen entsprechend ihren Geburtsjahrgängen im Modell-Raum (d.h. auf Kreis oder Gerade, s.o.) verteilt. Mit der letztgenannten Konstruktion wird eine Verteilung der Personen angenähert, wie sie real etwa in einem großem Neubaugebiet mit über mehrere Jahre gestreuten Fertigstellungsterminen der Häuser und altershomogenem Zuzug der neuen Bewohner entsteht. Wir fassen die Beschreibungen dieses Moduls ("Haushalte") zusammen: Es wird zunächst eine Menge von Wohnungen erzeugt und räumlich angeordnet. Im Modell berücksichtigte Eigenschaften der räumlichen Anordnung der Wohnungen sind unterschiedliche Entfernungen voneinander, unterschiedliche Grade der Zentralität (bzw. der Randlage) sowie gegebenenfalls Untergliederungen des Raums durch die Nachbarschaft begrenzende Barrieren. Die Wohnungen werden sodann durch eine örtliche Bevölkerung mit vorgegebener Altersverteilung belegt, und zwar vereinfachend nur durch Frauen (potentielle Mütter). Im Modell berücksichtigte Eigenschaften der örtlichen Bevölkerung sind ihre Größe und Altersverteilung. Berücksichtigte Eigenschaften der Zuordnung von Personen zu Wohnungen ist entweder die Unabhängigkeit von oder irgendeine Form des Zusammenhangs mit dem Alter der Bewohner.
b) Modeliierung der Zahl von Geschwistern und der Altersabstände zwischen ihnen
In diesem Abschnitt wird beschrieben, auf welche Weise die Verteilung der Zahl von Kindern und ihre altersmäßige Zusammensetzung im Modell gesteuert wird. Die Modeliierung erfolgt auf Basis der bereits erzeugten
Lokale Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindem
175
Haushalte: Bislang sind ihnen nur Frauen eines bestimmten Jahrgangs zugeordnet. Für die gesamte generative Phase wird nun aufgrund der jeweils zugrundegelegten bedingten Geburtenwahrscheinlichkeiten modelliert, ob überhaupt und gegebenenfalls wieviele Kinder geboren werden und in welchen Jahren dies geschieht. Die personelle Zusammensetzung der einzelnen Familie wird damit aus der zeitlichen Perspektive nach Abschluß der generativen Phase betrachtet. Auch die altersmäßige Zusammensetzung der Kinderpopulation zu einem bestimmten Zeitpunkt ergibt sich erst, nachdem im Modell alle Familien erzeugt sind, deren Kinder zeitlich zusammentreffen könnten. Wenn z.B. Geburtenverteilungen im einfachsten Fall bei gleichbleibenden Kohortenstärken und unverändertem generativen Verhalten ermittelt werden sollen, sind rund 30 aufeinanderfolgende Mütterkohorten nötig, bis sich im Simulationsmodell die erste "richtige" Geburtenhäufigkeit eines Jahrgangs durch angemessene Mischung der Geburtenwahrscheinlichkeilen von Müttern aller beteiligten Alterstufen ergibt. Soll eine Veränderung im generativen Verhalten auf ihre Folgen für die Altersverteilung unter Kindern untersucht werden, so kann diese Veränderung im Modell erst eingeführt werden, wenn eine Stabilisierung des Verlaufs der Geburtenhäufigkeilen aufgrund des früheren Verhaltens sichtbar geworden ist, also keineswegs vor Ablauf von 30 Jahren. Die Folgen des veränderten generativen Verhaltens sind frühestens nach weiteren 30 Modelljahren zu übersehen. Untersuchungen von Verläufen mit den hier beschriebenen Simulationsmodellen müssen also (fast) immer einen größeren Zeitraum umfassen. Dazu werden z.B. die Kinder von 100 aufeinanderfolgenden Mütterkohorten "erzeugt" und formal einer einzigen "Population" zugewiesen, als ob sie alle zur gleichen Zeit lebten. Eine sinnvolle Betrachtung dieser Population ist in der Regel nur durch zeitlich begrenzte Fenster möglich. Wenn es wie hier um Kontakte unter Kindern geht, dann darf dieses Fenster nur jene Altersspanne umfassen, die für altersheterogene Kontakte unter Kindern maximal infrage kommt. Bei der heutigen Alterssegregation können dafür etwa 10 bis höchstens 20 Jahre angesetzt werden, vor 200 Jahren mögen es deutlich über 20 Jahre gewesen sein (vgl. Kett 1974). Damit wird auch die oben genannte Zahl von maximal 1()()()() Haushalten und 22000 Kindern relativiert, die im Modell höchstens pro Gemeinde erzeugt werden können: Wenn sich diese Zahlen auf eine längeren Zeitraum beziehen, weil im Modell z.B. 100 Mütterkohorten berücksichtigt werden, werden zu ein und demselben Zeitpunkt höchstens die Hälfte dieser 10000 Haushalte bzw. höchsten ein Fünftel dieser Kinder (als Kinder) existieren.
176
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Allerdings wird damit nicht ausgeschlossen, daß auch einmal die gesamte Population des Zeitraums gemeinsam betrachtet werden könnte. So ist es z.B. interessant zu prüfen, wie stark unter bestimmten Bedingungen die
indirekte Verbundenheit zwischen Kindern weit auseinanderliegender Geburtsjahrgänge ist, und zwar über nicht abreißende Folgen direkter Kinderkontakte aus unterschiedlichen Generationen.
Die im Modell erzeugte altersmäßige Zusammensetzung der Kinderpopulation kann angesichts der augenblicklich verfügbaren Daten nicht in allen Aspekten als "naturgetreue Abbildung" angesehen werden. Direkte Informationen darüber gibt es in der amtlichen Statistik leider nicht, da diese keine regelmäßige Berichterstattung über die Altersabstände zwischen Geschwistern kennt. Auch die zeitliche Zuordnung von Geburtenfolgen zu Müttern (mehr noch: Vätern) macht große Probleme, da bei den meisten Erhebungen Kinder mit ihrem Geburtsjahr nur insoweit erfaßt werden, als sie entweder (noch) im gemeinsamen Haushalt mit der Bezugsperson der Erhebung leben oder aus der derzeitigen Ehe bzw. Partnerschaft entstammen. Sowohl aus der amtlichen Statistik wie auch aus anderen Quellen sind dagegen entsprechende Informationen abgeleitet worden. Die augenblickliche Version des Simulationsmodells stützt sich in dem hier besprochenen Modul auf bedingte Geburtenwahrscheinlichkeilen aus der "Kohortenanalytischen Darstellung der Geburtenentwicklung in der BRD" von Herwig Birg u.a. (1984). Die dort wiedergegebenen Tabellen beschreiben allgemein ("im Durchschnitt") die bedingten W ahrscheinlichkeiten, daß eine Mutter des Jahrgangs MJ im Alter MA nach der vorangegangenen Geburt von KN Kindern (KN =0 ...3) im laufenden Jahr ihr erstes oder ein weiteres Kind bekommt. Damit lassen sich wichtige Eigenschaften des generativen Verhaltens und seiner Änderung sowohl im Zeitablauf wie auch zwischen (Mütter-) Kohorten beschreiben. Offen bleibt jedoch der für unsere Zwecke ebenfalls wichtige Aspekt des Altersabstandes zwischen Geschwistern. Andere Schätzungen bedingter Geburtenwahrscheinlichkeilen auf der Grundlage von Zeit-Ereignis-Analysen berücksichtigen zwar die Altersabstände zwischen Geschwistern, müssen dafür aber aufgrund relativer Beschränkungen der Datenbasis andere der von Birg u.a. berücksichtigten Bedingungen aufgeben; so werden z.B. bei der Schätzung der Geburtenwahrscheinlichkeit für das n-te Kind und bei bestimmtem Abstand von der Geburt des letzten Kindes entweder für jede Altersstufe der Mütter verschiedene Mütterkohorten oder für jede Mütterkohorte verschiedene Altersstufen zusammengefaSt (vgl. Huinink 1988, 1989 sowie pers. Korrespondenz vom 12.6.1989 mit Sonderauswertungen; Klein 1989a, 1989b; Tuma und
Lokale Populationen und altersheterogene Kontakte unter Kindem
1n
Huinink 1987). Die zuletzt genannten Schätzungen berücksichtigen auch weitere differenzierende Bedingungen für Geburtenwahrscheinlichkeiten wie z.B. den Bildungsstand der Mutter, aber natürlich nicht gleichzeitig in Kombination mit allen vorher genannten Bedingungen. Welcher der Schätzungen im Einzelfall der Vorzug zu geben ist, hängt nicht zuletzt davon ab, welche der Bedingungskonstellationen für die jeweiligen Zwecke besonders wichtig erscheint. Für Vergleiche ist das Modell zunächst geeignet, die Verläufe von Geburtenhäufigkeiten mit möglichst großer Näherung zu realen Verläufen durchzuspielen. In realen Bevölkerungsentwicklungen varüert stets eine ganze Fülle unterschiedlicher Faktoren gleichzeitig, z.B. die Größen der Mütterkohorten, das "Heiratsalter" der Frau bzw. ihr Alter bei der Geburt des ersten Kindes ("Timing"), die Zahl der Kinder, der Geburtenabstand ("Spacing") sowie Wanderungsbewegungen, die z.T. ihrerseits vom Alter der Eltern, ihrer jeweiligen Familienphase und der Zahl der vorhandenen bzw. erwarteten Kinder abhängen. Diese Faktoren überlagern sich, ihre Veränderungen im Zeitablauf heben sich teilweise gegenseitig auf und verstärken sich in anderen Teilen. Unübersichtlich bleibt dabei insbesondere, inwieweit die hier untersuchte altersmäßige Zusammensetzung der Kinderpopulation und die Opportunitäten für altershomogene bzw. altersheterogene Kontakte in ihrer Entwicklung von diesen Faktoren einzeln oder in bestimmter Kombination berührt werden. Eine wesentlich interessantere Verwendung des Modells ist es deshalb, Verläufe unter hypothetischen Bedingungen zu simulieren. An die Stelle des "Nachspielens" komplexer Geburtsverläufe, die jedoch in ihren Entstehungsbedingungen nicht durchschaut werden, tritt nun der Versuch, die zuletzt genannten Zusammenhänge aufzuklären: Bei Wahl tendenziell "richtiger", d.h. den realen Bevölkerungsentwicklungen folgenden Modellparametern werden jeweils einzelne dieser Parameter manipuliert. Die realen Verläufe z.B. der altersmäßigen Zusammensetzung der Kinderpopulation lassen sich dann auf die einzelnen verursachenden Größen zurückführen ("faktorisieren", vgl. dazu die Beispiele in Kapitel 3). Wir fassen kurz zusammen, welche Ergebnisse der hier beschriebene Modul auf Basis der vorher erzeugten Haushalte (vgl. Abschnitt a)) liefert: In diese Haushalte werden Kinder - je nach Jahrgang der Mütter - in unterschiedlichem Alter der Mütter, in unterschiedlicher Zahl und mit unterschiedlichen Altersabständen zwischen den Geschwistern geboren. Die Parameter zur Modeliierung des generativen Verhaltens folgen dabei entweder den komplexen Entwicklungen in der Bevölkerung oder werden 12 Büschges
178
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(zum Zweck der Faktorisierung) diesen Entwicklungen nur einzeln oder in bestimmten Kombinationen angepaßt.
c) Modeliierung der Kontakte zwischen Kindem auf den Ebenen von Haushalt und Nachbarschaft
In diesem Abschnitt beschreiben wir die Entstehung von Beziehungsnetzen unter Kindern in Haushalt und Nachbarschaft. Im Modell sind diese Netze vereinfachend als eingeschränkte Zufallsnetze konzipiert, wobei die "Einschränkungen" des Zufalls bestimmte Eigenschaften realer Verläufe abbilden sollen. Zunächst wird angenommen, daß Geschwister stets miteinander Kontakt haben. Im ersten Schritt wird deshalb ein Kontaktnetz erzeugt, das nur Beziehungen zwischen Geschwistern enthält: In diesem Basisnetz, das später erweitert werden muß, sind Geschwister also vollständig paarweise miteinander verbunden. Zwischen nicht verschwisterten Kindern bestehen keine Kontakte. Der entsprechende Modul des Modells erzeugt aus einer Liste von "Familien", die jeweils durch Informationen über die Geburtsjahrgänge der Mutter und gegebenenfalls der Kinder sowie über den Ort der Wohnung beschrieben sind, eine Liste von paarweisen Beziehungen zwischen Kindern. Dabei bleiben Verweise auf die Geburtsjahre der Kinder und den Ort ihrer Wohnung erhalten, so daß auf diese beiden Informationen auch später zurückgegriffen werden kann. Auch Geschwister sind weiterhin - allerdings nur indirekt- durch Verweise auf jeweils dieselbe Wohnung identifizierbar. In weiteren Schritten kann dieses Basis-Netz um Kontakte aus anderen Verkehrskreisen erweitert werden. Realisiert ist dies vorerst nur für Kontakte in Nachbarschaften. Auf entsprechende Weise - aber natürlich nach anderen Regeln- können Kontakte aus weiteren Verkehrskreisen wie Kindergarten, Schule, Kirche oder Vereinen hinzugefügt werden. Bei solchen Erweiterungen wird die Liste der bestehenden paarweisen Verbindungen um neue (d.h. bisher nicht bestehende) Verbindungen ergänzt. Auch dabei bleiben die Verweise auf Geburtsjahrgänge und die Orte der Wohnungen erhalten. Verloren geht jedoch mit der ersten Erweiterung des Netzes die Information über den Anlaß des Kontakts bzw. den ihn begründenden Verkehrskreis.
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179
Nach der Zusammenfassung der Kontakte aus verschiedenen Verkehrskreisen zu einem gemeinsamen Netz gibt es also keine Möglichkeit mehr, die Art der Kontakte oder den Grad ihrer "Multiplexität" (Mehrfachkontakte aus verschiedenen Verkehrskreisen) zu unterscheiden. Wenn solche Unterscheidungen für eine Untersuchung wichtig werden, muß man in Abwandlung des augenblicklich realisierten Modells die Netze aus verschiedenen Verkehrskreisen entweder getrennt halten oder Verweise auf eine zusätzliche Datei mit Informationen über die Zahl der Kontakte und ihre Entstehungsgeschichte vorsehen. Wir beschreiben nun die systematischen Aspekte (Einschränkungen) der Zufallsnetze unter Kindem in Nachbarschaften. Mögliche Ausgangspunkte einer Modeliierung der Auswahl von Kontakten sind einmal individuelle Eigenschaften der Kinder mit Bedeutung für Kontaktaufnahmen, zum anderen kontextabhängige Eigenschaften, durch die im Modell Opportunitäten für Kontaktaufnahmen abgebildet werden. Die Struktur der Beziehungen unter Kindern ist das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser Faktoren. Versuche zur Aufklärung dieses Zusammenwirkens durch Sirnutationen werden in der Regel nur einzelne Faktoren varüeren dürfen bzw. alle übrigen Faktoren als konstante Rahmenbedingungen festhalten müssen. Kontaktkapazitäten beschreiben die Wünsche der Kinder nach Kontakten. In der augenblicklich realisierten Fassung des Moduls werden Kontaktkapazitäten durch je eine untere und obere Schranke festgelegt, zwischen denen die entsprechenden Merkmalsausprägungen gleichverteilt sind. Mit der Bestimmung von z.B. minimal 3 und maximal 4 Kontakten wird also festgelegt, daß Kindem in der Simulation mit gleicher Wahrscheinlichkeit entweder 3 oder 4 Kontakte zugewiesen werden.
Je größer die Zahl der gewünschten Kontakte ist, desto weniger Spielraum bleibt (ceteris paribus) für Auswahlentscheidungen unter den potentiell für Kontaktaufnahmen verfügbaren Kindern. Aktionsräume kennzeichnen die Zahl von Wohnungen in der Nachbarschaft, deren Bewohner (hier nur Kinder) prinzipiell erreichbar sind. Auch dieser Parameter ist im realisierten Modul durch je eine untere und obere Schranke festzulegen, zwischen denen die individuellen Aktionsräume gleichverteilt zugewiesen werden.
Je größer die Aktionsräume sind, desto mehr Kinder können (ceteris paribus) prinzipiell erreicht werden und desto mehr Spielraum bleibt für Auswahlentscheidungen bei Kontaktaufnahmen. Alterspräferenzen stellen Dispositionen der Kinder dar, die - soweit Spielräume für Auswahlentscheidungen gegeben sind - ihre Entscheidungen bei
180
Wolfgang Sodeur
der Kontaktaufnahme leiten. Im Simulationsmodell sind dafür drei Varianten vorgesehen: Präferenz 0: Im Rahmen der Kontaktkapazitäten werden Kinder innerhalb des Aktionsraumes zufällig ausgewählt. Präferenz 1: Unter den erreichbaren Kindern werden Kontaktpartner unter starker Bevorzugung Gleichaltriger ausgewählt. Präferenz 2: Hier wird hier eine entsprechende Vorliebe für ältere Kinder modelliert. Eine weitere Differenzierung individueller Dispositionen bei Auswahlentscheidungen über Kontaktpartner könnte auch nach der relativen Größe der jeweiligen Altersdifferenz, nach der Distanz zwischen den Wohnungen oder nach dem relativen Mangel an erreichbaren jüngeren, gleichaltrigen und älteren Kindern in der Nachbarschaft erfolgen. Aufgrund der verfügbaren Daten sind solche Varianten möglich, sie wurden im Modell jedoch bisher nicht realisiert. Die Zahl e"eichbarer Kinder und ihre Altersverteilung sowie die Wohndichte (von Kindern) sind vor allem abhängig vom Verlauf der Gehortenhäufigkeilen (vgl. Abschnitt b)). Die daraus resultierenden Opportunitäten für Kontaktaufnahmen ähneln denen der zuletzt genannten Merkmale. So hat z.B. eine allgemeine Erhöhung der durchschnittlichen Kinderzahl ganz ähnliche Folgen für die Opportunitäten wie eine Erhöhung der Wohndichte, eine Erweiterung der Aktionsräume oder eine Verminderung der Kontaktkapazitäten: In allen Fällen verschiebt sich das Verhältnis zwischen gewünschten Kontakten und Kontaktangeboten zu Gunsten der letzteren. Es kommt deshalb vermutlich auch weniger auf die absolute Größe einzelner Merkmalsausprägungen an als auf die jeweilige Konstellation der zusammenwirkenden Merkmale. Wir werden darauf im abschließenden Kapitel mit einem Simulationsbeispiel zurückkommen. Zusammenfassend ist über die Erzeugung der Beziehungsnetze im Simulationsmodell zu sagen, daß die Opportunitäten für Kontaktaufnahmen unter Kindern beschrieben werden durch - die Altersverteilung der Kinder am Ort; -die Entfernungen zwischen Wohnungen, u.U. auch durch zusätzliche Gliederung des Gebiets durch Barrieren; - unterschiedlich dichte Bevölkerungen bzw. unterschiedlich weite Aktionsräume: Im Zusammenwirken mit den vorgenannten Faktoren führt dies zu einer unterschiedlichen Zahl potentiell erreichbarer Kinder; - unterschiedliche Kontaktkapazitäten der Kinder mit der Folge unterschiedlich großer (realisierter) Verkehrskreise;
Lokale Populationen und altcrsheterogene Kontakte unter Kindem
181
-unterschiedliche Präferenzen für Gleich- bzw. Ungleichaltrige, die entweder nur individuell oder in Abhängigkeit von den jeweiligen apportunitäten varueren.
3. Diskussion der Simulationsergebnisse Abschließend beschreiben wir anband einfacher Beispiele einige Anwendungsmöglichkeiten des beschriebenen Modells und diskutieren die dabei gefundenen Ergebnisse. Vorangestellt sei ein Szenarium, mit dem die Erkenntnisabsicht illustriert wird, die diesen Beispielen zugrunde liegt: Kenntnisse über die örtliche Bevölkerung, ihre Altersverteilung, ihr generatives Verhalten und über die räumliche und institutionelle Situation am Ort seien relativ umfangreich und gesichert; Kenntnisse über die Beziehungsnetze unter Kindern fehlen weitestgehend. Mit Hilfe des oben beschriebenen Simulationsmodells soll deshalb eine Sensitivitätsanalyse mit dem Ziel durchgeführt werden zu erfahren, inwieweit die (unbekannte) Beziehungsstruktur unter Kindern durch die bekannten Rahmenbedingungen festgelegt ist. Lassen die Rahmenbedingungen einen größeren Spielraum für unterschiedliche Entwicklungen, so dokumentiert das Simulationsergebnis einen zusätzlichen, auch empirisch zu deckenden Informationsbedarf über weitere Rahmenbedingungen. Andernfalls stützt es die bisherigen Interpretationen.
a) Ein Beispiel zur Demonstration der Folgen unterschiedlicher Entwicklungen des generativen Verhaltens
Wir nehmen zunächst an, daß zahlreiche Mütterkohorten gleicher Stärke mit unverändertem generativen Verhalten aufeinander folgen. Das hier modellierte generative Verhalten entspricht den Verhältnissen, wie sie Birg u.a. (1984) für die Mütterkohorte 1936 beschreiben. 1
1 Wie bereits an anderer Stelle vcnnerkt, können durch die Tabellen nur einzelne Aspekte des generativen Verhaltens korrekt wiedergegeben werden. Weitgehend richtig beschrieben wird damit die Gesamtzahl der von dieser Kohorte in den einzelnen Jahren geborenen Kinder
182
Wolfgang SSi.
Es sei also am vorteilhaftesten, dem Anreiz zu folgen, während es am schlechtesten ist, die Auflösung durch den Partner binnehmen zu müssen. Abbildung 1 zeigt den damit charakterisierten Spielbaum. A
AG*
AG
AN
Abbildung 1: Extensive Form des Spiels
Für den Fall, daß weder AN• noch AG• eintritt, wird vorerst ein Payoff von 0 angenommen. 1 Die effektiven Payoffs dieses Spiels ergeben sich aus der Gewichtung der ursprünglichen Payoffs mit den zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeiten. Es seien i und j die Spieler mit ij e {1,2} und i =\= j. Die effektiven Payoffs in der Matrix in Abbildung 2 lauten dann
1 Dies dient der Veinfachung der Analyse und hat keinen Einfluß auf die Aussage des Modells. Die Payoffs können auf einer beliebigen Werteskala gemessen werden, deren Nullpunkt dem Ereignis "nichts passiert" zugeordnet wird. Es werden demnach keine zusätzlichen Annahmen über die Bewertung dieses Ereignisses eingeführt.
202
Martin Abraham und Bemhard Prosch
(3)
a; = q; R; + % R; für die Strategienkombination C;/Ci, b; = q; R; + % S; für die Strategienkombination C;/Di, C; = q; T; + % R; für die Strategienkombination D;/Ci, d; = Q; T; + % S; für die Strategienkombination D;/Di.
c
AN
D
c
a1,a2
b1,C2
D
C1,b2
d1,d2
AG
Abbildung 2: Nonnalfonn des Spiels
Aus der Bedingung (2) folgt für die Ordnung der effektiven Präferenzen (4)
Beide Spieler besitzen damit eine dominante Strategie D, da C; > a; und d; > b;. Damit kann die Lösung dieses Spiels nur in der Startegienkombination D;/Di liegen. Es stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen dies eine ineffiziente Lösung für die Akteure darstellt. Ineffizient ist sie genau dann, wenn die beiderseitige Kooperation eine Paretaverbesserung gegenüber der beiderseitigen Defektion nach sich ziehen würde. Es muß hierfür gelten: (5)
Q;
R; + % R; > q; T; + qi S; Q;
(R; - T;) > qi (S; - R;)
Der Erwartungswert der Opportunitätskosten der eigenen Kooperation muß größer sein als der zu erwartende entgangene Gewinn für den Fall, daß
Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize
203
der Partner das Arbeitsverhältnis auflöst. Liegt diese Bedingung vor, so handelt es sich hier um eine Dilemmasituation in Form des Gefangenendilemmas (vgl. z.B. Taylor 1987, S.13 f.). Die Relevanz dieser Bedingung für den betrachteten Fall ergibt sich aus der Arbeitsmarktsituation des Arbeitgebers Zeiss und dessen Arbeitnehmer. Waren letztere auf dem Arbeitsmarkt gefragt, konnten sie doch nicht sicher sein, im Falle einer kurzfristigen Kündigung durch Carl Zeiss sofort wieder Arbeit zu finden. Ohne die modernen Mechanismen sozialer Sicherung waren jedoch auch kurze Zeiten der Erwerbslosigkeit eine Bedrohung der bürgerlichen Existenz, die es unter allen Umständen zu vermeiden galt. Die Firma dagegen agierte auf der einen Seite auf einem prosperierenden Güternachfragemarkt, während auf der anderen Seite der Markt für (qualifizierte) Arbeitskräfte durch Knappheit und Konkurrenz gekennzeichnet war (vgl. Schomerus 1955, S.44 und S.52). Demnach war die Wahrscheinlichkeit, Arbeitskräfte entlassen zu müssen, relativ gering, während Konkurrenzangebote anderer Firmen die Arbeitnehmer zu einem Stellenwechsel verlocken konnte, und diese dadurch die unerwünschte einseitige Kündigung sicher vermieden. Daher tendiert die Präferenzstruktur für beide Seiten in der obigen Gleichung zu einer Dilemmassituation hin: eine kooperative Lösung wäre für beide vorteilhafter als die beiderseitige Defektion. Die von Abbe gewählte Möglichkeit, die vorteilhaftere Lösung zu realisieren, soll im folgenden Abschnitt formalisiert diskutiert werden.
b) Die Pfänderlösung des Spiels
Formal können Pfänder als Faktoren definiert werden, die bei bestimmten Handlungskombinationen den Payoff eines Partners vermindern und evtl. den des anderen erhöhen. Es sei im folgenden X; das Pfand, das der Arbeitgeber auf das eigene kooperative Verhalten gibt, während Y; der Anreiz für den Arbeitnehmer in Form einer zukünftigen Pension sei. Die Kosten in Höhe von X1 fallen dann für den Arbeitgeber an, wenn er den Arbeitnehmer entläßt, also defektiert. Dagegen fallen die Kosten für den Anreiz in der Höhe von Y1 immer dann an, wenn es zu einer (längerfristigen) kooperativen Beziehung kommt. Diese Kosten Y1 kommen dann jeweils dem Arbeitnehmer zugute (Y2), während er das Pfand X2 nur für den Fall der Entlassung einbehalten darf. Die effektive Veränderung der Auszahlungen zeigt Abbildung 3.
Martin Abraham und Bemhard Prosch
204
B
AG*
c,
o, (R1-X1)
(T1-Y1)
(R1-X1)
N1
AG
(R2+X2) (S2+Y2)
(R2+X2)
N2
AN
Abbildung 3: Extensive Form des Spiels mit Pfändern
Weiter soll wieder angenommen werden, daß mit der Wahrscheinlichkeit q0 "nichts passiert". Jedoch kann dies zu anderen Ergebnissen führen als in der Situation ohne Pfänder. Hat zum Beispiel das Arbeitsverhältnis lange genug Bestand, so steht für den Arbeitgeber die Auszahlung erworbener Pensionsansprüche etc. an, während der Arbeitnehmer eben jene erhält. Daher soll angenommen werden daß für diesen Fall der Arbeitgeber N1 ~ 0, der Arbeitnehmer N2 ~ 0 erhält. Die effektiven Payoffs zeigt Abbildung 4. Eine Rangordnung der effektiven Präferenzen kann ohne eine Bestimmung der Pfänder nicht angegeben werden. Jedoch kann die Lösung dieses Spiels nur in einer Kombination dominanter Strategien liegen. 1 Dies folgt aus der Tatsache, daß die Bedingungen für ai.~ c/ und bi'~ ~·identisch sind. Demnach ist für die Spieler C dominant, wenn gilt (6)
e;.' > ai'
und~·
> bi'·
Dies bedeutet für den Arbeitgeber, daß die Bedingung
1 Die Möglichkeit der Indifferenz zwischen zwei Strategien soll hiermit ausgeklammert werden.
205
Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize
c
D
a~· q 0N2 + q 1(R 1 + X1 ) + q JR 2+ X2 )
c~· ~N 1+ q 1(R 1+ X2 )
a;• qoN1• q1CR1- X1)
qJR1- X1)
b1• q". t q ~R 1- X1) • q_s 1
qoNa• q1(Sz• Yz) • qaCR.z• X.l
d~• q".a• q1(Sa• Yz) • qaTa
+
~ T1
c bz•
+
D c~· qoN t q 1(T1- V 1)
+
qJR1- X1)
d;• qoN1• q1(T1• Y1l • qaS1
Abbildung 4: Normalform des Spiels mit Pfändern
(7) und für den Arbeitnehmer die Bedingung (8)
erfüllt sein muß. Soll für beide Spieler Kooperation vorteilhaft sein, so muß der Nettogewinn der Kooperation den Nettogewinn bei Defektion übersteigen. Die beiden bisher diskutierten Spiele können als Teilspiele betrachtet werden, zwischen denen der Arbeitgeber wählen kann. Ob nun eine der vier möglichen Lösungen des zweiten Teilspiels realisiert wird, hängt von der Wirksamkeit und der Effektivität der Pfänderstruktur ab. Dabei kommen drei Alternativen in Betracht. Erstens könnte die Anreizstruktur verhindern, daß der Arbeitgeber durch die Einführung von Pfändern sich selbst besser stellen kann. Zum zweiten bestünde die Möglichkeit, daß die Pfänder nur den Arbeitgeber besser stellen, den Arbeitnehmer jedoch benachteiligen. Die
206
Martin Abraham und Bernhard Prosch
Pfänder hätten somit nur eine Verteilungswirkung. 1 Schließlich könnten die Pfänder zu einer Verbesserung für beide Seiten führen (Efflzienzaspekt, vgl. Raub 1984). Nur die letzten beiden führen zur einer tatsächlichen Implementierung des Pfändersystems. Formal bedeutet dies, daß die Lösung des ersten Teilspieles für den Arbeitgeber schlechter sein muß als mögliche Lösungen des Teilspiels mit Pfändern: (9) Es kann gezeigt werden, daß zwei mögliche Lösungen des zweiten Teilspieles diese Bedingung nicht erfüllen: (10)
DJD 2 mit d1 > d1' q1T 1 > q0N 1 + q 1(T1 - Y 1) mit N 1 s 0 und Y 1 > 0 .
und (11) < = > q1T 1 > q0N 1 + q 1(R 1
-
X 1) mit N 1 s 0, T 1 > R 1 und X 1 > 0 .
Solange für den Arbeitnehmer die Strategie C nicht dominant ist, bleibt die Pfänderlösung für den Arbeitgeber ineffizient. Will er dies vermeiden, muß das Pfand X 2 vom Arbeitgeber so gesetzt werden, daß es die Bedingung (12)
erfüllt. Damit kommen als potentielle Lösungen des zweiten Teilspiels nur noch C 1/C2 und DJC2 in Frage. Soll C 1/C2 für den Arbeitgeber effizient sein, muß gelten (13)
Die erwarteten Kosten der kooperativen Lösung müssen demnach kleiner sein als die Summe der erwarteten Nachteile eigener Kooperation und dem Vorteil aus der Kooperation des Arbeitnehmers. Die analoge Bedingung für DJC1 lautet (14)
< =>
d 1 < c1' qiYI + QP1 < QoNJ + q2(R1 - SI) ·
1 Dies könnte als die oben erwähnte "DDR-Auslegung• interpretiert werden. Abbe hätte demnach ein Ausbeutungssystem implementiert und nur das Kapital zu seinen Gunsten umverteilt. Dieser Vmwurf wird später noch auf seine Haltbarkeit hin untersucht.
Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize
207
Die erwarteten Kosten des Pfändersystems müssen für den Arbeitgeber geringer sein als der erwartete Nettonutzen einer kooperativen Lösung. Es konnte also gezeigt werden, daß unter den genannten Bedingungen die Implementierung eines Pfändersystems für den Arbeitgeber günstiger sein kann als eine Arbeitsbeziehung ohne Pfänder. Welche der beiden möglichen Lösungen angestrebt wird, ist abhängig von der Größe der Pfänder Xi und Yi. Als letzte Frage bleibt zu beantworten, ob die Pfänder nun einen Verteilungs- oder einen Efftzienzeffekt besitzen. Ein Efftzienzeffekt liegt dann vor, wenn die Lösungen des Teilspiels mit Pfändern für den Arbeitnehmer günstiger ist als eine Regelung ohne Pfänder, also (15)
Nach (12) gilt für die beiderseitige kooperative Lösung: (16)
< = > q1S2 + ~T2 < q0N2 + q1(R 2 + X2) + ~(R 2 + X2) mit N2 ~ 0
und für die einseitig kooperative Lösung D 1/C2 analog (17)
d2 < b2'
< = > q1S2 + q2T2 < q0N2 + q 1(S 2 + Y2) +
~(R 2
+ X2) mit N2 ~ 0 .
Beide Pfänderlösungen sind sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer im Vergleich zu der Situation ohne Pfänder günstiger. Das Pfändersystem bewirkt daher eine Effizienzsteigerung.
c) Die Zeiss-Stiftung als intentionales InstlUment zur Errichtung eines Pfändersystems
Von dem 122 Paragraphen umfassenden Stiftungsstatut betrifft Abschnitt V die soziale Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Abbe kommentierte ihn: "Ich erblicke darin den wichtigsten Teil des Statuts, weil diese Festsetzungen für mich bedeuten den äußeren Abschluß eines wesentlichen Stückes meiner ganzen Lebensarbeit und weil ich zugleich überzeugt bin, daß den Bestrebungen, die darin zum Ausdruck kommen, ein ganz entscheidender Anteil bei der günstigen Entwicklung der jetzigen Stiftungsunternehmungen beizumessen ist" (Abbe 1906, S.347). In diesem fünften Abschnitt des Statuts sind auch die Paragraphen über die Abgangsentschädigung (77) und die Pension (72) zu finden. Ziel des Statuts
208
Martin Abraham und Bemhard Prosch
und insbesondere der Paragraphen 72 und 77 war für Abbe die "dauernde Leistungsfähigkeit" (Abbe 1906, S.363) des Unternehmens: "Der gewählte Weg schien mir der einzige zu sein, für unser Unternehmen gesicherte Grundlagen für Fortbestand auf lange Zeit herzustellen" (vgl. Schomerus 1955, S.178). Aufgrund der Ansprüche, welche die feinmechanische Produktion an die technische Fertigkeit der Arbeitnehmer stellt (vgl. Schomerus 1955, S.52), erkannte Abbe die Bedeutung einer langfristigen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer: "Auf dem Besitz einer ständigen, dem Wechsel nicht ausgesetzten Arbeiterschaft für die feinen optischen Arbeiten beruht aber die technische Leistungsfähigkeit des Betriebes, weil ohne dieses keine feste Schulung und keine Ausbildung zu größeren Fähigkeiten möglich wäre" (vgl. Schomerus 1955, S.44). Um die langfristige Bindung zu gewährleisten, sollte die Richtschnur für das Arbeitsverhältnis sein, dem "Interessengegensatz beider Teile ein wirksames Gegengewicht zu bieten in der planmäßigen Pflege der gemeinsamen Interessen" (vgl. Schomerus 1955, S.188): "Innerhalb unseres Betriebes gibt es keinen 'Klassenkampr. ( ...)Bei uns gibt es nur ein Zusammenarbeiten auf dem Boden der friedlichen Interessenausgleichung" (Abbe 1906, S.261). Dem bemerkenswerten sozialen Engagement wird nicht unrecht getan, wenn man darauf verweist, daß die sozialen Einrichtungen für die Arbeitnehmer nicht aus philanthropischen Beweggründen bereitgestellt wurden. Abbe betont, daß dies gar nicht möglich sei, "weil wir uns mitten im allgemeinen Wettbewerb befinden und nicht auf einer Insel im indischen Ozean" (Abbe 1906, S.151): "So ist also auch die Einrichtung, die § 77 vorsieht, keine Wohltätigkeits-Veranstaltung, sondern eine unter soziale Zwecke gestellte Rechtseinrichtung" (Abbe 1906, S.385). Diese Rechtseinrichtung wurde im vorigen Kapitel als wechselseitiger Verpflichtungsmechanismus in Form einer Pfänderlösung dargestellt, die beide Partner im Vergleich zu einer Arbeitsbeziehung ohne Verpflichtungen besser stellen. Genau dies hatte Abbe vor Augen, wenn er betont, daß die Arbeitnehmer im Betrieb verbleiben, "solange auf Seiten der Inhaber der Wille besteht, ihr sonstiges Verhalten zu diesen Leuten im Sinne eines wechselseitigen Pflichtverhältnisses zu regulieren" (vgl. Schomerus 1955, S.44). Die Verpflichtung der Arbeitnehmer hat so Geltung, denn "die letzteren wissen ganz genau, warum sie nicht von hier weggehen: sobald einer etwas leistet, sieht er sich so gestellt, daß er sich sagen muß, er werde sich anderwärts nicht verbessern können" (vgl. Schomerus 1955, S.44 f.) - und dies, "obwohl fortwährend - öffentlich und im geheimen - andere sich bemüht haben, dergleichen Leute von hier abwendig zu machen" (vgl. Schomerus 1955, S.44). Auch die Verpflichtung des Arbeitge-
Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize
209
bers hat für Abbe Geltung, da eine Entlassung sofort horrende Kosten verursachen würde (vgl. Abbe 1906, S.352). Als Konsequenz der gelungenen beiderseitigen Kooperationsverpflichtung gab es einen ungeahnten ökonomischen Erfolg und Aufstieg der Stiftungsbetriebe. Die Versorgung der Arbeitnehmerschaft mußte auch Wirkung auf die Region ausüben. Schomerus urteilte daher zu Beginn der 30er Jahre, daß ein in Deutschland einzigartig niedriger Prozentsatz an von der Gemeinde unterstützten Sozialrentnern festzustellen ist: "Zweifellos sind die sozialen Verhältnisse in Jena besser als in anderen Industriestädten" (Schomerus 1930, S.16).
Das Stiftungsstatut zeugt einerseits von einem bemerkenswerten sozialen Gewissen des Stifters Ernst Abbe und andererseits von einem außerordentlichen Verständnis des Physikers für organisationssoziologische Problemstellungen und ihre Lösungsmöglichkeiten durch eine bewußte Gestaltung der Organisationsstruktur und eine statutarische Fundierung, 1 für die Abbe mit einem juristischen Ehrendoktortitel gewürdigt wurde (vgl. Auerbach 1925, S.199).
5. Ausblick Mit dem vorliegenden Modell konnten die für Entstehung und Funktionieren von Pfändersystemen relevanten Parameter in Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen herausgearbeitet und der zugrundeliegende Kooperationsmechanismus erklärt werden. Weiter wurde gezeigt, daß Abbe sich bei der Gründung der Carl-Zeiss-Stiftung der Probleme einer solchen Beziehung bewußt war. Die spieltheoretische Modellierung seines Lösungsansatzes zeigt, daß die von Abbe eingeleiteten Maßnahmen geeignet waren, den gewünschten Kooperationseffekt zu erzielen. Darüber hinaus verdeutlicht das Modell exemplarisch die Wirksamkeit von Pfändersystemen für betriebliche Kooperationsprobleme. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß dieses Beispiel keinesfalls den Rang einer empirischen Überprüfung, sondern 1 Abbe erkannte nicht nur das Problem der Kooperation zwischen den Partnern der Arbeitsbeziehung, sondern auch das der Kollektivguterstellung "Arbeitserfolg" unter den Beschäftigten in arbeitsteiligen Prozessen (vgl. insbes. Abbe 1906, S.119 ff.). So war für ihn klar: die Firma "vertritt das Interesse der Gesamtheit aller arbeitstätigen Genossen gegenüber dem Interesse aller Einzelnen, das Interesse der dauernden Gemeinschaft aller gegenüber den Interessen, welche die einzelnen jeweils haben" (Abbe 1906, S.124). 14 Büschgcs
210
Martin Abraham und Bernhard Prosch
lediglich den einer empirischen Evidenz darstellen kann. Diese korrespondiert mit Befunden, die in anderen Zusammenhängen die Wirksamkeit von Pfändern für die Lösung sozialer Kooperationsprobleme empirisch belegen (Raub I Keren 1990; Prosch 1991). Selektive Anreize in Form von Verpflichtungen oder Pfändern spielen jedoch nicht nur innerbetrieblich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Rolle, sondern sind auch für wirtschaftliche Beziehungen sowie Organisationen aller Art relevant (Raub I Keren 1990; Williamson 1985). Die Verwendung dieses Ansatzes zur Erklärung der Kooperation rationaler Egoisten in Organisationen scheint vor allem deswegen fruchtbar zu sein, da Pfänder eine mögliche Verbindung zwischen der Organisationsstruktur und den individuellen Präferenzen sein können. Dies wird am Beispiel der Carl-ZeissStiftung besonders deutlich, da die Einrichtung solcher Anreize erst durch die gewählte Organisationsform ermöglicht wurde. Damit wird auch dem gewählten strukturell-individualistischen Ansatz entsprochen, der eine derartige Verknüpfung zwischen Struktur und individueller Zielsetzung fordert, ohne die kollektive Phänomene, wie dies Organisationen darstellen, nicht erklärt werden können (Coleman 1986; Raub 1984; Büschges 1989).
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- I Lütlre-Bomefeld, Peter:
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Coleman, James S.: Social Theory, Social Research and a Theory of Action. In: American Journal of Sociology 91, 1986, S.1309 ff. David, Walter: Die Cari-Zeiss-Stiftung- ihre Vergangenheit und ihre gegenwärtige rechtliche Lage, Heidenheim 1954
Arbeitsbeziehungen und selektive Anreize
211
Fischer, Wolfram: Die Pionierrolle der betrieblichen Sozialpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift rür Unternehmensgeschichte, Beiheft 12, 1978, S.34 ff.
Franke, Joachim: Sozialpsychologie des Betriebes, Stuttgart 1980. Granovetter, Mark: Economic Action and Social Structure: the Problem of Embededness. In: American Journal of Sociology 91, 1985, S.481 ff. Heuss, Theodor: Deutsche Gestalten - Studien zum 19. Jahrhundert, Tübingen 1951
Lampen, Heinz: Lehrbuch der Sozialpolitik, Heidelberg 1985 Olson, Mancur: Die Logik kollektiven Handelns, Tübingen 1968 Prosch, Bernhard: Kooperation durch Pfander- Spieltheoretische Modellierung, experimentelle
Überprüfung und empirische Evidenzen beim Chicken-Game, Diplomarbeit, Nürnberg 1991
Raub, Werner: Rationale Akteure, institutionelle Regelungen und Interdependenzen, FrankfurtiM. 1984
-I Keren,
Gideon: Hostages as a Commitment Device: a Game-Theoretic Model and an Empirical Test of Some Scenarios, MS, Utrecht 1990
Schomerus, Friedrich: Die soziale Betriebspolitik der Jenaer Zeißwerke, Stockholm - Internationale sozial-kirchliche Zeitschrift, Sonderdruck 3, 1930
-Werden und Wesen der Carl-Zeiss-Stiftung, Stuttgart 1955 Schrüfer, Klaus: Ökonomische Analyse individueller Arbeitsverhältnisse, Frankfurt IM. 1988 Shapiro, C. I Stiglitz, Joseph E.: Equilibrium Unemployment as a Worker Discipline Device. In: American Economic Review 74, 1984, S.433 ff. Williamson, Oliver E.: The Economic Institutions of Capitalism, New York (Free Press) 1985 Wittig, Joachim: Ernst Abbe, Leipzig 1989
II. Private Haushalte als sozialer Kontext individuellen Handeins Von Walter Funk
1. Zur soziologischen Relevanz des Haushaltskontextes Stark vereinfachend läßt sich der Wirtschaftskreislauf als Abfolge von Prozessen der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen auffassen. Während sich die Produktion dabei vorwiegend in Betrieben und Unternehmen, also Interaktionszusammenhängen vom Typ der Organisation abspielt, ist für die Distribution dieser Güter, zumindest in den westlichen Industriegesellschaften in letzter Zeit jedoch zunehmend auch in bisher planwirtschaftlich organisierten Zentralverwaltungswirtschaften, typischerweise der Markt mit seinen spezifischen Wirkungszusammenhängen verantwortlich. Der Konsum von Wirtschaftsgütern, bzw. vorgelagerte Aktivitäten ihrer Auf- und Vorbereitung zur Konsumtion, werden dagegen üblicherweise den privaten Haushalten zugeschrieben. Auf der Mikroebene der Individuen hat diese Charakterisierung weitreichende Folgen: Organisation, Markt und privater Haushalt stellen für das Individuum je verschiedene, seine Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen unterschiedlich strukturierende Interaktionssysteme dar. Einer soziologischen Analyse individuellen wirtschaftlichen bzw. wirtschaftlich orientierten Handeins im Kontext dieser Interaktionssysteme muß es folglich darum gehen, "unter Rückgriff auf Hypothesen über individuelles Verhalten zu zeigen, wie der soziale Kontext individuelle Handlungen beeinflußt, die ihrerseits Rückwirkungen auf diesen Kontext haben" (Raub und Voss 1981, S.32). Damit ist ein Vorgehen näher umrissen, das im folgenden als "strukturell-individualistisch" bezeichnet wird und dem sich auch diese Arbeit verpflichtet fühlt. "Im Lichte dieser theoretischen Orientierung lassen sich wirtschaftliches Handeln, seine Ergebnisse und seine Folgen weder ausschließlich als individuell determiniert, noch primär als gesellschaftlich
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Waltee Funk
bedingt angemessen erfassen .... Der Situation angemessen ist m. E. nur ein Modell, das wirtschaftliches Handeln als komplexes Produkt aus kulturellen Rahmenbedingungen, institutionellen Regeln, situationsbezogenen Gegebenheiten und persönlichkeitsspezifischen Faktoren abbildet. Wirtschaftliches Handeln und seine Folgen lassen sich nicht allein durch Bezugnahme auf die Beweggründe der Handelnden erklären, sondern nur, wenn auch das soziale Umfeld, wenn die soziale Ordnung, in der die Handelnden leben, die sozialen Institutionen und deren Funktionen sowie deren Interpretation durch die Handelnden mit herangezogen werden. Von diesen Faktoren hängen die Handlungseffekte mindestens ebenso ab wie von den Absichten der Handelnden" (Büschges 1990, S.2). Bis in die Alltagssprache hinein hat es sich durchgesetzt, von unserer Gesellschaft als "Wirtschaftsgesellschaft" oder "Organisationsgesellschaft" zu sprechen. Damit wird zum einen die soziale Relevanz der Wirtschaftsordnung einer Gesellschaft akzentuiert, die nicht nur auf der Makroebene einer Volkswirtschaft sondern auch auf der Mikroebene der Individuen bedeutsam ist. Zum anderen wird treffend die Ubiquität jener Zusammenschlüsse von Individuen gekennzeichnet, die, jeweils ausgestattet mit einer Leitungsinstanz und arbeitsteilig gegliedert, der Verwirklichung je spezifischer Ziele dienen (vgl. Büschges 1983, S.28). Während einerseits Organisationen seit langem Erkenntnisobjekte soziologischer Analysen sind, eine Organisationssoziologie sich dabei im Fach etablieren konnte und entsprechende Lehrbücher längst zur Verfügung stehen (vgl. z. B. Mayntz 1963; Büschges 1983) sowie andererseits im Zuge der "Neuen Wirtschaftssoziologie" (vgl. Heinemann 1987, S.ll) zunehmend Autoren auch einen spezifisch soziologischen Zugang zu den Interaktionszusammenhängen "Wirtschaft" und "Markt" suchen (vgl. z. B. Pierenkernper 1980; Kutsch / Wiswede 1986; Reinhold 1988; Hilimann 1988; Lange 1989), bleibt die explizite soziologische Beschäftigung mit dem Privathaushalt bisher weitgehend aus, bzw. findet in der wirtschaftssoziologischen Literatur lediglich rudimentär und vorwiegend im Rahmen der Analyse des Konsumtionsprozesses statt (vgl. Kusch und Wiswede 1986, S.235 ff.; Lange 1989, S.206 ff.). Während die Konnotation von "Wirtschaft" sowohl Organisationen als auch private Haushalte als Wirtschaftssubjekte mit umfaßt und dies sich auch in wirtschaftssoziologischen Publikationen niederschlägt, ist die soziologische Vernachlässigung des privaten Haushalts im Vergleich zur Herausbildung einer eigenständigen Organisationssoziologie offenkundig. Im Gegensatz zu diesem theoretischen und empirischen "Haushaltsdefizit" (vgl. z. B. König 1976, S.42 f.; von Schweitzer 1986, S.218) hat in der Soziologie die Beschäftigung mit der Familie eine lange und bedeutsame
Private Haushalte als sozialer Kontext individuellen Handeins
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Tradition (vgl. hierzu König 1976, S.5 ff.; Nave-Herz 1989, S.8 ff.). Während die biologische und soziale Reproduktion der Familie stets im Blickpunkt des soziologischen Interesses standen, wurde die eher wirtschaftliche Dimension des Zusammenlebens ("haushalten") und damit die Analyse des privaten Haushalts als soziologisch relevanter Kontext des Individuums vernachlässigt. In der häufig behaupteten Ausdifferenzierung der sogenannten "Kernfamilie" in modernen Gesellschaften wird nun eine Entwicklung gesehen, die die weitgehend selbstverständliche Gleichsetzung von Familie und Privathaushalt hinfällig werden, und den Privathaushalt wieder als eigenständige soziale Kategorie begreifen läßt (vgl. Spiegel1986, S.61). Nicht zuletzt dank eines "ökonomischen Imperialismus" (zuletzt: Dahrendorf 1989, S.4), dem Anspruch ökonomischer Theorien, individuelles Verhalten jedweder Art adäquat zu erklären, und dessen "Vorstoß" zur Analyse familialer Entscheidungs- und Verhaltensweisen (vgl. Becker 1981, 1982a), sieht sich auch die Soziologie veranlaßt, sich erneut verstärkt mit Familien und zunehmend auch Privathaushalten auseinanderzusetzen. Wenn dabei Privathaushalte als Kontext sozialen Handeins von Individuen, bzw. im Rahmen der "Neuen Wirtschaftssoziologie", thematisiert werden, könnte ein solches theoretisch begründetes, methodisch angemessenes und mit adäquaten mathematisch-statistischen Modellen ausgestattetes soziologisches Vorgehen durchaus das ökonomische Rationalitätsdenken im Bereich des Privathaushalts ebenso kritisch hinterfragen und sinnvoll ergänzen, wie dies bei der Analyse des Marktes und der Organisation bereits geschieht. Notwendigerweise kann ein solcher soziologischer Zugang zum Privathaushalt dessen multidisziplinäre Beschaffenheit nur akzentuierend berücksichtigen. Hierbei ist zunächst die Unterscheidung zwischen "Haushalten" und "Wirtschaften" relevant. "Haushalten" oder "haushälterisches Handeln" läßt sich anband von Max Webers soziologischen Grundkategorien des Wirtschaften& recht gut näher charakterisieren (vgl. Weber 1985, S.31 ff.). Weber unterscheidet hier unter anderem zwischen "wirtschaften" und "wirtschaftlich orientiertem Handeln". "'Wirtschaften' soll eine friedliche Ausübung von Verfügungsgewalt heißen, welche primär, (...), wirtschaftlich orientiert ist" (Weber 1985, S.31; im Original hervorgehoben). Konkreter definiert er "rationales Wirtschaften" als planvolle, zweckrationale Ausübung von Verfügungsgewalt (Weber 1985, S.31) und fügt ergänzend hinzu, daß erst der subjektiv "gemeinte Sinn des Handeins dies zum Wirtschaften stempelt" (Weber 1985, S.32). Dieser Auffassung von "Wirtschaften" stellt Weber "wirtschaftlich orientiertes Handeln" entgegen, welches "a) primär an andern Zwecken orientiert ist, aber auf den 'wirtschaftlichen Sachverhalt' (die subjektiv erkannte Notwendigkeit der wirtschaftlichen Vorsorge) in seinem
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Ablauf Rücksicht nimmt, oder welches b) primär daran orientert ist, aber aktuelle Gewaltsamkeil als Mittel verwendet" (Weber 1985, S.31). Bezogen auf den Weber'schen Gliederungspunkt a) des "wirtschaftlich orientierten Handelns" ist das Handeln der Haushaltsmitglieder das dem "Ziel der Lebenserhaltung, der Persönlichkeitsentfaltung, sowie der Kultur des Zusammenlebens in der primären Kleingruppe oder Familie" (von Schweitzer 1988, S.21) dient, die Orientierung an der "Daseinsfürsorge" (vgl. von Schweitzer 1978, S.29; 1988, S.19) einschlägig. Sie ist die zentrale soziale Dimension auf die sich "Haushalten" bezieht und die durch ihre ganzheitliche Fürsorge für die anderen Haushaltsmitglieder über ein Wirtschaften im Sinne der individuellen Nutzenmaximierung bzw. des primär wirtschaftlichen Handeins hinausweist. In diesem Verständnis ist Handeln im Kontext des Haushalts nichtprimär "wirtschaftlich", aber eben doch in enger Abhängigkeit und im Kontext wirtschaftlicher Budget- und Ressourcenbeschränkungen, nach der Definition Webers, "wirtschaftlich orientiert". Auf dieser analytischen Begriffsdifferenzierung aufbauend, läßt sich der handlungsrelevante Einfluß des sozialen Kontextes Privathaushalt, die "social embeddedness" (Granovetter 1985) haushälterischen Handelns, theoretisch entwickeln. "Haushalten" darf deshalb nicht mit "Wirtschaften" gleichgesetzt werden (vgl. hierzu auch Egner 1956, S.68).
2. Die Abgrenzung von "Privathaushalt" und "Familie" Auf die Notwendigkeit einer expliziten Differenzierung zwischen "Familie" und "Privathaushalt" verweisen nicht nur Soziologen (z. B. Spiegel 1986), Demographen (z. B. Burch 1982, S.300) und Haushaltswissenschaftler (z. B. von Schweitzer 1983, S.228), sondern auch Ökonomen (z. B. Pollak 1985, S.589). In der Soziologie findet diese Forderung allerdings erst langsam Gehör. Während sich Emge (1981) in seiner Arbeit noch auf den "Familienhaushalt" konzentriert und es m. E. gerade deswegen versäumt, Privathaushalt und Familie in ihrer jeweiligen Spezifität hervorzuheben sowie die Ausdifferenzierung familialer und haushaltlieber Lebensformen angemessen zu berücksichtigen, will Hoffmann-Nowotny (1988, S.3) neuerdings dem klassischen Familienhaushalt nur noch einen "Minderheitsstatus" zugestehen. Gemeinhin wird eine Familie über das Charakteristikum der Verwandtschaft, als sozio-biologische Einheit, ein Privathaushalt dagegen über die gemeinsame Wohnung, "das häusliche Zusammenleben und Wirtschaften" (von Schweitzer 1988, S.21), als sozio-ökonomische Einheit (vgl. Schubnell
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1959b, S.224), wissenschaftlich abgegrenzt. Obwohl Familie und Privathaushalt in ihrer personellen Besetzung und den ihnen zugeschriebenen Funktionen eine beachtliche Kongruenz aufweisen, scheint es wissenschaftlich fruchtbar, die beiden Interaktionssysteme zur besseren Charakterisierung zunächst getrennt voneinander zu analysieren. Zur gegenseitigen Abgrenzung soll für die weiteren Überlegungen Familie im Sinne des Vierten Familienberichts "... in einer sehr weiten Bedeutung die Gruppe von Menschen bezeichnen, die miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind, gleichgültig ob sie zusammen oder getrennt leben, ob die einzelnen Mitglieder noch leben oder bereits verstorben sind. ... Familie kann unabhängig von räumlicher oder zeitlicher Zugehörigkeit als Folge von Generationen angesehen werden, die biologisch und rechtlich miteinander verbunden sind" (BMJFFG 1986, S.14). Bereits die Abgrenzung der personellen Reichweite von Privathaushalt und Familie stellt die theoretische ebenso wie die empirische Forschung vor einige Schwierigkeiten. So müssen nicht alle Angehörigen einer Familie im gleichen Haushalt wohnen. Die subjektiv erlebte Familienzugehörigkeit und die faktisch gelebten Familienbeziehungen werden vielmehr gerade nicht am Kriterium des gemeinsamen Wohnensund Hausballens festzumachen sein. In der Betrachtung des Lebenslaufs wird ein Kind spätestens mit dem Auszug aus der elterlichen Wohnung und der eigenen Familiengründung als Mitglied zweier Familien, nämlich der elterlichen Herkunfts- sowie der eigenen "Zeugungs"familie, gesehen. Familie weist damit einerseits weit über den Haushaltskontext hinaus, andererseits können aber die Mitglieder mehrerer Familien faktisch auch in einem einzigen Haus(halt) zusammen wohnen und wirtschaften. Selbst die Frage, welche Verwandtschaftskonstellationen konkret als Familie gefaßt werden sollen, läßt sich keineswegs leicht wissenschaftlich eindeutig, eher noch forschungspragmatisch beantworten. Umgekehrt kann bereits eine Person alleine als Einpersonenhaushalt gefaßt, die Existenz eines Haushalts also unabhängig vom Zusammenwohnen in einer Familie festgestellt werden. Außerdem kann ein Haushalt den Kontext einer Familie durch die Einbeziehung anderer verwandter und nichtverwandter Personen auch weit übergreifen. Bereits diese Unschärfen bezüglich der personellen Reichweite der beiden Konzepte "Familie" und "Privathaushalt" deuten ihre, je nach der inhaltlichen Fragestellung, wissenschaftlich unterschiedliche Mächtigkeit an. Ist die soziologische Beschäftigung mit Haushalten und Familien kongruent, trifft man auf eine Familiensoziologie, die ihre Analysen auf die zusammenwohnende Familie fokussiert. Dabei akzentuiert sie einen (familien)historisch bestimmten Ausschnitt des Familienzyklus, orientiert sich an standardisierten Rechtsbegriffen des Zu-
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sammenlebens und zeichnet allzu leicht ein einseitiges Bild familialer Lebensformen (vgl. Marbach / Weidacher 1989, S.88).
3. Definitionen des Privathaushalts
"Die kontinuierliche Verwendung und Beschaffung (sei es durch Produktion oder Tausch) von Gütern zum Zweck 1. der eigenen Versorgung oder 2. zur Erzielung von selbst verwendeten anderen Gütern heißt Haushalt." In dieser Defmition von Max Weber (1985, S.46) und ihrer Einordnung in das Kapitel "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens" tritt die Dominanz des ökonomischen Aspektes bei seiner Beschäftigung mit dem privaten Haushalt bereits deutlich hervor. In Anlehnung an Weber kann nach Egner "... der Haushalt ... kurz bestimmt werden als die Einheit der auf Sicherung der gemeinsamen Bedarfsdeckung einer Menschengruppe im Rahmen eines sozialen Gebildes gerichteten Verfügungen" (1976, S.34). Diese Definition sieht Egner als in drei Punkten von Weber abweichend. Während Weber den Handlungsaspekt betone, konzentriere er selbst sich auf den institutionellen Charakter des Haushalts. Weilletzterer bei Weber fehle, könne dieser auch "die Bedeutung des Haushalts für das gesamte Zusammenleben" (Egner 1976, S.34, Fußnote 23) nicht hervorheben. Schließlich erscheint Egner der Einschluß der "Erzielung von selbst verwendeten anderen Gütern", neben der eigenen Versorgung, in der Definition Webers entbehrlich. Wenn man unter dieser Güterkategorie Geschenke etc. ebenso zusammenfasse wie Steuern und andere Abgaben, dann sei dies für den Haushalt zwar relevant aber nicht konstitutiv und sehr gut mit einem auf Unterhaltssicherung erweiterten Versorgungsverständnis zu fassen. 1 Egner sieht den Schwerpunkt seiner eigenen Definition in der "Einheit der Verfügungen" (1976, S.35). Für das volkswirtschaftlich ausgerichtete Interesse dieses Autors mag der Bezug auf eine innere Kohärenz des haushaltliehen Handeins genügen. Für die soziologische Analyse dagegen ist gerade der
1 Es bleibt fraglich, ob Egners Interpretation des Weber' sehen Definitionspartikels "Erzielung von selbst verwendeten anderen Gütern" als (freiwillige oder erzwungene) Abgaben im weitesten Sinne, zutreffend ist. Zu denken wäre hier auch an die heute als Haushaltsproduktion bezeichneten und insbesondere von den New Horne Economics thematisierten Arbeiten im Haushalt, bei denen Marktgüter von den Haushaltsmitgliedern erst unter Verwendung ihrer Zeit und ihres Humankapitals zu konsumierbaren "commodities" weiterverarbeitet werden (vgl. hierzu Kapitel 4).
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dahinter stehende Prozess der Präferenzenbildung, Interaktion, Arbeitsteilung etc. interessant: Hier gilt es, die "black box" Privathaushalt (vgl. Berk 1980, S.l15) zu erhellen. Neuere wirtschaftssoziologische Arbeiten akzentuieren in ihren Definitionen des Privathaushalts ebenfalls die Dimension seiner ökonomischen Aktivitäten (vgl. Kutsch / Wiswede 1986, S.236; Lange 1989, S.208), gehen daneben aber auch auf relevante soziale Dimensionen ein. 1 Die m.E. konstitutive Funktion dieser sozialen Dimensionen für den Privathaushalt würde es durchaus rechtfertigen, die pointiert ökonomischen Defmitionen dementsprechend zu erweitern. Schließlich will doch gerade die soziologische Analyse den engen, zumindest aber sehr einseitigen Bezug auf die ökonomische Funktion des Privathaushalts überwinden, durch die Betonung und Analyse seiner sozial eingebetteten "Multifunktionalität" (vgl. Kutsch /Wiswede 1986, S.240; Lange 1989, S.209 ff.). Hilfreich für die definitorische Abgrenzung des privaten Haushalts ist auch ein Blick in die amtliche Statistik (vgl. hierzu auch Schubnell1959a, 1959b). Dort wird Haushalt (Privathaushalt) definiert als "Zusammenwohnende und eine wirtschaftliche Einheit bildende Personengemeinschaft sowie Personen, die allein wohnen und wirtschaften. Zum Haushalt können verwandte und familienfremde Personen gehören (z. B. Hauspersonal)" {Statistisches Bundesamt 1990, S.41). Auch für die empirische Sozialforschung wird diese Operationalisierung relevant. Während die Erfragung des Familienkontextes wegen der stark subjektiv geprägten Familiendefinition erhebliche Schwierigkeiten bereitet, bietet sich mit der Konzentration auf die zusammenwohnende und -wirtschaftende Haushaltsgemeinschaft ein sozial relevanter Kontext an, der, im Vergleich zu Familie, relativ leicht abzugrenzen und zu erheben ist. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Konstruktion einer Haushaltstypologie mit den in Allgemeinen Bevölkerungsumfragen erhobenen Daten (vgl. Kapitel 5) definiert Porst {1984, S.167): "Haushalte sind Einheiten miteinander lebender und gemeinsam wirtschaftender Personen, die in beliebiger Weise miteinander verwandt sein können, aber nicht notwendiger-
1 Hier sind, ohne Anspruch
auf Vollständigkeit, insbesondere die Sozialisationsfunktion (vgl.
Kutsch / Wzswede 1986, S.236; Lange 1989, S.211; sowie von Schweitzer 1978, S.43f; Emge 1981, S.98f), die Funktion der sozialen Plazierung (Lange 1989, S.21lf; sowie Emge 1981, S.107ff), die Funktion der Reproduktion der Gesellschaft (Lange 1989, S.211; sowie von Schweitzer 1978, S.37ff), die Funktion der Tradierung der Kultur (Lange 1989, S.211) sowie die Funktion des Spannungsausgleichs (Lange 1989, S.211), zu nennen. Emge 1981, S.8lff thematisiert darüberhinaus noch die Schutzfunktion des Privathaushalts.
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weise miteinander verwandt sein müssen. Allein lebende und selbständig wirtschaftende Personen bilden Einpersonenhaushalte." Diese, in enger Anlehnung an die amtliche Statistik formulierte Definition grenzt das Untersuchungsobjekt Privathaushalt ebenfalls über die gemeinsame Wohnung und das gemeinsame Wirtschaften ab. Sie stellt gleichfalls klar, daß das Charakteristikum der Verwandtschaft der Haushaltsmitglieder für die soziologische Abgrenzung des Privathaushalts keine Rolle spielt.
4. Der Haushaltskontext in der Sicht der "New Home Economics" Die "Neue Haushaltsökonomik" (New Horne Economics) faßt Familien und private Haushalte als Entscheidungsinstanzen auf, in denen Ressourcen unter Beachtung bestimmter Knappheitsverhältnisse zur Nutzenmaximierung der Haushaltsmitglieder planmäßig eingesetzt werden. Seit nunmehr über zwanzig Jahren ist diese ökonomische Beschäftigung mit (im strengen Sinn) außerökonomischen Sachverhalten mit dem Namen Gary S. Becker verbunden.1 Die Basis seiner theoretischen Zugangsweise beschreibend, faßt Becker zusammen: "Die Annahme des nutzenmaximierenden Verhaltens, des Marktgleichgewichts und der Präferenzenstabilität - strikt und ohne Einschränkungen angewandt - machen zusammen den Kern des ökonomischen Ansatzes aus, so wie ich ihn sehe" (Becker 1982b, S.4). Dazu modifiziert Becker die "traditionelle" ökonomische Analyse durch die stärkere Betonung von Einkommens- und Preiseffekten und die relative Vernachlässigung von Präferenzen bei der Interpretation menschlichen Verhaltens (vgl. Becker / Michael 1982, S.161). Er überträgt das Marktinstrument des Preises auf Nicht-Markthereiche und unterstellt dort ebenfalls über Preise gesteuerte Wirkungszusammenhänge von Angebot und Nachfrage. Preise im Marktbereich und sogenannte "Schattenpreise" (shadow prices) im Nicht-Markthereich "messen die Opportunitätskosten des Einsatzes knapper Ressourcen" (Becker 1982b, S.5). So wendet der Autor das Modellgerüst der neoklassischen Mikroökonomie auf (bisher) nicht-ökonomisch erklärte Fragestellungen an, führt hier dabei typische ökonomische Randbe-
1 Die folgende Auseinandersetzung mit den "New Horne Economics" orientiert sich vor allem an Aussagen dieses Autors. Auf die Weiterentwicklung und DiversifiZierung der "New Horne Economics" durch andere Autoren kann in dieser Arbeit nicht eingegangen werden.
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dingungen ein und beansprucht für diesen Erklärungsansatz geradezu universale Gültigkeit. 1
a) Der Erklänmgsansatz der "New Horne Economics"
Becker selbst sieht als wesentlichen Fortschritt seiner Theorie des Haushalts gegenüber der traditionellen Beschäftigung mit Haushalten die explizite Bezugnahme auf "eine Familie mit mehreren Personen mit interdependenten Nutzenfunktionen.2 Sie konzentriert sich auf die Koordination und Interaktion zwischen den Mitgliedern im Hinblick auf Entscheidungen .. ." (Becker 1982d, S.187). Interessanterweise steht dieser Ausdifferenzierung dann jedoch die Behandlung des Haushalts als "decision making unit" (Berk 1980, S.116) und die Konzentration des Erkenntnisinteresses auf die Maximierung des Nutzens des Gesamthaushalts, nicht jedoch des Nutzens der einzelnen Haushalts- oder Familienmitglieder, gegenüber.3 Grundlegender Ausgangspunkt der "New Horne Economics" ist die Überlegung, daß private Haushalte aus ökonomischer Sicht nicht lediglich als Konsumenten im Wirtschaftsprozeß vertreten sind, sondern auch maßgeblich als Produzenten aufgefaßt werden können (vgl. Becker 1982c, S.lOl) und dabei die in der Ökonomie weitverbreitete Annahme der Nutzenmaximierung als Teil der Rationalität des Wirtschaftssubjektes Privathaushalt Anwendung finden kann. Marktgüter, vom Haushalt gekauft, werden danach nicht lediglich zur Nutzenstiftung konsumiert, sondern als "input" in einen sogenannten Haushaltsproduktionsprozeß eingebracht. Dabei werden sie mit der nutzenmaximierend eingesetzten Zeit der Haushaltsmitglieder und in Abhängigkeit von dem als Humanvermögen akkumulierten Wissen, den je individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Haushaltsmitglieder, kombiniert und zu "commodities", sogenannten "elementaren Gütern", 1 "In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist" (Becker 1982b, S.7).
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Mit Familie ist hier die zusammenwohnende Familie angesprochen.
Dieses Vorgehen wird nach Krüsselberg I Auge I Hitzenbecher 1986, S.49f durch Bezug auf den Fürsorge-Aspekt in Haushalten gerechtfertigt: Bei der Maximierung einer einzigen Präferenzfunktion des Haushalts seien die Präferenzen aller Haushaltsmitglieder darin mit berücksichtigt. Eventuelle Differenzen zwischen den Haushaltsmitgliedern bezüglich individueller Präferenzen und dem individuell angestrebten Nutzenniveau würden durch Ausgleichszahlungen untereinander ausgeglichen. 3
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(weiter)verarbeitet. Diese "commodities" erst stiften den Nutzen des Haushalts (vgl. Becker 1982c, S.100 f.). Zusammenfassend kann man mit Krüsselberg (1987, S.178) die Zeitallokationstheorie, die Idee der Haushaltsproduktionsfunktion und das Humanvermögenskonzept als theoretische Ausgangspunkte der "New Horne Economics" bezeichnen (vgl. auch Krüsselberg u.a. 1986, S.28 ff.). In dem Bestreben, die seinen Nutzen maximierenden "commodities" zu produzieren, sieht sich der private Haushalt einigen Beschränkungen gegenüber (vgl. Berk 1980, S.118 f.): Die am Produktionsprozeß beteiligten input-Faktoren "Zeit" und "MarktEinkommen", bzw. die dafür getauschten Marktgüter, stehen nicht in beliebiger Menge zur Verfügung. Dem Haushalt bleibt jedoch die Möglichkeit, eine Erhöhung seines Einkommens anzustreben, beziehungsweise seine effektiv in der Haushaltsproduktion eingesetzte Zeit zu erhöhen (vgl. Berk / Fenstermaker Berk 1983, S.378), m. a. W. in sein Humankapital zu investieren (vgl. Becker 1981, S.9 ff.). Eng mit diesen "'Investitionen in sich selbst'" (Krüsselberg u.a. 1986, S.31) verknüpft ist die Theorie der Zeitallokation. Dahinter steht die Einsicht" ... , daß das im Menschen verkörperte Humanvermögen einen beträchtlichen Wert repräsentiert und deshalb die menschliche Zeit möglichst effizient zu nutzen ist" (Krüsselberg u.a. 1986, S.35). Hinter der Redensart "time is money" verbirgt sich also die für die "New Horne Economics" fundamentale Einsicht in die weit verbreitete und auch zunehmend den Privathaushalt durchdringende "Rechenhaftigkeit" (Weber 1985, S.227) des täglichen Lebens, hier eben nicht lediglich auf Erwerbsarbeit bezogen, sondern auch auf Konsum"arbeit". Zur Erklärung der planmäßigen Verwendung dieser teuren und knappen Zeit dient das Konstrukt der Haushaltsproduktionsfunktion. Diese erfaßt die spezifischen Einsatzverhältnisse von Human- und finanziellem Kapital, Zeit und Marktgütern entsprechend der haushaltsspezifischen Ressourcenbeschränkungen zur Erreichung des gewünschten nutzenmaximalen "commodity''-Outputs.1 Bei der Maximierung seines Nutzens steht der Haushalt natürlich vor dem Problem, entscheiden zu müssen, welches Ziel aus dem Universum der möglichen Güterbündel er auswählt, also welche "commodities" seine Bedürf-
1 Für das weitere Vorgehen macht Berk auf zwei Probleme aufmerksam, die dabei implizit bleiben: Zum einen auf die Tatsache, daß es "die" Produktionsfunktion des Haushalts nicht gibt, sondern daß sich dahinter vielmehr eine Vielzahl unterschiedlicher Produktionsfunktionen für unterschiedliche (Bündel von) "commodities• verbergen. Zum anderen soll auch erwähnt werden, daß bei aller Betonung der Haushaltsproduktionsfunktion deren konkrete Ausprägung typischerweise nicht spezifiziert wird (vgl. Berk 1980, S.ll8).
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nissebei gegebenen stabilen Präferenzen 1 am besten befriedigen. Becker will zeigen, wie Haushalte die dabei möglichen Zielkonflikte im Lichte ihrer Ressourcenbeschränkungen optimal lösen. Jedem Haushalt wird dazu eine Nutzenfunktion zugeschrieben, also eine auf der haushaltliehen Präferenzordnung beruhende Zusammenfassung alternativer Kombinationen der Nutzen stiftenden "commodities". Haushalte versuchen diese Nutzenfunktion zu maximieren, d.h. sie versuchen jenes Bündel an "commodities" zu realisieren, das ihnen den höchsten Nutzen bringt.2 An dieser Stelle wird der bereits angesprochene Zielkonflikt evident: Wie muß ein Haushalt seine begrenzten Ressourcen kombinieren, um seinen Nutzen zu maximieren?3 Zur Beantwortung dieser Frage entwickelt Becker aufgrund deduktiv logischer Modellüberlegungen eine ganze Reihe von Theoremen, die, in Abhängigkeit von unterschiedlichen Fertigkeiten und Einkommenspotentialen der Haushaltsmitglieder, die "Rollendifferenzierung in der Familie unter Berücksichtigung von Komplementaritäts- und Substitutionsbeziehungen im Haushaltsmanagement" (Krüsselberg u.a. 1986, S.lOl) erklären sollen. Allerdings gelten diese Aussagen nur für die sogenannten "marginalen" Haushalte, die ihren Nutzen maximieren. Beckers Erkenntnisinteresse zielt damit ab auf konstruierte, "typische" Haushalte, deren modellhafte Preis-Mengen-Anpassungensowie die Modeliierung einer ökonomischen G leichgewichtssituation.
Zusammenfassend gilt, daß die "kleine Fabrik" (Becker 1982c, S.lOl) namens Haushalt im Gleichgewichtszustand ihrer "commodity"-Produktion ihre personellen, materiellen und zeitlichen Ressourcen so einsetzt, daß daraus ein Maximum an Haushalts-"commodities" und damit ein maximaler Nutzen für den Gesamthaushalt resultiert. Dies impliziert gleichzeitig, daß Haushalte auf Veränderungen ihrer Umwelt, wie z. B. Lohnsätze, Arbeitszeiten, Güterpreise etc., durch die Umgruppierung der HaushaltsproduktionsInputs reagieren. Auf die Verteuerung eines Produktionsfaktors werden Haushalte also mit dem verminderten Einsatz desselben antworten, ein sich verbilligender Faktor wird dagegen vermehrt eingesetzt werden.
1 Hier stellt Becker ab auf •... tieferliegende Präferenzen ... auf grundlegende Aspekte des Lebens, wie Gesundheit, Prestige, Sinnenfreude, Wohlwollen, oder Neid .. ." (Becker 1982b, S.4). 2 Becker /Michael (1982, S.163) betonen, daß hienu keine Rationalität der Handelnden unterstellt wird (vgl. hienu auch Becker 1982a, S.167 ff.). 3 "Recall that to gain maximum utility, households must produce the optimal configuration of household commodities subject to available resources• (Berk 1980, S.119).
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b) Ein soziologischer Zugang zu den "New Home Economics"
Zweifelsohne gebührt Becker das Verdienst, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Prozesse innerhalb von Haushalt und Familie gelenkt zu haben. Schon nach dieser kurzen Einführung werden allerdings eine Reihe von Reibungspunkten zwischen Soziologie und "New Horne Economics" offensichtlich. Befaßt man sich aus soziologischer Sicht mit den "New Horne Economics", trifft man auf eine altvertraute Vorstellung über die Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Soziologie: Viele den Soziologen interessierenden Variablen des familialen oder haushaltliehen Verhaltens werden von Becker in den Datenkranz unbeleuchteter ceteris paribus-Bedingungen verwiesen, die Soziologie allzuleicht zur Wissenschaft der "left overs" degradiert. Zwar betont Becker, daß "(d)er Wert anderer Sozialwissenschaften ... auch durch eine enthusiastische und vollständige Anerkennung des ökonomischen Ansatzes nicht gemindert" (1982b, S.15) werde. Die Vehemenz, mit der die Universalität des eigenen theoretischen Erklärungsansatzes vorgetragen wird (vgl. Fußnote 1, S.221), läßt diese Würdigung allerdings schnell verblassen (vgl. hierzu auch Meyer 1987, S.35 f.). Gerade aus soziologischer Sicht bleiben eine ganze Reihe von impliziten Annahmen der "New Horne Economics" zu kritisieren. Soziale Werte und Normen, Sozialisation, Kultur, soziale Ungleichheit und viele weitere zentrale soziologische Explananda bleiben bei der ökonomischen Analyse menschlichen Verhaltens unberücksichtigt (vgl. Becker 1982c, S.13V Haushalte und Familien werden in ein konstruiertes künstlich-gleichgewichtiges System versetzt, ohne irgendwelche, das ökonomische Nutzenmaximierungskalkül störende, soziale Einflüsse (vgl. auch Berk 1980, S.128). Vollständige, perfekte und kostenlose Informationen (Berk j Fenstermaker Berk 1983, S.386) ermöglichen dabei nutzenmaximierendes Verhalten. Die Unterstellung einer ausgeprägten Anpassungsstrategie an die situationsbestimmenden Restriktionen (vgl. Minte 1983, S.314) beraubt den Haushalt jeglicher Möglichkeit der Einflußnahme auf eben diesen Kontext. Selbst wenn man Mechanismen der Rückwirkung von (z. B. Mengen-)Anpassungen des Haushalts auf die (Preis-)Restriktionen unterstellt, bleibt nach Minte (1983,
1 "Darüberhinaus macht der ökonomische Ansatz keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen wichtigen und unwichtigen Entscheidungen, ... ; er unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen stark gefühlsbeladenen Entscheidungen und solchen mit geringer emotionaler Beteiligung, ...; und er macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Entscheidungen von Personen mit verschiedenem Einkommen, verschiedener Erziehung oder familiärer Herkunft" (Becker 1982b, S.6 f.).
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S.314) die Möglichkeit innovativer Strukturänderungen ausgeschlossen. Damit könne sozialer Wandel in dieser wissenschaftlichen Perspektive nicht analysiert werden. Auch wird der Haushalt nun zwar nicht mehr länger als "black box" betrachtet, eine explizite Analyse empirisch relevanter Muster von Arbeitsteilung und "commodity"-Produktion in Privathaushalten wird allerdings zugunsten des üblichen neoklassischen (Gleichgewichts-) Modellbaus und der Analyse "typischer" Aggregate unterlassen. Nicht empirische Evidenzen auf der Ebene der Individuen und ihrer Haushalte interessieren, sondern modellhaft-aggregierten privaten Haushalten wird nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt. Die Modellgröße des Haushaltsnutzens ist dabei symptomatisch für die Behandlung des privaten Haushalts als Quasi-Entität, ohne expliziten Rückgriff auf die tatsächlich in ihm lebenden Individuen, ihre jeweiligen Präferenzen und Nutzenargumente und die Analyse dieser je spezifischen Haushaltskonstellationen in Verbindung mit den jeweils eingeführten ökonomischen Größen. Soweit Individuen in Haushalten angesprochen werden, wird ihnen ein Verhalten unterstellt, das sich auf den Nutzen des Gesamthaushalts bezieht. Konflikte innerhalb der Familie werden in Becker's Ansatz nicht berücksichtigt (vgl. Berk / Fenstermalcer Berk 1983, S.386). Die Haushaltsmitglieder erscheinen insofern lediglich als sich dem Gesamtwohl Unterordnende, deren Bedürfnis zur Befriedigung eigener subjektiver Wünsche vom "Haushaltsvorstand" (als Repräsentant des Haushalts) mit berücksichtigt wird (vgl. Fußnote 3, S.221). Diese Behandlung des Haushalts als Analyseeinheit (vgl. Becker und Michael 1982, S.158) verhindert den adäquaten Zugang zu individuellem Handeln. Hannan (1982, S.70) kritisiert ferner die fehlende Beachtung institutioneller Arrangements (vgl. hierzu auch Berk / Fenstermaker Berk 1983, S.387). Offensichtlich greift hier auch Albert's Vorwurf des "Modell-Platonismus" (vgl. Albert 1963), und der Schritt zur Tautologie scheint manchmal nur gering zu sein (vgl. Albert 1967, S.401; Witt 1987, S.78)_i Auch die implizite Ablehnung wertrationaler, affektueller und traditionaler Handlungsmodi durch Becker (1982b, S.13) kann Soziologen nicht zufriedenstellen. Mit Berk (1980, S.134) gilt es, den personenbezogenen Charakter (vgl. auch Glatzer 1986, S.10), den symbolischen Gehalt sowie die situations-
1 Vgl. aus soziologischer Sicht zusammenfassend z.B. MacRae 1977, Hannan 1982 und Berk / Fenstermaker Berk 1983, S.383 ff. Die letztgenannten Autoren sprechen insbesondere noch die fehlende Beachtung der "verbundenen Produktion• ("joint production"), die Annahme der Trennbarkeil von Güter- und Zeitinputs in der haushaltliehen Nutzenfunktion sowie als konstant angenommene Skalenerträge der Haushaltsproduktionsfunktion an. 15 Büschges
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bezogene Bedeutung der im privaten Haushalt produzierten Güter, im Gegensatz zur Güterproduktion im Markt, zu betonen. Will man soziale Phänomene nicht lediglich auf ihren Niederschlag in psychischen Prozessen reduzieren (vgl. Berk 1980, S.127), spielen die von den "New Horne Economics" ausgeblendeten sozialen Werte und Normen, sozialisationsbedingte, kulturelle und traditionale Faktoren für eine spezifisch soziologische Analyse eine entscheidende Rolle. Nur vor dem Hintergrund dieser "sozialen" Einflüsse, können der private Haushalt und die ihn konstituierenden Individuen in ihren vielfältigen Verflechtungen mit anderen Individuen, Familien und Haushalten adäquat analysiert werden. Eine soziologische Beschäftigung mit dem privaten Haushalt sollte diese "social embeddedness" (Granovetter 1985) als Ausgangspunkt ihres theoretischen Zugangs wählen. Aus soziologischer Sicht wird in diesem Zusammenhang oftmals die Unterstellung konstanter Präferenzen als gegebenes Datum ökonomischer Analysen als inakzeptabel angesehen.' 2 Wenn man die Annahme einer konstanten menschlichen Natur teilt, also gleiche Verhaltensregelmäßigkeiten oder wie Becker stabile Präferenzen für Individuen unterstellt (vgl. Fußnote 1, S.223), behauptet dies noch keineswegs die Gleichheit bestimmter individueller Merkmale oder Handlungsmuster. Geht man nämlich, wie Soziologen dies im allgemeinen tun, von unterscheidbaren Sozialisations-, (aus-)bildungs- oder lagespezifischen Randbedingungen individuellen Handeins aus, so ist auch unter der "... Annahme einer konstanten menschlichen Natur gerade zu erwarten, daß Akteure unter unterschiedlichen Randbedingungen auch unterschiedlich handeln werden" (Raub / Voss 1981, S.24). Zur Vermeidung von Mißverständnissen scheint es deshalb angebracht, die von Becker als stabil angesehenen Präferenzen hier als grundlegende Verhaltensdispositionen aufzufassen. Die tatsächlich im Sinne von Handlungen zu beobachtenden Präferenzen, müssen dann jedoch stets im Lichte der konkreten Handlungschancen und -beschränkungen analysiert werden. In modernen, vielschichtig sozial gegliederten und hoch industrialisierten Gesellschaften mit den dort behaupteten Individualisierungstendenzen, d. h. einer sich tendentiell verringernden sozialen Normierung und Einbindung sowie der damit einhergehenden Ausweitung individueller Handlungs- und Entscheidungsoptionen, ist damit die Notwendigkeit evident,
1 "Da Ökonomen ... , wenig zum Verständnis der Herausbildung von Präferenzen beizutragen hatten, nehmen sie an, daß diese sich im Zeitablauf nicht substantiell ändern, und, daß die Präferenzen von Reichen und Armen, oder selbst von Menschen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen, sich nicht sehr voneinander unterscheiden• (Becker 1982b, S.3). 2
Dazu Opp: "Fora sociologist ( ...)such a procedure is unacceptable" (1985, S.234).
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konkrete, sich in Handlungen manifestierende Präferenzen "als abhängige, erklärungsbedürftige Variable zu behandeln" (Wiswede 1987, S.40), und ihre Entstehung, Verfestigung und Veränderbarkeit gerade auch im ökonomischen Kontext vor dem Hintergrund varüerender Randbedingungen zu thematisieren. Ohne eine solche Konkretisierung ökonomischer Modelle, z. B. im Rahmen der Nutzentheorie (vgl. Lindenberg 1981), sowie die Einbettung individuellen Handeins im haushaltliehen Kontext in eine umfassendere soziale Struktur, erscheint der Ansatz der "New Horne Economics" allzu modellhaft-formalistisch und deshalb leicht realitätsfern. Wenn man mit Minte feststellt, daß das Vorgehen der "New Horne Economics"lediglich auf der Makroebene der Gesellschaft legitim sei (1983, S.313), individuelles Verhalten auf der Mikroebene damit jedoch nicht erfaßt werden könne, so darf sich eine soziologische Analyse damit nicht zufrieden geben. Statt eines konstruierten künstlich-gleichgewichtigen Aggregatzustandes unter gegebenen und nicht weiter problematisierten Randbedingungen, interessiert Soziologen häufig die konkrete empirische Situation, hier die Einbettung individuellen wirtschaftlich orientierten Handeins in seine konkrete soziale Umgebung sowie deren modelltheoretische Beschreibung und Erklärung unter Beachtung persönlichkeitsspezifischer, situativer, institutioneller und kultureller Einflußfaktoren. Theoretisch ließe sich dabei an den in der Ökonomie verbreiteten methodologischen Individualismus (vgl. Büschges 1985, S.7 ff.; 1989) anknüpfen, der im Vorgehen der "New Horne Economics" allerdings einen Bruch erfährt: AnstaU wie dort individuelles Handeln in seiner sozialen Bedingtheit und seinem konkreten Ablauf weitgehend unberücksichtigt zu lassen und auf Gleichgewichtsprobleme auf Aggregatebene abzustellen, will ein strukturell-individualistisches Vorgehen (vgl. Kapitel 1) versuchen, das "theoretische Primat individualistischer Hypothesen" mit dem "analytischen Primat des sozialen Kontextes" (vgl. Raub / Voss 1981, S.32) so zu verbinden, daß die Erklärung sozialer Phänomene auf der Makroebene der Gesellschaft durch die Analyse des konkreten individuellen Verhaltens auf der Mikroebene sowie die Spezifizierung der Makro-Mikro- bzw. MikroMakro-Verbindungen zwischen diesen beiden Analyseebenen geleistet wird (vgl. hierzu Coleman 1990).
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5. Der Privathaushalt als Kontextvariable in der empirischen Sozialforschung Vor dem Hintergrund einer, mit der zunehmenden funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaft einhergehenden Vermehrung individueller Handlungskontexte und der theoretischen Ausrichtung an einem methodologischen Individualismus auf handlungstheoretischer Grundlage, fordert Esser für den Prozeß der Datenerhebung in der empirischen Sozialforschung, daß die "Erfassung der (subjektiv wahrgenommenen und auch objektiv vorhandenen) Handlungsumgebung der Akteure, d.h.: Kontext- und Relationsanalyse ... zunehmend an Bedeutung gewinnen müssen" (Esser 1979, S.25V Diese Einsicht in die Notwendigkeit eines mehrebenenanalytischen Vorgehens (vgl. z. B. Hummell 1972; Scheuch 1973, S.209 ff.; Kaase 1986, S.215 ff.) ist für unsere Profession keineswegs neu (vgl. Coleman 1958/59; Barton 1968, S.6). Der Sozialforscher wird damit lediglich auf das als "Transformationsproblem" (vgl. Lindenberg 1977, S.49 f.; Coleman 1990, S.6 ff.) betitelte Spannungsverhältnis zwischen Makro- und Mikroebene seiner Analyse verwiesen bzw. auf die altbekannte Forderung, das jeweilige soziale Umfeld der individuellen Akteure sowie insbesondere die sozialen Institutionen bei der soziologischen Analyse mit zu berücksichtigen (vgl. Büschges 1985, S.7). Für eine derart theoretisch fundierte empirische Sozialforschung heißt dies, daß es nicht hinreicht, Befragte hinsichtlich Alter, Geschlecht, sozialrechtlicher Stellung, Einkommen usw. zu kategorisieren, diese Variablen dann als "unabhängige" in die Datenanalyse einzubringen und Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen den genannten und weiteren, von diesen "abhängigen", Variablen zu suchen (vgl. Esser 1987). Vielmehr ist es notwendig, sozial relevante Kontexte auch in der Umfrageforschung explizit zu berücksichtigen. Familien und private Haushalte sind als solche sozial relevanten Kontexte einschlägig. Um den Haushalts- und Familienkontext der Befragten in repräsentativen Bevölkerungsumfragen berücksichtigen zu können, konkretisiert Porst (1984) den ihn interessierenden Haushaltskontext (vgl. Kapitel 3) und entwirft im Zuge einer Sekundäranalyse der haushaltsbezogenen Daten der "Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) aus
1 Zur Kontextanalyse vgl. z.B. Scheuch 1973, S.216, zur Relationsanalyse vgl. z.B. Coleman 1958/59; Scheuch 1913, S.215.
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dem Jahr 1982, eine Haushalts- und Familientypologie ("ALLBUS-Typologie", vgl. Porst 1984, S.168V Die "ALLBUS-Typologie" reiht sich ein in eine Vielzahl von HaushaltsKlassifikationsvorschlägen verschiedener Autoren (vgl. Büschges / Wintergerst-Gaasch 1988, S.243 ff.). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, daß die explizierten Klassifikationen immer auf konkrete Analyseprobleme hin erarbeitet sind. Dies schlägt sich vor allem in der Anzahl und der Schneidung der unterschiedenen Kategorien nieder. In der empirischen Sozialforschung führt die allgemeine Verwendung einer solchen Klassifikation dann oft zu Problemen der Adäquanz der verfügbaren Variablen und der vorgegebenen Kategorien in bezug auf das aktuelle Erkenntnisinteresse. Die von Porst vorgelegte "ALLBUS-Typologie" hat gegenüber diesen problemorientierten Klassifikationen eine ganze Reihe von Vorteilen: Ihre Rückgebundenheit an die sogenannte "Haushaltsliste" der ZUMA-Standarddemographie (vgl. Pappi 1979) ermöglicht ihre Anwendung in prinzipiell allen Umfragen, in denen diese Standarddemographie enthalten ist; sowohl haushalts-, familien- und lebenszyklische Veränderungen als auch der Generationsbezug des Individuums werden implizit berücksichtigt; durch die Einbeziehung von auf das jeweilige Haushaltsmitglied bezogenen weiteren Informationen der Haushaltsliste ergeben sich differenzierte Erweiterungsmöglichkeiten der "ALLBUS-Typologie"; und auch zur Kategorisierung privater Haushalte in der amtlichen Statistik ergeben sich interessante Anknüpfungsmöglichkeiten. Trotz der theoretischen und praktischen Vorarbeiten durch Porst, erfuhr die "ALLBUS-Typologie" allerdings nicht die Beachtung, die ihr als Konstrukt, das an die relativ weit verbreitete ZUMA-Standarddemographie gekoppelt ist, oder als möglichem Bindeglied zwischen amtlicher Statistik und sozialwissenschaftlicher U mfrageforschung, zukommen könnte. Vor allem das Fehlen eines in sich geschlossenen Klassifikationsprogramms in der Sprache eines der etablierten Statistik-Programmpakete verhinderte ihre Anwendung und Verbreitung.
1 Ihr attestiert er im Vergleich zu der in der amtlichen Statistik gebräuchlichen Klassifikation eine erheblich bessere soziologische Tiefengliederung, da sie "zum einen verstärkt auch solche Haushaltstypen spezifiZiert, deren Mitglieder nicht miteinander verheiratet bzw. verwandt sind, zum anderen, weil sie soziologisch relevante Tatbestände differenziert anstatt sie aufgrund formaler Kriterien zusammenzufassen ( ...). Schließlich enthält die ALLBUSFamilientypologie eine Anregung zum Überdenken des Vollständigkeils-Begriffes von Familien: Vollständigkeit der n-Generationen-Familie setzt ... die Existenz von mindestens n-1 vollständigen Gattenpaaren• (Porst 1984, S. 166) voraus.
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Diese Schwäche der "ALLBUS-Typologie" wurde mit dem Angebot des SPSSx-Programms HAUSHALT (Funk 1989) beseitigt. Das Programm nimmt Bezug auf den in der Haushaltsliste erhobenen Familienstand aller im Haushalt lebenden Personen sowie deren Verwandtschaftsverhältnis zum Befragten und macht sich außerdem zunutze, daß die Befragten die Mitbewohner ihres Haushalts in der Altersfolge, beginnend mit der ältesten Person, vorstellen sollen. Zusammen mit den entsprechenden Informationen zur Haushaltsgröße, dem Familienstand des Befragten und den Kindern des Befragten ist das Programm HAUSHALT in der Lage, die Befragten der ALLBUS-Untersuchungen in einer Haushaltsfeinklassifikation (Variable HHFEIN) sowie in einer Haushaltsgrobklassiftkation (Variable HHGROB), gültigen Kategorien zuzuordnen. HHGROB entspricht dabei den neun von Porst (1984) extrahierten Haushaltstypen, HUFEIN differenziert als relevante Feinstrukturen innerhalb dieser neun Haushaltstypen unterschiedliche Kombinationen von Verwandtschaftsbeziehungen und berücksichtigt zusätzlich alternative Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Haushaltsbewohnern als Folge der möglichen unterschiedlichen relativen Stellung des Befragten im gleichen Haushaltskontext. Aus der rekonstruierten Haushaltstypologie extrahiert das Programm HAUSHALT ebenfalls die Familientypologie nach Porst (1984). 1 Auch hier stehen zwei Versionen zur Verfügung: Mit der Variablen FAMFEIN eine Familienfeinklassifikation, die bei den zusammenwohnenden Kern-, Zwei-, Drei- und Vier-Generationen-Familien noch zwischen Vollständigkeit und Unvollständigkeit im Sinne von Porst (vgl. Fußnote 1, S. 229) unterscheidet, und mit der Variablen FAMGROB eine sechs Kategorien umfassende, FAMFEIN komprimierende Familiengrobklassifikation. Die Erfassung des personellen Haushaltskontextes ist eine adäquate Möglichkeit zur Berücksichtigung individueller, sozial relevanter Kontexte in der empirischen Sozialforschung. Die theoretische Relevanz eines solchen Vorgehens wurde in dieser Arbeit bereits erläutert. Der forschungspraktische Vorteil der relativ problemlosen Erhebung des Familienstandes und des Verwandtschaftsverhältnisses der Haushaltsmitbewohner zum Befragten verleiht diesem Vorgehen zusätzliche Attraktivität. Mit HAUSHALT steht hierfür nun ein leistungsfähiges und prinzipiell für Erweiterungen offenes Datenanalyseinstrument zur Verfügung (vgl. Beckmann/Trometer 1991).
1
Zur Problematik dieser Familientypologie vgl. Funk 1989, S.16.
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111. Regulierungspolitik als Arbeitspolitik1 Von Berndt Keller
Arbeitspolitik ist ein relativ junges (Lehr- und Forschungs-)Gebiet, das sich erst seit den 80er Jahren rapide entwickelt. Seit einigen Jahren beobachten wir, wie sich Arbeitspolitik zunehmend aus der Sozialpolitik ausdifferenziert, in deren Rahmen ihre Fragestellungen bisher - wenn überhaupt - zumeist behandelt wurden, und immer deutlicher zu einem eigenständigen Fach wird. Die fortschreitende Etablierung im Kanon der sozialwissenschaftliehen Fächer zeigt sich u.a. daran, daß die Veröffentlichungen quantitativ und qualitativ schnell zunehmen. Als akademische Disziplin weist Arbeitspolitik allerdings (noch) keine deutlichen Konturen auf, was Vorteil und Nachteil zugleich ist. Innerhalb der Arbeitspolitik gehen wir davon aus, daß nicht technologische Eigengesetzlichkeiten und/oder ökonomischer Determinismus herrschen, sondern daß die sozioökonomischen Verhältnisse grundsätzlich durch (tarif-)politische Prozesse gestaltet, gesteuert und kontrolliert werden können. Es geht um die zunehmend wichtigeren Handlungsspielräume und -alternativen bei der Gestaltung dieser betrieblichen und überbetrieblichen Politikfelder, d.h. um verschiedene Formen der politischen Regulierung und damit um eine Endogenisierung von Politik. Lange Jahre ist diese Sichtweise der innerhalb der (Industrie-)Soziologie, Rechtswissenschaft und Ökonomie ausgeklammert worden (Naschold 1989). Im folgenden will ich versuchen, die Möglichkeiten und Chancen von Arbeitspolitik am aktuellen Problem der "Regulierung" von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmärkten aufzuzeigen.
1 Für ausführliche Diskussionen verschiedener Versionen des Manuskripts bedanke ich mich bei Roland Czada, Fred Henneberger, Hans Nokielski und Hartmut Seifert. Wichtige Teile entstanden im letzten Quartal 1990, als ich als Stipendiat der Daimler-Benz-Stiftung im WSI des DGB zu Gast war. Beiden Institutionen gilt mein besonderer Dank.
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1. Einleitung und definitorische Abgrenzungen Deregulierung, neben Privatisierung politisches Schlagwort und ordnungspolitisches Programm seit Begion der 80er Jahre, kann sich bekanntlich auf ganz verschiedene Sektoren erstrecken (z.B. Gesundheitswesen, Verkehrs-, Versicherungs- und Versorgungswirtschaft, Komm Unikationssektor) ( u.a. Thiemeyer 1988, Seidenfus 1989, Ewers/ Wein 1989). Ich werde im folgenden die verschiedenen Deregulierungsversuche ausschließlich in bezug auf das Politikfeld "Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmärkte" behandeln, welches immer wieder ein prominentes Anwendungsfeld für das "Marktparadigma" abgibt. Dabei werde ich Deregulierung und Flexibilisierung analytisch deutlich voneinander trennen, was in der öffentlichen Diskussion leider nicht hinreichend geschieht. 1 Der offensichtliche Grund für das vorherrschende Definitionswirrwarr bzw. die unscharfe Begriffstrennung liegt darin, daß beide Strategien in verschiedenen Ländern in den 80er Jahren nahezu zeitgleich eingesetzt wurden, was aber nicht unbedingt der Fall sein muß.
a) Flexibilisierung: Strategien und Interessen
Die aktuellen Flexibilisierungsbemühungen gehen in allen westlichen Industrienationen vor allem von den Unternehmern aus, die damit nationalspezifisch durchaus unterschiedlich (Rodgers 1989, Ricca 1989) auf stark veränderte technologische und ökonomische Rahmenbedingungen reagieren. 2 Ihr generelles Ziel besteht in einer schnellen Überwindung des "Angebotsschocks" sowie in einer möglichst raschen Amortisation des eingesetzten Kapitals, wobei in den vergangeneo Jahren eine erhebliche Steigerung des notwendigen Kapitaleinsatzes pro Arbeitsplatz zu verzeichnen war. Das zentrale Mittel der Unternehmer sind Flexibilisierungsstrategien in bezug auf den Faktor Arbeit, die gerichtet sind:
1 Vgl. die Beiträge in WSI-Mitteilungen, Heft 8/1988 und Heft 6/1990 sowie in Die Mitbestimmung, Heft 9+ 10/1989. 2 U.a. verschärfte Preiskonkurrenz auf einheimischen und vor allem auf Weltmärkten durch Eintritt der Schwellenländer in die Märkte, Nachfragestagnation bei langfristigen Konsumgütern, verkünte Produktzyklen, Verlagerung der Produktion von Massen- auf spezialisierte Qualitätsprodukte, technologischer Wandel allgemein. Vgl. zusammenfassend für andere Sabel 1987, s. 31 ff.
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- vor allem auf eine Entkoppelung von Betriebs- bzw. Anlagennutzungszeiten und individuellen Arbeitszeiten, - aber auch z.B. auf eine verstärkte Differenzierung der Entgelte, - auf eine Externalisierung (durch Auslagerung von betrieblichen Funktionen), - auf eine Erhöhung der funktionalen Verwendbarkeit (u.a. durch Intensivierung der innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildung) - sowie auf neue Beschäftigungs- und Vertragsformen mit der Folge einer deutlicheren Segmentalion der Arbeitsmärkte. 1 Flexibilisierung ist jedoch nicht, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, per se ein Arbeits(zeit-)konzept, welches nur den Arbeitgebern nutzen kann (für andere Lang 1986, S.600 ff.). Auch bei verschiedenen Arbeitnehmergruppen bestehen durchaus manifeste Interessen an einer Erweiterung individueller Entscheidungsspielräume und mehr beruflicher Autonomie (u.a. Bosch 1986, S.171 ff., Kurz-Scherf 1987, Strümpel 1990). Solche Wahlmöglichkeiten mit dem Ziel zunehmender Souveränität in der individuellen (Zeit-)Gestaltung könnten u.a. herbeigeführt werden durch eine zumindest partielle und notwendigerweise reversible Auflösung starrer und kollektiv geregelter Arbeitsbedingungen insbes. Arbeitszeiten - bei einer entsprechenden arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung der unteilbaren Rechte. Auf diesen wachsenden Flexibilisierungs- bzw. Differenzierungsbedarf der "Angebotsseite" haben die Gewerkschaften in ihrer an den altbekannten Mustern orientierten (Tarif-)Politik der 80erJahre wohl insgesamt noch zu wenig Rücksicht genommen. 2
b) Deregulienmg: Ziele und Strategien
Deregulierung soll im folgenden ausschließlich verstanden werden als Bündel von Eingriffen und Maßnahmen des Staates, die derzeit die ordnungspolitische Flankierung unternehmerischer Flexibilisierungsbemühungen
1 Vgl. als kritische Zusammenfassung Lampen 1986; zur Vielschichtigkeit des Konzepts sowie zur empirischen Überprüfung die Beiträge in Poliert 1990.
2 Ein wichtiger Grund liegt darin, daß zentrale Mitgliedergruppen (männliche Facharbeiter mittleren Alters) kein sonderlich starkes Interesse an derartigen Arbeitszeitmustern haben, während andere Gruppen mit solchen Präferenzen (vor allem Frauen infolge ihrer nach wie vor typischen Doppelbelastung durch Beruf und Familie) ihre Interessen verbandsintern nicht durchsetzen können.
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abgeben. Damit fasse ich den Begriff Regulierung (im Sinne einer Nominaldefinition) relativ eng und beziehe ihn ausschließlich auf die Makroebene; insbesondere die gestaltenden Eingriffe der quasi mit hoheitlichen Rechten ausgestatteten Tarifvertragsparteien werden damit im folgenden nicht berücksichtigt (vgl. zu weiter gefaßten Regulierungsbegriffen zuletzt Buttler 1990, Büchtemann 1990). Freiwillige, ausschließlich auf dezentraler Ebene getroffene, und deswegen immer zugleich differenzierende Vereinbarungen wären innerhalb eines im internationalen Vergleich stark verrechtlichten Systems der Arbeitsbeziehungen wie dem der Bundesrepublik nur ein unvollkommener Ersatz für gesetzliche und daher vereinheitlichte, allgemein verbindliche Regulierungsformen. Deregulierungsmaßnahmen beabsichtigen eine dauerhafte, mehr oder weniger deutliche Einschränkung des bisher gültigen, historisch gewachsenen sozialstaatliehen Regelwerkes (vor allem der Schutzvorschriften des individuellen und kollektiven Arbeits- und Sozialrechts) durch einen Abbau von "Arbeitsmarkt-, insbes. Lohnrigiditäten" und "Inefftzienzen" sowie durch eine Beschneidung der Rechte bzw. Handlungsoptionen bestimmter Akteure und Institutionen. 1 Das Ziel eines möglichst weitgehenden Rückzugs des Staates aus der Wirtschafts- bzw. Sozialpolitik besteht vor allem in der Verbesserung der Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte an wirtschaftliche Veränderungen ("mehr Markt am Arbeitsmarkt") bzw. in einer Erhöhung des Beschäftigungsstandes (vgl. zur Zusammenfassung der Argumente Buttler 1986, S.9 ff.). Neben den ökonomischen verändern sich also auch die politischen Rahmenbedingungen. Die skizzierten (Flexibilisierungs-)Bemühungen der Arbeitgeber werden flankiert und unterstützt durch zentrale politische Veränderungen, d.h. durch die Ablösung sozialdemokratisch geführter Regierungskoalitionen durch (liberal-) neokonservative Regierungen in einer Reihe von westlichen Industrienationen. Diese politischen Entwicklungen verlaufen ebenso wie die ökonomischen Veränderungen gegen die Interessen der Gewerkschaften, die strategisch in die Defensive geraten. Die lange Jahre recht erfolgreiche keynesianische Wirtschaftspolitik, welche unter den impliziten Randbedingungen einer prosperierenden Wirtschaft vor allem die Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie eines stetigen Wachstums verfolgte und die auftretenden Verteilungsprobleme vor allem durch organisierte bargaining-Prozesse - sowie gegebenenfalls durch staatliche Eingriffe
1 Den Beginn derpolitischen Diskussion markieren das Lambsdorff-Papiervom September 1982, das George-Papiervom Juli 1983 sowie die Albrechi-Thesen vom August 1983, welche die "neue" Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik einleiten.
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- zu regulieren versuchte, verliert zunehmend an Gewicht, ohne daß allerdings die entsprechenden Konfliktlösungsmuster des Kooperationsmodells vollständig verschwinden würden (vgl. Lompe 1986). Das Potential staatlicher Globalsteuerung und gesetzlicher Regulierung insgesamt geht zurück, was im Rahmen des neokonservativen Strategienwechsels weg von (eher nachfrageorientierter) keynesianischer und hin zu (eher angebotsorientierter) monetaristischer Wirtschaftspolitik aber zunächst gar nicht als Problem empfunden, sondern von den Regierungen durch Strategien der Deregulierung von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt sogar noch bewußt gefördert wird. Eine tendenziell abnehmende Bedeutung des (Wohlfahrts- und Interventions-)Staates und seiner Gesetze zur Regulierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik wird zu einem wichtigen Programmpunkt konservativer Politik, welche die zentralisierten Formen politischer Regulierung weitgehend durch die dezentralen "freien (Selbstheilungs-)Kräfte des Marktes" bzw. zumindest kollektive durch individualvertragliche Regulierung ersetzen möchte.
2. Deregulierung in der Bundesrepublik
a) Zentrale Maßnahmen
In der Bundesrepublik umfaßt der in den 80er Jahren zunehmende Trend zur Deregulierung vor allem folgende gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich des Sozial- und besonders des Arbeitsrechts: 1 1. Durch die im Frühjahr 1986 erfolgte Neuregelung der Lohnersatzleistungen bei Arbeitskämpfen durch Änderung des §116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) werden die praktischen Arbeitskampfmöglichkeiten eindeutig zu Lasten wichtiger Gewerkschaften verschoben sowie deren Handlungsfähigkeit und Verhandlungsmacht bei Tarifauseinandersetzungen wesentlich eingeengt: Mittelbar von einem Arbeitskampf Betroffene, d.h. Arbeitnehmer in demselben fachlichen Geltungsbereich, aber in einem anderen als dem umkämpften Tarifbezirk, erhalten im Regelfall keine Lohnersatzleistungen der Bundes-
1 Außer den im folgenden skizzierten Beispielen sind noch zu nennen die Änderungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes, des Hochschulrahmengesetzes sowie des Arbeitsförderungsgesetzes.
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Bcmdt Keller
anstalt für Arbeit mehr; dadurch wird die lange Jahre praktizierte, recht erfolgreiche regionalisierte Tarifpolitik- besonders der IG Metall- erheblich erschwert (vgl. Keller 1987, Weber 1986, S.272 und 1987). 2. Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz, "which represents a moderate German version of labour market deregulation" (Streeck 1987, S.10), wird ein Abbau arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, d.h. von wesentlichen Teilen des individuellen Arbeitsrechts, als beschäftigungspolitische Maßnahme versucht. Das zentrale Instrument des zunächst bis Ende 1989 befristeten, inzwischen aber bis Ende 1994 verlängerten BeschFG besteht in der erheblich erweiterten Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge (bis zu einer Dauer von 18 anstaU von 6 Monaten nach den üblichen Kündigungsschutzbestimmungen). Die inzwischen vorliegenden empirischen Analysen zeigen übereinstimmend, daß das Gesetz den Trend einer Ausbreitung instabiler, prekärer Beschäftigungsverhältnisse (u.a. Ausweitung der Zeitvertrags- bzw. Befristungspraxis) sicherlich nicht begründet, wohl aber beschleunigt, ohne jedoch zu zusätzlichen Einstellungen in nennenswertem Umfang zu führen. 1 Das BeschFG, "the core of flexibilisation on the labour market" (Kühl 1987a, S.48), hat minimale Niveaueffekte (eines Beschäftigungszuwachses), seine Struktureffekte (einer zunehmenden Segmentierung der Arbeitsmärkte) hingegen sind überaus deutlich. 3. Die von beiden Tarifvertragsparteien gleichermaßen abgelehnte Novellierung des BetrVG im Jahre 19882 impliziert eine Reihe von Detailänderungen; dazu gehören vor allem: Einrichtung von sog. Sprecherausschüssen für leitende Angestellte als eigenständige, formalisierte Interessenvertretung mit bestimmten Informations und Einspruchsrechten gegenüber Unternehmensleitung und Betriebsrat, Änderung des Wahlverfahrens zugunsten kleinerer Gruppierungen durch Senkung des Unterschriftenquorums, Änderung des Wahlrechts, Erweiterung der Informations- und Beratungsrechte des Betriebsrats bei der Einführung neuer Technologien, aber keine Einführung echter Mitbestimmungsrechte, sog. Verstärkung von Minderheitenrechten.3 1 Vgl. Dragendorf I Heering I lohn 1988; als Zusammenfassung verschiedener Untersuchungen Keller 1989a; die breiteste empirische Untersuchung bietet Büchlemann 1989.
2 "Gesetz zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung." Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, daß zeitlich parallel auch eine Novellierung des Bundespersonalvertretungsgesetzes betrieben wurde. 3 Vgl. zusammenfassend Die Mitbestimmung, Heft 611988; Apitzsch 1988; Lompe 1988.
I Klebe I
Schumann
Regulierungspolitik als Arbeitspolitik
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Diese Änderungen können in ihrer Gesamtwirkung durch die Aufwertung der Rechte von Splittergruppen eine Schwächung des Betriebsrats als "einheitlicher", in sich geschlossener betrieblicher Interessenvertretung aller Arbeitnehmer und von der Unternehmensleitung anerkannter Verhandlungspartner bewirken. 4. Ein zunächst politisch durchaus mögliches Auslaufen der paritätischen, zeitlich nur begrenzt gesicherten Montan-Mitb hätte das Ende der effektivsten und weitestgehenden Form der Untemehmens-Mitb bedeutet und einen Signaleffekt auf die übrige Wirtschaft ausgeübt. Die Regierungskoalition schloß jedoch intern einen politischen Tausch, bei dem sie die Änderung des BetrVG mit dem grundsätzlichen Erhalt der Montan-Mitb - allerdings bei einer Verschlechterung ihrer materiellen Inhalte - koppelte: Um die von ihr geforderten "Sprecherausschüsse" im BetrVG durchzusetzen, stimmte die FDP dem Erhalt der von ihr ungeliebten paritätischen Montan-Mitb zu- et vice versa. 5. Der seit dem Frühjahr 1987 vorliegende Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes soll die aus dem Jahre 1938 stammende Arbeitszeitordnung ablösen sowie Dauer und Lage der Arbeitszeit an die veränderten Bedingungen anpassen. Er beläßt erhebliche Freiräume für die Lage und Länge der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit, 1 was "im praktischen Ergebnis zu einer Aufhebung des Normalarbeitstages führen wird" (Mückenberger 1986, S.37). Zudem sollen u.a. im Rahmen des besonderen Frauenarbeitsschutzes das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen aufgeweicht und zahlreiche Ausnahmen von dem Gebot der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen beibehalten und damit die rechtlichen Möglichkeiten für Nacht und Sonntagsarbeit erheblich ausgeweitet werden. Die Regierungskoalition geht mit diesem Gesetzentwurf u.a. das drängende Problem der Überstunden nicht ernstlich an in Richtung auf eine strikte Begrenzung ihrer zulässigen Zahl und damit einen gewissen Abbau von Mehrarbeit, obwohl durch diese Variante einer Arbeitsumverteilungspolitik beachtliche Beschäftigungseffekte erzielt werden könnten. Die rechtlichen Rahmenvorgaben für die Länge der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeiten sollen nicht den Regelarbeitszeiten angeglichen werden, die infolge der Arbeitszeitpolitik der Nachkriegszeit tatsächlich üblich und in vielen Tarifverträgen vereinbart sind; letztere sind im übrigen recht differenziert und flexibel. 1 Grundsatz des 8-Stunden-Tages, aber Verlängerungsmöglichkeiten auf bis zu 10 Stunden pro Tag bzw. Wochenarbeitszeiten bis zu 60Stunden bei recht langen Ausgleichszeiträumen bis zu drei Kalendermonaten. 16 Büschges
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Bemdt Keller
6. Die von der Bundesregierung eingesetzte "unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen" (Deregulierungskommission) will das bestehende Regelwerk "anpassen", ohne es abzuschaffen. Zu ihren Vorschlägen, welche die "Funktionsweise des Arbeitsmarktes verbessern" sollen, gehören u.a.: Abdingbarkeit von Verbandstarifverträgen entgegen dem Günstigkeitsprinzip (§4 TVG) durch leistungsmindernde Betriebsvereinbarungen im "Notfall" (u.a. bei Entgelten, Urlaub, Kündigungsfristen), Zulassung der Vereinbarung untertariflicher Arbeitsbedingungen bei Einstellung von Langzeitarbeitslosen für eine Dauer von maximal drei Jahren (Modiflzierung des Günstigkeitsprinzips für Problemgruppen), Beschränkung der Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären (§5 TVG), Ausweitung der Befristung von Arbeitsverträgen über das vom BeschFG erlaubte Ausmaß hinaus (Abschluß von Zeitverträgen ohne Begründungserfordernis), Konzentration auf betriebsbezogene (Leistungs-)Merkmale anstelle sozialer Gesichtspunkte beim allgemeinen Kündigungsschutz im Rahmen betriebsbedingter Kündigungen, nochmalige Modifikation bzw. weitere Lockerung des Sozialplanrechts (§112 BetrVG) durch Veränderung der Verteilung von Anpassungskosten bei Massenentlassungen, Verlängerung der Höchstdauer der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (über die vom BeschFG in Erweiterung des Arbeitnehmerüberlassunsgesetzes fiXierte Höchstdauer von 6 Monaten) hinaus, Aufbebung des Vermittlungsmonopols der BA (Zulassung der gewerbsmäßigen Arbeitsvermittlung). Diese "marktmoderate" Position der Kommission, die fast ausschließlich mit Befürwortern weiterer Deregulierungsmaßnahmen aus Wissenschaft und Praxis besetzt ist, versucht im Gegensatz zur "marktradikalen" keine grundsätzliche Abschaffung arbeitsrechtlicher Regulierung, wohl aber deren deutlichen Abbau bzw. Substitution durch den Steuerungsmechanismus "Markt"; die Maxime der so oder sehr ählich seit langem erhobenen Forderungen lautet "marktorientierte Regulierung". -Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände lehnen eine Änderung des Tarifvertragsrechts gleichermaßen ab: Die BDA sieht - im Gegensatz zu bestimmten ihrer Mitglieder (vor allem ASU 1985, 1989, S.12 ff.) - durch den Wegfall tarifvertraglicher Mindestregelungen "die Gefahr einer unkontrollierten Lohnentwicklung nach oben", der DGB befürchtet die"Aufbebung der im Grundgesetz garantierten Tarifautonomie". Beide Dachverbände sehen auch die Gefahr einer "ruinösen Konkurrenz".
Regulierungspolitik als Arbeitspolitik
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b) Reichweite und Ausmaß Der Einfluß jeder einzelnen gesetzlichen Änderung auf Institutionen des Arbeitsmarktes und bargaining power der Arbeitnehmervertretungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene könnte vermutlich vernachlässigt werden. Die eigentliche Bedeutung und Brisanz entsteht nicht im Rahmen einer langfristig geplanten und systematisch verfolgten politischen "Gesamtstrategie", die in der Realität gar nicht existiert. Die eigentliche Gefahr für die Arbeitnehmer(vertretungen) liegt vielmehr in der sukzessiven Kumulation von Einzelmaßnahmen der (prozeduralen und besonders der substantiellen) Deregulierung mit der Folge eines Abbaus von vor allem individuellen Arbeitnehmerschutzrechten. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Änderungen in Zeiten andauernder, hoher Massenarbeitslosigkeit und einer schon deswegen abnehmenden Verhandlungsmacht der Gewerkschaften vollzogen werden. Die Gefahr einer stärkeren vertikalen Segmentalion der Arbeitsmärkte - vielleicht sogar in Richtung auf deren Dualisierung - ist nicht länger von der Hand zu weisen. Diese Deregulierungsversuche haben allerdings in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich - vor allem zu England und den USA unter den Regierungen Thatcher bzw. Reagan - lediglich ein durchaus begrenztes Ausmaß.' Die Institutionen, Regulierungsmechanismen und Handlungsstrategien der korporativen Akteure wirken als Sicherungen, Barrieren und wichtige Stabilitätsbedingungen, so daß von einer "Krise" der Arbeitsbeziehungen bzw. -märkte im internationalen Vergleich nicht ernsthaft die Rede sein kann (vgl. im einzelnen Keller 1989b). Wir müssen diese erheblichen Differenzen in den unterschiedlichen Konzepten konservativer Politik berücksichtigen, wenn wir ihre Realität und Wirkung in unserer Analyse angemessen abbilden wollen. Tatsächliches Ergebnis dieser "Entstaatlichung" ist nicht ein wirklich konsequent betriebener Abbau der "Regelungsdichte" arbeitsrechtlicher Schutznormen und -funktionen, "sondern eher eine Änderung des Inhalts von Normen und eine Verlagerung der Regelungsebene ... Regelungsveränderung zugunsten der Arbeitgeber." (Linne I Voswinkel1989, S.19; ähnlich Buttler 1986, S.24). Wir haben es mehr mit einem Umbau des Regulierungssystems in Richtung auf ein neues Mischungsverhältnis von "Staat" und "Markt" bzw. mit einer "Dezentralisierung der Regelungskompetenzen" (Büchtemann I
1 Vgl. demgegenüber für die USA Erd 1989; für England zusammenfassend Crouch 1985, Mückenberger f Dealein 1989.
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Berndt Keller
Neumann 1990, S.32) von der gesetzlichen und tarifvertragliehen auf die individuelle Ebene zu tun; es geht weniger um eine marktradikale (Ordnungs-)Politik der echten Deregulierung sozialstaatlicher Institutionen im Sinne einer strikten Ablösung durch "Marktprozesse". Faktisch ist diese unübersichtliche Gemengelage von De- und Re-Regulierungsversuchen (vgl. Keller 1990) damit weniger eindeutig und konsistent als vom Konzept her zu vermuten wäre; Kontinuitäten in der praktischen Politik sind deutlich auszumachen. Die politisch motivierten Änderungen der institutionellen Rahmenbedingungen versuchen eigentlich ohne zwingende Notwendigkeit, eine Jahrzehnte alte und durchaus bewährte Entwicklung zu stoppen; die langfristigen Folgen für die korporativen Akteure und die Formen der Interessenvermittlung sind derzeit kaum abzuschätzen.
3. Zur Kritik der Deregulierungskonzepte
Die Frage zu stellen, ob die begonnene Flexibilisierung weitergehen wird oder nicht, ist müßig, weil die Antwort längst feststeht: Allein schon wegen des generellen Arbeitgeberinteresses an einer Kostenminimierung werden die Flexibilisierungstendenzen eher noch zunehmen und wahrscheinlich mit einer weiteren Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen einhergehen. 1 Wir diskutieren diese Verbetrieblichung üblicherwiese anband des seit Mitte der 80er Jahre aktuellen Beispiels der Arbeitszeitpolitik. Parallele Entwicklungen werden sich in Zukunft aber auch in anderen Bereichen "qualitativer" Tarifpolitik ergeben, vor allem bei der Einführung und Implementation neuer Technologjen sowie bei verschiedenen Problemen einer Weiterbildungs- und Qualiflzierungspolitik. Damit kann eine grundsätzliche Ablehnung jedweder Form der Flexibilisierung - und damit einer Ausweitung von Handlungsspielräumen auf der Betriebsebene - keine realistische Strategie für die 90er Jahre sein. Die betrieblichen Aushandlungsprozesse werden nicht mehr über das ob, sondern über das wie und dessen Beeinflussung im unterschiedlichen Interesse verschiedener Gruppen gehen (vgl. Ortmann u.a. 1990).
1 Vgl. die verschiedenen Beiträge zu "Technological change and labour relations" bei Gladstone u.a. 1989, Kap.l.
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a) Sichtweise von Arbeitsmärkten
Die Frage hingegen, ob die Deregulierung fortgeführt werden soll, ist auch politisch - noch längst nicht entschieden. Die Kritik1 setzt auf mehreren Ebenen an: Die verschiedenen Deregulierungsstrategien basieren zumindest implizit auf Ableitungen innerhalb einer neoklassischen Modellwelt der vollkommenen Konkurrenz und eines allgemeinen Gleichgewichts. Dieses "Marktparadigma" - ist strikt einzelwirtschaftlich ausgerichtet; - unterstellt, daß die Preisbildung auf Arbeitsmärkten ohne strukturelle Besonderheiten, d.h. wie auf allen anderen (Geld-, Güter- und Kapital-)Märkten funktioniert, was im Laufe der Jahre vielfach (zusammenfassend Hickel1989, 88ff.) und aktuell u.a. durch die ökonomische Analyse des Arbeitsrechts (vgl. Brandes I Buttler I Dorndorf 1989, Walwei 1989, 1990) bestritten wird; - geht von einer reinen Markträumungsfunktion des Lohnsatzes aus, ohne dessen anderen Funktionen (wie Kontroll-, Motivations-, Leistungssicherungs-, Informations- und Efftzienzfunktion) angemessen zu berücksichtigen, was etwa im Rahmen der neuen Mikroökonomie des Arbeitsmarktes (u.a. in den Kontrakt- und Effizienzlohntheorien) durchaus geschieht, die ganz verschiedene Koordinationsmechanismen einbeziehen und z.B. Lohnrigiditäten als Konsequenz rationaler Entscheidungskalküle interpretieren (vgl. Buttler 1990, Neumann 1990a, Rürup I Sesselmeier 1989); - ftxiert sich in seiner partialanalytischen Betrachtungsweise einseitig auf die Funktionsweise von Arbeitsmärkten, ohne die Interdependenz von Geld-, Güter- und Kapitalmärkten und deren Einfluß auf die Arbeitsmärkte gleichgewichtig, und wie in der Tradition von Keynes üblich, zu berücksichtigen; - übersieht die auch auf Arbeitsmärkten bestehenden, durchaus auch ökonomisch begründbaren Notwendigkeiten institutioneller Regelungen und nichtpreislicher, vor allem rechtlich-institutioneller Koordinationsmechanismen, welche die notwendigerweise entstehenden Transaktionskosten senken sowie die Verhaltenssicherheit erhöhen (Williamson 1990);
1 Im folgenden geht es mir um die grundsätzliche Kritik der verschiedenen Konzepte, nicht um eine Auseinandersetzung mit einzelnen Elementen. Vgl. etwa zur Kritik der häufig erhobenen Forderung nach Deregulierung des Bestandschutzes Kiichle 1990, Neumann 1990b, Walwei 1990.
Bemdt Keller
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- setzt stattdessen, in durchaus wirtschaftspolitischer Absicht, auf das "freie und ungehinderte Spiel der Kräfte" sowie auf "Selbstregulation" der Ökonomie.1 Die Erfahrung zeigt, daß die aus diesen modellplatonistischen Kalkülen abgeleiteten neokonservativen Strategien in der Realität kaum aufgehen: "Die von Deregulierungsmaßnahmen erwartbaren Wirkungen auf das Beschäftigungsniveau werden seitens der Befürworter vermutlich deutlich überschätzt. Soweit verläßliche empirische Informationen vorliegen, können aus ihnen überzeugende Belege für bedeutsame Wirkungen von Deregulierungen auf das Beschäftigungsniveau nicht sicher abgeleitet werden." (Buttler 1986, S.50; ähnlich Franz 1989). Das Dilemma dieser neoklassisch-monetaristischen Angebotspolitik läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: "Obwohl der Vergleich von Arbeitslosenzahl und der Zahl offener Stellen ... erkennen läßt, daß das Problem der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland vor allem ein gesamtwirtschaftliches Niveau-Problem, das Problem eines gesamtwirtschaftlichen Fehlbestandes an Arbeitsplätzen darstellt, konzentriert sich der größte Teil der Regulierungs- I Deregulierungsdebatte auf die "Starrheit der Lohnstruktur", auf mangelnde Mobilität der Arbeitskräfte und Behinderungen der Anpassungsflexibilität der Unternehmungen auf dem Arbeitsmarkt, beschäftigungspolitisch also auf einen "Nebenkriegsschauplatz". (Knappe 1988, S.232; ähnlich auch Lampert 1986, S.181).
b) Politische Regulierung von Marktaktivitäten
Im Rahmen der Deregulierungsdiskussion identifizieren häufig neben J uristen vor allem Ökonomen "soziale Rigiditäten" bzw. "institutionelle Sklerose"2- oder in der europäischen Variante marktwidrige "Eurosklerose"3 - als wesentliche oder sogar einzige Krisenursache Güngst Ewers I Wein 1989, S.24 f., 1990, S.320, 327 f., Linnenkohl I Kilz I Reh 1990, S.2040 f.). Diese 1 Vgl. zur Kritik zusammenfassend Butt/er 1986; Mückenherger I Deokin 1989, 171 ff.; Walwei 1989; zur Einführung in die Kontroverse Dichmann I Hicke/1989. 2 Vor allem Olson 1985 als häufig bemühter, prominenter "Kronzeuge"; ganz ähnlich, nur angereichert um die bei Olson nicht berücksichtigte Theorie des rent seeking, später vor allem
Weede 1990. 3
Vgl. zur "eurosclerosis school" u.a. Giersch 1985.
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vereinfachende Sichtweise ist einseitig neoklassischem Denken verpflichtet, dem kollektives Handeln und Institutionen des Arbeitsmarktes - im Gegensatz zu anderen, etwa der institutionalistischen Schule der Arbeitsbeziehungen oder den Segmentalionstheorien der Arbeitsmarktanalyse - traditionell weitgehend fremd und zudem politisch verdächtig geblieben sind. 1 Die "umfassenden Verteilungskoalitionen" bzw. Interessengruppen, die als zentrale Störfaktoren des "Marktprozesses" ausgemacht werden, agieren faktisch jedoch nicht in dem zumindest implizit unterstellten institutionellen und politischen Vakuum; sie sind vielmehr in ihren jeweiligen "choices of strategy" an vielfältige politische und soziale Regelungen institutioneller Art gebunden. M.a.W.: Die verschiedenen Institutionen des Arbeitsmarktes beeinträchtigen in der Realität nicht einseitig dessen Funktionsfähigkeit, wie das Lehrbuchmodell einer utopischen Wirtschaft suggeriert, sondern sind zugleich auch produktivitätssichernde und effizienzsteigernde Regulierungsinstanzen. Die als Vorbedingung stets notwendige politische (Makro-)Regulierung von reinen Marktaktivitäten stiftet also durchaus Nutzen - nicht nur im Sinne einer gewissen politischen Stabilität und Kontinuität - und sucht Marktunvollkommenheiten bzw. -versagen zu verhindern. Sie bleibt jedoch außerhalb einer Betrachtungsweise, die sich auf eine unpolitisch-idealisierte (reine Markt- bzw. Wettbewerbs-)Ökonomie mit einem weitgehend inaktiven "Minimalstaat" reduziert. Zudem werden selten die Probleme thematisiert, die sich aus der vorschnellen normativ-ideologischen Wendung einer empirisch-positiv angelegten Theorie in Form von "Politikempfehlungen" und ordnungspolitischen Implikationen ergeben. Weiterhin ist für die Diskussion typisch, daß ihre Propagandisten die Grenzen der Deregulierung nicht exakt bestimmen, obwohl völlig unstrittig ist, daß ein gewisses (Mindest-)Maß an institutioneller Vorkehr zur Sicherung und zum Schutz von Verfügungsrechten konstitutiv sowie zur Senkung von Transaktionskosten unerläßlich ist. Der realistische Verlust von "Ordnung" bzw. "Wohlfahrt" durch Deregulierung im Sinne einer Verminderung, nicht einer Abschaffung von Regulierung wird nicht thematisiert. - Aus diesen Gründen ist auch die These von der investitionshemmenden "Starrheit" und "Ungelenkigkeit" des deutschen Arbeitsrechts (für andere Rüthers 1985, 1986; Adomeit 1987; Heinze 1987) und damit des Arbeitsmarkts sowie der Arbeitsbeziehungen eher eine unzutreffende, weil unvollständige Beschreibung der Realität denn ernstzunehmender Ansatz einer Rezeptur.
1
Vgl. zur Kritik an diesem "neoklassischen Institutionalismus" verschiedene Beiträge in
Schubert 1991.
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c) Anpassungs- und Austauschpotentiale von Arbeitsmärkten Bei den vor allem in den 80er Jahren beliebten Vergleichen vor allem mit den angelsächsischen Ländern wird das hohe horizontale und vertikale Anpassungs- und Austauschpotential der spezifischen (betriebs-)internen Arbeitsmärkte der Bundesrepublik nicht adäquat berücksichtigt; vor allem die hohe unternehmensinterne Umsetzungsflexibilität wird systematisch unterschätzt bei Gegenüberstellungen formaler Strukturen ohne Berücksichtigung institutioneller Grundlagen wie Grad der Arbeitsteilung, spezifischer Typus von breit angelegter, standardisierter Grundausbildung und umfassendem Qualifikationserwerb im "dualen" System der beruflichen Bildung, Mobilitätsstrategien statt Strategien der Arbeitsplatzkontrolle etc. 1 - In diesem Arbeitsmarktkontext und seinem häufig vernachlässigten Einfluß auf die Arbeitsbeziehungen ist der in anderen Ländern nicht vorhandene Typus des deutschen Facharbeiters von zentraler Bedeutung: Vor allem gewerbliche Arbeitnehmer absolvieren im "dualen System" der beruflichen Bildung eine sowohl betrieblich als auch überbetrieblich und damit breit angelegte Ausbildung, die ihnen vielfältige Einsatzmöglichkeiten einschließlich zwischenbetrieblicher Mobilitätschancen eröffnet und zur hohen Flexibilität des Arbeitskräftepotentials wesentlich beiträgt. In den gerade in der Deregulierungsdiskussion beliebten Verweisen auf die hohe "Flexibilität" und "Dynamik" des US-amerikanischen Beschäftigungssystems im Vergleich zur "Starrheit" des deutschen werden diese unterschiedlichen institutionellen Bestimmungsgrößen von Arbeitsmärkten und Arbeitsbeziehungen ebenso wie die positiven Ergebnisse von Regulierung häufig ignoriert; deshalb bleiben diese Vergleiche rein formal und ihre Rezepturen ohne empirische Basis (vgl. detailliert Sengenherger 1984a, 1984b, 1990). Die notwendige Anpassungsflexibilität in quantitativer und qualitativer Hinsicht kann aber nicht nur extern (durch eine Politik des "hire and fire"), sondern auch intern (u.a. durch Variation der Arbeitszeiten oder interne Umsetzung) hergestellt werden.2
1 Vgl. hierzu Sengenberger 1987, bes. S.96 ff., S.IBO ff.; ähnlich auch Kühl 1987b, S.29 ff.; international vergleichend auch OECD 1989; Piore 1986; die entgegengesetzte Meinung findet sich u.a. bei Soltwede/1984; Engels 1985.
2 In den USA werden zwar viele neue Jobs geschaffen; gleichzeitig sind aber Produktivität(szuwächse) und Entlohnung niedrig und die soziale Ungleichheit nimmt innerhalb des "amerikanischen Beschäftigungswunders" zu.
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Insofern zielen "marktradikale" und liberale Forderungen nach einer "flexibleren" Lohnpolitik bis hin zur Möglichkeit eines selektiven Lohnverzichts durch Zulassung untertariflicher Bezahlung (u.a. Eisold 1989) an der Realität vorbei. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände lehnen eine Änderung des Tarifvertragsrechts gleichermaßen ab (vgi.Kap.2a)). Außerdem würde diese Politik bei der derzeitigen Arbeitsmarktsituation den notwendigen Strukturwandel eher hemmen als fördern, da sich Unternehmen der Krisenbranchen durch Lohnkürzungen länger am Markt halten könnten; durch Behinderung der Umstrukturierung der Wirtschaft würde wohl außerdem das Produktivitätswachstum gebremst. Last but not least: "Flexible Arbeitsmärkte sind kein Allheilmittel für soziale und wirtschaftliche Mißstände." (OECD 1986, S.7). Insofern darf die Deregulierungsdiskussion nicht darüber hinwegtäuschen, daß ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten (Vollbeschäftigung) und nicht arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen die conditio sine qua non für die Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte sind. "Formeln wie mehr Markt am Arbeitsmarkt oder mehr Beschäftigung durch weniger Recht unterliegen dem ideologiekritischen Verdacht, unter dem Deckmantel beschäftigungspolitischer Ziele die Arbeitsmarktordnung mit dem Ziel umzugestalten, die Nutzen-Kosten-Verteilungen im Interesse der vorschlagenden Marktparteien zu verändern" (Buttler 1990, S.82).
4. Aufgaben und Bausteine einer Re-Regulierung
Nach der empirisch fundierten Kritik der Deregulierungskonzepte wollen wir nach den Handlungsalternativen der Akteure im Spannungsfeld von Flexibilisierung und Regulierung fragen. Dabei kann es in unserem Kontext lediglich um die Skizzierung einiger wichtiger Bausteine, nicht aber um ein vollständiges neues Modell gehen, da wir (noch) nicht über eine ausgebaute, anwendungsbezogene Theorie der optimalen Regulierung als nichtpreisliche Beeinflussung bzw. Koordination von Optionen verfügen. Allerdings sind auch die älteren Deregulierungskonzepte trotz umfänglicher Bemühungen
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Bemdt Keller
weit davon entfernt, ein systematisches und geschlossenes Gedankengebäude präsentieren zu können. 1 Die derzeit handlungs- bzw. politikbestimmende Alternative "mehr Recht oder weniger Recht" (im Rahmen der Globalstrategie "weniger Staat, mehr Markt") ist grundsätzlich falsch, weil zu einseitig gestellt. Ihre Strategien führen, wie die jüngsten Erfahrungen zeigen, kaum zum angepeilten Ziel. Ich argumentiere im folgenden gegen den Hauptstrang der Diskussion um "mehr Recht oder weniger Recht", indem ich nicht für weniger, sondern für mehr spezifische, d.h. intelligente und zweckmäßiggestalterische Regulierung plädiere.2 Das Problem besteht damit nicht mehr darin, wie den "freien Kräften des Marktes" durch Deregulierung bzw. durch einen weitgehenden Abbau rechtlicher Rahmenbedingungen zum Durchbruch verholfen werden kann, sondern wie durch gezielte Änderung der bestehenden (arbeits-)rechtliehen Rahmenbedingungen die Durchsetzung von naturwüchsigen Partikularinteressen im Rahmen der technologischen Entwicklung präventiv gesteuert und in einigermaßen kollektiv akzeptable, "sozialverträgliche" Bahnen gelenkt werden kann. Welches Recht fördert strukturellen Wandel und Beschäftigunt in einer schwierigen, gegenwärtig noch nicht eindeutig bewertbaren Transformationsphase? Die "zweite industrielle Wegscheide", impliziert in Anbetracht ihres Experimentier- und Suchcharakters beträchtliche politische Gestaltungsspielräume, wie verschiedene aktuelle arbeitspolitische Untersuchungen zeigen (für andere Piore / Sabel 1989).4 Richtung und Ausgestaltung des Strukturwandels sind nicht durch einseitigen Technikdeterminismus und/ oder
1 Hickel 1989, 87, diagnostiziert neben "theoretischen Unbestimmtheiten" (u.a. einer einzelwirtschaftlichen-kunfristigen Ausrichtung, vollkommen unbestimmtes Maß an Regulierung der Arbeitsmärkte, fehlende volkswirtschaftliche Beurteilung) den "Venicht auf eine empirische Untersuchung der Folgen von Deregulierungspolitik".
2 Dieses Argument bedeutet nicht, daß jede Regulierung sinnvoll sein muß. Ob etwa das 1989 beschlossene "Gesetz zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Gesetze" sein Ziel der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung, Sozialleistungsmißbrauch und mißbräuchlicher Ausnutzung der versicherungsfreien Geringfügigkeilsgrenze erreichen wird, kann durchaus bezweifelt werden. Vgl. demgegenüber zu sinnvollen Regulierungsvorschlägen Däubler 1988, S.453 ff. 3 Schmid (1986a, S.22 f.; ähnlich auch 1986b) unterscheidet zwischen prohibitivem (deregulierendem) und präventivem (offensiv-gestaltendem) Recht.
4 Flexible Spezialisierung ermöglicht Rationalisierung bei Kleinserien und Einzelfertigung, beseitigt die bisher bestehenden Kostenvorteile der Großserienproduktion, ermöglicht größere Angebotsvielfalt und kleine Losgrößen bis hin zur Einzelfertigung.
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ökonomische "Sachgesetzlichkeiten" vorherbestimme, sondern grundsätzlich offen (sog. Politikhaltigkeit im Rahmen von constraints und opportunities): Die korporativen Akteure können die Flexibilitätspotentiale der neuen Technologien innerhalb gewisser "Bandbreiten" durch gezielte Interventionen durchaus gestalten. Die strategische Handlungsalternative lautet dann "(marktmäßige) nichtkontrollierte vs. (politisch) kontrollierte Flexibilisierung" und nicht mehr "Flexibilisierung: ja oder nein". Eine zunehmende Flexibilisierung ginge entgegen der derzeitigen Programmatik und Praxis einher mit einer stärkeren Regulierung ihrer Rahmenbedingungen, insbes. der Institutionen des Arbeitsmarktes. Da die Protagonisten von Deregulierung auf aktuelle Problemfelder typischerweise nicht eingehen, können die Objektbereiche von Deregulierung und Re-Regulierung nicht identisch sein. Die folgenden Passagen sind der Versuch, die Regulierungsdiskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen und von der defensiven Kritik zu offensiven Vorschlägen einer Gestaltung des kollektiven Interessenausgleichs zu gelangen.2 Eine konzeptionelle Schwierigkeit besteht darin, daß die Diskussion um Deregulierung (einseht. der Kritik verschiedener Deregulierungsvorschläge) wesentlich umfangreicher ist als die zu zukünftigen "policy implications" einer Re-Regulierung.
a) Ausbau der Schutzrechte bestimmter Grnppen
In soziologischer Perspektive hat die Entwicklung der Mikroelektronik (als neuer Basis- bzw. Schlüsseltechnologie) auf der Makroebene Konsequenzen, die über den engeren Bereich von Produkt- und Arbeitsorganisation und damit von Arbeitsmärkten und Arbeitsbeziehungen weit hinaus und tief in die Sozialstruktur hinein reichen: Als übereinstimmendes Resultat neuerer organisations- und industriesoziologischer Studien (u.a. Kern I Schurnano 1984; Baethge I Oberheck 1986) resultiert aus den "neuen Produktionskon-
1 Lutz 1987, S.48, spricht in anderem Kontext von der "Lösung aus den Verkürzungen des technologischen Determinismus". 2 Der wichtige Hinweis auf fehlende Durchsetzungsmöglichkeiten im politischen Prozeß kann kein grundsätzlicher Einwand gegen die Umkehr des bislang skizzierten Argumentationszusammenhangs sein. Ihre potentiellen Träger würden vermutlich nicht konservative Politiker sein.
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zepten" bzw. aus der "systemischen Rationalisierung" eine immer tiefergehende Spaltung der Arbeitnehmerschaft also insgesamt im Vergleich zur Epoche tayloristisch-fordistischer Rationalisierung eine zunehmende Verfestigung und Vertiefung der Statusdifferenzen entlang der verschiedenen Segmentationslinien der Arbeitsmärkte. Die Folge ist eine wachsende soziale Ungleichheit bzw. eine Verschärfung der Disparität der Lebensverhältnisse innerhalb der Arbeitnehmerschaft mit höchst ungewissen Folgen für die gesellschaftliche Integration (sog. Zweidrittel- oder Dreiviertelgesellschaft oder "two tier" society). 1 Diese Differenzierung innerhalb der Arbeitnehmerschaft kann infolge der Durchsetzung der "neuen Produktionskonzepte" durchaus noch weiter zunehmen und die Folgen der Deregulierung auf der Makroebene verschärfen. 2 Gewerkschaften bzw. Betriebsräte können mit ihren begrenzten Handlungsoptionen nur sektoral bzw. einzelbetrieblich ansetzen; sie sind deshalb notwendigerweise überfordert mit der Wahrnehmung von Schutzrechten vor allem für die Arbeitnehmer, die sich außerhalb der betriebsinternen Arbeitsmärkte bzw. Produktivitätskoalitionen in den ungeschützten Marktsegmenten befmden. Deshalb muß auf der Makroebene der korporative Akteur Staat im Rahmen von Re-Regulierung in stärkerem Maße sozial- bzw. arbeitspolitische Schutzfunktionen übernehmen. Ein kollektives Interesse des Staates an Re-Regulierung ergibt sich nicht nur aus dem Sozialstaatsgebot des GG, sondern vor allem aus den sozialen Kosten und Folgeproblemen bzw. negativen externen Effekten, die bei Dominanz einzelbetrieblicher Effizienzüberlegungen bzw. im Falle unterbleibender Regulierung für die Gesellschaft entstehen würden. Außerdem haben staatlich gesetzte Regulierungen, die soziale Kosten durch Anwendung des "Verursacherprinzips" vermeiden, gleichartige Wirkungen für alle Betroffenen; demgegenüber weisen durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung dezentralisierte Regulierungen deutliche Unterschiede in ihrer Wirkungsweise auf. Neue Politikfelder für verschiedene Formen einer spezifischen politischen Re-Regulierung lassen sich durchaus ausmachen. Zunächst und vor allem sind verschiedene marginale bzw. statusgeminderte Beschäftigungsverhältnisse zu nennen, deren Anzahl und Anteil aufgrund struktureller und sozio-
1 Diese Befürchtung äußern auch verschiedene Autoren der vergleichenden Länderstudien in OECD 1989. 2 In diese Richtung argumentiert auch eine aktuelle US-amerikanische Studie (Lewin 1990, S.12).
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ökonomischer Wandlungsprozesse der Arbeitsmärkte vor allem seit Mitte der 70er Jahre kontinuierlich zunimmt. Sie sind aber durch die traditionellen sozialstaatliehen Regulierungen des Arbeits- und Sozialrechts, die an den Rahmenbedingungen des ehemals faktisch und normativ dominierenden "Normalarbeitsverhältnisses" orientiert sind, nur unzureichend abgesichert. Nicht generelle staatliche Verbote oder gewerkschaftliche Blockaden dieser flexibilisierten, von der strikten lebenslangen Vollzeiterwerbstätigkeit des "Normalarbeitsverhältnisses" aus verschiedenen Gründen abweichenden Beschäftigungsformen sind anzustreben, sondern ein differenzierter Ausbau ihrer derzeit unzulänglichen individuellen und kollektiven Schutzrechte: 1. Laut Sozialgesetzbuch sind sog. geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, die ihre Inhaber weniger als 15 Stunden pro Woche ausüben und/oder in denen sie regelmäßig nicht mehr als monatlich 480,-DM (bis 31.12.1990 470,-DM) verdienen, von der Sozialversicherungspflicht befreit; die 2,1 Millionen Stelleninhaber (ca. 9% aller abhängig Beschäftigten) 1 führen weder Beiträge zur gesetzlichen Kranken- noch zur Renten- oder Arbeitslosenversicherung ab. Diese Beschäftigungsform hat der Gesetzgeber ursprünglich geschaffen, "um ansonsten ausreichend versorgten Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit eines geringfügigen, abgabenfreien Hinzuverdienstes zu geben" (Schwarze / Wagner 1989a, S.185). Inzwischen stellt diese Beschäftigungsform, deren Zusammensetzung sich deutlich in Richtung auf eine Heterogenisierung ändert, längst nicht mehr die Ausnahme dar.
Daher wären diese "Geringverdiener" durch Wegfall der Geringfügigkeitsklausel in die Sozialversicherungspflicht einzubeziehen, um sie besser vor den sozialen Risiken zu schützen. Hierbei geht es vor allem um die Schließung von Lücken in den eigenen Rentenanwartschaften bzw. um eine eigenständige soziale Sicherung insbesondere von Frauen, die den überwiegenden Teil (1,5 der 2,1 Millionen geringfügig Beschäftigten) ausmachen. 2 - Innerhalb einer generellen Sozialpflichtigkeit wären Sonderregelungen für spezifische, anderweitig hinreichend abgesicherte und daher weniger schutzbedürftige Teilgruppen (vor allem Schüler, Studenten, Pensionäre bzw. Rentenbezieher 1 Die Zahl steigt auf 4 Millionen marginaler Beschäftigungsverhältnisse, wenn die als Zweitbeschäftigung ausgeübten Nebentätigkeiten addiert werden. - Im übrigen sind die Angaben über den Umfang der geringfügigen Beschäftigten in den verschiedenen St!Jdien recht unterschiedlich. Vgl. u.a. /SG 1989. 2 Außerdem werden durch die gegenwärtige Regelung bestimmte Arbeitsplätze subventioniert, was zu Wettbewerbsvenerrungen zugunsten der Branchen führen kann, die diese Beschäftigungsform überproportional häufig nutzen (vor allem Einzelhandel, Gebäudereinigerhandwerk, private Haushalte, karitative Organisationen). Vgl. Schwarze/ Wagner 1989a, S.185 f.
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und Arbeitslose) durchaus möglich. Insofern geht es gar nicht um die Einführung einer generellen Versicherungspflicht für diese recht heterogene Gruppe, sondern lediglich um eine differenzierte Ausdehnung der Versicherungspflicht auf etwa die Hälfte der geringfügig Beschäftigten. Da aufgrund der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung die Lohnnebenkosten steigen würden, werden häufig negative Arbeitsmarktkonsequenzen in Form eines Verschwindens dieser Beschäftigungsform befürchtet. Das DIW konnte allerdings durch eine Analyse der Struktur des Angebots zeigen, daß "... Wettbewerbs- wie sozial- und arbeitsmarktpolitische Gründe für eine weitgehende Abschaffung der Vorschriften über geringfügige Beschäftigung" (Schwarze /Wagner 1989b, S.601) sprechen: Wegen der Notwendigkeit bzw. Unverzichtbarkeit dieser Tätigkeiten in einer Dienstleistungsgesellschaft würden in der überwiegenden Mehrzahl - abgesehen vom Bereich des produzierenden Gewerbes - keine negativen Beschäftigungseffekte auftreten. Arbeitskräfte mit funktionalisierten, unregelmäßigen Arbeitszeiten seien eigentlich nicht geringer, sondern sogar höher zu entlohnen als Arbeitnehmer mit "Normalarbeitszeiten". 2. Teilzeitbeschäftigung nimmt - bei unterschiedlichen Arbeitsmarktbedingungen und mit variierter Zielsetzung- vom Volumen her seit den frühen 60er Jahren zu und umfaßt inzwischen ca.14% aller abhängig Beschäftigten; der Anteil der Frauen beträgt über 80% (sog. Feminisierung). Außerdem steigt der Anteil befristeter Teilzeit- an allen Arbeitsverhältnissen. 1 Aktuelle Analysen2 zeigen jedoch, daß die Beschäftigungseffekte der Varianten der Teilzeitarbeit in der Vergangenheit gering waren. Weitere rechtliche Rahmenbedingungen - und nicht Versuche einer Blockade der Ausweitung dieser Beschäftigungsform - sind auch hier notwendig? "Bei der Regelung der Teilzeitarbeit geht es zunächst darum, die Benachteiligungen von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten vollkommen auszuschalten. Überfällig ist eine tarif- und sozialrechtliche Gleichstellung der Teilzeitbeschäftigten mit den Vollzeitbeschäftigten hinsichtlich u.a. der Bezahlung (auch bei Überstunden), der Eingruppierung, 1 Neben der Aexibilisierung des Personalbestandes erfolgt also auch eine Aexibilisierung des Personaleinsatzes. Durch eine extreme Aexibilisierung der Arbeitszeiten (Anpassung der Arbeitsleistung an den schwankenden Arbeitsanfall) werden erhebliche Rationalisierungsgewinne für die Unternehmen ermöglicht. 2
Vgl. vor allem Büchtemann /Schupp 1986; Schupp 1989; Dittrich u.a. 1989.
Die Varianten "kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit" (Kapovaz) und "job sharing" werden im BeschFG bloß ansatzweise geregelt. Insgesamt ist Teilzeitarbeit nur in geringem Umfang reguliert. 3
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der Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, der Teilhabe an betrieblichen Sozialleistungen, insbesondere bei der betrieblichen Altersversorgung bzw. der öffentlichen Zusatzversorgung." (Bäcker I Naegele 1989, S.39). M.a.W.: Der Grundsatz der Nicht-Diskriminierung muß bei allen unteilbaren Rechten (wie Mindestarbeitsbedingungen, Bestandsschutzregelungen wie Kündigungsschutz, Beteiligung an Mitbestimmungsgremien sowie an Weiterbildungsmaßnahmen) realisiert werden; bei den teilbaren Rechten dagegen (z.B. Entgelt) erfolgt eine abgestufte, relative Beteiligung.1 Insofern erweist sich die ansatzweise Regulierung dieser Beschäftigungsform durch Vorgabe einiger gesetzlicher Mindeststandards in §2-6 BeschFG (Verbot der unterschiedlichen Behandlung, Veränderung von Dauer oder Lage der Arbeitszeit, Anpassung der Arbeitszeit an den Arbeitsanfall, Arbeitsplatzteilung, Vorrang des Tarifvertrags) als Schritt in die richtige Richtung, der wegen seines Minimalcharakters aber unzureichend bleibt. 3. Die Reihe der Beispiele läßt sich fortsetzen: Eine spezifische Variante der betrieblichen Flexibilisierung, die durch Auslagerung von Arbeitsplätzen aus der unmittelbaren großbetriebliehen Organisation entsteht, stellt die Heimarbeit in der aktuellen Variante der sog. Teleheimarbeit2 dar. Diese Beschäftigungsform, die vor allem Frauen ausüben, ist zwar vom Umfang her (mit ca. 160.000 Arbeitnehmern) nicht bedeutend und wächst derzeit kaum; sie kann in Zukunft infolge Möglichkeiten zur Dezentralisierung, welche die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten, durchaus zunehmen. Zur arbeits- und sozialrechtlichen Absicherung und Gestaltung dieser "neuen Heimarbeit", welche u.a. die Form der Scheinselbständigkeit annehmen kann, wird eine reine Aktualisierung des Heimarbeitsgesetzes nicht ausreichen. "Insbesondere müssen das Beschäftigungs-, Investitionsund Haftungsrisiko für die unterschiedlichen Ausgestaltungsformen der Telearbeit befriedigend gelöst werden." (Müllner 1987, S.324). "Ein weiteres Problem bildet der im internationalen Vergleich zwar geringe, aber von Jahr zu Jahr deutlich zunehmende Umfang der legalen (vgl. Brose I Schulze-Böing I Wohlrab-Saar 1988, S.286 ff.) und illegalen Leiharbeit (vgl. DGB 1988; Kock 1989). Das tatsächliche Ausmaß der nicht erfaßten illegalen Leiharbeit ist aufgrund der notwendigerweise lückenhaften Statistiken kaum genau zu schätzen, sehr wohl aber erheblich, wie wir aufgrund der Erfahrungen der vergangeneo Jahre vermuten müssen: Der
1 Vgl. zu den hier nicht behandelten Folgen für Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung im einzelnen Landenberger 1985; vgl. zu rechtlichen Gestaltungsspielräumen der Teizeitarl>eit auch Sehnlid 1986a und 1986b sowie Maier I Scheukat 1990, S.46 ff. 2
Vgl. zum Problem u.a. Brandes I Butt/er 1987, S.74 ff.
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DGB schätzt, daß es mehr als doppelt so viele illegal überlassene wie die legal vermittelten 200.000 Leiharbeitnehmer gibt. Allgemein gilt: "... in the FRG agency labour tends to have worse pay and working conditions than permanent workers, as well as more restricted social security rights, because, on the one hand, they are excluded from the scope of the collective agreements in the user firm and, on the other, the number of collective agreements directly signed by agencies is small." (Marshall1989, S.41) Seit der Öffnung der Grenzen der ehemaligen DDR hat sich die Situation noch verschärft. Bei der Absicherung ergeben sich die bekannten Probleme ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse. Dem Problem läßt sich durch gesetzliche Regelungen - etwa in Richtung auf ein generelles, vor allem vom DGB gefordertes Verbot - nur schwer beikommen. Das BeschFG sieht lediglich eine strengere Bestrafung bei illegaler Ausländerbeschäftigung vor. Eine mögliche Strategie wäre die gesetzliche Verankerung einer systematischen Gleichbehandlung von Betriebsangehörigen und allen Leiharbeitnehmern - nicht nur bei den Entgelten, sondern auch bei allen anderen Arbeitsbedingungen durch eine Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes.1
b) Ausbau kollektiver und individueller Beteiligungsrechte
Bisher habe ich vor allem die sozialen Kosten von Deregulierungsstrategien bzw. die sozialpolitischen Schutzfunktionen von Reregulierungsvorschlägen in Hinsicht auf "untypische" Beschäftigungsverhältnissen hervorgehoben; im folgenden werde ich Richtung und Reichweite verschiedener arbeitspolitischer Gestaltungsfunktionen aufzeigen. Wir gehen damit von einer defensiv-kompensatorischen zu einer offensiv-gestalterischen Variante der Re-Reregulierung über. Die Notwendigkeit dieser zweiten Form der Verhaltensregulierung besteht nicht mehr in der Vermeidung externer Effekte bzw. Senkung sozialer Kosten, sondern vor allem in der Reduzierung von Informations-, Verhandlungs- und Durchsetzungskosten (Transaktionskosten); sie kann durchaus auch das Ziel verfolgen, die "soziale Produktivität" zu erhöhen.
1 Ein weiterer regelun~bedürftiger Bereich wird die Nacht- und Wochenendarbeit sein. Ygl. zu Vorschlägen Seifert 1989, S.680 f.
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1. Die sozialverträgliche Einführung und Implementation neuer Technologien, vor allem der Mikroelektronik als neuer Basistechnologie, ist ein weiteres zentrales Politikfeld, auf dem rechtliche Intervention und damit Steuerung notwendig werden; das Ziel besteht in der Institutionalisierung verbesserter und erweiterter Partizipationsrechte (von Informations- über Mitwirkungs- bis zu echten Mitbestimmungsrechten) in den verschiedenen Phasen (der Planung, Einführung und Implementation). Zumindest sind die neuen Technologien auch auf der Mikroebene keineswegs durch technologische "Eigenlogik" oder sonstige "Sachgesetzlichkeiten" determiniert, sondern als sozialer Prozeß gegenüber praktischen Gestaltungsalternativen und -strategien der Akteure durchaus offen. 1 Die Gewerkschaften schätzen die Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Rationalisierungsmaßnahmen sowie bei der Einführung und Anwendung neuer Technologien, bei der Arbeitsplatzgestaltung, bei Personalplanung und -entscheidungen sowie bei Betriebsänderungen (vor allem §90, 91 BetrVG) als unzureichend und zu unbestimmt ein. Gegenwärtig sind Betriebsräte nur selten aktiv und häufig zu spät an der formalen und informellen Aushandlung der Planungs- und Entscheidungsprozesse beteiligt. Die Gewerkschaften fordern deshalb eine Ausweitung und Verstärkung der bestehenden Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei der Einführung und Anwendung neuer Technologien ("soziale Gestaltung des technischen Wandels"). In den Konzepten einer stärker betriebsbezogenen Arbeits- und Produktionspolitik geht es um Antworten auf die Frage, ob innerhalb des Spielraums einer Rahmengesetzgebung die verschiedenartigen Auswirkungen von "Technik" auf der betrieblichen Ebene quantitativ und vor allem qualitativ Gegenstand von Kollektiwerhandlungen bzw. Betriebsvereinbarungen werden sollen: -Zum einen können umfassende Rechte echter, präventiver Mitbestimmung "bei der Einführung, Anwendung, Änderung oder Erweiterung neuer technischer Einrichtungen und Verfahren" eingeführt werden, wie sie DGB und SPD durchsetzen wollen. 2 - Zum andern können lediglich erweiterte Beteiligungsrechte festgeschrieben
1 Vgl. im einzelnen Altmann / Dü" 1987; Ortmann u.a. 1990; international vergleichend Wassermann 1989.
2 Der SPD-Gesetzentwurf zur Erneuerung des BetrVG vom Herbst 1988 verfolgt diese Ziele. Den Arbeitgebern hingegen gingen schon die moderaten Änderungen des novellierten BetrVG zu weit. Vgl. hienu sowie zum Gesetzentwurf der SPD-Fraktion BDA 1989, S.10 f. 17 Büschges
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werden, wie sie die Regierungskoalition bei der Novellierung des BetrVG im Jahre 1988 formulierte! Die infolge des Einzugs der Mikroelektronik in Produktion und Verwaltung auftretenden neuartigen Probleme einer "technologischen" Partizipation waren bei der ersten Novellierung des BetrVG von 1952 im Jahre 1972 nicht vorherzusehen; diese technisch-qualiflkatorisch-arbeitsorganisatorischen Veränderungen hätten aber bei der zweiten Novellierung im Jahre 1988 angegangen werden müssen. 2 Eine andere Änderung des BetrVG, nämlich ein Ausbau der echten Mitbestimmungsrechte bei Folgen und Wirkungen des Einsatzes neuer Technologien, wäre notwendig gewesen.3 Das eigentliche Problem der Novellierung liegt damit weniger in den tatsächlich vorgenommenen Änderungen (vgl. Kap. 2a) als vielmehr in der nicht erfolgten Re-Regulierung der Einführung neuer Technologien. 2. Die traditionelle, stark arbeitsteilige und deutlich restriktive Organisation der Arbeit nach tayloristisch-fordistischen Prinzipien verliert im Prozeß des Übergangs von standardisierter Massenproduktion zu flexibler und diversifiZierter Qualitätsproduktion allmählich an Bedeutung. Mit der Einführung der Informations- und Kommunikationstechnologien wird eine "flexible" Reorganisation der nunmehr stärker ganzheitlich gestalteten und genutzten Arbeit möglich. Durch die Einführung der Mikroelektronik ändern sich nicht nur die traditionellen Handlungsalternativen der Betriebsräte, sondern wesentlich auch die Arbeitsorganisation sowie die individuellen Arbeitsbedingungen. Notwendig wird neben der bereits skizzierten Ausweitung der bestehenden Gruppen- bzw. Kollektivrechte des Betriebsrats als Repräsentativorgan eine Ausgestaltung nicht-repräsentativer, individueller Partizipationsrechte am Arbeitsplatz, die sich sowohl auf die Einführung und Anwendung neuer Technologien als auch auf die allgemeine Gestaltung der Arbeitsbedingungen 1 Die Informations- und Beratungsrechte des Betriebsrats bzw. der Arbeitnehmer wurden "präzisiert und für die Praxis besser handhabbar gemacht", jedoch nicht wesentlich erweitert. In §81 BetrVG wurden die Unterrichtungspflichten des Arbeitgebers, in §90 die Unterrichtungs- und Beratungsrechte des Betriebsrats erweitert. 2 Eine "Konzeption zur Mitbestimmung am Arbeitsplatz" des DGB liegt seit Ende 1984 vor; jenseits der Programmatik sind bisher jedoch keine praktischen Folgerungen zu erkennen. Vgl. Kiefer/ Schönland 1988, S.139 ff. 3 Der von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachte "Entwurf eines Gesetzes zum Ausbau und zur Sicherung der betrieblichen Mitbestimmung" (BT-Druck.sache 10/3666), der die Vorstellungen der DOS-Gewerkschaften weitgehend übernahm, war als politische Alternative zu den Plänen der Regierungskoalition zur Novellierung des BetrVG konzipiert.
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beziehen. 1 Insofern wäre das BetrVG, in dem die kollektiven Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher Ebene durch Verrechtlichung reguliert werden, nach "unten" zu ergänzen durch eine Stärkung individueller Rechte am Arbeitsplatz und deren Verzahnung mit kollektiven Rechten. In der konsequenten Vernachlässigung dieser untersten Ebene der Mitbestimmung liegt traditionell eine Besonderheit der deutschen Regelungen, die ausschließlich auf die betriebliche und überbetriebliche Ebene ausgerichtet sind und neben der gesamtwirtschaftlichen vor allem die individuelle Ebene ausklammern. In diesem Zusammenhang gewinnen neben Beteiligungsangeboten des Managements (vgl. unten) die in den 60er und frühen 70er Jahren diskutierten, aber innergewerkschaftlich aufgrund organisationspolitischer Kalküle nicht mehrheitsfähigen Konzepte der Mitbestimmung am Arbeitsplatt unter gänzlich veränderten Rahmenbedingungen und mit ganz anderen Zielen als "Basisdemokratie" und "Arbeiterselbstverwaltung" - wieder an Aktualität: - Einerseits fordern und erwarten nicht nur die hoch qualifizierten und verhaltenssouveränen "Produktionsfacharbeiter", welche den betrieblichen Technikeinsatz und die "neuen Produktionskonzepte" tragen, in hohem Maße direkte, individuelle Beteiligungsrechte und strategisch orientierte Gestaltungsfreiräume mit dem Ziel der verbesserten Wahrnehmung eigener Interessen bei den Aushandlungsprozessen von Arbeitsorganisation und -bedingungen.3 -Andererseits macht das "modernistische" Management seit den 80er Jahren im Rahmen seines Human Resource Management zumindest für bestimmte Gruppen von (Stamm-)Arbeitnehmern zahlreiche neuartige, dezentrale Beteiligungsangebote, die über Scheinpartizipation und Sozialtechniken durchaus hinausgehen (können). Diese funktional orientierten, auf Modernisierung und Flexibilisierung des betrieblichen Produktionspotentials ausgerichteten Sozialtechniken haben u.a. die Form von Werkstattkreisen oder Qualitätszirkeln. Diese direkte Arbeitnehmerbeteiligung kann jedoch mit den im BetrVG institutionalisierten kollektiven Rechten der Betriebsräte durch-
1 Auch die häufig diagnostizierten, deutlichen Tendenzen einer durchgängigen Individualisierung von Lebens- und Arbeitsbedingungen, von Handlungsorientierungen und -strategien (Beck 1986, 1988) weisen in Richtung auf eine Verbesserung individueller Beteiligungsrechte bzw. der Gestaltungsfunktion von Regulierung.
2
Vgl. für andere Vilmar 1974a und 1974b, bes. 5.176 ff.
3 Vgl. Birke I Schwarz 1989 und 1990 sowie verschiedene Beiträge in Kißler 1989 und Manens I Peter 1989.
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aus in Konkurrenz geraten, wenn diese - und die von ihrer Bedeutung her aufzuwertenden gewerkschaftlichen Vertrauensleute - sie nicht offensiv zur arbeitsplatzbezogenen Erweiterung der innerbetrieblichen Partizipationsrechte aller Arbeitnehmer zu nutzen verstehen (zur empirischen Partizipationsfolgenabschätzung Greüenstein I Jansen I Kißler 1990). Wahrscheinlich wird im andauernden Prozeß des Strukturwandels des Systems der Arbeitsbeziehungen - mit den bekannten Tendenzen der Verbetrieblichung bzw. allgemeinen Dezentralisierung - die faktische Bedeutung der überbetrieblichen Mitbestimmung zugunsten der betrieblichen abnehmen. Im Rahmen dieser Gewichtsverlagerung in einem Gesamtkonzept "industrieller Demokratie" wird einerseits die (Unternehmens-)Mitbestimmung (vor allem nach dem MitbestG von 1976) sicherlich nicht völlig bedeutungslos, weil sie Chancen zur Intervention in Unternehmerische Entscheidungsprozesse im Aufsichtsrat bietet. Andererseits wird aber die "dezentralisierte" Mitbestimmung am Arbeitsplatz innerhalb einer umfassender regulierten Infrastruktur von Partizipation an Bedeutung gewinnen. Notwendig bleibt eine den veränderten Rahmenbedingungen adäquate, institutionalisierte Weiterentwicklung der verschiedenen Formen von Partizipation als Mischung von verbesserten alten, d.h. repräsentativ-kollektiven und neuen, d.h. direkt-individuellen Beteiligungsrechten. 3. Inzwischen besteht allgemeiner Konsens hinsichtlich der zentralen Bedeutung einer über die berufliche Erstausbildung deutlich hinausgehenden systematischen Aus- und Weiterbildung nicht nur für die individuelle, sondern auch für die zukünftige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Ein deutlicher Dissens hingegen existiert bei der Frage, wie das Problem im Detail und von den Instrumenten her gelöst werden soll; die grundsätzliche Alternative lautet Betriebsvereinbarung/Tarifvertrag vs. gesetzliche (Rahmen-) Regelung plus tarifvertragliche Ergänzung: - Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft sieht "keine Alternative zu dem Konzept dezentraler Verantwortung in der beruflichen Weiterbildung ... tarifvertragliche Regelungen werden der Differenziertheil der Aufgabenstellung Weiterbildung wesentlich besser gerecht als gesetzliche Rahmenregelungen".1 Auch die Arbeitgeberverbände sprechen sich dezidiert gegen gesetzliche Regelungen aus. 2
1 Presse-Info BMBW,
2.11.1989, S.2 f.
Die Schwierigkeiten, vor denen tarifvertragliche Regelungen stehen, werden deutlich durch die Beschreibung der Position der BDA 1989, S.71. Vgl. auch Dichmann 1990, S.64 ff. 2
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-Demgegenüber könnte eine gesetzliche Vorgabe gewisse Rahmenbedingungen auf ein Recht oder zumindest für Fragen der WeiterqualifiZierung vorgeben. Staatliche Maßnahmen erscheinen nicht zuletzt sinnvoll, weil durch eine systematisch forcierte Weiterbildung die eigene Position innerhalb der internationalen Arbeitsteilung sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf umkämpften Märkten verbessert werden können: Die Produktion von konkurrenzfähigen, weil qualitativ hochwertigen Gütern setzt entsprechend umfassend qualiftzierte Arbeitskräfte voraus. Da es sich zumindest bei den breit anzulegenden "Schlüsselqualiflkationen" um eine spezifische Art von Kollektivgut zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit handelt, sollte der Staat dessen Bereitstellung fördern. Schließlich können wir berufliche Weiterbildung ebenso wie das "duale" System beruflicher Bildung als gesellschaftspolitische Aufgabe ansehen, die daher einer ebenfalls dual angelegten Rahmenregelung bedarf. Den bislang dominierenden Betriebsvereinbarungen bzw. Tarifverträgen 1 käme dann die Aufgabe zu, den gesetzlich vorstrukturierten Rahmen entsprechend der betriebs- bzw. branchenspezifischen Bedingungen auszufüllen, zu konkretisieren und "umzusetzen".2 Die Mitbestimmungsregelungen (vor allem §96-98 BetrVG) bieten hierfür zwar günstige Ansatzpunkte, reichen aber zur wirksamen gleichberechtigten Einflußnahme nicht aus (RischeBraun 1986, S.l ff.). In den vergangeneo Jahren haben verschiedene Gewerkschaften versucht, Probleme der Weiterbildung zum Gegenstand von Kollektivverhandlungen zu machen. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, sowohl mit als auch ohne staatliche (Rahmen-)Regulierung verfolgt werden zu können; Forderungen dürften aber auch in diesem Objektbereich in Verbindung mit staatlichen Aktivitäten einfacher durchzusetzen bzw. ohne sie leicht überfordert sein. Andererseits hat diese Strategie "qualitativer" Tarifpolitik kaum Aussicht auf Erfolg, wenn sie isoliert und allein auf einzelbetrieblicher Ebene, d.h. in Form von Betriebsvereinbarungen, betrieben wird; sie bedarf mehr als der kollektiven Absicherung durch Tarifverträge, welche allgemein verbindliche Mindeststandards formulieren und spezifische (Einzel-)Regelungen verallgemeinern.
1 Vgl. Bispinck
1988 und auch Hans-Böe/der-Stiftung 1989a und 1989b.
2 Ähnlich argumentiert Streeck 1988, S.36, bei einer Analyse des Systems der beruflichen Bildung. Eine kritische Übersicht der Diskussion bietet Mahnkopf 1989 und 1990.
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5. Resümee Die grundlegende politische Handlungsalternative lautet: Sollen die in der industriellen Produktion sowie im privaten und öffentlichen Dienstleistungssektor gleichermaßen fortschreitenden Prozesse der U mstrukturierung unter politischer und damit auch sozialer Kontrolle bzw. Koordination stattfinden oder sollen diese Prozesse allein den Kräften des "freien" Marktes der ökonomischen Lehr- und Textbücher überlassen werden (politisch kontrollierte vs. marktmäßig nicht-kontrollierte Restrukturierung)? Andauernde und zunehmende Flexibilisierung macht politische Einflußnahme durch Reformulierung rechtlicher Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung sicherlich schwieriger, weil differenzierter, aber nicht überflüssig. Ein mehr an spezifischer Regulierung durch Ausbau der Schutzrechte vor allem der marginalisierten Gruppen sowie durch Erweiterung der kollektiven und individuellen Partizipationsrechte wird in den 90er Jahren notwendig sein. In diesem Szenario einer Re-Regulierung von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmärkten ist der (Wohlfahrts- bzw. Sozial-)Staat nicht als "starker" Interventionsstaat, wohl aber als dritter korporativer Akteur neben Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen gefordert, vor allem in seiner nach wie vor aktuellen Funktion als Gesetzgeber. Demgegenüber soll er nach den gängigen Deregulierungskonzepten keine moderierende Funktion des Ausgleichs und der Eingrenzung von Partikularinteressen übernehmen, sondern gerade in der Arbeits- und Sozialpolitik immer mehr an Bedeutung verlieren und wieder zum "Nacht- bzw. Marktwächterstaat" werden, der lediglich noch die klassischen Ordnungsfunktionen wahrnimmt. In den gängigen Theorien der Arbeitsbeziehungen unterscheiden wir zwischen Verfahrensregeln und Inhaltsregeln. Der Unterschied besteht darin, daß erstere die Beschäftigungsbedingungen für alle oder für bestimmte Gruppen direkt regulieren (z.B. Lohnhöhe, Arbeitszeiten), während letztere dies indirekt tun, indem sie die Handlungsalternativen der formalen und informellen Organisationen bzw. deren Repräsentanten beeinflussen (z.B. Abmachungen über Verhandlungs- und Konfliktbeilegungsmechanismen wie Mitbestimmungsregelungen oder Schlichtungsvereinbarungen).1 Wir können die langfristige Entwicklung beschreiben als Trend zu mehr und umfassenderen Inhaltsregeln, die der Staat häufig durch rechtliche Intervention einleitet.
1
1989.
Vgl. zur Anwendung der Unterscheidung auf Regulierungsfragen Mückenberger 1988,
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Umgesetzt auf unser allgemeines Problem der (Um-)Verteilung individueller und kollektiver Verfügungsrechte bedeutet dieser Trend, daß Formen substantieller Regulierung diejenigen prozeduraler Regulierung nach wie vor dominieren, obwohl die staatlichen Deregulierungsmaßnahmen der 80er Jahre gerade auch auf substantielle Regulierung zielten. - Demgegenüber werden aber die Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen der 90er Jahre gekennzeichnet sein durch eine wachsende Bedeutung, wenn nicht gar Beherrschung, von Verfahrensregeln und -regulierungen, die mehr "koordinierte Flexibilität" und höhere "Anpassungsfähigkeit" ermöglichen sollen. Deswegen sollten bei der konkreten Ausgestaltung der Re-Regulierung Verfahrensregeln den Vorzug gegenüber inhaltlichen Regeln haben. M.a.W.: Die staatlichen, auf der Makroebene fixierten Verfahrensregeln geben lediglich Rahmenbedingungen vor für nachgeschaltete Aushandlungsprozesse der Konfliktaustragung auf überbetrieblicher und betrieblicher Ebene bzw. werden auf der sektoralen und vor allem der betriebliche Mikroebene inhaltlich ausgefüllt.
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IV. Experten und Laien Von Hans Gerd Schütte 1. Einleitung Soziologische Einsichten zu diesem Thema, verbunden mit Kritik an der Dominanz des Paradigmas der Industriegesellschaft, liegen seit langem vor. Als Beispiel soll auf die Arbeiten von Veblen, Lederer, Marshak, Weber, Berle und Means verwiesen werden. Für die neuere Diskussion seien hier die Studien von Clarke, Fourastie, Bell, Inglehart, Machlup oder Touraine genannt. Sie weisen alle auf ein säkulares Wachsturn des Dienstleistungssektors hin. Parallel dazu verläuft ein Trend der kognitiven Rationalisierung oder Verwissenschaftlichung. Folgt man der geläufigen Einteilung von Wirtschaftssystemen in einen primären, sekundären und tertiären Sektor, so wird deutlich, daß in diesen Bereichen nacheinander eine Tendenz sichtbar wird, menschliche Aktivitäten am Maßstab wissenschaftlicher Systematik zu messen, mit den bekannten Folgen für die Produktivitätsentwicklung zunächst der primären, später dann der industriellen Produktion, aber auch für die Gestaltung des Weltbildes der westlichen Gesellschaften. Im Augenblick bleibt noch offen, wie sich die Verwissenschaftlichung im Dienstleistungssektor auswirken wird, und wie man etwa ihre Auswirkungen auf die Wertschöpfung beratender Berufe beurteilen kann. Die Entwicklung zur Dienstleistungs- und zur Wissenschaftsgesellschaft läuft offenbar parallel. Es handelt sich jedoch nicht um identische Sachverhalte. Es gibt einen Bereich persönlicher Dienstleistungen auf der Basis minimaler Qualifikationen, zum anderen das Angebot von hochspezialisierten Computerfachleuten oder international operierender Wirtschaftsberatungsund Ingenieurbüros. Der Überschneidungsbereich von Wissenschaft, Technik und Dienstleistung ist die Domäne von Experten. Experten operieren in Unternehmungen, Verwaltungen, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Sonderforschungsbereichen oder aber freiberuflich. Ihre Aktivitäten und Kenntnisse sind eingebettet in den sozialen Kontext von
272
Hans Gerd Schütte
Hierarchien, Märkten und sozialen Netzwerken oder Teams. Je nach sozialem und juristischem Milieu pflegen die Kenntnisse von Experten in unterschiedliche Richtung gesteuert und an unterschiedlichen Maßstäben gemessen zu werden. Der Gültigkeitsanspruch von Theorien wird mit sozialen Normierungen verschränkt. Die unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit ist eine Sache, die Umsetzung von Ideen in die Produktionstechnik eine andere. Solange Wissenschaft sich nur in Teleskopen bescheidener Größenordnung konkretisierte, konnte man mit einigem Recht von der Sonderethik der Wissenschaften sprechen. 1 Die Überlagerung von Dienstleistungen und systematischem Wissen dagegen verändert die Entscheidungssituation und die ihr zugrundeliegenden Normierungen, hinzu kommt, daß auch die Forschung kapitalintensiv wird. Wissenschaft als System von bewährten Aussagen wird gesellschaftlich relevant je nach sozialem Kontext, und je nach ihrer Technisierung und Kapitalintensität Sachprobleme werden im wissenschaftlichen Betrieb an Entscheidungsregeln unterschiedlicher Art gekoppelt, und man darf vermuten, daß Legitimität und Effizienz des wissenschaftlichen Komplexes nicht nur eine Funktion der selbstbestimmten Methodik sind. In dieser Hinsicht entsteht ein Doppelproblem: Das der Selbststeuerung der Wissenschaft auf der Basis der Orientierung am Problem der Gültigkeit von Theorien, und das der sozialen Steuerung der Tätigkeit von Experten, je nach den Regeln des jeweiligen Milieus. Die Aktivitäten von F & E-Abteilungen werden am Maßstab des Gewinns gemessen, die universitäre Forschung am wissenschaftlichen Ertrag und am Budget, und in den freien Berufen dominieren Marktlage und Gebührenordnungen. Die Eigenlogik der Wissenschaft ist nicht immer kompatibel mit der Logik des Sozialen. Fragen der Wissenschaftsgenese und der Gültigkeit existieren sozusagen quer zu den kontextuellen Regeln. Beide stehen in einem prekären Verhältnis zueinander, denn obwohl es sich Ietztenendes als unmöglich erwiesen hat, den Prozeß der Expansion des Wissens in eine gewünschte Richtung zu steuern, lassen sich unerwünschte Entwicklungen durch Entzug von Ressourcen blockieren. In diesem komplexen Umfeld läßt sich die Rolle von Experten, zwischen Selbstkontrolle und sozialer Steuerung und im kognitiven Pluralismus von Wissenschaftsgenese und Technikfolgen lokalisieren. Der sozialwissenschaftliehen Analyse ist der wissenschaftlich-technische Komplex nicht leicht zugänglich. Symbol- und Aussagensysteme jedenfalls entziehen sich der Forschung, weil die Argumente in der Regel nicht nach-
1 Vgl. Spinner 1985.- Ich bin Prof. Dr. H. Spinner (Karlsruhe) sehr dankbar für ebenso vergnügliche wie anregende Diskussionen zum Thema.
Experten und Laien
273
vollzogen werden können. Die informationeile Asymmetrie zwischen Experten und Laien erstreckt sich auch auf die Sozialwissenschaften. Die Tätigkeit von Experten bleibt jedoch immer Teil der Gesellschaft und ist in dieser Hinsicht einem begründeten Räsonnement zugänglich.
2. Expertenwissen und funktionale Differenzierung Die Entwicklung läßt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben. Man kann zunächst von einer makrosoziologischen Basishypothese ausgehen, die besagt, daß sich die Gesellschaft auf zwei Dimensionen differenziert, nämlich auf der Grundlage systematischen Wissens einerseits, und seiner Anwendung, von Partizipationsbedürfnissen andererseits, die als Reaktion auf neue Unübersichtlichkeiten aufgefaßt werden können. Hier kommt eine informationeile Asymmetrie zum Ausdruck, die leicht in den Kategorien von Macht und Abhängigkeit gedeutet wird. Der diesen Erscheinungen zugrundeliegende Wirkungsmechanismus ist im Verhältnis von Experten zueinander und zu den Laien zu lokalisieren, das heißt, auf der Mikroebene strategischen Verhaltens. Wenn man von einem harten Kern des Problems sprechen kann, dann besteht er in den verschiedenen Strategien, die für kooperative Verhältnisse charakteristisch sind. Diese dominieren dann, wenn marktartig geordnete Beziehungen aus den verschiedensten Gründen nicht möglich sind. Ein Markt für die Kenntnisse von Experten ist nur in Grenzfällen vorstellbar, nämlich dann, wenn es gelingt, Dienstleistungen dieser Art zu standardisieren. Marktpreise bilden sich dann, wenn Güter vergleichbar und substituierbar sind. Wissensgüter im System des kognitiven Pluralismus sind jedoch komplementär, was das Expertensystem selbst betrifft, und im übrigen im starken Maße an Vertrauensbeziehungen gebunden. Erfahrungs- oder Wissensgüter weisen gewisse Eigenschaften auf, die es ratsam erscheinen lassen, die Differenzierungsthese auf einem niedrigeren Niveau der Aggregierung zu untersuchen. Ihr erster Bestandteil hat nicht nur logische, sondern auch genetische Priorität, wenn man am Spannungsfeld zwischen Experten und Laien interessiert ist. Zum einen geht es um intellektuelle Durchbrüche und die Akkumulation von Kenntnissen. Für alle praktischen Zwecke erscheint Wissen auf dieser Ebene als System von Symbolen, als kulturelles Kapital zum beliebigen Gebrauch. Gesellschaftlich bedeutsam wird es dann, wenn es Konsequenzen für die Gestaltung unseres Weltbildes und die Stabilität sozialer Positionen zeitigt. In logischer Hinsicht geht es um die Implikationen allgemeiner 18 Büschges
274
Hans Gerd Schütte
Prinzipien, in soziologischer Hinsicht um deren Deutung, Diskussion und Anwendung. Diese Schritte entsprechen der Transformation von Theorien in Technik einerseits, gesellschaftliche Perspektiven andererseits. Die Transformation von Wissen in Technik und Kommunikation ist entscheidungsabhängig, und die Koppelung von Sach- und Entscheidungsproblemen ist für den Experten ein existentielles Problem im Rahmen institutioneller Regelungen. Erwerb von und Verfügung über Kenntnisse spielen sich gemäß den Normen ab, die in Forschungsabteilungen oder Beratungsbüros üblich sind. Dieses Syndrom begründet nicht nur die Position des Experten, sondern auch die zunehmende Arbeitsteilung gemäß den intellektuellen Kapazitäten von Fachleuten und der Nachfrage nach ihren Leistungen. Die Expansion des Wissens ist eine der Bedingungen funktionaler Differenzierung, und die Expertenposition steht im Schnittpunkt des Paradigmas von Theorie als Menge gültiger Aussagen und der Verbindlichkeit von Entscheidungen. Den Experten stehen Laien gegenüber, die fundierte Informationen zur Realisierung ihrer eigenen Ziele benötigen und bereit sind, dafür zu bezahlen. Daneben existiert eine Sphäre des öffentlichen Interesses, in der Wissenschaft nicht als Tauschobjekt perzipiert wird. Hier geht es darum, daß die Tätigkeit von Experten das Weltverständnis und bestimmte Interessenlagen tangiert. Vereinfacht dargestellt wird also der Doppelcharakter von Wissen als privatem und öffentlichem Gut relevant. Das Verhältnis von Experten zu ihren Klienten einerseits, zu einer interessierten Öffentlichkeit andererseits ließe sich in den Kategorien der ökonomischen Güterlehre kennzeichnen, und damit unter den Aspekten von Markt und Politik. Wissen ist jedoch ein Gut mit paradoxen Eigenschaften. Der ökonomische Tauschverkehr beruht auf der Idee des Kontraktes und des Transfers von Eigentum je nach den Präferenzen und dem Informationsstand der Beteiligten. Es ist jedoch schwer vorstellbar, daß Kenntnisse theoretischer Art wie auch Erfahrungswissen in das Eigentum eines anderen übergehen könnten; Rechte an Zeichnungen, Formeln und Publikationen sind übertragbar, aber die Informationen bleiben trotzdem im faktischen Besitz des Experten.
3. Besitz, Eigentum und Verfügung Die Entkoppelung von Informations- und Güterströmen ist ein Merkmal moderner Gesellschaften. Auch materielle Güter sind Botschaften, aber nicht
Experten und Laien
275
jeder kann sie entziffern, auch wenn er Eigentum daran erwirbt. Dagegen sind Botschaften, auch wenn sie ihren Niederschlag in materiellen Trägern gefunden haben, immer noch an Personen gebunden. Dieser Sachverhalt hat weitreichende Konsequenzen. Kenntnisse beliebiger Art können mitgeteilt werden. Im Unterschied zu gewöhnlichen Produktions- und Konsumgütern nimmt aber ihre Menge weder durch Gebrauch noch durch Tausch ab. Die Idee der Akkumulation von Kapital findet hier ihren reinsten Ausdruck. Es bleibt im faktischen Besitz des Produzenten, und in gewisser Hinsicht ist die Produktion von Wissen immer gleich seiner Konsumption durch den Besitzer. In Anlehnung an die Gedankengänge M. Webers könnte man auch sagen, daß der rationale Diskurs wertrationale Züge aufweist. Die Zweckrationalität von Wissen ist immer dann wertrational verankert, wo es um Kommunikation geht, und Kommunikation weist Züge der gemeinsamen Nutzung von Gütern auf. Verläuft die Beziehung zwischen Menschen dagegen allein über die materiellen Endprodukte des wissenschaftlich-technischen Komplexes, dann treten die Gesetzmäßigkeilen des Marktes in Kraft. Kenntnisse sind, im ersten Ansatz zu einer Begriffsumschreibung, faktischer Besitz, der sich gewissen moralischen und rechtlichen Regelungen entzieht. Auf ihre Herausgabe kann nicht geklagt werden, sie können nicht beschlagnahmt oder gepfändet werden, und sie können nicht transferiert werden. Dagegen können sie individuell oder gemeinsam gebraucht werden. Daher ist auch nicht ohne weiteres klar, ob ein Experte dem Auftraggeber durch den Abschluß eines Vertrages Eigentum an seinem Wissen verschaffen kann. Die Lieferung von Zeichnungen oder Plänen und Gutachten läuft darauf hinaus, daß der Erwerber Rechte hinsichtlich des Gebrauchs von Informationsträgern erwirbt. 1 Damit ist aber auch gesagt, daß der Bereich von Expertenleistungen sich in kontrakt- und eigentumsrechtlicher Hinsicht erheblich vom primären und sekundären Sektor der Wirtschaft unterscheidet, der über weite Strecken durch den Wettbewerb von Preisen und Mengen dominiert wird. Die Mitteilung von Expertenwissen ist auf den ersten Blick Tausch, so wie alle Kommunikation dem Modell des quid-pro-quo zu folgen scheint. Tausch ist hier jedoch auch gleichzeitig Training, Einübung von Details und Gebrauch kulturellen Kapitals, dessen Wen sich je nach der Nachfrage verändern kann, dessen Menge durch Gebrauch jedoch eher zu- als abnimmt. Damit sind die Grenzen einer preistheoretischen Analyse abgesteckt. Die naheliegende
1 Übrigens trifft diese Charakterisierung nicht nur für den modernen Experten zu, der auf der Basis von Theorien operiert, sondern auch für Theologen und Philosophen, deren Beitrag zur Lösung von Problemen eher in der Vermittlung von Sinn als von Wissen besteht.
Hans Gerd Schütte
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Reduktion auf das Rationalitätsparadigma verfehlt die methodologische Pointe von Wissen als einem Gut, bei dem Geben seliger macht als Nehmen. Die Bindung von Kenntnissen an Personen hat Konsequenzen für die Gestaltung von Verträgen und die Arbeitsweise des Austauschsystems. Nähert man sich dem Gebiet von Forschung und Entwicklung, dann wird es selbst schwierig den Inhalt von Verträgen zu spezifizieren, wenn es um die zukünftigen Resultate von Forschung geht, deren Eigenschaften zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gar nicht bekannt sein können.1 In die Gestaltung von Verträgen wird daher ein nicht kalkulierbares Element subjektiver Erwartung oder von Vertrauen eingehen müssen. Daher sind informelle Vereinbarungen, die nur Kategorien von Erwartungen umschreiben, der Sachlage häufig angemessener als Kontrakte. In diesen Fällen tritt regelmäßig eine Entkopplung von Leistung und Erfolg ein; das Honorar für Operationen oder Entwicklungsaufträge ist nicht erfolgsabhängig und diskontiert Risiken. Im Prinzip geht es hier um Vertrauensbeziehungen zwischen Experten und Laien und eine gemeinsame Investition in ein Vorhaben, dessen Eigenschaften nur kategorial beschrieben werden können. Die jeweilige Höhe des Ertrages, in welcher Münze auch immer gemessen, hängt dann von den Verteilungsregeln ab: Honorare, Prioritätsrechte, Gebrauchsrechte, Lizenzen oder Patente. Eine andere Lösung ist die Endogenisierung von Expertenwissen in hierarchischen Systemen. Wenn Leistungen durch das Vertragsrecht nicht zuverlässig kontrollierbar sind, versichert man sich der Dienste von Experten, also der Leistungsträger selbst, und unterwirft sie dem regime von Forschungsanstalten oder Entwicklungsbüros. Unter diesen Umständen pflegt allerdings, gewissermaßen quer zum Prinzip der hierarchischen Steuerung, ein System der gegenseitigen Kontrolle zu entstehen, das auf dem Sachwissen von Fachgenossen beruht, die nicht Indikatoren beurteilen, sondern tatsächlich erbrachte Leistungen. In einem komplizierten Dreiecksverhältnis kann die Selbstkontrolle von Experten dann auch dem Laien zu Gute kommen, nämlich dann, wenn Hierarchien in Marktsysteme eingebettet sind. Die Kenntnisse von Fachleuten sind nicht nur an Personen gebunden, sondern auch schwer standardisierbar. Das liegt daran, daß durch Sozialisation und Übung nicht Leistungen, sondern die Träger von Leistungen bestimmten Standards unterworfen werden, die durch interne Vereinbarungen unter Fachgenossen festgelegt werden. Damit kommt ein Element in die Diskussion, das in der ökonomischen Diskussion, an die wir angeknüpft haben, unterrepräsentiert zu sein pflegt, nämlich die Normierung von Kompetenz.
1
Vgl. Holler 1986, S.98 ff.
Experten und Laien
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Regelkompetenz wird an internen Maßstäben gemessen, die Rangordnungen definieren. Diese Standards sind, im Unterschied zu anderen sozialen Normen, dadurch ausgezeichnet, daß Experten auf einer nach oben offenen Skala plaziert werden können, deren Nullpunkt variabel ist und den jeweiligen "Stand der Forschung" repräsentiert. Lösungen unterhalb dieses Schwellenwertes sind logisch und theoretisch möglich, sie können auch gültige Problemlösungen darstellen, aber sie sind nicht akzeptabel. Andererseits ist der Begriff der maximalen oder optimalen Lösung nur ad-hoc interpretierbar. Insofern hat die Qualitätsskala, die auf Personenmengen angewendet wird, Ähnlichkeiten mit einem "satisflcing"-Modell, das ein variables, dynamisches Verhältnis von individuellem Anspruch und Erfolg postuliert. Das System Wissenschaft ist ordnungstheoretisch gesehen so angelegt, daß ein Minimum von Regelkompetenz garantiert werden kann, Beiträge oberhalb dieses Schwellenwertes prämüert zu werden pflegen, und die Qualität von Leistungen auf einer Skala plaziert wird, die nach oben offen ist. Nimmt man die letztgenannten Aspekte einmal zusammen, so wird deutlich, daß die Wissensordnung nicht auf Allokation, sondern auf Akkumulation angelegt ist, und Impulse für die weitere Differenzierung der Gesellschaft liefert. Der Stand der internen Diskussion ist natürlich nicht nur normativ, sondern auch kognitiv ausgezeichnet, kommunizierbar und kritisierbar. Auch innovative Leistungen unterliegen dem Prinzip der kritischen Auseinandersetzung; sie lassen sich jedoch nicht ex ante sozial prämiieren. Sie stellen unbekannte Optionen dar, die daher auch nicht wählbar sind. Auch für eine rationale Ethik gelten daher ähnliche Beschränkungen, wie für die Preistheorie und das Kontraktrecht Wenn die Folgen wissenschaftlichen Tuns prinzipiell unvorhersehbar sind, dann ist auch nicht einzusehen, wie sie den Regeln einer Gesinnungs- oder Verantwortungsethik zu unterwerfen wären. Die Berufsethik von Experten ruft daher einige Fragen auf, auf die noch einzugehen sein wird. In erster Annäherung zeigt sich jedenfalls, daß etablierte Steuerungsmechanismen wie Markt, Ethik, Recht oder Hierarchie nur begrenzt operational sind. Modelle dieser Art scheinen dem Gegenstand nicht recht angemessen zu sein. Entsprechenden Empfehlungen, wie etwa Anmahnungen der Verantwortung oder der Ruf nach Proportionalität von Leistung und Entlohnung dürfte deshalb wenig Erfolg beschieden sein. Für eine Gesellschaft, in der Informationen Produktionsmittel darstellen, ergeben sich deshalb Fragen nach den Steuerungsmöglichkeiten des wissenschaftlichtechnischen Komplexes, deren Beantwortung dazu beitragen kann, die Wissensordnung und ihren Wandel besser zu begreifen. Das geltende Recht hat sich der Sachlage in gewissem Umfang angepaßt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Beförderung der Akkumulation von
278
Hans Gerd Schütte
Wissen. Hier finden sich Beispiele für Regelungen ex ante auf dem Gebiet des Patent- und Copyrightrechts, oder der Handhabung von Prioritätsrechten, die sich nicht auf vertragliche Leistungen beziehen, sondern auf Kategorien von Leistungen. Auf derselben Linie liegen Gefährdungs- und Produkthaftung oder die Genehmigungspflicht für bestimmte Anlagen. Garantien dieser Art scheinen jedoch grundsätzlich stochastische Elemente zu enthalten. Sie beziehen sich nicht auf einzelne Transaktionen, sondern auf breite Kategorien von Produkten und Handlungen, und gehen in Versicherungen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsberechnungen über. Würde man dagegen Qualitätsstandards kanonisieren, dann würde auch der Stand der Wissenschaft eingefroren werden.
4. Ethik und Methodik Die Beziehungen zwischen Experten einer bestimmten Disziplin spielen sich in einem Rahmen ab, der in erster Linie durch die Regeln der wissenschaftlichen Methode als verbindlicher Verhaltenscodex bestimmt wird. Ergebnisse müssen "gesichert" sein, etwa durch den doppelten Blindversuch, durch Replikationen und Stichprobenverfahren, und generell durch Intersubjektivität, Reproduzierbarkeit und Konsistenz. Auf dieser Ebene kristallisiert sich die wissenschaftliche Ethik. Die Institutionalisierung des Prinzips Kritik führt auf diese Weise zur Begrenzung von Geltungsrisiken, also des Risikos, auf der Basis von falschen Annahmen zu operieren. Logische Garantien für die Bewährung von Theorien bestehen nicht. Sie können widerlegt werden, und scheiden dann entweder aus dem Spiel aus, oder werden als Annäherungen weiter verwendet. Ihre praktische Bewährung kann das Geltungsrisiko minimieren, aber nicht ausschalten. Deshalb läßt es sich aber auch bei der Anwendung nicht eliminieren. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit von Aussagen setzt sich dann fort in Überlegungen, in deren Mittelpunkt die subjektive Gewißheit von Experten steht, die sich auf den Prozeß der konsensuellen Validierung unter Fachgenossen abstützt. Die Regeln der Methode haben in diesem Zusammenhang eine Mehrfachfunktion. Sie liefern dem internen Diskurs die sachliche Basis, und werden gleichzeitig zu verbindlichen moralischen Spielregeln, von deren Befolgung und Beherrschung auch soziale Positionen tangiert werden. Darüber hinaus aber weisen sie eine besondere Eigenschaft auf, weil sie auch eine Beurteilung von unbekannten Optionen ermöglichen. Sie beziehen sich auf den gegenwärtigen wie auch den zukünftigen Stand der Wissenschaft, und in diesem Sinne verbürgen sie auch die Kontinuität des wissenschaftlich-technischen Komplexes. Trotzdem
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führt dieser Prozeß, der auf der sozialen Verankerung von Verfahrensregeln - und der Freisetzung von Kreativität - beruht, nur zu relativen Garantien hinsichtlich von Ausführung und Geltung. Die Wahrheit von Theorien ist nicht einklagbar. Hier trifft sich der paradoxe Charakter von Wissensgütern mit der Asymmetrie von Veriflzierung und Falsifikation. Auf die Herausgabe der Wahrheit kann so wenig geklagt werden wie auf die Herausgabe von Kenntnissen überhaupt. Dagegen gehört es zur alltäglichen Praxis von Forschung und Technik, daß Verstöße gegen methodische Regeln sanktioniert werden. Die Logik der Prozedur schlägt eine Brücke zwischen bekannten und unbekannten Optionen; weitergehende Konsequenzen sozialer oder ökonomischer Art jenseits des Diskurses unter Experten können dagegen nicht Gegenstand einer Verfahrensethik sein. Expertenleistungen können nur von Kollegen auf das Geltungs- und Ausführungsrisiko hin beurteilt werden. Insoweit diese Leistungen an Personen gebunden bleiben, wirken fachspezifische Normen aber auch als Maßstäbe der Zuweisung von Reputation und Einkommen. Bei kooperativen Beziehungen werden darüber hinaus die sozialen Spielregeln relevant, die auch sonst für soziale Netzwerke oder Teams charakteristisch sind, wie zum Beispiel die Regeln der Fairness und der Kollegialität. Beide Mechanismen schlagen durch auf die individuellen Chancen des Statuserwerbs und der Promotion. Sie sind konstitutiv für die Kristallisierung fachinterner Statussysteme. Die Allokation von Reputation und Einkommen geschieht also im Überschneidungsbereich methodischer wie sozialer Regeln. Die Selbststeuerung geschieht auf der Basis methodisch-sozialer Regelsysteme, die den Aspekt der Gültigkeit von Aussagen mit sozial verbindlichen Qualitätsnormen in Beziehung setzen. Diese Normsysteme weisen jedoch unterschiedliche Eigenschaften auf. Was Kollegialität, Solidarität oder Fairness betrifft, so handelt es sich um gegenseitige -oder einseitige - Erwartungen, die man mehr oder weniger erfüllen kann. In diesen Bereichen existieren natürliche Optima, wie auch auf dem Gebiet des Strafrechtes. Man kann Ge- und Verboten nachkommen, aber mehr, als sich an die Normen zu halt,en kann man nicht. Die Methodik ist jedoch so beschaffen, daß bessere Lösungen beurteilt und prämüert werden können. Die Befolgung von Kollegialitätsnormen kann im Prinzip zu einem stabilen Zustand führen, der durch die Übereinstimmung von Erwartungen und Verhalten definiert ist. Weil es für die Kenntnisse von Experten jedoch kein natürliches Maximum gibt, führt die Befolgung von Spielregeln auf beiden Dimensionen nicht zu einem Gleichgewicht, sondern zu Wachstum und Dynamik. Die Qualitätskonkurrenz unter Experten steht genauso unter Loyalitätsdruck, wie Loyalitäten korrigiert werden durch Sachkenntnis. In diesem Spannungsfeld entstehen Möglichkeiten strategischen Verhaltens, von der vorzeitigen Publikation von Ergebnissen bis zur
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Bildung von Seilschaften, die die Möglichkeiten der Promotionskonkurrenz kollektiv erproben. Je nach den Restriktionen des Kontextes kann das Prinzip Kritik durch Loyalitätsbeziehungen, in welchem Umfang auch immer, neutralisiert werden. Kollegialität ist eine der Bedingungen für das Funktionieren von kooperativen Gebilden; Wissen allein motiviert nicht. Man muß aber damit rechnen, daß die typischen Expertenrisiken dann auf den Laien oder Klienten abgewälzt werden, wenn zur Kollegialität die Tendenz zur Schließung sozialer Netzwerke hinzutritt. Dann entstehen, neben der Unterschiedlichkeil von Sprachspielen, zusätzliche Informationsprobleme und im Grenzfall Deutungsmonopole. Diese Doppelbödigkeil von Selbststeuerung ist unvermeidlich, und nur in einem prekären Gleichgewicht praktikabel zu machen. In dieser Konfiguration erhält die Position des Experten ihre Umrisse. Seine Informationen können durch den Laien nicht einfach abgerufen werden, weil der entsprechende Code nicht zur Verfügung steht. Hier wird nicht etwa Wissen monopolisiert, gemäß der Formel, daß Wissen Macht verschafft. Die Überlegenheit des Experten beruht darauf, daß er Risiken abschätzen kann, und die Höhe des Risikos hängt ab vom Verhältnis von Loyalität und Kritik, das in die Selbststeuerung der Wissenschaft eingeht. Training, Sozialisation und interne Normierung senken die Transaktionskosten zwischen Experten, und ermöglichen es ihnen, auf der "inneren Linie" zu operieren. Im Verhältnis zum Laien steigen jedoch die Transaktionskosten, je stärker sich das System differenziert. Es geht ja nicht nur um die Alternativkosten der Aneigung von Wissen, sondern um den Nachvollzug von Verfahren, die in der persönlichen Erfahrung von Fachleuten verankert sind. Unter diesen Umständen ist opportunistisches Verhalten, von beiden Seiten, nicht auszuschließen. Die kognitiven Landkarten der Parteien stimmen nicht überein, und der Appell, sich sachkundig zu machen, ist nicht nur mit hohen Informationskosten verbunden, sondern wäre identisch mit dem Versuch, in einer arbeitsteilig verfaßten Gesellschaft eine universelle Kommunikationsgemeinschaft zu etablieren. Es liegt nun nahe, interne und externe soziale Beziehungen auf das Prinzip Eigennutz zu reduzieren, und auf dieser Basis zu untersuchen, wie unter prekären Kommunikationsbedingungen ein soziales Optimum erreicht werden kann. Man wird aber berücksichtigen müssen, daß beide Parteien in verschiedenen sozialen regimes operieren, die durch unterschiedliche Entscheidungsregeln gekennzeichnet sind. Im einen Fall geht es um methodische Kritik und Kollegialität, im anderen Fall um das Erwerbsprinzip, oder den Nutzen von Konsumenten. Die Verbreitung von Kenntnissen in transnationalen Unternehmungen geschieht vor dem Hintergrund anderer Restriktionen
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als im Diskurs unter Kollegen. oder in sozialen Netzwerken. die durch Vertrauen charakterisiert sind. Wenn öffentliche Auftraggeber unter dem Stichwort "intellectual property rights" verlangen. daß Forschungsergebnisse von Unternehmungen auch deren Konkurrenten zur Verfügung gestellt werden, dann wird zudem deutlich, daß der Versuch der Nutzenmaximierung nicht nur vor dem Hintergrund gegebener Entscheidungsregeln stattfmdet, sondern daß die Wahl der Restriktionen selbst zur Diskussion steht.
5. Restriktionen: vorher und nachher Man hat von einem Juristenmonopol gesprochen. und mit ähnlicher Berechtigung könnte man von einem Astronomenmonopol sprechen. Zu den Merkmalen von Monopolen gehört die Beschränkung des Zugangs zum Markt. Während der Erwerb von Schürf- oder Bohrrechten diesen Bedingungen entspricht, pflegt der Zugang zu Bibliotheken sogar erleichtert zu werden. Auch insofern entspricht die bekannte Formel, nach der Wissen Macht verleiht, nicht der Realität. Die Zugangsbeschränkungen beziehen sich auf die Ausübung eines Berufs und die Verwertung von Kenntnissen. Inhaltlich werden sie fixiert durch die Qualitätsnormen der jeweiligen Disziplin, an denen nicht nur Leistungen gemessen werden. Sie dienen auch als Maßstab der impliziten oder expliziten Kooptation und der Rekrutierung. Dieser Prozeß führt nicht zur Monopolisierung im strikten Sinne, weil unklar ist, wer ein Recht auf Monopolgewinne ausüben könnte. Zugangsbeschränkungen führen zu zweierlei Effekten, nämlich zu einer Begrenzung des Umfangs einer Disziplin oder Berufsgruppe, gemessen an der Anzahl der Bewerber, und zu einer privilegierten Marktposition, die jedoch nur kollektiv effektuiert werden kann. Das kollektive Privileg weist den Charakter eines öffentlichen Gutes auf, womit gesagt ist, daß Trittbrettfahrereffekte wahrscheinlich werden. Wenn man einmal akzeptiert, daß Experten in diesem Sinne aus einer bevorzugten Position operieren, so wird unmittelbar deutlich, daß damit über die Verteilung von Privilegien noch nichts gesagt ist. Das individuelle Einkommen, oder das Einkommen von Teams, Kanzleien, Büros oder Abteilungen ergibt sich erst dann, wenn Verteilungsregeln greifbar werden, wie zum Beispiel Gehaltsklassen in wissenschaftlichen Bürokratien. Zeitlich begrenzte Monopole können allerdings dann auftreten, wenn es zu Informationsvorsprüngen und intellektuellen Durchbrüchen kommt. Die Größenordnung einer Gruppe ist nicht nur von Interesse für die Verteilung von Einkommen und Privilegien, sondern auch für die Wahl von
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Entscheidungsregeln. Kleine Gruppen operieren auf der "inneren Linie" des rapiden Informationsaustauschs, und mit sichtbaren Beiträgen der Mitglieder auf zwei Ebenen. Bei gegebenen Restriktionen können ihre Handlungen relativ einfach auf Kreativität, Konformität, Kompetenz oder andere Gesichtspunkte überprüft werden. Handelt es sich dagegen um die Diskussion und Wahi der Restriktionen selbst, soweit sie nicht fremdbestimmt sind, und damit um öffentliche Güter, die allen Beteiligten zu Gute kommen, dann ist der wahrgenommene eigene Beitrag zur Erstellung des öffentlichen Gutes merkbar. In einer Situation, in der der Konsum eines Gutes anderen nicht vorenthalten werden kann, wenn man es selbst konsumiert, ob es sich dabei um die Rechtsordnung im allgemeinen, oder um die Rechte von weniger umfassenden sozialen Einheiten handelt, treten dann Trittbrettfahrereffekte auf, wenn der eigene Beitrag zur Beschaffung des Gutes als vernachlässigbar gering perzipiert wird. Das ist dann der Fall, wenn es sich um große Gruppen handelt. Die erwähnte Tendenz zur Begrenzung der Größenordnung von Disziplinen und anderen Gruppen von Experten wird daher im Prinzip die Vorteile der "inneren Linie" verstärken. Überdies wird man berücksichtigen müssen, daß sowohl die funktionale Differenzierung des Wissens, wie auch etwa lokale oder regionale Zusammenschlüsse immer dazu führen, daß relativ kleine Gruppen entstehen, die sich durch die Besonderheiten ihrer Interessenlage auch psychologisch von anderen Gruppierungen abgrenzen. Die Beschreibung des Umfangs von Untersuchungseinheiten ist ein empirisches Problem, aber in jedem Falle wird man dabei die Selbstinterpretation sozialer Einheiten berücksichtigen müssen. Als Träger von Entscheidungen werden dann zum Beispiel nicht "alle" Astronomen auftreten, sondern ein Fachbereich einer bestimmten Universität. Genau genommen handelt es sich hier um zwei Effekte. Zum einen sind die Kosten der Kommunikation und Entscheidung in kleinen Gruppen nicht nur geringfügig - ohne Konsens zu garantieren -, die Diskussion kann auch persönliche Merkmale berücksichtigen, die bei unpersönlichen Formen der Kommunikation untergehen. Dazu gehört das Wissen von Experten, aber auch Indikatoren von Vertrauenswürdigkeit zählen dazu, die die Beschaffung unteilbarer Güter erleichtern. Unter diesen Bedinungen ist das Entstehen einer "spontanen Ordnung" besonders wahrscheinlich, einer Ordnung also, die auf einem hohen Maße von Freiwilligkeit beruht. 1 Damit ist freilich
1 Die Idee der spontanen Ordnung wird im allgemeinen in Zusammenhang gebracht mit D. Hume, A. Ferguson und A. Smilh. - Für eine rezente Behandlung des Themas D. Gauthier 1986 und V. Vanberg / J. Buchanan 1988.
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nicht gesagt, daß die Bindung an bestimmte Spielregeln zu einem bestimmten Zeitpunkt auch Konformität in der Zukunft impliziert. Man könnte sich nun einen Diffusionsprozeß vorstellen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß bewährte Spielregeln exportiert beziehungsweise übernommen werden. Offenbar sind nun die Regeln der Methode und Kenntnisse spezifischer Natur leichter exportierbar als persönliche Loyalitäten, schon deshalb, weil man sie leicht an Informationsträger binden kann, die auch in sehr großen Einheiten genutzt werden können. Wenn zu den Entstehungsbedingungen einer spontanen Ordnung persönliches Vertrauen gleichermaßen gehört, wie die differenzierte Möglichkeit der Beurteilung der Leistungen, dann liegt es nahe zu vermuten, daß die Regeln der Methode und spezifische Qualitätsnormen sich gewissermaßen vom Entstehungskontext emanzipieren können, und somit eine hohe Wahrscheinlichkeit der Diffusion aufweisen. In diesem Sinne können Entstehungsbedingungen und Funktionsbedingungen auseinanderfallen. Andererseits wird man damit rechnen müssen, daß die Diffusion von Regeln und sachlichem Wissen nur dann gelingt, wenn sie wiederum in soziale Beziehungen eingebettet werden können. Was die Beziehungen unter Experten selbst betrifft sind also spontane soziale Ordnungen nicht unwahrscheinlich. Entscheidungsregeln kann man stets unter zwei Gesichtspunkten sehen. Einerseits binden sie individuelles Verhalten, und je nach den Möglichkeiten sozialer Kontrolle ist ihre Einhaltung mehr oder weniger wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit erreicht ein praktisches Maximum in kleinen Gruppen oder Teams. Expertenteams sind aber Bestandteile umfassenderer Ordnungen; die Tendenz zur Selbstreferenz pflegt durch Konkurrenz, Budgetrecht und das Prinzip Kritik korrigiert zu werden. Unter diesen Umständen reicht Verhaltenssteuerung nicht aus, um den Bestand des Systems zu gewährleisten. Letztenendes fällt die Entscheidung über die Existenz des wissenschaftlich-technischen Komplexes natürlich an der Nachfrageseite. Davon wird noch die Rede sein. Aber auch in den Regeln selbst, die Entstehen und Funktion bestimmen, liegt eine Asymmetrie zwischen Verhaltensund Ergebnissteuerung beschlossen. Jede soziale Norm erlaubt konzeptuell die Beurteilung und Sanktionierung individuellen Verhaltens. Die Wahrscheinlichkeit der Sanktionierung im positiven oder negativen Sinn ist dann eine Funktion der Stärke einer Koalition, die sich an diese Norm gebunden hat. Bestimmte Regelsysteme steuern jedoch auch die Ergebnisse individuellen Verhaltens. Die Kombination von Eigentums- und Vertragsrecht mit faktischer Konkurrenz in einem Marktsystem legt nicht nur individuelles Verhalten fest, indem sie Anreize fiXiert, sie steuert auch Allokation und Wachstum auf der kollektiven Ebene. Regeln dieser Art sind in einer bestimmten Art "offen" und nicht auf das Verhalten bestimmter, historischer
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Personen bezogen. Sie gelten für "at whom it may concern" und legen fest, welche Partei den Anspruch erheben darf, erfolgreich gewesen zu sein. Sie entkoppeln in diesem Sinne Handlungsmotive und kollektive Ergebnisse. Zu nennen sind hier das Erwerbsprinzip, das Wahlrecht, und eben auch die methodischen Regeln, die für Experten verbindlich sind. Das W abirecht abstrahiert von der individuellen Motivation und regelt die Verteilung von Sitzen im Parlament, und die regles de Ia metbade legen fest, wessen Theorie akzeptabel erscheint. In beiden genannten Fällen werden individuelle Entscheidungen durch den faktischen Konsens in kleineren oder größeren Gruppen mitbestimmt. Sie werden jedoch nach dem Modell der unsichtbaren Hand transformiert in kollektive Resultate, die im allgemeinen nicht beabsichtigt sind, ob es sich nun um den Gewinn von Unternehmungen handelt, die Verteilung der Sitze in einem Parlament, oder die rationale Respektabilität von theoretischem Wissen. Der Grundsatz der Reproduzierbarkeil von Experimenten läuft darauf hinaus, daß nicht wiederholbare Resultate aus dem Spiel ausscheiden. In diesem Fall können persönliche Loyalitäten intakt bleiben, oder auch nicht. Die spontane Ordnung, die auf Erfahrungen mit Personen beruht, wird auf einer anderen Ebene wirksam als Sachurteile. Konsens und Dissens werden auf verschiedenen Niveaus wirksam. Im einen Falle handelt es sich um den faktischen Konsens am Arbeitsplatz, der Verhalten steuert und korrigiert, im anderen um das Konsenskalkül, das Verhalten in bestimmte Ergebnisse transformiert. Vertrauen, Loyalität und ähnliche persönliche Bindungen sind notwendige Bedingungen der Kooperation unter Experten, wie zwischen Experten und Laien. Die Doppelbödigkeil spontaner Ordnungen zeigt sich aber daran, daß Kompetenzen ungleich verteilt sind. Die Asymmetrie der Regelkompetenz erlaubt nur die Abstimmung von Verhaltensweisen, dagegen nicht die Beurteilung von Ergebnissen. Im Bereich wissenschaftlicher Dienstleistungen, wie ich ihn skizziert habe, liegt der Nachdruck auf Kooperation, weil marktartig geordnete Beziehungen marginal bleiben. Der harte Kern des Problems ist dann das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. In diesem Fall: das Verhältnis von Qualität und Honorierung. Die Honorierung umfaßt regelmäßig monetäre wie nichtmonetäre Komponenten. Beide pflegen aneinander gekoppelt zu sein, so daß ein 'trade-ofr zwischen Geldeinkommen und professionellem Ansehen nicht möglich ist. Bei Qualitätskonkurrenz entsteht nun im internen und im externen System ein Gefangenendilemma besonderer Art. Es wird empirisch faßbar bei einmaligen Transaktionen zwischen Klienten und Experten, ist aber latent immer vorhanden. Laien haben ein Interesse daran, hohe Qualität für eine geringe Gegenleistung zu erwerben, und Experten ein Interesse an einer hohen Honorierung für eine Qualität, die nicht mehr als eine
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'normale' Anstrengungen verlangt. In einer Matrix dargestellt, in der Qualität (Q/q) und Honorierung (H/h) als dichatomisierte Größen auftreten, ergibt sich ein Bild, das in seinen Grundzügen einem Gefangenendilemma entspricht.
H
h
Q
a
b
q
c
d
Abbildung 1: Gefangenendilemma von QualitäJ und Honorierung
Sowohl die Lösungen (a) wie (d) würden Proportionalitätsbedingungen entsprechen, ohne im üblichen Sinne optimal zu sein, und zwar deswegen, weil eine optimale Allokation von Wissensgütern auf Grund ihres paradoxen Charakters nicht möglich ist. Das rationale Interesse der Beteiligten macht jedoch die Lösungen (c) und (b) gleichermaßen wahrscheinlich. Es existiert keine Garantie dafür, das (a) oder (d) erreicht werden. Wenn wir (q) im Sinne einer Theorie der Qualitätskonkurrenz als Schwellenwert interpretieren, dann sind die Lösungen (c) wie auch (d) abhängig von der Sozialisation von Experten, wie auch vom Maß der internen Kontrolle von Leistungen. Unter diesen Bedingungen ist die Stabilität der Transaktionen zwischen den Beteiligten eine prekäre Größe. Auf der Makro-Ebene funktionaler Differenzierung würde man mit ähnlichen Konsequenzen zu rechnen haben. Es wäre wenigstens plausibel, daß die Lösung (c) Anlaß zu Protestverhalten gibt. 1 Im internen System, also unter den Experten selbst, würde die Lösung (c) die Kooperationswilligkeit eines Teams beeinträchtigen. Wie ohne weiteres ersichtlich ist, sind die Informationsmöglichkeiten auf der Makroebene anders zu beurteilen als auf der Mikroebene. Die Chance der Eliminierung von (c) ist im zweiten Falle erheblich größer.
1
Vgl. Hirschman 1970.
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Entschärft würde das Problem offenbar dadurch, daß sich die Beteiligten auf eine verbindliche Regel einigen könnten, die eine Proportionalität von 0 und H garantieren würde. Tatsächlich reproduzieren sowohl Gebührenordnungen, das Beamtenrecht, interne Qualitätsnormen, die Vergabe von Preisen als Maßstab von Leistungen bestimmte Merkmale eines solchen Regelsystems. Sie gehören zu den Funktionsbedingungen von Expertenberufen, in denen repetitive Transaktionen die Regel sind. Wir haben es auf Grund der Sachlage jedoch häufig mit einmaligen Transaktionen zu tun. Definitionsgemäß gilt das für alle innovativen Lösungen, die von Experten vorgeschlagen werden. Sie stehen unter dem "shadow of the future": Entwicklungsaufträge, die Errichtung eines Gebäudes, Operationen oder Beratungen. Hier dominieren nicht die Probleme der laufenden Produktion, sondern die des Projektmanagements. Überlegungen zur theoretischen Lösung eines Gefangenendilemmas pflegen vom Prinzip der Nutzenmaximierung und vom methodologischen Individualismus auszugehen. Außerdem unterstellt man die Stabilität von Präferenzen und ihre Kommunikationsunabhängigkeit Diese Annahmen führen für wissenschaftliche Dienstleistungen in die Irre. Wissensgüter sind per se nicht nur mit Kosten der Informationsbeschaffung verbunden; Pläne, Zeichnungen oder Beratungen müssen auch in eine kognitive Landkarte eingepaßt werden können, die variabel ist. Die Wahl von Alternativen ist eine Sache, die Verarbeitung von Informationen eine andere. Man kann zudem nicht unterstellen, daß Präferenzen für neuartige Optionen existieren. Präferenzen sind an Kognitionen gebunden. In einer stationären Gesellschaft oder in Situationen repetitiver Routine kann man das Problem vernachlässigen oder 'konstant halten'. In dynamischen Situationen, wie sie durch das Prinzip der Qualitätskonkurrenz repräsentiert werden, versagt die elementare Statik der Entscheidungstheorie. An die Stelle der Wahl eines maximalen Elements aus einer Menge von Optionen tritt daher die erwartungs- und erfahrungsabhängige Investition in ein Projekt. Entscheidungen dieser Art umfassen eine Risikoprämie, die je nach den kommunikativen Erfahrungen abgebaut werden kann, oder auch nicht. 1 Ihre Höhe ist entscheidend dafür, ob ein System stabiler Transaktionen entsteht, oder ob einmalige Transaktionen als befriedigend oder unbefriedigend beurteilt werden. Wir nehmen an, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt Erwartungsniveaus existieren, die eine Beurteilung von Optionen ex post und ex ante ermöglichen. Sie können nach 'oben' oder 'unten' korrigiert werden, genauso wie die Bewertung von
1 Ansätze zu einer Theorie bindender Entscheidungen finden sich in A. BretonjR. Wintrobe 1982 sowie J. Elster 1979 und natürlich in der betriebswirtschaftliehen lnvestitionsrechnung.
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Alternativen erfahrungsabhängig ist; sie können auf- oder abgewertet werden. Wir unterstellen, daß zwei Personen (A,B) für a 1a2 und für b 1b2 optieren können, und daß sie die erzielten Resultate ordnen. Die Situation läßt sich dann in einer Matrix repräsentieren.
A
Abbildung 2: Spielmatrix
Jede Zelle der Matrix zeigt rechts oben das Resultat für B, und links unten das Resultat für A. - Eine Heuristik von Versuch und Irrtum würde im ersten Schritt zu irgendeinem Ergebnis führen, das jedoch nicht beliebig wäre. Die Kombination a1b 2 wäre für B nicht befriedigend. Der erwartete Nutzen bleibt aus, und dercommon-senseführt zu der Vermutung, daß er die Option b2 verwirft, und die Alternative b1 ergreift. A dagegen hat ein bestimmtes Nutzenniveau erreicht, und wenn es auf seinem Erwartungsniveau liegt, so wird er auf dieser Lösung beharren. Wenn er bei a1 bleibt, dann steht er nicht schlechter, wenn B b 1 wählt. Der zweite Zug wäre also einem sozialen Optimum näher, aber wie erreichen beide Parteien die "beste" Lösung? Weil B jetzt ein besseres Resultat erzielt hat, wird er weiterhin b 1 wählen. Dieser Zustand kann stabil sein, ohne optimal zu sein. Würde nun A die Option a2 ergreifen, zum Beispiel deshalb, weil sein Anspruchsniveau gestiegen ist, so würden beide Parteien verlieren, und sich eventuell in einem Teufelskreis zwischen beiden linken Zellen der Matrix bewegen. Nach einer Serie von a2b 1 würde die Beziehung zwischen A und B wohl abgebrochen werden. Der Suchprozeß selbst verursacht schließlich Kosten, und die Risikoprämie kann nicht sinken. Wie man leicht sieht, sind hier nicht die Verhaltensannahmen selbst von zentraler Bedeutung, sondern der Pfad,
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der eingeschlagen wird. Er kann zu einer stabilen Lösung führen, die nicht optimal ist. Die beste Lösung könnte jedoch auch schon im ersten Schritt erreicht werden (a2b 2). Die Organisation des Suchprozesses dürfte hier eine bedeutungsvolle Rolle spielen, zum Beispiel auf der Basis der Orientierung an bestimmten Indikatoren. Ordnungstheoretisch gesehen jedoch kommt man zu der Schlußfolgerung, daß es wünschenswert wäre, entweder durch freiwillige Vereinbarungen, oder durch den Zwang dritter Parteien die Optionen a2b2 für verbindlich zu erklären. Die Reduktion der Komplexität auf die jeweils optimale Lösung kann also auf verschiedene Weisen stattfinden, unter denen eine spontane Ordnung liberalem Denken besonders entgegenkommt. Bei einem Prozeß von Versuch und Irrtum vergleichen A und B Erwartungen und Ergebnisse, oder Ausgangs- und Endpositionen auf individueller Ebene. Dabei gehen sie nicht nur Risiken ein, sondern setzen auch Kapital ein, und wenn es nur um den Zeitaufwand geht, der eventuell abgeschrieben werden muß. In Situationen, in denen die beiderseitigen Resultate sichtbar werden, das heißt bei der Einbettung der Parteien in soziale Netzwerke, geht der individuelle Vergleich in den sozialen Vergleich über. Beide Parteien werden dazu neigen, ihre Resultate miteinander zu vergleichen. Das kann auf persönlicher Ebene vor sich gehen, aber auch auf der Basis von Einsicht in Publikationen, Börsennotierungen, Bilanzen oder Jahresberichte. Das bessere Ergebnis vonBin a1b 1 im Vergleich zu a 1b2 wird dann ein Anreiz für A sein, sein Verhalten zu ändern. A könnte versuchsweise probieren a2 zu bieten, und zu dem Schluß gelangen, daß a2 nur dann zum Ziel führt, wenn sich B gleichzeitig in Richtung b2 bewegt. Aber für B ist der Ergebniszuwachs nicht attraktiv, wenn er a 1b2 mit a2b 2 vergleicht. Schlimmer noch, in a2b2 steht sich B nicht besser als A in der Zelle a 1b 1• Warum sollte er also b 2 wählen? Natürlich könnte er versuchen, B zu überzeugen, oder eine Vereinbarung zu treffen, freilich nur unter der Bedingung zusätzlicher Transaktionskosten. Freiwillige Vereinbarungen, wie auch eine durch dritte Parteien aufgelegte Ordnung reduzieren Komplexität, aber nicht kostenlos. Es dürfte allerdings schwer fallen, Prozesse der Informationsverarbeitung beziehungsweise des sozialen Vergleichs auf diese Weise zu ordnen, und damit die Dynamik der Situation in den Griff zu bekommen. Natürlich gilt das in besonderem Maße für Situationen, in denen Experten operieren, in denen also der Wert von 0 nicht festgelegt werden kann, sondern nur q. A hat freilich noch eine andere Option, nämlich das Ergebnis für B in a2b 2 zu verbessern, in dem er seine Autorität anerkennt, und beginnt in einer anderen Art von Münze zu reziprozieren. Beide Parteien können dann ein höheres Nutzenniveau erreichen, aber hier beginnt ein neues Spiel, das Statusdifferenzen und nicht nur funktionale Differenzierung kennt.
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Nicht nur in Märkten, sondern auch bei Kooperation entstehen Ungleichheiten, obwohl beide Parteien am Ende besser dastehen können. Guter Rat ist teuer, aber er kann in verschiedener Münze bezahlt werden: in Geld, in Anerkennung von Autorität oder in Status. Die hier skizzierte Sequenz beruht nicht nur auf der Annahme, daß Lösungen pfadabhängig sind, das heißt, daß rationales Verhalten erfahrungsabhängig ist/ sondern läßt es plausibel erscheinen, daß im Zeitablauf die Regeln des Spiels verändert werden. In einem gewissen Sinne sind Statusdifferenzen und Autorität emergente Eigenschaften, die dann auftauchen, wenn Experten untereinander, oder Experten und Laien in Transaktionen investieren, deren Ergebnis nicht feststeht. Im Rahmen einer spontanen Ordnung stellt sich die Honorierung dann als Verteilungsprozell dar, der sich auf der monetären und der nicht-monetären Ebene dingfest machen läßt. Die Emergenz von Status und Autorität erfolgt allerdings so regelmäßig, daß man sie sinnvollerweise berücksichtigen wird. Die informationelle Asymmetrie zwischen Laien und Experten bleibt erhalten, und führt zu unterschiedlichen Konsequenzen im internen und im externen System. Auf Grund des paradoxen Charakters von Wissen und 'know-how' wird man unter Experten mit Trainingseffekten rechnen können, die dazu führen, daß Statusdifferenzen, die auf ungleicher Verteilung von Kenntnissen beruhen, im Laufe der Zeit egalisiert werden. Das Bild, das sich dann ergibt, ist das der kollegialen Zusammenarbeit unter Fachgenossen, die durch Ranggleichheit und Arbeitsteilung gekennzeichnet ist. Es wird korrigiert durch die Effekte, die bei Qualitätskonkurrenz aufzutreten pflegen, nämlich das Streben nach der besseren Position in Bürokratien, Teams oder Forschungsabteilungen, oder in den freien Berufen. Kurzfristig gesehen handelt es sich hier um eine Verdrängungskonkurrenz bei einer gegebenen Verteilung von besseren und schlechteren sozialen Positionen, also bei gegebener Kontrollspanne. Langfristig gesehen stellt die Promotionskonkurrenz jedoch ein Anreizsystem dar, bessere Lösungen gemäß den herrschenden Qualitätsnormen abzubieten, das heißt Innovationen und Verbesserungen. Die Chance der internen Differenzierung durch Spezialisierung auf vielversprechende Forschungsgebiete - oder Anwendungsgebiete - nimmt dann zu. Auch hier ist der Prozeß so beschaffen, daß die gegebenen Ausgangsbedingungen des Spiels - die Verteilung von Positionen - sich verändern. Die Entstehung von neuen Disziplinen oder Teildisziplinen, oder die interne Spezialisierung von Experten auf bestimmte Themen verändert die Kontrollspanne, und damit die Bedingungen der Konkurrenz um soziale Positionen.
1 Schütte 19 Büschges
1979.
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6. Zusammenfassung Was sich auf der gesellschaftlichen Ebene als funktionale Differenzierung und Bedürfnis nach Partizipation äußert, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Entscheidungsregeln, kontrollierter Kreativität und Interessenlagen auf der Ebene der Beziehungen zwischen Experten und Laien. Von zentraler Bedeutung in diesem Prozeß ist der paradoxe Charakter von Wissensgütern und das System der Qualitätskonkurrenz, das Minimumlösungen garantieren kann, aber kein Maximum kennt. Es beruht darauf, daß methodische Regeln sozial verbindlich werden und als Anreizsysteme fungieren. Diese Verfahreosethik verleiht dem wissenschaftlich-technischen Komplex sowohl Kontinuität als auch Dynamik. Soziale Mechanismen wie der Markt, die Verantwortungsethik, demokratische Kontrolle oder öffentliche Kritik greifen nur marginal in dies Geschehen ein. Sie können da effizient sein, wo es um den "Stand der Wissenschaft" geht, also um standardisierte Lösungen, die die Schwelle akzeptabler Lösungen repräsentieren. Auf dieser Ebene kann man sich ein konzeptuelles Gleichgewicht vorstellen, das entweder dem Prinzip der Allokation von Gütern folgt, oder durch die Bindung von Verhalten an Normen charakterisiert ist. Der Prozeß der Akkumulation von Wissen schlägt jedoch durch auf seine eigenen Ausgangsbedingungen, auf die interne Spezialisierung des Expertenbetriebes, die Produktivitätsentwicklung der Gesellschaft und die Arbeitsteilung, und konkretisiert sich im Überschneidungsbereich von Dienstleistung und Wissen. Im Rahmen dieser Sequenz nehmen die Transaktionskosten für das Verständnis von Argumenten und den Abschluß von Verträgen zwischen Experten und Laien zu. Unter ordnungstheoretischen Gesichtspunkten kann man feststellen, daß zwischen Experten spontane Ordnungen entstehen, die aus dem Zusammenspiel von Sachkenntnis, Qualitätskonkurrenz und geringen Transaktionskosten entspringen. In kleinen sozialen Einheiten haben selbstgewählte Restriktionen eine größere Chance als in der Gesellschaft. Auch in diesem Kontext ist soziale Ordnung jedoch nicht ohne Kosten zu haben. Qualitätsnormen legen die Chancen und Risiken der Kooptierung und der Promotion fest, und damit die Bedingungen der Honorierung von Leistungen. Das bedeutet, daß nicht jeder den Wettstreit um die besseren Positionen gewinnen kann. Andererseits gewährleistet dieser Komplex von Entscheidungsregeln die prinzipielle Minimierung von Geltungs- und Ausführungsrisiken, weil er Kritik motiviert. In den Kategorien der elementaren Statik betrachtet, führt er zur Allokation von Rang und Einkommen gemäß den herrschenden Normen, und der Größenordnung der jeweiligen Disziplin oder Gruppierung von Experten. Langfristig gesehen ist das System auf Wachstum von Wissen
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und Positionen angelegt, und perpetuiert sich durch Spezialisierung von Theorien und Individuen. Im Verhältnis von Experten und Laien kann spontane Ordnung dann entstehen, wenn die informationeile Asymmetrie dadurch diskontiert wird, daß man nicht tatsächliche Leistungen und Gegenleistungen kontraktiert, sondern an Signalen und Indikatoren anknüpft, und auf diese Weise in gemeinsame Projekte investiert, die beiden Parteien Erträge versprechen: Geldeinkommen, professionelles Ansehen, Gewinne oder Autorität. Die Höhe der jeweiligen Erträge ist eine Funktion von Verteilungsregeln, in denen die Risiken von Projekten diskontiert zu werden pflegen. Wie unter Experten können auch hier Vertrauensbeziehungen entstehen, die auf Vorschüssen- auf Kredit- beruhen, und die es erlauben, kooperatives Verhalten zu koordinieren. Wenn man annimmt, daß selbst einmalige Transaktionen pfadabhängig sind, weil jeder "erste Schritt" verbindlichen Charakter hat, dann sind stabile Lösungen möglich, ohne daß sie im Sinne der Optimalität ausgezeichnet sein müßten. Bei repetitiven Transaktionen ist die Möglichkeit gegeben, sich an befriedigende Lösungen heranzutasten, die Erwartungsniveaus und ihre Korrekturen widerspiegeln. Sie beruhen auf Vertrauensvorschüssen, jedoch nicht dem kritischen Nachvollzug von Argumenten. Die Spezifizierung von Leistungen bleibt einseitig und ist eine Sache von Definitionsmacht; eine Korrektur ex post ist nicht nur gleichbedeutend mit dem Abbruch von sozio-ökonomischen Beziehungen, sondern gleich der Abschreibung von Investitionen in ein Projekt. Vertrauensbeziehungen sind funktionale Alternativen rationaler Wahl. Daher können sie auch intakt bleiben, wenn sich der "Stand der Wissenschaft" geändert hat, oder wenn soziale Konsequenzen von Expertenleistungen auftreten, die erst entdeckt werden müssen, eventuell von dritten Parteien. Sie ändern natürlich auch nichts an der Gültigkeit von Problemlösungen, die im internen System fixiert zu werden pflegen. Der "Glaube an die Wissenschaft" beruht auf subjektiven Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungen. 1 Er stabilisiert Beziehungen, die nicht auf Einsicht beruhen können, und perpetuiert die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften, ungeachtet individueller Partizipationsbedürfnisse, die sich im Protest oder in der Forderung nach Mitbestimmung äußern mögen, oder in der gesellschaftlichen Akzeptanz von theoretischem Wissen und "know-how". Die spontane Ordnung von Vertrauensbeziehungen ist ein durchaus janusköpfiges Unternehmen. Der Vertrauensmechanismus ist in der Lage, das latente oder aktuelle Gefangenendilemma zwischen Experten und Experten, und zwischen Experten und Laien zu entschärfen,
1 Stegmüller
1986, S.46 f.
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weil er es erlaubt, Verhalten zu koordinieren. Die Beurteilung und Koordinierung von Ergebnissen ist eine andere Sache.
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Elster, J.: Ulysses and the Sirens, Cambridge 1979
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Vanberg, V. fJ. Buchanan, J.: Rational Choice and Moral Order. In: Analyse und Kritik, Bd.2, 1988
V. Die Evolution optimaler Organisationsstrukturen und der Transaktionskostenansatz 1 Von Thomas Voss
1. Einleitung
In der Organisationssoziologie ist in den letzten Jahren eine Hinwendung zu Forschungsansätzen zu beobachten, die in stärkerem Maße als früher mit dem Anspruch auftreten, theoretische Erklärnngen zu liefern. Die bis vor kurzem dominierende, vornehmlich deskriptiv orientierte Forschungstradition der Kontingenztheorie ist zugunsten von Arbeiten verdrängt worden, die im Rahmen "institutioneller" (z.B. Meyer I Scott 1983, DiMaggio I Powell1983), "evolutionär-ökologischer" (v.a. Hannan und Freeman 1989) und transaktionskostentheoretischer (Williamson 1975, 1985) Forschungsprogramme stehen. Alle diese Ansätze haben ähnlich der Kontingenztheorie das Ziel, einen Beitrag zur Erklärung des Auftretens und der Verbreitung von Organisationsstrukturen zu leisten. Im Gegensatz zur Kontingenztheorie betonen sie jedoch explizit bestimmte theoretische Mechanismen, die für eine Ausbreitung von Strukturen sorgen. Häufig werden Mechanismen so klassifiziert, daß sich die interessierenden Ansätze auf einem Kontinuum anordnen lassen, dessen extreme Pole durch die beiden Kriterien "Selektion durch die Umgebung" und "rationale Anpassung durch individuelle und korporative Akteure" gegeben sind. Während sich die ökologisch-evolutionären Ansätze sowie der Transaktionskasten-Ansatz auf diesen extremen Enden ansiedeln lassen, sei die Position der "institutionellen" Ansätze zwischen diesen Extremen.
1 Die Fertigstellung dieses Beitrages wurde durch finanzielle Unterstützung der Earhart Foundation und des Department of Sociology, The University of Chicago ermöglicht.
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Im Zusammenhang mit dem Transaktionskosten-Ansalz wurde jedoch verschiedentlich die Vermutung geäußert, nicht zuletzt angeregt durch Williamson selbst (vgl. Williamson 1985, Kap. 2, 1988), daß sich 'effiziente' Organisationsstrukturen nicht notwendig durch Vorgänge der rationalen Wahl realisieren, sondern daß langfristig gesehen auch Selektionsvorgänge für eine Ausfilterung ineffektiver Strukturen sorgen. Diese Vermutung steht im Einklang mit der von Williamson hervorgehobenen Bedeutung der Annahme begrenzter Rationalität. Eine Konsequenz begrenzter Rationalität könnte allerdings sein, daß durch Vorgänge rationaler Wahl nicht unbedingt optimale Strukturen realisiert werden, sondern lediglich solche, die einem externen Kriterium (z.B. Anspruchsniveau) entsprechen, welches nicht generell mit einem globalen Maximum einer Nutzenfunktion identisch ist. Ziel der folgenden Überlegungen ist eine Diskussion alternativer evolutionärer Mechanismen einer Ausbreitung effizienter Organisationsformen. Zunächst wird noch einmal knapp die Problemlage skizziert und das Argument der "ökonomischen natürlichen Auslese" in bezug auf den Transaktionskosten-Ansalz diskutiert (2.). In einem zweiten Schritt erfolgt eine sehr knappe Skizze einer evolutionären Konzeption, deren zentrale Gesichtspunkte die Annahmen begrenzter Rationalität und 'sozialen Lernens' sind (3.). Diese Konzeption wird schließlich auf ein empirisches Beispiel angewandt, nämlich die Ausbreitung divisionaler Orgnisationsstrukturen, insbesondere in der amerikanischen Großindustrie (4.).
2. Transaktionskosten, Markt und das Überleben 'angepaßter' Organisationsstrukturen Es ist hier nicht der Ort, eine umfassende Darstellung der Annahmen und Ergebnisse des Transaktionskosten-Ansatzes zu versuchen. Eine Grundidee ist, daß Tauschbeziehungen zwischen technologisch unterscheidbaren Einheiten im Prinzip durch alternative institutionelle Steuerungsstrukturen geregelt werden können. Diese Idee ist wichtig, weil traditionell eine Auffassung dominiert hat, die als "technologischer Determinismus" bezeichnet werden kann. Bereits bei Adam Smith klingt beispielsweise die Vorstellung an, daß neuzeitliche Organisationsformen (etwa die moderne kapitalistische Unternehmung mit hierarchischer Koordination unterschiedlicher technologischer Einheiten) zwangsläufig deshalb entstehen, weil Spezialisierungsvorteile oder Skalenökonomien nur durch sie realisiert werden können. Gegen diese Überlegung wandte Coase (1937) ein, daß arbeitsteilige Produktion prinzipiell
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durch eine Reihe verschiedenartiger institutioneller Regelungen gestaltet werden kann. Denkbar wäre eine Koordination der verschiedenen technologischen Stufen eines arbeitsteiligen Produktionsprozesses durch den Marktmechanismus: Unabhängige Produzenten erwerben von anderen Einheiten Rohstoffe bzw. Vorprodukte, bearbeiten sie weiter und geben sie an die nächste technologisch nachgeordnete, unabhängige Einheit weiter. Tatsächlich ist Arbeitsteilung zwischen Organisationen oft durch marktmäßige Tauschvorgänge oder langfristige vertragliche Vereinbarungen organisiert, ohne daß die entsprechenden Firmen und Tauschbeziehungen (durch vertikale Integration) hierarchisch koordiniert werden. Wie Coase erkannt hat, sind die Transaktionskosten marktmäßiger Koordination der entscheidende intervenierende Faktor zwischen den Variablen 'Technologie' und 'Organisationsform'. Williamson (1975, 1985) hat einige wichtige Dimensionen von Transaktionen herausgearbeitet, die empirisch gut beobachtbare Indikatoren für die Größenordnung der Transaktionskosten marktmäßiger Koordination sind: Art und Ausmaß transaktionsspezifischer Investitionen, Unsicherheit, Häufigkeit, Meßbarkeit der Produkt-Qualität u.a. Eine Anwendung der Grundideen des Transaktionskasten-Ansatzes ist bisher v.a. in bezug auf die folgenden Typen von Transaktionen erfolgt: (a) Transaktionen zwischen technologisch interdependenten Einheiten (vertikale Integration bzw. Desintegration und Organisationale Grenzziehungsstrategien) (b) Transaktionen innerhalb einer Organisation (Wahl organisationsinterner Strukturen, z.B. divisionale vs. funktionale Organisation, Grenzen hierarchischer Kontrolle) (c) Transaktionen zwischen Organisationen und ihren Agenten (Beschäftigten) (Integration von Arbeitskräften in die Organisation, Organisation der Beschäftigungsbeziehung). Die empirischen Vorhersagen des Ansatzes setzen dabei die Eigenschaften der untersuchten Transaktionen (als Indikatoren für die Höhe der Transaktionskasten) in Beziehung mit der Realisierung der jeweils günstigsten institutionellen Steuerung. Beispielsweise liegen Untersuchungen zum Analysetyp (a) vor, die die Vorhersage testen, daß die spezifizierte Geltungsdauer langfristiger Verträge zwischen U.S.-amerikanischen Kohlezechen und Stahlwerken eine Funktion der Größenordnung transaktionsspezifischer Investitionen ist (Joskow 1987). In der Untersuchung einer Automobilfirma wird vorhergesagt, welche für die Produktion des Automobils erforderlichen Teile bzw. Teilprozesse auf dem Markt beschafft und welche selbst hergestellt werden, wobei als Indikator für die Höhe der Transaktionskosten des Marktes u.a. ein Maß für die technologische Unsicherheit ( d.h. die
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Innovationsrate eines Teilproduktes) herangezogen wird (Walker 1984).
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Ein zentrales Problem des Ansatzes, das verschiedene Kritiker (z.B. Granovetter 1985, Voss 1985) hervorheben und von Williamson (1988) konzediert wird, betrifft die Annahme, daß effiziente Regelungen sich (langfristig) durchsetzen. Mit dieser in empirischen Tests getroffenen Annahme ist eine gewisse Gefahr verbunden, in funktionalistische (Fehl-) Schlüsse verstrickt zu werden: Ohne eine genaue Spezifikation der Vorgänge, die dafür sorgen, daß sich effiziente Problemlösungen tatsächlich durchsetzen, läßt es sich nicht rechtfertigen, daß gewisse empirische Vorhersagen mit dem Transaktionskasten-Ansatz vereinbar oder unvereinbar sind. Der Ansatz erlaubt zunächst nur die Vorhersage, daß es mehr oder weniger große (durch einen externen Beobachter identifizierte) Anreize für die beteiligten Akteure gibt, bestimmte institutionelle Regelungen zu wählen. Ob sich die fraglichen Regelungen dann tatsächlich durchsetzen oder nicht, hängt von zusätzlichen Bedingungen ab (vgl. Williamson I Ouchi 1981). Allerdings wäre es verzichtbar, diese zusätzlichen Bedingungen in jedem einzelnen Analysefall gesondert zu untersuchen, wenn sich die Annahme rechtfertigen ließe, daß sich effiziente Strukturen aufgrund evolutionärer Vorgänge durchsetzen. Williamson sympathisiert offenkundig mit einer solchen Idee und schlägt tentativ einige Argumente für Selektionsvorgänge vor (Williamson 1988, S.181). Verschiedentlich wird vermutet, daß sich evolutionäre Argumente analog den Thesen der sog. "ökonomischen natürlichen Auslese" (Alchian 1950, Friedman 1953) auf die Problemstellung übertragen lassen (vgl. Jacquemin 1986, Kap. 1). Zur Erläuterung sei angeführt, daß der Ausgangspunkt der fraglichen Diskussion ein Versuch war, die Verwendung der (neoklassischen) Verhaltensmaxime der Profitmaximierung für die Erklärung des Verhaltens von Unternehmen zu rechtfertigen, ohne dazu direkt auf eine Annahme derart zurückzugreifen, daß Firmen bewußt und planmäßig eine Zielfunktion maximieren. Es geht also um die Frage, ob die Maxime der Profitmaximierung durch ein evolutionäres Argument gerechtfertigt werden kann: Wenn die Selektionskräfte des Marktes effektiv genug arbeiten, dann werden Unternehmen, die suboptimale Verhaltensregeln befolgen, aussterben. Langfristig gesehen überleben diejenigen Organisationen, die profitmaximierend agieren, sei es aufgrund bewußter Anstrengung oder als Produkt von Gewohnheit, Trägkeit oder zufälligen Verhaltens (Alchian 1950, Friedman 1953). Diese These, die als Rechtfertigung für den traditionellen statischen neoklassischen Ansatz gedacht war, hat sich jedoch als in dieser Allgemeinheit unhaltbar erwiesen. Sie
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ist nur unter restriktiven Bedingungen gültig, insbesondere für ein stationäres Wirtschaftssystem. Der Kern der Schwierigkeiten wurde bereits sehr klar von Winter {1964, S.240) zusammengefaßt: "there ist no reason to believe that the firms which take actions consistent with profit maximization at one time will also take actions consistent with such maximization at all subsequent times". Profitmaximierung läßt sich in einer nichtstationären Welt nicht durch Regeln erreichen, die unverändert von Periode zu Periode übernommen werden, noch ist es der Fall, daß die Firmen, die per Zufall in t eine optimale Regel treffen, auch in t + 1 das Optimum treffen. Inzwischen wurde diese Thematik auch mit spieltheoretischen Mitteln untersucht. Unter Verwendung eines speziellen evolutionären spieltheoretischen Modells läßt sich zeigen, daß die Alchian-Friedman-These nicht für Märkte mit Markt-Macht gilt (Schaffer 1988, 1989). Zusammenfassend gesagt ist es also unter zwei Bedingungen möglich, die Regel der Nutzen- oder Profitmaximierung aus einem evolutionären Argument der Extinktion nichtoptimaler Einheiten zu begründen: - Die Organisationen sind auf einem vollkommenen Wettbewerbsmarkt aktiv. - Die Umwelt ist stationär, d.h. Regeln, die zu der Zeit t optimal sind, sind auch in t + 1 optimal. Im Zusammenhang mit der hier interessierenden Fragestellung einer evolutionären Rechtfertigung des Transaktionskasten-Ansatzes sind folgende Gesichtspunkte relevant. DasAlchian-Friedman-Argument der ökonomischen natürlichen Auslese bezieht sich auf Entscheidungsregeln von Organisationen, die auf wiederkehrende Entscheidungsprobleme appliziert werden. Es ist eine offene Frage, ob es sinnvoll ist, das Argument auf die relativ selten auftretenden Entscheidungssituationen anzuwenden, in denen es um die Wahl geänderter Organisationsstrukturen geht. Unter Vernachlässigung dieses Problems ließe sich die Alchian-Friedman-These in bezug auf die Wahl optimaler Organisationsformen prinzipiell aufrechterhalten. Allerdings sind die beiden Voraussetzungen (perfekter Markt, Stationärität) der Gültigkeit des Selektionsargumentes gerade in den Situationen nicht gegeben, die im Transaktionskosten-AnsalZ analysiert werden. Insbesondere ist wichtig zu beachten, daß es im Transaktionskosten-Ansalz um Situationen geht, die von den perfekten Wettbewerbsbedingungen der Neoklassik abweichen und durch strategische Interdependenzen ausgezeichnet sind. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß sich auch für Klassen der hier thematisierten Situationstypen analoge Selektionsargumente konstruieren lassen, diese liegen jedoch bislang nicht vor.
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3. Begrenzte Rationalität, soziales Lernen und Evolution Der Versuch, direkte Analogien zu den ökonomischen Argumenten natürlicher Auslese zu konstruieren, scheitert also an den außerordentlich restriktiven Annahmen, die dabei verwendet werden müßten. Die konstruktiven Probleme einer evolutionären Theorie, die nicht auf diese restriktiven Annahmen zurückgreift, werden bei Nelson und Winter (1982) deutlich. Eine Betrachtung außerordentlich spezieller Konstellationen von Randbedingungen in einer Population von Organisationen (Firmen auf einem Wettbewerbsmarkt) zeigt dabe~ daß keineswegs davon auszugehen ist, daß sich als Produkt einer evolutionären Ausfilterung organisationaler Routinen neoklassisches Maximierungsverhalten ergibt. Es fragt sich, ob sich Umrisse einer evolutionären Theorie skizzieren lassen, die im Unterschied zur Alchian-Friedman-These auf Verhaltensannahmen nicht prinzipiell verzichtet. Genauer soll die Konzeption folgende Eigenschaften aufweisen: - Die Theorie sozialer Evolution ist individualistisch, d.h. die wesentlichen Annahmen sind Aussagen über individuelles Verhalten (evtl. auch das Verhalten korporativer Akteure). - Die Verhaltensannahmen entsprechen dem Rational Choice-Ansatz, insbesondere der Konzeption begrenzter Rationalität. - Entscheidend sind Annahmen über unterschiedliche soziale Lernprozesse, d.h. die Übernahme von Regeln, die bestimmte "Modelle" des Verhaltens (z.B. erfolgreiche Akteure) verwenden. - Ergebnis sozialer Evolutionsprozesse ist eine Verteilung von Regeln, die bestimmte Optimalitäts- und Stabilitätseigenschaften erfüllt. Es ist wichtig zu beachten, daß es in dem hier angesprochenen evolutionären Rahmen ganz allgemein um Einheiten geht, die als Regeln bezeichnet werden. Darunter kann man auch sog. Struktur-Regeln von Organisationen als korporativen Akteuren subsumieren. Es handelt sich um verhältnismäßig stabile Regeln bzw. Restriktionen, die unterschiedliche Typen konkreter Verhaltensabläufe der Organisation beeinflussen, z.B. sog. operative Standardentscheidungen, und damit auch entscheidend sind für den Erfolg (die Profilabilität) einer Organisation. Zur Erläuterung des Hintergrunds der verwendeten Konzeption mögen die folgenden Hinweise genügen. Ausgehend von der Darwinschen Evolutionstheorie in der Biologie lassen sich drei wesentliche Gesichtspunkte unter-
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scheiden (vgl. z.B. Mayr 1975, S.26 ff.): Erstens das Faktum der Evolution: Einheiten verändern sich in der Zeit (z.B. werden bestimmte Gene und Phänotypen verdrängt). Neutraler ausgedrückt ist die erste wichtige Errungenschaft des Darwinismus der Entwicklungsgedanke. Allerdings war diese Idee bereits vor Darwin weit verbreitet (z.B. bei Spencer). Zweites Merkmal der Konzeption Darwinscher Evolution ist die Spezifikation eines Mechanismus, der die beobachtete Entwicklung steuert bzw. erklären kann. Dieser ist bei Darwin die natürliche Selektion und in der "neuen Synthese" des Darwinismus sind es die populationsgenetischen Gesetzmäßigkeiten, die erklären, wie natürliche Selektion funktioniert. Der dritte wesentliche Beitrag ist das Populationsdenken. Sowohl in der "neuen Synthese" wie auch bereits bei Darwin (Mayr 1975) ist es wichtig, Entwicklung zu betrachten in bezug auf Populationen von Einheiten und die Änderung der Verteilung von Merkmalen dieser Einheiten als Folge evolutionärer Kräfte (wie Mutation, genetische Drift und andere Zufallsprozesse) zu interpretieren. Die kumulativen Effekte solcher evolutionären Kräfte unter Bedingungen natürlicher Selektion sind vielfach (aber nicht unter allen Umständen) derart, daß die Entwicklung eine gewisse Richtung erhält und sich "Anpassungen" durchsetzen. Es ist oft betont worden, daß diese Grundideen eines evolutionären Erklärungsansatzes von den biologischen Ursprüngen gelöst und auf gesellschaftliche Entwicklung oder die Entwicklung von Ideen appliziert werden können (vgl. v.a. Campbell 1965 oder z.B. Popper 1972). Geht man davon aus, daß die biologische Theorie der natürlichen Selektion eine geeignete Heuristik darstellt, aus der sich Hinweise für die Konstruktion einer individualistischen Konzeption der sozialen Evolution ergeben, so müssen die folgenden Desiderata erfüllt werden: 1. Es muß geklärt werden, welches die Einheiten der sozialen Evolution sind. Diese müssen so spezifiziert werden, daß ein Analogon zum biologischen Vererbungsmechanismus vorliegt. Ferner muß es der Fall sein, daß die Einheiten der Evolution und die Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterliegen, mit dem Methodologischen Individualismus vereinbar sind und insbesondere auch mit der Rational Choice-Theorie.
2. Die Einheiten der Selektion können sich von den Einheiten der Evolution unterscheiden, gerade auch in der sozio-kulturellen Evolution. Es kann durchaus möglich sein, daß die evolutionären Kräfte der sozialen Evolution auf Aggregate wie soziale Gruppen und Organisationen wirken, obwohl die Einheiten der Evolution Merkmale von Individuen sind.
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3. Ein kultureller Vererbungsmechanismus muß spezifiziert werden, genauso wie geeignete Adaptations- bzw. Selektionsmechanismen angegeben werden müssen. Diese sind aus der Theorie (begrenzt) rationalen Verhaltens zu begründen. 4. Damit in der sozialen Evolution tatsächlich Änderungen in der Verteilung von Merkmalen· einer Population auftreten können, sind Annahmen über evolutionäre Kräfte notwendig und zu begründen. Um die Struktur evolutionärer Erklärungen deutlicher zu machen, ist es sinnvoll, auf eine Konzeption einzugehen, die von Boyd und Richerson (1985) vorgelegt wurde. Das Anliegen dieser Autoren besteht darin, das heuristische Potential populationsbiologischer Modellbildungen für eine Theorie der sozialen Evolution zu demonstrieren. Einfache mathematische Modelle kultureller Evolutionsprozesse können erstens präzise artikulieren, welche Annahmen im Rahmen einer Theorie der sozialen Evolution erforderlich sind. Nach Boyd und Richerson ist es zweitens sinnvoll, die mathematische Struktur der Populationsgenetik für die Konstruktion analoger Modelle der kulturellen Evolution einzusetzen, weil gerade und vor allem solche formalen Strukturähnlichkeiten ein Motiv für evolutionäre Analysen sozialer Prozesse bilden, nicht dagegen inhaltliche Zusammenhänge (etwa genetische Determinanten sozialen Verhaltens) (vgl. Richerson I Boyd 1987). Diese formalen Modelle erlauben es, die logischen Konsequenzen einer Menge von Annahmen über die Wirkungen evolutionärer Kräfte auf Übertragungs- und Vererbungsmechanismen auf eine Verteilung von "kulturellen Phänotypen" aufzuzeigen. Die Einheiten, deren kumulative Entwicklung beschrieben wird, sind kulturelle Regeln. Träger kultureller Eigenschaften und damit Einheiten der kulturellen Evolution sind Individuen (vgl. Boyd I Richerson 1985, S.37). Besondere Anstrengungen wurden von Boyd und Richerson unternommen, einen Mechanismus der kulturellen Übertragung und Vererbung zu bestimmen. In der biologischen Evolution sind die Gene nicht nur diejenigen Einheiten, die repli~iert werden, sondern sie sind auch praktisch unveränderlich, d.h. ein Organismus kann seine genetische Ausstattung nicht ändern, auch wenn Änderungen angesichts der Umweltbedingungen günstig wären. Erworbene Anpassungen können nach Darwinistischer Auffassung nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Eine erfolgreiche Analogiebildung zwischen biologischer und sozialer Evolution setzt voraus, daß nicht nur eine Analogie zu einem Replikationsmechanismus gefunden wird, sondern auch Einheiten, die stabil sind. Stabilität kann jedoch nicht bedeuten, daß die Einheiten der sozialen Evolution gegenüber individuellen Anpassungsversuchen vollkommen immun sind. Gerade aus der Perspektive
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des Rational Choice-Ansatzes erscheint eine solche Annahme als zu weitgehend. Kulturelle Evolution ist eher Lamarckistisch als Darwinistisch zu deuten. Stabilität bedeutet eher ''kulturelle Trägheit" (Boyd / Richerson 1985, S.56 ff.), d.h. kulturelle Regeln werden bei (nicht allzu dramatischen) Umweltveränderungen beibehalten, auch wenn die Regel nicht mehr individuellen oder kollektiven Optimalitätskriterien entspricht. Ein zweiter Gesichtspunkt der kulturellen Trägheit ist, daß Veränderungen kultureller Regeln über den "kulturellen Vererbungsmechanismus" erfolgen. Kulturelle Trägheit impliziert also nicht, daß es keine Veränderung kultureller Regeln gibt. Vielmehr erfolgen Änderungen vor allem (mit der Ausnahme der angesprochenen Lamarckistischen Vorgänge) über den Evolutionsmechanismus, der entsprechend genauer angegeben werden muß. Boyd und Richerson (1985, Kap. 3) sehen im sozialen Lernen den kulturellen Übertragungsmechanismus der sozialen Evolution. Soziales Lernen bedeutet die Übernahme einer Regel, die bestimmte Verhaltensmodelle besitzen, durch ein ("naives") Individuum, das das Verhalten des Modells beobachtet und eine Regel aus dem Verhalten inferiert. Soziales Lernen ist scharf abzugrenzen von individuellem Lernen. Soziales Lernen ist indirekt. Regeln, die in der Population bereits verbreitet sind, werden übernommen. Individuelles Lernen oder individuelles Anpassungsverhalten ist direkt: Diejenige Alternative, die in einer gegebenen Situation (in der Wahrnehmung des Individuums) optimal ist, wird gewählt. Das kann heißen, daß eine solche Alternative erst gefunden und bewertet oder sogar erst erfunden werden muß. Soziales Lernen bedeutet demgegenüber, die Erfindungen anderer zu übernehmen. Die Rolle sozialen Lernens und die Tatsache der institutionellen Trägheit sind in der Soziologie oft beschrieben worden, beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der Selbstreproduktion und Änderung von Traditionen (z.B. Shils 1981). Dabei wurde ebenfalls betont, daß Traditionen nicht deswegen von nachfolgenden Generationen übernommen werden, weil die fraglichen Akteure die Optimalität tradierter Regeln jeweils erneut geprüft haben. Vielmehr werden kulturelle Regeln durch Sozialisationsprozesse und andere Formen sozialen Lernens weiterverbreitet. Allerdings erfahren Traditionen im Prozeß der kulturellen Übertragung oftmals Änderungen (Shits 1981, Kap. 5). Eine Analyse der endogenen Bedingungen des Wandels sozialer Regeln ist eine der Stärken des evolutionären Ansatzes. Boyd und Richerson (1985) unterscheiden eine Reihe evolutionärer Kräfte der sozialen Evolution. Unter einer evolutionären Kraft wird wie in der biologischen Evolution ein Vorgang verstanden, der die Verteilung eines Merkmals in einer Population ändert. Soziales Lernen kann dann eine evolutionäre Kraft sein, wenn in der kulturellen Übertragung von Regeln
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keine fehlerfreie Reproduktion der Verteilung in der vorherigen Generation erfolgt, und wenn bestimmte Verzerrungen auftreten, bestimmte kulturelle Varianten also überproportional wahrscheinlich werden. Die Generationen müssen dabei übrigens nicht mit der biologischen Generationenfolge übereinstimmen, es ist auch sog. horizontale Übertragung zwischen Individuen einer biologischen Generation möglich. Eine erste evolutionäre Kraft ist für die Begründung eines sozialen Lernmodells von besonderer Bedeutung. Boyd und Richerson (1985, Kap. 4) bezeichnen sie als 'gerichtete Variation' (guided variation). Darunter ist eine Kombination aus sozialem Lernen und individuellem Anpassungsverhalten zu verstehen. Kulturelle Regeln werden also in einem sozialen Lernprozeß weitergegeben bzw. übernommen. Gleichzeitig werden die Regeln durch individuelles Lernen modifiziert. Die Kombination individuellen Lernens mit linearer Imitation ("gerichtete Variation") ist eine einfache Modellvorstellung, mit der zwar möglicherweise Resultate erzielt werden können, die robust sind (insbesondere, was die Vorteile eines kulturellen Übertragungsmechanismus betrifft), die jedoch vielfach inadäquat ist. Boyd und Richerson (1985) führen daher einige weitere Mechanismen ein. Verzerrtes soziales Lernen (biased transmission) liegt vor, wenn diejenige kulturelle Variante übernommen wird, die einem Optimalitätskriterium am besten entspricht. Verzerrtes soziales Lernen ist möglich, wenn in der Population mehrere Varianten kultureller Regeln verbreitet sind und wenn es Indikatoren gibt, die den Grad der Anpassung einer Regel anzeigen. Boyd und Richerson (1985, Kap.S) unterscheiden drei Typen verzerrter kultureller Übertragung: Direkte Verzerrung liegt vor, wenn diejenige Alternative (eines Rollen-Modells) übernommen wird, die als die attraktivste erscheint. Indirekter Bias bedeutet, eine Variante deshalb zu übernehmen, weil das Modell bestimmte Attraktivitätseigenschaften besitzt (Prestige, Erfolg beim Anwenden der kulturellen Regel usw.). Häufigkeitsabhängiges soziales Lernen liegt vor, wenn die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Variante zu übernehmen, eine nichtlineare Funktion der Häufigkeit der Variante in der Population ist (vgl. Boyd und Richerson 1985, S.135). Häufigkeitsabhängige soziale Prozesse werden in den Sozialwissenschaften in anderen Zusammenhängen gern untersucht. Beispiele sind in Arbeiten von Schelling (1978), Granovetter (1978) und Akerlof (1980) zu finden. Auch in der evolutionären Spieltheorie (siehe zur Einführung Mueller 1990) wird von der Vorstellung häufigkeitsabhängiger Selektionsprozesse ausgegangen. Die Modellvorstellungen der evolutionären Spieltheorie lassen sich anband des skizzierten begrifflichen Rahmens interpretieren (vgl. ausführlicher Voss 1990, Kap. 5).
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Entscheidend ist die Tatsache, daß sich die Rolle sozialer Lernprozesse in der kulturellen Evolution aus der Annahme begrenzter Rationalität begründen läßt: Ist in der gerichteten Variation die Fehlerträchtigkeit individuellen Lernens (also direkten rationalen Anpassungsverhaltens) höher als die Fehler der kulturellen Übertragung, so ist es günstiger, die Rolle kultureller Übertragung und sozialen Lernens zu verstärken.
4. Die Ausbreitung divisionaler Organisationsstrukturen als sozialer Lernprozeß Im folgenden soll die gerade erläuterte Konzeption an einem Beispiel illustriert werden. Die zentrale These lautete, daß soziale Evolutionsprozesse nicht zwangsläufig zur Durchsetzung effizienter Organisationsformen oder Regeln führen. Eine Abschwächung der Verhaltensannahme einer vollkommenen Rationalität hat demnach Folgen auf der kollektiven Ebene der Verteilung sozialer Regeln. Kann jedoch auf der Ebene des Verhaltens korporativer Akteure nur begrenzte oder 'organische Rationalität' (Williamson 1985, Kap. 2) unterstellt werden, und sind aufgrundvon Unsicherheit die Kosten der vergleichenden Bewertung von Organisationsformen/Regeln sowie die Kosten individueller Lernprozesse hoch, so wird Lernen aus den Erfahrungen anderer (Organisationen) ein wichtiger Mechanismus der Ausbreitung von Regeln sein. Solche sozialen Lernprozesse simulieren nicht generell vom Ergebnis her die Resultate vollkommen rationalen Anpassungsverhaltens. Ein paradigmatisches Beispiel in der Transaktionskostentheorie ist die Analyse der Bedingungen für die Entstehung und Ausbreitung divisionaler Organisationsstrukturen in modernen kapitalistischen Großorganisationen. Hinsichtlich der Struktur von Großunternehmen wurden v.a. drei Typen von Formen unterschieden (vgl. z.B. Williamson 1975, Kap. 8; 1985, Kap. 11): Der historisch früheste Typ ist die funktionale Fonn, die auch als Einheitsform (U-Fonn) bezeichnet wird. Kennzeichen der U-Form ist die Spezialisierung nach den klassischen "Funktionen" wie Finanzen, Produktion, Verkauf u.dgl. Diese unterschiedlichen Funktionen werden koordiniert durch die U nternehmensführung. Historisch haben funktionale Strukturen insbesondere vorgeherrscht in großen Firmen, die ein Produkt herstellen. Die Entwicklung funktional strukturierter Organisationen mit spezialisierten ManagementPositionen führt auf eine Erklärungsaufgabe eigener Art (vgl. insbesondere Chandler 1977 für transaktionskostentheoretische Deutungen und Be-
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schreibung der U.S. amerikanischen Geschichte). Auch die Webersehe Bürokratietheorie kann als Versuch aufgefaßt werden, Bedingungen für die Entstehung funktionaler Organisationsformen mit spezialisierten Herrschaftsstäben (Managementaufgaben) anzugeben (vgl. z.B. Bendix 1974, Kap. 4; Stinchcombe 1974, Kap. 5). Historisch geht die Ausbildung funktionaler Organisationsstrukturen mit spezialisierten Managementfunktionen in den Vereinigten Staaten auf Innovationen zurück, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in den amerikanischen Eisenbahnunternehmen eingeführt worden sind, um die Koordination und Kontrolle großer, räumlich weit gestreckter Organisationen bewältigen zu können (Chandler 1977, Kap. 3 und passim). Entsprechende Strukturen wurden von den großen Wirtschaftsunternehmen in der Massenproduktion und -Verteilung angenommen und waren bis zum 1. Weltkrieg in der amerikanischen Industrie verbreitet. In der gleichen Periode kam es auch zur Ausbildung einer zweiten Organisationsform, nämlich der Holding-Form. Eine Holding ist typischerweise eine Organisation, unter deren Dach mehrere, weitgehend unabhängige Unternehmen zusa."'!lmengefaßt sind. Die zentrale Führung ist dabei eher schwach in dem Sinn, daß sie die einzelnen Einheiten nicht direkt überwacht, sondern vor allem gemäß den realisierten Erträgen einer Einheit Kapitalzuweisungen vornimmt. Es handelt sich bei H-Form-Organisationen also um interne Kapitalmärkte. Die H-Form ermöglicht es großen Unternehmen analog diversifizierten Kapitalmarktaktivitäten eine Streuung ihrer Risiken zu erreichen, weshalb der reine Typus der H-Form keine Profitabilitätsvorteile gegenüber entsprechenden Kapitalmarktanteilen aufweist (Williamson 1975, S.144; Barney und Ouchi 1986, S.159). Historisch haben H-Form-Unternehmen sich erstmals in der bedeutsamen Welle von Unternehmenszusammenschlüssen des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelt (Chandler 1977, Kap. 10). Sie haben jedoch niemals zur dominierenden Organisationsform werden können, auch nicht in Europa, wo frühzeitig ebenfalls vergleichbare Zusammenschlüsse von Firmen entstanden. Die dritte Organisationsform ist die multidivisionale Struktur (M-Form). In der deutschen Literatur gibt es eine Reihe von Bezeichnungen für den gleichen Sachverhalt, wie z.B. Spartenorganisation, Geschäftsbereichsorganisation u.a., die hier nicht aufgegriffen werden sollen (vgl. dazu z.B. Gabele 1981, Kap. 2.1). Wesentliche Merkmale der M-Form sind (Chandler 1962, S.2; Williamson 1975, S.137): - Die Unternehmung führt eine Anzahl unterschiedlicher wirtschaftlicher Tätigkeiten aus, es handelt sich z.B. um eine diversifizierte Mehr-Produkt Unternehmung.
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- Eine zentrale Führungsebene übernimmt Aufgaben der strategischen Planung sowie der Koordination und Kontrolle der einzelnen Einheiten (Divisionen). - Die Einheiten (Divisionen) sind weitgehend autonome 'Quasi-Firmen' (Williamson), die intern funktional organisiert sind. Die Leiter der Divisionen sind für den geschäftlichen Erfolg und alle operativen Aktivitäten in ihrem Bereich allein zuständig. - Zwischen den Divisionen gibt es Interdependenzen, weil die Divisionen gemeinsame Ressourcen verwenden (z.B. eine gemeinsame Forschungsabteilung unterhalten u.ä.) oder Produkte austauschen (Problem interner Verrechnungspreise). Die damit verbundenen Kooperationsprobleme werden durch die zentrale Führung gelöst. Im Unterschied zur U-Form ist die M-Form also eine dezentrale Organisationsform, die allerdings der zentralen Führungsebene einen größeren Einfluß zuweist als in der H-Form. Zwar ist auch die M-Form in gewissen Hinsichten einem 'miniaturisierten Kapitalmarkt' (Williamson 1975, S.145) ähnlich. Diese Kapitalmarktfunktionen werdenjedoch nach Williamson gerade dadurch wirksam, daß bestimmte Anreiz- und Kooperationsprobleme, die in einer H-Form (und auf externen Kapitalmärkten) auftreten, wenn es asymmetrische Informationen gibt, durch geeignete interne Kontrollmechanismen gemildert werden. Wesentlich für die M-Form ist also zusammenfassend gesagt die interne Kontrolle der einzelnen weitgehend unabhängig operierenden Divisionen und die Übernahme langfristiger, "strategischer" Aufgaben durch die Zentrale. Die Entstehung und Ausbreitung der M-Form in den Vereinigten Staaten wurde in Chandlers (1962) klassischer Studie detailliert beschrieben. Die organisatorische Invention der M-Form ist danach unabhängig in vier Unternehmen erfolgt, in denen einflußreiche Akteure in den 20er Jahren mit der Erprobung neuartiger Strukturen begannen, um aufgetretene administrative Schwierigkeiten in organisationalen Krisensituationen zu bewältigen (Chandler 1962, S.3). Bei den Unternehmen, die die M-Form zuerst einführten, handelte es sich um die Giganten du Pont, General Motors, Standard Oil und Sears. Den Inventionsvorgang innerhalb jeder dieser Firmen hat Chandler (1962) eingehend dargestellt. Nachdem die M-Form in diesen Organisationen durchgesetzt war, hat sich 1949-1959 ein Ausbreitungsvorgang angeschlossen, als dessen Ergebnis bis Ende der sechziger Jahre nahezu zwei Drittel der (500) größten amerikanischen Industrieorganisationen eine M-Form entwickelt hatten (Rumelt 1974, S.65). Das Ausmaß der Verbreitung war dabei jedoch, worauf auch bereits Chandler (1962, Kap. 7) eingeht, zwischen den verschiedenen Industriezweigen unterschiedlich. In 20 Büschges
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Deutschland setzten Divisionalisierungsvorgänge übrigens erst später, etwa in den sechziger Jahren ein (vgl. Thanheiser 1976). Eine Ausnahme scheint der Siemens-Konzern zu bilden, der anscheinend bereits vor dem ersten Weltkrieg, also früher als in den Vereinigten Staaten, Merkmale einer MForm entwickelt hatte (Kocka 1980, S.98). 1 Die Erklärung für die Annahme einer M-Form liegt nach Chandler (1962, S.14 und passim) darin, daß die "Strategie" der Diversifikation und des Größenwachstums administrative Probleme generiert, die als Antwort nach einer Umstrukturierung verlangen, nämlich der Einführung der M-Form. Diese These wird in der Literatur häufig in der allgemeinen Formel "structure follows strategy" (Chandler 1962, S.14) ausgedrückt und teilweise sogar in die Nähe kontingenztheoretischer Ansätze gerückt (z.B. Pfeffer 1982, S.157 ff.; Mintzberg 1979, Kap. 20). In neuerer Zeit betont allerdings Chandler die von Williamson herausgearbeiteten transaktionalen Probleme der U-Form als wesentliche Determinanten des Strukturwandels. Es ist also nicht der Fall, daß Strategieänderungen als solche bereits Strukturveränderungen erfordern, damit eine Organisation keine Effizienzverluste erleidet. Sondern Strategieveränderungen sind insofern bedeutsam, als sie sich in gesteigerte Transaktionskosten umsetzen. Unter "Strategie" versteht Chandler (1962, S.13) übrigens diejenigen Regeln oder Routinen einer Organisation, welche die grundlegenden langfristigen Zielsetzungen einer Unternehmung bestimmen (also z.B. Entscheidungen über das Produktionsvolumen, Diversifikation etc.). Williamson (1975, Kap. 8) analysiert ausführlich die transaktionalen Probleme einer expandierenden, inbesondere diversifizierten U-Form. Begrenzte Rationalität bedeutet endliche Kontrollspannen der Führungspersonen, so daß bei wachsender Hierarchie ein "Kontrollverlust" durch ineffizienten Informationsfluß eintritt. Insbesondere kommt es zu einer Überlastung der Führung mit operativen Routineproblemen und zu einer Vernachlässigung strategischer, langfristiger Aspekte. Eine Beteiligung der einzelnen Funktionsabteilungen an den Entscheidungen der zentralen Führung ist aber aufgrund von asymmetrischer Information und den aus der "managerial discretion"-Literatur geläufigen Aspekten der Subgruppenziele ineffektiv ("Opportunismus-Problem" in Williamsons Terminologie). Williamson (1975, S.150 ff.) formuliert eine sog. M-Form-Hypothese, die
1 Diese These Kockas ist nicht unumstritten. Insbesondere ist fraglich, ob Siemens tatsächlich alle wesentlichen Merkmale der M-Form realisiert hatte, insbesondere die verschiedenen strategischen und Kontrollfunktionen der zentralen Führung (Cable / Dirrheimer
1983, S.45 f. ).
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empirische testbare Effekte der Einführung einer M-Form zusammenfassen soll: "The organization and operation of the large enterprise along the lines of M-form favors goal pursuit and least-cost behavior more nearly associated with the neoclassical profit maximization hypothesis than does the U-form organizational alternative." (Williamson 1975, S.150, im Original hervorgehoben) Die M-Form-Hypothese eignet sich zunächst nicht, um auch die Entstehung und Ausbreitung der M-Form zu erklären. Implizit wird jedoch sowohl bei Chandler als auch bei Williamson die Prämisse verwendet, daß profitable Organisationsformen sich auch durchsetzen. Der in diesem Zusammenhang wichtige Gesichtspunkt, der von Chandler (1962, S.17; Kap. 6.7 und passim) wie auch von Williamson (1975, S.140 ff.) gesehen wird, ist, daß Strukturwandel ein sozialer Lernprozeß ist. Chandler weist eingehend nach, daß es besondere historische Umstände waren, unter denen die organisatorische Invention der M-Form in den vier Firmen gemacht wurde. Die Bedingungen sind einmal struktureller Natur, d.h. die Firmen befanden sich in Überlebenskrisen. Zweitens hebt Chandler Persönlichkeitsfaktoren bzw. den sozialen und Ausbildungshintergrund der innovativen Einzelpersonen (wie Alfred Sloan u.a.) hervor (Chandler 1962, S.314 ff.). Die meisten dieser Manager oder Unternehmensleiter hatten einen ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund aufzuweisen und waren nicht unbeeinflußt durch den Taylorismus. Dies führte zu einer ähnlichen Sicht der organisatorischen Probleme und vergleichbare Lösungsversuche, die in einem längeren Reorganisationsvorgang auf die M-Form hinführten. Ist man geneigt, eine evolutionsbiologische Analogie zu verwenden, so sind diese bei Chandler dokumentierten historischen Bedingungen für die erstmalige Entstehung der betreffenden organisationsstrukturellen "Mutation" entscheidend gewesen. Anschließend konnte sich die Innovation in der Organisationslandschaft verbreiten. Die Tatsache, daß dieser Diffusionsprozeß nicht gleich schnell verlaufen ist in sämtlichen Industriezweigen, spricht dafür, daß es sich nicht nur um Imitationseffekte gehandelt haben kann, sondern daß Verzerrungen und ähnliche evolutionäre Kräfte wirksam waren. Aus der großen Zahl empirischer Studien zur Überprüfung der M-FormHypothese sei zunächst hingewiesen auf einen Beitrag von Armour und Teece (1978) über die U.S.-amerikanische Mineralöl-Industrie. In diesem Beitrag werden zwei Arten von Diffusionsphänomenen aufgezeigt. Einer dieser Gesichtspunkte wird von den Autoren selbst hervorgehoben. Der andere ergibt sich aus den Daten, die die Autoren dokumentieren. Armour
Thomas Voss
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und Teece untersuchen die Profilabilität der größten amerikanischen ÖlFirmen in der Periode 1955-1973 als Funktion der Organisationsform und weiterer Kontrollvariablen. In dieser Gruppe von Firmen zeigt sich zunächst (Armour und Teece 1978, S.ll6, Tabelle 2) ein Diffusionsprozeß, der wie die meisten Diffusionsvorgänge (vgl. Hamblin u.a. 1973) einer logistischen Kurve folgt (Abbildung 1).
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Abbildung 1: Die Diffusion der M-Form in den größten OS-amerikanischen Mineralöl-Firmen 1950-1975 (Daten aus Armour und Teece 1978)
Die Form der Diffusionskurve legt die Vermutung nahe, daß der Ausbreitungsvorgang Ergebnis sozialer Lernprozesse in der betrachteten Gruppe von Firmen ist. In der soziologischen Literatur existieren eine Reihe von Standard-Modellen (insbesondere Coleman u.a. 1957), die die strukturellen Bedingungen und die Verhaltensannahmen deutlich machen, die eine logistische Diffusionskurve generieren. Allerdings ist bei der inhaltlichen Interpretation Vorsicht angezeigt, weil es sich bei der Stichprobe um die knapp 30 größten Organisationen handelt, die nicht unbedingt ein geschlossenes System darstellen. Weiterhin wurde nicht danach kontrollliert, ob eine M-Form tatsächlich im Sinn der Transaktionskostentheorie optimal ist oder nicht. Die Stichprobe enthält also möglicherweise sowohl Organisationen, für die die U-Form optimal ist, als
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auch solche, für die die M-Form günstiger ist. Eine Interpretation des Diffusionsprozesses analog diesen Standard-Modellen setzt voraus, daß die betreffenden Einheiten (korporativen Akteure) in bezug auf die Übernahmeneigung des diffundierenden Gegenstandes homogen sind. Ist man geneigt, eine solche Homogenitätsannahme zu treffen, so wäre der Ausbreitungsvorgang als häufigkeitsabhängiger sozialer Lemprozeß zu interpretieren: Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Organisation die M-Form übernimmt, ist proportional zu dem Anteil der Firmen in der Population, die die M-Form bereits angenommen haben und dem Anteil, die die Innovation noch nicht angenommen haben. Die Proportionalitätskonstante k mag dabei eine Funktion der Vorteile der Innovation sein. Der Prozeß ist bei konstantem (häufigkeitsunabhängigem) k dennoch häufigkeitsabhängig, weil in der Zeit die Wahrscheinlichkeit wächst, daß eine Organisation eine andere Organisation beobachtet, die die Innovation mit Erfolg eingeführt hat. Es gibt in der Population offenkundig eine Obergrenze M des Anteils von Organisationen, die die Innovation überhaupt übernehmen. Der Grund mag sein, daß für die übrigen Organisationen die U-Form oder eine andere Alternative tatsächlich günstiger ist. Die Ausbreitungsrate für den Anteil y der Firmen, die die M-Form angenommen haben, ist dann gegeben durch
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