Institution und technische Zivilisation: Symposion zum 65. Geburtstag von Johannes Chr. Papalekas [1 ed.] 9783428470358, 9783428070350


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German Pages 276 Year 1990

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Institution und technische Zivilisation: Symposion zum 65. Geburtstag von Johannes Chr. Papalekas [1 ed.]
 9783428470358, 9783428070350

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Institution und technische Zivilisation

Soziologische Schriften

Band 52

Institution und technische Zivilisation Symposion zum 65. Geburtstag von Johannes Chr. Papalekas

Herausgegeben von

Eckart Pankoke

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Institution und technische Zivilisation I Symposion zum 65. Geburtstag von Johannes Chr. Papalekas. Hrsg. von Eckart Pankoke. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Soziologische Schriften; Bd. 52) ISBN 3-428-07035-6 NE: Pankoke, Eckart [Hrsg.]; Symposion zum 65. Geburtstag von Johannes Chr. Papa1ekas (1989, Bochum); Papa1ekas, Johannes Chr.: Festschrift; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Gerrnany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-07035-6

INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Eckart Pankoke

Institution und technische Zivilisation. Einführung

9

Wolfgang Lipp

Institution und Veranstaltung. Zurneueren Entwicklung institutionellen Bewußtseins in den Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Helmut Klages

Gesellschaftlicher Wertwandel und institutionelles Engagement

51

Anastasios Kal/is

Institution und Gemeinschaft. Überlegungen zur Autorität und Authentizität in orthodoxer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Wi/helm Sternemann

Kirche und Industriegesellschaft

85

Otto Kimminich

Institutionen in der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Franz Ronneberger

Die Institution Staat in der öffentlichen Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Luigi Vittorio Graf Ferraris

Institutionen in der internationalen Politik

115

Friedrich Landwehrmann

Führung in der industriellen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Paul Gert von Beckerath

Der "Mensch im Mittelpunkt". Zur Entwicklung von Personalwesen und Unternehmensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Marion Hüchtermann und Winfried Sch/afjke

Industrielle Institutionen in der technischen Zivilisation

163

6

Inhalt

Bernard Willms

Der Cid und der Großinquisitor Denken?

oder: Was ist institutionelles

179

Hans Wilhelm Hetz/er

"Bewegung im erschwerenden Mittel". Handlungstheoretische Elemente bei Carl von Clausewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Klaus Barheier

"Haltende Mächte" und "Sekundäre Systeme". Zur Institutionenlehre Hans Freyers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Arnold Zinger/e

Ehre und Demokratie. Überlegungen im Anschluß an Alexis de Tocqueville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Justin Stag/

Die Ehre des Wissenschaftlers Autorenverzeichnis

253 275

VORWORT "Institution und technische Zivilisation": Diese Grundspannung der industriellen Moderne wird im Dialog von Theorie und Praxis zur Frage nach der "inneren· Führung" industrieller Gesellschaften. Im Interesse der Vermittlung zwischen den strukturellen Zwängen technischer Zivilisation und den kulturellen Stärken institutionellen Engagements stellt sich die Frage nach haltenden Kräften, Gegengewichten und bewegendem Sinn. "Institutionelles Denken" fand einen Rahmen mit dem interdisziplinären Symposion "Institution und technische Zivilisation", Januar 1989, in Bochum. Anlaß war der 65. Geburtstag des ersten Professors für Soziologie im Gründungssenat der Ruhr-Universität Bochum, Johannes Chr. Papalekas. Die für ihn in Lehre und Forschung zentrale Frage nach den "Wandlungen im Baugesetz industrieller Gesellschaften" findet ihren theoretischen Horizont im Blick auf die Spannungen und Vermittlungen von "Institution und technischer Zivilisation". Auch als Person, in der inneren Haltung seines Handeins gab Johannes Chr. Papalekas immer wieder Zeugnis und Vorbild für institutionelles Ethos. Dieses zeigt gerade sein persönlicher Einsatz für die Institution der deutschen Universität. So gab das Symposion guten Grund zum Rückblick auf 25 Jahre institutionell engagierte Sozialwissenschaft an dieser ersten Universität des Ruhrgebietes. Als frühere Mitarbeiter des Bochumer Lehrstuhls Papalekas und Veranstalter des Symposions war es uns große Freude und Ehre, einen aktiven, in institutionellen Fragen interessierten und engagierten Teilnehmerkreis begrüßen zu dürfen. So trafen sich Staats-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler mit Fachleuten aus Praxisfeldern institutioneller Verantwortung zu offenem Gespräch. Für die Förderung dieser Begegnung zwischen universitärer Forschung und institutioneller Verantwortung gilt besonderer Dank der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, namentlich ihrem Geschäftsführer Herrn Dr. Friedhelm Hilterhaus, der diesen "Theorie-Praxis-Dialog" mit konstruktivem Interesse begleitete.

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Vorwort

Herrn Klaus Barheier danken wir für verläßliche Umsicht bei der Redaktion. Für die Unterstützung der Publikation danken wir der Bochumer Universität und der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität. Friedrich Landwehrmann- Wolfgang Lipp Eckart Pankoke - Arnold Zingerle

ECKART PANKOKE

Institution und technische Zivilisation Einführung

I.

"Institution und technische Zivilisation": DieFormel verbindet strukturelle Probleme der technischen Zivilisation mit kulturellen Fragen nach den inneren Kräften institutioneller Verbindlichkeit und institutionellen Engagements. Im Bewußtsein der strukturellen und kulturellen Dynamik gesellschaftlichen Wandels steht die institutionelle Frage für die Innenseite gesellschaftlicher Systembildung. Gefragt wird nach den bindenden Halten und dem be~egenden Sinn institutioneller Verantwortung.

Institutionalisierung als ,Stabilisierung nach innen' bedeutetjedoch gerade keine Verfestigung sozialer Statik; zu würdigen ist institutionelle Beständigkeit, Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit auch als Handlungs- und Eotscheidungsgrund, der Halt gibt und Mut macht, sich auch in kritischen Zeiten aktiv zu engagieren und bewußt für das Risiko eigener Wege persönliche Verantwortung zu übernehmen. An der Ruhr-Universität Bochum stellten sich beim Aufbau einer sozialwissenschaftlichen Abteilung die Fragen institutioneller Verantwortung bewußt im Horizont der im Revier von Kohle und Stahl akuten Forderungen des wirtschaftlichen Umbaus und der kulturellen Ausgestaltung dieser klassischen Industrielandschaft. Bei der Gründung vor 25 Jahren stand die Berufung von Professor Dr. J. C. Papalekas auf den ersten Lehrstuhl für Soziologie der Bochumer ,Abteilung Sozialwissenschaft' für die Verbindung von soziologischer Institutionenlehre und industriesoziologischer Forschung. Der theoretische Bezugsrahmen ergab sich mit der aus philosophischer Anthropologie entwickelten "Institutionenlehre" (Freyer, Gehlen, Schelsky). Der Bezug zur Empirie ergab sich in Weiterführung von an der Sozialforschungsstelle Dortmund unter Projektleitung von Johannes Papalekas entwickelten Forschungsorientierungen: aktuelle Themen waren die Entwicklung industrieller Arbeit und industrieller Führung unter den Bedin-

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Eckart Pankoke

gungen fortschreitender Automatisierung, sowie die sozialräumliche Ordnung und infrastrukturelle Entwicklung im industriellen Ballungsraum. 1 In der Forschung wurden die Begriffe "Institution" und "technische Zivilisation" zu Brennpunkten theoretischer wie praktischer Erkenntnisinteressen: Dabei verbanden sich theoretische Interessen einer soziologischen Institutionenlehre mit der Herausforderung dieses Industriereviers, die Lebensbedingungen der technischen Zivilisation in der Nüchternheit industriesoziologischer Sozialforschung abzuklären. 2 Die dazu gestellte Frage nach "Wandlungen im Baugesetz der industriellen Gesellschaft" 3 war theoretisch fundiert in der Auseinandersetzung mit klassischen Texten zur Gesellschaftslehre der industriellen Moderne: Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Max Weber. 4 Auf dem Hintergrund der industriegesellschaftlichen Dynamik von sozialer Frage, sozialer Bewegung und sozialer Politik 5 verband sich die von materialistischer Dialektik kritisch gestellte Systemfrage mit Sinnfragen der Identität sozialen Handeins und der Legitimität politischer Herrschaft. Diese für eine soziologische Institutionenlehre der industriellen Moderne konstitutive Spannung von Marx und Nietzsche, von industrieller Dynamik und institutionellem Ethos vermittelte sich in der "verstehenden Soziologie" Max Webers: "Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten und vor allem eines heutigen Philosophen kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt". 6 1 Dies dokumentieren die aus dem Bochumer Arbeitszusammenhang vorgelegten Thesen und Befunde wie: Johannes C. Papalekas, Industriearbeit und Industriearbeiter unter fortschreitender Automatisierung. Soziologische Untersuchungen in der Grundchemie. Forschungsbericht Ruhr-Universität Bochum 1968; Friedrich Landwehrmann, Industrielle Führung unter fortschreitender Automatisierung. Soziologische Untersuchungen in der Stahlindustrie und der Grundchemie, Stuttgart 1970, Ders. Das Ruhrrevier- sein sozialer Hintergrund. Bericht über eine empirische Untersuchung im Revier, Essen 1970. 2 Beide Themenfelder fanden den institutionellen Rahmen empirischer Analyse mit der Gründung des Bochumer "Instituts für Arbeitssoziologie und Arbeitspolitik". 3 Johannes C. Papalekas, Wandlungen im Baugesetz der industriellen Gesellschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 115, 1959. 4 Dazu: J. C. Papalekas, Dialektischer Materialismus und verstehende Soziologie. Ist eine ,verstehende' Dialektik möglich? (Habil. Sehr.) Innsbruck 1952. 5 Eckart Pankoke, Sociale Frage Sociale Bewegung - Sociale Politik, Stuttgart 1970. 6 So Max Weber im politisch bewegten Münchener Februar 1920, als er nach einer kontroversen Begegnung mit dem Ideologen Spengler sich gegenüber seinen Studenten zum Ethos des Soziologen bekannte.

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Die Vermittlung von industrieller Dynamik und institutionellem Ethos bestimmte auch das Erkenntnisinteresse von Hans Freyers Entwurf einer "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft" und Arnold Gehlens sozialanthropologische Grundlegung einer soziologischen Institutionenlehre. Helmut Schelsky hat das Problem der Institution dann aufkonkrete Problemfelder der aktuellen Gesellschaftsanalyse bezogen. Zu erinnern ist an seine viel umstrittenen Thesen zum "technischen Staat". In seinem Akademievortrag "Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation" hatte Helmut Schelsky mit Berufung auf Gehlens Diktum von der "kulturellen Kristallisation" und unter Verweis auf das kybernetische Gesellschaftsmodell Gotthard Günthers die These vertreten, daß die menschliche Schöpfung sich zu einem selbständigen System verdinglicht habe, demgegenüber die subjektiven Momente von Politik, Religion, Moral und Kultur unwirksam würden. Dies mußte dort zu Widerspruch aufrufen, wo die Systemzwänge des ,technischen Staates' und der ,wissenschaftlichen Zivilisation' nicht als das "Ende der Geschichte" hingenommen werden wollten. Antworten auf die institutionellen Fragen der technischen Zivilisation suchte auch die zur Gründung der Bochumer Universität 1965 vorgelegte Festschrift: Der Beitrag von Johannes C. Papalekas "Führungsschicht und lndustriegesellschaft. Zur Problematik moderner Machtstrukturen" stellte die Frage, wie die im Medium technischen Fortschritts entfesselten Potentiale gesellschaftlicher Macht im Sinne verantwortlicher Führung institutionell zu binden sind. Auch der von Johannes C. Papalekas zusammen mit Hans Freyer und Georg Weippert herausgegebene Sammelband "Technik im technischen Zeitalter. Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation" 7 stellte die Frage nach der Spannung von Institution und technischer Zivilisation. Im Widerspruch zur Deutung der Gegenwart als technizistisches "Posthistorie", womit nach Friedrich Jonas "einer massiven Flucht aus der Verantwortung Vorschub geleistet wird", wollten die "Stellungnahmen" dieses Technik-Bandes die kulturelle Wertladung und den politischen Entscheidungsgehalt der sich damals abzeichnenden Wirksamkeit von "Technik als Ideologie" kritisch bewußt machen. Dabei erschien die moderne Technik nicht mehr als ein klar beherrschtes Mittel, sondern als ein explosives Potential für freibleibende Zwecke und mit unabsehbaren Folgen für die naturale, aber auch die soziale Umwelt. 8 7 Hans Freyer/Johannes C. Papalekas/Georg Weippert (Hrsg.): Technik im technischen Zeitalter. Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation, Düsseldorf 1965. 8 Hans Freyer brachte diese neue Dynamik einer entfesselten Technik auf den Begriff der "Umkehrung von Zweck und Mitteln", wodurch bisherige Mittel zu freien, unbeherrschten Potenzen sich verselbständigen: "Es wird nicht mehr vom Zweck auf die notwendigen Mittel, sondern von den Mitteln, d. h. von den verfügbaren Potenzen, auf die möglichen Zwecke hin gedacht."

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Eckart Pankoke

"Technik als geschichtliche Herausforderung"- das gilt nicht nur für die maschinellen Apparate der industriellen Produktion. Vielmehr wird das sozio-technische Kalkül der Machbarkeit gerade auch an der organisatorischen und kommunikativen Gestaltung des Sozialen soziologisch herauszuarbeiten sein. Mit einer durch Technik gesteigerten Machbarkeit verschärft sich die Frage nach der Verantwortlichkeit organisations-und kommunikationstechnisch vermittelter sozialer Macht. Insbesondere mit der Entwicklung neuer Produktions-, Organisations- und Kommunikationstechniken ist die Frage der Sozialwirksamkeit technisch-organisatorischer Innovationen neu aktuell geworden. "Herrschaft - technisch herausgefordert" 9 bedeutet auf diesem Hintergrund dann auch nicht den Rückzug aus der industriellen Moderne, vielmehr geht es um die Herausforderung, die neuen, harten Realitäten entfesselter technischer Machtpotenzen zu erkennen und politischer Steuerung zu überantworten. Der Ruf nach politischer Beherrschung der technischen Potentiale richtet sich dann gegen die Macht derjenigen, die an der technizistischen Verschleierung von Machtstrukturen "interessiert sind und davon profitieren". Indem in technizistischer Gebanntheit vor den "Sachzwängen" die Dimension des Politischen und des Geschichtlichen verdrängt wird, wirkt "Technik als Ideologie" 10; je mehr sich unter dem ideologischen Schleier technologischer Sachlichkeit politische Machenschaften unkontrollierbar entfalten können, wird "Technik zum Legitimitätsersatz" (Papalekas). Wie sehr Technik eine unabsehbare und unkontrollierbare Steigerung der Macht bedeuten kann; sehen wir heute besonders deutlich an den modernen Kommunikationsmitteln. Macht wird hier- um mit Max Weber zu sprechen- "amorph". Sie läßt diejenigen, die sich ihrer bemächtigen, nicht mehr erkennen. Hinter den Sachzwängen einer technischen Zivilisation verschärft sich die Frl!-ge nach gesellschaftlichen Bedingungen der Beherrschung von Technik.

II. Die Frage nach der Beständigkeit und Verständlichkeit, der Deutlichkeit und Verbindlichkeit des "Sinngehalts" sozialer Gestaltung führte von der "verstehenden Soziologie" Max Webers zur Institutionenlehre Arnold Gehlens, der immer wieder darauf hinwies, daß die Dynamik der westliChen Industriegesellschaft sich nur vor dem Hintergrund institutioneller "Selbstverständlichkeiten" entwickeln konnte. Doch gerade die institutionelle 9 10

So der Beitrag von J . C. Papalekas, in: Freyer u. a. 1965. So der Beitrag von Friedrich Jonas, in: Freyer u. a . 1965.

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"Hintergrundserfüllung" der industriellen Moderne scheint heute strukturell wie kulturell entsichert. 11 Auf strukturelle Brüche verweist die Problemformel "Krise der Arbeitsgesellschaft"; kulturelle Krisen spiegeln sich auch in den Befunden empirischer Sozialforschung zur Dynamik "gesellschaftlichen Wertwandels". Im Sinne Max Webers, der immer wieder an das institutionelle Ethos der industriellen Rationalität appelliert hat, richtet sich soziologisches Interesse bewußt auf den "Sinngehalt" und die "Kulturbedeutung" industrieller Rationalität. Praktisch stellt sich damit die Frage, wie der ,,Sinngehalt" gesellschaftlicher Gestaltung zu interpretieren, zu stabilisieren, zu aktivieren oder auch zu kritisieren ist. Institutionelle Entsicherung ist gewiß auch auf eine kommunikative Kultur der "Dauerreflexion" und "Fundamentalproblematisierung" rückführbar. Im Sinne der von Helmut Schelsky schon 1956 aufgeworfenen Frage nach der "Institutionalisierbarkeit von Dauerreflexion" wird es heute neu darauf ankommen, "kommunikative Kompetenz" mit "institutionellem Ethos" zu vermitteln. Unter Reflexionsdruck kamen gerade die klassischen Muster institutioneller Verbindlichkeit wie "Religion", "Nation" und "Tradition": Die Bewußtheit solcher Institutionen wird zum Horizont, in dem wir uns als "Person" neu verstehen und verständigen können. "Religion"- als die kulturelle Grundfigur bindenden und verbindlichen Sinns - kommt nach Schelsky in der Moderne unter den Reflexionsdruck institutionalisierter Dauerreflexion. Sinn konstituiert sich nun in offenen Suchprozessen kultureller Selbstverständigung. Max Weber forderte entsprechend eine prinzipielle Wertfreiheit verstehender Soziologie, die sich für wechselnde "Kul~urbedeutungen" einer sich wandelnden Wirklichkeit offen hält. "Nation" stand klassisch für die verbindliche Verbundenheit durch gemeinsame Herkunft, deren Geschichte wir als Schicksalsgemeinschaft teilen. Auch diese scheinbar "naturale" Rückgebundenheit an einen tragenden Grund der Herkunftswelt bricht sich an einer heute durch weiträumige Mobilität und Migration in Bewegung kommenden Weltgesellschaft. 12 Vgl. dazu Wolfgang Lipp, Institution und Veranstaltung, Berlin 1968. J. C. Papalekas thematisierte die Spannung von nationaler Identität und industriegesellschaftlicher Integration am Beispiel der "Ausländerfrage" auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Vgl. dazu J. C. Papalekas (Hg.), Die Ausländerfrage. Gastarbeiter im Spannungsfeld von Integration und Reintegration, Herford 1983 und Ders. (Hg.), Kulturelle Integration und Kulturkonflikt in der technischen Zivilisation, Frankfurt u. a. 1989. Zur institutionellen Bedeutung nationaler Identität arn Beispiel Griechenlands vgl. auch seine Stellungnahmen zur Situation Griechenlands in der Europäischen Gemeinschaft und zur "Zypernfrage" (1987). 11

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Den institutionellen Wandel im Begriffsfeld Nation markierte an der Schwelle der bürgerlichen Moderne das neue Leitbild des ,.Patrioten", der sich vom ,.Untertanen" des damals herrschenden Systems emanzipierteohne jedoch in ein institutionell bodenloses "Weltbürgertum" abzuheben. Der "Patriot" verstand sich in der Spannung zwischen dem naturalen Boden von Heimat und Herkunft und dem "offenen Himmel des Gemeinsinns", wie Friedrich Schiller es formulierte. Der "Patriot" sah sich verantwortlich für die Verhältnisse öffentlichen Lebens, für deren soziale Gestalt und deren Sinngehalt er in aller Offenheit und Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen wollte. In der Figur des "Patrioten" sollte die institutionelle Balance von Verbindlichkeit und Offenheit personal Gestalt gewinnen. Auf der Schwelle der Europäischen Moderne wurde patriotisches Engagement sinnenfällig im idealisierenden Rückgriff auf die bürgerliche Öffentlichkeit der klassischen Polis. 13 Heute würdigen wir die hier Ieitbildhaft beschworenen "inneren Kräfte" eines "vaterländischen Gemeingeistes" als institutionelles Engagement. So richtet soziologische Institutionenlehre ihr besonderes Interesse auf öffentliches Leben und öffentliches Handeln, wie es in den Institutionen von Politik und Verwaltung, in nationaler Verfassung und internationalem System verbindlich Gestalt gewinnt, wobei institutionelles Engagement sich weniger über die Eindeutigkeit gemeinsamer Herkunft als durch die Verantwortung für offene Zukunft findet und bindet. "Tradition" als klassische Programm- und Problemformel institutionellen Denkens gewinnt gleichfalls im Modernisierungsprozeß neue Bedeutung: es geht nicht mehr um die vorbehaltlose Festschreibung des Überkommenen als um die Vermittlung und Übersetzung eines durch kulturelles Erbe aufgegebenen Vermächtnisses in den Horizont offener Zukunft. "Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen" - diese ,Faust'Formel Goethes signalisiert eine Akzentverschiebung im Verhältnis von Herkunft und Zukunft, die vorausweist auf den gesellschaftlichen Wertwandel im Spannungsfeld der Leitbilder von "Ehre" und "Engagement": Tradi13 "Das Land der Griechen mit der Seele suchend" erkannte die deutsche Klassik in den "altgriechischen Tugenden und Gefühlen" die "inneren Kräfte" einer geglückten Verbindung von friedlichem Gemeinwesen mit freiem Bürgertum. So verwies der deutsche Aufklärer Wieland in seiner Programmschrift "Über deutschen Patriotismus" auf "die große und schöne Stadt Athen, die (.. .) durch ihre geselligen und menschenfreundlichen Sitten ihrer Bürger, das Herz, der Mittelpunkt und der gemeinsame immerwährende Versammlungsort aller Griechen war(. .. ) und wiewohl das Privatinteresse unaufhörlich an dem gemeinschaftlichen Bande nagte,( .... ) es unbegreiflich und ein wahres moralisches Wunder wäre, wenn ein so großer, aber aus äußerst ungleichartigen und schwach zusammenhängenden Teilen bestehender Staatskörper, ohne jene mächtigen innern Kräfte und verbindenden Ursachen, von Einem vaterländischen Gemeingeiste beseelt, zusammengehalten und geleitet werden sollte." Christoph Martin Wieland, Über deutschen Patriotismus. Betrachtungen, Fragen und Zweifel. In: Neuer Deutscher Merkur 1793. Neudruck in: Horst Günther (Hg.), Die Französische Revolution 1985, 570-582, Zitat 574.

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tion bleibt nur lebendig, wenn sie immer wieder neu durch personales Engagement gefüllt und erfüllt wird. Mit gutem Grund findet soziologische Institutionenlehre damit einen zentralen Bezugspunkt im Begriff der "Person".

III. Moderne Institutionen gewinnen ihre Verbindlichkeit in den sozialen Halten und inneren Kräften des Personalen. "Persönlichkeit"- als moderner Entwurf institutionell gebundenen Lebens - bedeutet in diesem Sinne die Bereitschaft, sich durch institutionell auf Dauer gestellte Selbstverständlichkeiten und Verbindlichkeiten tragen und bewegen zu lassen und so über sich selbst hinauszuwachsen in größere Horizonte institutioneller Verantwortung. In seiner ,,Sozialpsychologie" beschreibt Arnold Gehlen, wie im Zuge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Funktionsspezialisierung "die Persönlichkeit, von den verschiedenen Apparaturen aufgesogen, zu einem Restbestand, einem ,residuum personale' verblaßt." 14 Doch nicht nur Institutionen bedürfen der "Persönlichkeit" in dem "schwer beschreibbaren Sinne der Geltung des qualitativ Ungewöhnlichen"; auch die Person muß, um über sich hinauszuwachsen, in der tragenden und bewegenden Kraft des Institutionellen ihren Rückhalt finden. Quer zu den Routinen der technischen Zivilisation stellt sich die Frage nach der Kompetenz und dem Engagement industrieller Führung. Nur zu oft vermißt Gehlen hier den "Über-Routinier" personaler Verantwortlichkeit, der "sich über die Routine erhebt, indem er sie durchstößt, indem er sie beherrscht." 15 Damit wird in der industriellen Zivilisation die personale Einlösung von institutionellem Engagement zum neuen Schlüsselproblem. "Aber es ist sehr schwer, eine Leistung persönlichen Stils, die Treuepflicht zu außerrationalen Werten, die geschichtlich uns zugeschobene Verantwortung, Motive feinerer Rücksicht und qualitativen Takts im rationalen Funktionieren selbst zum Ausdruck zu bringen." Gefordert sind vielmehr die außergewöhnlichen (die Soziologie spricht von "extra-funktionalen") Kompetenzen, welche den funktionellen und konventionellen Rahmen durchbrechen: "Das Wesentliche einer dauerhaften Institution ist ihre Überdeterminiertheit: sie muß nicht nur im nächsten und praktischen Sinne zweckmäßig und nützlich sein, sie muß auch Anknüpfungspunkt und Verhaltens-Unterstützung höherer Interessen sein,ja den anspruchsvollsten und edelsten Motiva14 15

Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Harnburg 1957, 113. Gehlen 1957: 115.

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tionen noch Daseinsrecht und Daseinschancen geben: dann erst erfüllt sie die vitalen, aber auch geistigen Bedürfnisse der Menschen nach Dauer, Gemeinsamkeit und Sicherheit- sie kann sogar etwas wie Glück erreichbar machen, wenn dieses darin besteht, im Über-sich-Hinauswachsen nicht alleine zu bleiben." 16 IV.

Institutionelles Denken: das bedeutet heute die Bereitschaft, über seine beruflichen und privaten Belange hinaus auch in Fragen des bindenden und bewegenden Sinns überzeugend und verbindlich Rede und Antwort zu stehen. Gefordert bleibt institutionelles Engagement dann als öffentliche Verantwortung, die sich bewußt den Spannungen und Brüchen einer Gesellschaft stellen will. Gerade im Bewußtsein solcher "Brüche" gilt es, "Brücken" zu bauen; nur wer sich durch Verbindlichkeit bindet, kann Offenheit riskieren: "Wer freiheitliche Haltungen nachhaltig fördern will, muß Vertrauen gewinnen, nicht betreuen wollen, muß eine Atmosphäre der Offenheit schaffen, nicht aber der dogmatischen Belehrung. Die Tragfähigkeit einer Dialogbrücke steht und fällt mit der intellektuellen Redlichkeit und Toleranz bei aller Härte der Auseinandersetzung und sie steht und fällt mit dem Stil in der persönlichen Begegnung. Persönliche Wahrhaftigkeit und der Glaube, das Richtige zu tun, macht damals wie heute nicht den Unterschied zwischen ,geschlossener' und ,offener' Gesellschaft aus. Aber dieser Glaube und diese Wahrheitsgewißheit führen zwangsläufig zu Unterdrückung anderer, wenn in einem politischen Gemeinwesen das Richtmaß nicht die Unverfügbarkeit des einzelnen ist, seine Freiheit, anders sein und denken zu können als andere. Wer dieses Richtmaß anerkennt, muß sich den Regeln und Institutionen unterwerfen, die es sichern. Sonst wird der Gegner zum Feind." 17 16 Gehlen 1957: 116. Diese These gewinnt ihre Tiefe auf dem von Gehlen anschließend skizzierten gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund: "Die Folge der Entgliederung der Gesellschaft im Industriezeitalter ist der Ersatz der Institutionen durch Organisationen, die allgemeine Enthemmung des Zwecksetzens und damit die ungemeine Ausdehnung der Willkür: wer im Gegeneinander und Durcheinander der Kraftfeststellungen die Oberhand erhält, setzt seinen Einfall durch und zwar mit einer unwahrscheinlichen Wirksamkeit; daher das Zickzack bei gesteigertem Tempo." 17 So Helmut Eberspächer, in: Hanns Martin Schleyer-Stiftung (Hg.), Mahnung und Verpflichtung. Hanns Martin Schleyer. Gedenkfeier und Ansprachen zum 10. Todestag, Köln 1987/88: 12. Institutionelles Engagement bewährt sich somit gerade in der Offenheit der Auseinandersetzung widerstreitender Interessen. Das bestimmt in einer freien Wirtschaft auch die Konfliktpartnerschaft der industriellen Tarifparteien. Dazu der Präsident der industriellen Arbeitgeberverbände Otto Esser bei seiner Gedenkrede 1987 für Hanns Martin Schleyer: "In aller Zeit wird die Existenz freiheitlicher Gesellschaften darauf

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Institutionelles Engagement, das bedeutet in einer Zeit "bewegter Geschichte" auch die Bereitschaft, Farbe zu bekennen und seinen Kopf hinzuhalten, um die eigene Überzeugung institutioneller Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit auch gegen einen anders ziehenden Sog der Zeit deutungs- und handlungsfähig zu halten. Dies fordert ein Ethos des Standhaltens, zugleich aber auch die Fairness des offenen Visiers. Die "inneren Kräfte" des engagierten Einsatzes der Person sind heute in allen Feldern gesellschaftlicher und öffentlicher Verantwortung, in Politik und Kultur, Wirtschaft und Verwaltung und gewiß auch in Lehre und Forschung neu gefragt, - nennen wir es "Charisma", "Verantwortungsethik" oder "Zivilcourage". So beantwortet auch Gehlen die Frage nach den tragenden Institutionen der industriellen Gesellschaft mit dem Hinweis auf das institutionelle Potential "Persönlichkeit": "Wenn wir den Begriff der Persönlichkeit ,cum emphasis' denken, als die eigentlich bewundernswerte Produktivität, so findet sich diese in unserer Zeit (.... ) da, wo es einer unternimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat selbst zur Geltung zu bringen, sich also gerade nicht von ihm zu distanzieren. Wer die Kraft und die Erfahrungsgabe hat, den feineren und versehrbaren Werten die Unterstützung gerade des massiven Alltags zu erwirken, wer die Geistesstärke hat, die Situationen, gerade die alltäglichen ( ... ) in all ihren Qualitäten zu vernehmen: der hat oder ist Persönlichkeit im spezifischen Sinne.(.. .. ) In erster Linie ist es heute die Fähigkeit, aus sich selbst heraus in seinem Handeln mehr Motive auszudrücken, als notwendig wäre, als erwartet wird, als die anderen tun.(... ) Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall." 18 V. Das Leitthema des Bochumer Symposions "Institution und technische Zivilisation" findet seinen theoretischen Bezugsrahmen in der Frage nach der wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlichen Ortsbestimmung "institutionellen Bewußtseins in den Sozialwissenschaften" (Lipp). Perspektiven beruhen, daß es möglichst viele Menschen aus allen Lebensbereichen gibt, die über den beruflichen Wirkungskreis hinaus sich dem Gemeinwesen verpflichtet fühlen und entsprechend handeln. Es bleibt beispielhaft Schleyers Umga ng mit dem gewerkschaftlichen Partner. Offen, fair, fest in der Haltung, entschlossen in der Wahrung essentieller Positionen, aber gleichzeitig überzeugt von der Existenznotwendigkeit und Existenzberechtigung des Partners und damit immer auf einem gemeinsamen Boden bleibend. Die freie Gesellschaft der Zukunft wird davon abhängen, daß Sozialpartnerbeziehungen, wie sie auch im einzelnen gestaltet sein mögen, von einem solchen Geist geprägt bleiben. ( ... ) Festigkeit, Toleranz und Tapferkeit sind für die Bewahrung und Entwicklung unseres Gemeinwesens unverzichtbare Tugenden und werden es bleiben." 18 Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter 1957, 11 8. 2 Symposion

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einer soziologischen Umsetzung von Fragen der Institutionenlehre eröffnen sich mit der Einschätzung der Wirkungen gesellschaftlichen Wertwandels auf institutionelles Engagement (Klages). Als praktische Felder institutioneller Verantwortung zu würdigen sind die klassischen Institutionen von Staat und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies demonstrieren die Stellungnahmen zum institutionellen Ethos in Religion und Kirche aus griechisch-orthodoxer (Kallis) und römisch-katholischer (Sternemann) Sicht. Es folgen Analysen zur institutionellen Gestalt öffentlicher Verantwortung, zur Verbindlichkeit ihrer rechtlichen Gestaltung (Kimminich), zur öffentlichen Selbstdarstellung moderner Staatlichkeit (Ronneberger) und zur Sicherung von Entwicklung und Frieden durch internationale Systembildung (Ferraris). Den gesellschaftlichen Führungsanspruch der institutionalisierten Repräsentation kultureller Wertbindungen (durch die" Weltverantwortung" der Kirchen) oder sozialwirtschaftlicher Interessen (durch das gesellschaftliche Mandat der Gewerkschaften) diskutiert der Beitrag von Friedrich Landwehrmann. Führung und Verantwortung im Rahmen institutioneller Selbstbindung durch Wirtschaftsethik und Organisationskultur untersuchen im Bezug auf die industrielle Praxis moderner Unternehmensführung die Beiträge von Marion Hüchtermann, Winfried Schlaffke und von Paul Gert von Beckerath. Das im Bewußtsein der institutionellen Dynamik gesellschaftlichen Wandels immer wieder neu geforderte institutionelle Engagement führt die Sozialwissenschaft zur selbstkritischen Besinnung auf die Traditionen "institutionellen Denkens". Darauf zielt der Beitrag von Bernard Willms mit programmatischem Rückgriff auf Klassiker einer politischen Institutionenlehre: Hobbes und Hege!, Schmitt und Gehlen. Ein soziologischer Bezug institutionellen Engagements zeigt sich in der von Klaus Barheier herausgearbeiteten Spannung von "haltenden Mächten" und "sekundären Systemen" in Hans Freyers Entwurf einer "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft". Moderne handlungs-und gesellschaftstheoretische Perspektiven entdeckt Hans Wilhelm Hetzler im strategischen Denken des Carl v. Clausewitz. Bewußt wird die Schwierigkeit und die Herausforderung, auch im "erschwerenden Mittel" von unwegsamem Gelände, unberechenbarem Gegenüber und unübersichtlicher Zukunft handeln zu müssen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Die Forderung, institutionelles Denken im Bewußtsein der Modernität industrieller Gesellschaften neu zu orientieren, stellte richtungweisend Alexis de Tocqueville. Deutlich wird dies an seinem von Arnold Zingerle herausgearbeiteten Perspektivenwechsel von ständischer "Ehre" zu institutioneller "Verantwortung". Der Rückgriff auf klassische Texte der politik- und gesellschaftstheoretischen Institutionenlehre zielt also auf Selbstverständigung der institutionellen Verantwortung moderner Staatsund Gesellschaftswissenschaft. Dies setzt zugleich den Horizont, in dem die

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"Ehre des Wissenschaftlers" (Justin Stagl) sich als institutionelles Engagement neu verstehen kann. 1. Den theoretischen Bezugsrahmen fand das Symposion in der Vergegenwärtigung der neueren Entwicklung soziologischer Institutionenlehre. Wolfgang Lipps Beitrag "Institution und Veranstaltung. Zurneueren Entwicklung institutionellen Bewußtseins in den Sozialwissenschaften" gibt dazu Zeugnis aus der Betroffenheit eines "institutionell bewußten" Sozialwissenschaftlers. Erörtert wird die Entwicklung moderner Institutionenlehre vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Modernisierungsschübe und Modernisierungskrisen in Deutschland. Gerade auch in der Sensibilität für die institutionellen Folgeprobleme gesellschaftlichen Wandels erweist sich "Soziologie als Krisenwissenschaft": Ihre engagierten Stellungnahmen zu kritischen Schwellen der Moderne trieb die Institutionenlehre immer wieder in wissenschaftstheoretische wie ideologiepolitische Auseinandersetzungen. Lipp belegt dies an den Spiegelungen und Brechungen institutionellen Denkens in der deutschen Sozialwissenschaft.

2. Vor dem Hintergrund der in letzter Zeit zu beobachtenden Schübe und Brüche gesellschaftlichen Wertwandels, wie sie die Untersuchungen von Helmut Klages herausarbeiten konnten, macht dessen Beitrag "Gesellschaftlicher Wertwandel und institutionelles Engagement" deutlich, daß moderne Ansprüche auf "Selbstverwirklichung" die Verbindlichkeit von institutionellem Engagement nicht ausschließen müssen. Solche Spannung führt zu Sinnfragen, die im öffentlichen Leben wie im privaten Alltag neu auszuhandeln sind. Dazu können die von Klages vorgestellten Analysen gesellschaftlichen Wertwandels deutlich machen, daß die harte Konfrontation von materialistischen und post-materialistischen Werten, von Pflichtgefühl und Selbstverwirklichung das Wertspektrum moderner Gesellschaften nur bedingt abbilden. Vielmehr erscheinen im Blickfeld empirischer Wertforschung heute eher Profile der "Wertmischung" und der "Wertsynthese". Auch die engagierte Selbst-Bindung an Pflichten und Verantwortungen kann sich als Verwirklichung personaler Selbst-Konzepte realisieren. In seiner Erörterung des Forschungsstandes der empirischen Wertforschung im Bezug auf das Erkenntnisinteresse einer soziologischen Institutionenlehre wird deutlich, daß der Wandel von Wertorientierungen heute bis in die Tiefendimension der "regulativen Werte" gesellschaftlicher Sinnbildung zu beobachten ist. Dazu verweist Klages auf eine offensichtliche Schwächung und Brechung der traditionellen Wertmuster, wie sie in den Institutionen hoher Verbindlichkeit, Verständlichkeit und Beständigkeit ihre Prägung gewannen und lange als "haltende Mächte" gegenüber "sekundären Systemen" wirksam blieben: die selbstverständliche Bereitschaft, Forderungen und Erwartungen der Gemeinschaft einzulösen und auszufüllen.

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Gegen die institutionelle Verbindlichkeit der primären Netze wie der sekundären Systeme rebelliert eine im Modernisierungsprozeß sich bewußt werdende Subjektivität, deren Reflexionsdruck in den traditionellen Institutionen nur bedingt noch aufgefangen wird. Die von A. Gehlen als die ,Revolte der Subjektivität' auf den Begriff gebrachte Krise traditioneller Selbstverständlichkeiten führt zu einem neuen Typus der Konstitution handlungswirksamer Bewertungsgrundlagen. Die soziozentrische Verbindlichkeit der älteren Gemeinschaftswerte, die sich zunächst noch fraglos in die modernen Loyalitäts- und Funktionserwartungen der Organisationsgesellschaft übersetzen ließen, kommen nun in Spannung zu einem neuen Typus "autozentrischer" Sinnbildung: Im Unterschied zur moralischen Kategorie der "Egozentrik" bedeutet der neu eingeführte Terminus der "Autozentrik" ein modales Konzept: "Selbstverwirklichung" kann also durchaus mit der Bereitschaft zu Opfer und Hingabe verbunden sein - wenn nur gewährleistet ist, daß solch institutionelles Ethos gesteuert ist im Horizont der Besinnung des Subjekts auf eigenen Sinn. So haben wir es mit einem neuen Typus der Institutionalisierung zu tun: der Möglichkeit für institutionell engagiertes verantwortliches Handeln gerade die Potentiale der Subjektivität zu mobilisieren. Die in der Praxis moderner Organisationsentwicklung heute wirksamen Prozesse einer "Institutionalisierung von Subjektivität" bedeuten somit, daß das moderne Bedürfnis nach Selbstverwirklichung eben nicht aus der Organisationsgesellschaft emigrieren muß in alternative Asyle des Ausstiegs. Vielmehr gilt es, die großen Institutionen der Organisationsgesellschaft so zu entwickeln, daß in ihnen institutionelles Engagement den Raum und den Rahmen findet, sich - gesteuert durch institutionell selbstbewußte Verantwortungsethik selbst zu verwirklichen. 3. Die Frage nach der "Authentizität" institutionellen Engagements weist zurück in theologische Traditionen der Besinnung auf die bindende und bewegende Kraft gelebten Glaubens. Der Beitrag des griechisch-orthodoxen Theologen Anastasios Kallis zum Thema "Institution und Gemeinschaft. Überlegungen zu Autorität und Authentizität in orthodoxer Sicht" verdeutlicht ein in der Orthodoxie als institutionelles Ethos lebendig gebliebenes "urkirchliches" Gemeinschaftsdenken. Bis heute konnte der mystische Rückhalt kirchlicher Autorität und Authentizität sich moderner Rationalisierung und Funktionalisierung entziehen. Anders als die in der weströmischen Kirche sich durchsetzende hierarchische Autorität des Lehramts und die scholastische Durchrationalisierung des Lehrgebäudes bekennt sich die pneumatisch-charismatische Ekklesiologie der Orthodoxen zu einem Wahrheits begriff, der seine Authentizität findet im gelebten Glauben der Gemeinde und sich so der Rationalisierung und Dogmatisierung durch lehramtlich autorisierte Theologie verweigern kann. Gerade der bewußt gesuchte Ab-

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stand zur modernen Welt und zum modernen Denken erscheint dann als Bedingung institutioneller Bewahrung. 4. Aus römisch-katholischer Sicht erweist sich die institutionelle Bewährung des Glaubens in der Herausforderung zu christlicher Weltverantwortung. Dies zeigt der Beitrag von Wilhelm Sternemann. Aus der Praxis seines Engagements in der kirchlichen Seelsorge im industriellen Ballungsraum Ruhrgebiet macht Prälat Sternemann deutlich, wie die katholische Kirche sich immer wieder gefordert sah, auf den hilfe-und ratsuchenden Menschen in seinen Alltagsfragen zuzugehen. Dies galt für die sozialen Fragen materieller Verelendung in der Industrialisierungsphase wie für das geistige Elend der sich heute in der späten Moderne verschärfenden Sinnkrisen. 5. Der Auftrag zu christlicher Weltverantwortung wird dann allerdings zur Frage nach der Autorität und der Legitimität gesellschaftlich organisierter Interessen im öffentlichen Leben. Friedrich Landwehrmann stellt diese Fragen für das politische Mandat von Kirchen und Gewerkschaften. Er verweist dazu auf das in der protestantischen Zwei-Reiche-Lehre systematisch angelegte Trennungsdenken, wie es im Modernisierungsprozeß mit der Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme institutionell wirksam wurde: Kirche und Staat, Kultur und Arbeit. Damit wurden zugleich Systemgrenzen institutioneller Kompetenz gesetzt, die Landwehrmann gestört und gefahrdet sieht, wenn kirchliche Weltverantwortung sich zum diffusen Führungsanspruch- auch für politische oder ökonomische Strukturfragen -weitet. Das Problem der Grenzverletzung sieht Landwehrmann auch bei anderen Instanzen gesellschaftlicher Verantwortung- etwa bei den Gewerkschaften, wenn diese ihr funktional begrenztes Mandat zur Interessenvertretung im System Arbeit im Sinne eines kulturellen oder politischen Führungsanspruchs überziehen und damit gleichermaßen Gefahr laufen, daß in ihrer funktionalen Zuständigkeit für die Sozialökonomik der Arbeit die Profile und Fronten unscharf werden. 6. Institutionentheoretische Bezüge der Rechts- und Staatswissenschaften werden vorgestellt durch den Regensburger Verfassungsrechtier Otto Kimminich. Seine Erörterung der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung von "Institutionen in der Rechtsordnung" -demonstriert zugleich den unterschiedlichen Zugriffvon Rechts- und Sozialwissenschaften aufinstitutionelle Fragen. Für die Rechtswissenschaft kristallisiert sich institutionelles Denken in dem verfassungsrechtlichen Konstrukt der "institutionellen Garantie" der Grundrechte im Sinne der Gewährleistung ihres institutionellen Rahmens. So wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit gesichert durch die Einrichtungsgarantie einer freien Presse, so wird das Grundrecht des Eigentums gestützt durch entsprechende privatrechtliche Sicherungen des Geschäftsverkehrs.

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Grundsätzlicher greift institutionelles Denken in der Würdigung des Rechts als "Institution". Während eine engere Auslegung sich auf das äußerliche "Gehäuse" der juristischen Regelwerke als "prozeßsteuernde Institutionen" konzentriert, fragt eine tiefere Sicht nach dem in rechtlicher Gestaltung zum Ausdruck kommenden Sinngehalt. Max Webers "verstehende Soziologie" sprach hier von der "Kulturbedeutung" institutionalisierter Daseinsformen. Entsprechend ist auch die institutionelle Bedeutung des Rechts als "Kulturprodukt" zu würdigen. Gelten Institutionen jedoch als Produkte menschlicher Entscheidung und Gestaltung, stellt sich die Frage nach den jeweils strukturbildenden Maßstäben und Grundlagen. Diese müssen in einer zusammenwachsenden Welt und der sich damit vollziehenden Globalisierung auch des Rechts kulturübergreifend nachvollziehbar und anerkennbar sein. Bewußt wird zugleich die Spannung zwischen dem Gebot der Sicherheit des Rechts und der Steuerbarkeit gesellschaftlichen Wandels. Kimminich verweist in diesem Zusammenhang auf die völkerrechtliche Programmformel des "friedlichen Wandels" als Ausdruck eines Bewußtseins, das erst das Recht im sozialen Wandel die Verantwortung des Handeins sichert. Als entscheidende Institution, die Wertbindung des Rechts auch bei sozialem Wandel verbindlich zu halten, würdigt Kimminich das Bundesverfassungsgericht und den Bundesgerichtshof. Lebendig bleibt rechtliche Ordnung jedoch nur, wenn ihr Sinngehalt im "Rechtsbewußtsein" der Bürger seine "innere" Verankerung findet, also in jener institutionellen Sphäre, wie sie klassisch Hegels Rechtsphilosophie als ,,Sittlichkeit" auf den Begriff brachte. 7. Die Repräsentation des Anspruches auf institutionelle Verbindlichkeit findet Ausdruck in der öffentlichen Selbstdarstellung des modernen Staates als "Institution". Doch gerade im Bereich der Institutionalisierung öffentlicher Macht und öffentlicher Verantwortung verweisen aktuelle Diskussionen auf die Gefahr einer schleichenden "Deinstitutionalisierung". Der Beitrag des Politik- und Kommunikationswissenschaftlers Franz Ronneberger verweist dazu auf den Wandel der öffentlichen Selbstdarstellung öffentlicher Verantwortung in der öffentlichen Meinung: Dabei geht er von der These aus, daß der Modernisierungsprozeß industrieller Gesellschaft auch eine institutionelle Transformation des Staates zur Folge hatte. Mit einer sozialen Politik wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge sind zugleich die Relationen des Bürgers zum Staat komplexer geworden, hat sich einerseits die Abhängigkeit des Bürgers von der Leistungsfähigkeit und der Leistungsrichtung staatlicher Verwaltung vergrößert, ist zugleich aber auch der moderne Staat von der Akzeptanz- und Toleranzbereitschaft des Bürgers abhängiger geworden.

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Die Regulierung und Balancierung des wohlfahrtsstaatliehen Gleichgewichts ist nicht nur eine Organisationsfrage technokratischen Arrangements, sondern ein Problem der Institutionenlehre. So kommt es in der politischen Öffentlichkeit nicht nur darauf an, den Wohlfahrtsstaat als funktionstüchtiges Organisationssystem zu stabilisieren, Legitimität entscheidet sich vielmehr an der Fähigkeit der staatlichen Institutionen, den "Sinn" ihrer - zunehmend tiefer in die soziale Gestalt gesellschaftlicher Lebensverhältnisse eingreifenden Entscheidungen - deutlich zu machen. Insofern ist die wohlfahrtsstaatliche Aktivierung einer "wachsenden Staatstätigkeit" verbunden mit einer tiefgreifenden Demokratisierung immer weiterer Handlungs- und Entscheidungsfelder. Erst jetzt wird Öffentlichkeitsarbeit zum Politikum. Rannebergers Beitrag verweist dabei auf vielfältige Interferenzen und Brüche, etwa bei der Konfrontation von Selbstdarstellungen öffentlicher Verwaltung und der journalistisch vermittelten Problemwahrnehmung der öffentlichen Meinung. Zwischen beiden Instanzen gibt es Schwierigkeiten und Berührungsängste, die zu überwinden sind, wenn der moderne Staat mit dem Anspruch Ernst machen will, sich mit seiner jeweils handlungsleitenden institutionellen Idee der Öffentlichkeit stellen zu wollen. 8. Die von soziologischer Institutionenlehre gestellte Frage nach der Möglichkeit, über die Verständigung auf "inneren Sinn" gesellschaftliche Identität und Solidarität, Aktivität oder auch Stabilität verbindlich zu machen, stellt sich im Weltmaßstab für das System der internationalen Politik. Eine Antwort gibt der Beitrag des italienischen Diplomaten und Völkerrechtlers, des früheren Botschafters Italiens in der Bundesrepublik Deutschland, Staatsrat Graf Luigi Vittorio Ferraris zu den "Institutionen in der internationalen Politik". Ausgangslage ist, daß mit der Aufhebung der alten Fronten im System der internationalen Politik auch die dadurch gesetzten Leitlinien internationaler Sicherheit in Bewegung kamen. Im komplexen Spannungsfeld internationaler Konflikte, Konkurrenzen und Koexistenzen gewinnen zugleich neue Erwartungen und Bewertungen einer wechselseitigen Absicherung friedlicher Entwicklung institutionelle Kraft. In seinem - noch im Vorfeld der dramatischen Verschiebungen in Osteuropa und in der Golfregion verfaßten-Beitrag weist Ferraris darauf hin, wie sich insbesondere die im "nuklearen Gleichgewicht" durchgesetzte Aufteilung der Weltherrschaft in der Ost-West-Konfrontation der Systeme durch Veränderungen der militärischen Machtverhältnisse und durch die innere Dynamik friedenspolitischer Bewegung zu verändern begann. So stieß eine sich wechselseitig steigernde Eskalation nuklearer Hochrüstung auf Grenzen ihres Wachstums: auf die ökonomischen Grenzen der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auf die militärischen Grenzen einer

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globalen Kontrollierbarkeit regionaler Konflikte und schließlich auf moralische Grenzen der Legitimierbarkeit nuklearer Machtbildung. Das Paradox des Nuklearzeitalters, daß allein das Gleichgewicht des Schreckens die Schrecken des Krieges verhindern soll und so der nukleare Schirm zum institutionellen Garanten eines Ewigen Friedens werden könne, kann immer weniger noch überzeugen. Jenseits der Vereinfachungen durch die Doktrinen des "kalten Krieges" erscheint das internationale System heute beweglicher, unübersichtlicher aber auch "offener". Eine Politik der sicherheitspolitischen Verantwortung wird so immer schwieriger zu steuern sein. Mit der Erosion der nuklear verfestigten Blöcke und Pakte kommt es im Sinne weltpolitischer Stabilisierung und Balancierung zu neuem Regelungsbedarf. Gefordert wird der Ausbau komplexerer Verhandlungssysteme und Verständigungsformen, neue Ebenen des Arrangements, um "friedlichen Wandel" nun aufinstitutionell neuem Niveau sichern zu können. 9. Auch in anderen Feldern, wo durch technische Innovation und Mutation soziale Verhältnisse in Bewegung kommen, ist institutionalisierte Steuerung und Verantwortung neu gefordert. Dies zeigen die Beiträge aus dem Praxisfeld industrieller Arbeit. Im Bereich der industriellen Produktion präsentieren sich die institutionellen Verbindlichkeiten der Industriegesellschaft als Ethos von Unternehmensführung, als soziales Management und als Kultur der Organisation. Der Beitrag von Paul Gert von Beckerath spricht dazu aus der Verantwortung für das Personalmanagement in einem Großunternehmen in der chemischen Industrie. Über die historische Rekonstruktion der Ausbildung einer eigenständigen Personalfunktion in der Unternehmensorganisation macht von Beckerath deutlich, daß die Arbeitskraft des Menschen nicht nur als Produktionsfunktion zu sehen ist, sondern die Idee des "Mitarbeiters" auch seinen institutionellen Rahmen findet in einer Sozialgestalt, die dem Sinngehalt einer humanen Organisation der Arbeit Ausdruck gibt. Als frühe Zeugen für das Interesse einer Humanisierung der Arbeitswelt wird nicht nur der Utopist Robert Owen zitiert, sondern auch der soziale Kapitalist Friedrich Krupp, der im Regulativ von 1872 mit der Organisation der Produktion eine "Assistenz" der Arbeiter zu verbinden suchte, die damit beauftragt war, im Interesse einer Humanisierung der Arbeitsverhältnisse die Belange und Bedürfnisse der Arbeiter zu vertreten. Auch wenn solche Arbeiter-Vertretung eher patriarchalisch verfügt als partizipativ rückgebunden schien, bedeutete die in die Organisation der Arbeit eingebaute Position einer "Assistenz" der Arbeiter einen ersten Schritt zur Institutionalisierung eines eigenständigen Personal- und Sozialwesens im Industriebetrieb.

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10. Eine neue institutionelle Bewußtheit der Unternehmensführung spiegelt sich auch in einer heute engagiert geführten Auseinandersetzung um neue Konzepte von Führungsstil und Unternehmenskultur. Deren praktische Relevanz unterstreicht der Beitrag von Winfried Schlaffke und Marion Hüchtermann. Dabei kann die praktische Verwendung theoretischer Konzepte auch der Theorieentwicklung neue Impulse geben, etwa in dem Sinne, daß alte Begriffe im Horizont neuer Verwendungszusammenhänge sich spiegeln und mit neuer Bedeutung sich aufladen. So kann die verfremdende Kombinatorik von "Kultur" und "Organisation" nicht nur die Theorie der Kultur, sondern auch die Forschung über Organisation zu neuen Wegen einladen. Auf der Suche nach funktionstüchtigen Momenten verlagert sich der Blick von der organisatorischen "Hardware" (Produktions-, Organisations- und Kommunikationstechniken) auf die "Soft-Facts" des kommunikativen Stils und der kulturellen Gestalt. Der moderne Manager erscheint dann als "Konstrukteur" der sozialen Wirklichkeit des Unternehmens: er versteht sich über den Auftrag, in die Beobachtung aber auch in die Gestaltung organisierter Wirklichkeit theoretisch und praktisch ,,System" hineinzubringen. Diese konstruktive Aktivität der Strukturgestaltung und der Systembildung findet ihren Niederschlag auch in den systembildend wirksamen Deutungsmustern, Leit- und Weltbildern einer lebendigen Unternehmenskultur. 11. Die praktische Relevanz von Fragestellungen und Forschungsinteressen der soziologischen Institutionenlehre gibt guten Grund, sich auf den theoretischen Bezugsrahmen institutionellen Denkens im Rückgriff auf seine Klassiker neu zu verständigen: "Institutionelles Denken" als Programmformel eines wissenschaftlichen Realismus kann sich berufen auf die klassischen Perspektiven von Hobbes und Hegel. Diese programmgeschichtliche Linie zieht der Beitrag von Bernard Willms, der zugleich in den im Titel angesprochenen Figuren Grundmuster politischen Denkens zu verdeutlichen sucht: der ,Großinquisitor' in Schillers "Don Carlos" steht für das Elend einer totalen Herrschaft durch inquisitorische Kontrolle der herrschaftsdienlichen Moral und Ideologie. Demgegenüber steht die literarische Figur des "Cid", der seinen König mit Gewalt unter Druck setzt, "als König" zu handeln, für ein konstruktives Ethos institutionellen Denkens. Das theoretische Fundament findet Willms in der Konstruktion des Leviathan als "institutio institutionum" durch Thomas Hobbes. Als institutionelle Antwort auf den konfessionellen Bürgerkrieg konstruierte Hobbes eine Instanz öffentlicher Macht, die für sich eine Ebene geschichtlicher Wirklichkeit besetzte, gegenüber der dann die konfessionellen Unterschiede

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und moralischen Streitereien sich neutralisieren konnten. Erst dadurch konnten Wertkonflikte als theologischer und moralischer Diskurs in aller Offenheit und Freiheit ausgetragen werden, ohne den institutionellen Rahmen, der allein die Freiheit und Sicherheit des Diskurses gewähren kann, gefährden zu müssen. So sprach Hegel von der institutionellen Qualität moderner Staatlichkeit als einer Gewalt, die stärker ist als alle anderen zusammen und die doch von Menschen gemacht ist, als "Wirklichkeit der sittlichen Idee". Die gesellschaftliche Realität prinzipiell widerstreitender Interessen und Ideen war so anerkannt durch das institutionelle Denken eines politischen Realismus, der die Freiheiten einer offenen Gesellschaft durch verbindliche Rahmenbedingungen zu garantieren suchte. Dagegen steht der oft bequemer erscheinende Kurs eines politischen Fiktionalismus, welcher das schwierige Geschäft der institutionellen Bändigung gesellschaftlicher Konfliktfelder sich dadurch zu ersparen sucht, daß ideologisch oder moralisch von vornherein Konsens unterstellt wurde. Doch gerade die Fiktion des ideologischen und moralischen Konsenses schaffte und sicherte nicht den inneren Frieden, sondern wurde immer wieder zum Freibrief der inquisitorischen Kontrolle und Indoktrinierung Andersdenkender. Bürgerlicher Optimismus der liberalistischen Fiktion vom "guten Menschen" mit konstitutiver Friedfertigkeit und Gutgläubigkeit macht es nur allzu leicht, das Ärgernis institutioneller Ordnung zu leugnen oder zu verdrängen. "Institutionelles Denken" sieht Willms demgegenüber oft durch Mißverständnisse und Vorurteile stigmatisiert: So wird das von Carl Schmitt im "Begriff des Politischen" entwickelte Freund-Feind-Schema nur zu oft im Sinne moralischer Schwarz-Weiß-Malerei mißverstanden. Dabei geht es gerade darum, durch Anerkennung eines Gegners als "Feind" das Feld der Auseinandersetzung institutionell regelbar zu ordnen, ohne entgegenstehende Interessen moralisch abwerten zu müssen. Es geht so gerade nicht um moralische Militanz oder militante Moral, sondern um die institutionelle Ordnung eines vom politischen Realismus als unausweichbares Bezugsproblem eines akzeptierten Spannungsfeldes der Konflikte und Gegensätze. Erst durch diese Ausdifferenzierung des Politischen gegenüber dem Moralischen gewinnt dieses seinen Gestaltungscharakter. Erst jetzt werden Konflikte regelbar, verhandelbar. Nicht die Konsensfiktion vorgeschobener Wahrheiten der jeweils herrschenden Ideen geben den Ausschlag, sondern die institutionelle Autorität, die die Menschen ihren Ordnungen gegeben haben und die das Recht setzen: "Auctoritas, non veritas facit Iegern." Dem politischen Realismus des von Carl Schmitt auf den "Begriff des Politischen" gebrachten institutionellen Denkens entspricht der soziologi-

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sehe Realismus der von Arnold Gehlen als Theorie gesellschaftlichen Handeins ausgearbeiteten Institutionenlehre. Auch hier gibt die Absage an jeden anthropologischen Optimismus die theoretische Ausgangslage, die Möglichkeit der Freiheit im gesicherten institutionellen Rahmen neu zu begründen. 12. Daß soziales Handeln immer auch als ein "Handeln in Institutionen" zu sehen ist, reflektiert der Beitrag von Klaus Barheier in Auseinandersetzung mit der Institutionenlehre Hans Freyers. Ohne den Terminus der ,Institution' programmatisch herauszustellen, kann Hans Freyers "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft", insbesondere die von Barheier herausgearbeitete Entgegenstellung von "haltenden Mächten" und "sekundären Systemen", als institutionelles Denken gewürdigt werden. Für Freyer wird gerade das kulturelle Erbe zur institutionellen Kraft einer Widerständigkeit des Humanen gegen die technisch-organisatorische Vereinnahmung der "sekundären Systeme". Nur dies verspricht, daß die sozialen Folgeprobleme "technischer Mutationen" nicht als ein "Fortschritt im Modus des Scheiterns" (Freyer) die industrielle Zivilisation ans "Ende der Geschichte" treiben. 13. Als Entdeckung eines institutionellen Denkers im Vorfeld moderner Soziologie präsentiert Hans Wilhelm Hetzler die "handlungstheoretischen Elemente bei Carl von Clausewitz". Dessen für den Preußischen Generalstab entwickelte strategische Grundlagen erweisen sich als klassische Orientierung der Steuerung verantwortlichen Handelns. Gerade bei einer in offenen Konfliktlagen geforderten "Bewegung im erschwerenden Mittel", also in komplexen und vielfach kontingenten Konfigurationen erscheint strategisches Führen als Sonderfall der Beherrschung offener Situationen. Es muß entschlossen gehandelt werden, obwohl das Feld unübersichtlich und unwegsam bleibt und der Gegner in seinen Zielen und Kräften schwer einzuschätzen ist. Dennoch muß Handeln riskiert werden, gerade dann, wenn nur durch eine Balance der Kräfte der Frieden zu sichern ist. Fehlende Feldkontrolle fordert ein besonderes Personal- wie Systemvertrauen in diejenigen, denen Führungsaufgaben zu überantworten sind. So soll sich für v. Clausewitz der "kriegerische Genius" durch den Mut auszeichnen, aus einer oft intuitiven Einschätzung der Lage systembildend Konsequenzen zu ziehen und für das Risiko einer nur schwer kontraHierbaren "Bewegung im erschwerenden Mittel" die Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungsbereitschaft und Verantwortungsfreude sind Tugenden, wie sie auch in anderen Bereichen institutioneller Führung gefordert sind. Die Soziologie erkennt in den hier formulierten strategischen Konzepten die Grundlage einer Theorie des "sozialen Handelns", das sich - nach der Formel Max Webers - gleichfalls steuern muß über das "Verstehen des Verhaltens der beteiligten Einzelnen". Bei Clausewitz hieß dies: "Jeder der

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beiden wird auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen." Doch gerade die Unmöglichkeit kontrollierter Beobachtung und kalkulierter Berechnung der Kräfte, fordert für strategische Führung nicht nur visionäre Kraft, sondern auch den Mut, durch riskante Entscheidungen ins Ungewisse hinein auf Wirkung zu zielen. Die gespannte Lage sich entgegenstehender Mächte ist für solche offenen Situationen wechselseitiger Ungewißheit ein idealtypischer Grenzfall, der auch auf andere Konflikt- und Entscheidungsfelder (Konkurrenzkampf, Arbeitskampf, Investitions- und Innovationsentscheidungen) übertragen werden kann. So gibt v. Clausewitz nicht nur die Grundlage einer soziologischen Handlungslehre. Mit seinem Leitbild des "kriegerischen Genius" setzt er zugleich auch den Bezugsrahmen einer institutionellen Führungslehre, welche die außerrationalen Kompetenzen wie Phantasie und Kombinatorik, Risikobereitschaft und Verantwortungsfreude, Überzeugungskraft und Begeisterungsfähigkeit als Voraussetzungen institutionellen Engagements herausstellt. Gerade bei einer "Bewegung im erschwerenden Mittel", also bei großer Unübersichtlichkeit und Ungewißheit, kommt es nach Clausewitz an auf "Urteilskraft" und "Geistesgegenwart", die auch bei einer "gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichts ist." Wirksam werden Visionen aber erst durch die auch andere überzeugende Entschlossenheit, "diesem schwachen Licht zu folgen." 14. Ein Schlüsselproblem institutioneller Modernisierung ist die klassisch von Alexis de Tocqueville reflektierte Spannung von "Ehre" und "Demokratie", wie es der Beitrag von Arnold Zingerle zu aktualisieren sucht: "Ehre" stand im Ordnungsdenken des Alten Europa für die von moderner "Institutionenlehre" neu gefaßte Frage nach der inneren Verbindlichkeit gemeinschaftlicher Bindung und Verbundenheit. Doch gerade die gemeinschaftlichen Bindungen und Ordnungen wurden im Aufbruch gesellschaftlicher Modernität strittig und brüchig. So wurde der Wandel der Gesellschaft auch wirksam als Umwertung der Ehre. Zur Erörterung der Frage, wie ein über die Sprache der Ehre gebundenes Ethos ständischer Gemeinschaft in ein heute neu gefordertes institutionelles Engagement zu überführen ist, machte Alexis de Tocqueville seine Beobachtung der Demokratie in Amerika zur Erfahrungsgrundlage einer historisch-soziologischen Modernisierungstheorie. Mit der analytischen Schärfe und moralischen Klarheit seines prognostischen Blicks verdeutlichte Tocqueville den gesellschaftlichen Wandel der Moderne: Die Beobachtung von Amerika, das sich von den traditionellen Rückhalten des alten Europa hatte lösen können und lösen müssen, gab den Blick frei auf eine nicht mehr traditionsbesetzte Zukunft. Für den Aristokraten Tocqueville wird die "Ehre" zur Chiffre der sich auflösenden alteuropäischen Ordnung. Erst im Horizont der Beobachtbarkeit moderner Muster moralischer Orientierung relativiert sich ständische

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Ehre nun als das Ethos einer in ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Grenzen bewußt werdenden Konstellation: Nicht mehr der ,Krieg', sondern der ,Markt' wurde nun zum Leitsystem gesellschaftlicher Anerkennung und Bewährung. Gerade im fernen Amerika, wo die Traditionen des Alten Europa nicht mehr Grund fanden, öffnete sich "freie Bahn dem Tüchtigen", der seine Leistung in wirtschaftlichem Erfolg individuell zurechenbar spiegeln konnte. Die "neue Welt", die sich im Blick auf Amerika besonders scharfbeobachten ließ, deren Prinzipien sich aber auch prognostisch auf die Europäische Entwicklung übertragen ließen, mußte die tradierte Wertordnung ständischer Ehre in einem doppelten Sinne außer Kraft setzen. Zum einen verloren die ritterlichen Leitbilder kämpferischer Herrschaft und Gefolgschaft die bestätigende geschichtliche Basis. Zum anderen erwiesen sich im marktwirtschaftlich geregelten "System der Bedürfnisse" die Verbindlichkeiten und Verbundenheiten ständischer Ehre als Hemmung. Zugleich verloren sich die traditionellen "Freiheiten" ständischer Besonderung im Horizont neuer Ansprüche gesellschaftlicher "Gleichheit". Tocqueville- so Arnold Zingerles Interpretation- steht für das soziologische Interesse, traditionale Ordnung, die mit der industriellen Revolution wie mit demokratischer Emanzipation sich aufzulösen begann, nun in institutionelle Steuerung zu überführen: Nicht mehr der gestandene Erwartungsrahmen ständischer Tradition gibt den Maßstab, sondern die öffentliche Aufmerksamkeit, vor allem die Öffentlichkeit des Marktes wird zur Bühne, wo der Anspruch auf öffentliches Ansehen am wirtschaftlichen Erfolg auszuweisen ist. Stand Ehre in der Spannung von Nomos und Ethos, so relativieren sich in dem von Tocqueville an der amerikanischen Situation eingeübten Blick des Soziologen die unterschiedlichen Ausprägungen moralischer Muster ("moeurs") als unterscheidbare soziokulturelle Prägungen der gesellschaftlichen "milieus". Dieses Aufbrechen der geschlossenen Kreise und ihrer Bewertungsrahmen im Modernisierungsprozeß wurde auch in Georg Simmels "Soziologie" zur Grundfigur seiner Ortsbestimmung der Gegenwart. Für Simmel "gibt es keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und Individualinteresse derartig verschlingt." Wir erkennen heute, daß dieser Punkt sich im Modernisierungsprozeß, durch das Auseinanderdriften zweier Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auflöste: Auch für Georg Simmel ist Ehre zu unterscheiden von modernen Typen normierender Systembildung: der Objektivierung des modernen Rechts und der Subjektivierung der Sittlichkeit. Zwischen beiden Bezugspunkten einer Rationalisierung sozialen Verhaltens, der Legalität und der Identität schien traditionale "Ehre" sich aufzulösen. Zingerle stellt mit Tocqueville dazu die Frage, ob nicht der an die Stelle alter

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Ehre tretende modernere Rahmen der "Institution" das Vermächtnis des klassischen Ehrbegriffs aktualisieren könnte. Griffig wird diese Frage im topalogischen Bild der "institutionellen Leerstelle": "der Platz, den die Ehre einnahm, ist nun leer geblieben, aber selbst nicht entfallen, weil die institutionellen Funktionen der Ehre nach ihrem Auseinanderfallen nicht vollkommen in ,Recht' und ,Sittlichkeit' aufgehen." 15. Aufschlußreich für die Aktualität von Tocquevilles Frage, wie nach der modernen Aufhebung ständischer Ehre institutionelles Engagement sich neu begründen und beleben kann, ist der abschließende Beitrag von Justin Stagl zur "Ehre des Wissenschaftlers". Mit der Frage nach der "Ehre des Wissenschaftlers" bezieht sich soziologische Institutionenlehre auf die Welt der modernen Universität, eine soziale Welt, der einerseits eine besondere Beharrlichkeit und Geschlossenheit ihrer Traditionen nachgesagt wird, in der andererseits aber mit der modernen Wissenschaft jene Potentiale wirksam werden, an denen sich die Logik moderner Systembildung besonders eindrucksvoll studieren läßt. Doch gerade auf dem Hintergrund der modernen Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Systembildung stellt sich für die Gemeinschaft der Wissenschaftler die Frage nach innerer Führung: nach Berufsehre und professioneller Ethik, nach akademischer Freiheit und institutionellem Engagement. Auch die moderne Wissenschaft hat ihren traditionellen Rahmen ständischer Gelehrsamkeit verlassen, ist zu "Wissenschaft als Beruf' (Max Weber) geworden. Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte deutscher Universitätsgeschichte, wie sie gerade in einer universitären Neugründung in oft dramatischer Beschleunigung erfahrbar wurde, wird deutlich, in welchem Maße die äußeren Attrappen und Insignien akademischer Ehre abgebaut wurden. Nun galt es, ohne diese institutionellen Außenhalte die institutionelle Kultur der modernen Universität nach innen neu zu entwickeln. Die Frage nach Berufsehre und professioneller Ethik des Wissenschaftlers beschließt mit gutem Grund die Dokumentation dieses Symposions, das zur gesellschaftlichen Bedeutung der Institutionen in der technischen Zivilisation das Gespräch suchte und zugleich im Sinne GehJens Würdigung der Persönlichkeit als "Institution in einem Fall" das persönliche Jubiläum des ersten Soziologen der Ruhr-Universität Bochum, Johannes C. Papalekas, zum Anlaß nahm, Rückschau zu halten auf 25 Jahre intellektuelles Engagement und institutionelle Verantwortung - bewußt in der Spannung von "Institution und technischer Zivilisation".

WOLFGANG LIPP

Institution und Veranstaltung Zur neueren Entwicklung institutionellen Bewußtseins in den Sozialwissenschaften "Was ist Sein, Was Nichtsein?" War die Philosophie, als sie Antwort auf die Frage suchte, mit Descartes auf den Grund des "Denkens" gestoßen, sieht sich die Soziologie hier auf die "Institutionen" verwiesen. Man kann an den Dingen, kann an Mensch und Gesellschaft ja vieles bezweifeln, und vieles ist in der Tat im Fluß. Institutionen geben aber, wie man gesagt hat, dem Menschen an, was zu tun ist; sie stellen im Meer der Möglichkeiten, das das Dasein vor sich hat, feste Landmarken dar und erscheinen, bewehrt mit Klippen des Normativen, als Inseln der Wirklichkeit. Soziologie, die sich als "Wirklichkeitswissenschaft" (Max Weber) versteht, ist insofern Institutionenwissenschaft; sie ist "Institutionenlehre" dort, wo sie, über Deskription und Ad-hoc-Empirie hinaus, die Zusammenhänge kategorial erschließt, und ich zeige im folgenden, zu welchen Gesichtspunkten, Aussagen und Ergebnissen man dabei näher kommt. Dabei werde ich die Institutionenlehre- das "institutionelle Bewußtsein in den Sozialwissenschaften" - z. T. auch theoriegeschichtlich, einsetzend mit der Nachkriegszeit, skizzieren. Da ich mich in die Diskussionen schon früh, und seither wiederholt, mit eigenen Beiträgen eingeschaltet habe, mag es legitim sein, meinen Ausführungen die Leitbegriffe meiner damaligen Bochumer Dissertation, "Institution und Veranstaltung", voranzustellen. 1 Ich habe mit dieser Arbeit 1967 promoviert; die Veröffentlichung erfolgte 1968, und obwohl ich erste Anstöße dazu noch während meines Studiums in Wien, in Seminaren des Philosophen Erich Heintel erhielt, war mir immer klar, daß ich das Thema und die Art und Weise, daran zu arbeiten, der "Bochumer Schule" der Soziologie und Johannes C. Papalekas verdankte. 2 Über Institutionen zu schreiben war mit jenen Querverbindungen, die sich zur Philosophie, zur Anthropologie, zur Kulturanthropologie ergaben, in1 Titel und Untertitel meines Beitrages folgen zugleich einem Vorschlag Eckart Pankokes, des Herausgebers des Bandes. 2 Johannes C. Papalekas wurde auf den Lehrstuhl I für Soziologie der Ruhr-Universität Bochum 1963, zwei Jahre vor Aufnahme des Lehrbetriebes dieser Neugründung, berufen.

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tellektuell gewiß attraktiv genug; es war freilich auch ein Unterfangen, an dem sich -wie sich bald herausstellte - die Geister schieden, und so stand ich mit meinem Thema- das nicht nur eine Reihe von Sachfragen, sondern eine Denkrichtung, ja eine ethische Haltung verkörperte - plötzlich mitten in einem Streit- einem Streit nicht nur der Theorien oder von Theoretikern, sondern der großen und kleinen Ideologen - , in dem wahrhaft die Funken stoben. Eben diese Zusammenhänge nachzuzeichnen, will ich im folgenden versuchen (vgl. a. Lipp, 1984 a, c; 1987 a, b). Wie hat sich institutionelles Bewußtsein in den Sozialwissenschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt? Wie lauteten die Positionen? Welche Fragen, und welche Antworten, können wir weiterschreiben bis heute? Erinnern wir uns: Der zweite Weltkrieg hatte Deutschland in die Niederlage gerissen; jener vermessene politisch-ideologische "Überbau", den der Nationalsozialismus errichtet hatte, war in sich zusammengestürzt; in Schutt und Asche lagen die Städte; empfindlich getroffen war das Wirtschaftsleben, und viele hätten seinerzeit daraufschwören mögen, daß die Nation als ganze sich nicht mehr erhole. Und dennoch, es kam anders: Während Politik und Ideologie, als Elemente des Überbaus, ihren Kredit verloren hatten und einer neuen "skeptischen", auf Realitäten und Interessen bezogenen, pragmatischen Weltsicht Platz machten (vgl. Schelsky, 1957), behielten im "Unterbau" der Gesellschaft, wenn ich mich in dieser Terminologie ausdrücken darf, wichtige Einrichtungen- so vor allem die Familien, dann die Kirchen, schließlich die Wirtschaftsunternehmen-ihre Standfestigkeit und machten es möglich, daß das Leben, wenn auch reduziert, weiterlief und neuen Halt bekam. Die "Institutionen", mit einem Wort, hatten sich- in wesentlichen Bereichen jedenfalls- als resistent erwiesen, und man erkannte, daß jenseits aller Ideologien, jenseits aber auch aller nur technischen, nur funktionellen Vollzüge hier ein Faktor sui generis- der Faktor des Institutionellen eben - vorlag, der das Abrutschen des Daseins auffangen und Wiederaufbau behutsam "von unten"- den "Selbstverständlichkeiten" des Lebens- her abstützen und regulieren konnte. Es war Helmut Schelsky, der die Dinge als erster auf den Begriff brachte; sein Buch über die "Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart" (1953) steht nicht von ungefahr in enger zeitgeschichtlicher Nachbarschaft mit jener Abhandlung über die "Stabilität von Institutionen", die - aus einem Vortrag hervorgegangen ( 1949)- 1952 erschien; Schelsky hatte in der Soziologie - im Effekt aber auch in weiten Teilen des öffentlichen und politischen Lebens, dessen "Zeitgeist" und Selbstverständnis er traf (vgl. Lipp 1984 c; 1988) -,damit in der Tat eine Periode profilierten institutionellen Denkens eingeleitet. Legte er, was die Empirie und Anwendung der neuen Sichtweise betraf, eine Fülle anregender, verschiedenste Sachbereiche berührender, eigener Studien vor, so knüpfte er, was die theoretische Fundierung

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betraf, an Philosophie und Anthropologie seines Freundes Arnold Gehlen an. 3 Beide, Gehlen und Schelsky, machten sich überdies die Ergebnisse der vergleichenden kulturanthropologischen Forschung zunutze; so entstand in den 50er Jahren, mit dem Höhepunkt von Gehlens Buch "Urmensch und Spätkultur" (1956), der intellektuell ebenso beeindruckende wie wohl geordnete Theorieansatz der Institutionenlehre,4 und man kann festhalten, daß damit das wichtigste, die Nachkriegszeit bestimmende sozialwissenschaftliehe Paradigma in Deutschland formuliert war. Ohne auf die Rezeptionsgeschichte der Institutionenlehre im einzelnen einzugehen, will ich versuchen, in kurzer Sicht ihren konzeptionellen Gehalt zu rekapitulieren. Da die Dinge bekannt sind, beschränke ich mich darauf, die Stichworte zu geben. "Institutionen": das waren für Gehlen und Schelsky jene besonderen, vor anderen sozialen Gebilden hervorgehobenen Einrichtungen, die dem Menschen sagten, was zu tun war; indem sie "Leitideen" an das Dasein herantrugen und es teils mit "Sinn", also "Wert-" und "Norm"erfahrungen erfüllten, teils mit "Herrschaft", "Autorität" oder "Disziplin" konfrontierten, legten sie "Stabilisationskerne" ins Verhalten und machten es möglich, daß der Mensch die "Risiken" seiner "chaotischen", "ersten Natur" überwand und sein Leben- jetzt auf der Stufe "kultureller" Organisation - im Modus des "Handelns" führen konnte. Institutionen, die einmal etabliert - in "Eigengesetzlichkeit" umschlugen und Geltung authentisch beanspruchten, bewirkten "Hintergrundserfüllung"; sie "entlasteten" den Menschen vom Zwang zu immer neuer, elementarer Daseinsvorsorge und trugen dazu bei, erst überhaupt Rationalimpulse, sozialen Wandel und schöpferische, kulturelle Steigerung auf den Weg zu bringen. Institutionen schufen "Freiheit": Freiheit freilich, die wesentlich über "Entfremdung" lief (s. a. Gehlen, 1952) und nur durch "Entäußerung": die Hingabe an die Sache, die Idee, die mit ihnen verbundenen Pflichten auf Dauer zu gewinnen war. Wenn die Institutionenlehre Beachtung, Widerhall, Verbreitung übers Akademische hinaus bis weit in die 60er Jahre gefunden hat, entspricht dies nicht nur dem Umstand, daß sie der Nachkriegszeit atmosphärisch entgegenkam; es folgt vor allem aus ihrem geistigen Gehalt, und so kann es nicht wunder nehmen, daß auch Theoretiker, die schließlich anderen Bahnen folgten, wie Jürgen Habermas (1956/81; 1958; 1968), Bergerund Luckmann (1966), aber auch Niklas Luhmann, 5 vom breit gestreuten Schelsky-SchülerZu Gehlens Anthropologie vgl. maßgeblich ders., 1940/71; ferner z. B. 1961. Ausführliche systematische Darstellungen sind immer noch Desiderat. Dubiel (1973), Rehberg ( 1973), Lau ( 1978) oder Schü1ein ( 1987) verfolgen Sonderinteressen, beschränken sich auf Akzidentien oder bleiben unausgewogen. - Zur Orientierung siehe neben Lipp, 1987 a, b, auch Schwemmer, 1984; ferner Rehberg, 1990. 5 Vgl. bes. Luhmann, 1967 a, b; fernerders ., 1965, 1966, 1968, 1970. Luhmann hatte bei Schelsky 1966 promoviert und wurde in Münster (H . Schelsky, D . Claessens) 1967 3

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Kreis ganz zu schweigen,6 nicht umhin kamen, den Ansatz zu studieren und sich in wichtigen Punkten anzueignen. Dennoch ergab es sich, daß der Einfluß der Institutionenlehre, so mächtig er ursprünglich war, gegen Ende der 60er Jahre zurückging; Ergänzungen, Infragestellungen, Kritiken häuften sich, und es mag heute, nach mehr als 20 Jahren, erlaubt sein zu sagen, daß diese Kritiken- die bald in Antipathie, ja krasse Aburteilung umschlugen - argumentativ im Sinne legitimer wissenschaftlicher Diskussion nur zum kleineren Teil begründet waren. Ein Teilfach der Soziologie, die Wissenschaftssoziologie, zeigt mittlerweile ganz nüchtern, daß bei Vorgängen solcher Art sehr wesentlich nicht-wissenschaftliche Gründe - so Konjunktur- und Modewellen, Generationenkonflikte, schließlich schlichte Machtkämpfe- ihre Rolle spielen (s. Kuhn, 1967). Die Blütezeit der Institutionenlehre (oder genauer: ihre erste Blütezeit) gingjedenfalls dem Ende zu. Selbst die glänzende Habilitationsschrift von Friedrich Jonas, die die "Institutionenlehre Arnold Gehlens" in einer von Hegel her verstandenen Sicht auf den Punkt brachte (1966), kam über anfängliche Beachtung nicht hinaus; sie geriet schnell außer Kurs, und als kurz darauf meine schon erwähnte, eigene Arbeit erschien, wurde sie mehr oder weniger kritisch zwar noch besprochen, 7 konnte sich gegen die Flut von Schriften ganz anderer Provenienz, die jetzt herankam, aber nicht mehr wirklich durchsetzen. Adorno, Marx und Marcuse, Liebknecht und Luxemburg: so hießen die Namen, "Klassenkampf', "Repression", "Revolution": das waren die Themen, die jetzt en vogue waren und die Szene beherrschten. Auch die soziale Wirklichkeit hatte sich ja verändert, nicht etwa dahingehend zwar, daß die Realität in Deutschland nun den neuen, linksideologischen Theorien selbst entsprochen hätte; im Gegenteil. Die Gesellschaft hatte sich, was ihren Lebensstil betraf, zunehmend verbürgerlicht, und während die Marxisten aller Lager die Zukunft des Proletariats beschworen, war die Arbeiterschaft- wie es Schelsky (1954/65) übrigens vorausgesagt hatte - in der Tat dabei, sozial aufzusteigen; sie wurde in der Bundesrepublik, die wirtschaftlich prosperierte und in der Lage war, ausgreifende sozialstaatliche Leistungen zu erbringen, im Effekt integriert. Nein, die neuen Theorien gingen mit der Wirklichkeit gewiß nicht synchron; die Gesellschaft aber hatte neue Züge dennoch angenommen, und was Hans Freyer schon 1955 diagnostizierte: das Aufkommen, wie er sagte, "sekundärer Systeme", schlug in der Tat nun zunehmend durch und prägte das Leben immer deutlicher. Und auch Begriffe- Realbegriffe, die den Nerv trafenhabilitiert, von 1962 bis 1965 hatte er am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer, gearbeitet; er war als Assistent dort Arnold Gehlen zugeordnet. 6 Eine Auswahl wichtiger Namen ist in den Festschriften für Schelsky versammelt. Vgl. Baier, 1977, 1986 (Gedächtnisschrift); Kaulbach/Krawietz, 1978; Pohlmann, 1980. 7 So von Lepenies, 1969; Bühl, 1970; Grathoff, 1970.

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wuchsen dem nach: So stellte Schelsky ( 1961 /65) die Theorie der "Sachzwänge" auf; sprach Galbraith ( 1970) von .,Technostrukturen"; entdeckte man die Bedeutung von "Plan" und "Planung"; "Organisation" und "Kybernetik". 8 "Superstrukturen", mit einem Wort, hatte schon Gehlen (z. B. 1953/61, S. 99) im Visier, und zur neuen realistischen Zeitdiagnose trug ihren Teil nicht zuletzt auch die Bochumer Schule bei: Ich denke an die Arbeiten und Sammelbände etwa zu "Technik im technischen Zeitalter", die industriesoziologischen, empirischen Forschungen zur Entwicklung der Automation, die Gastarbeiter- und Ruhrgebietsstudien; 9 sie alle, und gewiß auch die letzteren, stellten direkt oder indirekt ja heraus, daß die Momente des "Sekundären" überband nahmen und an die Stelle erprobter gewachsener Institutionen getreten waren, was man mehr und mehr sich jetzt angewöhnte, "Mechanismen", "Strukturen", ,,Systeme" eben zu nennen. Am Ende fanden wir uns- und fand ich mich selbst- in einer paradoxen Lage wieder: Gerade im Augenblick, in dem wir- von Gehlen, Schelsky, Maurice Hauriou (1925/65) inspiriert - über Institutionen aufs tiefste geforscht, aufs geradeste nachgedacht hatten, lösten viele Institutionen sich anscheinend auf, erodierten die institutionellen Prinzipien und erstanden Gebilde, die jene schwarze Utopie von "1984" (George Orwell)- die wir inzwischen schon wieder hinter uns haben- damals bedrohlich vorwegnahmen. Ich verstehe dies sehr konkret, über bloß Psychologisches, wie ich glaube, hinaus. Man versetze sich in den Studenten, dann Assistenten hinein, der ich Mitte der 60er Jahre war und der als "Ursemester" an der Universität Bochum, diesem damals größten Bauplatz Europas, erfahren konnte, wie die Baumassen, die Gerüste, die Betonklötze Monat für Monat unerbittlich, brutal fast, und wuchtig hochgezogen wurden. Hier wurden, ganz ohne Zweifel, Systeme aufgerichtet, Systeme molochartigen Zuschnitts, "Gehäuse", die weniger "Hörigkeit" (Max Weber) als vielmehr Schrecken, innere Leere, psychische Lähmung bewirken konnten. Wenn man unten im Ruhrtal stand und von hier, vom Lottental, zur Universität aufblickte, stampften diese Systeme wie Schlachtschiffgeschwader heran, und man mußte den Eindruck haben, daß tatsächlich dort Unterdrückung, Zerstörung, Sprengstoff hohen Grades nahte. Und so kam es auch! Wer Ende der 60er Jahre inmitten jener jetzt übermächtigen sekundären Systeme noch wagte, von Institutionen- möglichen geistigen wie realen Gegenmächten - zu sprechen, hatte nichts zu lachen. Während die Welt der Systeme sich aufteilte in "kristallisierte", starre Strukturen einerseits, die Beliebigkeiten, Schrillheiten und Exaltationen 8 S. f. a. Kaiser, 1965-1972; Lompe, 1971; Luhmann, 1971 ; zur Interpretation z. B. K1ages, 1971; Lipp, 1973. 9 Freyer/Papa1ekas/Weippert, 1965; Pankoke, 1970 a, b; Werner/ Zieris/ Lipp, 1970; Lipp, 1971 a; mit Bezügen u. a. auf Popitz/ Bahrdt/Jüres/Kesting, 1957. - Vgl. a. Landwehrmann, 1965; 1970 a , b; Papa1ekas, 1983.

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abgespaltener "Subjektivismen" zum anderen- Gehlen hatte hier vorausgedacht (vgl. 1961163) -,fand man als Institutionalist kaum einen Bündnispartner. Stellte man die Rationalität der Technik, der Wirtschaftswelt, der Großbürokratien in Frage, hatte man die "Technokraten", die "Macher" und oft nurNachmacher-gegen sich; zweifelte man den "Emanzipations"gedanken an und kritisierte die Parolen freischwebender, blanker "Selbstverwirklichung", wurde man von Heilsphantasten, Drogentrommlern und Revoluzzern angefeindet. Ja, die Institutionen selbst - eine böse Entdeckung - taugten in dieser Zeit nicht viel, und man stand gerade in der Universität-, in der sich unter den Talaren in der Tat viel Muff und wenig Mumm verbarg-, aufziemlich verlorenem Posten. Selbst in der "Höhle des Löwen"- jenen interdisziplinären, der Institutionenlehre gewidmeten Kolloquien, die Schelsky in Rheda, dem damaligen Forschungszentrum (ZiF) der von ihm begründeten Universität Bielefeld, gab 10 -,wurde institutionalistisch kaum noch gebrüllt; es bellten vielmehr die "Füchse", 11 und man konnte erleben, daß als großes künftiges Glück, das vielen dort vorschwebte, offenbar die Vision erschien, am Aas verwester Institutionen zu nagen. Nun trifft sicher zu, daß die Institutionenlehre nicht ohne Fehl und Tadel war; da sie systematische Stringenz nicht gleichverteilt aufwies, hatte sie auch Schwächen, und eben hierin sehe ich den Umstand, der es zum Beispiel Schelsky erlaubte, die Anliegen der Lehre mit Anliegen anderer Art, so den Fragen von "Planung", "Reflexivität" und "Freiheit" zu vermischen. Bei allen Übergängen, die bestehen: Institutionen und die Wege, Institutionen zu verändern, waren nicht widerstandslos, ohne Spannung, zusammenzukitten (vgl. Lipp, 1986); umgekehrt zeigte sich, daß auch Dichotomien - jene zeitdiagnostisch gemeinten, zunehmend überzogenen, kulturkritischen Schwarz-Weiß-Gemälde, wie Gehlen sie entwarf, negativ am Ende auf die Theorie abfarbten. 12 Die Institutionenlehre stand hier in Gefahr, die Welt in "gut" und "böse" einzuteilen und alles, was reinen institutionellen Prinzipien nicht zu entsprechen schien, als gegen- und außerinstitutionell und insoweit verderblich hinzustellen. Auch hatte z. B. Habermas (1970) nicht unrechtvon den grundsätzlichen Differenzen einmal abgesehen, die zwischen der "kritischen Theorie" und der Institutionenlehre bestanden - , wenn er Gehlen etwa "nachgeahmte Substantialität" vorwarfund damit unterstrich, daß die Institutionen den Kategorien der "Nachahmung", des "Objektiven", der "Außenhalte" gegenüber "Autonomie", "Subjektivität", "Emanzipation" Rang über Gebühr einräumte (vgl. a. Lipp, 1976). Auch die Vorbehalte, die Niklas Luhmann ( 1970) formulierte- nachdem er wichtige institutioSie sind teilveröffentlicht in Schelsky, 1970. Mit Vilfredo Pareto gesprochen; die Metapher geht auf Macchiavelli zurück. 12 GehJens hier gemeintes, drittes Hauptwerk, "Moral und Hypermoral" (1969), hat in der Tat das Verständnis nicht nur der Institutionenlehre belastet; es hat bis heute sich selbst - den Entwurf einer ethologisch verankerten, gleichsam postethischen, "pluralistischen Ethik" - um angemessene Rezeption gebracht. 10 11

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nelle Gesichtspunkte, so den der "Entlastung", zunächst übernommen hatte (vgl. bes. 1967 a) -,waren ernstzunehmen, so besonders, daß Institutionen weniger unter dem Vorzeichen der Absch1ießung und ideativen Starre, sondern der Öffnung - einer Öffnung für Komplexität, Opportunität und Unwahrscheinlichkeit - verstanden werden sollten. Habermas und Luhmann brachten, bei alledem, den Grundfragen der Institutionenlehre Respekt entgegen. So ordnete Habermas, der zwischen gesellschaftlich kardinalem, "kommunikativem Handeln" und prekärer, bloß "instrumenteller" Rationalität bekanntlich unterschied, ersterem, positivem Prinzip gerade die "Institutionen" zu (1968) - Gebilde freilich, die bei ihm subversive Züge trugen und Freiheit gegen Bindung, Konsens gegen Autorität ausspielten. Wie dem auch sei: die Institutionenlehre wies auch Schwächen auf, und sie gab Anlaß zumindest zu Mißverständnissen. Während Habermas, Dieter Claessens (1968, 1973) oder Luhmann, aber auch manche Jüngere, so Wolf Lepenies (1967; 1971), Johannes Weiß (1971) oder Carol Hagemann-White (1973), Kritik vergleichsweise aber maßvoll, differenziert und perspektivenreich entwickelten, schlugen andere - man hat die Namen inzwischen vergessen- weit gröber in die Kerbe und schütteten mit dem Bade gleich das Kind mit aus. So kam es, daß die Institutionenlehre von akademischen Möchtegernen, Opportunisten und Trittbrettfahrern, die auf die Modezüge immer der anderen sprangen, in der Tat bald an den Rand gedrückt wurde, unter Schweigebann geriet und nahezu verstummte. Wer weiterschreiben wollte, hatte fast keine andere Wahl, als in den wissenschaftlichen "Untergrund" zu gehen und Artikel zum Thema für Lexika, Handbücher, Enzyklopädien zu verfassen. Das Echo blieb jahrelang fast null. So wurde, soweit ich sehe, die von Ernst Forsthoffund Reinhard Hörstel zu Gehlens 70. Geburtstag herausgegebene Festschrift, "Standorte im Zeitstrom" (1974), kaum rezipiert. Schon die Festschrift fünf Jahre zuvor (s. Walter-Raymond-Stiftung, 1969) war wenig beachtet worden; ähnliches widerfuhr der Gedächtnisschrift, die die Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer 1976, in Gehlens Todesjahr herausgab. Die Beiträge zu einem Gehlen-Kolloquium, das seinerzeit in Aachen stattfand und an dem Gehlen noch selbst teilnahm, sind gesammelt nie erschienen, und auch meinen eigenen Vortrag, den ich dort hielt und später, in Form einer Abhandlung, auch veröffentlichte (1976), habe ich lange Zeit nicht zitiert gefunden. Inzwischen war die fruchtbare, akademische und menschliche Freundschaft, die zwischen Gehlen und Schelsky bestanden hatte, selbst brüchig geworden, und während Gehlen zunehmend ins Elitäre, auch Hermetische und Kulturkritische abhob, gab Schelsky seinen Lehrstuhl in Bietefeld auf, ließ sich nach Münster zurückversetzen und betrieb fortan nicht mehr große, allgemeine, sondern spezielle, nämlich Rechtssoziologie. Gehlen starb 1976.

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Schelsky wirkte noch weitere Jahre; er engagierte sich teilweise im Ideologien- und Parteienstreit, seine Kraft zur Systematik aber schien gebrochen, und auch die Festschriften, die er erhielt, blieben entweder wirkungslos oder wurden weniger im Kernfach, der Soziologie, als in Nachbarfeldern, so den Rechtswissenschaften, zur Kenntnis genommen. 13 Schelsky starb 1984. In seinem Buch "Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen", hatte er verbittert gegen die Soziologie eine "Antisoziologie" schon 1975 postuliert. 14 Er driftete ab vom Fach; in einem Band mit Gedichten, den er 1982, im Jahr seines 70. Geburtstages, im Selbstverlag herausgab, wird schließlich tiefe, auch menschliche Resignation sichtbar. So war es um die Institutionenlehre-selbst Jahre nach der sog. themenund ideenpolitischen "Wende", die man seit Mitte der 70er Jahre konstatieren wollte 15 - still geworden. Hatte der Ansatz schon im Positivismusstreit kaum eine Rolle gespielt - ein Engagement in bestimmten wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen wäre durchaus denkbar gewesen (vgl. meine Versuche in Lipp, 1966; 1975) -,verlor er Boden in der Gunst der akademischen Welt nicht nur dort, wo die Marx-Diskussion oder die "kritische Theorie" dominierten, sondern ließ zunehmend auch die Verfechter der Systemtheorie, zunächst die Parsonianer, dann die Luhmannianer, an sich vorbei ziehen. Dabei hatte die Situation ja nicht nur "Überbau"-Stellenwert. Realsoziologisch gesehen - und darauf kommt es an -, hatte sich die gesellschaftliche Basis verändert, und man kann die Situation heute dahingehend charakterisieren, daß die Bundesrepublik nach der Phase der Nachkriegsstabilisierung, die abgeschlossen war, zwischen Mitte der 60er und Mitte der 70er Jahre eine Etappe erheblichen, soziokulturellen Wandels durchlief. Der Wiederaufbau hatte nicht nur "Prosperität" gebracht; er hatte "Überfluß" ,ja schließlich- in manchen Feldern und bei manchen, kulturell sensiblen Gruppen - Übersättigung erzeugt; was man "Industriegesellschaft'' nannte, hatte einen neuen Schwerpunkt im "Dienstleistungs"sektor gefunden; Angestelltenmentalität breitete sich aus, und was bisher, an Ordnungsprinzipien klassischer Art gemessen, als überschaubar und stabil auftrat, kam pluralistisch in Fluß, verlor den Boden und schien sich in "Fortschritt", "Utopie" oder "Komplexität" aufzulösen. Am Ende galt: die Institutionen änderten sich rapide, und vieles an ihnen gab dem Eindruck der Paralyse Raum. Man vergißt vielleicht hier zu schnell, daß dies die Zeit nicht zuletzt auch des Terrorismus war; hatten die einen damals die "soziale", so die anderen eine "kulturelle Revolution" proklamiert; beide begannen, von "Gegengewalt" und "Gewalt" zu schwärmen (vgl. bes. Marcuse, 1967; dazu 13 14 15

Vgl. z. B. Krawietz, 1986. S. Schelsky, 1975; 1980; 1981. Vgl. Podewils, 1975. Zur späteren Interpretations. a. Sontheimer, 1983.

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Lipp, 1969), und sie wendeten Gewalt dann auch wirklich an. So schwelte und rauchte manche Szene, die für diese Jahre typisch war, nicht nur von ideologischem Pulverdampf; Feuergefechte, Brandsätze und Bomben richteten Schaden auch faktisch an, und man mußte eine Zeit lang in Sorge sein, es geriete die ganze Republik ins Wanken. Kehren wir an dieser Stelle von den Tatsachen, den typischen sozialen Entwicklungen wieder zurück zur Theorie, zur Institutionenlehre. Gehlen hatte die Vorgänge, wie ich pointieren möchte, auf zweierlei Weise falsch eingeschätzt. Wollte er einmal "kulturelle Kristallisation" und ein Zeitalter der "posthistoire" prognostizieren, in dem wirklicher Wandel stillgestellt war und Leben sich im Flimmern der Beliebigkeiten nur noch des Subjektivismus äußerte, rechnete er zum anderen, wie schon bemerkt, Verfallserscheinungen aller Art, die er angriff, kulturkritisch nicht den Institutionen auch selber zu, sondern den Verlorenheiten, Exaltationen, schlechten Eigenschaften der Menschen, die nichts taugten. Auf diese Weise beschränkt, mußten Gehlens Analysen auf Dauer stagnieren. Auf dem Boden der Institutionenlehre, aber über sie hinaus, habe ich daher schon in meiner Dissertation, "Institution und Veranstaltung", versucht, die Aussagen zu dynamisieren. Grundüberlegung war dabei, daß die Institutionen, in Form von "Veranstaltungen", selbst es sind, die massive, für die Gesellschaft wie den Menschen dysfunktionale Entwicklungen auslösen können. Institutionen "entlasten" nicht nur; unter bestimmten Umständen "belasten" sie auch; sie legen "reduktives" Potential (vgl. Lipp, 1971 b) an den Tag und führen den Menschen tendenziell auf sich selbst, seine prekäre "erste Natur" zurück. Institutionen dieser Art- ich hatte sie damals auch "Ekstitutionen" genannt- "setzen" das Dasein dabei gleichsam sich selber "aus"; sie "versetzen" es in einen Zustand der Entropie, des inneren Zerfalls und Verfalls, und verschärfen die Situation am Ende dadurch, daß sie auch die Umwelt, das externe Handlungsfeld auf überdimensionale, vom Handeln nicht mehr zu beurteilende Komplexität aufpotenzieren. In einem neueren Beitrag habe ich die Zusammenhänge unter dem Titel "Entinstitutionalisierung. Wie erfaßt man sozialen Verfall?" inzwischen näher beschrieben (1989). Dabei unterschied ich strukturanalytisch-systematisch zwischen Veranstaltungen "totalistischen" und solchen "libertären" Typs. Ich brauche meine Ergebnisse hier nicht zu wiederholen, fasse aber mit Blick auf den libertären, in den Industriegesellschaften des Westens dominierenden Typs zusammen, daß auf breiten Fronten hier künstlich, gleichsam ohne Not, soziale "Unruhe" (Klages, 1975), Leid, Zerstörung und Selbstzerstörung erzeugt werden, Potentiale, die in "Bewegungen" ungewissen Ausgangs führen und bei vielen die Substanz angreifen. Dabei kam und kommt es zu Entwicklungen, die durchsetzt sind von Turbulenzen hohen Grades; sie mündeten gerade nicht, wie Gehlen (1961/ 63) meinte, ein bloß in "Kristallisation", sondern erschütterten die Gesellschaft selbst und zogen fühlbaren Wandel,ja Sprünge und Brüche nach sich.

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Wenn ich damals, schließlich, von "biokratischen" Tendenzen sprach (1968, Kap. 11; vgl. a. Lipp, 1980/82), sagte ich, wenn auch in teils unscharfen, teils überzogenen Begriffen, vergleichsweise früh schon Prozesse voraus, die man heute als grassierende "ökologische Katastrophe", als "Überlebensfrage" der Gesamtmenschheit, als beständiges "Risiko" anspricht (vgl. z. B. Beck, 1986). Gewiß, damals war ich Prophet, der die Dinge zu bald an die Wand schrieb, und so predigte ich in der Wüste. Heute blicke ich zurück; meine Aussagen schrumpfen auf Geschichte aber nicht schon deswegen zusammen. Sie sind mitten im Hier, in den Krisen der Gegenwart, angelangt. Wenn oben von einer "Wende" die Rede war, die jenes Verdikt, das über die Institutionenlehre gesprochen war, allmählich wieder zurücknahm, war es weniger der Streit der Theorien, der zu Änderungen führte, als vielmehr Wandel, wie er sich faktisch vollzog. Die Gesellschaft hatte in der Tat, was ihre materiellen Grundlagen betraf, zunehmend die Herausforderungen der Ökologie zu spüren bekommen, und sie hatte neue Züge schließlich kulturell angenommen. Nicht nur die "Wertwandel"-Studien belegen dies (Klages/ Kmieciak, 1979; s. jetzt a. Klages, 1989); auch die Diagnose, daß wir kulturell heute mit einer Kultur der "Postmoderne" konfrontiert sind, in der Vielfalt und Individualität, Herkunft und Experiment, Bejahung und Kritik nebenher existieren, ja sich kombinieren können (Lyotard, 1987), macht deutlich, daß gleichsam auch "klassische" Fragen, wenn auch in veränderter Form, wieder Boden gewonnen haben. Dabei war es weniger die Institutionenlehre -die zunächst noch darniederlag -,als etwa die politische Philosophie, wie sie Hermann Lübbe vertrat (vgl. z. B. 1965/71, 1979), die hier eine Vorreiterrolle übernahm. So hatte Lübbe nicht nur betont, daß Werte, werden sie hypostasiert und zum abstrakten, mit Carl Schmitt (1967/79) gesprochen "tyrannischen" Allgemeinen gemacht, unbrauchbar werden und ihren Sinn verkehren; er hatte auch herausgestellt, daß sie, "polytheistisch"-plural beschaffen (Weber), in der Realität unentbehrlich sind und mit Handeln, Handlungsmacht und Machtpflichten, kurz: Akten des "Entscheidens" konkret stets einhergehen. Werte gab es; man hatte sie, mußte sie praktisch, mit allen Folgen, Folgerungen und Nebenfolgen, erst aber verwirklichen! Daß hinter Perspektiven dieser Art vor allem Max Weber stand- sein Werk hatte inzwischen eine nicht zu übersehende, anhaltende Renaissance erlebt 16 -,ist dabei evident, und ich muß den Zusammenhang nicht gesondert betonen. Ähnliche gedankliche Wege ging schließlich die neuere, auch von mir selbst beförderte, deutsche Kultursoziologie. In einem von Friedrich H. Tenbruck und mir besorgten Programmband proklamierten wir (Lipp/Tenbruck, 1979), daß Kultur "plurivalent" angelegt sei und Anker konkret in der 16 Die von Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J . Mommsen, Wolfgang Schluchter und Johannes Winkelmann (t) besorgte Werkausgabe erscheint seit 1984. Unübersehbar ist inzwischen die Sekundärliteratur; s. f. a. Tenbruck, 1975; Weiß, 1975; Käs1er, 1979; Hennis, 1987; Zingerle, 1981, mit weiteren Verweisen.

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"Handlungswelt" (s. a. Lipp, 1979) habe. Ohne mich in Einzelheiten verlieren zu können, sagten wir damals, daß "Werte", ,,Symbole", die "Sinndimension" anders, als materialistische, behavioristische, strukturalistische Ansätze es gelten ließen, das Dasein des Menschen, sein Handlungsleben, sehr wesentlich bestimmten; und in weiteren eigenen Beiträgen - denen ich den Titel "dramatologische Soziologie" gegeben hatte (1984 b, 1988/89) entwickelte ich, daß Sinn mit Sinnverweisen, Sinnsteigerung, ,,Spannung" und Spannungsbalancen, kurz: Übergängen, ja Transformationen zu tun hat, die Alltag in Nichtalltag, Eso- in Exoterik, Normalität in Ausnahmeund vice versa überführten. Kultur - ich fasse zusammen - erschien in dieser Perspektive vor allem als Medium, durch das - und in dem - die Gesellschaft (i. e. laufende Interaktion) sich als "Drama" organisierte. In diesem Drama gab es "Rollen", die ausgefüllt sein wollten, gab es aber keinen Regisseur, kein Drehbuch, keine Regieanweisung, die sie genauer bestimmten. In diesem Drama, diesem "Theater", wurde "gespielt", es handelte sich aber um Spiel, in dem es "tragisch" zugehen konnte und das "Ernst" implizierte; Dieses Drama war wirkliches Drama; es löste "kathartische" Prozesse aus und ermöglichte "Läuterung", setzte zugleich aber Askese, Opferverhalten, Pflichterfüllung voraus und konnte am Ende auch Scheitern bedeuten. Nimmt man alles in allem, trugen die skizzierten intellektuellen Strömungen - die Kultursoziologie, die Weber-Renaissance, die neuere politische Philosophie- im Verein mit Basisänderungen und Änderungen der kulturellen Großwetterlage, so dem Zeitgeist der Postmoderne, ohne Zweifel dazu bei, die Institutionenlehre zu reaktivieren und typische, institutionelle Gesichtspunkte neu zu entfalten. Ich nenne zunächst den bemerkenswerten, damals freilich nicht aufgenommenen Versuch Hartmann Tyrells, Max Weber- den Weber vor allem der Herrschaftssoziologie - als Institutionendenker darzustellen; er ist 1980 erschienen und nachzulesen in der Schelsky-Festschrift Rosemarie Pohlmanns. Ich nenne ferner das wiedererwachte Interesse an Arnold Gehlen; es manifestiert sich neben der Neuauflage wichtiger Einzelschriften in der Herausgabe auch des Gesamtwerks, die Gehlens letzter Lehrstuhlassistent, Karl-Siegbert Rehberg, besorgt. 17 Übersetzungen ins Englische, Italienische, Japanische und andere Sprachen liegen vor. Ein umfänglicher, die Werk- und Wirkungsgeschichte Gehlens aufarbeitender Kongreß hat unlängst (1989) in Speyer, dem ersten Lehrort Gehlens in der Nachkriegszeit, unter der Ägide von Helmut Klages und Helmut Quaritsch stattgefunden; der Dokumentationsband wird nicht zuletzt erschöpfende, auch die Sekundärliteratur erfassende Bibliographien (Bearbeitung K. S. Rehberg) enthalten. Ich nenne weiterhin die Reihe von 17 S. Rehberg, 1978 ff. Die "Philosophischen Schriften" GehJens hat parallel dazu Lothar Samson, 1978/80, herausgegeben.

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Kolloquien, die Michael Zöller u. a. an der Universität Bayreuth organisieren;18 der institutionentheoretische Ansatz, institutionenwissenschaftliche Fragestellungen stehen dort - wie bei den Bemühungen der SoziologieSektion der Görres-Gesellschaft (s. z. B. Helle, 1982) oder, zuletzt, in einem von Johannes C. Papalekas einberufenen Bochumer Kolloquium - im Mittelpunkt; und ich weise schließlich darauf hin, daß inzwischen auch ein großes, der "Theorie politischer Institutionen" gewidmetes, interdisziplinäres Schwerpunktprogramm existiert, das die deutsche Forschungsgemeinschaft eingerichtet hat, und das Gerhard Göhler, Berlin, betreut. Hier wie dort gab es Vorarbeiten, Voraustagungen und Auswertungen aller Art (vgl. z. B. Göhler, 1987; Göhler/Lenk/Schmalz-Bruns, 1990; Papalekas, 1989; ferner Fach/Grande, 1988; Luthardt/Waschkuhn, 1988; Nullmeier, 1989), und es ist evident, kann hier aber nicht im einzelnen belegt werden (s. einen Überblick bei Schmalz-Bruns, 1989), daß die Aktivitäten sich weiterhin in einschlägigen, wissenschaftlichen Publikationen niederschlagen. So resümiere ich, daß die Institutionenlehre heute einen Zustand "zweiter Blüte", wenn nicht der Reifung erlebt. Ihr Horizont jedenfalls ist weiter, offener, geworden, und ihre Theorieverweise verzweigen sich ins Diffizile. Die Institutionenlehre hat aus der Kritik, die die 70er Jahre ihr entgegentrugen, dabei gelernt. Sie war in der Lage, Rückfragen, wie die kritische Theorie sie stellte, ebenso aufzunehmen wie Anregungen und Perspektiven, die das systemtheoretische Denken gab. Als Grundregel, die dabei einzuhalten war, galt und gilt, im Theorienstreit mit anderen Positionen sich zwar zu verständigen, diese Positionen aber - wie die Betonung des Subjektiven, von Emanzipation und Innovation, Komplexität und Opportunität - nicht schon als zentral in die eigene Theorie einzuschleusen. Manche, die als Institutionalisten begonnen hatten, haben dies nicht beachtet; sie verloren die Gesichtspunkte, die ihnen wichtig waren, im Eifer aus den Augen und wechselten unter der Hand - und ohne vielleicht es zu merken - die Theorieflagge selbst, unter der sie segelten. Wer aber über Institutionen spricht, sollte "Institutionen", nicht "Systeme", nicht "Diskurse" zum Bezugspunkt machen. Institutionen - was ist das? Es mag abschließend von Nutzen sein, die Bestimmungen, die die Institutionenlehre gibt, nochmals unverstellt, in reiner Gestalt, ins Bild zu setzen: Als Grundkategorien, die hier festzuhalten sind, nenne ich erstens "Leitideen", zweitens "Handeln", drittens kritisches, institutionellen Sinn vergewisserndes "Bedenken". Was Leitideen betrifft, stellen sie das primum movens, das Konstituens, den Maßstab institutionellen Lebens dar; durch Werte, Normen, kulturelle Symbolik übertragen, liegen sie Institutionen kriteriell, von Fall zu Fall spezifisch ausgeprägt, zugrunde; sie geben dem 18 Vgl. Zöller, l987ff. Die Kolloquien werden gefördert durch die Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Köln.

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Dasein gleichsam "Pneuma", und wo sie verblassen, sterben die Institutionen, finden sie zu ihnen, den Prinzipien, nicht zurück, notwendig selber ab. - Leben hingegen ist Handlungsleben; Handeln aber, um die zweite, institutionelle Kategorie anzuführen, hat dramatische Struktur. "Mimesis oder Drama?"- so hatte ich die Frage damals, in Aachen, zugespitzt ( 1976): Nachahmung eines Äußeren oder selektive, innere Kraft? Nicht "Nachahmung" ist es, wie Gehlen gemeint hat, die die Institutionen am Ende bewegt, sondern "stiftende", "schaffende" Tat. Tun solcher Art ist kämpferisches Tun; es liegt für Leitideen, die es vertritt, notfalls im Streit und riskiert, für sie -ihre künftige Klärung, ihr Weiterwirken und Weiterleben- Verwicklungen auch "tragischer" Art einzugehen, Opfer auf sich zu nehmen, ja "Märtyrer" zu sein. So sind es im Grenzfall "Heroen", "Helden", nicht Modefolger, Adabeis oder Routiniers, die Institutionen begründen, 19 und es sind couragierte, beherzte Einzelne, die die Welt zusammenhalten und sie täglich, vom Kern her, erneuern. Mein Resümee bliebe unvollständig, käme ich abschließend nicht auf die dritte institutionentheoretische Grundkategorie, das kritische Bedenken, zu sprechen. Zwar hatte man die Kategorie vielfach mißverstanden, ja Bedenken als Kraft angesehen, die- obwohl bezogen auf Institutionen oder durch sie erst ermöglicht- als Gegeninstitution wirken sollte und Institutionen in Frage stellte. "Diskurse", beispielsweise, wie Habermas sie postulierte, sollten demnach dort einhaken, wo Zwang, Unterdrückung, Autoritarismen aller Art zu bekämpfen waren; sie schossen übers Ziel aber hinaus, wollten sie - wie sich schließlich ergab - Herrschaft überhaupt abschaffen, und es zeigte sich, daß sie - je radikaler sie sich theoretisch gaben - von der Wirklichkeit - institutionell vermittelter, sozialer Wirklichkeit -utopisch immer mehr abhoben. Andere, institutionentheoretisch ähnlich prekäre Wege war Helmut Schelsky gegangen. In seinem Aufsatz "Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?" (1957/65) hatte er zwar erkannt, daß Reflexion und Institutionen, Distanznahme und Kritik mit stabiler, institutioneller Arbeit durchaus konform gehen können; er schränkte diese Möglichkeit auf den Bereich nur weniger, typischer Institutionen - wie Bildungsstätten, Debattierklubs, Akademien - allerdings ein und mochte, ja konnte nicht sehen, wie die Faktoren - Institutionen, ihr "Hinterfragen" und ihre Neubegründung - systematisch zusammenhängen. Eben darum aber ging es ja. Diskurs, Reflexion und Kritik sind gewiß von Bedeutung. Während Habermas aber sie als gegeninstitutionell ansieht - und Schelsky sie beschränkte auf Sonderformen - , wird die Institutionenlehre darauf achten, ihren Stellenwert integral, als Faktor im Kontext, festzuhalten und ihren Ort, ihre Wirkung in Institutionen realistisch und nüchtern anzugeben. 19 Dazu näher Lipp, 1985, bes. Absch. III B, S. 207-273. Zu einer Theorie der "Gründung" ferner Rassem, 1979; s. schon Lipp, 1973.

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Setzt man anstelle von "Diskurs", von "Reflexion", den Begriff des "Bedenkens", sollte deutlicher werden, was ich meine. Institutionen kommen ohne Kritik, ohne kritisches Bedenken dort und immer dann nicht aus, wo im Geschiebe der Zeiten, im Korrumpieren der Dinge und Menschen in Vergessenheit gerät, welche Leitideen eigentlich gelten und welche Codes, welche Trennregeln in jenem Jetzt und Hier, in dem man handelt- den Institutionen -, auf Sein und Nichtsein zur Debatte stehen. Daß es viele solcher Kriterien, viele, sehr verschiedene Leitideen gibt, steht außer Zweifel. Mag eine einheitliche, vielleicht zusammenwachsende Menschheit auch immer existieren; das Dasein, seine Standorte und Zwecke sind kein Einheitsbrei, und das Leben sinnvoll zu führen, setzt überall voraus, zwischen Haupt- und Nebensachen, Prinzipien und Akzidentien, geraden Wegen und krummer Tour zu unterscheiden. Zwar wird und muß es Arrangements, den Ausgleich der Positionen und Neubeginn geben; sie geschehen aber nicht von selbst, und so sehr erst letztlich im Handeln, jenem Drama der Tat vollzogen wird, was uns erfüllt und was wir bezeugen, so sehr bedarf es - will man Klarheit schaffen- im Vorfeld des Worts, des Gesprächs und kritischen Bedenkens. 20 Wenn ich meine Überlegungen hier zusammenfasse, kam ich zu Ansichten, die die Frage, was Institutionen sind, wo ihre dunklen Seiten liegen und was sie, heute wie je, uns bedeuten, am Ende doch nur von fern berührten. Vielleicht, so denke ich manchmal, treffen Dichter dort, wo man aufs Wesentliche dringt, mit ihren flüchtiger scheinenden, aber doch gültigen Mitteln genauer. So habe ich die Dichtkunst auch nun zu Rate gezogen und bin aufPindar, die ,,Siegeslieder", gestoßen: Sie sind anthropologisch gerichtet, wo sie vom "Menschen", einem Nichts vielleicht, reden, wäre da nicht "gottgeschenkter Glanz", das "Licht" der Institutionen. Sie klingen philosophisch, wenn sie von "Segen", ich möchte sagen: den Leitideen, sprechen, und man kann gute, institutionentheoretische Lehren aus ihnen ziehen. Ich zitiere zuerst aus der Achten, dann aus der Zwölften Pythischen Ode: "Eintagswesen! Was ist Sein? Was Nicht-sein? Eines Schattens Traum ist der Mensch. Aber wenn gottgeschenkter Glanz kommt, liegt helles Licht auf den Männern und freundliche Lebenszeit." (Übers. U. Höltscher)

20 Am Ende ließe der Zusammenhang sich im Sinne eines "Trinitätstheorems" verstehen: "Leitideen" repräsentierten in Institutionen das Prinzip dann des "Vaters"; "Handeln" und "Handlungsdrama" stünden für den "Sohn"; im "Gespräch" und "kritischen Bedenken" äußerte sich der "Geist". Deutungen solcher Art, wie eingeschränkt werden muß, erhellen das Phänomen nicht erschöpfend; sie werfen das Licht spezifischer, christlich-europäischer Denktraditionen auf einen Gegenstand, der vor-gegeben ist und mit Mensch, Gesellschaft und Kultur generell besteht.

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Und in der Zwölften Ode heißt es weiter: "Wenn aber irgendein Segen ist unter den Menschen, Ohne Mühsal zeigt er sich nicht. Vollenden mag ihn vielleicht heute ein Gott. Allein, das Verhängte ist unausweichlich. Doch wird die Zeit sein, die, wenn sie auch manchen mit Hoffnungslosigkeit getroffen, wider Erwarten eins wird geben, anderes noch nicht." (Übers. W. Schadewaldt)

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Wolfgang Lipp

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Wolfgang Lipp

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HELMUT KLAGES

Gesellschaftlicher Wertwandel und institutionelles Engagement I. Der Wert- oder Wertewandel ist seit geraumer Zeit ganz sicherlich eines der meisterörterten gesellschaftlichen Wandlungsphänomene. Charakteristischerweise sind die Konturen dieses Phänomens jedoch immer noch verhältnismäßig verschwommen. In der öffentlichen Diskussion, ja selbst in der Wissenschaft sind die Begriffe, mit denen man operiert und die Diagnosen , zu denen man gelangt, nicht völlig einheitlich. Da und dort halten sich sogar Enklaven von Ungläubigen, die sich auf den Standpunkt stellen, einen solchen Wertwandel habe es überhaupt nicht gegeben. Ganz sicherlich hat diese Diffusität der inhaltlichen Erfassung des Wertwandels, den ich aber im folgenden als ein reales Phänomen voraussetzen will, mit dessen Komplexität zu tun. Da wir hier ein wissenschaftlich bestimmter Kreis sind, muß ich nicht befürchten, einen allzu großen Schock auszulösen, wenn ich feststelle, daß die meisten Vorstellungen, die über den Wertwandel (oder Wertewandel) kursieren, allzu einfach sind, um der Realität gerecht werden zu können. Meist stellt man sich diesen Wandel als einen Vorgang vor, der sich auf einer schräg nach oben (oder schräg nach unten) verlaufenden gradlinigen Achse vollzieht. Auch denkt man häufig, durch diesen Vorgang würden bestimmte Werte durch andere gewissermaßen substituiert. 1 Beide Vorstellungen stimmen aber nicht mit den Tatsachen überein. Ich möchte gleich hinzufügen, daß wir vieles an diesem viel komplizierteren Vorgang noch keineswegs voll verstehen. Leider ist man sich aber über die Notwendigkeit, in die weitere Erhellung des Wertwandels (oder vielmehr: der immer noch weiterlaufenden "Wertedynamik") zusätzliche Energie und mehr Geld zu investieren, in der Öffentlichkeit bisher noch nicht ausreichend im klaren. Wir müssen eigentlich eine auf die Entwicklung von längeren Zeitreihen zielende Forschung aufbauen, wenn wir ernsthaft über das gegenwärtige Niveau von Einsichten hinausgelangen wollen. Zu deren 1 Vgl. hierzu Helmut Klages, Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität, in: A. Randelzhofer u. W. Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt. 35 J ahre Grundgesetz, Berlin u. New York 1986, S. 434 ff.

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Finanzierung ist jedoch bis jetzt noch wenig Bereitschaft vorhanden. Ich selbst habe es zwar glücklicherweise vermocht, die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Finanzierung einiger aufeinanderfolgender Erhebungen zu bewegen. Nach der dritten Erhebung, die inzwischen abgeschlossen ist, ist die Förderung aber zunächst an ihrem Ende angelangt und die Beobachtungsstation muß möglicherweise abgebrochen werden, obwohl nun erst die eigentlich ertragreiche Phase der Forschung beginnen könnte. Ich will mich jedoch auf das mir gestellte Thema konzentrieren, wobei ich allerdings weiter ausholen möchte. Das Verhältnis zwischen denjenigen "individuellen Wertorientierungen", die die Menschen mit sich herumtragen, und den gesellschaftlichen Institutionen ist grundsätzlich gesehen höchst intensiv. Man kann, wie ich meine, ohne Schwierigkeit normativ verstandene Werte, die durch das Handeln, das ihnen folgt, zugleich bestätigt und verstärkt werden, als einen Kernsachverhalt von Institutionen ansehen. Man wird darüber hinaus aber auch, wie ich meine, weder der Theorie noch den Fakten allzu sehr Gewalt antun, wenn man die Gewährleistung solcher Werte als eine der ganz zentralen Funktionen von Institutionen bezeichnet. Genauer gesagt: von traditionalen Institutionen. Warum ich diese Einschränkung mache, wird sogleich noch deutlicher werden. Einer in den letzten Jahrzehnten in der soziologischen Theorie vorherrschenden, zweifellos auch zutreffenden Auffassung zufolge konnte hinsichtlich des Verhältnisses der individuellen Wertorientierungen und der in den gesellschaftlichen Institutionen verkörperten Werte bis hart an die Gegenwart heran von einer sehr weitreichenden Übereinstimmung ausgegangen werden. Wenn man "The Social System" von T. Parsons (1951) zur Hand nimmt, dann tritt einem diese Auffassung noch in einer sehr lupenreinen Form vor Augen. Es konnte weiterhin davon ausgegangen werden, daß diese Übereinstimmung durch eine Reihe von sozialen "Mechanismen" gesichert wurde, die tief in der gesellschaftlichen Struktur verankert waren und ihr sogar weitgehend das Gepräge gaben. Hierbei spielten kirchliche Praktiken wie insbesondere der Gottesdienst eine Rolle, der ja keineswegs nur der Befriedigung individueller Frömmigkeitsbedürfnisse dient, sondern in wesentlicher Hinsicht der Wertevermittlung und -Verinnerlichung gewidmet war. Weiter waren aber auch die elterliche und die schulische Erziehungsarbeit und -Ieistung von großer Bedeutung und endlich spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle, daß die Wertsysteme aller spezieller gelagerten gesellschaftlichen Verbände, Vereinigungen und Einrichtungen zentrale gesellschaftliche Werte inkorporierten, so daß alle diese Gebilde gewissermaßen als Außenstationen der in sich selbst eng verschränkten Zentralinstitutionen Kirche, Staat und Rechtssystem gelten konnten. Es kam aber am Ende auch noch hinzu, daß die "herrschenden Werte" ihre Absicherung und Bestäti-

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gung im Medium des sozial Selbstverständlichen fanden, d. h. also in den ungeschriebenen sozialen Normen, Rollenleitbildern und Erwartungen, die im gesellschaftlichen Alltag im Umlauf waren, so daß ihre Geltung und Internalisierung durch sozialen Erwartungsdruck und durch die Sanktionspotentiale der Nachbarschaft und sonstiger Verkehrskreise - oder, wenn man so will, durch das, was man früher als ,,Sitte" bezeichnete - gesichert waren. Eine solche "wertintegrierte" Gesellschaft haben wir heute aber nicht mehr, oder nur noch in einem sehr eingeschränkten Maße. Es ist für den eingetretenen gesellschaftlichen Wandel charakteristisch, daß sehr Vielen diese wertintegrierte Gesellschaft der Vergangenheit heute als eine "unfreie", von religiöser Intoleranz, von hoheitlicher Bevormundung und von Zunftzwang gezeichnete Gesellschaft erscheint. Gerade dann, wenn man sich mit dem gewandelten Verhältnis von Institutionen und individuellen Wertorientierungen beschäftigt, muß man also zunächst sehr deutlich sehen, daß sich der Charakter der Institutionen selbst gewandelt hat, in deren Mittelpunkt heute nicht mehr wie ehedem die Funktion der Vermittlung und Verinnerlichung, oder kurz: der Gewährleistung von Werten feststellbar ist. Daß diese Funktionsbestimmung nicht mehr für den Staat gilt, lehrt bereits der flüchtige Blick auf das Grundgesetz und die repräsentativen Grundgesetzkommentare. Sie ist aber auch für die überwiegende Zahl der gesellschaftlichen Verbände, Vereinigungen und Einrichtungen außer Kraft getreten, die sich typischerweise nicht mehr in einen übergreifenden allgemeinverbindlichen Wertkanon integrieren, sondern vielmehr das ausdrückliche Recht besitzen und in Anspruch nehmen, sich aufbesondere Eigenwerte und -interessen zu beschränken. Selbstverständlich gilt dies letztlich auch und insbesondere für die Medien, d . h. also für diejenige wirklichkeitsbestimmende Macht der Gegenwart, die in den "wertintegrierten" Gesellschaften der Vergangenheit noch gar nicht vorhanden war. Wenn man aber davon ausgeht oder ausgehen muß, daß die Aufgabe der Formung- oder, wie man heute gern sagt: der Steuerung- der individuellen Wertorientierungen aufseitender zentralen gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr als eine wesentliche - oder auch nur legitime - Aufgabe angesehen wird, dann braucht man sich eigentlich auch nicht darüber zu wundern, daß die Werte inzwischen eine Eigendynamik entwickelt haben, die nicht unbedingt dem entspricht, was von einem gesamtgesellschaftlich bestimmten Reflexionsstandpunkt aus gesehen das eigentlich Wünschenswerte wäre. Thesenhaft ausgedrückt ist mit dem Wertsteuerungsverzicht der Zentralinstitutionen in der "pluralistischen" Gesellschaft die Beeinflussung der individuellen Wertorientierungen einer Art "Naturalisierung" verfallen. Sie

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werden von "situativen" Kräften verschiedenster Art - einschließlich der Medien- auf eine von niemandem mehr verantwortete oder auch nur nach einem verbindlichen Maßstab kontrollierte Weise geprägt (wobei die Einflußlinien, nebenbei bemerkt, derartig vielfältig und "vernetzt" sind, daß es schwerfällt, sie eindeutig voneinander abzuheben und darauf aufbauend eine "Theorie des Wertwandels" zu entwickeln). Man kann davon ausgehen, daß eine unmittelbare Folge der Ent-Institutionalisierung der individuellen Wertorientierungen in ihrer zunehmenden Pluralisierung zu sehen ist. Ganz zweifellos sind die Werte, die sich in der Bevölkerung finden, heute vielfältiger als früher, wobei die Differenzierung übrigens heute nicht mehr wie noch vor einiger Zeit primär den Trennlinien der sozialen Schichtung folgt, sondern anfängt, "kreuz und quer" zu laufen und gewissermaßen arbiträre Züge anzunehmen. Dies ist aber noch gar nicht das Entscheidende. Wenn wir heute von einem Wert- oder Wertewandel oder auch von einem "Wertwandlungsschub" sprechen, wie ich selbst dies zu tun pflege, dann implizieren wir vielmehr mit einer im Grunde genommen erstaunlichen Selbstverständlichkeit, daß die Werte auch flüssig, fluide geworden sind. Wir schieben damit leichten Fußes gewisse Grundannahmen über die Unwandelbarkeit der Werte beiseite, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit das Denken durchaus bestimmten. Um das Spezifikum dieses in der ersten Hälfte der 60er Jahre beginnenden Wertwandlungsschubs voll zu verstehen und würdigen zu können, muß man sich zunächst einige Grundunterscheidungen im Bereich der Werte vor Augen führen, die ich mit verhältnismäßig wenigen Strichen angehen will. Wenn man sich überlegt, welche Arten von Werten es eigentlich gibt, dann kann man mit der Auseinanderhaltung zweier Kategorien von Werten Einsichten erzielen, die für unsere gegenwärtigen Zwecke von weitreichender Bedeutung sind. Es gibt auf der einen Seite eine Fülle von Werten, die sich auf bewertbare materielle oder immaterielle Objekte beziehen und die eine Vorzugsordung hinsichtlich dieser Objekte herstellen. Man kann Reichtum oder Bedürfnislosigkeit, ein kriegerisches Leben oder die kontemplative Ruhe, die Heimat oder die erlebnisreiche Ferne, Schönheit oder Zweckmäßigkeit, Sicherheit oder Chancenfülle, den Anregungsreichtum zahlreicher Kontakte oder wahre Freundschaft hochschätzen. Es gibt lange Wertelisten, mit denen solche Werte, die man "Präferenzwerte" nennen könnte, festzuhalten versucht worden sind. Auf der anderen Seite gibt es nun aber auch andersartige Werte, denen offenbar eine völlig andere Aufgabe im Wertehaushalt zukommt, da sie nicht Präferenzen, sondern vielmehr diejenigen Bedingungen betreffen, unter denen solche Präferenzen herstellbar sind. Es geht hierbei um die Beschaf-

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fenheit des Grundverhältnisses des Individuums zu sich selbst und zur Welt der wählbaren Güter und insbesondere um die Frage, inwieweit der Einzelne überhaupt berechtigt ist, seinen auf diese Güter zielenden Wünschen und Bedürfnissen nachzugeben. Noch schärfer ausgedrückt geht es bei diesen Werten um die Frage, wie das unaufhebbare Spannungsverhältnis zwischen individueller Antriebsdisziplinierung und -versagung auf der einen Seite und individueller Antriebsrealisierung auf der anderen Seite beschaffen sein soll. Daß wir an diese Werte gewöhnlich gar nicht denken, wenn wir "Werte" im Blick haben, ist nichts anderes als ein Ausfluß eben derjenigen "Naturalisierung" der institutionellen und moralischen Phänomene, von der gerade eben die Rede war. In der Tat spielen aber eben diese Werte, die ich "regulative Werte" nennen möchte, bei der Konstitution der menschlichen Psyche, wie auch bei der sozialkulturellen Definition des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Sie liegen der Wahl präferierbarer Güter und Zustände als vorsteuernde Werte zugrunde; sie steuern aber darüber hinaus auch die Ziel-, Erwartungs- und Anspruchsniveaus des Menschen gegenüber dem Leben, wie auch grundlegende Aspekte seines Selbstbildes und seines Leitbildpotentials auf eine entscheidende Weise. Und nun lassen Sie mich ganz unvermittelt sagen, daß es das eigentliche Spezifikum des Wertwandlungsschubs seit der ersten Hälfte der 60er Jahre gewesen ist, daß er sich gerade auf diesen zentralen Basis- und Vorsteuerungsbereich der Werte konzentriert hat und daß er hier - ausgerechnet hier! - einschneidende Änderungen herbeigeführt hat.

II.

Ich kann auf die Empirie des Wertwandlungsschubs in diesem Augenblick nur in einer sehr abgekürzten Weise eingehen. Der Zusammenhang mit dem gerade eben Gesagten wird jedoch ohne weiteres verständlich werden, wenn ich meine aus der Forschung herausgewachsene Kurzformel zur Kennzeichnung dieses Schubs angebe. Sie lautet, daß ein Wandel von insgesamt abnehmenden Pflicht- und Akzeptanzwerten zu insgesamt zunehmenden Selbstentfaltungswerten stattgefunden hat. 2 Durchschnittlich abgenommen hat, mit anderen Worten, die Bejahung und Verbindlichkeit solcher Werte wie "Disziplin", "Gehorsam", "Pflichterfüllung", "Selbstlosigkeit", "Hinnahmebereitschaft", "Fügsamkeit" und 2 Vgl. zur näheren Kennzeichnung: Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/New York 19852 , S. 39ff.

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"Enthaltsamkeit", d. h. also von Werten, die dem Einzelnen eine Triebeinschränkung (oder auch einen "Triebverzicht") zugunsten überindividueller Ziele und Zwecke zum inneren Anliegen werden lassen. Umgekehrt hat durchschnittlich gesehen die Bejahung und Verbindlichkeit solcher Werte wie "Freiheit" (von Autoritäten), "Gleichbehandlung", "Gleichheit", "Demokratie", "Partizipation", "Autonomie" (des Einzelnen), dann aber auch hedonistischer Werte wie "Genuß", "Abenteuer", "Spannung", "Abwechslung", "Ausleben emotionaler Bedürfnisse" und endlich individualistischer Werte wie "Kreativität", "Spontaneität", "Selbstverwirklichung", "Ungebundenheit" und "Eigenständigkeit" zugenommen. Daß ein solcher bei den regulativen Grund- und Basiswerten ansetzender Wertwandlungsschub höchst folgenreich für das Verhältnis zwischen den Menschen und den Institutionen sein muß, kann man sich eigentlich an den zehn Fingern abzählen. Man kann sich auch vorweg auf den Standpunkt stellen, daß dieser Wertwandlungsschub in wesentlicher Hinsicht etwas mit derjenigen "Revolte nicht nur der Person, sondern überhaupt der Subjektivität" im Schnittpunkt divergierender moderner Anstalts- und Betriebsordnungen versachlichten Charakters zu tun hat, von der A. Gehlen in seinem Buch "Urmensch und Spätkultur" spricht. 3 A. Gehlen fügt an der betreffenden Stelle die Anmerkung hinzu, inmitten dieser Revolte kämen "sehnsuchtsvolle Abstraktionen" wie das "Engagement" oder die "konkrete Wahl" zum Vorschein. Handelt es sich bei den "neuen" Werten, die im Wertwandlungsschub zu verstärkter Geltung gelangten, vielleicht tatsächlich um solche "sehnsuchtsvollen Abstraktionen"? Spiegelt sich in ihnen in einer möglicherweise ideologisierten Form der Wunsch nach der Wiederherstellung verlorengegangener EngagementChancen in wirklichen, den Menschen mitsamt seiner Wertsphäre integrierenden "Institutionen"? Oder haben wir nicht vielmehr anS. Freuds Aussage zu denken, daß die Entwicklung der gesellschaftlichen Systeme den Menschen ein zunehmendes Triebopfer abverlange, das immer schwerer zu erbringen sei, so daß Revolutionen der Befreiung vom Institutionenzwang zu erwarten seien, mit denen aber die Gefahr des Kulturverlustes und des plötzlichen Rückfalls in frühere gesellschaftliche Entwicklungszustände ins Leben trete? Oder haben wir in diesem Wertwandlungsschub etwa- das wäre eine letzte Möglichkeit, in der die philosophische Tradition der Aufklärung zur Geltung gelangen würde - vielleicht auch einen Durchbruch zu einer höheren weil stärker individuierenden Stufe der menschlichen Verantwortung für sich selbst und insofern letztlich ein Aufleuchten des Portschrittsmotivs einer fortschreitenden Hominisation zu sehen?

3

A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 69.

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Bevor ich mich weiter auf das dünne Eis von Überlegungen in einer solchen Höhenlage der kulturtheoretischen Abstraktion begebe, will ich zunächst noch einiges zur näheren Charakterisierung des Wertwandlungsschubs selbst sagen. Genauer gesagt möchte ich - unter Überspringung sehr vieler Einzelheiten, die ich im Augenblick einmal voraussetze-, versuchen, eine Vorstellung von den Folgen des Wertwandlungsschubs im Bereich der individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen zu vermitteln. Da eigentlich sehr viele Differenzierungen zu beachten wären, die aber den gegenwärtig verfügbaren Raum sprengen würden, bediene ich mich hierbei eines Tricks, den wir von Max Weber gelernt haben, der idealtypisierenden Betrachtungsweise nämlich. Ich arbeite, mit anderen Worten, aus der Fülle der Einzelentwicklungen, die sich empirisch ausmachen lassen, eine einzige Entwicklungslinie heraus, die sich als ein überall mitschwingendes Basis-Element oder Ingrediens, oder auch als eine "durchgängige und charakteristische Dimension des Wandels" begreifen läßt. Ich begehe damit eine starke Vereinfachung, deren empirischer Status jedoch, wie ich meine, durchaus legitim ist und die überdies den Vorteil nach sich zieht, den Geist vor derjenigen unproduktiven Komplexitätsüberflutung zu schützen, die sich bei der Konfrontation mit schwach verarbeiteten Daten leicht einzustellen vermag. Ich gehe bei der Explikation der Folgen des Wertwandlungsschubs kurz gesagt davon aus, daß seitdem verstärkt mit einem Menschen zu rechnen ist, der eine "autozentrische", d. h. auf die eigene Person bezogene und von der eigenen Person her entworfene Grundorientierung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft entwickelt. (Ich möchte gleich in Klammern vermerken, daß ich den Ausdruck "egoistisch" ganz bewußt deshalb vermeide, weil er allzu eng wäre, um das, was gemeint ist, treffsicher zu kennzeichnen. Ich füge allerdings hinzu, daß es einige Berührungspunkte zwischen der autozentrischen und der egoistischen Einstellung gibt, die ich dort, wo ich diese Dinge näher ausgeführt habe, 4 keinesfalls verschwiegen habe.) Ich will nachfolgend einige der konkreten Merkmale der autozentrischen Einstellungs- und Verhaltensdisposition stichwortartig vorstellen, wobei ich betonen möchte, daß ich in diesem Augenblick keine Vollständigkeit anstrebe, sondern nur das Typische hervorhebe: Merkmale der autozentrischen Orientierung

- Bedürfnis, sich als autonome Person zu verwirklichen (= Selbsterlebens-, darstellungs-, -verwirklichungsbedürfnis, Bedürfnis nach Unabhängigkeit, Handlungsspielraum) 4 Helmut Klages, Wertedynamik. Über die Wandelba rkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988, S. 64 ff.

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Helmut Klages Inanspruchnahme des Rechts zu einem nur eigener Entscheidung entspringenden Verhalten Beanspruchung einer generellen Meinungsbildungskompetenz Übernahme von Pflichten und Erbringung von Leistungen nurmehr in Verbindung mit individueller "Motivation", "Einsicht", "Überzeugtheit" desgleichen: Bereitschaft zur Akzeptanz und Legitimitätsgewährung nur unter eben dieser Bedingung dabei allerdings: Individualistisches Nutzwertdenken - Geltendmachung von Gesichtspunkten des Endverbrauchers Anspruch einer Ausrichtung aller Institutionen "am Menschen" - vorrangige Betonung individueller Rechte (gegenüber Pflichten)

Ich möchte hervorheben, daß ich in diesem Augenblick darauf verzichte, diejenigen Unterschiede bezüglich dieser Merkmale darzustellen, die sich bei der Betrachtung einzelner Personengruppen in der Bevölkerung feststellen lassen. Ich arbeite mit den angegebenen Stichworten vielmehr eine "Tendenz" heraus, die sich mit dem Wertwandel bei überschläglicher Betrachtung verbindet. Ich stelle allerdings die Behauptung auf, daß diese Tendenz stark genug ist, um als eine "vorherrschende" und für die gegenwärtige Gesellschaft charakteristische Tendenz angesehen werden zu können. Ich gehe noch einen Schritt weiter, indem ich feststelle, daß es sich inzwischen sogar um eine weitgehend anerkannte Tendenz handelt, die eine deutliche Widerspiegelung in den Grundeinstellungen der Medien findet, die aber auch in der Politik, ja selbst in der Rechtsetzung und Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden hat und der somit laufend quasi-institutionelle Rechtfertigungen, Bestätigungen und Verstärkungen zugewachsen sind, so daß man kaum mehr von einem rein subjektiven Wandlungsphänomen sprechen kann. Wenn ich nunmehr auf Primär- und Sekundärfolgen der eben genannten Veränderungen eingehe, so verzichte ich auf die an und für sich erforderliche Darstellung des Netzwerks kausaler Verknüpfungen. Ich stelle ausschließlich zwei weitere Listen vor, die sich wiederum auf die Hervorhebung von besonders Typischem beschränken, ohne auf die Frage einzugehen, wie irgend etwas mit irgend etwas anderem im einzelnen zusammenhängt: Primärfolgen der autozentrischen Orientierung

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Bedürfnis nach "ungezwungener" Kommunikation, die es erlaubt, "sich einzubringen", die als persönlich "bereichernd" und" weiterbringend" empfunden wird und selbstbestätigend wirkt dahingegen: Empfindlichkeit und Bereitschaft zum "kritischen Engagement" gegenüber "bürokratischen" Vorschriften, Regeln, Normen; gegenüber "formalen" Autoritätsansprüchen; gegenüber "unbegründeten" oder "unverständlichen" Belastungen und Eingriffen; gegenüber "vermeidbaren" Gefährdungen durch "anonyme Interessen" etc.

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Verringerung der Akzeptanz von Prinzipien des rationalen Organisierens (im bisher üblichen Verständnis - Max Weber) Verringerung der Bereitschaft zur moralisch begründeten Normbefolgung und Leistungserbringung Neigung zur Ablehnung traditional begründeter sozialer Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkeiten (auch: Familiengründung, die nunmehr auf "rein persönliche" Entscheidung zurückgeführt wird)

Ich möchte ohne weiteren Kommentar gleich zu den Sekundärfolgen übergehen, d . h. also zu denjenigen Folgen, die sich, ganz grob gesprochen, aus den vorstehend dargestellten Primärfolgen ableiten, wobei ich auf die vorstehenden methodischen Einschränkungen verweise: Sekundärfolgen der autozentrischen Orientierung (Auswahl)

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Innere Abkehr von den großen Organisationen

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Bodengewinn "instrumenteller" Einstellungen ihnen gegenüber

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Motivationsverlagerung ins Private, in die "Freizeit"

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Disposition zur "Verdrossenheit" bei Erwartungsenttäuschung

-!-!-!-!-!-!-

Sinkende "Integrationsfähigkeit" politischer Parteien

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Abnehmende Fähigkeit der Kirchen, "die Menschen zu erreichen"

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Sinkende Bereitschaft zur ehrenamtlichen Tätigkeit in den großen Verbänden

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dagegen: Auftreten "neuer sozialer Bewegungen" von "Selbsthilfegruppen"

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zunehmender Kraftaufwand erforderlich für Legitimitätsgewinnung im politischen Raum - "Populismus", "Opportunismus" - Veränderung des politischen Systems

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Zunehmender Kraftaufwand erforderlich für die Mobilisierung benötigter Motivation in großen Organisationen (Vorreiter: Unternehmen)

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Zunehmender Kraftaufwand erforderlich für Kontrolle und Sanktion der Normbefolgung (Beispiele: Straßenverkehr, Schwarzarbeit, Steuerumgehung und -flucht)

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Abnehmende Kinderzahl

111. Ich möchte an dieser Stelle die auf den Wertwandel- oder Wertwandlungsschub- und seine Einstellungs- und Verhaltensfolgen bezogene Materialpräsentation abbrechen und mich direkt der Beantwortung der Frage zuwenden, die in der Themenstellung meines Referats enthalten ist, d. h. also der Frage nach dem Verhältnis von Wertwandel und institutionellem Engagement.

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Im Grunde genommen enthalten die bisher vorgetragenen Stichworte natürlich bereits eine Fülle von Einzelhinweisen zur Beantwortung dieser Frage, so daß es in diesem Augenblick eigentlich nur noch erforderlich erscheint, einige wenige Striche deutlicher nachzuziehen. Insbesondere dann, wenn wir von der gerade eben vorgeführten Auflistung von Sekundärfolgen der autozentrischen Orientierung ausgehen, erkennen wir unschwer sehr deutliche Einschränkungen der Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen, noch "institutionelles Engagement" zu erbringen. Überall dort, wo die autozentrische Orientierung einstellungs-und verhaltensbestimmend wirkt, wird, genauer gesagt, die Bereitschaft und Fähigkeit zur Erbringung von Engagement vom Vorhandensein von Vorbedingungen abhängig, die jedoch in unserer gegenwärtigen Organisationenwelt nicht oder nur sehr eingeschränkt, oder auch nur als Privileg von Minderheiten zur Verfügung stehen. Grob gesagt kann "Engagement" im Sinne eines sehr starken persönlichen Einsatzes auf dem Hintergrund des Wertwandlungsschubs nur in dem Maße erwartet werden, in welchem den Selbsterlebens-, Selbstdarstellungs- und Selbstbestätigungsbedürfnissen der individuellen Person, gleichzeitig aber auch ihrem Unabhängigkeitsbedürfnis und ihrem Wunsch, über dessen Einschränkung kraft eigener Souveränitätsrechte entscheiden zu dürfen, entsprochen werden kann. Insbesondere unsere gegenwärtigen Großorganisationen sind jedoch gerade nicht auf eine solche Grundlage der Herstellung von Übereinstimmung mit subjektiven Motivlagen hin gebaut. Sie bauen entweder schlicht auf habitualisierten Pflichterfüllungs-, Fügsamkeits-und Leistungsfahigkeiten und -bereitschaften auf, die bisher in vorgelagerten Sozialgebilden niedrigerer Ordnung wie insbesondere der Familie erzeugt worden sind, oder sie operieren mit "behavioristischen" Anreizmodellen, bei denen "Engagement" durch einen Tausch herbeigeführt wird, in welchem z. B. Geld gegen Arbeitsleistung aufgerechnet wird. Das Individuum braucht sich hierbei nicht direkt auf einer motivationalen Ebene zu engagieren, sondern kann ein höchst persönliches Ziel im Auge haben, das weit jenseits der jeweiligen Organisationsziele verortet ist. Es liegt hier also eben diejenige Trennung von Motiv und Zweck vor, die A. Gehlen überraschenderweise als einen typischen Grundsachverhalt des "institutionalisierten Verhaltens" als solchen anzusehen gewillt ist. 5 Ich möchte an dieser Stelle einflechten, daß auch derjenige Mensch, bei welchem eine autozentrische Orientierung wirksam ist, für einen materialistischen trade offsolcher Art durchaus noch zu haben ist. Es ist eben nicht so, wie Ronald lnglehart angenommen hatte, daß der Wertwandel in einem Übergang zu "post-materialistischen" Werten besteht. 6 Allerdings fallt auf, 5

Urmensch und Spätkultur, a.a.O., S. 35 ff.

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daß gerade die progressiven- und das heißt in diesem Fall: die flexiblen, die hellhörigen, die auf Spitzenleistungen bedachten - Unternehmen heute zunehmend weniger auf die Wirksamkeit materieller Anreize setzen und zu sogenannten nicht-materiellen Anreizen übergehen. 7 Es hat dies damit zu tun, daß diejenigen Menschen, bei denen eine autozentrische Orientierung vorherrscht, die gleichzeitig qualifizierte Tätigkeiten ausüben und die ein verhältnismäßig hohes Einkommen erzielen, mit materiellen Anreizen weniger gut steuerbar sind als mit immateriellen. Der Wertwandel ist hierbei eine mitwirkende Bedingung in einem allgemeineren sozio-ökonomischen Wandel. Insgesamt gesehen wirken hier mehrere Faktoren zusammen, die eine Umstellung erzwingen. Ich bin aber mit den letzten Sätzen eigentlich schon einen Schritt zu weit gegangen und mit einem Fuß in eine Thematik hineingeraten, die erst am Schluß meiner Ausführungen stehen soll, nämlich in die Frage, wie die bestehende Problematik eines Abfließens individueller Einsatzbereitschaften und -fähigkeiten aus den Großorganisationen bewältigt werden kann. Für den Augenblick muß zunächst noch die These nachgetragen werden, daß die Welt der Großorganisationen ganz offenbar in einer Krise steckt, die man, wenn man so will, als eine Institutionenkrise ansprechen kann. In dieser Krise fließen zwei Ursachenströme zusammen: Einmal die eingangs angesprochenen Wandlungen der Institutionen selbst, zum anderen aber auch die im Begriff des Wertwandels zusammengefaßten Wandlungen auf seiten der Menschen, deren Bereitschaft und Fähigkeit zum bedingungslosen Kraft- und Energieeinsatz in institutionalisierten Rollengefügen rückläufig geworden ist! Welche Bedeutung hierbei dem Wertwandel zukommt, erhellt daraus, daß es Sozialgebilde aus höchst unterschiedlichen historischen Herkunftsschichten sind, die betroffen sind. Betroffen sind ebenso die Kirchen, wie die großen Wohlfahrtsverbände und die politischen Parteien; betroffen sind letztlich aber auch die modernen Unternehmen, die unter rationalistischen Vorzeichen angetreten sind. Sie alle können heute nicht mehr im früheren Maße von präfabrizierten, auf Vorrauminstitutionen zurückführbaren generalisierten Bereitschaften und Fähigkeiten zum persönlichen Einsatz für institutionelle Zwecke profitieren; sie alle können nicht mehr im früheren Maße mit Pflicht- und Akzeptanzbereitschaften gegenüber Zielen und Absichten rechnen, die sich gegenüber den Individuen nur durch das Faktum 6 Vgl. u. a.: Ronald lnglehart, Wertwandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: H. Klages u. P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt/New York

1979 1,

s. 279 ff.

Vgl. hierzu z. B. T. Peters, Thriving on Chaos. Handbook for a Management Revolution, New York u. a. 1987, passim. 7

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ihrer mit Autorität ausgestatteten Etabliertheit rechtfertigen. Sie alle sind in einem zunehmenden Maße mit einer auf sich selbst bezogenen individuellen Subjektivität konfrontiert, die zwar den pragmatischen Kompromiß nicht ausschließt, die aber zur "vollen Hingabe", d. h. zu demjenigen kontinuierlichen Akt, den das Beamtenrecht immer noch als Norm festhält, nur unter der Bedingung hoher direkter Motiviertheil befähigt.

IV. Reflektiert man das Stichwort "Institutionenkrise" von einer sehr hohen - und das heißt letztlich: theoretischen - Warte aus, dann könnte es zunächst fraglich erscheinen, ob als Perspektive überhaupt mehr als die Feststellung einer Aporie, einer Auswegslosigkeit also, erwartbar ist. Insbesondere A. Gehlen hat in seiner Institutionenlehre Scharfsinn und Pathos darauf verwendet, festzustellen, daß die Prinzipien der Institutionalisierung mit denen einer auf sich selbst bezogenen Subjektivität nicht vereinbar seien, daß letztlich ein "Einbruch elementarer sozialmoralischer Grundlagen" drohe, wo die Bindung und Neutralisierung eben dieser Subjektivität nicht mehr möglich ist. Zahlreiche Vorgänge, die wir seit längerer Zeit beobachten können, scheinen diese Auffassung unmittelbar zu bestätigen. Daß den Kirchen die Kirchgänger wegbleiben, obwohl nachweislich sehr starke religiöse Bedürfnisse bestehen, daß die politischen Parteien sich auf Wechselwähler einstellen müssen, obwohl das "politische Interesse" über lange Jahre hinweg unaufhörlich zugenommen hat, daß die Wohlfahrtsverbände über einen Mangel an ehrenamtlichen Helfern klagen, obwohl Untersuchungen über die Engagementbereitschaft im sozialen Raum ein riesiges Aktivitätspotential aufdecken 8 - all dies und vieles andere mehr könnte, so scheint es, den Schluß zulassen, daß in Verbindung mit dem Wertwandlungsschub ein grundlegender "Riß" im gesellschaftlichen Gefüge eingetreten ist, der den Menschen und die organisierte Gesellschaft auseinanderreißt, so daß inmitten des wohlfahrtsgesellschaftlichen Wohlstands, inmitten der komplexen Strukturiertheil einer hochentwickelten rationalen Daseinsordnung ganz plötzlich der Blick auf offenliegendes Magma stößt, das wie ein hungriges Meer bereitsteht, um die fragilen und verwundbaren Strukturen der dem Chaos abgerungenen gesellschaftlich-geschichtlichen Welt zu verschlingen. Man könnte sich aus einer solchen abgedunkelten Optik auch fragen, ob überhaupt der Begriff "institutionelles Engagement" tragfähig ist, oder nicht vielmehr nur eine illusionäre Pseudo-Brücke markiert, mit deren Hilfe der 8 Vgl. hierzu J . Braun u. P. Röhrig, Praxis der Selbsthilfeförderung. Das freiwillige soziale Engagement am Beispiel von vier Städten, Frankfurt/New York 1987, S. 41 ff.

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bestehende ,.Riß" übertüncht werden soll. Für ,.Institutionen" konnte es ja bisher, so könnte man mit A. Gehlen sagen, typischerweise gar kein "Engagement" geben, da ihre Dauer, ja ihre bloße Existenz gerade umgekehrt durch engagementfreies Verhalten garantiert erschien. Daß die "Zwecke" unmittelbar zu ,.Motiven" werden sollen, dieser unbestreitbare Gehalt des Begriffs ,.institutionelles Engagement" könnte zumindest aus der Gehlensehen institutionentheoretischen Perspektive geradezu als ein Affront gegen jegliches erfahrungsgesättigtes Institutionenverständnis erscheinen. Ich will nun allerdings meine Darstellung nicht in einem solchen Sinne beendigen, sondern vielmehr umgekehrt dem Begriff des ,.institutionellen Engagements", den nicht ich selbst geprägt und gewählt habe, den ich aber doch als Themenbestandteil akzeptiert habe, einen bedeutungsvollen Stellenwert für die theoretische Fundierung des sozialen Handeins unter den durch den Wertwandlungsschub herbeigeführten veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zuschreiben. Es impliziert dies allerdings in der Tat die Notwendigkeit, an eine Institutionalisierbarkeit der auf ihre Selbsterhaltung und Selbstentfaltung bedachten Subjektivität zu glauben. Ich möchte an dieser Stelle den Faden wieder aufnehmen, den ich vorhin liegenließ, als ich ganz kurz von dem Übergang fortgeschrittener Unternehmen zu nicht-materiellen Anreizen sprach, und ich möchte - an diesem Faden entlang- zu einem Paradigma der institutionalisierten Subjektivität vordringen, das ich allerdings zugegebenermaßen im gegenwärtigen Augenblick erst in Umrissen vor mir sehe. Ich muß den Leser bitten, mir zu diesem Zweck einen Augenblick lang in ein verhältnismäßig entlegenes Gelände zu folgen, in die kanadische öffentliche Verwaltung nämlich, über die 0. Brodtrick gerade eine Studie mit dem Titel ,.Well-Performing Organizations in Public Administration" veröffentlicht hat. 9 Es wurde in dieser Studie gefragt, aufwelche Faktoren das herausragende Leistungsniveau bestimmter Verwaltungsorganisationen zurückführbar sei, die vorher aufgrund von Experteneinschätzungen ermittelt worden waren. In der Tat fand man vier solcher Faktoren, die wie folgt lauteten: Erstens ,.Emphasis on people", d. h. Bemühung um die Weckung und Nutzung der in den Mitarbeitern vorhandenen Fähigkeitspotentiale durch die Einräumung von Möglichkeiten, eigene Verantwortung auszuüben, Entscheidungen zu treffen und Autonomiespielräume auszufüllen. Der zweite Faktor lautete - horribile dictu - ,.partizipative Führung", d. h. eine solche Führung, welche ihre Aufgabe darin sieht, Ziele nicht nur 9 Die Studie erschien als chapter 4 des Annual Report 1988 of Auditor General of Canada to the House of Commons. Als "Extract" erschienen unter dem Titel "Attributes of Well-Performing Organizations" (Minister of Supply and Services Canada 1989, Cat. No. FA 1-1988/4, ISBN 0-662-56465-0).

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"vorzugeben", sondern zu artikulieren und die Mitarbeiter zur Identifikation mit ihnen zu veranlassen. Der dritte Faktor lautete "innovativer Arbeitsstil" und der vierte "Klientenorientierung" - man könnte übersetzen: Handlungsmotivierung durch ein kunden- oder bürgerbezogenes Dienstleistungsethos. Das alles klingt zugegebenermaßen ein wenig nach "humanistischer" Arbeits- und Organisationspsychologie, und ich möchte sehr stark betonen, daß die betreffende Untersuchung vom kanadischen Bundesrechnungshof durchgeführt wurde, d. h. also auf eine gewissermaßen "unverdächtige" Quelle zurückgeht, der man ein recht rigoroses Leistungsinteresse und eine grundsätzliche Respektlosigkeit gegenüber schönen aber unwirksamen Ideen zuschreiben kann. Aus der Perspektive dieser Untersuchung betrachtet gibt es die Chance einer Institutionalisierung von Subjektivität inmitten der modernen Organisationenwelt durchaus. Man kann sich sogar auf den Standpunkt stellen, daß das eigentliche Erfolgsgeheimnis der in die Studie einbezogenen Verwaltungen, die wohlgemerkt nach dem Merkmal exzellenter Leistungsfähigkeit ausgewählt worden waren, in der besonders gelungenen Institutionalisierung von Subjektivität besteht. "Institutionalisierung" heißt von daher betrachtet nun allerdings nicht mehr Entlastung vom Motivdruck des Subjektiven, sondern vielmehr gerade umgekehrt: Weckung, ja Produktion eines die Organisationszielsetzung unmittelbar aufnehmenden individuellen Motivdrucks (oder: Engagements). Eben diese Vorstellung liegt heute überall dort zugrunde, wo man von "Organisationsentwicklung" spricht, oder auch von der Ermöglichung einer "Organisationskultur", bzw. von "Corporate Identity". Wenn man so will, dann wird hier überall das Angebot von Chancen für die Verwirklichung autozentrischer Bedürfnisse als Mittel für die Erzeugung von "Engagement" eingesetzt. Natürlich muß es erlaubt sein, die Wortwahl etwas zu ändern und von einer "Instrumentalisierung" der Autozentrik zu sprechen, die hier stattfindet oder beabsichtigt ist. Eine Organisation, die auf das Engagement ihrer Mitglieder baut, kommt in der Tat ohne einen "Apparat", der seiner Herbeiführung dient, nicht aus und sie muß letztlich auch auf dessen Effektivität vertrauen können. Die Eliminierung des unbelehrbar Indifferenten oder Widerspenstigen wird man realistischerweise als die ultimaratioorganisatorischen Selbsterhaltungs-und Durchsetzungswillens mit in die Betrachtung einzubeziehen haben. Man wird aber ebenso einzubeziehen haben, daß der Prozeß der Institutionalisierung von Subjektivität durch die Erzeugung von individuellem Engagement typischerweise ein dichtes und alltäglich spürbares Netz von Wechselbeziehungen und -Wirkungen zwischen Individuum und Organisation

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voraussetzt, das die Anwendung des Prinzips des Organisierens "ad personam" einschließt. Jedenfalls gilt dies unter der Bedingung derjenigen "anthropozentrischen" Verfassungsnormen, die sich überall in der westlichen Welt herausgebildet und durchgesetzt haben und deren fortschreitende Positivierung wir allenthalben beobachten können. 10 Natürlich kann und muß man sich am Ende fragen, ob denn eigentlich der Nachweis der Chance der Institutionalisierung von Subjektivität durch die Erzeugung von individuellem Engagement das von der Trennung von Motiv und Zweck bestimmte Institutionenverständnis, wie es bei A. Gehlen vorherrscht, völlig entbehrlich werden läßt. Zweifellos ist dies nicht der Fall. Die schlichte Tatsache, daß die komplexe moderne Welt ungeachtet der "Institutionenkrise" immer noch "funktioniert", ist u. a. darauf zurückzuführen, daß eine ungeheure Vielzahl gelungener Motiv-Zweck-Trennungen und darauf aufbauender Institutionen noch intakt sind. Auch in Zukunft wird auf Regeln und Normen, denen ungeachtet häufigerer Änderungen - eine motiventlastete Geltung zukommt, in praktisch keinem einzigen Lebensgebiet verzichtet werden können. Man kann sich, darüber hinaus, auch auf den Standpunkt stellen, daß es weder heute noch in Zukunft darauf ankommt, die gesamte Motivationsenergie, die gegenwärtig den privaten oder kleingruppenförmigen Asylen der Autozentrik zufließt, in der Welt der Großorganisationen zurückhalten zu wollen, zumal sich am Beispiel der Selbsthilfebewegung belegen läßt, daß auf der Ebene der spontanen Kleingebilde personenbezogene Leistungen erzielbar sind, die großen Gebilden schwer zugänglich sind. Nichtsdestoweniger sollte die Thematik des institutionellen Engagements nicht als eine spezielle Thematik der kleinen und informalen Vergesellschaftungsformen verstanden werden. Es würde dies eine Verengung des Blicks bedeuten, die einem realistischen Gesellschaftsbild abträglich wäre. Die Institutionalisierung der Subjektivität durch die Erzeugung von Engagement sollte als eine "Selbsthilfe der großen Organisationen" unter den Bedingungen des Wertwandels denjenigen Platz im Blickfeld des Sozialwissenschaftlers einnehmen, der ihr zukommt!

10 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984, S. l27ff.

5 Symposion

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Institution und Gemeinschaft Überlegungen zur Autorität und Authentizität in orthodoxer Sicht I. Einleitung

Als ich vor fast dreißig Jahren mein Studium an der Universität Münster aufnahm, war der Jubilar dort ein junger Professor, von dem man in der griechischen Münsteraner Kolonie - und das ist unter Griechen nicht selbstverständlich - mit Bewunderung und einem gewissen Stolz sprach. Dies gehört zu den ersten, bleibenden Erinnerungen meines Lebens in der Bundesrepublik Deutschland, in der ich auf einem anderen Gebiet als der Jubilar wirken darf. Daraus möchte ich als eine Art theologischen Antidorons oder sokratischen Tokos für die Verdienste des verehrten Kollegen Herrn Papalekas einige Überlegungen vortragen, die etwas von der soziologischen Eigenart seiner, unserer Kirche vermitteln. Es ist schon längst zu einem Topos geworden, die drei großen Zweige des Christentums mit drei Aposteln zu identifizieren und die römisch-katholische Kirche petrinisch, die evangelische paulinisch und die orthodoxe johanneisch zu nennen. In Anwendung dieser Typologie läßt der russische Religionsphilosoph Wladimir Solowjew in seiner "Erzählung vom Antichrist" 1 die spezifische Einstellung der drei Kirchen zur Autorität erkennen. Vater Pansofij, der fingierte Verfasser der Erzählung, berichtet von einem ökumenischen Unionskonzil, das der Antichrist in seiner Kaiserstadt Jerusalem einberufen hat. Im Konzil, das unter seinem Vorsitz stattfindet, ragen unter den Konzilsvätern drei Persönlichkeiten hervor: Papst Petrus II., der Leiter der katholischen Delegation. Es handelt sich um den früheren Kardinal Sirnone Barionini (vgl. Mt 16, 17: "Selig bist du, Sirnon Bariona ... "), einen ehemaligen Karmeliterprediger einfacher Herkunft aus der Provinz Neapel. Das Konklave hatte ihn in Damaskus einstimmig gewählt, als sein 1 Deutsche Gesamtausgabe der Werke von W1adimir So1owjew, Bd. VIII, München 1980, 259-294; 541-587.

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Vorgänger auf dem Weg zum Konzil starb. "Er war ein temperamentvoller, ungestümer Mensch, redete mit Feuer und schwungvollen Gesten und riß seine Zuhörer mehr hin, als daß er sie überzeugte." Die evangelischen Konzilsmitglieder wurden geführt durch einen hochgelehrten deutschen Theologen, Professor Ernst Pauli. "Er war ein ausgetrockneter älterer Herr ... Seine Augen zeichneten sich durch einen eigenartigen, grimmig-gutmütigen Blick aus." Name und Beruf des evangelischen Delegationsleiters umschreiben näher den paulinischen Charakter des Protestantismus, der in Rußland oft als Professorenreligion charakterisiert wurde. Der eigentliche, wenn auch nicht offizielle Führer der orthodoxen Konzilsteilnehmer war der Staretz Johannes, der offiziell als Bischof im Ruhestand geführt wurde. Seine Herkunft war nicht genau bekannt; vielmehr waren verschiedene Legenden über ihn im Umlauf. Er war "ein sehr alter, aber rüstiger Greis, Locken und Bart waren weiß ... und der Ausdruck seines Gesichts und seine Rede war von einer rührenden Güte." Wie versteht nun die orthodoxe Theologie diese johanneische Autorität bzw. Authentizität und wie gestalten sie sich in der orthodoxen Kirche? II. Die importierte Fragestellung

Die umfangreiche orthodoxe Literatur zur Frage der Autorität bzw. Authentizität in der Kirche 2 ist primär durch eine importierte Problematik geprägt, die im Mittelalter, vor allem im Zusammenhang mit dem großen abendländischen Schisma, namentlich auf den beiden Konzilien von Konstanz und Basel, entstand, nach der Reformation konfessionalisiert und schließlich durch das I. Vatikarrum verschärft wurde. Es war der große, verhängnisvolle Fehler der orthodoxen Theologie, sich in der Auseinandersetzung mit dem I. Vatikarrum und ihrer gleichzeitigen Abgrenzung zum Protestantismus auf die Denkweise und die theologischen Strukturtypen der lateinischen Theologie und deren Problemstellung einzulassen. Das bedeutet - um jedem Mißverständnis vorzubeugen- nicht eine Verurteilung jeglicher Beschäftigung mit Problemen anderer Kirchen, vor allem wenn sie durch ihre Entscheidungen die Gesamtchristenheit zur Stellungnahme herausfordern, sondern eine Kritik an der Eignung fremder Denkmodelle beim Versuch, eine eigene Antwort zu geben. Die Folgen dieses theologischen Mißgeschicks sind bis heute unverkennbar, wie geradezu exemplarisch die zwei bekannten, divergierenden Hauptrichtungen orthodoxer Antwortversuche auf die Frage nach der Autorität in der Kirche demonstrieren. 2 Vgl. die Literaturangaben bei A. Kallis, Orthodoxe Kirche, in: Theologische Realenzyklopädie 18 (1989), 261 f.

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Die traditionelle orthodoxe Dogmatik begegnet den zwei extremen Richtungen westlicher Ekklesiologie, dem monarchischen Kirchensystem und der antiinstitutionellen, geistlichen Kirchenvorstellung, mit der konziliaren Ekklesiologie, die in ihrer Grundmotivation einen charakteristischen und prinzipiellen Wesenszug der orthodoxen Kirche als einer eucharistischen Gemeinschaft vermittelt, durch die apologetische Gesinnungjedoch institutionalisiert, verabsolutiert und mit Elementen belastet wird, durch die sie ihre orthodoxe Eigentlichkeit verliert und zu einer Variante westlicher Ekklesiologie wird. Sie weist zwar entschieden sowohl den Primat wie auch die Unfehlbarkeit des Papstes zurück, doch sie stellt, entgegen ihrer Absicht, diese Dogmen nicht prinzipiell in Frage, sondern überträgt sie auf das ökumenische Konzil, das somit zu einer Art Papstkollektiv umfunktioniert wird. Besitzt nach katholischer Lehre der Papst die oberste Gewalt über die Gesamtkirche und als oberster Lehrer in seinen Glaubenslehrentscheidungen die Unfehlbarkeit, so spricht man orthodoxerseits diese Vollmachten dem ökumenischen Konzil zu, das allein als "die höchste Verwaltungs-, Gesetzgebungs-, Gerichtsbarkeits- und Lehrgewalt und Autorität in der Kirche" angesehen wird. 3 Vor allem gilt das ökumenische Konzil als das "höchste und authentische Organ unfehlbaren Ausdrucks der Kirche". 4 Besonders bemerkenswert ist die hier zutage tretende neuscholastische Denkweise, die sowohl in ihrem Ansatz wie auch in ihrem syllogistischen Aufbau an westliche Denkversuche erinnert, durch die gerade die in der Orthodoxie bekämpfte Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes begründet werden sollte: "Wenn der Bischof der höchste Träger der kirchlichen Gewalt ist, ist es offenkundig, daß die höchste Instanz der einzelnen Kirchen die Synode der Bischöfe ist, aller orthodoxen Kirchen die Gesamtheit der Bischöfe. Und wenn die Gesamtkirche, die die Verheißungen und die Autorität des Heilandes trägt und vom heiligen Geist geleitet wird, . . . unfehlbar ist, läßt sich naturgemäß folgern, daß auch das Organ, durch das sich die Gesamtkirche äußert, d. h. die Gesamtheit der Bischöfe, unfehlbar ist". 5 Dieses ausgesprochen westliche Gedankengebäude wird immer wieder aufpoliert oder völlig unverändert präsentiert, um die Autorität und die Unfehlbarkeit des ökumenischen Konzilsanstatt des Papstes darzulegen. Im konfessionalistischen Eifer hat man verkannt, daß zwischen Besitz und unfehlbarem Ausdruck der Wahrheit ein gewaltiger Unterschied besteht und I. Karmiris, Ekklesiologie (griech.), Athen 1973, 667. St. Charkianakis, Das Bewußtsein der Kirche und ihre Unfehlbarkeit, in: Was ist die Kirche? Seminar von Theologen Thessalonikis 3 (griech.), Thessaloniki 1968, 72; vgl. u. a. Chr. Androutsos, Dogmatik der Orthodoxen Östlichen Kirche (griech. ), Athen 2 1956, 288; P. Trembelas, Dogmatik der Orthodoxen Katholischen Kirche (griech.), Athen 1959, li, 402; B. Winogradow, In orthodoxer Schau, München 1958, 21. 5 Chr. Androutsos, Dogmatik, 287. 3

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daß in der Tradition der orthodoxen Theologie und Spiritualität der Begriff Unfehlbarkeit fremd ist; dort begegnet man stattdessen der Kategorie der Wahrheit, verstanden nicht primär als eine abstrakte Lehre, sondern als das Leben in der Wahrheit. "In alle Wahrheit einführen" (Joh 16, 13) heißt nicht Unfehlbarkeitsgarantie bei der begrifflichen Formulierung von Glaubenssätzen, die daher absolut und unverrückbar wären, sondern Beistand des Heiligen Geistes bei der immer neuen, den Anforderungen der Zeit entsprechenden Aktualisierung der Glaubenswahrheiten im Leben der Kirche. Bei aller heftigen Kritik orthodoxer Theologen an den Primats- und Unfehlbarkeitsdogmen des I. Vatikanums haben sie sich oft, indem sie beide Dogmen prinzipiell hingenommen haben, von ihrer Tradition losgelöst und gedanklich-theoretisch in die Nähe der vatikanischen Ekklesiologie begeben. Angesichts solcher Denkkonstruktionen ist es nicht verwunderlich, daß dann katholischerseits selbst für die als Alternative zur katholischen Primatslehre in der Orthodoxie vertretene Theologie der Gemeinschaft festgestellt wird, daß sie "- wenn man von der entscheidenden Ablehnung des letzten Kriteriums dieser Gemeinschaft, des Bischofs von Rom, absieht insgesamt gesehen, mit der katholischen Ekklesiologie identisch" ist. 6 Diese Feststellung ist aufschlußreich, da sie in ihrer immanenten Widersprüchlichkeit die Realität widerspiegelt; denn was ist das für eine orthodoxkatholische Lehridentität in der Theologie der Gemeinschaft, wenn man "von der entscheidenden Ablehnung des letzten Kriteriums dieser Gemeinschaft'' absehen muß? Handelt es sich nicht vielleicht primär um eine Übereinstimmung, die nicht so sehr in der Sache als Ganzem liegt, sondern vielmehr in einzelnen Elementen und vor allem im System, d. h. in der vorwiegend juridisch-formbefangenen Hervorhebung des Institutionellen der Gemeinschaft, deren geistig-mystischer Charakter dabei aus den Augen verloren wird? 111. Die Neubesinnung auf die orthodoxe Ekklesiologie

Eine kritische und bereinigende Auseinandersetzung mit der Entfremdung der orthodoxen Theologie erfolgte auf panorthodoxer Ebene 1936 beim Ersten Kongreß der Orthodoxen Theologie in Athen, 7 obschon es an einzelnen Hinweisen auf die Identität der orthodoxen Theologie schon früher nicht gefehlt hat. Dazu gehört z. B. der russische Religionsphilosoph und autodidaktische Laientheologe Aleksej Chomjakov, der um die Mitte 6 M. J . Le Guillou, Sendung und Einheit der Kirche. Das Erfordernis einer Theologie der communio, Mainz 1964, 567. 7 Proces-verbaux du Premier Congres de Theologie Orthodoxe a Athenes 29 Novembre - 6 Decembre 1936, ed. H. S. Alivisatos, Athen 1939.

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des 19. Jahrhunderts mit seiner Katholizitäts- (Sobornost-)Ekklesiologie keineswegs, wie seine Gegner behaupten, mit der orthodoxen Vergangenheit völlig brach, sondern im Gegenteil in Vergessenheit geratene ekklesiologische Aspekte neu belebte. Chomjakov beruft sich wiederholt auf die Stellungnahme der Patriarchen des Ostens vom Mai 1848 zur Enzyklika des Papstes Pius IX. "In suprema Petri apostoli sede" vom 6.1.1848. Darin lehnen die Patriarchen den Unionsaufruf des Papstes im Sinne der Rückkehr entschieden ab und bemerken im berühmten § 17: "Bei uns haben weder Patriarchen noch Konzilien jemals vermocht, Neuerungen einzuführen, da der Verteidiger der Glaubenslehre der Leib der Kirche selber, d. h. das Volk selbst ist."8 Während man durch eine an Wortklauberei grenzende Interpretation dieses Textes Chomjakov Fehlinterpretation vorwirft, um ihn als Opfer protestantistischer Theologie und als orthodoxen Reformator hinzustellen, erfaßt er doch treffend den Grundgedanken der Patriarchen, wenn er bemerkt: "Die unerschütterliche Festigkeit, die unerschütterliche Wahrheit des christlichen Dogmas hängen nicht von dem Stande der Hierarchen ab; sie liegen in der ganzen Fülle, in der Zusammengehörigkeit des Kirchenvolkes aufbewahrt, das die Kirche und den Leib Christi bildet. Weder die hierarchische Gewalt, noch die Bedeutung des geistlichen Standes können als Bürgschaft für die Wahrheit anerkannt werden. Das Wissen um die Wahrheit wird nur der gegenseitigen Liebe geschenkt. Die Erkenntnis der Wahrheit ist streng geschieden von den rein hierarchischen Obliegenheiten, d. h. von der Verwaltung der Mysterien und der Aufrechterhaltung der Kirchenzucht. Die Gabe der unveränderlichen Erkenntnis, die nichts anderes als den Glauben selbst bedeutet, wird nicht einzelnen Personen, sondern der Gesamtheit des kirchlichen Leibes zugeschrieben und hängt eng zusammen mit dem ethischen Prinzip der gegenseitigen Liebe. " 9 Die Liebe ist nach Chomjakov das "organische Prinzip der Kirche, deren Leben in der Erkenntnis Gottes und seiner Geheimnisse besteht". 10 Er steht mit seinem Grundgedanken durchaus auf dem Boden der Vätertradition, 11 wenn er die Unfaßbarkeit Gottes und die Unendlichkeit seiner Wahrheit hervorhebt, die der Mensch nicht rationalistisch durchdringen kann, son8 I. Karmiris, Dogmatica et Symbolica Monumenta Orthodoxae Catholicae Ecclesiae, Graz 2 1968, II, 920; vgl. ebd. I, 444, den gleichen Gedanken im ersten theologischen Schreiben des Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. vom 15. Mai 1576 an die Tübinger Professoren. 9 Zitiert bei St. Zankow, Das orthodoxe Christentum des Ostens, Berlin 1928, 85. 10 A. Chomjakov, L'Eglise latine et Je Protestantisme au point de vue de I'Eglise d'Orient, Lausanne et Vevey 1872, 117. 11 P. Evdokimov, Christus im russischen Denken, Trier 1977, 71, weist auf Professor Barsow hin, der die apostolischen und patristischen Züge der Theologie Chomjakovs hervorgehoben hat.

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dern im Erlebnis der Wahrheit in der Kirche erfährt als eine durch die Liebe mit Christus und untereinander vollzogene mystische Vereinigung, in der die Wahrheit existiert und der göttliche Geist sich in der Menschheit manifestiert.12 In diesem Organismus des Glaubens und der Liebe kann es kein Wahrheitsprivileg, weder für eine Person noch für eine bestimmte Gruppe, geben; denn die Wahrheit ist dem ganzen Kirchenvolk anvertraut, "in welchem hinsichtlich der Glaubensfrage kein Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten, Geistlichen und Laien, Mann und Frau, Herrscher und Untertanen, Herren und Sklaven besteht, wo, wenn es nötig ist, nach dem Willen Gottes der Jüngling die Gabe der Vision empfängt und das Kind das Wort der Weisheit, wo der unwissende Schäfer die Ketzerei des gelehrten Bischofs widerlegt, auf daß alle eins seien in der freien Einheit des lebendigen Glaubens, welcher die Offenbarung des Geistes Gottes ist. Das ist das Dogma, welches dem Gedanken der Konzile zugrunde liegt". 13 Es ist das große Verdienst Chomjakovs, das Problem der christlichen Wahrheit von der Autoritätsfrage gelöst zu haben, und zwar in bewußter Abgrenzung zu den Kirchen des Westens, denen er den Vorwurf der Bevormundung des Kirchenvolkes macht, das aus seiner Stelle als Bewahrer der geoffenbarten Wahrheit durch die Autorität entweder des Papstes oder der Schrift als Buch verdrängt wurde. 14 Wer diesen wichtigen Unterscheidungsversuch als Ausdruck des revolutionären Geistes der Slavophilen abtut, sollte konsequent auch Kirchenväter dazu rechnen, wie z. B. Johannes Chrysostomos, der die ontologische Gleichstellung von Klerikern und Laien vertritt und nur einen Dienstunter· schied anerkennt. 15 Es liegtgewiß hier kein quellenmäßiger Zusammenhang vor, doch die auffallenden Parallelen müssen den Kritiker zum Aufhorchen zwingen, denn er ist nicht ein Slavophiler, sondern derselbe Kirchenvater, der von den getauften Christen als einem neuen einheitlichen Edlenstand spricht, "ohne Unterschied zwischen Sklavemund Freiem, Ausländer und einheimischem Bürger, Altem und Jüngling, Gelehrtem und Ungelehrtem, Untertan und Herrscher, Frau und Mann". 16 Man könnte hier eine ganze Reihe orthodoxer Theologen anführen, die diesen Gedanken aufgenommen und weiterentwickelt haben; besonders A. Chomjakov, L'Eglise, 44 f.; 52 f. A. Chomjakov, Einige Worte eines orthodoxen Christen über die abendländischen Glaubensbekenntnisse, in: Östliches Christentum, ed. N. v. Bubnoff I H . Ehrenberg, München o.J., I, 179. 14 Vgl. J. Meyendorff, Die Lehrautorität in der Tradition der orthodoxen Kirche, in: Concilium 12 (1976), 426. 15 Jo. Chrysostomos, in Jo. 10, 2: PG 59, 75; Horn. in ll Thess. 4, 4: PG 62, 492. 16 Jo. Chrysostomos, Horn. in I Cor., Nolo vos ignorare 3: PG 51, 247. 12

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bemerkenswert ist aber eine dritte Parallele zu einem Text aus der Feder des Athener Dogmatikers Ioannes Karmiris, der mit Vorliebe herangezogen wird, um den grundsätzlichen Abfall Chomjakovs von der Orthodoxie zu demonstrieren. Karmiris erblickt im Haupt (J esus) und in der Seele (Heiliger Geist) der Kirche die Garanten der "Unfehlbarkeit" in der Kirche, die in ihrer Gesamtheit durch den Geist der Wahrheit vor dem Irrtum bewahrt wird, 17 und führt aus: "Eigentlich unfehlbar ist das gemeinsame Glaubensund Heilsbewußtsein des Kirchenvolkes, d. h. des ganzen Klerus und des Volkes, da alle, die Kleriker und die Laien, die Herrscher und die Beherrschten, die Herren und die Sklaven, die Männer und die Frauen, Glieder des Leibes Christi und Gabenbesit~er des Heiligen Geistes sind ... und gemeinsam die Fülle oder das Ganze oder den Leib der Kirche bilden, der allein in der Orthodoxie als unfehlbar und als vom Heiligen Geist geführt gilt." 18 IV. Lehrcharisma und consensus ecclesiae Der gegen Chomjakov erhobene Vorwurf eines ekklesiologischen Indifferentismus besteht nur teilweise zu Recht, denn Chomjakov lehnt nicht die Sonderstellung der Hierarchie ab, sondern er versucht, sie aus einem Bereich über die Kirche in den kirchlichen Organismus einzugliedern, obschon er in diesem Bemühen in die Nähe des Protestantismus gerät, wie seine Gegner in die des Katholizismus. Chomjakov wendet sich sowohl gegen Katholizismus wie auch Protestantismus und vertritt einen durchaus orthodoxen Standpunkt, wenn er behauptet: "Die Kirche erkennt keine andere lehrende Kirche an als sich selbst in ihrer Gesamtheit." 19 Diese Feststellung ist nicht gegen die Hierarchie gerichtet, sondern gegen einen protestantischen Subjektivismus und einen katholischen Zentralismus; denn er schließt nicht aus, "daß der Klerus mit dem Dienst des Wortes besonders betraut ist". 20 Er geht allerdings zu weit, wenn er an anderer Stelle ·das besondere Lehramt der Hierarchie in seinem Kern relativiert, indem er die sakramentale Bedingtheit außer acht läßt: "Die Kirche gibt den Bischöfen die Ehre und das Recht, ihre (der Kirche) dogmatischen Entscheidungen kundzugeben; sie beläßt sich aber das Recht, darüber zu urteilen, ob ihr Glaube und ihre Tradition wahr (richtig) befolgt worden sind." 2 1 Hier übersieht er das Lehrcharisma, das im kirchlichen Organismus bestimmten Gliedern zuteil wird, und bricht in der Tat mit der orthodoxen 17 18

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I. Karmiris, Ekklesiologie (s. Anm. 3), 326. Ebd., 337 f. A. Chomjakov, Einige Worte (s. Anm. 13) 173. Ebd., Anm. 1. Zitiert bei St. Zankow, Das orthodoxe Christentum (s. Anm. 9), 85, Anm. 48.

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Tradition, in der das Charisma veritatis mit dem Priestertum verknüpft wird und nicht mit persönlicher Fähigkeit oder Heiligkeit. Diese Exousia ist auch nicht ein demokratisches Amt, denn es ist vom Stifter der Kirche verliehen und durch die apostolische Nachfolge gesichert. Es liegt allerdings ein logischer Trugschluß vor, wenn man daraus eine Lehrautorität der Hierarchie ex sese ableitet, und das Amt zu einer über der Kirche thronenden Autoritätsinstanz stilisiert, durch die christliche Lehre verbindlich wird. Denn die Zugehörigkeit und diakonisch-charismatische Bezughaftigkeit zu der apostolischen Gemeinde, der die Wahrheit anvertraut ist und in der sie unverfälscht bewahrt wird, bedingt die apostolische Sukzession der Amtsträger als Vergegenwärtigung der kontinuierlichen Einheit der Kirche. Nur aus deren Glaubenserfahrung und -Übereinstimmung heraus legt der Bischof ex officio Zeugnis ab. Nicht also sein Amt oder auf panchristlicher Ebene die formale Ökumenizität eines Konzils ist der Grund für die Verbindlichkeit von Glaubensaussagen, sondern deren durch die Gesamtkirche bezeugter Wahrheitsgehalt, und zwar nicht als ein nachträglicher Rezeptionsakt, sondern als Basis und Kriterium, d. h. als eine vorausgehende Übereinstimmung. Nicht eine objektivierte Autorität macht das christliche Zeugnis verbindlich, sondern das Zeugnis selbst durch seine durch die Gesamtkirche bewahrte Authentizität, die Treue zu der einzigen eigentlichen Autorität in der Kirche, dem in ihr präsenten Christus. Hierarchie und Autorität sind keine Kategorien einer autonomen Machtinstitution, sondern der innerkirchlichen Relation nach dem Urbild der göttlichen Dreieinigkeit, deren Abbild die Kirche ist. Zwischen den Gliedern der Gemeinschaft besteht kein ontologischer, sondern ein Dienstunterschied, der sich in der Dienstvielfalt manifestiert und durch eine Art trinitarischer Relation die Harmonie des kirchlichen Organismus konstituiert, in dem Ehre, Achtung, echte Autorität walten. Insofern hat Nikolaj Afanassiev22 recht, wenn er meint, "daß in der Kirche nichts ,ex sese' geschehen kann". Alles erfolgt ex consensu Ecclesiae, in Treue zu der Glaubenserfahrung der Gesamtkirche. Daher braucht die Kirche keine äußerliche, juridische Autorität, um Zeugnis abzulegen; denn das gibt sie als Leib jenes, der "der Weg und die Wahrheit und das Leben" ist (Joh 14, 6), nicht aufgrundeines Systems "von oben" oder "von unten", sondern aus der Fülle ihrer lebendigen Glaubenserfahrung. Georgij Florovski,2 3 Vladimir Lossky24 und John Meyendorff2 5 weisen auf eine aufschlußreiche Unterscheidung hin, die Basileios der Große zwi22 ,L'Infaillibilite de l'Eglise du point de vue d'un theologien orthodoxe, in: L'Infaillibilite de I'Eglise, Journees oecumeniques de Chevetogne 1963, 199. 23 Der Leib des lebendigen Christus. Eine orthodoxe Interpretation der Kirche (griech.), Thessaloniki 1972, 74f. 24 Die Tradition und die Traditionen, in: V. Lossky I L. Ouspensky, Der Sinn de1 Ikonen, Bern/Olten 1952, 12 f.

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sehen Dogma und Kerygma macht. Das Dogma als die unveröffentlichte Geheimüberlieferung wird von der Gesamtheit der Gläubigen erlebt und im "Schweigen" bewahrt, während das Kerygma als die Verkündigung und offizielle Lehre der Kirche primär das Werk ihrer Amtsträger ist, die jedoch nur in Verbindung mit der Gemeinschaft und gebunden an die in ihr erlebten Offenbarungswahrheiten wirken können und das unaufhörliche Bemühen der Gemeinschaft, die in ihr zur Lebenserfahrung kristallisierte geoffenbarte Wahrheit begrifflich darzulegen, leiten. Das erklärt zum einen eine gewisse Spannung zwischen Hierarchie und Kirchenvolk, zwischen lehramtlicher Verkündigung und Wahrheitsbestand26 und zum anderen den ungewöhnlichen Umstand, daß in der orthodoxen Kirche verschiedene de facto-Autoritätsformen entstehen können, für die es keine kanonische Legitimation gibt. Dazu gehört z. B. die geistliche Autorität prophetischer Gestalten und verschiedenartiger Gemeinschaften, die vor allem in Zeiten amtskirchlichen Versagensam stärksten hervortritt. Durch die Werke Dostojewskijs ist auch im Westen der charismatisch-autoritative Einfluß der Starzen in der Russischen Kirche des 19. Jahrhunderts bekannt geworden. Der Einfluß und das Ansehen der "Alten", im geistlichen Leben erfahrenen Mönche, waren entschieden stärker als die der offiziellen kirchlichen Hierarchie. Angesichts dieser orthodoxen Erfahrung erscheint mir bedenklicher noch die bereits erwähnte (antichomjakovsche) Gegenthese, die eine auffallende, teilweise wörtliche Anlehnung an das I. Vatikanum aufweist, das eine Variante erfährt, indem an Stelle des Papstes das ökumenische Konzil gesetzt wird. Hier demonstriert Androutsos, den man auch heute gegen Chomjakov heranzieht, trotz all seiner antikatholischen Polemik, das Eindringen der katholischen Dogmatik in die orthodoxe Theologie eklatant, indem er das Verhältnis des ökumenischen Konzils zur Gesamtkirche nach dem Modell des I. Vatikanums bestimmt: "Obschon nämlich der Heilige Geist das Prinzip der ökumenischen Konzilien ist und die Hierarchen in freier Diskussion und kanonischer Zusammenkunft in Generalkonzilien ipso jure sich äußern und diese ihre Entscheidungen aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unfehlbar sind, bildet dennoch die Annahme ihrer Entscheidungen durch die Kirche das äußerliche Kriterium, daß sie bei ihren Lehrdefinitionen vom Heiligen Geist geleitet wurden und richtig den Glauben der Kirche erklärten, deren legitime Vertreter sie sind." 27 Die Lehrautorität (s. Anrn. 14), 428. Mit Bezug auf die heutige Exegese meint S. Agourides, Die Gerneinschaft der Glaubenden als Ort lebendiger Tradition. Moderne Hermeneutik im Licht der Väterexegese, in: Una Saneta 32 (1977), 165: "Die Väter empfinden keinen Mißklang zwischen Verkündigung und Offenbarungsereignis dank ihres Glaubens an die bleibende Gegenwart der Wahrheit, die liebend wirksam ist in ihrer Mitte durch den Heiligen Geist." 27 Chr. Androutsos, Dogmatik (s. Anrn. 4), 290. In Anlehnung an Androutsos spricht 25

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Es ist bedauerlich, daß in der orthodoxen Theologie bei der Auseinandersetzung um die kirchliche Lehrautorität der eucharistische Koinonia-Gedanke verlorenging, indem in einem Iegalistischen Denken Grundkategorien orthodoxer Ekklesiologie und Theologie im eigentlichen Sinn zu Gunsten eines juridisch-institutionellen Pragmatismus, mit dem die orthodoxe Kirche, wenn sie sich selbst treu bleibt, nichts anfangen kann, aufgeopfert wurden. Die Suche nach einer Instanz, die das letzte Wort für immer, und dies unfehlbar, in der Kirche haben soll, entartet zu einer Sophisterei, die aus der Kirche als einem lebendigen Organismus ein Organisationssystem entwickelt, ohne wenigstens als System zu imponieren. Bei den einen muß man sich fragen, worin der tiefere Sinn bei der Zustimmung des Kirchenvolkes als äußerliches Kriterium besteht, wenn ein ökumenisches Konzil ex sese unfehlbar ist, es sei denn, die Gesamtkirche entscheidet über die Ökumenizität des Konzils! Die anderen, mit Chomjakov an der Spitze, schaffen, obwohl sie den gesamtkirchlichen Aspekt hervorheben, schließlich doch eine Kluft zwischen Hierarchie und dem übrigen Kirchenvolk, indem sie das Lehramt isoliert von der Gesamtkirche betrachten, die sie zur höchsten Autorität erklären, ohne bestimmen zu können, wie der Zustimmungsprozeß erfolgt. Die Auffassung schließlich, daß die Rezeption der Beschlüsse eines ökumenischen Konzils ihren Niederschlag im jeweils nächsten ökumenischen Konzil finde, ist im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Beschlüsse absurd, denn es müßten zumindest zwei weitere ökumenische Konzilien stattfinden, damit man- und dies vorläufig -erfährt, ob die Beschlüsse des ersten für das Kirchenvolk verbindlich sind. Die an die Orthodoxie von außen gestellte Frage, ob sie eine unfehlbare Lehrinstanz besitzt, muß ohne Berücksichtigung der lateinischen theologischen Perspektive, in der das Ja oder Nein mit bestimmten Konsequenzen verknüpft ist, die man orthodoxerseits nicht unbedingt übernehmen muß, beantwortet werden. Davon ausgehend, kann die Antwort nur Nein heißen. "Die östliche orthodoxe und katholische Kirche Christi" heißt es in der Antwort der Synode des Ökumenischen Patriarchats vom August 1895 auf die Enzyklika des Papstes Leo XIII. "Praeclara gratulationis", erkennt auf Erden niemand anders als unfehlbar als den auf unbeschreibbare Weise menschgewordenen Sohn, das Wort Gottes." 28 Dies erschüttert weder die Gewißheit, daß die Kirche im Besitz der Wahrheit ist, noch, daß sie verbindlich lehren kann. Die Befürchtung, daß durch den Wegfall der Unfehlbarkeit die Basis für den Autoritätsanspruch verlorengehe und damit auch die Voraussetzung für das verbindliche Zeugnis, entspringt einem sehr zweifelhaften pädagogischen bzw. juridischen St. Charkianakis, Über die Unfehlbarkeit der Kirche in der Orthodoxen Theologie (griech.), Athen 1965, 143, von der "ex sese Unfehlbarkeit" der ökumenischen Konzilien. 28 I. Karmiris, Dogmatica et Symbolica Monumenta (s. Anm. 8), II, 941.

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Prinzip und nicht einer inneren logischen Notwendigkeit. Es ist doch völlig abwegig zu denken, daß genauso wie ein Gesetz nicht durch seine innere Logik und Notwendigkeit für die Bürger verpflichtend wird, sondern durch die rechtmäßige gesetzgeberische Autorität, so auch die kirchliche Lehre für die Christen verbindlich sein sollte, nicht weil sie wahrhaftig christliche Lehre ist, sondern weil sie von den "dazu bestellten Lehrern" verkündet wird.

J. MeyendorfF9 fragt zu Recht: "Ist die Lehre der Kirche eine Reihe von Überzeugungen, an denen die Christen festhalten, weil eine ,Autorität' für sie bürgt?" In der orthodoxen Theologie hat das juridische Denken keinen Platz; denn in ihm vollzieht sich eine unheilvolle Verlagerung der Legitimität des christlichen Zeugnisses vom Heiligen Geist auf eine institutionelle Autorität, die sich in einer juridischen Denkweise, die das Volk Gottes entmündigt, auf den Beistand des Heiligen Geistes beruft. Der Syllogismus: "Das Lehramt ist des Beistandes des Heiligen Geistes versichert. Nun aber lehrt das Lehramt diesen Glaubenssatz. Also verbürgt der Heilige Geist, daß dieser Satz wahr ist", 30 stellt eine oligarchische Anmaßung dar, die einer Hybris gleichkommt. Die Verquickung der christlichen Lehre mit einer Autorität, die als die letzte Sicherheit und Notwendigkeit für die Verbindlichkeit der Glaubenslehren gelten soll, ist in der orthodoxen Theologie ein exogenes Phänomen, das in Widerspruch zu ihrer Tradition und Denkweise steht. Insofern erscheint mir der griechische Begriff Authentizität im Hinblick auf das verbindliche Lehren und Handeln der Kirche am ehesten ihrem Wesen und ihrer pastoralen Funktion in der Welt zu entsprechen; denn, während bei der lateinischen auctoritas anstatt einer eigenen Beweisführung der Beweis ex auctoritate gilt, bedeutet der griechische Begriff primär die Echtheit, die Treue zum Ursprung, die innere VerbindlichkeitsmachtY V. Kirche und Konzil

Orthodoxe Theologen verschiedenster Richtung stimmen darin überein, daß die Kirche als der Leib Christi ein lebendiger Organismus ist, der seine Verwirklichung in der Feier der Eucharistie in der Gemeinde mit ihrem Bischof an der Spitze erfährt. Dort ist nicht ein Teil der Universalkirche zugegen, sondern der ganze Christus, seine ganze Kirche gegenwärtig32 • Im Die Lehrautorität (s. Anm. 14), 426. J. Komonchak, Theologische Überlegungen über die Lehrautorität in der Kirche, in: Concilium 12 (1976), 447. 31 Vgl. W. Veit, Autorität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I (1971), 723727. 32 Zur eucharistischen Ekklesiologie bzw. Theologie der Lokalkirche vgl. I. D. Zizioulas, Die Einheit der Kirche in der göttlichen Eucharistie und im Bischof während der drei ersten Jahrhunderte (griech.), Athen 1965; J. G . Remmers, Die Lokalkirche in der östlich29

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Zentrum der Verantwortung steht dort zwar der Bischof, doch insofern er als Mitglied und Wortführer des Volkes Gottes wirkt. Die Regelung außergewöhnlicher, schwerwiegender überregionaler Fragen erfordert das Zusammenwirken der Gemeinden, die, durch ihre Vorsteher vertreten, gemeinsam den Gefahren des christlichen Glaubens begegnen und die Einheit der Kirche demonstrieren. Es wäre ein Anachronismus, wenn nicht schon historisch falsch, im ökumenischen Konzil das Modell einer ständigen, institutionellen Lehrautorität der Kirche zu erblicken und eine "dogmatische Begründung der Synodalität und der Gremialität" 33 der Kirche zu suchen und dabei das sogenannte Apostelkonzil als Urbild des ökumenischen Konzils herauszustellen.34 Das ökumenische Konzil ist keine ständige, reguläre und unabdingbare Institution der Kirche, 35 wie auch die Geschichte der orthodoxen Kirche, in der seit zwölf Jahrhunderten kein ökumenisches Konzil stattgefunden hat, mit ihrem lebendigen und, ohne offensichtlichen Verlust des Lehrcharismas, wahrhaft orthodox gelebten Glauben belegt, sondern eine Ausdrucksmöglichkeit, und zwar als Ausnahmeerscheinung im Leben der Kirche, die, wenn es nötig ist, ihren Glauben und ihre Einheit im ökumenischen Konzil demonstriert. 36 Bei der Beantwortung der Frage, ob die Aufhebung eines Konzilsbeschlusses die Unfehlbarkeit der Kirche in Frage stellt, haben 1971 in ihrer vierten inoffiziellen Konferenz in Addis Abeba namhafte vor- und nachchalorthodoxen Theologie der Gegenwart, in: Die Kirche im Wandel der Gesellschaft, hrsg. v. J. Schreiner, Würzburg 1970, 171-195; A. Kallis, Eucharistische Ekklesiologie- Theologie der Lokalkirche. Die eucharistische Struktur der Kirche, in: Die Eucharistie der Einen Kirche. Eucharistische Ekklesiologie- Perspektiven und Grenzen, hrsg. v. A. Rauch I P. Imhof (Koinonia 3), München 1982, I04-121; C. Andronikof, Eucharistische Ekklesiologie, in: Evangelisches Kirchenlexikon 1 (1986), 1163 f. 33 Vgl. das gleichlautende Referat von G. Larentzakis, in: Konziliarität und Kollegialität als Strukturprinzipien der Kirche, ed. Pro Oriente, Innsbruck 1975, 64-69. 34 Die Exegese und Geschichtsforschung haben inzwischen den überzeugenden Konsensus erzielt, daß die Jerusalemer Zusammenkunft (Apg 15; Gal2, 1-10) kein Konzil im späteren bzw. eigentlichen Sinn war; vgl. J. A. Fischer, Das sogenannte Apostelkonzil, in: G. Schweiger [Hrsg.], Konzil und Papst. Historische Beiträge zur Frage der höchsten Gewalt in der Kirche. Festgabe für H . Tüchle, München 1975, 1-17. ll I. D. Zizioulas, Priesteramt und Priesterweihe im Licht der östlich-orthodoxen Theologie, in: Der priesterliche Dienst. V. Amt und Ordination in ökumenischer Sicht, hrsg. v. H. Vorgrimler (Quaestiones disputatae 50), Freiburg 1973, 108, Anm. 102b, stellt zu Recht die Aufforderung: "Diejenigen Orthodoxen, die vom Konzil als der ,höchsten Autorität' in der Kirche reden, müssen erklären, wie es eine Autorität geben kann, die nicht in einer Weihe wurzelt." Vgl. auch A. Schmemann, Der Begriff des Primates in det orthodoxen Ekklesiologie, in: Der Primat des Petrus in der orthodoxen Kirche (Bibliothek für orthodoxe Theologie und Kirche), Zürich 1961, 135-137; J. Meyendorff, Zum Eucharistieverständnis der orthodoxen Kirche, in: Concilium 3 (1967), 293. 36 Vgl. N. A. Nissiotis, Ökumenische Gedanken zur Ausübung der Lehrautorität in de~ Kirchen, in: Una Saneta 31 (1976), 279.

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kedonische orthodoxe Theologen versucht, "die spezifischen Grenzen, innerhalb derer die Unfehlbarkeit der Kirche mit ihrer gottmenschliehen Natur wirkt", zu bestimmen und übereinstimmend erklärt, "daß ein Konzil nur eines der Hauptelemente ist, die die Autorität der Kirche ausdrücken, und daß die Kirche stets die Autorität hat, die Entscheidungen eines Konzils in Entsprechung ihrer wahren Intention zu erklären. Keine Entscheidung eines Konzils kann von der Gesamttradition der Kirche losgelöst werden. Jedes Konzil bringt einen speziellen Aspekt der einen Wahrheit weiter oder betont ihn und sollte darum gesehen werden als Stufe auf dem Weg zu einer volleren Artikulierung der Wahrheit. Die dogmatischen Definitionen eines jeden Konzils müssen verstanden und deutlicher gemacht werden im Sinne folgender konziliarer Entscheidungen und Definitionen". 37 Das Konzil ist keine Institution, sondern ein charismatisches Ereignis, in dem die Koinzidenz des Glaubens der betroffenen Kirchen festgestellt und nicht eine neue Lehre definiert wird. Eine solche Versammlung besitzt, insofern sie in der Kirche gelebte Glaubenswahrheiten definiert, panchristlichen Verbindlichkeitscharakter, denn sie spricht aus der Fülle der Kirche heraus vorläufig das letzte Wort in einer, wie man glaubt, bestmöglichen Glaubensformulierung. Das heißt aber nicht, daß sie es in der Tat auch ist, weniger noch, daß sie es für immer sein kann, und keinesfalls, daß sie unfehlbar ist. Dafür gibt es keine plausible Begründung. Es grenzt an Gotteslästerung oder an Magie, wenn man den im ökumenischen Konzil zweifellos realen Beistand des Heiligen Geistes als einen zwingenden Grund für die Unfehlbarkeit der Glaubensdefinitionen des Konzils anführt, für Formulierungen, die, gemessen an der unendlichen Tiefe göttlicher Wahrheit, nur Stammelzeugnis des unaufhörlichen Versuchs des Menschen sind, das Mysterium zu durchdringen. Die begriffliche Fixierung der Offenbarungsinhalte kann als der Durchdringungsversuch der menschlichen Verstandeskraft in die göttliche Unendlichkeit niemals einen Absolutheitsanspruch erheben. Es sei denn, daß man die Anrufung des Heiligen Geistes im Konzil als einen Appell der Konzilsväter verstehen will, von der gottgesetzten Grenze ihrer menschlichen Verstandes- und Urteilskraft befreit zu werden. Der Beistand des von Jesus seiner Kirche verheißenden Parakleten bedeutet jedoch keine Ausstattung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit der Amtsträger mit übernatürlichen Kräften, so daß die Hierarchie als ein "Orakel" wirkte. 38 Selbst wenn das Konzil, und das gilt für jede Lehrautoritätsform, eine Art durch den Beistand des Heiligen Geistes fehlerfrei arbeitender Computer wäre, könnte 37 The Consultation in Addis Abeba (22-23 January 1971), in: The Greek Orthodox Theological Review 16 (1971), 212. 38 Vgl. S. Bulgakov, Dialog zwischen Gott und Mensch. Ein Beitrag zum christlichen Offenbarungsbegriff, Marburg 1961, 42.

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es keine Sicherheit für eine objektive und endgültige Richtigkeit der formulierten Ergebnisse geben, denn die Programmierung, das Speichern mit menschlichen Begriffen und zeitgenössischen Kategorien, kann eine Fehlerquelle bilden. Angesichts der in der Natur des Menschen liegenden Begrenztheit seines Verstandeshorizonts und der Unvollständigkeit seines Begriffsinstrumentariums hat die dogmatische Artikulierung der göttlichen Offenbarung einen Vorläufigkeitscharakter ohne den mindesten Anspruch auf Vollkommenheit, die eine eschatologische Verheißung ist: "Wenn aber das Vollendete kommt, dann wird das Stückwerk abgetan werden." (1 Kor 13, 10).39 Die Geschichte der Kirche belegt außerdem unzweideutig, daß Konzilien, die in formaler Hinsicht den Titel ökumenisch verdienen, Irrlehren vertreten haben. Auch das vielversprechende Pfand bei der Verteidigung der Unfehlbarkeit des ökumenischen Konzils, die Rezeption der Konzilsbeschlüsse durch das Kirchenvolk, erweist sich bei kritischer Betrachtung als unhaltbar, denn das bedingte die Existenz einer über dem Konzil stehenden Autorität, die aber als Instanz in der Kirche nur eine Fiktion sein kann. Die Rezeption ist ein unaufhörlicher Prozeß im menschlichen Bemühen, mit beschränkten Mitteln die in der Kirche zur Lebenserfahrung kristallisierte, geoffenbarte Wahrheit begrifflich darzulegen, um sie dem Menschen mit zeitlich bedingten Kategorien nahezubringen und möglichsttreudas aktuelle Glaubensbewußtsein der Kirche auszudrücken, in der Gewißheit, daß die Wahrheit, die aJ...ir&w:x (A.ir&11 = Vergessenheit), sich gegen den Irrtum behaupten wird. Das ist das Werk des Parakleten, des in der Gesamtkirche- nicht nur im Apostelkollegium-wirkendenGeistes der Wahrheit gemäß dem Hauptversprechen Christi an seine Gemeinde (Job 14, 16-18.26; 16, 13) und nicht eines Systems, das die Kirche zu einer Art selbstgenügsamer menschlicher Institution mit logisch begründeten Autoritätsprinzipien und Sicherheitspfändern werden läßt. VI. "Leib Christi"- "Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit"

An einer solchen stark charismatisch-pneumatologisch ausgeprägten Ekklesiologie hat natürlich der scholastische Pragmatismus eine Reihe von Fragen - wie z. B. nach der Instanz, die über Art, Ort und Grenze der Wirksamkeit des Heiligen Geistes entscheidet - zu stellen, die jedoch das Wesen des Parakleten verkennen und schließlich sein Wirken in Frage stellen. Das ist der Fall bei der Verteidigung der traditionellen, klassischen 39

Vgl. Anm. 37.

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Norm- bzw. Autoritätsmodelle, des Magisteriums einer klerikalen Hierarchie de jure divino oder der Schrift. Jede formalistische Konstruktion zerstört die organische Einheit, die zwischen Kirche, Glaube, Tradition und Schrift besteht, und verstrickt die Theologie in einen ausweglosen hermeneutischen circulus vitiosus. Die Glaubenserfahrung aber erschöpft sich weder in der Schrift noch in den dogmatischen Definitionen der Konzilien. Diese Dokumente des Glaubens sind auch nicht die göttliche Botschaft selbst, sondern nur aspekthafter Ausdruck des geoffenbarten und in der Kirche erlebten Wahrheitsmysteriums, und zwar wie es die jeweilige Gemeinschaft der Heiligen erfahren und verstanden hat. Die Mitteilung der Heilsbotschaft erfolgte in der Person Christi primär durch Taten und wird ebenso anschließend in der Kirche als sein Leben aktualisiert. Daher bedeutet christlicher Glaube nicht primär Annahme festgelegter dogmatischer Definitionen, die immer eine Einengung und einen gewissen Verlust der Lebendigkeit bedeuten, sondern vor allem Teilnahme an dem in der Kirchengemeinschaft gelebten Glauben. Die Erfahrung der Wirklichkeit des Heilsgeschehens in der Gemeinschaft bedeutet "Erkenntnis" der christlichen Wahrheit, "denn das Reich Gottes besteht nicht in Reden, sondern in Kraft" (1 Kor 4, 20). Dies erklärt den Umstand, daß den Ort, in dem man die orthodoxen Dogmen, den Geist dieser Kirche finden und studieren kann, nicht Bekenntnisschriften und gelehrte dogmatische Handbücher darstellen, sondern an erster Stelle die Liturgie im weitesten Sinn, vor allem die eucharistische Liturgie, in der die Gemeinde der Heilsökonomie und gottgeoffenbarten Wahrheiten auf sakramentale Weise teilhaftig wird. Die Wahrheit des Heilsmysteriums als eine erlebte Wahrheit kann nicht kategorial, sondern erfahrungsgemäß in der Kirchengemeinschaft als In-der-Wahrheit-Sein erfaßt werden; daher wurde sie auch zunächst nicht in philosophischen Denkkategorien dargelegt- dies war das Vorhaben der Häretiker-, sondern primär in doxologisch-liturgischen Bekenntnisäußerungen.40 Die christliche Wahrheit hängt nicht von der Aufstellung von Regeln und Doktrinen ab, die nachzuvollziehen sind, sondern umgekehrt ihre Artikulierung vom Erleben der Wahrheit in der Gemeinschaft. 41Daraus läßt sich schließlich auch das Phänomen erklären, daß nämlich infolge des starken Bewußtseins der Gegenwart Christi in der eucharistischen Gemeinde in der orthodoxen Kirche weder das starke Bedürfnis nach dogmatischer 40 Vgl. A. Kallis, Theologie als Doxologie. Der Stellenwert der Liturgie in der orthodoxen Kirche und Theologie, in: Kl. Richter [Hrsg.], Liturgie- ein vergessenes Thema der Theologie? (Quaestiones disputatae 107), Freiburg/Basel/Wien 2 1987, 42-53. 41 Vgl. S. Agourides, Die Gemeinschaft der Glaubenden (s. Anm. 26), 164: "Eine saubere Interpretation der biblischen Texte ist nur von der Erfahrung der christlichen Glaubensgemeinschaft her möglich. Ohne sie hätten wir weder die Texte noch das rechte Verständnis dieser Texte."

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Artikulierung des Glaubens noch die Herausstellung von Rechtsautoritäten vorhanden sind. Zu einem Ausweg aus der konfessionell-polemischen - wenn auch nicht mehr so gemeinten- Frontposition der Kirchen könnte vielleicht die in der orthodoxen Kirche allgemein geltende Überzeugung führen, daß die Gesamtkirche, das ganze Volk Gottes als eine Lebensgemeinschaft unter der Führung des Heiligen Geistes den Glauben unverfälscht bewahrt und verkündet. Diesen Gedanken hat sehr treffend Chomjakov formuliert: "Der Geist Gottes, der in der Kirche lebt, sie regiert und weise macht, erscheint in ihr vielgestaltig, in der Schrift, in der Überlieferung und im Werk, denn die Kirche, welche die Werke Gottes tut, ist dieselbe, welche die Überlieferung hütet und die Schrift geschrieben hat. Nicht die Personen und nicht die Vielheit der Personen in der Kirche hüten die Überlieferung und schreiben; das vollbringt der in der kirchlichen Gesamtheit lebende Geist Gottes. Daher darf und soll man weder in der Schrift nach Grundlagen für die Überlieferung suchen, noch in der Überlieferung nach Beweisen für die Schrift, noch auch im Werk nach einer Rechtfertigung der Schrift und der Überlieferung. Außerhalb der Kirche sind dem Lebenden weder die Schrift, noch die Überlieferung, noch das Werk erfaßbar. Dem innerhalb der Kirche Verbleibenden und an ihrem Geist Teilhabenden aber ist ihre Einheit offenbar vermöge der ihr einwohnenden Gnade. " 42 Die einzig zulässige Konkretisierung dieses Geschehens, die notwendig ist, damit man nicht aus einem christomonistischen Formalismus in einen phänomenologischen Pneumatornanismus verfällt, ist der Hinweis auf einen dynamisch-pneumatologischen Traditionsbegriff "als das Leben des Heiligen Geistes in der Kirche, das jedem Gliede des Leibes Christi die Fähigkeit erteilt, die Wahrheit zu hören, zu empfangen, zu erkennen- die Wahrheit in dem ihr eigenen Licht, und nicht im Lichte der menschlichen Vernunft"Y Das heißt auch, daß ihre Interpretation nicht das Werk einer privilegierten Person oder Gruppe sein kann, sondern der Gesamtkirche, des ganzen Volkes Gottes, deren Vorsteher daher niemals ex sese handeln können. 44 Die Einwände vor allem westlicher Theologen, die eine greifbare,juridisch fixierte Autorität vermissen, und die Gefahr, die in der diesem Modell innewohnenden Spannung zwischen lehramtlicher Verkündigung und Wahrheits bestand, zwischen Hierarchie und Kirchenvolk liegt, dürfen nicht A. Chomjakov, Die Einheit der Kirche (s. Anm. 13), li, 5. V. Lossky, Die Tradition und die Traditionen (s. Anm. 24), 16. 44 Vgl. S. Agourides, Die Gemeinschaft der Glaubenden (s. Anm. 26), 158: "Deshalb hat das Geheimnis der Wahrheit in Jesus Christus eine Geschichte, die immer auf eine menschliche Gemeinschaft verweist, die auf Erfüllung hin fortschreitet. Tradition meint die Kontinuität in der Identität dieser Gemeinschaft. Welche Bedeutung auch immer das Charisma des Glaubens im einzelnen haben mag - : das Glaubensbewußtsein der Glaubenden und nicht vom einzelnen her zu interpretieren." 42

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den Blick für die Vorteile trüben, die in einem genuin christlichen Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes liegen, das zugleich die Freiheit der Christen und deren Verantwortung für die Wahrheit gewährleistet. Darüber hinaus erweist diese Theologie der pneumatologischen Gemeinschaft eine Dynamik und Flexibilität, welche die Fesseln überholter Autoritätsformen sprengen und neue auf die Gegenwart und Zukunft der Kirche orientierte Ausdrucksmöglichkeiten ihres Zeugnisses ermöglichen. Die theologische Quintessenz dieser Ekklesiologie ist dies: Die christliche Wahrheit ist der Gesamtkirche anvertraut, die in ihrer Fülle - totus Christus, caput et corpus-auch das einzige Kriterium der Wahrheit ist. In diesem Sinne ist die Kirche als durch den Heiligen Geist beseelter Leib Christi "Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit" (1 Tim 3, 15). Daraus lassen sich die Organisations- und Zeugnisformen ableiten, die als Akzidentien des Leibes Christi relativ bzw. wandelbar sind. Davon ausgehend muß man sich in Treue zur Orthodoxie auch fragen, ob die Vorstellung, daß weiterhin die Verantwortung für das verbindliche Lehren der Kirche in unserer säkularisierten und komplizierten Welt ausschließlich von der Hierarchie getragen werden soll, nicht ein Anachronismus ist, der günstigstenfalls das klerikal-monopolisierte Lehramt zu einer Farce werden läßt. VII. Schlußbemerkungen: Innerorthodoxe Selbstbestimmung und Ökumene

Diese Ausführungen vermitteln ein uneinheitliches Bild der orthodoxen Ekklesiologie, die in ihrer Selbstbesinnung auf ihre eigene Tradition eine spannungsvolle Dynamik aufweist, die in den eigenen Reihen auch Widerspruch hervorruft und Verwunderung bei Nichtorthodoxen, die früher gewohnt waren, bei orthodoxen Theologen eine Variation der eigenen Ekklesiologie zu finden. Der katholische Theologe Le Guillou scheint recht entrüstet zu sein, wenn er unter Hinweis auf St. Zankow, B. Zenkowsky, N. Arseniew und N. Milasch fragt: "Ist es nicht überraschend, zu sehen, wie viele (orthodoxe) Theologen die Unfehlbarkeit der Konzilien in Frage stellen? Ist es nicht seltsam zu sehen, welche Freiheit sich selbst ein Florovsky der Tradition seiner eigenen Kirche gegenüber nimmt?" 45 Le Guillou kann es nicht fassen: Selbst bei Bratsiotis wird dieser Einfluß sichtbar ... Und sogar, das ist noch erstaunlicher, bei V. Lossky. " 46 Diese ekklesiologische Entwicklung in der orthodoxen Theologie ist für viele "überraschend", doch an sich weder "seltsam" noch "erstaunlich", denn 45

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M.-J. Le Guillou, Sendung und Einheit (s. Anm. 6), 574f. Ebd., Anm. 112.

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sie ist die Folge einer intensiven Selbstbesinnung auf die eigene Tradition. Wenn hier Parallelen zur evangelischen Ekklesiologie- zahlreicher sind die zur katholischen - festgestellt werden, sollten sie als eine erfreuliche Entdeckung auf der Suche nach der Einheit und nicht als ein In-flagrantiFall von evangelischer Infiltration in der orthodoxen Ekklesiologie angesehen werden. Die Sorge katholischer Theologen, die zu Unrecht das Eindringen des Protestantismus in die orthodoxe Theologie befürchten, ist zwar verständlich, aber unberechtigt. Verständlich, da sie im ökumenischen Konzil als einer ex sese Autorität die Hoffnung für die Einigung der Kirchen sehen, 47 unberechtigt jedoch, da sie sich auf eine Fiktion stützen. Das, formal gesehen, in jeder Hinsicht ökumenische Konzil von Ferrara-Florenz (14381439) hat nicht die dort beschlossene Einigung herbeigeführt. 48 Die seit 1961 laufenden Vorbereitungen der orthodoxen Kirche für ein panorthodoxes Konzil und deren Vorgehen- intensiver Gedankenaustausch und eingehende Konsultationen zwischen den autokephalen Kirchen, Einstimmigkeit bei den Beschlußfassungen, Verzicht auf eine a priori Qualifikation des Konzils - demonstrieren schließlich eindeutig, daß ein Konzil "ex sese, non ex consensu ecclesiae" undenkbar ist, denn ein Konzil mit einer aus sich heraus rührenden Autorität kann sich sehr leicht als ein Fiasko erweisen. Dessen sind sich sicherlich alle orthodoxen Theologen wie auch Kirchenoberhäupter mit ihren Synoden auf dem Weg zum künftigen Konzil bewußt, auch diejenigen, die sich anders äußern. Diese Ausführungen könnten bei Befürwortern der orthodoxen Schuldogmatik gerade angesichts des offiziellen theologischen Gesprächs zwischen der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche als antiökumenisch bzw. störend empfunden werden. Doch selbst auf die Gefahr hin, von manchen völlig mißverstanden zu werden, muß manche Illusion zerstört werden, ehe man umsonst eine Einheit der Gelehrten durch Übereinstimmung in teilweise schon längst überholten oder sekundären Streitfragen auf dem Papier erreicht, an dem Volk Gottes vorbei, das Träger und "Verteidiger" des Glaubens ist. 49 47 Vgl. z. B. B. Schultze, A. S. Chomjakov und das Halb-Jahrtausend-Jubiläum des Einigungskonzils von Florenz, in: Orientalia Christiana Periodica 4 (1938), 495; J o. Chrysostomus (Blaschkewitz), Das Ökumenische Konzil und die Orthodoxie, in: Una Saneta 14 (1959), 186: "Darum dreht sich nun praktisch das ganze Problem der Annäherung zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Wird die Chomjakov-Lehre die Orthodoxie beherrschen, dann ist natürlich die Hoffnung auf eine Annäherung illusorisch. Siegt die andere Meinung, dann wäre das ein Anfang, die Frage nach dem unfehlbaren Amt in beiden Bekenntnissen neu zu studieren und zu klären. Ein gemeinsamer Boden wäre da." 48 Vgl. A. Kallis, Ferrara-Fiorenz (1438-1439): "Räubersynode" oder "Modell eines kommenden Unionskonzils?", in: Ökumenische Rundschau 39 (1990), 182-200. 49 Vgl. das Kommunique des Ökumenischen Patriarchats anläßlich des Papstbriefes vom 8.2.1971 an Athenagoras, in: Episkepsis 2 (1971), Nr. 28, S. 2.

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Kirche und Industriegesellschaft "Die Kirche wirkt mitten in der Welt und darf deshalb an der Lebenswirklichkeit der arbeitenden Menschen nicht vorbeigehen. Weil Christus, unser Herr, Mensch geworden ist, muß die Kirche dem Menschen stets nahe bleiben und sich immer wieder neu um ihn bemühen. Diese Verpflichtung war der Kirche im Ruhrgebiet stets bewußt. Mit der Entstehung der größten europäischen Industrieregion gingen Aufbau und Entfaltung eines blühenden kirchlichen Lebens einher. Beredtes Zeugnis dafür ist die Gründung von zahlreichen Pfarreien, das Entstehen einer Vielzahl von sozialen und caritativen Einrichtungen, vor allem aber das Aufblühen einer sozialpolitischen Bewegung der Katholiken in Vereinen und Verbänden. Und nicht zuletzt ist auch die Gründung des Bistums Essen . . . Ausdruck der elementaren Beziehung von Kirche und sozialer Wirklichkeit im Ruhrgebiet." 1 So Papst Johannes Paul II. am 2. Mai 1987 anläßlich seines Besuches des Ruhrgebietes auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop. Das Wirken der Kirche im Ruhrgebiet findet wohl weltweit keine Parallele. Die Geschichte der Kirche dieses Raumes hat eine eindringliche Antwort auf die Frage nach dem Beitrag dieser Institution zur Humanisierung der Industriegesellschaft gegeben. Es sei erlaubt, ein wenig in die Geschichte zurückzublenden. Ohne die riesigen Kohlevorräte des Ruhrgebietes und anderer Regionen wäre wohl eine so stürmische industrielle Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts nicht denkbar gewesen. Die Förderung der Kohle, insbesondere nach der Erfindung der Dampfmaschine, die den Tiefbau erst ermöglichte, zog ungeheure Menschenmassen in diesen Raum. Einige Zahlen sollen es deutlich machen: Die katholische Kirchengemeinde Gelsenkirchen zählte im Jahre 1845 = 400 Seelen, 45 Jahre später, im Jahre 1890 waren es bereits 40 000. Die Taufe empfingen in diesem Jahr 1749 Kinder. Aus allen umliegenden Regionen kamen die Menschen, meist bäuerlicher Abstammung. Erstjetzt und weit über die Jahrhundertwende hinaus kommen noch weitere Hunderttausende von Menschen aus den östlichen Teilen des damaligen Reiches hinzu. Sehr viele von ihnen waren nur der polnischen Sprache mächtig. Von einer "Infrastruktur" im heutigen Verständnis konnte keine 1 Papst Johannes Paul II., Ansprache zur "Welt der Arbeit" in Bottrop arn 2. Mai 1987, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 77, Bonn o. J., S. 66.

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Rede sein. Die evangelischen und katholischen Kirchengemeinden übernahmen jene caritativen und sozialen Aufgaben, wozu kommunale oder staatliche Institutionen erst viel später fahig waren. In keinem industriellen Ballungsraum der Welt gibt es so viele kirchliche Einrichtungen wie im Ruhrgebiet, und das bis heute.

I. Die Hilfe der Kirche zur Überwindung der menschlichen Krise im Gefolge der Industrialisierung

Die Hauptsorge der Kirche galt zunächst dem Einzelnen, der in Not geraten war. Das Wort des Herrn: "Alles was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan" (Mt 25, 40), und die Forderung des Liebesgebotes des Herrn, waren Beweggründe zur Findung neuer Strukturen, in denen der Zugezogene, hier arbeitsuchende Mensch Heimat finden konnte. Hierzu gehörten die zahlreichen Gemeindegründungen, die Aufnahme in Vereinen und Verbänden, die Schaffung von Wohnraum, die Gründung von Kranken- und Waisenhäusern. Nähschulen, Mütterschulen, Kinderverwahranstalten, alle diese Hilfen sollten die Menschen befahigen, sich selbst zu helfen und mit den kleinen Einkommen das Leben zu bewältigen. Schon vor der Jahrhundertwende setzt dann ein beachtliches Ringen um die soziale Ordnung ein. Erstaunlich ist, mit welchen sozialpolitischen Themen man sich in Knappenvereinen, Arbeiter- und Handwerkervereinigungen um Orientierung und Abhilfe sozialer Mißstände bemühte. So wurde schon nach der Jahrhundertwende in christlich-sozialen Verbänden der Rufnach Reformen sowohl der Gesinnung wie der Zustände laut. Das Weltbild und Berufsethos der bäuerlichen oder handwerklichen Vorfahren reichten nicht mehr aus, die Probleme der Gegenwart zu meistern. Abhängige Lohnarbeit und Besitzlosigkeit führten nicht nur zu einer fehlenden gesellschaftlichen Identität, sondern auch zunehmend zur Distanz zu den religiösen Werten und in vielen Fällen zur Aufgabe kirchlicher Bindungen. Die großen Sozialenzykliken der Päpste waren dann eine großartige, für viele zu spät kommende Hilfe in der gesellschaftspolitischen Neuorientierung. Die "Katholische Soziallehre", integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vom Menschen, tritt nun in Konkurrenz zu nichtchristlichen, sozialutopischen Vorstellungen, kann sich jedoch im Gegensatz zu jenen politisch nur schwer durchsetzen. Aus der größer werdenden Not der Arbeitermassen profitieren schließlich jene Weltanschauungen, die den "Menschen zum Maß des Menschen" machen. Die Kirche gerät unter immer größeren Druck jener "Ismen", die sich der Staatsmacht bemächtigen. Noch einmal leisten die Kirchen eine ungeheure Hilfe nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Als Institution haben sie Verfolgung und Krieg überdauert und gewähren den Menschen neuen Halt und soziale Hilfe. Mit wachsendem Wohl-

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stand jedoch treten sie in ihrer Wirksamkeit als sinngebende und Orientierung stiftende Institutionen mehr und mehr in den Hintergrund Mit ihren pastoralen und caritativen Einrichtungen drohen sie in den Vergleich mit anderen "Dienstleistungsinstitutionen" abzugleiten. II. Die Herausforderung der Kirche in einer progressiven technischen Zivilisation

Die Kirchen in der Bundesrepublik sehen sich erneut in einer großen Herausforderung gegenüber einer weitergehenden technischen Zivilisation, die durch die revolutionäre Zunahme elektronischer Arbeits- und Kommunikationsmittel geprägt ist. Personale, solidarische und religiöse Werte treten mehr und mehr zurück und machen einer weitergehenden "Privatisierung" des menschlichen Lebensraums Platz. In außerkirchlichen Bewegungen verschafft sich der mehr und mehr desorientierte Industriemensch Formulierungen seiner Ängste und fordert soziale Gerechtigkeit für die armen Länder der Dritten Welt, Frieden für die ganze Menschheit und die Bewahrung der Schöpfung vor einem ökologischen Selbstmord. Die Tendenz der Individualisierung und Selbstverwirklichung, feministische Emanzipation und eine weitergehende Säkularisierung der Gesellschaft erwecken den Eindruck, die Kirchen stünden im Abseits. Jedoch wird beijenen Völkern des Ostens, die z. Z. unter dem Zusammenbruch gigantischer Lügen und Utopien des Sozialismus orientierungslos geworden sind, ein unüberhörbarer Ruf nach religiöser Orientierung und christlicher Sinngebung laut. Waren dort bisher die Kirchen unterdrückt und zur gesellschaftlichen Abstinenz verurteilt, so sucht man plötzlich bei ihnen Hilfe und Halt. Und das Verblüffende ist, daß jene Soziallehre, die "integrierender Bestandteil der christlichen Lehre vorn Menschen" ist, entwickelt und formuliert in der 1. und 2. industriellen Revolution, neue Aktualität und Bestätigung erfährt. Wie sagte kürzlich ein Gesprächspartner in der DDR: "Wir brauchen Eure Hilfe, nicht zunächst Euer Geld, die Lehre von Gott, vorn Menschen, von der Gesellschaft .. . , aber, bitte, Grundschulwissen!" Der Ruf nach erneuerten "Strukturen", wie es dort heißt, beinhaltet die Hilfe, um die Findung erneuerter, die Gesellschaft tragender Institutionen. Was im Westen suspekt erscheint und völlig ungerechtfertigt eine Ablehnung erfährt, wird in diesem Teil Deutschlands als fördernde, behütende und beschützende Grundform des menschlichen Zusammenlebens gesucht und erwartet. Daß hierbei wieder einmal die Institutionen der Kirchen die einzigen "Überlebenden" sind, wie schon einmal nach dem Zusammenbruch 1945, braucht niemanden zu wundern. Sinngebende, den allgerneinen Konsens stützende und von ethischer Kompetenz bedachte Institutionen, die

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sowohl die Kontinuität der menschlichen Werte garantieren und zugleich die Mannigfaltigkeit eigengeschichtlicher Entwicklungen berücksichtigen, diese Institutionen sind gefragt. Die Kirchen in der DDR müssen sich dieser Anfrage stellen. Aber nicht nur sie, sondern gerade auch die des Westens. So ist es erlaubt, die Hoffnung an eine erneuerte Diskussion über Sinn und Wert der Institution Kirche in der menschlichen Gesellschaft, auch im Westen vorauszusagen. 111. Die kirchliche Institution und ihre Weltverantwortung "Die Kirche ist Ziel und Werkzeug der Einheit Gottes mit den Menschen und der Menschen untereinander"! So definiert das II. Vatikanum die Kirche. Wenn ihr neben dem Verkündigungsauftrag auch die Sorge um die Einheit der Menschheit aufgegeben ist, so muß sie aus ihrem Verständnis nach Grundformen des menschlichen Zusammenlebens suchen, die den Menschen sowohl im übernatürlichen wie im natürlichen Sinne fördern, hüten und schützen. Als eine solche, Gott und dem Menschen verpflichtende Institution, muß sie sich den verändernden Lebensformen der Menschen stellen. Dieses gilt sowohl für kollektivistische Gesellschaften, wie sie nun reihenweise im Osten dem Zusammenbruch preisgegeben werden, als auch jenen emanzipatorischen und individualistischen Gesellschaften, wie wir sie im Westen antreffen. Immer geht es ihr um das Heil des Menschen, um das Übernatürliche und das Heil des Menschen in der Schöpfungsordnung. Bereits 1957 wies der Soziologe Schelsky darauf hin, daß die Kirchen sich nicht mehr wie bei der Missionierung heidnischer Kulturen einer ihnen fremden sozialen Umwelt gegenübersehen, sondern daß sie das Selbständigwerden einer weltlichen Kultur und Gesellschaft zur Kenntnis nehmen müssen, die zwar durch das Christentum entstanden ist, die sich aber über das Christentum hinaus entwickelt hat und in ihrer modernen Form nicht mehr als christlich bezeichnet werden kann. So hatte die Kirche die Initiative in der Industriegesellschaft inzwischen insofern verloren, als sie, wie Schelsky schreibt, nicht mehr einer alten Welt eine neue Wahrheit verkündet, sondern stattdessen eine alte Wahrheit in eine neue Welt hineintragen muß. Dieses wird nicht einfacher angesichts einer völlig getrennt verlaufenden Entwicklung in den beiden Teilen Deutschlands. Hier trifft sich Schelsky mit der Forderung des Herrn im Evangelium: "Neuer Wein in neue Schläuche!" (Mt. 9, 17). Offenbar steht die Kirche hier vor einem nicht geringen Dilemma. Erkennbar sind nur geringe Ansätze einer Annahme dieser Herausforderung, und dies auf dem Hintergrund der Befindlichkeit des modernen Menschen, der sich auf der Suche nach der Sinnhaftigkeit seines Lebens sieht. Sie hat die personale Würde des Menschen immer in Beziehung gesehen zur Menschwerdung des ewigen Logos in unserem "Bruder Jesus

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Christus". Zugleich verpflichtet sie alle Menschen zur "Brüderlichkeit", die aus der hingebenden Liebe ihres Herrn resultiert. - Unschwer ist eine "religiöse Bedürftigkeit" des modernen Menschen zu erkennen, aber auch eine immer noch verstarrte und noch nicht zur Erneuerung bereite Institution, die ihm gegenübersteht. Es wäre ebenso falsch, sich resignierend aus einer säkularisierten Gesellschaft zurückzuziehen, wie auch zu meinen, der moderne Mensch hielte eine weitere Minderung ethischer und religiöser Substanz aus. Wie unerwartet schnell Systeme und Institutionen zusammenbrechen können, die allein "am Maß des Menschen" (Karl Marx) Maß genommen haben, das dürften wir in diesen bewegenden Wochen und Monaten erfahren. Möglicherweise holt der Ruf nach gesellschaftlicher Freiheit und menschlicher Würde nicht nur die Kirchen des Ostens zu ihrer Weltverantwortung zurück, sondern auch die des Westens. Als "Volk Gottes auf den Straßen dieser Welt" bleibt sie eine Institution, in der irdische und überirdische Wahrheit, zeitlose Lebenswerte, sittliche Normen und sinngebende Hoffnungsziele des Menschen gebündelt sind. Der moderne Mensch, der in einer ihn oft überfordernden Spannung zwischen Individuation und Sozialisation steht und Institutionen kritisch gegenübersteht, sucht dennoch Bindung und Halt in vertrauten Gemeinschaften. Die Kirche könnte sie ihm bieten. Sie ist gleichsam das "Korsett" der menschlichen Gesellschaft, der sonst das Element der Kontinuität und Stabilität sowie der Anhindung an das Ewige fehlen würde. Sie ist und bleibt göttliche Wirklichkeit in dieser Welt, an der sich die Menschen in Freiheit orientieren oder auch Ärgernis nehmen können. Ihre irdische Struktur bedarf daher einer ständigen, lebendigen Erneuerung. Ihre Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft bleibt von den Personen bestimmt, die sie repräsentieren und im Glauben bezeugen. Die Geschichte der Kirche lehrt, daß es Zeiten der gesellschaftlichen Herausforderung gegeben hat, die glücklich oder unglücklich beantwortet wurden. Offenheit oder Versagen gegenüber dem Menschen der jeweiligen Epoche schlugen sich in Annahmen oder Ablehnung oder gar Spaltung der Kirche nieder. Ihr Verkündigungsauftrag gegenüber dem Reich Gottes läßt also ein Außerachtlassen der Welt nicht zu. "Der Weg zu Gott ist der Mensch" (Johannes Paul II.). Pragmatische, ökonomische und sozial- oder naturwissenschaftliche Antworten auf den Menschen bewegende Fragen unserer Zeit reichen nicht aus. Ist alles Machbare auch erlaubt? Heiligt der Zweck die Mittel? Gehört zur Kultur des Menschen die Beherrschung seiner triebhaften Veranlagungen? Erfordert das "Bonum commune" Freiheitsverzichte des freien Menschen? Sind tradierte soziale Werte und Tugenden einfach umkehrbar? Kann der Mensch nur "vom Brot allein" seine Existenz begründen? - Alles Fragen, denen sich die Kirche in ihrer Weltverantwortung in der Welt von heute und morgen nicht entziehen kann! Bei aller

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Respektierung der "Eigenständigkeit der Sachbereiche" dieser Welt gehört es zur "Liebespflicht" der Kirche, aus ihrem Offenbarungswissen den Menschen Grenzen und Ziele zu setzen.

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Institutionen in der Rechtsordnung In einem interdisziplinären Gespräch muß jeder Vertreter einer Spezialwissenschaft wenigstens ungefähr angeben, was er unter dem gemeinsam erörterten Gegenstand versteht. Strenggenommen gilt das auch für das intradisziplinäre Gespräch; denn jeder Wissenschaftler hat die Freiheit, seinen Forschungsgegenstand zu definieren. Aber selbst versponnene Gelehrte sind verständig genug, ihre Definitionen in dem Bereich anzusiedeln, der von den Hauptrichtungen ihres Faches markiert wird. Dagegen gibt es fachspezifische Unterschiede, die sich aus der je verschiedenen Sichtweise der einzelnen Disziplinen ergeben. Diese müssen aufjeden Fall im interdisziplinären Gespräch deutlich gemacht werden, damit Verständigung überhaupt möglich ist. Der Begriff der Institution scheint im Verhältnis zwischen der Rechtswissenschaft und der Soziologie problemlos zu sein. Die Rechtswissenschaft hat keinen eigenen Institutionenbegriff. Sie verwendet den von anderen Disziplinen analysierten Begriff der Institution ganz einfach für ihre eigenen Zwecke. Die meisten Juristen denken sich nichts dabei. Manche von denen, die darüber nachgedacht haben, fühlen sich nicht wohl dabei. Einige haben gegen ihre Kollegen den Vorwurf erhoben, sie betrachteten die Institutionen einfach als etwas Vorgegebenes, "die Verkörperung der objektiven Ordnung als Teil einer gottgegebenen Weltordnung" . 1 Andere sehen in der Institution vor allem den Gegensatz zur Person oder zumindest die "Objektivierung der Person". 2 Es gibt aber auch Lehrbücher der Rechtsphilosophie, die ganz ohne eine Klärung des Begriffs "Institution" auskommen, obwohl sie ihn immer wieder verwenden. 3 Dem Durchschnittsjuristen genügt es zu wissen, daß die Institutionen "Grundformen des menschlichen Zusammenlebens" sind. 4 So ist es nicht zu verwundern, daß ein bekanntes "Lexikon des Rechts" Wolfgang Friedmann, Legal Theory, 4. Aufl. London 1960, S. 362. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 174. 3 Auffallig ist, daß in solchen Zusammenhängen der Begriff der Institution fast immer mit dem der "Rechtsfigur" gekoppelt ist. Vgl. Günther Küchenhoff, Rechtsbesinnung, Göttingen 1973, S. 41, S. 53. 4 Basilius Streithofen, Der Mensch braucht Institutionen. Die Neue Ordnung 42 (1988), s. 82. 1

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das Stichwort Institution überhaupt nicht enthält, sondern zwischen "Instanzenzug" und "instrumenta sceleris" nur die "institutionelle Garantie" erläutert. 5 Die institutionelle Garantie ist ein Begriff des Verfassungsrechts. Neben die Gewährung von Grundrechten tritt im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in bestimmten Fällen die Gewährleistung einer Institution, eine sogenannte Einrichtungsgarantie. So gehört z. B. zum Grundrecht auf Eigentum die Einrichtungsgarantie des Privateigentums, zum Grundrecht der Testierfreiheit die Einrichtungsgarantie des Erbrechts, zum Grundrecht auf Pressefreiheit die Garantie der freien Presse als Einrichtung usw. Schon daraus ist ersichtlich, daß die Gegenüberstellung von personalen Rechten und Institutionen keinen Gegensatz zum Ausdruck bringt; denn Einrichtungsgarantien und Grundrechte bedingen einander, dienen gemeinsam dem einzelnen und der Gemeinschaft, mit anderen Worten: sie gehören zusammen. Aber die Analyse darf nicht erst bei der verfassungsrechtlichen Institutionsgarantie einsetzen. Vielmehr ist als erstes zu fragen, wie der Begriff der Institution überhaupt mit demjenigen der Rechtsordnung in Verbindung gebracht werden kann. Hier gibt es zwei Möglichkeiten, von denen die erste wohl eher der soziologischen Betrachtungsweise entspricht. Man kann nämlich die gesamte Rechtsordnung als Institution der betreffenden Gesellschaft betrachten. Man kann aber auch innerhalb einer Rechtsordnung die von ihr normierten Institutionen als "Rechtsinstitutionen" beschreiben. Die letztgenannte Betrachtungsweise liegt diesem Referat zugrunde. Doch auch innerhalb dieser Betrachtungsweise bleibt der Begriff "Rechtsinstitution" mehrdeutig. Demjuristischen Denken, das ja stets normatives Denken ist, entspricht es am ehesten, die Rechtsinstitution als ein Normengebilde zu betrachten. Demnach wäre sie die Gesamtheit der materiellrechtlichen, verfahrensrechtlichen und organisatorischen Rechtsnormen, die jeweils ein Bündel von Rechtsbeziehungen und Statusfragen in bezugauf eine bestimmte Gruppe von Rechtssubjekten und Rechtsobjekten regeln. In diesem Sinne sind Institutionen wie Eigentum, Ehe, Familie, Schule, Presse, Asyl usw. definiert. In einem engeren Sinn versteht die Rechtslehre unter Institutionen nur das Gehäuse, in dem sich Rechtsbeziehungen abspielen, oder die Organisation, die die Rechtsordnung für die ordnungsgemäße Abwicklung von Geschehensabläufen zur Verfügung stellt. In diesem Sinn wird etwa von Institutionen wie dem Bundesrat, der Gerichtsbarkeit oder der Verwaltung gesprochen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß diese Institutionen auch als Agierende im Staatsleben in Erscheinung treten. (Die demokratische Staatstheorie geht allerdings einen Schritt weiter und stellt klar, daß es nicht 5 Ullstein-Lexikon des Rechts, hrsg. v. Otto Gritschneder, Frankfurt/Berlin/ Wien 1971, s. 224.

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die Institutionen als solche sind, die im eigentlichen Sinn agieren, d. h. Entscheidungen treffen, sondern Menschen mit genau umgrenzten Machtbefugnissen und Verantwortungen innerhalb der Institutionen.) So werden die Institutionen, je nach ihren spezifischen Aufgaben, mit unterschiedlichen Erläuterungsbegriffen versehen, in denen sich die Vorstellungen vom Normengebilde und vom organisatorischen Gehäuse vermischen. Am häufigsten finden sich die Bezeichnungen "Regelwerke" und "prozeßsteuernde Institutionen". Aber hier ist nicht beabsichtigt, eine Typologie der Rechtsinstitutionen zu entwickeln. Es kann nicht darum gehen, die Vielzahl der in der Rechtsordnung vorhandenen Institutionen aufzufächern und je nach ihren spezifischen Zwecken zu analysieren. Vielmehr ist nach der Grundfunktion aller Institutionen in der Rechtsordnung gefragt. An dieser Stelle ergibt sich eine weitere Schwierigkeit. Wenn das Referatsthema die Rechtsordnung in der Einzahl nennt, so darf dabei nicht vergessen werden, daß in jedem gegebenen Augenblick viele Rechtsordnungen nebeneinander existieren, und daß im zeitlichen Ablauf innerhalb eines gegebenen geographischen Raumes viele Rechtsordnungen nacheinander existieren. Der Hinweis auf die Pluralität der Rechtsordnungen führt zu einer Erkenntnis, die ihrerseits den Ausgangspunkt für das Vordringen in tiefere Problemschichten darstellt. Es ist die Erkenntnis, daß jede Rechtsordnung das Produkt einer bestimmten Kultur ist. Bei dieser Aussage wird in Kauf genommen, daß der Begriff "Kultur" schwer definierbar ist. Doch kommt es hier auf die präzise Definition der Begriffselemente nicht an. Wesentlich ist nur, daß räumliche und zeitliche Abgrenzungen der einzelnen Kulturen möglich sind und in der Wissenschaft seit eh und je vorgenommen werden. Man spricht von der Kultur der Renaissance ebenso wie von der Kultur des niederbayerischen Raumes. Welche räumlichen und zeitlichen Grenzen in Betracht gezogen werden müssen, um eine konkrete Rechtsordnung zu untersuchen, hängt wiederum von zahlreichen Faktoren ab. Das sind Probleme der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung, die hier nicht zur Diskussion stehen. Hier geht es nur darum, daß diese Disziplinen, wie die gesamte Rechtswissenschaft, das Recht als ein Kulturprodukt betrachten. Die Bezeichnung des Rechts als Kulturprodukt bringt nicht nur die Einbettung einer jeden Rechtsordnung in eine bestimmte Gesamtkultur zum Ausdruck, sondern setzt das Recht auch deutlich ab von den "Naturprodukten", also denjenigen Phänomenen, die der Mensch in der Natur vorfindet. Das Recht ist Menschenwerk. Das ist die nüchterne Betrachtung des Juristen, ganz gleich, ob er in seinem Privatleben an Gott glaubt oder nicht. Aber damit ist auf jeden Fall bereits eine sehr tiefe Schicht erreicht. Da ist einmal die Fragwürdigkeit der Unterscheidung zwischen dem Berufs- und

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Privatleben. Wer an Gott glaubt; tut dies in allen Sektoren seines Handeins und Denkens. Zum anderen wird auch derjenige Jurist, der jeden Glauben an Gott entschieden ablehnt, immer wieder zu der Frage hingeführt, woher denn Menschen die Befugnis nehmen, Rechtsnormen zu setzen und Rechtsinstitutionen zu schaffen, die nicht nur für ihre unmittelbaren Urheber, sondern auch für alle anderen Angehörigen der betreffenden Rechtsordnung (Rechtsgenossen, Rechtsunterworfene) und für künftige Generationen gelten sollen. Freilich kann man sich die Antwort auf diese Frage noch relativ einfach machen und auf die Macht hinweisen, die einzelne oder Gruppen in die Lage versetzt, solches zu tun. Aber dann kommt die nächste Frage: Woher nehmen diese Menschen die Maßstäbe für die Gestaltung der von ihnen gesetzten Normen und der von ihnen gegründeten oder aufrechterhaltenen Institutionen? Diese Frage kann nicht mehr durch den bloßen Hinweis auf die Macht beantwortet werden, und auch das Ausweichen auf die "Vernunft" hat sich als unbefriedigend erwiesen. Denn das Argumentieren mit der Vernunft wird erst sinnvoll, wenn feststeht, zu welchem Zweck Normen und Institutionen geschaffen werden. Deshalb lassen sich die Fragen nach dem Geltungsgrund und dem Normierungsinhalt des Rechts nicht voneinander trennen. Beide hängen mit den Grundauffassungen von menschlichem Sein, menschlicher Verantwortung und menschlicher Zielsetzung zusammen. So erklärt es sich, daß auch atheistische Rechts- und Staatslehren im Vorfeld ihrer Konstruktionen dieselben philosophischen Grundfragen nach dem Geltungsgrund der Rechtsnormen und der Funktion der Rechtsinstitutionen stellen. Aber nicht nur die Identität der Fragestellungen ist verblüffend, sondern auch, trotz mancher Unterschiede im Detail, die weitgehende Übereinstimmung in den Antworten, die sichjeweils innerhalb eines Kulturkreises findet.6 Man muß gar kein Philosoph sein, um das auch in den Erfahrungen des täglichen Lebens zu erkennen. Der große Physiker Werner Reisenberg hat das ganz einfach ausgedrückt: "Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion längst nichts mehr anfangen kann". 7 Das Gespräch über diese Dinge mit den Angehörigen anderer Kulturkreise hat erst begonnen. Die Bedingungen der "schrumpfenden Welt", die Globalisierung des Völkerrechts, die Notwendigkeit, sich über die Auffas6 Vgl. Otto Kimminich, Politische Theorien des Atheismus im demokratischen System. Zeitschrift für Politik 1963, S. 123 ff. 7 Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1973, S. 254. Kardinal Franz König verwendete dieses Zitat in seiner Ansprache am 15. Juni 1986 bei der Verleihung des Romano-Guardini-Preises in der Katholischen Akademie in Bayern. Vgl. Franz König, Der unvollendete Mensch. Zur Debatte 1986, 16. Jg., Nr. 4, S. 4.

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sung von den Menschenrechten - als Grundlage für ihren internationalen Schutz - zu verständigen, und viele andere Faktoren der modernen Welt, haben es intensiviert. Trotz des noch immer unbefriedigenden Standes dieser weltweiten Diskussion zeichnen sich schon heute grundlegende Übereinstimmungen auch auf dieser Ebene ab. Das gilt vor allem für die Auffassung von der Funktion des Rechts und seiner Institutionen. Niemand hat das treffender formuliert als ein deutscher Rechtsphilosoph: "Das Wenigste, das im selbstkritisch beobachteten Bewußtsein des Menschen aufsteigt, wenn es sich in den Begriff Recht versenkt, ist der Gedanke an eine Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen. . ... Wer ,Recht' denkt, denkt den einen und den anderen, denkt sich und den Menschen oder die Körperschaft, zu denen er in Beziehungen steht oder in Beziehungen tritt. "8 Damit ist die Funktion des Rechts und seiner Institutionen bereits klargestellt: Das Recht soll das Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Diese einfache Formel sagt noch nicht alles, aber sie bildet die Grundlage für alle weiteren Überlegungen. Da ist einmal die wesensmäßige Verbindung des Rechts mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. Der einsame Robinson auf seiner Insel braucht kein Recht. (Daß die im einzelnen Menschen wirkende Sittlichkeit von dieser Feststellung unberührt bleibt, bedarfkeiner Hervorhebung.) Da ist zum anderen der in dieser Wesensmäßigkeit enthaltene Hinweis auf die Notwendigkeit von Institutionen des Rechts. Auch wenn sich zwischenmenschliche Beziehungen in einer Vielzahl von individuellen Beziehungen zwischen jeweils zwei Einzelmenschen abspielen, bringt es ihre Wiederholung mit sich, daß feststehende Regeln entwickelt werden. Die Notwendigkeit der Bewahrung und Festigung solcher Regeln ergibt sich aus dem offenbar überall und zu allen Zeiten bestehenden Bedürfnis, die einmal herausgebildeten Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen gleichmäßig auf identische Sachverhalte innerhalb der Gesellschaft, d. h. des Geltungsbereichs der betreffenden Rechtsordnung, anzuwenden. Dieses Schema der Herausbildung von Recht und Rechtsinstitutionen haben die Forscher, die sich mit dem Recht der Naturvölker (z. B. der Eskimos, der lfugaos aufNord-Luzon, der Komantschen, Kiowa und Cheyenne in Nordamerika, der Trobriander im pazifischen Raum und der Aschanti in Afrika) beschäftigt haben, um daraus Schlüsse für die historische Entwicklung des Rechts insgesamt zu ziehen, immer wieder festgestellt. Die erste Funktion des Rechts bestehe darin, das Verhältnis der Mitglieder einer Gesellschaft zueinander zu regeln, "festzulegen, was erlaubt ist und was nicht, und auf diese Weise jedenfalls ein gewisses Minimum an Integration des Handeins von Individuen und Gruppen innerhalb der Gesellschaft zu gewährleisten." Die zweite Funktion des Rechts leite sich "aus der Notwendigkeit her, einerseits unkontrollierte Gewalt zu unterdrücken, andererseits aber den 8

Günther Küchenhoff, Rechtsbesinnung, Göttingen 1973, S. 21.

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Gebrauch von Gewalt zur Aufrechterhaltung der Ordnung zu regeln". Die dritte Funktion des Rechts sei die Bereinigung von Konflikten, die vierte die Ermöglichung des Wandels, und schließlich zusammenfassend: "Die wichtigste Aufgabe des Rechts ist eine zweckdienliche Gestaltung der sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft". 9 Interessant ist, daß in dieser Aufzählung der Grundfunktionen des Rechts diejenige der Ermöglichung des Wandels neben der Funktion des Bewahrens aufgezählt wird. Der juristische Laie neigt dazu, die bewahrende Funktion des Rechts und seiner Institutionen in den Vordergrund zu stellen. In der Tat ist sie am auffälligsten. Sowohl von der (vermuteten) Entstehungsgeschichte aller Rechtsnormen als auch von der Funktion des Rechts her gesehen steht sie an erster Stelle. Sie könnte als "Urfunktion" bezeichnet werden. Der konservative Grundzug des Rechtsdenkens - vom legalistischen Denken ganz zu schweigen - ist nicht zu leugnen. Er ergibt sich aus dem jeder Rechtsordnung immanenten Streben nach "Rechtssicherheit", d. h. der gleichmäßigen Anwendung der Rechtsnormen auf die jeweils normierten Sachverhalte. Da Handlungsentschlüsse, die unter der Geltung einer bestimmten Rechtsnorm gefaßt werden, stets in die Zukunft wirken, ist mit ihnen die Erwartung verknüpft, daß die Rechtsnorm auch dann noch gilt, wenn sich das Handeln auswirkt. Zu dieser Erwartungshaltung gehört auch die Vorausberechenbarkeil der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen, die dem Handeln des Rechtsunterworfenen folgen. Wie wichtig diese bewahrende Funktion des Rechts ist, zeigt sich schon dann, wenn etwa im Zuge einer "Reformdiskussion" Unsicherheiten über die künftige Rechtslage entstehen. Daß das Recht unter bestimmten Voraussetzungen dem Wandel Widerstände entgegensetzen muß, ergibt sich ferner aus seinem normativen Charakter. "Normativ" heißt im juristischen Sprachgebrauch: "bestimmend, was rechtens ist". Einfach ausgedrückt bedeutet das, daß Rechtsnormen die Wirklichkeit gestalten wollen. Sie können das nicht automatisch, sondern nur durch die Vermittlung der Entscheidungen derjenigen, die dem Recht zur Geltung verhelfen. Das sind nicht nur die Richter und Beamten, sondern auch die einzelnen und Gruppen, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der betreffenden Rechtsordnung abwickeln. Auf die Ursache und Wirkungsweise dieser normativen Kraft wird im folgenden zurückzukommen sein. Hier geht es nur um die Tatsache, daß jede Rechtsordnung auf die Entfaltung normativer Kraft angelegt ist und sich deshalb denjenigen Kräften widersetzt, deren Zielrichtung dieser normativen Kraft entgegensteht. Aber es ist ein großer Irrtum, daraus zu schließen, daß das Recht mit seinen Institutionen stets eine retardierende historische Kraft ist. 9

Sämtliche Zitate aus E. Adamsan Hoebel, Das Recht der Naturvölker, Freiburg 1968,

s. 347.

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Nicht nur die Geschichtsbetrachtung zeigt, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Jeder Jurist nimmt schon während seines Studiums, noch mehr aber im Laufe seiner Berufstätigkeit, deutlich wahr, wie sich die Rechtsordnung innerhalb relativ kurzer Zeit wandelt. Frühzeitig lernt er - oder sollte es lernen-, daß juristisches Denken niemals statisches Denken ist. Zwar wird dieser Eindruck erweckt, weil im Einzelfall jeweils Rechtsnormen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, auf einen Sachverhalt angewendet werden, der im Zeitpunkt der gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung ebenfalls bereits der Vergangenheit angehört. Schon im Einzelfall ist die Entscheidung nicht rückwärts gerichtet (von den seltenen und eng begrenzten Fällen der Rückwirkung abgesehen), sondern wirkt gestaltend für die Zukunft. Vor allem aber ist die Rechtsordnung als solche in einem stetigen Wandel begriffen. Dieser Wandel ergibt sich nicht nur aus der Setzung neuen Rechts und der Abschaffung oder Veränderung bisher geltender Rechtsnormen, sondern auch durch die sich wandelnde Interpretation unverändert geltender Rechtsnormen. Hinzuzufügen ist allerdings, daß ein solcher Wandel nur dort zulässig ist, wo die Rechtsnorm selbst interpretationsfähige und interpretationsbedürftige Begriffe verwendet. Insoweit setzt sich jede Rechtsordnung gewisse Grenzen des Wandels, die ihren letzten Ausdruck in den auch der Verfassungsänderung entzogenen Prinzipien finden, wie siez. B. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes normiert. Es ist wichtig, an den Wandel der Rechtsordnung und der Rechtsinstitutionen zu erinnern, wenn von der bewahrenden, stabilisierenden Funktion der Rechtsordnung als Institution und der einzelnen Rechtsinstitutionen die Rede ist. Nichts wäre verhängnisvoller als die grundlegend falsche Vorstellung, Rechtsinstitutionen behinderten den Wandel. Im Gegenteil: Das Recht will mit seinen Institutionen den Wandel so ermöglichen, daß die Anpassung an neue Verhältnisse die bestehenden zwischenmenschlichen Beziehungen nicht erschüttert. Im Völkerrecht des 20. Jahrhunderts ist dafür der Ausdruck "friedlicher Wandel" geprägt worden. Im Rahmen des Völkerrechts konnte dies erst nach lokrafttreten der Völkerbundssatzung geschehen, weil in der vorhergehenden Epoche des klassischen Völkerrechts auch der Krieg als Rechtsinstrument begriffen worden war. Mit anderen Worten: Erst im 20. Jahrhundert fand auch das Völkerrecht zur Friedensfunktion des Rechts, die seit dem Altertum bekannt war. Pindar rühmt in seinen olympischen Oden den Frieden als Weggenossen des Rechts, bei den Germanen war Friedlosigkeit gleichbedeutend mit Rechtlosigkeit, und schon im Alten Testament lesen wir bei Isaias (32, 17), daß das Werk der Gerechtigkeit der Friede sein wird, ein Wort, das auch für das christliche Denken richtungweisend geblieben ist. 10 Warum das Völkerrecht diese Wendung zum Frieden so spät vollzogen 10 Vgl. Valentin Zsifkovits, Der Friede als Wert, München/Wien 1973; Valentin Zsifkovits, Ethik des Friedens, Linz 1987.

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hat, bedarf umfangreicher Erklärung. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß seit dieser Hinwendung- die in unseren Tagen noch nicht ganz abgeschlossen ist - das Rechtsdenken auf der innerstaatlichen wie auf der internationalen Ebene die Friedensfunktion des Rechts einheitlich beurteilt. Daß gerade die Erfüllung dieser Funktion niemals auf der Grundlage einer statischen Weltvorstellung, sondern nur unter Einbeziehung der allen menschlichen Phänomenen innewohnenden Dynamik möglich ist, bedarf keiner weiteren Erwähnung mehr. Die Ermöglichung des friedlichen Wandels in einer spannungsgeladenen, konfliktträchtigen Welt erweist sich somit als die eigentliche Funktion der Rechtsinstitutionen. Das ist es, was unter der Aufgabe "menschliches Zusammenleben zu ermöglichen", zu verstehen ist. Und erst auf diesem Hintergrund wird klar, was die Philosophen meinen, wenn sie von den Institutionen sagen, "daß sie das Dasein stabilisieren und ihm Führungssicherheit, Koordination und Ordnung geben" . 11 Das gilt sowohl für die Rechtsordnung als Institution in ihrer Gesamtheit, als auch für die einzelnen Rechtsinstitutionen. In letzterem Sinn sind Institutionen normative Grundfiguren, in denen die Elemente eines bestimmten Rechtsgebiets so systematisiert und vereinheitlicht sind, daß sie eine auf alle Einzelregelungen wirkende prägende Kraft entfalten. Auf dieser Grundlage hat die moderne juristische Institutionenlehre den Gedanken der "Leitideen" der Rechtsinstitutionen entwickelt. Auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entspricht dieser Institutionenlehre, indem es neben einzelne Grundrechte die jeweils dazugehörige Einrichtungsgarantie (als Institutionsgarantie oder institutionelle Garantie) setzt, wie z. B. neben das Grundrecht des einzelnen aufEigenturn die Garantie der Rechtsinstitution "Privateigentum" in Art. 14 GG, oder neben das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder die institutionelle Garantie von Ehe und Familie in Art. 6 GG. Das Bundesverfassungsgericht wird immer wieder zur Entscheidung darüber aufgerufen, ob bestimmte Maßnahmen des Gesetzgebers in unzulässiger Weise entweder in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen oder die institutionelle Garantie verletzen. Die in solchen Fällen getroffenen Entscheidungen erinnern immer wieder daran, daß Mehrheitsbeschlüsse im freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat keine Diktatur der Parlamentsmehrheit sein dürfen. Gerade die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts macht aber auch den Wandel von Institutionen deutlich. Wer etwa die Rechtsprechung zu Art. 14 GG im Laufe der letzten dreißig Jahre verfolgt hat, sieht ohne weiteres, daß die Konturen des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums heute anders gezogen werden als vor drei Jahrzehnten. Dieser Wandel war durch eine gewandelte Interpretation des im Grundgesetz selbst nicht defi11 Wolfgang Lipp, "Institution", in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1987, Sp. 1345.

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nierten Begriffs des Eigentums möglich. Aber er erfolgte unter Beachtung derUnantastbarkeitder verfassungssrechtlichen Garantie der Rechtsinstitution "Privateigentum", deren grundlegende Funktion der Bundesgerichtshof in seinem Beschluß vom 10.06.1952 mit folgenden Worten umrissen hat: "Der in den Staat eingegliederte einzelne bedarf, um unter seinesgleichen als Person, d. h. frei und selbstverantwortlich leben zu können, und um nicht zum bloßen Objekt einer übermächtigen Staatsgewalt zu werden, also um seiner Freiheit und Würde willen, einer rechtlich streng gesicherten Sphäre des Eigentums". 12 Damit hat der Bundesgerichtshof am Beispiel der Institution "Eigentum" nicht nur die stabilisierende, konfliktlösende Funktion von Rechtsinstitutionen aufgezeigt, sondern auch deren Zusammenhang mit den grundlegenden Wertentscheidungen der Rechtsordnung. Seit es geschriebene Verfassungen gibt, finden diese Wertentscheidungen dort ihren Ausdruck. Die "Grundwertedebatte", die in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland geführt worden ist, hat Anlaß gegeben, erneut darauf hinzuweisen. 13 Das Bundesverfassungsgericht hat an der Wertgebundenheit des Grundgesetzes, wie aller demokratischer Verfassungen, niemals Zweifel aufkommen lassen, sondern hat in ständiger Rechtsprechung erklärt, daß das Grundgesetz "eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet" hat, "die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt". 14 Als das Bundesverfassungsgericht diese Aussage zum ersten Mal formulierte, fügte es wörtlich hinzu: "Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt. " 15 In der Entscheidung vom 25. Februar 1975 wiederholte es diesen Satz mit Nachdruck. 16 Erinnert man sich daran, daß jede Rechtsordnung eingebettet ist in eine Gesamtkultur, und berücksichtigt man, daß es sich beim Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland um die Verfassung eines dem europäisch-christlichen Kulturkreis angehörenden Landes handelt, die sich ein seit Jahrhunderten von Christentum geprägtes Volk "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" gegeben hat, wie es in der Präambel dieses Grundgesetzes ausdrücklich heißt, so kann die oben wiedergegebene Formulierung des Bundesverfassungsgerichts nicht überraschen. Eher war es überraschend, daß im J ahre 1975 eben jene Worte des Bundesverfassungsgerichts zum Teil

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7•

BGHZ 6, 276. Vgl. Otto Kimminich (Hrsg.), Was sind Grundwerte?, Düsseldorf 1977. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25.2.1975, BVerfGE 39, I (67). Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23.10.1952, BVerfGE 2, I ( 12). BVerfGE 39, 67.

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auf Unverständnis und Ablehnung stießen und von einem Autor sogar in der Fachpresse als "Wertrigorismus" gebrandmarkt wurden. 17 Solches Unverständnis stimmt nachdenklich und führt zu der Frage hin, was aus Rechtsinstitutionen wird, wenn ihre Zielsetzungen nicht mehr verstanden werden und ihre normative Kraft abgelehnt wird. Ein Teilaspekt dieser Frage ist bereits im vorstehenden behandelt worden. Er betrifft den Rechtsbrecher, denjenigen Menschen also, mit dem die Rechtsordnung von vornherein rechnet, an dem sie sich bewähren muß. Noch niemals ist im juristischen Denken davon ausgegangen worden, daß die bloße Existenz von Rechtsnormen den Rechtsvollzug sichert. Vielmehr muß jede Rechtsordnung institutionelle Sanktionen für den Fall des Rechtsbruchs bereithalten und im Ernstfall praktizieren. 18 Aber die Zwangsdurchsetzung ist nicht das wesentliche Merkmal der Rechtsnorm. In jedem Staat ist die Zwangsdurchsetzung eine Randerscheinung; denn die Rechtsnormen entfalten ihre hauptsächliche Wirkung in der Formung der Verhaltensstrukturen der handelnden Menschen, sowohl der Bürger als auch der mit dem Vollzug der Normen Betrauten. Das ist empirisch schwer nachzuweisen; denn die bevorzugte Methode der Naturwissenschaft, das Experiment, ist in diesem Bereich nicht statthaft, und theoretische Modelle eines gesamten Staatsgebildes und der dazugehörigen Rechtsordnung sind nicht leicht zu konstruieren. Man hat es trotzdem versucht und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß jeder Staat in jedem gegebenen Augenblick höchstens 3 % bis 7 % der von ihm gesetzten Rechtsnormen mit Zwangsgewalt durchsetzen kann. In allen Staaten, ganz gleich, welche Verfassung sie haben, beruht daher das Funktionieren der Rechtsinstitutionen zum ganz überwiegenden Teil darauf, daß die diesen Institutionen zugrundeliegenden ethischen Werte in die Verhaltensstruktur der handelnden einzelnen integriert, "internalisiert", sind. Freilich ist der Vorgang der Internalisierung in einem totalitären Staat anders als im freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat. Dieser Unterschied bleibt für die Bewertung der politischen Systeme von ausschlaggebender Bedeutung. Aber die prinzipielle Gleichartigkeit des Wirkens der Rechtsnormen im Regelfall - nämlich freiwillige Befolgung durch die ganz überwiegende Mehrheit derjenigen, für welche die Rechtsordnung gilt- bleibt davon unberührt. Nun sind viele der Meinung, der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat sei labiler als die 17 Erhard Denninger, Freiheitsordnung-Wertordnung- Pflichtordnung. Juristenzeitung 30 (1975), S. 545. 18 Auch das gehört zu den im juristischen Studium schon früh vermittelten Erkenntnissen. Allerdings wird beklagt, daß diese Erkenntnisvermittlung schwieriger wird: "Nur einem scharfen Beobachter und selbständigen Geist geht auf, daß sich in den Strafverhandlungen zwei Welten begegnen, die Welt des Tages, die zu herrschen meint, und die Unterwelt, die diesen Herrschaftsanspruch nächtens verhöhnt" (Günther Wüst, Leistung und Leistungsdefizite in unserem Rechtssystem. Juristenzeitung 43 (1988), S. 138).

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Diktatur, weil er eine Abnahme der freiwilligen Befolgung nicht rasch genug durch eine Zunahme der Zwangsgewalt ausgleichen könne. Über die danach zu definierenden Trennwände, die den wohlgeordneten Staat vom totalen Chaos scheiden, mag gestritten werden. Sie sind in jedem Fall erschreckend dünn. Institutionen verstärken diese Trennwände. Sie äußern ihre stabilisierende Kraft nicht zuletzt darin, daß sie zur Internalisierung der den Rechtsnormen zugrundeliegenden ethischen Werte beitragen; denn sie sichern ja die Wiederholbarkeit der Vorgänge. Deramerikanische Staatsphilosoph Maclver hat dies zum Ausgangspunkt seiner zentralen Aussage über die Institutionen gemacht, die zugleich Hoffnung und Skepsis zeigt: "Der Mensch erbaut sich eine unsichtbare Welt von Institutionen. Diese ordnen sein Leben; mit ihrer Hilfe trägt er das Erbe seiner Vergangenheit in die Zukunft; ohne sie wäre sein Leben chaotisch, leer und animalisch. Aber dem Menschen fällt es nicht leicht, seine eigenen Institutionen zu begreifen" . 19 Wie die Rechtsordnung selbst sind auch Institutionen nur auf der Grundlage der ethischen Wertentscheidungen zu verstehen, auf denen die Rechtsordnung beruht. Das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde, immer wieder zu erklären, daß das Grundgesetz eine Wertordnung zum Ausdruck bringt, schützt und garantiert. Das ist keine Besonderheit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Jede juristische Entscheidung ist zugleich eine ethische Entscheidung. Die konfliktlösende Kraft des Rechts beruht nicht auf diesem selbst, sondern auf dem Ethos, das dem Recht zugrundeliegt. 20 Damit soll nicht gesagt werden, Recht und Sittlichkeit seien miteinander identisch. Auch in hochentwickelten, reifen Rechtsordnungen gibt es Bereiche, für die keine Rechtsregeln bestehen, die also allein dem Wirken sittlicher Normen überlassen bleiben. Aber beide sind auf demselben Kulturboden gewachsen und hängen daher aufs engste miteinander zusammen. Gerade in den Rechtsinstitutionen, die als Regulative und "Leitideen" fungieren, zeigt sich dieser enge Zusammenhang deutlich. Gerade deshalb ist aber auch der Niedergang von Institutionen ein Anzeichen für den Verfall nicht nur der Rechtskultur, sondern auch der allgemeinen Kultur, in die das Recht mit seinen Institutionen eingebettet ist. Damit soll nicht der These vom Altern der Institutionen, vom Nachlassen ihrer Kraft, das Wort geredet werden. Institutionen altern nicht wie Menschen. Sie sind keine sich selbst erhaltende und wie jedes Leben dem Robert N. Maclver, Regierung im Kräftefeld der Gesellschaft, Frankfurt 1947, S. 184. Nicht von ungefähr wird zwischen Recht und Gerechtigkeit unterschieden. Zwar strebt der Rechtsstaat, strebt jedes Recht, das diesen Namen verdienen soll, nach der Verwirklichung der materialen Gerechtigkeit, "aber Recht ist erst Ermöglichung von Gerechtigkeit" (Wolfgang Pesendorfer, Stichwort "Institution", in: Katholisches Soziallexikon, hrsg. von Alfred Klose, Wolfgang Mantl und Valentin Zsifkovits, 2. Aufl. lnnsbruck/Graz 1980, Sp. 1181 ). 19

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natürlichen Tod anheimgegebene Organismen. Die Organismustheorie, die auf der Grundlage der Hegeischen Philosophie Eingang gefunden hat in die romantische Staatslehre, hat schon genug Unheil angerichtet. Sie ist bei der Betrachtung von Institutionen genauso schädlich und irreführend wie bei der Betrachtung von Staaten. Institutionen sind Menschenwerk, werden durch menschliche Entscheidungen geschaffen und erhalten, durch menschliche Entscheidungen zerstört. Wie alles Menschenwerk können sie aber auch durch Unachtsamkeit zerstört werden. Wenige wissen, daß das in der Philosophiegeschichte so bedeutsame Wort "was nicht mehr begriffen wird, ist nicht mehr" von Hegel in einem juristischen, und zwar staatsrechtlichen Zusammenhang geprägt wurde. Er sprach es 1802 mit Blick auf das Erste Deutsche Reich, dessen Rechtsnatur von den deutschen Staatsrechtlern schon seit dem Westfälischen Frieden kaum noch begriffen wurdeY Heute werden solche Warnungen nicht nur in bezugauf die Staatlichkeil der Bundesrepublik Deutschland ausgesprochen. Immer häufiger hört man das Schlagwort vom "Schwinden des Rechtsbewußtseins". Man kann die Vorgänge, deren Zeuge wir gegenwärtig sind, wohl mit unterschiedlichen Worten beschreiben. Betrachten wir sie von der Warte der Rechtsordnung als solcher und von derjenigen der Rechtsinstitutionen, so wäre es wohl am treffendsten, von einem Verbrauch der ethischen Substanz zu sprechen. Der Vorgang ist deswegen besonders gefährlich, weil er die äußere Hülle der Institution unangetastet erscheinen läßt, während ihr Inneres ausgehöhlt wird, so daß der Zusammenbruch eines Tages sehr rasch erfolgen kann. Verfassungshistoriker haben den Vorgang der Aushöhlung einer ganzen Staatsordnung am Beispiel der Weimarer Republik aufgezeigt. Zum Schluß war vom Rechtsstaat nur "die leere Schale der Gesetzlichkeit" übriggeblieben. 22 Der Verbrauch der ethischen Substanz bedroht nicht nur die einzelnen Institutionen, sondern die gesamte Rechtsordnung, das gesamte menschliche Zusammenleben. Es wäre also völlig verfehlt, die Institutionen als die Schwachstellen der Gesellschaftsordnung anzusehen. Im Gegenteil: Ihre normative Funktion als Regulative und Leitideen läßt sie als mögliche Sammelpunkte der noch vorhandenen ethischen Kräfte erscheinen. Sie zu begreifen, ist heute nicht leichter, als es früher war. Sie zu erhalten, ist schwerer, als sie zu zerstören. Aber auf der Grundlage der Verfassung des 21 Georg Friedrich Wilhelm Hege!, Die Verfassung Deutschlands, in: G. F. W. Hege!, Der Staat, hrsg. von Paul Alfred Merbach, Leipzig 1924, S. 106. Die Textstelle lautet im Zusammenhang: "Deutschland ist kein Staat mehr. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." 22 Ulrich Scheuner, Dieneuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Ulrich Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, hrsg. von Joseph List! und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 205.

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freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates wie sie das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland darstellt, ist ihre Erhaltung im Zustand einer dynamischen Stabilität auch heute noch durchaus möglich. Das zeigt nicht nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sondern zum Glück auch noch immer die Haltung der Mehrheit der Bürger unseres Landes.

FRANZ RONNEBERGER

Die Institution Staat in der öffentlichen Meinung Wenn es richtig ist, daß wir einen Verlust an Legitimationskraft der Institutionen zu beklagen haben und in eine Phase der "Entinstitutionalisierung"1 eingetreten sind, muß darüber nachgedacht werden, ob und wie diese Entwicklung aufgehalten oder wenigstens gebremst werden kann. Denn über Bedeutung und Funktion der Institutionen für die Selbsterhaltung der Gesellschaft als Gesamtheit sozialer Systeme besteht kein Zweifet.Z Soweit der Staat als soziale Institution verstanden werden kann (er ist als Rechtsordnung, Machtapparat und vor allem als organisiertes System der Administration noch mehr und anderes), trifft der Niedergang der institutionellen Verbindlichkeit auch auf ihn zu; als oberste Kompetenz für die Zuordnung von Machtpositionen und Verteilung von sozialen Belohnungen beschreibt der institutionelle Charakter den Kern des staatlichen Daseins. Das Hervorbringen von verbindlichen Entscheidungen setzt voraus, daß Konsens über seine Legitimität besteht. Nicht ausgeräumte Zweifel an dieser Legitimität gefahrden die Stabilität des Staates als Institution. Vollzieht sich gegenwärtig ein Wandel in der Einstellung der Bevölkerung zum Staat? Will man dies empirisch ermitteln, muß man über sehr viele, in längeren Fristen erhobene Daten verfügen. 3 Hinzu kommt, daß sich nicht allein die Einstellung der Bevölkerung wandelt, sondern der Staat selbst. Wir können daher nicht die Einstellung zum selben Gegenstand messen. So lange der Staat sich im wesentlichen auf hoheitliche Funktionen beschränkte, mußte die Frage nach der Einstellung zu ihm eher als überflüssig, jedenfalls 1 Vgl. jüngstens den von Johannes Chr. Papalekas herausgegebenen Band: Kulturelle Integration und Kulturkonflikt in der technischen Zivilisation, Frankfurt/New York 1989. Darin vornehmlich die Beiträge von Wolfgang Lipp, Entinstitutionalisierung. Wie erfaßt man sozialen Verfall? (S. 86-114); Arnold Zingerle, Wertumbruch vor einem Jahrhundert: zu den Begriffen "Ehre" und "Gewissen" bei Ferdinand Tönnies (S. 115127). 2 Aus der vielfältigen Literatur hauptsächlich: Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen bes. Verfassungen, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 3 (1952), S. 1-21; ders., Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970; F. Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966. 3 Vgl. die Arbeiten von Helmut Klages; zuletzt: Der Wertwandlungsschub. Empirie und kulturtheoretischer Stellenwert, in: Papalekas, a .a.O., S. 128-155.

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nicht als angemessen, empfunden werden. Der Wandel begann erst, als sich der Staat mehr und mehr als daseinsvor- und fürsorgender zu verstehen begann.4 Nunmehr trat er seinen Bürgern (ursprünglich Untertanen) nicht mehr allein als eine Macht gegenüber, die von ihnen Leistungen forderte und sie schützte, jetzt begann er selbst, Leistungen zu erbringen, die unmittelbar und mittelbar der Lebensführung und der "gerechten" Verteilung von Sozialchancen dienen sollten. Damit ist der Staat in einer zuvor unvorstellbaren Weise der Kritik ausgesetzt. Was dies für die Institution und das Verhältnis der Bürger zu ihr praktisch bedeutet, ist in einer schnell wachsenden Literatur kenntnisreich und verantwortungsbewußt behandelt worden. 5 Soweit empirische Untersuchungen über Einstellungen und Einstellungswandel zum Staate vorliegen, zeigen die Daten erwartungsgemäß erhebliche Unterschiede je nach Alter, sozialem Milieu, Bildung und weiteren Indikatoren. Helmut Klages6 und seine Mitarbeiter haben "Typen" herausgearbeitet, auf die hier ausdrücklich Bezug genommen wird. Man muß allerdings davon ausgehen, daß sich das gesamte Feld angesichts des ungebremsten Tempos der industriell-technischen Weltveränderungen und der bedeutsamen "Verwerfungen" des deutschen Sozialgefüges durch den Zustrom von ausländischen Arbeitskräften und deutschen Volksangehörigen aus dem sozialistisch-kommunistischen Machtbereich schnell verändert. Gefragt sind Integrations- und Assimilationsleistungen, auf die die relativ homogene deutsche Volksstruktur nicht vorbereitet ist, ein Thema, das Papalekas seitJahrzehntenbeschäftigt und in mehreren Arbeitstagungen behandelt hat. Die folgenden Überlegungen beruhen auf der Annahme, daß Erhaltung und Pflege der Institution Staat für die Existenz einer wertepluralistischen Gesellschaft lebenswichtig sind. Stabilität bedeutet nicht, die Beziehungen zwischen Bürger und Staat auf irgendeinem Niveau zu fixieren, etwa nach einem vorgegebenen Muster festzulegen, wir stellen vielmehr fest, daß auch die staatliche Institution dem steten Wandel unterliegt, freilich nicht einem beliebigen Wandel. Die Grenzen werden in der Regel durch die jeweiligen Verfassungen gezogen, speziell durch die Freiheitsrechte und die institutionellen Garantien. Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf das, was wir die jeweilige Verfassungsidee, die der formellen Verfassung zugrundeliegt, Ordnungs- und Wertevorstellungen nennen. 7 4 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. Manfred Hättich (Hrsg.), Zum Staatsverhältnis der Gegenwart, München 1987. Helmut Klages, Wandlungen im Verhältnis der Bürger zum Staat - Thesen auf empirischer Grundlage, Speyer 1988. 5 Ich verweise paradigmatisch auf das dreibändige Werk von Walter Leisner, Demokratie. Selbstzerstörung einer Staatsform? Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung. Die demokratische Anarchie als Staatsprinzip?, Berlin 1979, 1980, 1982. 6 Helmut Klages, Der Wertwandlungsschub, a.a.O., S. 142 ff.

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Wenn wir von deren Schutz im Sinne von Kontinuität und Bewahrung sprechen, so schließen wir Verfassungsänderungen im einzelnen nicht aus. Bei ihnen handelt es sich um Anpassungsmaßnahmen an neue gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Lagen, aber auch um den Wandel von politischen Verhaltensweisen und rechtlichen Normen. In diesem Sinne befinden sich alle Verfassungen in steter Bewegung. In den folgenden Überlegungen geht es um Verfassungsgrundsätze, also um Kerngebiete von Verfassungsnormen. Den konkreten aktuellen Bezug für diese allgemeinen Überlegungen stellt die Beziehung des Staates zur modernen Industriegesellschaft dar. Bereits 1966 hat Martin Draht8 auf den entscheidenden Punkt hingewiesen: Die Industriegesellschaft bedürfe eines- auf ihre spezifischen Organisationserfordernisse zugeschnittenen - souveränen Ordnungsfaktors, weil sie ein in hohem Grade nicht -"selbstregulierendes" System des Zusammenlebens sei, d. h. ihre Regulierung weitgehend nur von außen, von einem spezifischen, deshalb ihr gegenüber relativ selbständigen, Regierungssystem erfahren müsse. Genau besehen müsse dieser Ordnungsfaktor ihr gegenüber so selbständig sein, daß er "von außen" auf sie einwirken könne, andererseits von ihr möglichst so abhängig sein, daß er seine Funktion nicht als ein Fremder, gar als ein Feindlicher ausübt. In universalpolitischer Perspektive mit dem Gewicht auf staatsphilosophischen, sozial- und politikgeschichtlichen wie sozialpsychologischen Argumenten analysiert Walter Leisner in seinem oben erwähnten dreibändigen Werk die Chancen der Demokratie in der gegenwärtigen Spätzeit. Die parlamentarische Volksherrschaft, welche ihre Freunde die freiheitliche nennen, so sagt er, sei von Selbstgefährdungen bedroht, "wie alles Sensible, Geistige". Als Herrschaftsordnung drohe sie sich in jener Freiheit aufzulösen, die sie legitimiere; was sie so nötig brauche, könne sie nicht brauchenvon Polizeistrenge und Militärgewalt über einen unpolitischen öffentlichen Dienst bis zur wahren Wirtschaftsliberalität. An allen diesen Wucherungen ihres eigenen Herrschaftsorganismus sei sie immer wieder in der Geschichte zugrundegegangen, nicht an der Bedrohung von außen. Die weiteren Gedankengänge Leisners laufen darauf hinaus, die inneren Widersprüche und sozialen, zwischen den philosophischen und soziologischen Normen, Ansprüchen, Gegebenheiten, aufzudecken, z. B. der Rolle des Eigentums, der Bildung, der Sicherheit, der militärischen Stärke, des 7 Einer der engagiertesten Vertreter dieser Auffassung war Dolf Sternberger, Lebende Verfassung. Studien über Koalition und Opposition, Parteien, Fraktionen, Regierungen, Bd. I, Meisenheim a. G . 1956. Zahlreiche Beiträge in den folgenden Jahren vgl. Peter Haungs, Res publica. Studien zum Verfassungswesen. Dolf Sternherger zum 70. Geburtstag, München 1977, S. 473-481. 8 Martin Draht, Der Staat der Industriegesellschaft, in: Der Staat 5 (1966), S. 273-284. Ders., Rechts- und Staatslehre als Sozialwissenschaft, Berlin 1977.

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Beamtentums, der Wirtschaft, der Kirchen im Hinblick auf die von den demokratischen Auffassungen und von der Idee der Demokratie gewollten Ziele. Daranschließen sich weder Rezepte noch Vorschläge für eine Verbesserung an, wohl aber einige Hinweise, woraufbei der Weiterentwicklung der bestehenden Staatsform zu achten sein wird. Es geht Leisner vornehmlich um die Stabilisierung der Demokratie im Prinzipiellen. Er möchte klarstellen, wofür dieser Staat steht und damit wogegen, d. h. er drängt auf Entscheidungen. Parlamentarische Demokratien unterliegen, so beteuert er, leicht der Versuchung zum Glauben. Diese Staatsform sei als etwas Unabänderliches vorgegeben, letztlich gar nicht selbst der Ausdruck einer Entscheidung, sondern nur der Raum, in dem sich Politik entfalte. Demgegenüber müsse eingesehen werden, daß Demokratie überhaupt und sogar ganz wesentlich Dezision sei, daß sie eine politische Chance nur habe, wenn die Dezision klar erkannt und vertreten werde. Was läßt sich tun? Herbert Krüger9 und Helmut Quaritsch 10 erheben die Forderung nach bewußter Staatspflege. Es geht um die Selbstdarstellung des Staates. Kein Staat kann es sich heute mehr leisten, auf die Zustimmung von seiten seiner Umwelt (Bürger und anderer) zu verzichten. Wir erleben im Gegenteil, daß selbst Diktaturen einen riesigen Aufwand betreiben, um sich ständig bestätigen zu lassen. In Demokratien wird der Staat (Regierung und Verwaltung) zwar in erster Linie daran gemessen, inwieweit seine Leistungen den Erwartungen der Bürger entsprechen, doch vermag er zu jeder Zeit nicht sämtliche Erwartungen zugleich zu erfüllen. Es müssen ständig Prioritäten gesetzt werden. Freilich läßt sich besonders in Sozialstaaten ein Trend zur ständigen Steigerung des Erwartungsniveaus beobachten. Jedes erfüllte Bedürfnis scheint soglekh eine Hydra neuer Bedürfnisse hervorzubringen. Aber auch in qualitativer Hinsicht steigen die Ansprüche ständig. Diese Entwicklung hat im Verein mit dem Entstehen und Wachsen einer bürgerlichen Öffentlichkeit dazu geführt, daß auch der Staat als ein Verband unter Verbänden angesehen und behandelt wird, der seine Entscheidungen und Maßnahmen öffentlich bekanntgeben und verantworten muß. Gesetze und administrative Handlungen sprechen nicht für sich selbst, sie müssen durch institutionelle Mittel (Medien) in der Öffentlichkeit zur Sprache gebracht werden mit der Folge, daß jede Maßnahme von den höchst unterschiedlichen Interessenstandpunkten in der Gesellschaft unterschiedlich interpretiert wird. So absurd es einem Staats- und Verwaltungslehrer im Zeitalter des Absolutismus, ja selbst noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, erschienen sein 9 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1966. Vgl. auch Harry Pross, Der symbolische Aspekt des Staatsdienstes in der Demokratie, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Die Selbstdarstellung des Staates, Berlin 1977, S. 51-63. 10 Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977.

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dürfte, die Notwendigkeit staatlicher Existenz und staatlichen Handeins in der Öffentlichkeit zu erklären und um Zustimmung zu werben, so sehr sind wir im gegenwärtigen Zeitalter davon überzeugt, daß es auch auf dem Gebiete der staatlichen Hoheit keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sich die Begegnungen zwischen Staat und Bürgern weniger auf der Ebene der politischen Herrschaftsausübung als auf der Ebene der außerordentlich vielfältigen Verwaltungsleistungen vollziehen. Die Bürger nehmen den Staat immer seltener als bedrohliche, bis zum physischen Zwang reichende politische Herrschaft oder gar als aggressive und kriegslüsterne Macht, sondern als vielfach kritisierten Beschützer des Rechts und der Unversehrtheit der Bürger, hauptsächlich aber als Dienstherrn einer riesigen Ansammlung von Angestellten und Beamten wahr, die es ihrerseits tunliehst vermeiden, sich mit dem Staat als Institution zu identifizieren, sich am liebsten hinter Gesetz und Organisation verbergen. Nach Quaritsch 11 findet die Selbstdarstellung vorzugsweise statt: 1. In der Person und in den Handlungen staatlicher Amtsträger, 2. in den öffentlichen Sachen, insofern sie auf den Staat verweisen und speziell staatliche Eigenheiten präsentieren (z. B. Staatswappen, Staatsbauten usw.), 3. in Veranstaltungen, die das staatliche Selbstverständnis oder spezielle Leistungen darstellen und pflegen sollen (Staatsfeste, Gedenktage, Ausstellungen, Truppenparaden, Nationalhymne), 4. durch Unterrichtung über den Staat, seine Tätigkeit und Absichten (z. B. Regierungserklärungen, amtliche Öffentlichkeitsarbeit, Ansprachen, Veröffentlichungen und Beiträge von Politikern und staatlichen Amtsträgern, "Gemeinschaftskunde" in den Schulen). Was die Mittel staatlicher Selbstdarstellung anlangt, so haben wir es in erster Linie mit Erscheinungen und Handlungen von Amtsträgern zu tun. Dienstposten und Rolle verlangen von der Person ihres Trägers, sich den Bedingungen der Funktionsausübung sowie den spezifischen Eigenarten staatlichen Amtswaltens zu unterwerfen. "Es genügt nicht, die konkrete Aufgabe irgendwie zu erledigen; sie ist so zu vollziehen, wie Publikum, Kollegen und Vorgesetzte (und das Beamtenrecht!) es erwarten. Der Konformitätsdruck dieser Instanzen ist bald mehr, bald weniger unbarmherzig." 12 Wenn wir auch seit Jahrzehnten einen Wandel im Selbstverständnis von Staatsdienern beobachten, 13 der durch Sprechbereitschaft, AufgeschlossenDaselbst, S. 13. Daselbst, S. 15. 13 Franz Ronneberger I Udo Roedel, Beamte im gesellschaftlichen Wandlungsprozeß. Soziale Stellung und soziales Bewußtsein von Beamten in der Bundesrepublik, Bonn/ Bad Godesberg 1971. Franz Ronneberger, Zum künftigen Bild des Beamten, in: Die Verwaltung 6 (1973), S. 129-144. li

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heit, Publikumsnähe, Höflichkeit und Großzügigkeit gekennzeichnet ist, so findet die Begegnung zwischen Staat und Bürger doch vorwiegend indirekt durch die öffentlichen Medien statt. Sie sind es auch, die die Aussagen der Öffentlichkeitsarbeiter des Staates und seiner Verwaltung transportieren. Der Öffentlichkeitsprozeß vollzieht sich im wesentlichen auf zwei Ebenen: - Durch die Medien wird der Bürger über die Allokationen des Staates (Gesetze, administrative Akte, Veranstaltungen, politische Handlungen usw.) informiert, - in den Medien findet eine öffentliche Auseinandersetzung (Kritik und Gegenkritik) über die Beurteilung des staatlichen Handeins statt, - durch Public Relations und Allokationen versucht der Staat (Regierung, Verwaltung, ja selbst die Justiz), die Bürger zur Anerkennung der Zweckmäßigkeit und Richtigkeit seines Handeins zu gewinnen. Es ließe sich einwenden, daß es sich bei der Forderung nach Public Relations (Öffentlichkeitsarbeit) lediglich um ein psychologisches Problem der Massenbeeinflussung handle und nicht um eine Frage von grundsätzlicher staats- und verfassungspolitischer Bedeutung. Es regiere sich leichter und verwalte sich effektiver, wenn die Bürger eine positive Einstellung zum Staate hätten und von der Notwendigkeit und Richtigkeit der Maßnahmen überzeugt seien. Ohne diese Wirkungen leugnen zu wollen, handelt es sich jedoch um das prinzipielle Grundverständnis von Demokratie in einem pluralistischen Gesellschaftssystem. 14 Solange Demokratie lediglich als ein organisationstechnisches Verfahren zur Herbeiführung von Konsens und Entscheidungen verstanden wird, kann die Herstellung von Öffentlichkeit über die institutionell vorgeschriebenen Formen (Parlament, Gerichtswesen) hinaus vernachlässigt werden. Erblickt man dagegen in der Demokratie einen Weg zur Teilnahme und Teilhabe aller Bürger (organisiert und nichtorganisiert) am politischen Leben durch Mobilisierung ihrer Neugier, ihres Wissens und ihrer Anteilnahme, so erscheint das Öffentlichmachen von Problemen als wesentlicher, d. h. unabdingbarer Bestandteil des Staatshandeins durch Regierung, Parlament und Verwaltung. Wohllegt sich der Staat damit eine schwere Bürde auf, denn Öffentlichkeit provoziert und bedeutet Kritik, Widerstand, Verzögerung usw.. Nichtsdestoweniger muß dieser Weg gegangen werden, denn nur er führt schließlich zu den Segnungen der Demokratie i. S. der politischen Verwirklichung von Menschenwürde. Praktisch gesprochen, müssen die Staatsbürger, soweit diesangesichtsder Kompliziertheit der Materie überhaupt möglich ist, in die Problematik der zu lösenden Aufgaben und der Entscheidungstindung eingeweiht und einbezogen werden. Das ist sicher leichter gesagt als getan. Ein erster und 14 Franz Ranneberger (Hrsg.), Public Relations des politischen Systems (Nürnberger Forschungsberichte, Band II), Nürnberg 1977. Ders. (Hrsg.), Beiträge zu PublicRelations der öffentlichen Verwaltung, Düsseldorf 1981.

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wichtiger Schritt besteht darin, Aufgaben und Funktionen von Verwaltungsgliederungen für den Bürger erkennbar und einsichtig zu machen. Die Entfremdung zwischen Bürger und Staat beginnt in der Regel bei der Unübersichtlichkeit und Undurchschaubarkeit der Zuständigkeiten eines riesigen Verwaltungsapparates. Es geht häufig gar nicht primär um die Unverständlichkeit der Amtssprache (obwohl dies auch ein wichtiges Thema ist) und erst recht nicht um die Komplexität der Vorgänge, sondern ganz banal um das Gewirr von Zuständigkeiten und die Suche nach der richtigen Kompetenz. Das Verhältnis der zahlreichen Verwaltungsgliederungen untereinander und zueinander ist oft selbst für den Fachmann nicht mehr zu entwirren. Hinzu kommt, daß die Interessen der einzelnen Verwaltungen, Behörden und Bürokratien alles andere als in der gleichen Richtung verlaufen. Dergleichen liegt im Wesen bürokratischer Herrschaft. Es ist leider richtig, daß vielfach die eine Hand nicht weiß, was die andere tut, und es wäre durchaus eine Utopie zu hoffen, daß sich derartige Konflikte angesichts der enormen Komplexität des Gesamtsystems vermeiden ließen. Vielleicht sollte die Maxime der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit darin bestehen, das Publikum über die zwangsläufige Unvollkommenheit bürokratischer Herrschaft aufzuklären. Erst im nächsten Schritt können dem Staatsbürger die Schwierigkeiten und Alternativen der zu lösenden Probleme vor Augen geführt werden. Das allgemeine Staatsinteresse verbirgt sich also leicht hinter den Konkretisierungen durch das tatsächliche Handeln des Staates in seinen Verwaltungen. Erschwerend kommt hinzu, daß solche internen Konflikte gern gegenüber der Öffentlichkeit abgeschirmt werden. Vielleicht hat die viel zitierte und geschmähte Öffentlichkeitsscheu oder gar Öffentlichkeitsfeindseligkeit der Verwaltung hierin ihre Ursachen. Es ist wie bei einer Familie: Wer läßt sich schon gern bei seinen inneren Streitigkeiten beobachten! Nichtsdestoweniger darf der öffentlichen Erörterung der Staats- und Verwaltungsprobleme nicht ausgewichen werden. Das setzt freilich bei den Bediensteten vielfach einen Lernprozeß voraus. Sie müssen erkennen und einsehen, daß die Vertuschung von Kontroversen und Konflikten das Vertrauen in den Staat nicht gerade fördert. Sprechen wir schließlich vom Umgang mit den publizistischen Medien. Er muß ebenfalls gelernt werden. Nicht wenige negative Äußerungen über "Beamte", "öffentlichen Dienst", "Staatsbürokratie" beruhen auf falscher Einschätzung und Behandlung der journalistischen Neugier. Umgekehrt wird auf die Produkte journalistischer Arbeit häufig zu empfindlich reagiert. Man muß bedenken, daß bestimmte klischeehafte Stereotype über das "Wesen" der Beamten eine lange Tradition besitzen und von Generationen zu Generationen weitergeschleppt werden.

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Zur Verdeutlichung und Erklärung der Mißverständnisse zwischen Beamten und Journalisten sei auf ihr unterschiedliches Rollenverständnis hingewiesen. Beamte sind aufgrund von Gesetzen, ihrer Ausbildung und ihrer Berufsethik gehalten, Sachverhalte genau zu prüfen, ehe sie entscheiden. Dies entspricht auch der legitimen Forderung des Bürgers an die Verwaltung. Journalisten entscheiden dagegen nach aktueller Vordringlichkeit und haben meistens wenig Zeit, eine Sache in allen Einzelheiten zu prüfen. Beamte entscheiden nach Präzedenzen und müssen Kontinuität sichern. Journalisten suchen das Außergewöhnliche, Noch-Nicht-Dagewesene, Außeralltägliche und interessieren sich mehr für Pannen als für das Normale; ihnen ist Kontinuität relativ gleichgültig. Beamte werden schärfstens im Rahmen des öffentlichen Dienstes kontrolliert, Journalisten genießen eine ungewöhnliche Freiheit mit großen Privilegien. Sie brauchen ihre Gewährsleute nicht zu nennen. Die theoretisch bestehende Kontrolle durch das Publikum funktioniert schlecht. Auf der anderen Seite sind Journalisten auch auf Informationen aus der Verwaltung angewiesen. Es ist daher oberstes Gebot von Behörden und der Öffentlichkeitsarbeit des Staates, die Medien so mit Informationen zu bedienen, daß diese ihren Aufgaben gerecht werden können. Dies läßt sich nicht zuletzt dadurch erreichen, daß man auf Vorgänge verweist, die das Verwaltungshandeln kennzeichnen und repräsentieren sowie darüber hinaus geeignet sind, als Material für interessante Berichte, Reportagen und sonstige publizistische Produkte zu dienen. Es ist daher auch nach Enttäuschungen und Ärgerlichkeiten über journalistisches Fehlverhalten nur zu raten, immer wieder auf die Journalisten zuzugehen, sich nicht in den Schmollwinkel zurückzuziehen. Es gibt sehr viele Beweise dafür, daß Journalisten auch vertrauliche Informationen zu hüten pflegen. Die spektakulären Fälle von Heimtücke und Vertrauensbruch, die sich übrigens hauptsächlich auf Illustrierten- und Boulevardzeitungsjournalisten beziehen, sollten kein Grund für Vertrauensentzug sein. Das größte Handicap für eine Verbesserung des Images der öffentlichen Verwaltung dürfte die verbreitete Angst der Bevölkerung vor immer weitergehender Reglementierung sein. Die Staatsverwaltung wird als riesiges Spinnengewebe erlebt, in dem sich der einzelne Bürger rettungslos verfangt. Diese Angst scheint um so größer zu werden, je mehr die Bürger ahnen, daß sie es selbst sind, die durch ihre sozialen Ansprüche an den Staat immer neue Verwaltungen hervorrufen. Es ist die Unausweichlichkeit eines Prozesses, an dessen Ende der total verwaltete Mensch steht. Auch in diesem Drama spielt die öffentliche Verwaltung die Rolle des Sündenbocks, auf den ein Teil des Unbehagens der Menschen unserer Hochzivilisation abgeladen wird. 15

15 Franz Ranneberger I Uda Raedel I Jürgen Walchshöfer, Der "häßliche" Beamte. Kritik und Gegenkritik des Berufsbeamtentums, Banni Bad Gadesberg 1975.

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Ein Wort zum Argumentationsstil bei Informationen für die öffentlichen Medien. Die Erkenntnisse der empirischen Wirkungsforschung stimmen zumindest für die zentraleuropäischen Kulturen darin überein, daß Kommunikatoren eher Glauben geschenkt wird, wenn sie kontrovers statt einseitig argumentieren. Freilich läßt sich nicht übersehen, daß diese Maxime ihre Grenzen hat: Eine der wissenschaftlichen Argumentationsweise zu nahekommende Relativierung kann und dürfte in der öffentlichen Diskussion den Eindruck der Unsicherheit hinterlassen, was den Gewinn an Glaubwürdigkeit wieder aufheben müßte. Auf der anderen Seite ist einseitige Argumentation nur dann erfolgreich, wo sie in der Öffentlichkeit auf keine Alternative trifft. "Starke" Regierungen in Demokratien würden also prinzipiell falsch handeln, wenn sie nach dem Muster von Diktaturen einseitig argumentierten. "Schwache" Regierungen sind hierbei eher im Nachteil. Es ist daher als fatal zu bezeichnen, daß die politischen Kräftegruppierungen in den europäischen Demokratien immer seltener "starke" Regierungen ermöglichen. Um so wichtiger ist die staatliche Öffentlichkeitsarbeit. Sie dient im übrigen nicht nur der Stabilität der jeweiligen Regierung, sondern, was entscheidend ist, der Stabilität des demokratischen Systems an sich. Zugespitzt könnte man sagen: Das allgemeine Interesse an der Erhaltung einer speziellen Regierung. Denn mit der zunehmenden Krisenanfalligkeit demokratischer Herrschaft verringern sich die Chancen für stabile demokratische Regierungsbildungen. Somit erweist sich gerade im Bereich der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit ein Grundprinzip jeglicher PublicRelations als richtig: Es kommt nicht auf die kurzfristigen, sondern auf die langfristigen Ergebnisse an. Ein Vorteil, den eine bestimmte Regierung durch Versprechungen, Drohungen, Verschleierungen, Übertreibungen und Fälschungen erreichen mag, wird sich langfristig für den Bestand der Demokratie und für den Staat als Institution als schädlich und gefahrlieh auswirken. Da aber kaum je erwartet werden kann, daß eine herrschende Partei oder Parteikoalition einer solchen großherzigen Einsicht folgt, muß damit gerechnet werden, daß sich die demokratische Regierungsform auch in hochentwickelten Gesellschaften immer wieder abnützt und den politischen Wandel heraufbeschwört. Diese Konsequenzen führen zum Anfang unserer Betrachtungen zurück. Die mit der zunehmenden Komplexität moderner Industriegesellschaften immer deutlicher erkennbaren Unsicherheiten des Verhaltens der einzelnen müßten kompensiert werden durch die Stabilität der Institutionen. Denn diese sagen uns, was wir tun sollen, sie entwickeln normative Kraft und belehren uns darüber, an welchen Werten wir unser Dasein orientieren müssen. Die Institution des Staates bietet hierfür nicht nur eine eindrucksvolle Anschauung, von ihr lassen sich auch institutionelle Schwächen in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, besonders der Kultur, ableiten. 8 Symposion

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Will man diese defiziente Entwicklung nicht weiter sich selbst überlassen, müssen die Public Relations im politischen Bereich ungleich mehr verstärkt werden. Auf die Selbstheilungskräfte des politischen Systems darf man sich allein nicht verlassen.

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Institutionen in der internationalen Politik

I.

1. Das Wort "Institutionen" sollte im Bereich der internationalen Politik oder der internationalen Beziehungen nur mit großer Vorsicht benutzt werden, weil die Bedeutung des Begriffes nicht eindeutig ist: Ich habe deshalb ähnliche Probleme wie Professor Kimminich, der vor mir gesprochen hat. Alle diejenigen, die sich mit dem Leben der internationalen Verbindungen zwischen den Akteuren, die auf der Bühne der Welt agieren, befassen, ziehen Worte wie "Organisation" oder "System" vor oder benutzen auch das Wort "Institutionen~', aber meistens, um sich von der chronologischen Darstellung der internationalen Ereignisse zu lösen. 1 Diese Zurückhaltung hat ihren Grund, und wir können den Versuch unternehmen, das Thema unter einem neuen Profil zu umreißen.

Zunächst, was bedeutet der Terminus "Institutionen"? Wir sind heute in einem Gremium von Soziologen versammelt, und ich sollte es als eine Pflicht empfinden, die Voraussetzungen und Bedingungen der Soziologie nicht zu vernachlässigen. Aber auch die Soziologen haben Schwierigkeiten, das Wort klar zu definieren: "Institution ist ein soziologisch uneinheitlich definierter Begriff mit verschiedenen Konnotationen und unterschiedlichen Anwendungsbereichen. " 2 Aber ohne uns nun in diesem Moment in die Verschiedenheiten zu vertiefen, können wir darüber nachdenken, welche unter den vielen möglichen Anwendungen des Wortes im internationalen Bereich für uns nützlich und sinnvoll wäre. Diese Vielfalt könnte in den folgenden, vielleicht willkürlichen Gruppen zusammengefaßt werden: 3 1 C. A. Coillard, Institutions des Relations Internationales, Paris 1985; P. Reuter, Institutions internationales, Paris 1955; Attina, La politica internazionale contemporanea, Milano 1989; E. Serra, Manauale di storia dei trattati e di diplomazia, Milano 1985, e dei. 2 M. Pabst in: H. Kerber I A. Sehrnieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie, Reinbek 1984, S. 255. 3 L. Gallino, Dizionario di Sociologia, Torino 1978, S. 402.

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a) eine organisierte Gruppe, die bestimmte Ziele in einer systematischen Weise verfolgt, mit Arbeitsverteilung und Verhaltensregeln; b) eine Gruppe, die die Gesellschaft positiv bewertet, weil sie eine wichtige soziale Funktion ausübt, die ihr die ideologische Legitimierung und die ökonomische Unterstützung bietet; c) ein Komplex von Werten, Bräuchen, Sitten oder Regeln, der einen bedeutenden Teil der Gesellschaft verwaltet; in dieser Weise (Sumner) besteht die Institution in einem Begriff und einer Struktur; d) jede Form von Glauben, Aktion oder Verhalten, die eine Kollektivität anerkennt, bekräftigt und dauerhaft praktiziert (hier sind vorzugsweise Spencer und Durkheim zu nennen). In einem solchen Rahmen sind Institutionen eine Widerspiegelung des Begriffes des kulturellen Modells, dabei jedoch etwas zu allgemein und wenig präzise; e) eine bestimmte und festgefahrene Verhaltenspraxis, die den Tätigkeiten bestimmter Gruppierungen eigen sind - aber auch in diesem Falle, da man so weit geht, Institutionen mit "regles du jeu" gleichzusetzen, verneint man die Elemente der Strukturen; f) symbolische und weit verbreitete Systeme, die eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit teilt. Eine solche Auffassung birgt eine weitere Entwicklung des Gedankens: Sie gerät in Verbindung mit der Theorie der Kommunikation oder den vielen psychologischen Nötigungen, die die Persönlichkeit der Menschen beeinflussen oder belasten; und eine solche Argumentation schließt alle organisatorischen Verfahren ein, die durch soziale Interaktion und kulturelle Erarbeitung entstehen können als Internationalisierung von Normen (Parsons) oder Integration der kulturellen Systeme;

g) der Überbau, der die konkreten Strukturen der sozialen Beziehungen widerspiegelt, was besonders in der marxistischen Auffassung vertreten wird. So sind in diesem Fall die Institutionen nicht mehr ein Bestandteil der sozialen Realität, sondern nur der scheinbare Ausdruck einer darunter existierenden Realität. Es ist zu bezweifeln, daß solche Definitionen im wissenschaftlichen Bereich der internationalen Beziehungen eine überzeugende Anwendung finden können. Alle gehen davon aus, die verschiedenen Wendungen der Terminologie mit der Beschreibung der darunter liegenden sozialen Organisationen in Verbindung zu setzen. Aber diese sozialen Organisationen haben in der Gesellschaft oder im soziologischen Gedankengang eine Entwicklung durchlaufen, die der internationalen Bühne fremd ist. Wenn man in der Soziologie von "natürlichen und positiven" Institutionen einerseits und andererseits von "spontanen oder intentionellen" Institutionen spricht, sieht man sofort, daß in die internationalen Beziehungen andere Kategorien eingeführt werden müssen. Man hat sich bemüht, eine soziologische Erklä-

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rung für das internationale Leben zu erarbeiten4 und ist dabei mit großer Akribie vorgegangen. Darüber kann aber nicht der Zweifel verdeckt werden, daß soziologische Erläuterungen der internationalen Realität nur wie ein Ersatz erscheinen oder sich auf eine Summe der verschiedenen innerstaatlichen oder innergesellschaftlichen Realitäten beschränken oder sich schließlich in einen Überbau des Inhaltes selbst der internationalen Beziehungen verwandeln. Um eine eigentlich überzeugende soziologische Erklärung abzugeben, sollte man zunächst entscheiden, ob es eine internationale Gesellschaft gibt. Man kann sich auch fragen, ob in der internationalen Welt Werte existieren: Die Diskussion über die verschiedenen Auffassungen der Menschenrechte ist eine Erscheinung der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen und Zivilisationen. 5 Kurz gesagt, wenn eine Gesellschaft "die legitime politische Herrschaft" 6 ist oder "eine Bevölkerung, die dieselbe Kultur teilt und sich ihrer Identität bewußt ist", 7 dann muß man sich doch fragen, ob solch eine Weltgesellschaft überhaupt existiert. 2. Um den "Institutionen" in den internationalen Beziehungen eine Grundlage zu verschaffen, sollten wir einen anderen Weg beschreiten und an zweiter Stelle die Anwendungsbereiche der Ergebnisse der Theoretisierung erläutern. Wer sich mit der Darstellung der Institutionen im internationalen Bereich beschäftigte, hatte zuletzt etwas anderes im Sinn: Der Begriff der "Institution" wird wie in der Rechtswissenschaft benutzt. Wie gesagt wurde, sind "die Institutionen die Organisationen, die Traditionen und Grundregeln, die eine bestimmte Gesellschaft charakterisieren" ,8 und über eine solche Definition, die soziologisch gefärbt ist, gelangt man zu der Beschreibung der Zuständigkeiten der Staaten und internationalen Organisationen: letzten Endes zum Völkerrecht oder "ius gentium", einer Bezeichnung, die vielleicht besser ist als das allgemein verwandte Wort vom "internationalen Recht". Aber es wäre ungerecht, diese Untersuchung über die Institutionen dem Völkerrecht gleichzustellen. Hier liegt der Unterschied, der unserem heutigen Symposium sehr zunutze kommt, im Sinne einer anderen Bewertung der internationalen Gesellschaft. Eine internationale Gesellschaft ist in der Homogenität der Strukturen, die natürlicherweise in sich selbst auch Span4 Merle, Sociologie des Relations Internationales, Paris 1982; J . Vernant, Les relations internationales a l'äge nucleaire, Paris 1987. 5 A. Cassese, II dirito internazianale nel mondo contemporaneo, Bologna 1984, s. 321 ff. 6 L. Gallino, a.a.O., S. 620. 7 C. Rotshauesen in: H. Kerber I A. Schmieder, a.a.O., S. 188 ff. 8 H. Haftendorn in: Woyke, Handwörterbuch Internationale Politik, Opladen 1977, S. 304.

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nungen und Widersprüche aufweisen würde, noch nicht vorhanden: Nationale Interessen, Neigungen zu Protektionismus, tiefe soziale und kulturelle Unterschiede verhindern es. Doch "wenn die sozialen Beziehungen sich vermehren, führen sie zum Entstehen gemeinsamer Interessen, und durch das Bewußtsein im Geiste der Betroffenen führen diese zur Geburt einer Gesellschaft, die ihrerseits dazu neigt, sich in einer Gruppe zu verkörpern". 9 Die Schulen, die nach der Tragödie des Ersten Weltkrieges die Theorie der Internationalen Beziehungen als Wissenschaft und nicht nur als Schilderung vom geschichtlichen Standpunkt aus entdeckt oder erfunden hatten, setzten sich eben als Ziel, eine Verbindung zwischen dem Völkerrecht und dem Entstehen einer internationalen Gesellschaft- nicht im Sinne einer "Societas" von Staaten- herzustellen. Man sollte versuchen, sich von Machiavelli und Hobbes, Locke, Kant und Hege! zu lösen, um das Dilemma zwischen der Gewalt als einzigem Mittel des Ausdrucks des Willens der Staaten einerseits und andererseits im Sinne der Gewalt in einem "etat de nature", wo sie auch legitim und rechtmäßig sein könnte, zu überwinden. Die Versuche von Vitoria oder Grotius auf der Grundlage des Rechts oder von Kant vom Standpunkt der Philosophie aus vermochten es nicht, den Kern dieses Versuches zu beeinträchtigen noch deutlich zu verändern. An zweiter Stelle des Gedankenganges sind zwei Wege offen: Der erste Weg zeigte den Ehrgeiz, ein System der Internationalität aufzubauen, das die Staatsfunktion und die nationalen Souveränitäten oder Hoheiten überwinden sollte. Die Theoriebegriffe sind zahlreich, und alle bewegen sich zwischen den utopistischen, den realistischen und den behavioristischen Interpretationen in dem Bemühen, die Komplexität des internationalen Lebens zu erfassen. Die Vielfalt der entsprechenden Schulen oder Interpretationen sind eher ein Beweis für die Schwierigkeiten, Gesamtkonzepte zu erarbeiten, als für die Möglichkeit, tatsächlich zu Schlußfolgerungen zu gelangen. Der zweite Weg hatte vielleicht soziologische Ursprünge bei dem Bemühen, die Existenz und die Mechanismen einer "internationalen Macht" zu untermauern und zu dem Schluß zu gelangen, daß die Abwesenheit einer zentralen Gewalt nicht die logische und unabdingbare Ursache einer internationalen Anarchie sein müsse. Mit anderen Worten: Es sollten andere Formen von Institutionen die soziologischen oder rechtlichen Strukturen, die in einer national begrenzten Gesellschaft Ordnung und Gleichgewicht gewährleisten, ersetzen. 3. Meines Erachtens ist der zweite Weg vorzuziehen, weil er versucht, auf konkrete Weise die Praxis und die Erfahrungen mit einer zwar abstrakten, aber wünschenswerten Theorie zu verbinden und nicht umgekehrt die 9

P. Reuter, a.a.O., S. 57.

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Theorien vorauszuschicken, in deren Rahmen auch die Praxis, so unterschiedlich sie auch sein mag, gezwängt werden muß. Bedeutende Theoretiker der Internationalen Beziehungen haben Modelle erarbeitet, um eine Ordnung in dieses komplexe Gefüge zu bringen: Wir sind Morton Kaplan dankbar für den in dieser Hinsicht vollkommensten Versuch: Bipolarismus, Multipolarismus, Weltsystem mit einer Reihe von Substrukturen. Nach der Intention von Kaplan sollten die sechs Modelle, die er formuliert hat, präzise genug sein, um alle möglichen Erscheinungen der Realität von gestern und alle möglichen Optionen der Zukunft zu erfassen oder vorauszusehen. Andere Gelehrte wie Raymond Aron haben die Begriffe der Homogenität oder Heterogenität des Systems eingeführt. Es wäre natürlich falsch, diese Versuche der Theorie abzuwerten oder den vereinfachenden Vorwurf zu erheben, daß es diesen Konstruktionen nicht gelingt, die breite Palette der Möglichkeiten oder Optionen der Realität zu erfassen, weil jedes Modell in sich selbst etwas Willkürliches beinhaltet. Anstatt also nach einer Rechtfertigung der Modelle zu suchen, wäre es vielleicht nützlicher, unsere Forschungen weiter zu führen und die Instrumente der Geschichte, der Rechtswissenschaft und der Soziologie zusammen zu benutzen und miteinander zu verflechten, um die jeweiligen konkreten Erscheinungen des heutigen internationalen Lebens unter die Lupe zu nehmen. 4. Das internationale System im pragmatischen Sinne des Wortes, nämlich die Struktur der vielen nationalen und unabhängigen Staaten, die souveräne Hoheit besitzen, kann in drei Gedankenschichten analysiert werden. Diese Schichten beinhalten verschiedene und nicht immer homogene Elemente, und es wäre denkbar, unterschiedliche Analysemittel anzuwenden. Von diesem Standpunkt aus könnte die Aufteilung negativ beurteilt werden, weil sie nicht hinreichend systematisch ist. Diesen Vorwurf möchte ich nicht prinzipiell zurückweisen, weil er vielleicht einigermaßen berechtigt und richtig ist. Aber man kann versuchen, über diese pragmatischen Wege die Zukunft des internationalen Systems zu erhellen oder zumindest einige Instrumente zur Verfügung zu stellen, mit denen diese Zukunft rational bewertet werden kann, ohne daß dabei der Anspruch erhoben würde, damit alle Erscheinungen des internationalen Lebens erschöpfenderfaßt zu haben. Um diese drei Schichten nun endlich zu benennen: - die ideologischen Gegensätze oder die Heterogenität unter den Mitgliedern des Systems; - die Entwicklung der Integration innerhalb des Systems oder die "Institutionalisierung" der internationalen Zusammenarbeit; 10 10 F. 0 . Czempiel in: von Beyme I Czempiel I Kielmansegg I Schmook, Politikwissenschaft 111, Stuttgart 1987.

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die Suche nach den Mitteln, den Frieden zu erreichen und zu festigen.

Die sogenannten Institutionen des internationalen Lebens - nämlich die Strukturen, die vom völkerrechtlichen oder rechtswissenschaftliehen Standpunkt aus als Institutionen gelten oder als soziologische Kategorien Strukturen der Institutionalisierung ins Leben rufen - sind in diese drei Schichten einzuordnen, allerdings bleiben Restelemente, die sich nicht einordnen lassen. Diese drei Schichten sollten nun -wenn auch kurz- analysiert werden, um die möglichen, heute bereits vorhandenen oder im Entstehen begriffenen Institutionen darin einzufügen.

II. 1. Ideologische Gegensätze oder Festigung bzw. Erweiterung der Macht als Ursache oder Rechtfertigung der Gewaltanwendung sind nicht erst Erfindungen moderner Zeiten. Die menschlichen Gesellschaften - die wir zur Vereinfachung unserer Ausführungen Staaten nennen, auch wenn das Wort für die vergangeneo Epochen nicht immer präzise sein kann- setzen sich Ruhm oder Reichtum, Behauptung der Macht oder die Befriedigung innerer Bedürfnisse zum Ziel. Auch vor der Entstehung der nationalen Staaten war der Konsens notwendig, um die Anwendung von Gewalt zu unterstützen oder zu ermöglichen. Die Beziehung zwischen Volk und Gewalt darf nicht zu Vereinfachungen führen, wie neue Demagogien gern behaupten. Es stimmt nicht, daß die Völker in sich selbst friedlich und die regierenden Klassen blutrünstig und kämpferisch wären. Beispiele brauchen wir nicht nur außerhalb der westlichen Zivilisation (denn waren die Mongolen als Volk etwa nicht mit Krieg und Verwüstungen im Feindesland einverstanden?) zu suchen: Die Verteidigung der eigenen Gesellschaft oder die Notwendigkeit des Angriffs wurden oft genug mit ethischen oder religiösen oder tief verwurzelten Überzeugungen schlechthin gerechtfertigt und so mit allen Konsequenzen empfunden und geteilt.

In den neueren Zeiten haben die nationalen Staaten immerhin etwas Neues eingeführt. Die Ideologie wurde als Bestandteil des Staates selbst und seiner Legitimation, nicht bloß als ein Mittel zum Zweck betrachtet. Man hat die Gewalt in den Dienst der Ideologie gestellt, und das geht weit über die traditionellen Überlegungen über die Unabdingbarkeit der Gewalt hinaus. Die nationalen Staaten waren überzeugt, Träger einer Ideologie zu sein. Im Prozeß der Konsolidierung des nationalen Staates bis hin zu einem nationalistischen Staat hat die Umwälzung zur Ideologisierung der internationalen Beziehungen geführt. Der Imperialismus als Entwicklung des sogenannten kapitalistischen oder industrialisierten Staatswesens war oft das Instrument

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der Unterdrückung durch die Gewaltanwendung. Aber für den Nationalstaat, auch wenn er noch nicht nationalistisch geworden ist, war und ist die Gewalt ein wichtiges Mittel seiner Legitimität, und er scheint nicht zu zögern, dieses Mittel mit voller Unterstützung der Massen zu benutzen (die entsprechenden Beispiele sind zahlreich und allen präsent). Der Prozeß vertieft sich weiter, wenn eine nationalistische Ideologie sich mit einer revolutionären Ideologie verbindet. Der Unterschied zwischen den Zielen des Nationalstaates und des Ideologiestaates ist tief, obwohl eine zu genauechronologische Periodisierung unbefriedigend sein könnte. Der Kern des Unterschiedes lag in der Homogenität des vorangegangenen Systems bis zur französischen Revolution. Die Interessen oder die antagonistischen Gegensätze gingen nicht allzu weit auseinander, weil die Staaten dieselben Grundprinzipien teilten. Wenn hingegen die Interessen sich mit einer ideologischen Unstimmigkeit verbinden und einige Mitglieder des Systems eine politische Auffassung vertreten, die völlig anders ist als die der anderen, dringt der Sprengstoff der Revolution in das System ein. Ein revolutionäres System kann nicht auf die Gewalt verzichten und kennt nicht die Kunst des Kompromisses, weil die Starrheit des Gläubigen Verhandlungen verachtet. Im Lichte dieser Verbindung zwischen den Ideologien und dem Leben des Systems sollten wir die Prinzipien oder Institutionen des internationalen Systems und der internationalen Politik bewerten. Bipolarismus oder Pentapolarismus oder Multipolarismus sind institutionelle und politische Kategorien, die in sich selbst weder gut noch böse sind. Keine dieser Strukturen besitzt in sich selbst das Geheimnis der Stabilität oder der Instabilität, weil es sich so oder so durchsetzen kann. Morton Kaplans sechs Regeln eines multipolaristischen Systems können bei der Beschreibung eines Systems hilfreich sein, das im Gleichgewicht und schließlich in der Unbeweglichkeit die Ruhe findet. Es stimmt, daß der Verstoß gegen einige oder mehrere dieser Regeln Instabilitäten oder Krisen des Systems verursacht, aber es ist ungewiß, ob Ursache und Folge so mechanisch funktionieren. In jedem Falle ist es zweifelhaft, ob das Gute im internationalen der Immobilismus oder der Status quo ist, und ob die Institution im Sinne der Akzeptanz von Regeln - zum Beispiel der friedlichen Koexistenz- die beste aller Lösungen ist. Die sechs Regeln von Kaplan stellen Situationen der Vergangenheit dar, wobei in vielen Fällen durch ihre spontane Anwendung der Frieden gesichert oder wiederhergestellt wurde, aber das Gegenteil könnte heute zutreffen: Die Anwendung von einzelnen Regeln könnte heutzutage in Widerspruch zur Festigung des Friedens geraten, wie z. B. die zweite Regel: "Lieber kämpfen als eine Gelegenheit zu verpassen, die eigene Kapazität zu vermehren." Diese Feststellung stellt die Zweckmäßigkeit des Gleichgewichts oder der "Balance of power" infrage als eine etablierte und in sich selbst immer positiv

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zu bewertende Institution des internationalen Systems. Es ist müßig, hier die vielen möglichen Bedeutungen des Begriffes "Balance of power" 11 zu erörtern, der vom Westfälischen Frieden bis in die jüngste Zeit als ein großer Gewinn für die Stabilität des Systems und schließlich für den Frieden zu betrachten ist. Die Einführung der Nuklearwaffen als unverzichtbares Mittel in der Palette des anwendbaren Potentials der Gewalt hat den Begriff der "Balance of power" tief und gründlich geändert. Kurz gesagt, sind sich alle Befürworter des Begriffes des Gleichgewichts einig in dem Punkt, daß das Gleichgewicht durch eine Aktion gegen diejenigen Faktoren wiederhergestellt werden muß, die eben dieses Gleichgewicht gestört haben: Aber soll dies, wenn die Lage es erfordern sollte, mit nuklearen Waffen geschehen? Wir können vom Gleichgewicht sicher als von einer Kategorie der Politik sprechen, die sich selbst in die verschiedenen Schichtungen und Kalkulationen des Gleichgewichts verteilt, z. B. nukleare Waffen oder konventionelle Waffen oder ökonomische Ressourcen. Wir können die Kategorie auch benutzen, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen (was beispielsweise beim Doppelbeschluß von 1979-1983 der Fall gewesen ist), aber nicht mehr als eine allgemeine und verallgemeinernde Kategorie des Systems. Das Gleichgewicht als Prinzip oder die Wiederherstellung eines angeblich gestörten Gleichgewichts können Mittel zum Wandel und nicht zur Beibehaltung des Status quo sein. Kommen wir nun zu einem vorläufigen Resultat dieses ersten Punktes. Es ist immer riskant, in die Zukunft blicken zu wollen. Die Ereignisse der letzten Monate und Tage in Europa könnten zur Feststellung führen, daß die Heterogenität im System der Weltstruktur abgenommen hat zugunsten einer Neigung zur Integration, über die wir im nächsten Absatz sprechen werden. Aber diese Richtung ist weder eindeutig noch ausreichend gesichert. Die traditionelle Bipolarität des Ost-West-Konflikts und der damit verbundene ideologische Begriff steht offenbar nicht mehr im Vordergrund, und es ist denkbar, daß sich andere ideologische Gegensätze ins Rampenlicht der Welt schieben werden. Mit anderen Worten, die revolutionären Keime, die im Ost-West-Verhältnis an Brisanz zu verlieren scheinen, tauchen nun aus anderen Regionen wieder auf und führen in sich die Kraft und den Willen, die Regeln des Spiels nicht anzuerkennen. Man kann hoffen, daß die institutionellen Faktoren, die in der Gemeinschaft der Staaten aktiv sind, eine Kontrollfunktion ausüben werden, aber dafür haben wir keine Garantie. 2. Die erfolgreichste oder stärkste Kontrollfunktion kommt in zunehmendem Maße den Faktoren der Integration oder der internationalen Zusammenarbeit zu. 11

E. B. Haas, The balance of power, in: "World Politics", V, 1953, 4.

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Diese allmählich wachsende Rolle der Integration hat dreierlei Richtungen oder Inhalte, die schrittweise das Profil von "Institutionen" gewinnen, und zwar in einer Richtung, die in einer Schlußbemerkung ihren angemessenen Platz finden wird. a) Zunächst behauptet man immer wieder, daß die Welt zusammenwächst. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen haben über die Grenzen hinweg direkten Einfluß, denn niemand kann von sich behaupten, vollkommen unabhängig zu sein. Die modernen Verkehrsmittel haben die Entfernungen reduziert, das rasch wachsende Informationsnetz erreicht eine enorme Geschwindigkeit bei der Verbreitung von Nachrichten. Bräuche und Sitten finden weltweite Verbreitung, nationale Grenzen gegen ihre Einführung in das tägliche Leben der ganzen Welt gibt es nicht, obwohl tiefe Unterschiede immer noch verbleiben. Die Gesellschaft und ihre Organisation scheinen also nicht mehr national, sondern weltweit zu sein. Aber entspricht dieser Eindruck auch der Wirklichkeit? Die Widersprüche sind zahlreich und gravierend: Vielleicht können wir eine Antwort geben, wenn wir uns damit begnügen zu sagen, daß wir uns im Umbruch befinden zwischen einer in nationale Grenzen eingebundenen Gesellschaft und einer Gesellschaft, deren Probleme weltweit sind. Globalisierung oder Transnationalisation, die Theorie von Karl Deutsch über die Kommunikation, die gegenseitige Abhängigkeit im finanziellen Weltsystem, der Wegfall der Grenzen und damit der Souveränität - all das sind Elemente, die wir sorgfältig akzeptieren müssen, aber nicht im Sinne der voreiligen Schlußfolgerung, derzufolge die Welt eine Einheit geworden ist. Das Verbindungselement ist Solidarität, nicht Einheit; wechselseitige Einflüsse und sogar Abhängigkeiten entstehen, aber keine Einheit. b) Der zweite Punkt besteht in der Suche nach regionalisierten Integrationen, unter denen die Europäische Gemeinschaft gewiß das beste Beispiel bietet. Hier geht es um eine in sich neue Erscheinung im System der Institutionen der Welt. Im allgemeinen weisen die Entwicklungen der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa- und in einem sehr viel geringeren Maße in anderen Teilen der Welt- Elemente des Neuen auf. Die Atlantische Allianz und die Montan-Union verfolgen Ziele und benutzen Mittel, die in der Geschichte nicht ihresgleichen finden: Alle Vergleiche mit der Geschichte der Antike oder mit anderen Epochen sind unzutreffend. Man könnte auch die Bewegung der Blockfreien Staaten als Beispiel der universellen Orientierung einer Integration anführen, die allerdings Mängel aufweist und keineswegs mit denselben Maßstäben zu messen ist. Abgesehen von den wiewohl wichtigen Details und Charakteristika dieser Bündnisse oder Assoziierungen von Staaten auf dem Weg zum Staatenbund bleibt ein zentraler Punkt jeder Betrachtung dieses Prozesses. Das Ziel ist klar: Institutionen zu

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schaffen, die die früheren "internationalen" Beziehungen zwischen den Staaten überwinden sollen. Im wesentlichen geht es also um die Auffassung der Übernationalität oder der Überwindung der Souveränität des nationalen Staates. Die Mittel, die die internationale Struktur früher hatte, um eine überstaatliche Dachstruktur ins Leben zu rufen, waren immer mit der Autorität eines Wesens Kaiser, Papst, Herr- verbunden. Das neue Element besteht darin, daß diese Vereinbarungen die Gleichheit der Mitglieder akzeptierten. Und in dieser Hinsicht ist der Integrationsprozeß von Westeuropa das fortschrittlichste Beispiel, während andere - wie die sozialistische Gemeinschaft im Warschauer Pakt und im Comecon- das Ungleichgewicht der Mitglieder und die Übermacht eines einzelnen Mitgliedes voraussetzen. c) Der dritte Punkt im Spektrum der Integration ist die zunehmende Funktion der internationalen Organisationen, der wirklichen Institutionen im herkömmlichen Sinne des Wortes, angefangen bei den Vereinten Nationen und ihren Unterorganisationen. Wir sind nicht auf dem Weg hin zu einer Weltregierung, denn die Kompetenzen reichen nicht aus. Dennoch hat die Überwindung der zentralen Stellung Europas zu einer Institutionalisierung weltweiter Strukturen entweder mit ausgesprochen politischem Inhalt oder technisch einflußreicher Macht geführt. Wenn von Institutionen im engeren Sinne des Wortes die Rede ist, denkt man praktisch stets an diese Strukturen, die den Eindruck einer Annäherung an vergleichbare Strukturen der traditionellen Staaten vermitteln. Man meint also, durch diese internationalen Organisationen das Ziel verfolgen zu können, die sogenannte und schon zitierte Anarchie des internationalen Systems zu überwinden. Dieser Eindruck ist teilweise irreführend. Es stimmt, daß durch diese Organisationen ein Zwang auf die Staaten ausgeübt und der Wille des souveränen und nationalen Staates teilweise eingeschränkt wird. Aber der Erfolg der Arbeit dieser Organisationen beruht letztendlich immer auf dem Konsens des Staates selbst: Die Instrumente des Selbstschutzes bleiben intakt, mühsam und unzureichend hingegen sind die vorhandenen Mittel, um den kollektiven Willen gegen den Willen des einzelnen Staates durchzusetzen. d) Aus dem Blickwinkel des Zusammenhanges zwischen Krieg und Frieden einerseits und der Zweckmäßigkeit der Suche nach Frieden andererseits heraus sollten wir an dieser Stelle einen Begriff hervorheben, der die drei Aspekte der Integration untereinander verbindet: die Solidarität. Wir meinen damit nicht die humanitäre oder barmherzige Solidarität, sondern das solidarische Interesse, die politische Ordnung im System aufrechtzuerhalten, zu artikulieren, zu festigen. Man könnte zu den vorausgegangenen Betrachtungen zurückkehren, d. h. zu den soziologischen und nicht rein politischen Interessen eines funktionierenden Systems, allen Unterschieden sogar in der ideologischen Konfrontation zum Trotz. Im gegebenen Fall haben die

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Staaten sich tatsächlich auch fast immer bemüht, die Ordnung im System wiederherzustellen und sich dabei auf die "internationale Gesellschaft" und deren Interessen berufen. Sie haben sich so verhalten, als ob sie Mitglieder einer "internationalen de facto Regierung" 12 wären. Durch diese Gefühle einer nicht festgeschriebenen, aber zutiefst empfundenen Solidarität bildet sich allmählich und bisher nur bruchstückhaft eine institutionalisierte Gesellschaft heraus, die letzten Endes in der Welt stärker sein mag als die einzelnen Staaten. 3. Die Suche nach Frieden ist keine Erscheinung der jüngeren Zeit, denn das Reden vom Frieden ist so alt wie die Menschheit und ihr immer immanent (Jesaja 32, 17). Wir können hier versuchen, die Eigenheiten der derzeitigen Lage und des Ringens um den Frieden, der nun in den Mittelpunkt gerückt ist, näher zu betrachten. Zum einen hat dieses Streben nach Frieden in der westlichen Welt und besonders in Europa eine vorwiegend moralische Prägung. Sie ergibt sich aus der Perzeption der Gefahren eines Atomkrieges und aus den Erfahrungen und Erlebnissen der letzten beiden Weltkriege sowie schließlich aus einer einheitlichen Bewertung im innerstaatlichen und im Völkerrecht (dies sei mit Kimminich gesagt). Zum zweiten ist diese Suche mehr eine Empfindung der Europäer als eine allgemeine Überzeugung in anderen Teilen der Welt. Dort wird der Krieg immer noch als ein Mittel zur Verteidigung eigener Interessen eingeschätzt, die wiederum wichtiger sind als die Konsequenzen des Krieges selbst. Man spricht von einer Kultur des Friedens. Diese Auffassung mag als erreichbares und faßbares Ziel eher utopisch klingen. Es ist aber eine Tatsache, daß die Gültigkeit des Krieges als Mittel der internationalen Politik und als Institution in den internationalen Beziehungen heute infrage gestellt ist. Die traditionelle Auffassung hingegen besagte, daß sich die innerstaatlichen Beziehungen "entwickeln im Schatten des Krieges, oder die Beziehungen zwischen den Staaten beinhalten grundsätzlich die Alternativen Frieden und Krieg". 13 Angesichts dieser Alternativen sollte man erforschen, welches die Ursachen der Entscheidung für die eine oder die andere Lösung sind. Das nationale Interesse? Oder die wirtschaftlichen Interessen? Oder soll man eher meinen, daß, wie Aron richtig sagt, die diplomatische Aktion keinen klaren Zweck hat, daß das Risiko eines Krieges "die Staaten immer zwingen wird, das diplomatische und strategische Verhalten und die Mittel, die sie in Funktion des Kriegsrisikos anwenden möchten, zu beurteilen" . 14 12 13 14

J. Huntzinger, Introduction aux Relations Internationales, Paris 1987. R. Aron, Paix et guerre entre !es nations, Paris 1968. R. Aron, a.a.O.

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Die Perzeption des Risikos sieht heute wahrscheinlich anders aus. Die "Institution" Krieg gehört gewiß nicht der Vergangenheit an, aber wegen der Kalkulation von Gewinn und Verlust ist der Krieg kaum mehr das gängige Instrument, zumindest nicht in Europa. Folglich kommen andere Begriffe, die als "Institutionen" gelten könnten, in den Vordergrund: Sicherheit und Bedrohung oder logischerweise Bedrohung und Sicherheit mit einer Verkörperung des Begriffes entweder in der Entspannung oder in der Stabilität, die nicht mehr der Status quo ist. Wir kommen hier zu einer weiteren Stufe des Gedankenganges. Aufgrund einer Reihe von psychologischen Reaktionen, die nicht weit entfernt sind von der emotionalen Weigerung, die nukleare Logik zu verstehen, ist man heutzutage auf der Suche nach einem absoluten Frieden. Es scheint, als ob wir uns wieder in Richtung auf das "Verbot des Kriegs" bewegten und dem alten Wunsch annäherten, der den Traum des Pazifismus vor dem Ersten Weltkrieg und auch des Pazifismus der Gegenwart beseelt, der allerdings eine nur europäische Erscheinung ist. Dieses Streben nach einem universellen Frieden ist der merkwürdige Ausdruck eines erneuten Eurozentrismus, desselben Eurozentrismus, der die Tendenzen der Dritten Welt in allen möglichen Schattierungen als etwas Schlechtes verurteilt. Man kann fast behaupten, daß der Eurozentrismus, der mit dem Ende des Kolonialismus hatte untergehen sollen, neue Kraft findet, wenn er die Lage der Dritten Welt (auch militärisch) nicht begreift. Schauplatz der blutigsten Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg, die mehr Opfer gefordert haben als dieser, war die Dritte Welt, und zwar sogar in solchen Gesellschaften, die für sich das Prädikat der Fortschrittlichkeit beanspruchen. Die Kriege sind anders geworden: Sie sind nicht mehr Ausdruck des Strebens nach Hegemonie oder nach Ausweitung des Einflusses industrialisierter oder reicher oder hochentwickelter Staaten. Sie entsprechen nicht mehr dem Bild des Marxismus in dem Sinne, daß der Krieg nur die Folge des Imperialismus oder der Produktion sein kann, weil der Krieg die Forderungen der herrschenden Gruppe oder Klasse widerspiegelt. Aber weshalb haben die Kriege ein neues Profil gewonnen, und weshalb finden sie meistens in der Dritten Welt statt? Zwei Faktoren sind die Ursache: Der erste ist die Renationalisierung der Interessen in den Gebieten außerhalb Europas. Es mag sein, daß die neuen Staaten, die sich aus der Kolonialisierung gelöst haben, denselben Prozeß durchlaufen müssen, der sich in Europa im vorigen Jahrhundert vollzogen hat. In den neuen Staatenwesen ist das Bewußtsein um die Gemeinsamkeit der Interessen oder der Integration und noch weniger der gemeinsamen Sicherheit noch nicht gefestigt. In diesen Prozeß der Renationalisierung mischen sich andere Elemente, die in

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der Vergangenheit typisch europäisch gewesen sind: Religions-, Rassen- und Wirtschaftsprobleme. Der zweite Faktor ist die Abwesenheit des nuklearen Elements zur Abschreckung oder als Kampfmittel in diesen Konflikten. Zur Steigerung der Kampfkraft greift man zu immer ausgefeilteren konventionellen Waffen, und um den Mangel an Atomwaffen wettzumachen, setzt man jetzt auch in hohem Maße chemische Waffen ein. Mit verhältnismäßig billigen Mitteln können Waffen zur Perfektion entwickelt werden, die zwar unterhalb der Schwelle der furchtbaren Nuklearwaffen bleiben, aber- wie die chemischen Waffen -eine ebenso grausame Zerstörungskraft für die Menschen haben. Diese beiden Faktoren verursachen immer häufigere Konflikte und verbinden sich mit einer dritten Waffe, die jetzt Teil der internationalen Beziehungen geworden ist: dem Terrorismus, der heute nicht mehr nur von Bewegungen ausgeht, die aus den zivilisierten Gesellschaften verbannt worden sind, sondern als Mittel politischen Handeins betrachtet und als solches von einigen Staaten geduldet oder sogar unterstützt wird. Der Terrorismus wird nicht mehr als ein Akt individuellen Handeins bewertet, dessen Motivierung sogar noch respektiert werden könnte, sondern findet Rechtfertigungen, offizielle Unterstützung oder- im "besten" Fall- den Verzicht der Verurteilung. Der Terrorismus ist inhaltlich sehr viel weitgreifender als die Versuche, die von einer inneren Subversion ausgehen und von denen man besonders nach der Oktoberrevolution der Auffassung war, daß sie der legitime Ausdruck des Willens des Volkes, bestimmte Ziele zu erreichen, seien. Der Krieg ist nicht überwunden, und die Utopie eines weltweiten Friedens bleibt in der Tat auch weiter eine Utopie. Es ist eine eurozentristische Überzeugung, daß es in naher Zukunft anders sein könne. Kriege im Frieden überall in der Welt: 160 "Kriege" seit dem Zweiten Weltkrieg. 15 Aber die schrittweise Überwindung der Unvermeidlichkeit des Krieges als Mittel zur Lösung von Spannungen und Konflikten gewinntjetzt ein anderes Profil, da die Gewalt sich mit anderen Mitteln ausdrücken kann.

111. 1. Versuchen wir eine Zusammenfassung und wagen wir einen Blick in die Zukunft. Weil beide Seiten der politischen Spaltung in der Welt sich meist gegen Drohungen wehren müssen, sollten auch die Mittel gefunden werden, um diese Drohungen einzuschränken und die eigene Sicherheit zu gewährleisten. 15

V. Matthies, Kriegsschauplatz Dritte Welt, München 1988.

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Konkret sollte diese Sicherheit eine Garantie dafür darstellen, daß die Entstehung eines Konfliktes aus der tatsächlichen oder vermuteten Aggression heraus vermieden wird. Das ist eine praktische Anwendung des Prinzips, demzufolge "die Sicherheit, die ein Staat oder eine Staatengruppe sucht, die Sicherheit vor anderen" oder besser noch gegen andere ist. Wieder taucht eine Subjektivität der Sicherheit auf als eine Internalisierung des Sicherheitsbegriffs und auch als Antwort auf die Suche nach Sicherheit: wem gegenüber, mit welchem Ziel, mit wem und warum? Eine entdeckte Objektivität wurde dieser Subjektivität entgegengesetzt: die neue kernwaffenbezogene Strategie, die "alles geändert hat", wie ein bekannter Politiker jüngst geschrieben hat. Und weiter hat er richtig gesagt: "Das Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen Krieg und Revolution ist den harten Realitäten des Atomzeitalters selbst zum Opfer gefallen." Die Kernkraft und die Kernwaffe als Mittel für die Bewahrung und gegen die Revolution: So war die Lage, solange die Nuklearkraft ihren Einfluß ausübte. 2. Welche Schlußfolgerung ist nun aus einer solchen Entwicklung zu ziehen? Eine erste liegt auf der Hand und besagt, daß das Fehlen von Kernwaffen kaum das Entstehen von Kriegen zu verhindern vermag, die dank der modernen Mittel, die sich konventionell nennen, ebenso tödlich und blutig sein können und eine passive Akzeptanz in der internationalen Gesellschaft, an erster Stelle bei den Vereinten Nationen, finden. Dürfen wir die Anwendung chemischer Waffen durch den Irak gegen die Zivilbevölkerung oder die eine Million Toten in Afghanistan vergessen? Und doch ist es in einer Atmosphäre internationaler Gleichgültigkeit geschehen. Alle haben sich mit Entsetzen gegen die sogenannte Neutronenbombe erhoben. Und trotzdem sind die chemischen Waffen ebenso schrecklich und tödlich und treffen die Zivilbevölkerung mehr noch als die Streitkräfte auf dem Feld. Aber wenn der Krieg psychologisch akzeptabel ist, solange er mit konventionellen Mitteln geführt wird, muß man dann zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die öffentliche Meinung - trotz des Aufschreis für den universellen Frieden- den Krieg für eine normale Erscheinung des internationalen Lebens hält, eine Erscheinung, die zwar unangenehm ist, mit der man aber zu leben hat? Daß dem unglücklicherweise so ist, wird doch bewiesen durch die Tatsache, daß Völker und sicher nicht nur Regierungen bereit sind, das Risiko eines Krieges auf sich zu nehmen, sobald wirkliche oder vermutete vitale Interessen auf dem Spiel stehen. Weder die internationale öffentliche Meinung noch die Vereinten Nationen und noch weniger die Supermächte haben die Kraft, die Entscheidung und die Entschlossenheit kampfbereiter Völker zu bremsen.

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Akzeptiert man diesen Umstand, stellt man jedoch einen Grundsatz infrage, der stets und immer laut verkündet wird und demzufolge der Frieden eine Funktion der nuklearen Abrüstung ist. Wenn es denn nun zutrifft, daß die Denuklearisierung der Welt ein unwiderruflicher Prozeß wird, der alle Staaten erfassen wird, darunter auch diejenigen, die sich heute dagegen sträuben und auch diejenigen, die nicht mehr den Mut haben, sich selbst Kernwaffen zu beschaffen, müssen wir mit drei Konsequenzen rechnen: -Je niedriger die Zahl der Kernwaffen ist, die den größeren Mächten zur Verfügung stehen, desto größer wird das Risiko, das sich aus dem Besitz auch einer geringen Anzahl von Kernwaffen seitens der kleineren Mächte ergibt. - Die Frage ist berechtigt, ob uns eine denuklearisierte Welt oder eine Welt, in der die Kernwaffen ganz außer jede Anwendung gestellt sind, nicht zu einer Situation der internationalen Beziehungen führen wird, die vergleichbar ist mit der Lage vor der Erfindung und Einführung der Kernwaffen. Aber diese vornukleare Welt ist eine Welt, in der Kriege als akzeptables Mittel begriffen wurden. Und eben dies ist der Fall in Regionen, die nicht im Schutze einer nuklearen Garantie leben oder wie bereits angedeutet - nicht selbst über Kernwaffen verfügen. - Die nukleare verallgemeinerte Garantie zwingt alle zu einer Solidarität, weil die nukleare Reaktion grundsätzlich alle ohne Ausnahme betrifft. Eine Sicherheit, die sich vorwiegend auf konventionelle Systeme stützt, führt zu einer Betonung nationaler Interessen, die allerdings eine Funktion derselben Organisation der Verteidigung sind. Die verringerte, weil nicht mehr durch Kernwaffen aufgezwungene Solidarität und die wachsende Bedeutung der nationalen Bedürfnisse sollten durch eine Koordinierung aufgefangen werden, die nicht mehr durch den Willen der Schutzmächte- USA bzw. UdSSR- bestimmt wird. Solch eine Koordinierung könnte sogar die Form einer "wechselnden Geometrie" annehmen wegen der Verschiedenheit der jeweiligen nationalen Interessen. Das führt zu einer "Renationalisierung" der Sicherheitsinteressen, zu einer Wandlung, die ebenso positive wie negative Schattierungen aufweist. Ideologische Gegensätze, Integration und Friedenssuche vereinen sich in der immerwährenden und "institutionellen" Präsenz des Konflikts. 3. Diese Perspektive, nämlich eine Welt ohne nuklearen Schutz, zwingt uns zu einer Grundfrage: Werden Kriege in der Zukunft wahrscheinlicher und häufiger? Man ist geneigt, aus der Logik der Sache heraus mit "ja" zu antworten, aber das wäre weder tröstlich noch erfreulich. Eine zweite Frage ist danach allerdings noch dringlicher: Wie kann in einer solchen Situation die Sicherheit als Institution erreicht werden? Wenn 9 Symposion

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die Ziele der Sicherheit dieselben bleiben sollen, dann ist es offensichtlich, daß die Kriegsverhütung andere Mittel benutzen muß; sie müssen anders sein als diejenigen, die mit der nuklearen Abschreckung verbunden waren, mit der wir bis jetzt gelebt haben. Mit anderen Worten: Wie können Frieden und Sicherheit gewährleistet werden in einer Welt, in der Krieg wieder als Möglichkeit auftaucht? Das ist die Herausforderung der Zukunft. Die Antwort ist sicher nicht einfach. Eine nicht nukleare Verteidigung verlangt ein höheres Niveau der Solidarität, einen breiteren Konsens und eine tiefere Bereitschaft, Opfer zu leisten zur Verteidigung der eigenen Gesellschaft, oder schließlich auch, wie jetzt vorgeschlagen wurde, eine "kooperative Sicherheitspolitik" oder "allgemeine Sicherheit" oder ein "System der allgemeinen Sicherheit" oder endlich institutionelle Verteidigungsund Sicherheitsstrukturen, die im internationalen System noch nicht genügend solide sind. Aber dann ist es auch noch dringender, den Konsens der öffentlichen Meinung wiederzugewinnen, denn eine konstitutionelle Verteidigung durch feste Institutionen verlangt eine bewußte Solidarität im Unterschied zum nuklearen Schutz, bei dem die Solidarität unabdingbar ist: Die Kernwaffen sind kollektive Waffen, weil ihre Folgen nicht auf nationale Grenzen beschränkt werden können. Die konventionellen Waffen sind eher nationale Waffen bis auf eine Entscheidung zum Verzicht zugunsten übernationaler Einrichtungen. Man sollte sich davon überzeugen, daß wir einen neuen stabilisierenden Faktor einführen müssen, wenn Sicherheit und Stabilität ohne nukleare Abschreckung gewährleistet werden sollen: die konventionelle Bewaffnung als unterstützender Faktor des Aufbaus einer gemeinsamen Vertrauenspolitik, die noch zahlreicher institutioneller Einrichtungen bedarf. Wenn man konventionelle Kriege verhindern will, die wahrscheinlicher geworden sind, weil der nukleare Schutz nicht mehr zur Verfügung steht- wie kann man die Konsensfahigkeit wiederherstellen, um die nationalen Gesellschaften aufrechtzuerhalten? Wie soll der Inhalt unserer zukünftigen Stabilität aussehen? Da keine effektive Abschreckung durch konventionelle Waffen glaubwürdig ist, müssen wir zwei Wege verfolgen: zum ersten die Schaffung eines tieferen Konsens zur Verteidigung, für dessen Notwendigkeit die "unruhigen Generationen" sensibilisiert werden müssen, und zweitens die Einführung und Anwendung übernationaler Mittel. Der Begriff der Sicherheit in einer möglichen postnuklearen Welt ist schwierig darzustellen, weil das Ziel darin bestehen sollte, sie nicht gegen, sondern mit den anderen durchzusetzen. Darin liegt eine ungemein schwere politische Aufgabe.

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4. Kooperation als Institution, um Konflikte zu überwinden? Partnerschaft in der Sicherheit bzw. gemeinsame Verantwortung? Es geht wieder um einen Ausdruck der Subjektivität der Sicherheit, die kaum dem Streben nach Frieden entspricht. Etwas in dieser Richtung haben wir alle, in Ost und West, bereits geleistet. Die KSZE hat einen enormen Beitrag gebracht, weil sie ein institutionalisiertes Forum oder einen Anpassungsmechanismus als Rahmen für viele Elemente geboten hat. Insbesondere hat sie dazu beigetragen, daß nicht die militärischen, sondern die politischen Aspekte in den Vordergrund gerückt sind. Gehen wir noch einen Schritt über die Entspannung- von der immer zuviel geredet wird- hinaus zu einer Struktur, die auf einer höheren Ebene anzusiedeln ist. Die Theorien der Politologen haben eine Neigung, neue Kategorien zu schaffen, in der Hoffnung, daß ihr Dasein nicht künstlich sein möge. Eine solche neue Kategorie, die in der Sicherheit einen festen Platz einnehmen würde unter einem Schutz, der nicht nuklear und nicht nur militärisch sein dürfte, muß die Stabilität sein: Die Methode des Dialogs, den die Entspannung eingeführt hat, kann heute angewandt werden, um Probleme und Konflikte zu lösen. Diese Lösungen haben in sich gewiß nicht die Kraft, die Gegensätze zu überwinden. Man kann sie wohl entschärfen, darf dabei aber nicht der Illusion verfallen, das Konfliktpotential quasi mit einem Zauberstab hinwegfegen zu können. Die Gewaltanwendung bleibt im Bewußtsein der Menschen vorhanden. Die Herausforderung ist klar: von der Entspannung zur Stabilität und zur aktiven Suche nach Sicherheit und Frieden - mit Mitteln, die angeblich wenig gefährlich sind, jedoch eine größere unbewußte oder sogar bewußte Akzeptanz finden. Aber es gibt keinen gemeinsamen Begriff der Sicherheit mehr, die mehr denn je subjektiver Natur zu sein scheint. Die Frage "Was ist Sicherheit?", mit wem, warum und mit welchen Zielen, steht am Ende unserer Überlegungen im Vordergrund. Die gemeinsame Herausforderung für Politiker und Wissenschaftler ist die Schaffung einer neuen Sicherheit oder besser einer erstrebenswerten Stabilität als Weltsystem.

FRIEDRICH LANDWEHRMANN

Führung in der industriellen Gesellschaft

Die folgenden Überlegungen behandeln zwei wichtige Institutionen einer industriellen Gesellschaft: die katholische Kirche und die Gewerkschaften. Bei den Gewerkschaften steht der deutsche Gewerkschaftsbund im Vordergrund. Als Beispiel einer industriellen Gesellschaft dient die Bundesrepublik Deutschland. Wir leben in einem pluralen Staat. Das schließt auch eine Pluralität der Wertesysteme ein, auf denen die Verfassung beruht. Wenn in dieser Veranstaltung dargelegt wurde, dem Grundgesetz liege das Bild vom Menschen als dem autonomen Teil der Schöpfung zugrunde, so kann man das Grundgesetz auch auf der Basis eines humanistischen Ansatzes bejahen, ohne direkten religiösen Bezug. Unterschiedliche Wertesysteme können durchaus gleichen Handlungen und Einstellungen im Alltag zugrundeliegen. Diese Einsicht bildet eine Voraussetzung für die Loyalität der Bürger zu einem pluralen Staat. In der Verfassung überschneiden sich verschiedene Wertesysteme, auf denen die Verfassungsnormen für den einzelnen basieren. Die Verfassungsnormen sind eine Schnittmenge dieser Wertesysteme. Institutionen, die auf einem dieser Wertesysteme beruhen, sollten dem Staat und den anderen Bürgern die Loyalität ihrer Angehörigen sichern. Eine Theokratie bildet die Alternative dazu. I.

Führen kann nur eine Persönlichkeit oder eine Institution, die mit den Geführten durch gemeinsame Werte verbunden ist. Diesen Werten müssen nicht gemeinsame primäre Werte, die sich auf den Sinn des Lebens beziehen, zugrundeliegen. Das gilt quantitativ für die meisten Bereiche unseres Lebens - vom Staat über den Beruf bis zur Freizeit. In der Hierarchie der Wertesysteme steht das religiöse für den Gläubigen an der Spitze. Es ist das primäre Wertesystem, das sich auf den Sinn des Daseins bezieht. Führung ist dagegen in der industriellen Gesellschaft, im Unterschied zu früher, nicht allumfassend, sondern sie bezieht sich nur auf Entscheidungen, die in dem konkreten Wertesystem, das Führer und Geführte verbindet, getroffen

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Friedrich Landwehrmann

werden. Man kann von funktionaler oder auch segmentaler Führung sprechen. Wenn ein Führer versucht, in Bereichen Anerkennung und Gehorsam zu finden, für die ihm keine Zuständigkeit mehr zuerkannt wird, ist nicht nur sein Einfluß dort gering oder gleich null, sondern er kann auch im anerkannten Führungsbereich an Einfluß verlieren. Seine eindeutige Zuständigkeit ist nicht mehr klar erkennbar und kann nicht mehr aufgrundseiner Kompetenz von ihm geltend gemacht werden. II.

Mit dem Christentum übernahm das Abendland die christlichen Werte als Fundament für die Daseinsgestaltung. Sie bestimmen auch heute noch entscheidend unsere Kultur, auch wenn viele sich der christlichen Grundlage nicht bewußt sind. Dem religiösen Wertesystem waren die anderen nachgeordnet, ja sie leiteten sich von ihm ab und erhielten von ihm ihre Legitimation. Die Religion bestimmte die Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft ebenso wie die Rechte und Pflichten des einzelnen. Die katholische Kirche stellte durch ihr Bildungsmonopol einen großen Teil der Führungselite, beteiligte sich maßgeblich an der Bildung der weltlichen Führungselite und beriet diese. Damit wurden die Wertesysteme von ihr definiert und interpretiert. Die katholische Kirche war das Wertezentrum der mittelalterlichen Welt. Der religiösen Offenbarung mit ihrer verbindlichen Interpretation durch die Hierarchie der katholischen Kirche entstand als Quelle weltlicher Erkenntnis eine Konkurrenz in der Vernunft. Der Protestantismus löste den Widerspruch, indem er die Offenbarung der Interpretation durch die individuelle Vernunft überließ. Duch die Verbindung von Offenbarung und individueller Vernunft entstand eine Religion der industriellen Gesellschaft. Diese religiöse Alternative konnte erst entstehen, nachdem das Monopol der katholischen Kirche als Wertezentrum bereits beachtliche Risse zeigte, seine Integrationskraft unübersehbar nachließ. Aufgrund der Reformation bestand kein Bedarffür eine neue Religion des Industriezeitalters. Die evangelische Religion, und damit die evangelische Kirche, löste sich aus der katholischen Kirche. Das Christentum blieb tragende Grundlage auch in dieser Zeit des radikalen Wandels gesellschaftlicher Strukturen und Lebenswerte. Auch die katholische Kirche entwickelte ihr Glaubensgut so, daß neue Erkenntnisse der Wissenschaften integriert werden können. "Christen, die mit Methodenstrenge und beseelt von dem Verlangen, mehr über den Menschen zu wissen, zugleich aber erleuchtet von ihrem Glauben, sich den Humanwissenschaften widmen, können den gute Früchte versprechenden Dialog zwischen der Kirche und den Fachleuten dieses Gebiets eröffnen." 1 1

Enzyklika Octogesima adveniens, Abschnitt 40. Dieses wie die nachfolgenden Zitate

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Die Vernunft wurde eine eigenständige Erkenntnisquelle für immer mehr Sachprobleme in dieser Welt. In der Auseinandersetzung zwischen Dogma und naturwissenschaftlich-empirisch gewonnenen Erkenntnissen hat die Kirche ihren Kompetenzbereich einschränken müssen. Das gilt nicht für die Sinnaussage, aber für viele der Teilaussagen, die die Orientierung des Gläubigen in der Wirklichkeit betreffen. Die Kirche hat eine übergeordnete Position bezogen, die vielfach abstrakt genug formuliert ist, um den Erkenntnisfortschritt empirischer Wissenschaften aufnehmen bzw. mit ihrer Grundposition oder ihren Prinzipien vereinbaren zu können. Aus dem religiösen Wertesystem ergibt sich vielleicht noch eine Antwort auf die Frage, ob man die generelle Entwicklung in einem gesellschaftlichen Bereich, z. B. in der Wirtschaft, bejaht oder ablehnt. Bejaht man sie allgemein, so folgt dieser Bereich seinen eigenen Gesetzen. Ein typisches Beispiel bildet auch die Wissenschaft. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt Religionen, die auch heute wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen, soweit sie nicht mit ihren Dogmen im Einklang stehen. Bei ihnen ist die Vernunft der religiösen Erkenntnis untergeordnet, wie in Deutschland vor der Aufklärung. Bei den vorherrschenden primären oder sinngebenden Wertesystemen gibt es eine Vielzahl von Gestaltungen der Wirklichkeit, die in allen diesen Wertesystemen begründet werden können. Es sind die Schnittmengen dieser Systeme, dietrotzaller Unterschiede im primären Gehalt die Mitglieder in denpluralendemokratischen Staat integrieren. Ob es sich um die Gestaltung des Arbeitsplatzes, um die Unterstützung von Ländern mit niedrigem Lebensstandard, um die Ablehnung von Diktaturen usw. handelt, es sind die gleichen Antworten, die sich mit unterschiedlichen Begründungen ergeben. Im Kräftespiel der pluralen Gesellschaft istjeder Verband, istjede Organisation für einen Sektor, für einen Teilbereich zuständig. Der Staat trägt die Verantwortung für das Allgemeine, für das Gemeinwohl, dem sich die anderen Kräfte unterordnen müssen.

111. Die Zuständigkeit der Kirche für die Daseinsgestaltung ist seit der Neuzeit, historisch gesehen, geschrumpft. Das gilt für den Kreis der Gläubigen, der kleiner wurde, ebenso wie für die Anzahl der Sachbereiche. Die Kirche nimmt auch Stellung zu irdischen Problemen. Es ist aber ein Unterschied, ob man die Solidarität der Menschen anmahnt, wenn man zu benachteiligten Gruppen Stellung nimmt, oder Einzellösungen wie das Wahlrecht für Ausländer vorschlägt. aus Enzykliken und kirchlichen Dokumenten sind dem Band "Texte zur katholischen Soziallehre", 5. Aufl., Kevelaer 1982, entnommen.

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Wenn die Kirche eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch das Angebot von mehr Arbeitsplätzen fordert -als wenn die direkt bezahlte Erwerbsarbeit unabhängig von der konkreten historischen Situation immer die zentrale Aufgabe jedes Christen wäre - , so begibt sie sich in die tagespolitische Diskussion. Sie gibt Empfehlungen in einem Bereich, in dem ihr die Kompetenz in unserer komplexen Gesellschaft fehlt. Sie übernimmt moderne Ansichten oder die Ansichten ihrer Mitglieder, die in diesem Bereich Fachleute sind, aber auch nur eine Richtung in der kontrovers geführten politischen und wissenschaftlichen Debatte vertreten. Sie geht über die allgemeine Forderung, jeder Arbeitswillige müsse im Rahmen des Möglichen eine Arbeitsgelegenheit finden, hinaus und bestimmt auch die richtige Methode. Eine denkbare Konsequenz staatlicher Bemühungen um genügend Arbeitsplätze ist, daß der dadurch mit Arbeit versorgte Arbeitnehmer einen geringeren Lebensstandard aufweist, als er ihn als Arbeitsloser hätte. Zugespitzt formuliert kann das Ergebnis sein: Es ist gerechter, 100 Arbeiter am Fließband zu beschäftigen, als 50 Arbeiter Roboter warten zu lassen und 50 ehemaligen Fließbandarbeitern eine Unterstützung zu zahlen, auch wenn diese Unterstützung über ihrem vorherigen Lohn liegt. Die Mahnung des Papstes: "Unverschuldete Arbeitslosigkeit wird zum gesellschaftlichen Skandal, wenn ... der Ertrag der Arbeit nicht auch dazu verwandt wird, neue Arbeit für möglichst viele zu schaffen'? weist auf die weniger ertragreiche Beschäftigung vieler hin. Man muß dann allerdings auch die Konsequenz akzeptieren, daß die Unterstützungsmöglichkeiten für die Armen im eigenen Land und in der Welt nicht ausgeschöpft werden. Diese Forderung, vorhandene Arbeit gleichmäßig zu verteilen, führte mit zur Erstarrung und schließlich zum Zusammenbruch des Zunftsystems, als gesellschaftliche und damit auch materielle Fortschritte erzielt werden sollten. In Großbritannien führte sie dazu, daß selbst für nicht mehr vorhandene Arbeiten Arbeiter beschäftigt wurden. Der Heizer auf der Elektrolok ist ein Beispiel. Schon vor über 100 Jahren stellte J. St. Mill zu diesem Problem sinngemäß fest: Verliert einer wegen der Weiterentwicklung der Technik seine Arbeit, so muß er seine Interessen hinter die der Mitbürger und Nachkommen zurückstellen. Er hat aber dafür ein Anrecht auf die besondere Unterstützung durch den Staat. 3 Diese Einstellung hat zumindest die Steigerung des allgemeinen Wohlstandes sehr gefördert. Oder steht die katholische Kirche Mill doch näher, wenn der Papst im Hinblick auf den Strukturwandel ausführt: "Niemals jedoch dürfen dabei 2 Papst Johannes Paul II., Ansprache zur "Welt der Arbeit" in Bottrop am 2. Mai 1987, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 77, Bonn o. J., S. 68. Die Begriffe "unverschuldet" und "unfreiwillig" werden in den päpstlichen Verlautbarungen - soweit nachvollziehbar - nicht eindeutig verwandt. 3 John Stuart Mill in: Sydney und Beatrice Webb, Die theoretische Basis der britischen Gewerkvereine, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 11. Bd., 1897, S. 9 f.

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Arbeiter, die viele Jahre ihr Bestes gegeben haben, die allein Leidtragenden sein! Steht solidarisch zusammen und helft ihnen, wieder eine sinnerfüllte Tätigkeit zu finden. " 4 Wir bemühen uns, gerade diese Probleme nicht nur über die Produktion von Arbeitsplätzen zu lösen, sondern mit einer Verteilung der unerwünschten Auswirkungen über die unmittelbar Betroffenen hinaus und mit der Hilfe, eine sinnerfüllte Tätigkeit zu finden, die nicht unbedingt Arbeit zu sein braucht. Zieht man die Enzykliken heran, so entspricht die Einstellung der katholischen Kirche grundsätzlich wohl mehr dem ersten Zitat, also der Aufforderung, den Ertrag der Arbeit auch für die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu verwenden. Der Aufruf zur Unterstützung der Arbeitslosen dürfte eher kurzfristig gemeint sein. Einige ihrer Forderungen stehen direkt im Widerspruch zu zentralen Regelungen unserer Arbeitsbeziehungen. Es heißt beispielsweise in der Enzyklika "Laborem exercens": "Um der Gefahr solcher unfreiwilliger Arbeitslosigkeit entgegenzutreten und allen eine Arbeitsgelegenheit zu sichern, müssen die hier als mittelbare Arbeitgeber angesprochenen Instanzen einen Gesamtplan aufstellen für die Unternehmen, in denen dieses hochentwickelte, nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das gesamtkulturelle Leben des Landes formende Geschehen sich abspielt. " 5 "Der Begriff des mittelbaren Arbeitgebers läßt sich auf jedes Gemeinwesen und vor allem auf den Staat anwenden. " 6 Es gehört aber gerade zur marktwirtschaftliehen Auslese, daß weniger leistungsfähige Unternehmen aufgeben müssen und daß damit auch Arbeitsplätze verloren gehen. Staatliche Unternehmenspläne setzen eine andere Wirtschaftsordnung voraus. Ihnen liegt die Schaffung von Arbeitsplätzen durch planwirtschaftliche Regulierungen des Staates zugrunde. Eine systemkonforme soziale Absicherung solcher Prozesse ist etwas grundsätzlich anderes. Historisch gesehen war für die Entwicklung der Gesellschaft ein hohes Arbeitsethos erforderlich. In den entwickelten Industrieländern hat sich aber die Einstellung zur Arbeit dahingehend geändert, daß es zur Lebensqualität gehört, einen zunehmenden Teil des individuellen Lebens anderen Bereichen als der Arbeitswelt zuwenden zu können. Es besteht die Gefahr der Verirrung in die vernunftmäßig auch nicht mehr nachvollziehbaren komplexen Strukturen eines modernen Staates, wenn man einerseits die 35Stunden-Woche begrüßt, aber andererseits eine 18-Stunden-Woche7 bereits als das Grundübel Arbeitslosigkeit, das bekämpft werden muß, bezeichnet. Wenn die Würde des Menschen und seine Identität entscheidend durch die 4

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Papst Johannes Paul li., Ansprache zur "Welt der Arbeit", a.a.O., S. 69. Enzyklika Laborern exercens, Abschnitt 18.2. Enzyklika Laborern exercens, Abschnitt 17.2. Wer so lange arbeitet, kann noch als arbeitslos gelten.

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Möglichkeit zur Arbeit bestimmt wird, so müßte man sich auch dagegen aussprechen, daß der Mensch im Vollbesitz seiner Leistungskraft mit 50 Jahren bereits endgültig aus dem Arbeitsleben ausscheiden kann. Besser nachvollziehbar sind die Ausführungen des II. Vatikanischen Konzils, das vom menschlichen Schaffen spricht und ausführt: "Der Mensch ist mehr wert durch das, was er ist, als durch das, was er hat. Ebenso hat alles, was die Menschen mit dem Ziel einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der sozialen Beziehungen tun, größeren Wert als technische Fortschritte. Diese Fortschritte können zwar gleichsam das Material für den menschlichen Aufstieg bieten, doch den Aufstieg selbst werden sie durch sich selbst allein keineswegs zustande bringen. " 8 Mit anderen Worten: Die Technik ist nicht Ziel, sondern Mittel. Weniger verständlich ist dagegen die Forderung der katholischen Kirche; bei einem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit müsse letztlich die Arbeit den Vorrang haben. Gibt man dieser Feststellung eine mittelfristige Zeitperspektive, so kann man auch fragen, was für das Wachstum des Getreides wichtiger ist, Wasser oder Wind. Letztlich bedeutet die Feststellung des Vorrangs der Arbeit wohl eine Spezifizierung der allgemeinen Feststellung, daß die Sache als Instrument ihren Wert nur vom Bezug auf den Menschen erhalte. Der Mensch ist als Teil der Schöpfung in die Naturgesetze genauso einbezogen wie die Natur insgesamt. Durch den Einsatz von Kapital kann er diese Gebundenheit ein wenig lockern, indem er sich Wahlmöglichkeiten schafft. Im Laufe der historischen Entwicklung hat er sich zunehmend mehr und größere Entscheidungsspielräume geschaffen. Wenn er aber einmal bestimmte Instrumente benutzt, so muß er sich auch ihren Eigengesetzlichkeiten anpassen. Die Frage des Vorrangs der Arbeit ergibt sich erst, wenn man über die Abschaffung des Instruments "Kapital" entscheidet, weil die Nachteile die Vorteile überwiegen. Während der Nutzung muß aber der Mensch auch die Befriedigung eigener Bedürfnisse hinter die Erfordernisse des Einsatzes des Instrumentes zurückstellen. Das gilt auch für die gewählte Wirtschaftsordnung. Aus diesem Grunde ist die Forderung unerfüllbar: "Der ganze Vollzug werteschaffender Arbeit ist daher auf die Bedürfnisse der menschlichen Person und ihrer Lebensverhältnisse auszurichten, insbesondere auf die Bedürfnisse des häuslichen Lebens, dies namentlich bei den Familienmüttern, unter ständiger Rücksichtnahme auf Geschlecht und Alter."9 Zit. in: Enzyklika Laborern exercens, Abschnitt 26.6. 11. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, "Gaudium et spes", Abschnitt 67. 8 9

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Die Entwicklung der Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland geht gerade von der Untrennbarkeit beider Produktionsfaktoren aus. Das schließt nicht aus, daß es in einer spezifischen Situation angebracht sein kann, einmal mehr den einen Faktor zu fördern und ein anderes Mal mehr den anderen. Genau das ist eine Leitlinie der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Die Kirche leitet aus ihrer geistlichen Autorität- eine andere hat sie nicht -auch die fachliche Autorität für Fachgebiete ab, in denen es unterschiedliche Meinungen gibt. Von den möglichen Negativwirkungen eines solchen Verhaltens seien vier hervorgehoben: 1. Es gibt Menschen- man kann wohl sagen viele-, die in dem einen oder anderen Fachgebiet als kompetente Fachleute anderer Meinung sind als die Kirche, oder die Fachkontroversen beimjetzigen Erkenntnisstand für nicht entscheidbar halten. Es besteht die Gefahr, daß sie die schlechten Erfahrungen mit Stellungnahmen der Kirche in ihrem Fachgebiet, in dem sie sich ein eigenes Urteil bilden können, auf die Bewertung anderer kirchlicher Stellungnahmen oder gar auf die Kirche insgesamt übertragen. Die Kirche verliert an Einfluß auf ihre Meinungsbildung. 2. Sind diese Fachleute Mitglieder der Kirche oder Sympathisanten, so fühlen sie sich nicht nur von der Kirche nicht vertreten, sondern die Kirche unterstützt ihre fachlichen Kontrahenten, wird also zum Gegner in ihrem irdischen Kompetenzbereich. 3. Durch die Stellungnahmen zu vielen Themen tritt eine Inflation ein mit der Folge, daß die einzelnen Stellungnahmen an Gewicht verlieren. Das geht dann zu Lasten wirklich zentraler Probleme, z. B. in Glaubensfragen. 4. Die Kirche setzt sich unnötig einer Überprüfung ihrer Detailaussage durch die zukünftige Entwicklung aus. Jede Falsifizierung schwächt ihre Autorität insgesamt, denn man erwartet von ihr die Wahrheit. Immer weniger Gläubige können sich mit einer solchen Institution, die ihre klaren Konturen verliert, identifizieren. Neben Glaubensaussagen treten mehr oder weniger verschwommene Handlungsanweisungen für den Alltag. Die Kirchenaustritte beruhen nicht nur auf der Verweltlichung der Menschen des Industriezeitalters, sondern auch darauf, daß die Kirche in einer gewandelten Gesellschaft nach Meinung eines Teils der Gläubigen ihre Position noch nicht gefunden hat. Die Formulierung, Aufgabe der Kirchenmitgliedschaft bedeutet nicht Aufgabe des Glaubens, zeigt, wie die Führerschaft der Kirchen auch im Bereich des Glaubens schwächer wird. Sekten und Gruppenbildungen sind ein Hinweis. Die Konzentration auf die Offenbarung entspricht der Funktion der Kirche in unserer Gesellschaft, nicht der gute Ratschlag in den verschiedenen Lebenslagen.

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Zu dem Problem, in einer Enzyklika einerseits mit der Autorität und dem Anspruch des höchsten Lehramtes aufzutreten, andererseits aber gesellschaftliche Lebenshilfe zu geben, meint Nell-Breuning: "Anstatt darin den guten Willen, helfen zu wollen, zu sehen, hatten die Fachleute sich bevormundet gefühlt und verärgert reagiert." 10 So geht es eben nicht. Wer will noch erkennen, wann es sich um die Wahrheit handelt, wann um unverbindliche Ratschläge eines gutwilligen Menschen? Nell-Breuning führt an derselben Stelle weiter aus, daraus habe Papst Johannes Paul II. die Folgerung gezogen: Der Papst gibt an, was erreicht werden muß, "die Mittel und Wege dazu haben die Fachleute ausfindig zu machen". Diese Feststellung klingt zunächst einleuchtend. Die Wirklichkeit bestätigt aber, wie schwer die Abgrenzung im konkreten Fall ist. Ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ein Ziel oder ist sie ein Mittel, damit der Mensch als Teil der Schöpfung den Auftrag Gottes erfüllen kann? Ehrenamtliche Sozialarbeit, bei der der Lebensunterhalt anders als durch Arbeit gesichert ist, ist zumindest nach dem Wortlaut der Enzykliken keine gleichwertige Alternative. Im Mittelalter wurden arme Witwen von der Kirche unterstützt, damit sie nicht auf Arbeit angewiesen waren. Aber selbstverständlich halfen sie in den kirchlichen Hospitälern ehrenamtlich. Im Mittelalter wurde durch die katholische Kirche das Bettlerwesen gefördert, indem man ihm eine religiöse Funktion zuwies. Durch ein Almosen konnte der Gebende etwas für sein Seelenheil tun. Während zunächst die Kirche für die Armen sorgte, wurden ihr schließlich die durch solche Empfehlungen geschaffenen Armenheere zu viel. Aber sie stellte nicht die Ursache ab, sondern erklärte die weltlichen Gemeinden für verantwortlich für die Armen. Diese Beispiele lassen sich bis in die Gegenwart verlängern. Das könnte die Schlußfolgerung nahe legen, im Bereich der Arbeitswelt im Detail zurückhaltend zu sein. Ein großer Teil der nicht überzeugenden Aussagen der katholischen Kirche dürfte dadurch hervorgerufen sein, daß sie einen Arbeitsbegriff verwendet, der für andere gesellschaftliche Situationen geprägt wurde. Sie hat den qualitativen Umschlag des Wertes der Arbeit für das Leben der Individuen und für die Gesellschaft noch nicht in ihre Beurteilung der Arbeitslosigkeit umgesetzt. In vielen Fällen trifft der Begriff menschliches Schaffen des II. Vatikanischen Konzils bei den konkreten Aussagen zur Arbeit den Sachverhalt.

10 Oswald von Nell-Breuning SJ, Texte zur katholischen Soziallehre, 5. Aufl., Kevelaer 1982, S.29.

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IV. Die Gewerkschaften haben sich auf religiöser bzw. ideologischer Basis entwickelt. Ihr Fundament lag in der Religion oder in sozialistischen, kommunistischen bzw. liberalen Ideologien. Entsprechend unterschiedlich war bis 1933 ihr Verhalten in den Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern, untereinander und mit dem Staat. Sie waren eingebunden in Bewegungen, die den ganzen Menschen in allen seinen Teilbereichen umfaßten. Sie hatten in ihrer jeweiligen Bewegung den Sonderauftrag "Arbeitswelt". August Bebe! kritisierte 1900: "Die Frage müssen sich die Mitglieder der verschiedenen Gewerkschaften täglich aufs neue stellen: Warum man ihnen zumutet, sich in freien, liberalen, katholischen, protestantischen Gewerkschaften zu organisieren ... ". 11 Bebe! wurde Rechnung getragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einheitsgewerkschaft gegründet. Aber sie hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Es fällt der Gewerkschaft bis heute schwer, sie zu akzeptieren. Der Gewerkschaft gehören Mitglieder an, die unterschiedlichen Wertesystemen verpflichtet sind- vergleichbar den Bürgern in einem pluralen Staat. Offiziell entwickelten die Gewerkschaften, hierin konsequent, auch kein eigenes primäres Wertesystem. Die Mitglieder sollten durchaus unterschiedlichen Werten verpflichtet bleiben. Man ging davon aus, daß gewerkschaftliche Forderungen sich von jedem dieser Wertesysteme aus begründen lassen, daß eine gemeinsame Schnittmenge besteht. Diese Konzeption bedeutet sowohl einen Umbruch in der historischen Entwicklung der deutschen Gewerkschaften wie auch eine deutliche Abhebung von den Konzeptionen in einigen Nachbarländern. Wenn man die unterschiedlich orientierten Mitglieder unter das gemeinsame Dach der Gewerkschaft bringen will, so ist das nur möglich, wenn ein gemeinsamer Nenner für das Programm gefunden wird. Zu diesem gemeinsamen Nenner gehört, daß die Gewerkschaften einen wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen nehmen. Dieses ist die notwendige Konsequenz der Forderung Bebeis nach einer Einheitsgewerkschaft und entspricht auch der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Ein gemeinsames Interesse der Mitglieder ist aber nicht unbedingt die Einstellung zur Gewissensprüfung für Wehrdienstverweigerer, wozu es klare gewerkschaftliche Aussagen gibt. Der Antrag des Vorstandes auf einem Gewerkschaftskongreß vor einigen Jahren, vor allen Verpflichtungen, die Gewerkschaftsmitglieder auch in anderen Lebensbereichen hätten, stünden die gegenüber der Gewerkschaft, zeigt wie schwer die Einsicht ist, daß die Gewerkschaft nur instrumentellen Charakter hat. So protestierten dann 11 Zit. in: Gerhard Leminsky I Bernd Otto, Politik und Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 2. Aufl., Köln 1984, S. 68.

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auch christlich orientierte Mitglieder, und der Antrag wurde schließlich zurückgezogen. Während das Vordringen der Naturwissenschaften und der Empirie die Kirche immer mehr auf den Glaubensbereich zurückdrängte, entwickelten sich die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg in eine andere Richtung. Es besteht zwar eine Einheitsgewerkschaft, aber sie ist ideologisch geprägt von sozialdemokratischen und sozialistischen Ideen. Je mehr sich die SPD zur Volkspartei entwickelt, desto weniger hat das sozialistische Wertesystem eine eigene Heimstatt und um so mehr neigen die Gewerkschaften dazu, sich sozialistischer Gedanken anzunehmen. Die Gewerkschaften gehen auch heute noch in vielen Resolutionen von den objektiven und gleichen Interessen aller Arbeitnehmer aus. Die Produktionsverhältnisse bestimmen stärker das Leben von Christen und Moslems als die primären Systeme, als ihre Religionen. Von einem objektiven Interesse und einer objektiven Lage kann man aber nur ausgehen, wenn man ein bestimmtes Gesellschaftsbild voraussetzt, das letztlich auch nur glaubensmäßig zu begründen ist. Es widerspricht einer pluralen Gesellschaft, wenn eine Gruppe behauptet, sie allein sähe diese Gesellschaft objektiv und damit richtig, und entsprechendes Handeln vom Staat fordert. Die Gewerkschaften sehen klar die breite Differenzierung der Arbeiterschaft und der Angestelltenschaft. Ihre Schlußfolgerung lautet: Die Arbeitsbedingungen von Arbeitern und Angestellten gleichen sich an. Dieser Diagnose kann man nur zustimmen. Aber nicht die Angestellten gleichen sich den traditionellen Arbeitern an, sondern umgekehrt die Arbeiter den Angestellten. Angestellte konnte die Gewerkschaft aber auch schon früher relativ schlecht gewinnen. Es liegt also nahe, daß die Gewerkschaft sich der Entwicklung in der Gesellschaft und in der Arbeiterschaft anpaßt. Das kann sie aber nicht, da das gegen ihre Überzeugung vom objektiven Interesse aller Arbeitnehmer verstößt. So beschloß 1978 der DGB-Kongreß: " . . . ist es daher eine der vordringlichsten gewerkschaftlichen Aufgaben, den Angestellten ihre wirkliche gesellschaftliche Lage aufzuzeigen, um ihre Interessenkonflikte als Arbeitnehmer objektiv und realistisch darzustellen: Krise und Arbeitsplatzbedrohung sind die entscheidenden Kriterien, aus denen sich für die Gewerkschaft heute die Notwendigkeit auch für die Angestellten zum Eintritt in die Gewerkschaft zwingend ergeben muß." 12 Wäre es so, müßte der Mitgliederzuwachs beträchtlich sein. Genau mit dieser Argumentation haben aber schon vor 80 Jahren die Gewerkschaften bei den Angestellten bedeutend weniger Erfolg gehabt als bei den Arbeitern. 12

a.a.O., S. 612.

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Die Angestellten warten eben nicht darauf, daß ihnen die Gewerkschaften "wie den anderen Arbeitnehmergruppen ein zeitgemäßes Bewußtsein ihres tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Standortes vermitteln" . 13 Diese Erwartungen richten viele von ihnen an andere gesellschaftliche Gruppierungen. Dabei geht es ihnen wohl auch weniger um die Vermittlung des richtigen Standorts als um die Unterstützung bei der eigenen Suche nach dem richtigen Standort. Die Einheitsgewerkschaft findet es aber nicht nur unter diesem Aspekt schwer, sich auf ihr Segment zu konzentrieren. Wenn auf einem Gewerkschaftskongreß ein Landbezirk einen Antrag stellt, indem es unter anderem heißt, die Politik der "USA-Regierung" "ist gegen die Interessen dieses Volkes (von Nicaragua, V.) gerichtet und bedroht auch den Weltfrieden", 14 so überrascht es doch, daß die Gewerkschaften nicht nur die Interessen aller Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen in der Bundesrepublik Deutschland kennen, sondern auch noch die Interessen des Volkes von Nicaragua. Wenn in einem Antrag des Bezirks Rheinland-Pfalz zu Nicaragua festgestellt wird: "Nach den ersten demokratischen Wahlen hat die jetzige Regierung in Managua mit einer Wahlbeteiligung von 82% und 87% der Stimmen für die FSLN mehr Legitimität durch ihre Bevölkerung als die Reagan-Regierung in den USA", 15 so fragt man sich nach dem Sinn solcher Stellungnahmen, von der Frage nach der Legitimation und Kompetenz dazu ganz zu schweigen. Es lassen sich reichlich weitere Beispiele finden, wobei es nicht darauf ankommt, die Legitimation für solche Stellungnahmen zu analysieren. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, daß mit jeder Stellungnahme immer mehr und jeweils auch andere Mitglieder sich durch die Gewerkschaft nicht mehr repräsentiert fühlen, daß sie ihr Mandat, das sie den Gewerkschaften gegeben haben, überzogen sehen. Außerdem schwächt die Gewerkschaft durch die Flut solcher Stellungnahmen ihren Einfluß und damit letztlich auch ihre Kampfstärke. Hierzu noch ein Beispiel: Der Vorsitzende des DGB erklärte vor den Bundestagswahlen 1983, bestimmte Forderungen der Gewerkschaften seien zentral, und wenn sie nicht erfüllt würden, würden die Arbeitnehmer bei der Wahl sehr wohl zu unterscheiden wissen, wer gegen sie oder wer für sie sei. Ein großer Teil der Arbeitnehmer wählte dann Parteien, die dagegen waren. a.a .O., S. 609. Antrag des Landesbezirks Baden-Württemberg, in: Angenommene Anträge des 13. Ordentlichen Bundeskongresses des DGB, Hrsg. DGB, 1986, S. 81. 15 Antrag des Landesbezirks Rheinland-Pfalz, a.a.O., S. 83. Allerdings wurde vier Jahre vorher ein Antrag angenommen, in dem es hieß: "Aber auch in Ländern, in denen es gelungen ist, den faschistischen Diktator zu beseitigen, glauben die neuen Machthaber, auf Streikverbot und gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen nicht verzichten zu können, wie in Nicaragua." Angenommene Anträge, 12. Ordentlicher Bundeskongreß des DGB, Hrsg. DGB, 1982, S. 86. 13

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So kann man systematisch seinen Anspruch, alle Arbeitnehmerinteressen zu vertreten, demontieren. Es sei denn, man geht davon aus, viele Arbeitnehmer könnten subjektiv ihr objektiv richtiges Interesse nicht erkennen; diese falsche Sicht unterstellen auch Politiker zunehmend den Wählern, die sie nicht wählten. Historisch gesehen durchzieht das Verhalten der Gewerkschaften immer noch stark das Bewußtsein, die Bundesrepublik Deutschland sei eine Arbeitnehmergesellschaft, und damit müßten die Arbeitnehmer, die mit ihren Angehörigen mit Abstand die größte Gruppe bilden, auch das Geschehen in diesem Staate bestimmen. Hier wird schlicht Statistik mit Bewußtsein verwechselt. Wir leben dann auch in einer Frauengesellschaft, denn der Anteil der Frauen ist größer als der der Männer. Die Fiktion der eindeutigen Bestimmtheit der gesamten Lebensbedingungen der Arbeiterschaft durch die Produktionsverhältnisse gab der Gewerkschaft den Antrieb zur umfassenden Solidarität und einheitlichen Vorgehensweise. Die Realität entsprach nie dieser Fiktion, denn so einheitlich waren die Interessen der Arbeitnehmer zu keiner Zeit. Deshalb gab es vor 1933 in Deutschland Richtungsgewerkschaften und gibt es sie in den meisten europäischen Ländern heute noch. Allerdings waren wohl fast alle Erwerbstätigen daran interessiert, ihre materiellen Arbeitsbedingungen zu verbessern. In der gegenwärtigen Gesellschaft fachern sich nicht zuletzt wegen des rapiden Wachsens des Lebensstandards die Interessen noch weiter auf als Anfang des Jahrhunderts. Die Gemeinsamkeit muß mehr als früher im Instrumentellen gesucht werden. Diese Entwicklung erkennen zumindest Teile der Gewerkschaften durchaus. Sie sind aber offensichtlich nicht in der Lage, diese Erkenntnisse für ihre Strukturpolitik zu verwerten. V.

Die katholische Kirche wie auch die Gewerkschaften sind entscheidende Träger unseres Staates. Dabei verlief die Entwicklung zu ihrem heutigen Zustand gegenläufig. Die Kirche hatte zeitweise eine auch den Staat dominierende AllzuständigkeiL Sie reduzierte sich dann auf einen Interessenverband, zwar eigener Art und herausgehoben unter allen anderen Verbänden, aber dennoch auf eine Kraft unter mehreren. Die Gewerkschaften entwickelten sich von einer vom Staat bekämpften Interessenorganisation, immer mächtiger und einflußreicher werdend, zu einer staatstragenden Säule. Beide haben ihre neue Rolle noch nicht gefunden. Beide sehen wohl auch die Erwartungen ihrer Mitglieder nicht eindeutig, nicht in der vollen Beschränkung auf eine spezifische Funktion. Für die allzuständige Autorität ist in einer hochgradig arbeitsteiligen und verwissenschaftlichten Gesellschaft

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kein Raum. Mit der Arbeitsteilung befassen sich beide Institutionen ausführlich, aber für sich selbst, für ihr Selbstverständnis und ihr Handeln in dieser Gesellschaft haben sie Konsequenzen noch nicht ganz gezogen. Ein Hinweis mag genügen: Ob die Gewerkschaften zur Wahl der SPD auffordern oder die katholische Kirche eine Wahl der CDU nahe legt, die Wahlergebnisse zeigen, insbesondere kleinräumig: Viele Mitglieder sehen in einer solchen Orientierungshilfe nicht die Aufgabe dieser beiden Institutionen. Offensichtlich sehen sie deren jeweilige Funktion enger. Es ist irreführend, wenn die Gewerkschaft sagt, sie gäbe eine Stellungnahme zur Förderstufe ab und spräche im Namen ihrer acht Millionen Mitglieder, oder gar, wie die Gewerkschaften es gerne tun, im Interesse aller Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen. Das ergibt nur einen Sinn, wenn wiederum vom objektiven Interesse aller Arbeitnehmer ausgegangen wird, das die Gewerkschaften genau kennen. Auch der Sinnfrage, eigentlich der Kern einer Religion, kommen die Gewerkschaften schon sehr nahe, so z. B. bei ihren Beschlüssen zum Schwangerschaftsabbruch. Soweit auch im Arbeitsbereich die Übereinstimmung sein mag, bei dieser Lebensfrage bilden die Gewerkschaften ein weltanschauliches Gegengewicht. Beim Anspruch, das Gemeinwohl zu bestimmen, treten sie in Konkurrenz zum Staat. So führte der damalige DGBVorsitzende Heinz 0 . Vetter 1981 aus: "Für uns Gewerkschaftler gibt es keinen Zweifel: Gemeinwohl ist für uns das Wohl der arbeitenden Menschen und ihrer Familien und damit das Wohl der großen Zahl der Bürger in unserem Lande. In diesem Sinne sehen wir Gewerkschaftler uns auch gerade dem Gemeinwohl verpflichtet." 16 Einige Schlußfolgerungen aus diesen Überlegungen: 1. Beide Institutionen, die katholische Kirche wie auch die Gewerkschaft, sind zusammen mit einigen wenigen anderen in besonderer Weise in unserem Staat mit Privilegien ausgestattet. Hierzu gehört die Tarifautonomie ebenso wie ihre Bevorzugung als gesellschaftlich relevante Kräfte. 2. Es wird erwartet, daß sie einen Teil der gesellschaftlichen Konflikte besser regeln und einige Probleme besser lösen können als der Staat, daß sie einen Teil der Bürger in den Staat integrieren und deren Loyalität zum Staat sicherstellen. Dabei wird in Kauf genommen, daß ihre Bevorzugung eine Benachteiligung anderer Bürger bedeutet. 3. Daraus ergibt sich eine besondere Verpflichtung dieser Institutionen für die Existenz und Funktionsfähigkeit des Staates. Sie stehen aber ständig in Versuchung, als Interessenvertreter ihre bevorzugte Stellung vor allem zur Realisierung ihrer Interessen einzusetzen. 16

Zit. in: Leminsky, a.a.O. , S. 91.

10 Symposion

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4. Sie tragen zur Integration großer Teile der Bürger in diesen Staat kaum noch in dem Umfang bei, wie noch vor einer Generation. Integriert sein als innere Verbundenheit mit den Werten der jeweiligen Institution ist dabei zu unterscheiden von der juristischen Mitgliedschaft. So ist es etwa heute noch karriereförderlich - besonders in der Politik - , einer der beiden großen Kirchen anzugehören. In vielen Betrieben ist es förderlich, den Gewerkschaften anzugehören. Beide Institutionen sind zu einem festen und tragenden Bestandteil unseres Staates geworden. Sie nehmen entscheidenden Anteil an der Führung des Staates. Das bedeutet aber auch, der Staat ist in besonderer Weise von ihrem Funktionieren abhängig, von ihrem Verantwortungsbewußtsein für das Gemeinwohl. Dabei können nicht sie das Gemeinwohl definieren, sondern allein die legislativen Organe des Staates. Inwieweit sie ihre Funktion erfüllen, ist neben ihrer Bereitschaft zur Einordnung in einem pluralen Staat auch abhängig von ihrer Stärke, die wesentlich auf ihrer Anerkennung durch ihre Mitglieder und Sympathisanten beruht. Es ist dabei nicht gemeint, daß diese Institutionen sich stromlinienförmig den modernen Wandlungen anpassen sollen. Im Gegenteil: Es gehört zur ausgewogenen gesellschaftlichen Entwicklung, daß ein Teil der gesellschaftlichen Kräfte an der Spitze dieses Wandels steht, ein anderer Teil am Ende als Bremser. Nur darf keine wesentliche Kraft außerhalb des Spektrums dieses Wandels geraten. Verliert eine der beiden Institutionen an Einfluß oder versteht sie ihre Funktion nicht mehr als kritische staatstragende Kraft, so bleibt das nicht ohne zentrale Auswirkungen auf den Staat.

PAUL GERT VON BECKERATH

Der "Mensch im Mittelpunkt" Zur Entwicklung von Personalwesen und Unternehmensethik Die Fähigkeit des Menschen, Arbeit zu verrichten, ist der Ausgangspunkt der Einbeziehung menschlicher Arbeitskraft in den wirtschaftlichen Produktionsprozeß. Die Verwendung der Arbeitskraft im Zusammenwirken mit den in der Produktion eingesetzten technischen Mitteln ist den geltenden ökonomischen Regeln unterworfen. Da sich die Arbeitskraft vom Menschen als lebendigem Geschöpf nicht trennen läßt, findet die technische und ökonomische Rationalität des Betriebes auch Anwendung auf den Menschen als sozialem und mit Seele begabtem Wesen. Die Arbeitskraft des Menschen ist ein Produktionsfaktor in der Betriebswirtschaft; mithin ist sie als solche einbezogen in die Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit interdependenter betriebswirtschaftlicher Prozesse. Diese Prozesse spielen sich nicht um den Menschen herum ab, sondern mit ihm. Er ist einbezogen in ablaufende Vorgänge, steht also nicht in deren Mittelpunkt. Das Ziel betrieblicher Veranstaltungen ist die Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit der Absicht, daß ein Überschuß gegenüber den eingesetzten Aufwendungen erreicht wird. Der Einsatz menschlicher Arbeitskraft unterliegt gleichfalls ökonomischer Bewertung. I. Einige praktische Beispiele aus der Sozialgeschichte der Industrie

Die totale Unterwerfung des Menschen unter die Gesetze der Technik und Ökonomie im betrieblichen Produktionsprozeß kann wohl nicht plastischer herausgearbeitet werden als durch die mahnenden Worte des englischen Unternehmers und Sozialexperimentators Robert Owen, geboren im Jahre 1771 in Nordwales. Bei ihm finden wir Bemühungen um ein verbessertes Wohnungswesen, eine kürzere Arbeitszeit und die frühen Formen von Konsumgenossenschaften. Owen hat in einer seiner Schriften um 1800 die wegweisende Überlegung als Mahnung an seine Unternehmerkollegen formuliert: "Wenn nun die angebrachte Sorgfalt für den Zustand eurer leblosen Maschinen solche guten zo•

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Paul Gert von Beckerath

Erfolge zu erzielen vermag, was darf dann nicht erwartet werden, wenn ihr entsprechende Aufmerksamkeit euren lebendigen Maschinen widmet, die noch wunderbarer gebaut sind." 1 In der Frühzeit der Industrie wird der Produktionserfolg vor allem auf den Faktor Technik gegründet. Im Zeitalter der Technokratie steht der Mensch voll im Schatten der Herrschaft von Maschinen. Der kritische Appell von Owen ist ein früher Anlauf zur Humanisierung der Arbeit, wie wir dies heute nennen würden. Es wird auf die Arbeitsordnung der Firma Krupp (GeneralRegulativ für die Firma Friedrich Krupp in Essen a. d. Ruhr, Berlin 1872, § 7) hingewiesen, in welcher es heißt: "Um Überbürdung des Einzelnen zu verhüten, und damit besonders die alt und schwach Gewordenen geschont werden, ist sorgfältig darauf Bedacht zu nehmen, daß in den dazu angethanen Fällen durch Zuordnung eines Assistenten den einer Erleichterung in ihrer Arbeit Bedürftigen und Würdigen eine solche gewährt werde. Auch Dispensationen von einem Theile der Arbeit werden in den bezeichneten Fällen zu ertheilen sein." Hier werden sittlich-ethische Prinzipien zum Schutz des im Arbeitsprozeß benachteiligten Individuums angesprochen. An einer anderen Stelle des Krupp-Regulativs(§ 25) heißt es: "Wer sich in seinen Rechten oder sonst in seiner Persönlichkeit beeinträchtigt oder gekränkt glaubt, dem wird eingeräumt, einen festgelegten Beschwerdeweg einzuschlagen." Von besonderer Bedeutung ist hier die Formulierung von der mit Rechten begabten Persönlichkeit, ein Ausdruck, welcher inhaltlich der "Menschenwürde" gleichzusetzen ist. In einem Zeitalter der Herrschaft extrem liberaler Betrachtungsweisen, in dem ein Kar! Marx das Arbeitsverhältnis als einen Tausch der Ware gegen Lohn definierte, wird Friedrich Alfred Krupp das Wort zugeschrieben: "Den Leuten, die ich gebraucht, habe ich auch ihren Lohn gezahlt." Im Sinne der herrschenden Anschauungen wird eine Naturgesetzlichkeit für alle Märkte, also auch den Arbeitsmarkt, auf dem sich zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage von der Natur bestimmte Wirkungen durchsetzen werden, angenommen. Man könnte demgegenüber nichts ausrichten, so meint man, und man dürfe das auch nicht, da sich sonst Konsequenzen ergäben, die für sämtliche Beteiligten nur negativer Art sein würden. Noch um 1900, als eine öffentliche Enquete über den Arbeitsmarkt angestellt wurde, hat ein namhafter Unternehmer auf die Frage, was für Arbeitnehmer, die er aus konjunkturellen Gründen entlassen habe, geschehen soll, geantwortet: "Das weiß ich nicht; ich überlasse das den Gesetzen des Marktes." Im Mittelpunkt der Lehre vom Manchester-Liberalismus stand die Fiktion des "homo oeconomicus", der sein gesamtes Handeln auf ökonomi1

C. H. Northcott, The personnet management, its scope and practice, 2. Aufl., London

1950.

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sehen Verhaltensweisen und ökonomischem Kalkül aufbaut. Dieser homo oeconomicus existierte sowohl auf der Unternehmer- wie der Arbeitnehmerseite. Auch letztere seien jederzeit bestrebt (und in der Lage), ihre Arbeitskraft zum höchsten Marktpreis zu verwerten. J. St. Mill war als Vertreter der liberalen Lehre der Ansicht, daß die beste politische und soziale Ordnung selbsttätig aus der durch soziale Bindungen möglichst ungehemmten Freiheit des Menschen hervorgehe. "Das Wohl der Einzelnen wird umso besser und sicherer erreicht, je weniger die Freiheit der Individuen in der Verfolgung ihrer Interessen durch gesellschaftliche Schranken beengt wird und je mehr die Gesellschaft selbst individuelle Freiheit sichert." Im offenen Kontrast zu diesen herrschenden Anschauungen und den durch sie beeinflußten Verhaltensweisen in Staat und Wirtschaft stehen die anläßlich des Streiks von 200 000 Bergarbeitern des Ruhrgebietes im Jahre 1905 in einem Zeitungsbericht wiedergegebenen Zielsetzungen der Arbeitnehmer: "Der moderne Arbeiter will nicht nur Maschine, nicht nur das Opfer eifriger Subalterner sein. Er befürchtet die Abhängigkeit und Unsicherheit, in der er sich bei dem starken Angebot von billigen Arbeitskräften befinden muß, und er hat ein feines Gefühl für Ungerechtigkeit und für die egoistische Ausbeutung seiner Arbeitskraft." Für eine gewandelte Auffassung soll, und diese Verlautbarung soll an den Abschluß dieses kurzen Abrisses einer mehr als hundertjährigen Sozialgeschichte gestellt werden, ein Zitat aus dem Beginn der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts aus einer firmenamtlichen Veröffentlichung stehen: "Das Direktorium ... war vonjeher dem Grundsatz treu, daß es als Vertreter eines geschäftlichen Unternehmens nicht nur rein wirtschaftliche Interessen zu vertreten, sondern daneben in gemeinwirtschaftlichem Sinne auch für seine Arbeiter und Angestellten wie die Werksangehörigen überhaupt, zu sorgen und damit soziale und ethische Pflichten der verschiedensten Art zu erfüllen hat. "2

II. Die Entstehung einer eigenständigen Personalfunktion 1. Die Bedeutung W. Taylors für die personale Betriebsführung

Die sozialpolitische Gesetzgebung Bismarcks hat ihre Auswirkungen auf die Betriebe gezeitigt. Sie führte nämlich zu neuen verwaltungsmäßigen Institutionen oder zu Änderungen mancherorts bestehender Einrichtungen. Es vollzog sich auch eine Wandlung in der Art der industriellen Betriebsfüh2 Wohlfahrtseinrichtungen der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. bei Köln am Rhein, 1922, S. 1.

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rung. Die Betriebsgrößen nahmen zu. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges 1870/71 führten zu einer massenweisen Gründung von Großbetrieben, die nachteilige Auswirkungen auf das gewachsene Verhältnis von Unternehmer und Arbeitnehmer zeitigten. In den achtziger Jahren gab es einen Wandel vom "schlichten Tun" und dem reinen Verlaß auf die Erfahrung hin zur sogenannten "wissenschaftlichen Betriebsführung". Bannerträger einer solchen Entwicklung war der amerikanische Ingenieur Winslow Taylor ( 1856-1915), dessen Ziel es war, die schwierigen Fragen einer rationellen Betrachtung der betrieblichen Arbeit wissenschaftlich zu untermauern zwecks Hebung des Wirkungsgrades menschlicher Arbeit. Die wissenschaftliche Betriebsführung ermöglicht es dem Arbeiter nach seiner Auffassung, einen hohen Lohn und dem Unternehmer die Senkung seiner Gestehungskosten zu gewährleisten. Es komme einzig und allein auf eine maximale Rationalisierung der Arbeitsvorgänge bei Akkordentlohnung an. Ein Gegensatz der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehe unter solchen Voraussetzungen nicht. Taylor bezeichnete es als das Hauptziel des Unternehmers, Verluste zu vermeiden und den Nutzeffekt des industriellen Systems zu maximieren. Dies sei das A und das 0 aller wissenschaftlichen Betriebsführung. Der Unternehmer sei im Hinblick auf seine Arbeiter vor allem verantwortlich für - die eindeutige Bestimmung der Aufgabe des Arbeiters; - die Auswahl des rechten Mannes für die jeweilige Aufgabe; - die Motivation des Arbeiters, seine Aufgabe optimal auszuführen. Die zur Zielerreichung erforderlichen Techniken sollten bestehen in - dem Ablauf und der Methode der Arbeit; - der Bereitstellung der Werkzeuge und der Ausstattung des Arbeitsplatzes; - der Fixierung des für die Ausführung der Arbeit erforderlichen Zeitaufwandes. Dem Arbeitnehmer unterstellte Taylor ausschließlich wirtschaftliche Motive. Der "normale Arbeiter" (Begriff von Taylor) ist bei seiner Tätigkeit lediglich an der Vermehrung seiner materiellen Verdienste interessiert. Der allein arbeitende Mensch sei daran interessiert, gute Arbeit zu leisten, während der im Kollektiv tätige Mensch sich darauf einrichte, nicht mehr als sein Kollege zu leisten. Von Gruppenanreizen hat Taylor nichts gehalten. Schließlich dürfe die Verantwortung für die Arbeitsplanung nicht beim Arbeiter, sondern müsse in der Zuständigkeit eines Spezialisten liegen. Taylors System, auf das hier nur in seinen Grundzügen eingegangen werden kann, stellt einen wesentlichen Abschnitt in der Geschichte persona-

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ler Betriebsführung und den Beginn einerneuen Entwicklung dar. Ob Taylor als Ingenieur primär an menschlichem Wirken oder an methodischen und sachlichen Fragen interessiert war, ist umstritten und sei dahingestellt. Unbestritten ist, daß die Lehre vom Management seit Taylor neue Impulse erhalten hat: Das Konzept von der Bedeutung menschlicher Tätigkeit im Industriebetrieb hat sich durchgesetzt. Gegenüber früher hatte man unter Betriebsführung, soweit man sich überhaupt mit diesem Gebiet detailliert befaßt hatte, den Umgang mit Sachen und Methoden verstanden. Nun schien das Schwergewicht auf den Menschen, seine Motivation und seine Förderung verlagert zu werden.

2. Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Durchsetzung der Personalfunktion

In den Sozialwissenschaften sind es sehr früh die sogenannten Kathedersozialisten mit ihren Bestrebungen, beginnend im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts, gewesen, die auf das Phänomen des Menschen im Betrieb ihr Augenmerk richteten. Der "Verein für Socialpolitik" unternimmt eine erste große sozialwissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel "Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie" (1907), nachdem wenige Jahre zuvor bereits Max Weber eine Studie zu den "Ermüdungserscheinungen bei der Arbeit" vorgelegt hatte. Mit dem inzwischen klassisch gewordenen Werk von Hugo Münsterberg "Psychology and Industrial Efficiency" (1913) begann die individuale Industriepsychologie ihre ersten Früchte zu tragen. Es gab aber auch schon früher in der Soziologie bedeutsame Hinweise darauf, daß der Mensch nicht als ein beziehungslos im Raum befindliches Wesen anzusehen sei, welches im Interesse seiner Umwelt beliebig manipulierbar sei. Der englische Soziologe Herbert Spencer (1820-1903) führt in seinem grundlegenden Werk über das ,,Studium der Soziologie" (zweite deutsche Auflage 1875) einleitend Klage darüber, daß der Zusammenhang der sozialen Erscheinungen so wenig verstanden werde und betont, daß bei einer Betrachtung sozialer Erscheinungen immer wieder festgestellt werden könne, "daß die beabsichtigten und angeordneten besonderen Zwecke gewöhnlich nicht mehr als zeitweilig, wenn überhaupt, erreicht werden; die wirklich herbeigeführten Veränderungen sind daneben Ursachen entsprungen, deren Dasein selbst unbekannt war". Zu Beginn der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts begann man, sich mit dem Betrieb als einer sozialen Einheit zu befassen; man erkannte sie als eine menschliche Arbeitsgemeinschaft im Zusammenwirken mit Sachmitteln und erforschte deren Zusammenhänge. Bedeutende Namen auf diesem

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Gebiet sind: Goetz Briefs, W. Hellpach und Eugen Rosenstock-Huessy, um nur einige zu nennen. Einen besonderen Einfluß und weitreichende Folgen hat ein Forschungsprojekt erlangt, welches 1923 begann und sich über mehrere Jahre in den Hawthorne-Werken der General Electric in den USA erstreckte. Man wollte wissen, wie sich die menschliche Arbeitsproduktivität bei typisch repetitiven manuellen Aufgabenstellungen steigern ließe. Die Ergebnisse waren so überraschend und für die Ingenieure, die diese Untersuchung durchführten, aus ihrer Sicht so unverständlich, daß die Fortsetzung des Projektes an Sozialwissenschaftler abgegeben wurde. Auf einen kurzen Nenner gebracht, läßt sich das Ergebnis wie folgt zusammenfassen: Die Meinungen und Einstellungen von Arbeitnehmern, die man bisher als irrelevant angesehen hatte, hatten eine entscheidende Auswirkung auf die Produktivität und Effizienz der Arbeit. Es war ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchungen, daß die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Organisation und der Organisation als solcher interdependent sind, eine Erkenntnis, welche sich auch heute noch nicht allgemein durchgesetzt hat. In den USA hat dieses Ergebnis jedoch in vielen Fällen- insbesondere in größeren Unternehmen- dazu geführt, die Verantwortung für das Management von Personal und Organisationsangelegenheiten in einem Bereich zusammenzufassen. Das Hawthorne-Projekt ist zu einer wesentlichen Marke in der Entwicklung der betrieblichen Personalfunktion geworden. Es ist auffällig, daß der Faktor Personal in der Betriebswirtschaftslehre vor nicht allzu langer Zeit lediglich als Kosten- und Leistungsfaktor Beachtung fand. Lohnkosten, Stückleistung, Lohnabrechnung etc. waren die im Hinblick auf das Personal relevanten Themen in der Betriebswirtschaftslehre. Erst in neuerer Zeit findet eine gerechtere Betrachtung des Menschen als einem differenzierten Produktionsfaktor Beachtung. In diesem Zusammenhang ist der schweizer Betriebswirt Ulrich hervorzuheben, der in seinem Werk über "Die Unternehmung als produktives und soziales System" (Bern/Stuttgart 1970) unter anderem darauf hinweist, daß die Menschen unter den Systemelementen eine Sonderstellung einnehmen als das einzige lebende natürliche Element mit eigenem Bewußtsein und Willen: "Er kann initiativ und schöpferisch handeln und denken; er ist ein komplexes System mit großer Varietät und vielseitigen Verhaltensmöglichkeiten, daher für viele Funktionen einsetzbar. Er hat einen Eigenwert und kann nicht wie tote Materie behandelt werden; er ist das einzige Element mit Motivationen und Absichten ... " Der Mensch, so Ulrich weiter, "ist nur teilweise in die Unternehmung einbezogen und gehört gleichzeitig anderen sozialen Systemen an; er verbindet die Unternehmung mit der Umwelt".

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3. Die Gestaltwerdung der Personalfunktion im Unternehmen

Es kann kaum als Zufall angesehen werden, daß gewisse rudimentäre Vorstellungen von einem Personalmanagement (englisch: personnel management) zu fast gleicher Zeit in verschiedenen Ländern auftauchen. In England wurde im Jahre 1913 das "Institute of Personnel Management" ins Leben gerufen. In einer zum 50jährigen Bestehen dieses Instituts herausgebrachten Darstellung seiner Geschichte wird darauf hingewiesen, daß die industrielle Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts zu Verhältnissen führte, die es erforderlich gemacht haben, sich mit den sozialen Lebensumständen der Arbeitnehmer zu befassen. Damals sei mehr an die Technik als an die Menschen gedacht worden, die diese Technik in Gang hielten. Die Begründung lag vor allem in dem Glauben, daß der Wohlstand eines Landes allein vom Erfolg der industriellen Produktion abhängig sei. Es begann die Öffentlichkeit, sich mit der Frauen- und Kinderarbeit zu beschäftigen, ein Thema, welches das Parlament übernahm. Die Regierung wollte weibliche Fabrikinspektoren ernennen. In einem Dokument aus dem Jahre 1864 hieß es, daß "eine Aufsichtsführende weiblichen Geschlechts, verheiratet und von reifem Alter, für die gute Führung eines Betriebes und seine Moral ebenso wichtig ist wie das Material, das die Arbeitnehmerinnen bearbeiten". Die erste Fabrikinspektorin wurde tatsächlichjedoch erst 1893 ernannt. Fast zur gleichen Zeit tauchten innerhalb der Fabriken die ersten "Sozialarbeiterinnen" auf als Beauftragte der Betriebsleitungen. Im Jahre 1897 beauftragte man die ersten Gesundheitsinspektoren. Die Ende des Jahrhunderts aktiv werdenden Gewerkschaften haben zu einer Verstärkung der Tätigkeit der Sozialarbeiterinnen beigetragen. Die wachsende Konkurrenz auf dem Weltmarkt führte zu Unternehmenszusammenschlüssen; folglich wuchs der Abstand zwischen dem Unternehmer und seinen Arbeitnehmern. Die Einsicht, daß eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse nicht ohne Auswirkung auf das Betriebsergebnis blieb, führte dazu, sich sowohl um den körperlichen, sozialen wie bildungsmäßigen Status der Arbeitnehmer zu bemühen. Eine Anweisung der Schokolade produzierenden englischen Firma Rowntree an ihre sieben Sozialarbeiterinnen ( 1904) besagte: "Sie sind Beauftragte der Betriebsleitung; es werden von Ihnen Anregungen für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erwartet. Sie sollen einen guten Kontakt mit den Arbeiterinnen herstellen, ihr Vertrauen gewinnen, Beschwerden individueller wie auch kollektiver Art entgegennehmen, Spannungen schlichten und persönlich beraten." Rowntree war auch die erste Firma, die einen "Arbeitsdirektor" eingesetzt hat. Die Firma Cadbury, gleichfalls aus der Schokoladenbranche, vertrat die Ansicht, daß die Leistung im Betrieb und das Wohlbefinden der Arbeitnehmer nur zwei verschiedene Seiten des gleichen Phänomens seien.

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Als Aufgaben des Personalmanagements wurden angesehen: Auswahl der Arbeitnehmer, Ausbildung, Gesundheitsvorsorge, Sicherheit am Arbeitsplatz und die Sozialeinrichtungen. Als spätere Aufgabenbereiche kamen Lohnfindung und Betriebsorganisation hinzu. Wir haben in kurzen Zügen darstellen wollen, wie Schritt für Schritt sich entwickelte, was wir heute als Personalwesen und damit als den Aufgabenbereich eines Personalleiters ansehen. Aus dem Begriff des "social worker" ist in England bereits 1915 die Funktionsbezeichnung "employment manager" geworden. Vergleichbare Entwicklungen aus analogen Motiven haben sich auch in Deutschland vollzogen. Bei den Farbenfabriken Bayer in Leverkusen wurde im Jahre 1903 eine Wohlfahrtsabteilung gegründet; es oblag ihr die Verwaltung sämtlicher Wohlfahrtseinrichtungen. Im Jahre 1910 wurde als Leiter für diese Abteilung das Amt eines Sozialsekretärs geschaffen, "welcher bei etwaigen Differenzen zwischen Arbeitern und Betriebsbeamten eine vermittelnde Tätigkeit ausüben soll. Etwaige Beschwerden werden von dem Sozialsekretär durch Rücksprache mit den Beteiligten ganz unparteiisch geprüft ... ". Der Sozialsekretär soll "außerdem auch in allen persönlichen Angelegenheiten unseren sämtlichen Arbeitern, und besonders den jugendlichen Arbeitern, ratend und helfend zur Seite stehen". Im gleichen Jahr wurde eine "Fabrikpflegerin" für die weiblichen Arbeitnehmer eingestellt. Man könnte bei dieser Koinzidenz der Einrichtung von Funktionen für das Personal fast von Wechselwirkungen über nationale Grenzen ausgehen. Die Schaffung solcher Funktionsbereiche für Personal bedeutet natürlich einen Macht- und Einflußverlust für betriebliche Führungskräfte, welche zu jener Zeit ziemlich unbeschränkt die Herrschaft in ihren Betrieben ausübten. Reaktionen über solche Machtbeschneidungen sind erkennbar und belegbar; so z. B. wenn ein Bericht über "Die Aufgaben der Sozialbeamten", erstellt aufgrund einer Konferenz von Sozialbeamten·in Frankfurt/M. im Jahre 1912, nur als Manuskript gedruckt und mit "vertraulich" gekennzeichnet, vorliegt. Offenbar sollte dieser Bericht, auf den wir nachstehend eingehen, zur damaligen Zeit keine weitere Verbreitung erfahren, um möglichen Unwillen und Widerstand zu vermeiden. Als Beteiligte an dieser Konferenz werden neunzehn Funktionsträger genannt, welche überwiegend Firmen aus der chemischen und Metallindustrie wie auch der optischen Industrie angehören. Andere Teilnehmer der Konferenz vertreten gemeinnützige Institutionen. Es handelt sich offensichtlich bei allen Personen um leitende Funktionsträger. Die Veranstaltung rankt sich um ein ausführliches Referat über "Aufgabengebiet und Arbeitsmethode eines Leiters der Wohlfahrtseinrichtungen". Der Referent bezeichnet als Grund für die Schaffung einer Direktorenstelle

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eines mittelgroßen Werkes der Papierindustrie seine besondere geographische Lage, welche seiner Arbeitnehmerschaft keine große Auswahl für ihren Arbeitsplatz läßt. Die Belegschaft ist ziemlich konstant; häufig sind mehrere Generationen von Mitarbeitern im Unternehmen tätig bzw. waren es. Die Arbeitsbeziehungen werden als im guten Sinne patriarchalisch bezeichnet. Als Ziel der bestehenden Sozialeinrichtungen wird wirtschaftliche, gesundheitliche und kulturelle Förderung der Arbeiter bezeichnet. Es gehe nicht darum, den Arbeiter abhängig zu machen oder ihm einen niedrigeren Lohn zu zahlen, sondern das Ziel sei eine Heilung von sozialen Schäden. Ein nur wenige Tage dauernder Ausstand im Jahre 1906 habe dazu geführt, für die Verwaltung der Wohlfahrtseinrichtungen, die bisher von verschiedenen Beamten nebenher ausgeübt worden sei, eine Abteilung zu gründen und mit ihrer Leitung einen Beamten zu beauftragen. Die Aufgabengebiete seien: Sämtliche Tätigkeiten, die durch die sozialen Versicherungsgesetze entstehen; die Verwaltung von Stiftungen und sonstigen freiwilligen Sozialeinrichtungen; die Leitung der Rechtsauskunftsstelle und der Fabrikfortbildungsschule. Der ,,Sozialbeamte" habe gemäß seinem Auftrag bestimmend auf das Verhältnis zwischen Fabrikant und Arbeiter einzuwirken sowie Einfluß auf die Lohnverhältnisse in Zusammenarbeit mit den Betrieben zu nehmen. Hierbei sei es seine Aufgabe, auf die Vermeidung einer lohnmäßigen Konkurrenz der Betriebe untereinander zu achten. Die endgültige Lohnfestsetzung erfolge in einer Konferenz mit dem Inhaber, den Betriebsdirektoren und dem Sozialbeamten, wobei es zuweilen zur Aufgabe des Sozialbeamten wird, ausgleichend bei unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu wirken. Der Sozialbeamte ist weiterhin für die Entscheidung über Vorschüsse und Darlehen zuständig; bei Einstellungen und Entlassungen wirkt er mit, wobei der Referent auf die möglichen Pressionen, denen er von verschiedenen Seiten ausgesetzt ist, hinweist. Wenn es auch seine Aufgabe ist, die politische Szene und das politische Geschehen zu beobachten, so sollte er sichjedoch sehr vor einer Gesinnungsschnüffelei hüten. Als Vorsitzender der Betriebskrankenkasse ist er auch für den Gesundheitsschutz und hygienische Maßnahmen verantwortlich; ferner auch für den Unfallschutz und die erste Hilfe bei betrieblichen Unfällen. Seiner Aufsichtspflicht unterstehen auch die Betriebsverpflegung und das Wohnungswesen. Wichtige Aufgabe des Sozialbeamten sei eine sehr enge Verbindung mit den Betrieben und zu deren Funktionsträgern. Er sollte nicht vom "grünen Tisch" arbeiten und seine Aufgabe im Erlaß von Verfügungen sehen. Popularitätssucht sei nachteilig. Eine weitgehende Selbstverwaltung der Wohlfahrtseinrichtungen sei anzustreben, jedoch müssen die Zügel in der Hand behalten werden.

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Vom Sozialbeamten werde verlangt, daß er eine Persönlichkeit sei, die in ihrem Urteil gerecht, im Auftreten bestimmt, jedoch mit einem warmen Herz für die ihm anvertrauten Arbeiter. Methoden seien nicht entscheidend, wohl aber die Persönlichkeit. 4. Faktoren, die zur heutigen Situation der Funktion des Personalleiters beigetragen haben

Wir halten den vorstehenden Bericht über die Aufgaben und die Stellung des Sozialbeamten aus der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg für ungemein aufschlußreich. Wir erhalten nicht nur bedeutsame Informationen; er ist auch in seiner gesamten Auffassung und in der ethischen Einstellung zu dem komplexen Bereich bemerkenswert und eindringlich. Aus diesem Grund sind wir auf dieses Dokument näher eingegangen. Im nun folgenden Abschnitt sollen mehr zusammenfassend diejenigen Faktoren angesprochen werden, welche zur derzeitigen Situation des Personalwesens beigetragen haben. Doch zuvor eine kurze Stellungnahme zum Begriff des Personalwesens, so wie er sich heute entwickelt hat. Unter dem Bereich Personalwesen verstehen wir die Summe der Organisationseinheiten eines Unternehmens, in dem alle Fragen zusammenlaufen, die das Personal betreffen; in welchem Problemlösungen entwickelt und die Voraussetzungen geschaffen werden für ihre Einführung und Durchführung in der betrieblichen Praxis. Es handelt sich um Fragen, die sich ergeben aus - der Eigenart des Menschen als Individuum und Glied von Gruppen; - den Existenzbedingungen des arbeitenden Menschen im Betrieb; -dem Verhältnis von Mensch und Technik; -dem Verhältnis von Mensch und Umwelt; - der besonderen Situation von Menschen in Organisationen; - dem Zusammenwirken von sozialen, technischen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten; - der Pflege, der Ersetzung und dem Einsatz des Produktionsfaktors Mensch; - den Bedingungen, die sich aus der Zusammenarbeit von Menschen ergeben; -der Notwendigkeit zunehmender Qualifikation der Menschen (Bildung im Betrieb, Weiterbildung, berufliche Förderung); - den besonderen Anforderungen in übergeordneten Positionen, sowie aus der betrieblichen Verantwortung für den Menschen.

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Wir wollen uns nunmehr denjenigen Faktoren zuwenden, die im Laufe einer jahrzehntelangen Entwicklung dazu beigetragen haben, dem Personalwesen seinen heutigen Rang zu verschaffen und einen so differenzierten Aufgabenbereich zu gestalten, wie wir ihn oben versucht haben darzustellen. Es wird dies in thesenhafter Form geschehen: Solche Faktoren sind in Betracht zu ziehen: -Wachsende Unternehmens- und Betriebsgrößen, bedingt u. a. durch die Veränderungen der eingesetzten Energien, Antriebs- und Fertigungsmaschinen; durch den Übergang zur Groß-, Serien-, Massen- und Fließbandfertigung; durch das Aufkommen der verschiedenen Stufen der Automation; den Wandel in den Formen der Finanzierung, Veränderungen im Gesellschaftsrecht sowie die horizontale und vertikale Konzentration. - Eine zunehmende funktionale und strukturelle Komplexität und Variabilität der Arbeitsorganisation, resultierend aus der Spezialisierung, Mechanisierung, Automatisierung und Rationalisierung der Produktions-, Verwaltungs- und Verteilungsprozesse; die Vermehrung der technischen Innovationen und deren Beschleunigung; dem Übergang vom naiven Empirismus zur Anwendung systematisierten Wissens in sämtlichen Unternehmensbereichen. - Neue Arbeits- und Berufspositionen, die sich durch die Veränderung des Systems der Arbeit aufgrund technischer Einflüsse entwickeln: die Zahl der ungelernten Arbeiter vermindert sich bei einer steigenden Anzahl von angelernten und Facharbeitern; die Anzahl der Angestellten steigt in ihrem Verhältnis zu den Arbeitern; die Anzahl der auf Fachhochschulen und Hochschulen vorgebildeten Mitarbeiter hat steigende Tendenz. - Die rechtliche und wirtschaftliche Situation der gesamten Arbeitnehmerschaft wandelt sich durch zunehmende arbeits-, tarif-und sozialrechtliche Absieherungen der Arbeitsverhältnisse; die betriebsverfassungsmäßige Mitbestimmung der Betriebsräte sowie der Einfluß der Gewerkschaften. - Die Kosten des Produktionsfaktors Arbeit sind in einem ständigen Ansteigen begriffen; die Arbeitszeit nimmt ab und wird flexibilisiert. -Der Umfang der betrieblichen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen steigt an zwecks Gewinnung eigenen Nachwuchses und der Anpassung an die nach Art, Inhalt und Ausführung in ständigem Wandel begriffenen Arbeitsaufgaben. - Die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften über den Einfluß des Einkommens, die Arbeitsgestaltung, das Betriebsklima, die formale und informale Organisation sowie die Wirkungen des Aufsichts- und Führungsstils auf Zufriedenheit, Motivation, Leistung, Fehlzeiten und Fluktuation der Arbeitnehmer und damit auf die Rentabilität im Unternehmen.

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- Die Veränderungen in den Einstellungen der Arbeitnehmer in bezug auf ihre Arbeit, den Beruf und den Betrieb; die erweiterte schulische und berufliche Ausbildung wirkt sich auf ein gestärktes Selbstbewußtsein und ein zunehmendes Streben nach erweiterter Selbständigkeit aus. -Veränderungen in der Philosophie vom Management sowie der Wandel im Zeitgeist bewirken eine tendenzielle Wandlung in den Anschauungen über funktionale Autorität bzw. einen autoritären im Übergang zum kooperativen Führungsstil in ihrer Auswirkung auf eine Hebung der Motivation und Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter. Diese Faktoren, deren Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, haben dazu geführt, daß die im Personalbereich sich stellenden Aufgaben und Probleme an Zahl, Art und Umfang beträchtlich zugenommen haben. Die Schwerpunkte der Personalarbeit verlagerten sich mithin von den eher "betreuenden", ehemals patriarchalischen Charakter tragenden Aufgaben, hin zu integrierenden Zielsetzungen mit dem wachsenden Schwerpunkt auf der Arbeitsmotivation sowie der Auffassung vom mündigen Menschen. Rückblickend ist festzustellen, daß sich seit den sechziger Jahren die Tendenz zu einer integrierten Personal- und Sozialpolitik zum Zweck einer optimalen Zielerreichung durchgesetzt hat. Die bislang von verschiedenen Unternehmens- und Betriebsbereichen wahrgenommenen personellen und sozialen Aufgaben sind in einer speziell für die Planung, Vorbereitung, Durchführung und Überwachung aller dieser Aufgaben zuständigen Direktion zusammengeführt worden. Insbesondere das Mitbestimmungsgesetz 1976, welches für Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmern die Position des Arbeitsdirektors im Vorstand bzw. in der Geschäftsführung festschreibt, hat für diese Entwicklung einen besonderen Stellenwert. Zielsetzung vorstehender Betrachtungen war der Hinweis und die Unterstreichung der Fülle von Entwicklungen und Einflußnahmen, die dazu geführt haben, die Stellung des Menschen im Produktionsprozeß, in welchem seine Arbeitskraft eingebunden ist, seit dem Beginn des industriellen Zeitalters grundlegend zu verändern. Dem Menschen ist ein deutlich markierter Freiraum geschaffen worden, in welchem er sein Menschsein verwirklichen kann. Mit dieser Feststellung soll keineswegs besagt sein, daß wir am Endpunkt einer Entwicklung angelangt wären; sowohl die sachlichen Gegebenheiten, die Entwicklung der Technik, wie auch die Einstellungen der Menschen sind ständig im Fluß. Worauf es ankommt ist, daß es immer von neuem gelingt, in der jeweiligen Situation ein Gleichgewicht der verschiedenen Faktoren zu erzielen.

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5. Zum Berufsethos eines Personalleiters

Mit der Bezeichnung Personalleiter belegen wir einen Funktionsträger, welcher den Bereich Personalwesen in den obersten Führungsstufen vertritt. Der Personalleiter ist mithin zuständig für die zusammengefaßte Verantwortung des Faktors Personal. Darüber hinaus wird derjenige Funktionsträger als Personalleiter bezeichnet, der an der Spitze des Bereichs Personalwesen in einem Unternehmen, gleich welcher Größenordnung und hierarchischen Gliederung, tätig ist. Die Entwicklung der Tätigkeit des Personalleiters zu einem Beruf ist erst jüngeren Datums. Beigetragen hat hierzu in einem bestimmenden Ausmaß die Ausweitung der Mitbestimmung und ihre Kodifizierung, die Novellierung der Betriebsverfassung wie auch die Intensivierung staatlicher Sozialpolitik. Zur allmählichen Entwicklung der Tätigkeit des Personalleiters zu einem Beruf hat auch die Einrichtung zahlreicher Lehrstühle und Lehraufträge in Hoch- und Fachhochschulen in der Bundesrepublik beigetragen, die auf dem Gebiet der Forschung und Lehre für das Personalwesen tätig sind. Die Besonderheit der Aufgabenstellung des Personalleiters bringt es mit sich, daß für seine Tätigkeit in der Praxis eine akademische Fachausbildung ebenso wenig allein ausreichend sein kann, wie dies für den Arzt, den Theologen, den Pädagogen gilt, d. h. für sämtliche Berufe, die sich mit dem Menschen unmittelbar befassen. Eine theoretische Ausbildung ist bei den komplexen Aufgaben des Personalleiters, welche auf einer großen Anzahl von Fachdisziplinen beruhen, erforderlich. Berufsfertig wird ein Anwärter auf die praktische Tätigkeit als Personalleiter jedoch erst nach einer längeren Zeit der Erfahrungs- und Erkenntnissammlung in der betrieblichen Praxis. Intellektuelle Erkenntnisse müssen in eine harmonische Zusammenschau mit aus der Erfahrung gewonnenen Einsichten eingehen. Der berufsfertige Personalleiter sollte sich sowohl als Träger fachlicher Kenntnisse wie praktischer Berufserfahrungen ausweisen. Hierzu gehört auch die allzeit bereitwillige Befassung mit den Grundsatzfragen des betrieblichen Personalwesens; die Bereitschaft zum kritischen Nachdenken über das eigene Tun und Handeln. Der Personalleiter, welcher den komplexen Anforderungen des Bereiches Personalwesen in einem Unternehmen gewachsen sein will, muß zu ständig neuen und erneuerten Einsichten in seinen Aufgabenbereich bereit sein. Es genügt für die Tätigkeit eines Personalleiters nicht, sein Hauptaugenmerk auf analytische Methoden, Instrumente und Verfahren und ihre Anwendung in der Praxis zu richten. Zwar hat die Entwicklung der Bedeutung des Personalwesens es mit sich gebracht, daß man sich in vielfältiger Weise mit den für die operative Tätigkeit erforderlichen Instrumentarien im Unternehmen befaßt hat. Die Literatur über die Formen der Handhabung im

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Betrieb, wie beispielsweise Personalplanung, Statistik, Fragebogen aller Arten, die Personalbeurteilung, Führungsrichtlinien oder die Formalisierung von Mitarbeitergesprächen, haben die Aufmerksamkeit von Spezialisten und Wissenschaftlern gefunden. Alle diese sind jedoch Instrumente; sie sollten als Mittel gewertet werden, keinesfalls als Endzwecke. Über die Person des Personalleiters und sein Wirken ist viel weniger nachgedacht worden. Zwar gibt es Darstellungen und auch wissenschaftliche Untersuchungen über sein Anforderungsprofil in fachlicher wie auch in persönlicher Hinsicht. Es haben angesichts der Gesetze über die Mitbestimmung und die Betriebsverfassung intensive und in die Breite gehende Diskussionen über die Einordnung des Personalleiters in die Hierarchie des betrieblichen Führungsmanagements stattgefunden. Hierbei handelt es sich jedoch um mehr formale Aspekte; Überlegungen zu den Grundsatzfragen des Aufgabengebietes eines Personalleiters, zu seinem Verhalten und seiner Grundeinstellung gegenüber solchen Grundsatzfragen, man kann sie auch Inhalte nennen, haben bisher nur relativ selten stattgefunden und das auch nur in Form vereinzelter Hinweise auf seinen ethischen Handlungsbedarf. Soweit ich die Literatur im europäischen und amerikanischen Bereich überblicke, hat diese Feststellung auch dort ihre Gültigkeit. Ethisches Verhalten ist für den Personalleiter von besonderer Bedeutung, weil sich sein Handeln auf den Menschen richtet; weil er für Menschen verantwortlich ist unter den besonderen Bedingungen wirtschaftlicher Produktion. Hiermit soll nicht gesagt sein, daß ausschließlich das Handeln des Personalleiters ethischer Motivation bedarf. Es trifft dies gleichfalls für alle Manager zu, die in ihrem Funktionsbereich Aufgaben der Personalführung für ihre Mitarbeiter wahrzunehmen haben. Ihnen obliegt gleichfalls die Verpflichtung zu ethischem Verhalten. Dennoch gilt für den Personalleiter, daß er häufiger und richtungweisender mit Fragen ethischer Natur befaßt ist. Die dem Personalleiter zufallende Aufgabe und Verpflichtung, auf die Gültigkeit, die Anwendung und die Einhaltung der Prinzipien ethischen Verhaltens unter gegebenen Umständen einzuwirken, verlangen von ihm Vorbildhaftes Verhalten, denn nur diese Möglichkeit besteht, seinem Auftreten überzeugende Wirksamkeit zu verleihen. Der Personalleiter ist Linienvorgesetzter des Bereiches Personalwesen. Somit steht er ständig im Blickfeld sämtlicher Führungsbeauftragten des Unternehmens, insbesondere in der Art und Weise, wie er den Führungsauftrag seinen eigenen nächsten Mitarbeitern gegenüber wahrnimmt. Einen Teil seiner Akzeptanz seitens der Führungsbeauftragten in der Linie des Unternehmens bezieht er aus diesem Verhalten. Es betrifft dies vor allem die Glaubhaftigkeit von Appellen, die er im Hinblick auf die Wahrung ethischer Prinzipien an seine Manager-Kollegen wie auch die Führungskräfte aller

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Ebenen richtet. Eine vorbildhafte Erfüllung seines eigenen Führungsverhaltens verleiht ihm Autorität. Wenn es einem Personalleiter nicht gelingt, eine Glaubwürdigkeit seiner Haltung und seines Verhaltens aufzubauen, bleibt er ein Funktionär, der seine Tätigkeit nicht mit seinem persönlichen Beispiel erfüllt. Es gelingt ihm nicht, seiner Funktion sein persönliches, dem Menschen zugewandtes Profil zu geben. Es kann ihm auch nicht gelingen, das Vertrauen der Menschen, für deren Wohlbefinden im Unternehmen er wirken soll, zu gewinnen. Ein Personalleiter, so wie wir ihn sehen, ist ein typisches Beispiel des Managers, dessen Wirken überwiegend aufpersonaler Autorität beruht. Er ist ohne eine gelebte Vorstellung von Moral; ohne das Bewußtsein für die Personhaftigkeit des Menschen im Produktionsprozeß tätig zu sein; ohne die Verantwortung für den Menschen zu wirken, wie ein Halm, hin- und hergeschaukelt von den tagtäglich an ihn herantretenden unterschiedlichen komplexen Anforderungen. Die Menschen legen an ihn den Maßstab der Verläßlichkeit im Hinblick auf seine Grundeinstellung und sein Verhalten an. Verläßlichkeit bedingt, daß das, was er sagt und verspricht, sehr wohl bedacht ist, auch in Hinsicht darauf, was sich in Zukunft einmal aus einer solchen Zusage ergeben könnte. Ethisches Verhalten beruht nach Rupert Lay3 auf einer absichtsvollen sittlichen Einstellung gegenüber dem Menschen in der realen Welt. Eine solche sittliche Einstellung findet ihren Ausdruck in der überlegten Abwägung organisatorischer, wirtschaftlicher, sozialer und technischer Bezüge. Der Würde des Menschen wird dann Rechnung getragen, wenn er als einzelner in dieser so weitgehend mit Organisationen überzogenen Welt die Grundlagen seiner Existenz entsprechend seinen eigenen ethischen Vorstellungen gestalten kann. Ethik ist eine Lehre vom menschlichen Handeln, von Tugenden getragen. Sie hat einen ausgesprochenen Zusammenhang mit der Praxis. Dies möge der Personalleiter allzeit im Auge behalten.

3

Rupert Lay, Ethik für Wirtschaft und Politik, München 1983, S. 7.

II Symposion

MARION HÜCHTERMANN UND WINFRIED SCHLAFFKE

Industrielle Institutionen in der technischen Zivilisation I. Technische Zivilisation

Die Technik ist zu einer entscheidenden Einflußgröße bei der Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft geworden. Sie prägt Sprache und Bewußtsein, steuert ökonomische und soziale Prozesse, verändert den Alltag und die Arbeits- und Berufswelt. Die Organisation der Arbeit ist immer mehr von Technik bestimmt: "Kulturgeschichtlich gesehen ist der Prozeß der Technisierung von Arbeit in einer Intensität vorangetrieben worden, der es erlaubt, von unserer Zeit als einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation zu sprechen." 1 Immer hat es aber auch skeptische, kritische bis hin zu feindlichen Stimmen gegenüber der Technik gegeben, ihre Entwicklung und ihre Einflüsse auf den Bereich der Arbeit waren auch immer von "Verteufelung" begleitet. Die populäre Vorstellung von der zukünftigen, im Zuge der Automation entstehenden, "menschenleeren Fabrik" durchzieht seit dem Beginn dieses Jahrhunderts immer wieder die Diskussion. Ebenso wurden aber die Chancen erkannt und empirisch belegt, die den durch Technik veränderten Arbeits- und Produktionsbedingungen und -gestaltungen innewohnen. Papalekas beobachtete bei einer Untersuchung im Bereich der Chemie, daß die Arbeiter - von Routinetätigkeiten entlastet wurden - mehr durch Kontrolle und Beaufsichtigung des Produktionsvorganges gefordert waren - dementsprechend neue Leistungen erbringen mußten und mehr und mehr zum Entscheidungsträger wurden. 2 Eine solche Entwicklung hat sich auch mit weiter fortschreitender Technisierung durch Computer und Mikroelektronik fortgesetzt, wiederum begleitet von kritischen bis ablehnenden Haltungen.

1 2

11•

Petermann, 1984, S. 15. Papa1ekas, Automatisierung, 1966, S. 10ff.

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Marion Hüchtermann und Winfried Schlaffke

Die Technikkritik hat zu Recht das Problembewußtsein unserer Gesellschaft gestärkt. Dies ist ein großes Verdienst. Sie hat aber auch große Chancen übersehen, verdeckt oder deren Verwirklichung verhindert. Nehmen wir als Beispiel eine gegenwärtige Schlüsseltechnik von zentraler Bedeutung, die Mikroelektronik: Die Mikroelektronik wurde von der Kulturkritik als Feind Nr. 1 angesehen: Sie zerstöre, wie keine andere Technologie zuvor, die Freiheit der Menschen. Mit der Computerisierung drohe die Technik zur Herrschaft zu gelangen und die Menschen einer schlimmeren Sklaverei zu unterwerfen, als sie es je gegeben habe. Der Mensch werde zum homo computer - ein auf logisch rationale Funktionsfähigkeit reduziertes Wesen von spezialistischer Eindimensionalität. Folgende Thesen gehören zu den Standardvorwürfen vieler Sozialwissenschaftler und Publizisten: -Die Mikroelektronik werde bereits Mitte der 80er Jahre so viele Arbeitsplätze vernichtet haben, daß 3,5 Millionen Arbeitslose vornehmlich auf ihr Konto kämen. - Die Mikroelektronik werde den Trend zur Arbeitszerlegung weiter verschärfen und schließlich vor allem zu inhaltsleeren und sinnentleerten Tätigkeiten führen. - Den Heerscharen mit inferioren Tätigkeiten beschäftigter Mitarbeiter (Dequalifizierung) würde eine nur kleine Gruppe hochqualifizierter und mächtiger Manager in zentralen Schaltstellen gegenüberstehen (Polarisierung). - Die Mikroelektronik - Computerisierung, Terminalisierung und Zentralisierung- mache die Menschen zu Sklaven ihrer eigenen technischen Schöpfungen. Diese düsteren Prognosen über die Auswirkungen der Mikroelektronik sind weder in vollem Umfang noch im Trend eingetroffen. Je mehr Anwendungsbereiche die Mikroelektronik erfaßt, desto deutlicher zeichnet sich die Chance ab, mehr Entwicklungsmöglichkeiten und Freiräume für die Menschen zu schaffen. Nach einer vom Institut der deutschen Wirtschaft vorgelegten Betriebsuntersuchung3 sprechen die befragten Zielgruppen in den Unternehmen folgende tendenzielle Zukunftserwartungen aus: I. Arbeitsplätze werden nicht gefährdet, wenn Hoch- und Spitzentechniken eingesetzt werden. Eine hohe Produktivität im industriellen Bereich schafft auch die Voraussetzung dafür, daß der beschäftigungsintensive private Dienstleistungssektor wachsen kann. 3

Göbel I Schlaffke (Hrsg.), Die Zukunftsformel, 1987.

Industrielle Institutionen in der technischen Zivilisation

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2. Neue Techniken, von der CNC-Maschine bis zum CIM-Konzept, sind nicht ,intelligente', sondern ,tote' Werkzeuge, die erst durch den Gestaltungswillen und die Zielsetzung des Menschen lebendig werden. Die Bedeutung des Mitarbeiters im Betrieb nimmt nicht ab, sondern ständig zu. 3. Rechnergesteuerte Fertigungssysteme sind präzise, fleißig, monotonieunempfindlich und flexibel. Sie entlasten die Menschen von Routinetätigkeiten. Die Mitarbeiter müssen mehr überwachen und warten; Prozesse planen und organisieren; kreativ und problemlösend wirken. Ein Trend zur Höherqualifizierung ist unübersehbar. 4. Isolierungen und Spezialisierungen weichen zunehmend der Integration und Verzahnung früher getrennter Aufgabenbereiche. Die Unternehmen greifen zu neuen Formen der Arbeitsstrukturierung. Der Trend der Vergangenheit, Arbeit immer weiter zu zerlegen, verlangsamt sich und wird in vielen Bereichen sogar rückgängig gemacht. 5. Mit zunehmender Flexibilität erwachsen den Mitarbeitern neue Gestaltungsfreiräume. Die menschliche Arbeitszeit ist nicht mehr unbedingt an die Laufzeiten der Maschine gebunden; sie kann daher frei gestaltet werden. Die Fertigung wird so flexibel, daß es zunehmend besser gelingt, individuell gestaltete Produkte in kleinen Stückzahlen zu produzieren, ohne daß horrende Mehrkosten entstehen. Das Ende des Zeitalters der Massenproduktion steht bevor. 6. Mit veränderten Betriebsstrukturen ändert sich auch das Verhalten der Führungskräfte. Der Vorgesetzte ist nicht mehr in erster Linie Aufgabenzuweiser und Kontrolleur, sondern Informationsvermittler und Diskussionspartner, der auch von den gesellschaftspolitischen Aspekten neuer Technologien wissen muß. Hierarchisch autoritäre Führung hat in modernen Unternehmen keine Zukunft, sie weicht kooperativen Formen. Diese wachsenden und sich verändernden Gestaltungsräume in den Unternehmen stellen diese vor neue Probleme und neue Aufgaben. Insgesamt hat der durch technische und gesellschaftliche Veränderungen hervorgerufene Strukturwandel in vielen Unternehmen zu grundlegenden Auseinandersetzungen mit diesen Veränderungen und sich für die Unternehmen daraus ergebenden Funktionserweiterungen und -wandlungen geführt.

II. Industrielle Institutionen

1. Zum Begriff der ,Institution' Nicht alle Bereiche menschlichen Lebens können der Spontaneität oder der individuellen Initiative überlassen bleiben, sie bedürfen vielmehr einer

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überindividuellen Ordnung sowie Einrichtungen von Dauer, die für das menschliche Zusammenleben notwendige Aufgaben erfüllen und fundamentale Bedürfnisse sichern. Diesen Sinn und Zweck erfüllen ,Institutionen' als stabile, relativ dauerhafte Muster von strukturierten Beziehungsgeflechten sozialer Gebilde innerhalb einer Gesellschaft, die den einzelnen wiederum in das gesellschaftliche Ganze einordnen. Demzufolge sind Institutionen "die jeweils kulturell geltende, einen Formzusammenhang bildende, durch Sitte und Recht öffentlich garantierte Ordnungsgestalt, in der sich das Zusammenleben von Menschen darbietet". 4 Dies impliziert auch einen stabilisierenden und normativen Charakter von Institutionen, die von den Beteiligten akzeptiert und als verpflichtend genommen werden. Der Begriff der Institution erfaßt somit "einen Teilbereich der verhaltensregelnden Normen, nämlich jene gebotenen Handlungsweisen, die formell ausgestaltet, ausdrücklich formuliert ( oft auch schriftlich fixiert), organisiert, d. h. institutionalisiert sind, wodurch in bes. eindeutiger Weise festgelegt ist, wie man sich als Mitglied einer organisierten Gruppe zu verhalten hat". 5 Für eine Theorie der Institutionen hat sich zum einen ein kulturanthropologischer Ansatz herausgebildet, der- im oben genannten Sinne- Institutionen als gesellschaftliche Einrichtungen zur Stabilisierung des menschlichen Verhaltens betrachtet. Zum anderen betont ein struktural-funktionaler Ansatz vor allem die Bedeutung der Institutionen für die Selbsterhaltung des sozialen Systems innerhalb der Gesellschaft Obwohl Institutionen als selbstverständlich und unveränderlich erscheinen und auf Stabilität und Dauer eingerichtet sind, sind sie keineswegs statisch, sondern fortlaufendem Wandel - analog den gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen- und dynamischen Prozessen von ,Institutionalisierung' und ,Entinstitutionalisierung' unterworfen: Sie verändern sich, lösen sich auf, bilden sich neu. Mit zunehmender sozialer Differenzierung, mit dem Wachsen sozialer Gebilde innerhalb einer Gesellschaft und mit dem entsprechenden gesellschaftlichen Fortschritt werden immer mehr Institutionen für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig. Dies gilt ebenso für den Bereich der Wirtschaft, der mit wachsender Arbeitsteilung und intensiverer Produktion Institutionen als normativen und stabilisierenden Gefügen bedurfte und bedarf. Deutliche Beispiele für das Entstehen, Wachsen, Sich-Verfestigen und letztlich - überholt von wirtschaftsstrukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen - Sich-Auflösen einer Institution bilden für den gewerbli4

5

Wörterbuch der Soziologie, 1972, S. 371. Staatslexikon, 1959, S. 330 f.

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eben Produktionsbereich die mittelalterlichen Zünfte, für den landwirtschaftlichen Bereich die Allmende. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelt sich ein neuer Typus von Institutionen, "nämlich die I(nstitution), die eines selbständigen Trägers bedarf und wo mit der I(nstitution) zugleich ein solcher Träger mitgeschaffen wird bzw. mitwächst, sei es eine Korporation oder eine Genossenschaft, sei es eine Behörde". 6 Im Zuge einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der holistische Ansätze eine stärkere Beachtung finden und diskutiert werden, sind auch die Einrichtungen der Institutionen gefordert, keine getrennten, spezialisierten Funktionen wahrzunehmen, sondern verschiedene Rationalitätsformen zusammenzuführen. "Es geht darum, der rationalistischen Ausdifferenzierung durch komplexe und übergreifende Perspektiven zu begegnen, Interdependenzen und Interpenetrationen zu berücksichtigen, in größeren Zusammenhängen zu denken."7 Im Bereich der Wirtschaft ist zwar Arbeitsteilung zunächst vorangeschritten, eine ,monofunktionale Ausdifferenzierung' 8 im Webersehen Sinne ist in letzter Konsequenz nicht erfolgt. Vielmehr durchdringen sich verschiedene Bereiche; für die Bereiche Wissenschaft und Wirtschaft ist dies ersichtlich am Beispiel der Forschung und Entwicklung in der Industrie. So sind auch in den Unternehmen Tendenzen zu immer weniger Ausdifferenzierung im modernen Sinne zu erkennen. Als ,autonome Leistungsgefüge'9 haben sie zwar die ökonomische Funktion der betriebswirtschaftliehen Gewinnoptimierung, sie engagieren sich aber auch im wissenschaftlichen, kulturellen oder politischen Bereich (,Multifunktionalität'). 2. Die ,Institution Unternehmen' Dementsprechend greift die Definition eines Unternehmens lediglich als ,Stätte der technischen Herstellung von Gütern' 10 zu kurz und reicht zur Kennzeichnung eines Unternehmens und seiner Rolle in der Gesellschaft bei weitem nicht aus. Götz Briefs spricht von einem "institutionellen Gebilde", in dem Menschen auf der Grundlage eines "Zweckmittelsystems für die Staatslexikon, 1959, S. 330. Welsch, 1987, S. 55. 8 Koslowski, 1987, S. 90. 9 vgl. Fürstenberg, 1977, S. 183. 10 Schelsky, Soziologie, 1955, S. 182. 6

7

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laufende Bedarfsversorgung kooperieren"Y So begreift die moderne Betriebssoziologie das Unternehmen primär als Organisation menschlicher Kräfte und sieht es als "ein eigentümliches und selbständiges soziales Gebilde"12 an. In diesem Zusammenhang findet auch der Begriff der Institution Anwendung auf Unternehmen, "insofern darunter ein auf Dauer gestelltes und versachlichtes soziales Verhaltens- und Funktionsgefüge verstanden wird, das zu einem Teil der öffentlichen Ordnung geworden ist". 13 Auch Ralf Dahrendorf charakterisiert Wirtschaftsunternehmen mit Hilfe verschiedener Komponenten, die einen institutionellen Charakter verdeutlichen und auch Multifunktionalität aufzeigen. Es sei - gerichtet auf das ökonomische Ziel der Produktion von Gütern - strukturiert durch ein System von technischen Mitteln - bestätigt durch einen rechtlichen Status - ein System von sozialen Rollen - bestimmt durch die jeweiligen gesellschaftlichen Wertsetzungen 14 3. Die Institution Unternehmen in der Gesellschaft: Ökonomische Bestandssicherung und soziale Verantwortung

Die Wirtschaft als System ist grundsätzlich ausgerichtet auf die Produktion und Verbreitung von und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Unternehmen handeln zunächst nach dem Wirtschaftlichkeitsprinzip, das einen effizienten Mitteleinsatz zur Erreichung des primären Unternehmenszieles - nämlich profitabel zu wirtschaften - vorsieht. Dementsprechend unterliegen Unternehmen als wirtschaftliche Leistungseinheiten ökonomischen Sachzwängen: Wettbewerbsbedingungen engen den Spielraum ein; zur Selbsterhaltung der Unternehmen ist die Beachtung betriebswirtschaftlicher Kriterien wie Kostenwirtschaftlichkeit, Rentabilität, Liquidität oder Flexibilität unumgänglich. Damit sind die Unternehmen "wesentliche und unabdingbare Leistungsgrundlagen unserer Gesellschaft". 15 Selbst wenn auch noch heute Volkswirtschaftler (z. B. G. Friedman) Unternehmen unter diesen Gesichtspunkten rein monofunktional betrachten und ihre einzige Aufgabe darin sehen, im Rahmen der Wettbewerbsbe11 12 13 14

15

zitiert nach Schelsky, Soziologie, 1955, S. 183. Schelsky, Soziologie, 1955, S. 182. Schelsky, Soziologie, 1955, S. 183. Dahrendorf, 1956, S. 57 f. Fürstenberg, 1977, S. 182.

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dingungen Gewinne zu maximieren, ist es weitgehend unumstritten, daß Unternehmen auch unmittelbar gesellschaftsbezogen zu definieren sind, da sie Bestandteile der Gesellschaft sind und für diese Funktionen ausüben. In wachsendem Maße sind die Unternehmen mit ihrer Umwelt vernetzt. Sie sind eben nicht monofunktional, sondern erfüllen über die ökonomischen hinaus noch weitere Funktionen, die aus der Wechselbeziehung zwischen Unternehmen und sozialer und gesellschaftlicher Umwelt resultieren. Diese gesellschaftsbezogenen Kriterien sind zum Beispiel die Beschäftigungsfunktion, die Ertrags- und Einkommensfunktion für Arbeitnehmer, Staat und Kapitalgeber oder ökologische und soziokulturelle Effekte. 16 Der heutige Unternehmer und Manager steht vor einem veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bezugsrahmen: Unternehmen haben sich selbst und ihre Machtpotentiale vergrößert, sie sind stärker national und international verflochten und ausgerichtet; die technische Entwicklung ist rapide vorangeschritten; die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer sind effektiver, die Konsumenten kritischer geworden; die Anforderungen an die Arbeit durch Mikroelektronik haben sich erhöht; Umweltbewußtsein und Bedürfnisse nach Sinnerfüllung der Berufsarbeit haben sich verstärkt. Insgesamt ist die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber den Aktivitäten der Unternehmen- und hier insbesondere die der großen - kritischer geworden. Verschiedentlich besteht ein nicht exakt lokalisierbares Unbehagen gegen "die" Wirtschaft und "die" Unternehmen sowie Skepsis gegenüber dem technologischen Fortschritt. Rechtfertigungserwartungen und Legitimationszwänge nehmen zu. All dies stellt neue Anforderungen an Unternehmen und deren Führungskräfte, ihren Standort in Gesellschaft und Umwelt zu bestimmen und "neue Strategien zu entwickeln, um Spannungen zu bewältigen, Gegensätze im Rahmen einer allseits anerkannten Ordnung auszugleichen und dadurch die Kooperation zu ermöglichen. Wie vielleicht nie zuvor sind die Unternehmensleitungen gezwungen, als Ionovatoren von Problemlösungen aktiv zu werden, wobei diese nicht nur eine technische und wirtschaftliche, sondern zunehmend auch eine soziale Dimension haben". 17 Aus den neuen Anforderungen und Problemen erwachsen den Unternehmern weitere und zum Teil neuartige Funktionen, die Unternehmen wahrnehmen und die sie in einer Art Komplementärrolle zur Öffentlichen Hand erbringen. Der Zuwachs an außerökonomischen Funktionen der Wirtschaft wird besonders deutlich auf dem Sektor Weiterbildung, wo die Unternehmen inzwischen Leistungen in einem Umfang vorweisen, der sie zur "vierten 16 17

Ulrich, 1977, S. 191. Fürstenberg, 1977, S. 184.

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gesellschaftlichen Bildungsebene" gemacht hat. 18 Andere Themenbereiche wie Umweltschutz, Landschaftsschutz, Stadtsanierung, Stadtentwicklung, Freizeitgestaltung und Gesundheitswesen, Kunst- und Kulturförderung spielen eine immer wichtigere Rolle. In der Praxis akzeptieren Unternehmen die Verantwortung nach innengegenüber ihren Mitarbeitern - und nach außen - der Öffentlichkeit gegenüber- auch über die gesetzlichen und institutionellen Rahmenbedingungen hinaus. Dies wird- beispielsweise genannt -deutlich formuliert in den "Leitsätzen für Führungskräfte" der Siemens AG. Unter der Überschrift ,Soziale und gesellschaftspolitische Verantwortung' heißt es: "Das Unternehmen trägt soziale Verantwortung für die Mitarbeiter. Dem müssen die Vorgesetzten bei der Führung der Mitarbeiter gerecht werden. Wir haben Einrichtungen zur sozialen Sicherung, zur Gesundheitsvorsorge und zur Leistungsförderung. Unser Unternehmen hilft Mitarbeitern, die unverschuldet in Not geraten oder in sonstigen persönlichen Schwierigkeiten Rat und Unterstützung brauchen ... Das Unternehmen muß sich nicht nur im wirtschaftlichen und technischen Wettbewerb, sondern auch in der gesellschaftspolitischen Entwicklung behaupten." Dabei bleibt es dementsprechend nicht nur bei Bekenntnissen der sozialen Verantwortung, Unternehmen leisten auch beträchtliche finanzielle und sachliche Aufwendungen für ,nicht-gewinnorientierte' Aktivitäten. In der Praxis entstanden in den 70er Jahren neue Ansätze, diese Aktivitäten arbeitnehmer- und öffentlichkeitsorientiert transparent zu machen: Die gesellschaftsbezogene Rechnungslegung in Form der Sozialbilanz ist ein Beispiel. Hier wurde versucht, über die Rechenschaftslegung und Prüfung der Ertragsfunktion des Unternehmens hinaus die ,sozialen Kosten' auf ökonomischer Basis zu erfassen und gesellschaftsbezogene Aktivitäten und Zielsetzungen von Unternehmen zu verdeutlichen. Grundsätzlich sind Bestrebungen nicht neu, soziale Verantwortung zu übernehmen und zu dokumentieren. Schon in der Frühzeit der Industrialisierung gab es den sich sozial verantwortlich fühlenden und handelnden, den patriarchalischen Unternehmer. Ethische Aspekte des ,Wirtschaftens' blieben dabei aber weitgehend ausgeblendet, die Diskussion war mehr auf die moralische Beurteilung des Gewinnstrebens gerichtet. Erst in den letzten Jahren manifestiert sich ein deutliches Bedürfnis der in der Wirtschaft verantwortlich tätigen Unternehmer und Manager nach ethischer ,Standortbestimmung' beziehungsweise ethischer Basis und Rechtfertigung ihres Handeins (z. B. Davoser Manifest 1973). Die Öffnung der Wirtschaft hin zu mehr qualitativen Fragestellungen ist in den letzten Jahren in Bewegung gekommen. Diese Verknüpfung des 18

Buß, 1983, S.l46ff.

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Sachzieles der Wirtschaft mit ethischen und kulturellen Grundlagen und Normen wird diskutiert. Dies ist auch deshalb sinnvoll und notwendig, da die Wirtschaft nicht nur von ökonomischen Gesetzen bestimmt ist, sondern auch von Menschen beeinflußt ist, "in deren Wollen und Wählen immer ein ganzes Ensemble von Erwartungen, Normen, Einstellungen und kulturellen und moralischen Vorstellungen wirksam ist". 19 Die zunehmende Erwartung nach ethischer und kultureller Orientierung resultiert auch aus den veränderten Bedürfnissen einer Gesellschaft, deren materielle Grundlage durch wachsenden Wohlstand gesichert und deren Primärbedürfnisse weitgehend befriedigt sind. "Ästhetische und kulturelle Dimensionen des Arbeitsalltages der Produktion, der Freizeit und des Konsums müssen in einer Wirtschaft, die von der Qualität der materiellen Güterproduktion zur Qualität einer Dienstleistungswirtschaft übergeht, stärker beachtet werden. "20 Das Bedürfnis nach ,Kultivierung' des betrieblichen Lebens über die Funktion der Produktion hinaus, die steigenden kulturellen Erwartungen an Unternehmen entstehen auch aus den erhöhten Anforderungen an die Arbeit im Zeitalter der Mikroelektronik und dem damit verbundenen Prozeß der Höherqualifizierung der Arbeitnehmer. "Der Übergang von der energie- zur informationsverarbeitenden Maschine ersetzt Energie und Materie durch Wissen. Dies hat auch Rückwirkungen auf den zunehmend geistigeren, von Symbolen und kulturellen Sinn bestimmten Charakter der Arbeit." 21 Kulturelle und ethische Faktoren erscheinen mittlerweile als wichtige Ergänzungen zu den bisherigen Organisations-, Planungs- und Kontrollinstrumenten in einem Unternehmen. Mit ihrer Hilfe sollen Strategien zur Lösung von Problemen der Anpassung an und Reaktion auf die externe Umwelt und für die unternehmensinterne Integration der Mitarbeiter gewonnen werden. 111. Unternehmenskultur und Unternehmensführung

Zu einem Modewort der 80er Jahre avancierte vor diesem Hintergrund der Begriff der ,Unternehmenskultur', der sowohl in der theoretischen als auch praktischen Diskussion einen hohen Aufmerksamkeitswert erhalten hat. ,Unternehmenskultur' wird als wichtiger Erklärungsfaktor für die Entwicklung von Unternehmensstrategien gesehen und für die Erklärung 19

Koslowski, 1987, S. 102.

° Koslowski, 1987, S. 105.

2

21

Koslowski, 1987, S. 105.

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Marion Hüchtermann und Winfried Schlaff1:e

unterschiedlichen Unternehmensverhaltens herangezogen. Er greift damit Aspekte einer Diskussion auf, die bereits in den 60er Jahren und zum Teil noch früher (z. B. Stichwort ,Human-relations-Bewegung' nach Maya) geführt wurde. Nicht unbedingt zufällig taucht der Begriff als neue Etikettierung zu einem Zeitpunkt auf, zu dem einerseits das Bedürfnis nach kultureller Orientierung sich verstärkt und andererseits die eher technokratisch ausgerichtete, strategische Managementplanung an ihre Grenzen stößt. Zunächst ergeht es aber dem Begriff Unternehmenskultur wie vielen Phänomenen, an die mit einem gewissen "vorwissenschaftlichen Verständnis" herangegangen werden kann. Es entsteht und existiert in Wissenschaft und Praxis ein breites Spektrum von ,Definitionen', die jedoch eher vage und wenig präzise sind: ,Unternehmenskultur' beschreibe die nicht-rationale, schwer faßbare Seite eines Unternehmens oder: Sie sei ein von gemeinsamen Werten getragenes Orientierungsmuster u. ä. Schnell wurde der Begriff auch von pfiffigen Unternehmensberatern und solchen, die sich dafür hielten, okkupiert (Oswald Neuherger nennt diese "corporate culture vultures", die wie der Geist aus der Flasche erscheinen) und als das Erfolgsrezept für Unternehmen verkauft. Nicht zuletzt seit Thomas Peters und Robert Waterman in ihrem Buch "Auf der Suche nach Spitzenleistungen" auf der Grundlage von Fallstudien einen kausalen Zusammenhang zwischen der "Kultur" eines Unternehmens und seinem Erfolg am Markt herstellten, wurde die "maßgeschneiderte" Unternehmenskultur zur Zauberformel und galt in der populärwissenschaftlichen und eher an der Praxis orientierten Literatur als Garant für Erfolg. Damit wird unterstellt, daß eine solche, wie auch immer geartete Kultur ,herstellbar' ist. Mittlerweile bemüht sich die wissenschaftliche Forschung um eine präzisere Beschreibung und Begriffsbestimmung sowie um empirische Erforschung von kulturellen Phänomenen in Unternehmen und gegebenenfalls Nutzbarmachung für die Praxis. Dabei sind - grob gesehen - zwei Gedankengänge zu verfolgen: 1. Unternehmenskultur ist eine Variable neben anderen (z. B. Technik), die zusätzlich zur Erklärung von Unternehmenserfolg herangezogen werden kann, beziehungsweise ihn positiv beeinflussen kann; das Unternehmen hat also eine Kultur. 2. Das Konzept der Unternehmenskultur findet auf das gesamte Unternehmen Anwendung, etwa in dem - hier verkürzt wiedergegeben - gesagt wird, daß wie in jeder Gesellschaft auch in Unternehmen bestimmte Wertvorstellungen und Denkweisen entwickelt werden; das Unternehmen also eine Kultur ist.

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Beide Sichtweisen werden aber auch durchaus vermengt. Es ist kaum möglich, die ,Kultur' eines Unternehmens vollständig und umfassend zu beschreiben. Zur Erklärung des Begriffes werden andere Disziplinen herangezogen, die sich traditionell mit ,Kultur' beschäftigen: die (Kultur-)Anthropologie oder -Soziologie. In ihnen werden grundlegende denk- und verhaltensprägende Normen analysiert, die die Basis der Kultur bestimmen. Einige Merkmale sind: -Kultur entwickelt und bewährt sich im historischen Prozeß. - Sie wird von Menschen geschaffen und verändert. - Sie ist erlernbar und erfahrbar, insbesondere aufgrund der menschlichen Fähigkeit zur Symbolisierung. - Sie ist weitgehend akzeptiert und verbindlich; es entwickeln sich Kulturträger, die auf die Einhaltung achten. Die Übertragung des Kulturbegriffes auf Unternehmen impliziert, daß es in Unternehmen bestimmte Werte, Normen, Grundhaltungen, Gewohnheiten sowie Symbole, Anekdoten, Sprache usw. gibt, die sich zum Beispiel durch Verhalten von Führung und Mitarbeitern entwickeln oder bewußt gesetzt werden. Diese wirken wiederum prägend auf Mitarbeiter und Führung. Über diese Ebene der gemeinsam getragenen Werte hinaus ist Unternehmenskultur als Gesamtsystem zu sehen, "verknüpft mit der sozio-strukturellen Dimension des Unternehmens, der Individualität einzelner Akteure heute und in der Vergangenheit sowie in sich über die Zeit verändernden Beziehungen zur sozio-kulturellen, politischen, technischen und ökonomischen Umwelt".22 Eine recht umfassende, die verschiedenen Aspekte berücksichtigende und weitgehend akzeptierte Definition beziehungsweise Beschreibung des Phänomens Unternehmenskultur liefert Schein: Er versteht darunter ein Muster an Grundannahmen zwischen Menschen einer Gruppe, die lange genug wichtige Erfahrungen gemeinsam gemacht haben und sich auf dieser Grundlage bemühen, Probleme der Anpassung an ihre äußere Umwelt und die Regelung der Umweltbeziehungen sowie die Bewältigung der unternehmensinternen Interaktionen zu lösen. Diese grundlegenden Annahmen haben sich dabei so bewährt, daß sie neuen Mitgliedern der Gruppe im Prozeß einer Sozialisation als gegeben und ,richtig' vermittelt werden, obwohl sie sich von den einzelnen Mitgliedern zum Teil kaum mehr bewußt gemacht werden. Sie können sich aber in beobachtbaren Verhaltensmustern oder anderen Erscheinungsformen äußern. 23 22 23

Dierkes, Unternehmenskultur, 1988, S. 557. Dierkes, Unternehmenskultur, 1988, S. 557.

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Zu unterscheiden sind dabei drei Ebenen: 1. Der oberen, sichtbaren Ebene wie in der Gestaltung von Gebäuden, der Raumausstattung, des Firmenlogos; sie zeigen sich auch in bestimmten Ritualen oder Zeremonien; 2. der der Werte und Normen, die das Verhalten beeinflussen; 3. der der beschriebenen Grundannahmen in einem Unternehmen. Schein differenziert dabei noch zwischen nicht diskutierbaren Grundannahmen (etwa, daß ein Unternehmen Gewinn machen muß) und diskutierbaren Annahmen (z. B. Beziehung zu Kunden, Lieferanten oder Grad der F ortschrittlichkeit). Erst ein Zusammenkommen der verschiedenen Ebenen charakterisiert die jeweilige "Unternehmenskultur", dies ist aber in jedem Unternehmen anders ausgeprägt. Die Kultur eines Unternehmens ist also ein "firmenindividuelles, dynamisches Konstrukt aus einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Faktoren". 24 Jedes Unternehmen und seine Kultur sind geprägt durch Geschichte, Umwelt und führende Persönlichkeiten. Sie ist dementsprechend nicht statisch, sondern sie verändert sich auch, beeinflußt von der technischen, sozialen, politischen und kulturellen Umwelt sowie neuen Generationen führender Persönlichkeiten. Dies ist allerdings kein kurzfristiger Prozeß, sondern Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung. Allgemeine Prinzipien zur Gestaltung und Ausprägung einer Unternehmenskultur gibt es daher nicht, und es kann sie auch nicht geben. "Die Kultur eines Unternehmens wird durch seine Mitarbeiter, vor allem die leitenden Persönlichkeiten und deren Wahrnehmungen und Reaktionen auf Umweltsignale geprägt und entwickelt." 25 Sie hat aber umgekehrt prägende Wirkung, da sie Einfluß aufFührungsverhalten und Entscheidungsprozesse hat. Die Funktion und Wirkungsweise in das Innere eines Unternehmens sind: Die Mitarbeiter haben Identifikationsmöglichkeiten mit dem Unternehmen, was sich auch auf deren Motivation auswirkt; das "Wir-Gefühl" wird gestärkt, die Kommunikationsmöglichkeiten verbessert. Nach außen bietet das Unternehmen ein weitgehend homogenes Erscheinungsbild. Wichtig bleibt allerdings festzuhalten, daß es die homogene Kultur eines Unternehmens nicht gibt. Sie setzt sich vielmehr zusammen aus den verschiedenen Subkulturen, die etwa abteilungsintern, funktionsbezogen oder z. B. bei multinationalen Unternehmen - regional bestehen, deren Träger sich aber durchaus gemeinsamen Grundwerten verpflichtet fühlen. 24 25

Ch. Scholz, 1988, S. 88. Dierkes, Unternehmenskultur, 1988, S. 559 f.

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In diesem Sinne wird Unternehmenskultur beziehungsweise werden die verschiedenen Subkulturen zur Gestaltungs- und Fortentwicklungsaufgabe des Managements, dem die Bedeutung gemeinsamer Grundnormen und werte, eines gemeinsamen Selbstverständnisses als Führungsprinzip bei sich stark verändernden Umweltbedingungen wächst. Das betriebliche Bildungswesen - die Qualifikation und Entwicklungsplanung für Mitarbeiter gewinnen dabei an immer größerer Bedeutung. "Gerade in Phasen großer Veränderungen der technologischen, sozioökonomischen und politischen Umfeldbedingungen gewinnt die Steuerung des Unternehmens über starke gemeinsame Grundwerte, weitgehend geteilte Wahrnehmungen, Verhaltens- und Zielkonsense gegenüber anderen Führungsprinzipien an Relevanz." 26 Tatsächlich geben sich immer mehr Unternehmen- zunehmend schriftlich fixierte - Leitlinien, in denen Ziele und Grundsätze des Unternehmens formuliert sind und die zum Teil umfangreiche Aussagen zu Grundwerten und -annahmen enthalten. Die fixierten Unternehmensziele wenden sich dabei von den rationalen Management-Theorien der bisher gängigen Lehrbücher ab und öffnen sich werteorientierten Vorstellungen. Angestrebt wird dabei die Integration von ökonomischen Größen sowie kulturellen und immateriellen Werten. So formuliert zum Beispiel die Hoechst AG in ihren Leitsätzen "Unser Selbstverständnis" unter anderem: "Unsere Unternehmensziele sind eingebunden in die ethischen Wertvorstellungen unserer Kultur und unserer Gesellschaftsordung." Und "Hoechst braucht Gewinn, Gewinn ist Maßstab und Lohn für erfolgreiches Wirtschaften ... Nur ein gesundes Unternehmen kann sichere Arbeitsplätze bieten und mit seinen Steuern zu den Gemeinschaftsaufgaben von Staat und Gesellschaft beitragen. " 27 Der Grundsatzcharakter solcher ,Leitlinien' verpflichtet Führungskräfte, sich bei ihrem Tun und Entscheiden von den Aussagen leiten zu lassen und es den Mitarbeitern entsprechend ,vorzuleben'. Sie liefern Handlungsgrundlage und unter Umständen die ethische Basis für Unternehmerische Entscheidungen. Eine in jüngster Zeit veröffentlichte, international angelegte empirische Untersuchung, die nicht ganz unumstritten ist, in mittelständischen Unternehmen hat ergeben, daß vorgelebte Werte und geistige Haltungen von mittelständischen Unternehmern und Managern- die von ihnen geprägte ,Unternehmenskultur' - nicht unerheblich zum wirtschaftlichen Erfolg einer Firma beitragen. 26

27

Dierkes, Unternehrnenskultur, I 988, S. 572. zitiert nach Plesser, 1988, S. 73 f.

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Auf der Grundlage eines umfangreichen Indikatorensystems ziehen die Forscher folgendes Fazit: "Noch vor den ausgeklügeltsten Systemen der Organisation und Kontrolle, vor dem rationellsten Technologie- und Kapitaleinsatz, sind es im Grunde vor allem die Unternehmer oder Manager selbst und das heißt die als ,Unternehmenskultur' ihren Partnern - Mitarbeitern, Geldgebern, Kunden, Lieferanten, der Gesellschaft- glaubhaft vorgelebten Werte, die den Erfolg ausmachen. "28 Ob eine ausgeprägte "funktionierende" und aus vielen Faktoren sich zusammensetzende Unternehmenskultur zum Erfolg eines Unternehmens am Markt wesentlich beiträgt, läßt sich gegebenenfalls im Einzelfall überprüfen. Sicherlich ist Unternehmenskultur keine Zauberformel, aber doch eins von strategischen Potentialen im Unternehmen, das zur Sicherung des Unternehmenserfolges beitragen kann. Literaturverzeichnis Baur, Georg I Löwe, Claus (Hrsg.): Unternehmenssicherung durch Führung im Spannungsfeld wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Entwicklung, BerniStuttgart 1978. - Böckle, Franz: Verlangen Wirtschaft und Technik eine "neue Ethik"?, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 58. Jg., Heft 9, 1988, S. 898-907. - Buss, Eugen: Markt und Gesellschaft, Sozialwissenschaftliche Schriften, Heft 5, Berlin 1983. Dahrendorf, Ralf: Industrie- und Betriebssoziologie, Sammlung Göschen, Bd. 103, Berlin 1956.- Dankbaar, Ben: New Technologies, ManagementStrategiesand the Quality of Work, Berlin 1986.- Dierkes, Meinolf I Wenkebach, Hans H . (Hrsg.): Macht und Verantwortung. Zur politischen Rolle des Unternehmens, Stuttgart 1987. - Dierkes, Meinolf: Unternehmenskultur und Unternehmensführung. Konzeptionelle Ansätze und gesicherte Erkenntnisse, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 58. Jg., Heft 516, 1988, S. 554-575. - Enderle, Georges: Problembereiche einer Führungsethik in Unternehmen. Forschungsstelle für Wirtschaftsethik an der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Nr. 15, St. Gallen 1986.Fritsch, Ulrich (Hrsg. ): Die neue Dimension. Zukunftsstrategien internationaler TopManager, DüsseldorfiWien 1986.- Fröhlich, Erwin I Pichler, Hans J .: Werte und Typen mittelständischer Unternehmer, Berlin 1988.- Fürstenberg, Friedrich: Soziale Unternehmenspolitik, BerliniNew York 1977.- Göbe/, Uwe I Sch/afjke, Winfried (Hrsg.): Die ZukunftsformeL Technik- Qualifikation- Kreativität, Köln 1987.Institution: Art. ,Institution', in: Staatslexikon, Bd. 4, 6. Aufl., Freiburg 1959, S. 324334. - Koslowski, Peter: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung, München 1987. - Kutsch, Thomas I Wiswede, Günter: Wirtschaftssoziologie. Grundlegung, Hauptgebiete, Zusammenschau, Stuttgart 1986.- Lattmann, Charles (Hrsg.): Ethik und Unternehmensführung, Heidelberg 1988.- Meier, Bernd: Technik und Arbeitswelt. Grundwissen 28

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12 Symposion

BERNARD WILLMS

Der Cid und der Großinquisitor oder: Was ist institutionelles Denken? I. Die zwei Arten politischen Denkens In den Monaten April bis Juni 1884 veröffentlichte Herbert Spencer in der "Contemporary Review" vier politisch-polemische Aufsätze, die, aktuelle Probleme aufgreifend, auch grundsätzliche Erwägungen umfassen. Noch im gleichen Jahr wurden diese Aufsätze in Buchform herausgegeben, und zwar unter dem berühmten Titel: "The Man versus the state". 1 Es geht in diesen Arbeiten Spencers, kurz gesagt, um die Frage, wie die Ideen eines ursprünglichen Liberalismus unter den Bedingungen von dessen praktischer Verwirklichung in Gefahr geraten, in ihr Gegenteil umzuschlagen; einer dieser Artikel beschwört sogar die Entwicklung einerneuen Sklaverei herauf: "The coming slavery". Spencers Befürchtungen waren sicher ebenso begründet2 wie seine Vorschläge beherzigenswert. Hier soll es aber vor allem um jene einprägsame Titelformulierung gehen, in der man nicht zu Unrecht eine Grundcharakterisierung angelsächsischer politischer Kultur bis heute sehen kann: "The Man versus the state". Die zweifellos bewußt aus dem englischen Recht und seiner konstitutiven Präzedenzpraxis entnommene Fallbenennung charakterisiert Politik im ganzen also quasi als ein Verfahren, einen Prozeß "Mensch gegen Staat". Dieses politische Denken entspricht in der Tat der Konstellation, in der in entwickelten Verhältnissen die politische Existenz jedenfalls an der Oberfläche erlebt wird: Auf der einen Seite die Einzelnen, mit mehr oder weniger ausgebildeten Interessen, mit eingeforderten Freiheiten und mit hohem Ichbewußtsein. Auf der anderen Seite der Staat mit Herrschaftsanspruch, institutionellem Gefüge und schließlich mit monopolisierter Gewaltanwendung. Diese entwickelten Frontstellungen einmal gegeben, pflegen wir die politischen Lager danach einzuteilen, welcher Seite sie ein ÜbergeHerbert Spencer, The Man versus the State, London 1884. Interessanterweise ist Spencers Buch, was seine Inhalte angeht, fast völlig vergessen. An einer eher unerwarteten Stelle, nämlich bei Jorge Luis Borges, liest man jedoch: "Das dringendste Problem unserer Zeit (das mit prophetischem Scharfblick bereits der nahezu vergessene Spencer namhaft gemacht hat) ist die ständig zunehmende Einmischung des Staates in den Handlungsbereich des einzelnen . .. " (J. L. Borges, Gesammelte Werke. Essays, 1952-1979, München o.J., S.42.) 1

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wicht beilegen, wie sie in Konflikten der beiden Fronten Stellung nahmen und was sie letztlich für das Eigentliche halten. Lange Zeiten relativen Friedens und namentlich eines Wohlstandes, der das Anspruchsdenken auf der einen Seite fördert, sowie das negative Beispiel historischer Ausformungen, die den Einzelnen um des Ganzen, des Staates Willen ins Nichts setzten, haben dazu geführt, daß die Oberfläche dieser Konfrontation "Menschen gegen Staat" als die politische Wirklichkeit angesehen wird, in der es ebenso wie in einem Prozeß vor allem darauf ankommt, wer die besseren Anwälte hat. Not hingegen lehrt denken, und wenn das Hin und Her eines gesellschaftlichen Gefüges, in demjede Seite ihre traditionelle Position hat, in Bewegung gerät oder seine Berechenbarkeit und Tragfähigkeit verliert, dann muß die Neubesinnung sich andere Gedanken machen als die, wem in diesem Gegeneinander etwas mehr zugestanden werden muß, oder wie das, was da ist, besser oder anders verteilt werden müsse. Für das politische Denken, das diesen Namen verdient, muß dann die Auseinandersetzung "Mensch gegen Staat" als grundlegendes Verhältnis neu in den Blick kommen und dann geht es nicht mehr um mehr oder weniger beliebige Stellungnahmen für je eine Seite und auch nicht um Überlegungen, was etwa zuerst dagewesen sei, das Ei oder das Huhn. Auf dieser Denkebene politischer Gründlichkeit, zu der ihn die Not des Bürgerkriegs, also eines extremen Verfalls der normalen Situation, in der man sinnvollerweise von "man versus state" sprechen konnte, zwang, sah etwa Thomas Hobbes, daß weder Frieden noch Übereinstimmung in der Lebensführung, noch religiöse Gemeinschaft, noch ein Konsens über ein geordnetes Zusammenleben gegeben waren. Vor allem aber und am tiefsten treffend war es, einzusehen, daß es nicht einmal selbstverständlich war, daß ein Mensch den anderen am Leben läßt - warum sollte er, wenn er keine verbindlichen Gesetze und keine sicheren Instinkte, und vor allem nicht einmal eine gesicherte Kommunikation, also eine gemeinsame Sprache hat? Auf dieser Denkebene, die der Frage, für welche der Parteien im Prozeß "Mensch gegen Staat" man sich etwa entscheiden solle, jedenfalls vorausliegt und vor jener bedacht werden muß, traf schon Thomas Hobbes auf die reine Kontingenz, die nackte, ungeordnete Freiheit, auf die fundamentale Tatsache, daß die Menschen als solche ständig unter der Notwendigkeit gesellschaftlichen Handeins stehen - wenn anders sie sich in ihrer Existenz überhaupt behaupten wollen - , daß aber die Richtung ihres Handeins von niemandem und von nirgendwoher vorgegeben ist. Das Sicherstellen von Handlungsweisen, vor allem von Handlungserwartungen, ist aber die fundamentale Bedingung für menschliche Existenz und dies, inklusive der Sprachschöpfung, muß der Mensch leisten, und diese Leistung ist der Kern seines politischen Daseins. Die Menschen müssen sich mit Notwendigkeit und Gewalt selber zähmen, und diese Notwendigkeit ist

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um so größer, je mehr man von der ursprünglichen Freiheit hält. Das ist der Grund und die Notwendigkeit der Institutionen und das ist der Grund des politischen Denkens etwa von Thomas Hobbes. Es sind die Menschen selbst, die den ,Leviathan' aus sich heraussetzen müssen, um jenen Zustand zu überwinden, in dem keine Art von Übereinstimmung selbstverständlich ist. Diese Denknotwendigkeit nennt Hobbes den "Naturzustand", und er führt ihn als den Grund an, auf den man stößt, wenn man von allen bisherigen Sicherheiten absieht, wenn alle Normen und Werte nur noch das gemeinsam haben, daß sie bestreitbar sind. Dieser "Naturzustand" ist deutlich als das einsichtig zu machen, was er ist: Er ist ebenso ein notwendiger Denkgrund wie aus ihm deutlich wird, daß man in und mit ihm nicht leben kann. 3 Und ebenso wenig kann es vom Menschen als selbstverständlich erwartet werden, daß er sich diszipliniert, daß er sich auf Regeln einläßt, daß er an Gebote glaubt. Er kann dies alles tun, er kann sogar tugendhaft sein- aber er muß es nicht, er ist frei und immer zunächst auf sich bezogen und mit solchen konfrontiert, die auch nur auf sich bezogen und möglicherweise alles andere als tugendhaft sind. Deshalb muß die politische Struktur, die Menschen sich geben und geben müssen, von der Art sein, daß sie jederzeit gegen den einzelnen vorgehen kann, daß sie alljene Selbstverständlichkeiten- bis hin zur Sprache- regelt, sichert und auf Dauer stellt, daß sie Gesetze, das heißt anerkannte Übereinstimmungen, vor dem Zugriff jener primären ,Freiheit' bewahrt, ohne diese Freiheit selbst aus der Welt schaffen zu wollen. Die politische, in langen historischen Prozessen zu erbringende Leistung muß darin bestehen, eine Autorität, eine Gewalt von Menschen aus Menschen und für Menschen zu machen, die stärker ist als alle anderen zusammen, die aber, weil sie eben von den Menschen selbst gemacht ist, auch bis aufs letzte durchschaut werden kann. 4 Die politische Fundamentalgründung, diese ursprüngliche und notwendige Leistung des Politischen, macht menschliche Freiheit lebbar und bestimmt über das, was im Allgemeinen als "gut" zu gelten hat. Was für jeden einzelnen "gut" ist, weiß der einzelne selbst am Besten, aber was für A gut ist, muß für B nicht gut sein, selbst die Wörter, die Begriffe sind nicht von sich aus allgemein- Hobbes ist Nominalist -, es sind nur Namen. Der ,Leviathan' ist derjenige, der normale Verhältnissein denen man dann erst über Macht- oder Güterverteilung sprechen kannherstellt und durchhält. Das ist die fundamental-institutionelle Leistung des Leviathan, der schon deshalb in seinem Denkgrund nicht dem Menschen 3 Man vgl. die berühmte Stelle aus Hobbes; Leviathan, eh. 13. Dazu B. Willms I Thomas Hobbes, Das Reich des Leviathan, München 1987, S. 127ff., und zur neuesten Literatur, in der der Naturzustand als die praktische Entsprechung zur methodischen "annihilatio mundi" erscheint, vgl. ders., Der Leviathan und die delischen Taucher, in: Der Staat 1988. 4 Weswegen Thomas Hobbes auch neben der Geometrie - die Politik für einzig wissenschaftsfähig hielt. Vgl. etwa Hobbes, De corpore, ep. ded. Opera latina (Molesworth.), Bd. I.

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gegenübergestellt werden kann, weil er selber aus Menschen und von den Menschen gemacht ist. 5 Auch der Gedanke der in der Tat stets möglichen Entfremdung kann von dieser fundamentalen politischen Tatsache nicht absehen- eine Entfremdung "Mensch" gegen "Staat" kann überhaupt nur auf dem Grund der ursprünglichen Identität beurteilt werden. Und solange etwa Glaubenssätze etwas sind, besser, sobald sie zu etwas geworden sind, das die Menschen nicht mehr einigt, sondern sie trennt, dann müssen sie entweder in neuer Weise verbindlich gemacht werden oder schließlich einer allgemein anerkannten Unverbindlichkeit überlassen werden. 6 Wie jedermann weiß, hat sich das, was man angelsächsische politische Kultur nennen kann, nicht an den aus der Not geborenen gründlichen Einsichten Hobbes' vom ,Leviathan' als "institutio institutionum" orientiert, sondern eher an Locke und dann eben auch an Herbert Spencer's politischer Oberflächenpragmatik - weniger an seinen realen Befürchtungen und Prognosen bezüglich eines kalten Totalitarismus des Liberalismus als an seinem "man versus state". Diese politische Kultur wurde schließlich, in ihrer historischen Wirkung durch die Siege von 1918 und 1945 sowie durch den Niedergang der sozialistischen Alternative scheinbar bestätigt, zur weltweit herrschenden Politik des Liberalismus und Pluralismus, die, einen moralisierten Freiheitsbegriff okkupierend, in diesem eine Begründung nicht nur für antigouvernementales Ressentiment, sondern auch, etwas in programmatischen Äußerungen von Marxisten, "Grünen" und vergleichbaren radikal-liberalen Gruppierungen zu offener Staatsfeindlichkeit und zum Abbau von institutionellen, rechtsstaatliehen Grundlagen führt. Diese Grundlagen sind aber die eigentlichen Grundlagen der Freiheit, die nichts ist, was in zugegebener oder verhohlener Metaphysik zur voraussetzungslosen Grundausstattung "des Menschen" gehört, von der aus dieser seine Sache gegen den Staat führen könnte. Vielmehr ist Freiheit nur da, wo sie institutionell geschaffen, gegründet, erhalten und garantiert wird. Jener ,Mensch', der sich in der oberflächlichen Formulierung vom Prozeß "Mensch gegen Staat" zum Staat nur negativ versteht, ist realiter durch diesen ,seinen' Staat vermittelt und ermöglicht, eine Einsicht, die jenes negative Verhältnis nicht beseitigt, es aber, begreifend, aufhebbar macht. Der Staat ist als ,institutio institutionum', um mit Hege! zu sprechen, die "Wirklichkeit der sittlichen Idee", d. h. eben der Freiheit. 7 Die Einsicht ist so wenig beliebt, hat so sehr mit Wirklichkeitsdenken zu tun, daß die an Verzweiflung grenzende Schärfe von Hegels Kampf gegen die "Seichtigkeit" im politischen Denken, d. h. gegen die Oberflächlichkeit der vermoralisier5

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Dazu die berühmte Darstellung auf dem Titelblatt des ,Leviathan'. Leviathan, eh. 18: "For Doctrine repugnant to Peace, can no more be True . . ." Vgl. Hege!, Rechtsphilosophie, § 257.

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ten "Mensch gegen Staat"-Auffassung, durchaus verständlich und angemessen erscheint. 8 Aber Hege! gilt wie Hobbes immer noch eher als Widersacher der Freiheit, ein fast groteskes Mißverstehen, das um so greller erscheint, wenn man neben Spencer etwa einen anderen, hochberühmten Vertreter westlicher politischer Kultur vergegenwärtigt, nämlich Harold J. Laski. Laski ist der Vater des modernen Pluralismus und als solcher ist sein Einfluß kaum zu überschätzen. Freilich wird meist übersehen, daß er sich zwar selber zu den "Pluralists" rechnete; jedoch 1937 erklärte: "That the pluralist attitude to the state and law was a stage on the road to an acceptance of the Marxian attitude to them. " 9 Daß dem Vater des Pluralismus so bald nur noch der Marxismus als Konsequenz erscheinen konnte, mag in der heutigen Pluralismus-Diskussion vielleicht immerhin noch bedenkenswert sein, aber es geht hier nur um die kurze Charakterisierung eines Denkens, das in der Tradition des Prozesses ,man versus state' selbstverständlich weiß, auf welcher Seite ,man' zu stehen hat: auf der Seite der Freiheit, d. h. des Menschen, eines Denkens, das der fundamentale Zusammenhang zwischen Staat und Freiheit nicht kümmert und das in dieser Voraussetzungsblindheit mindestens eine bemerkenswerte Konsequenz an den Tag legt. Natürlich reibt sich Laski hier auch an Hegel sowie an aller "Hegelian philosophy", die "merely a beatification ofthe status quo of any given society at any given time" sei. 10 Weder soll diese Regel-Auseinandersetzung hier kritisch geprüft werden, noch muß der Laskische "Pluralismus" ein weiteres Mal referiert werden, 11 aber das Beispiel der Konfrontation eines Laski mit Hegel soll - mitsamt der kompromittierenden marxistischen Konsequenz (deren Charakter 1937 vielleicht noch nicht so eindeutig war wie 1990) hier eine Gegenüberstellung vorbereiten, die sich durch alles politische Denken hindurch aufweisen läßt. Es ist eindeutig, daß das Auslassen der Dimension, die Hege! als "Wirklichkeit der Freiheit" bezeichnet, also die fundamentale Gründungs- und Erhaltungsleistung der Institution Staat im Hinblick auf die Möglichkeiten jeder denkbaren Freiheit, bei Laski durch funktionalistische Fiktionen, als deren 8 Vgl. die Hege! oft vorgeworfenen Ausfälle gegen Fries in der ,Vorrede' der Rechtsphilosophie. 9 Harold J. Laski, The Grammar of Politics, London 1950 (I 025 1), S. XII der Einleitung von 1937. Dieser für jedermann nachlesbare Satz Laskis erschien dem gutwilligen und ja durchaus einschlägig bekannten Kollegen Greenleaf (Swansea) so unerhört, daß er in einer öffentlichen Veranstaltung (Tübingen 1989) schlichtweg bestritt, Laski könne so etwas gesagt haben. (!) 10 Laski, a.a.O., S. IX. 11 Eine sehr gute Darstellungneueren Datums findet sich in: Thor von Waldstein, Die Pluralismuskritik in der Staatslehre von Carl Schmitt, Berlin 1990.

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Ahne leicht Locke aufzuweisen wäre, ersetzt ist. 12 Er gehört damit - und jene marxistische Konsequenz ist dafür ein weiterer Hinweis- auf die Seite der politischen Fiktionalisten, denen hier die politischen Realisten gegenübergestellt werden sollen. Denn alles politische Denken läßt sich zwei Traditionen zuordnen: die der politischen Erfindung und die der politischen Wirklichkeit - politischer Fiktionalismus und politischer Realismus. Der politische Fiktionalismus ordnet die Politik ,höheren' Prinzipien oder ,Wahrheiten' unter, die im genauen, wertneutralen Sinne als Fiktionen zu bezeichnen sind. Diese Tradition reicht von der Politik als Mythos über dessen Rationalisierung in der präskriptiv-normativen Politik Platons und über die Politik des antiken und christlichen Naturrechts, über alle theologisch angeleitete Politik, aber auch über die der Aufklärung bis hin zu den modernen Ideologien. Das realistische politische Denken läßt sich von Thukydides und anderen alten Geschichtsschreibern über Denker wie Wilhelm von Ockham, Machiavelli, Thomas Hobbes, Hegel bis hin zu Arnold Gehlen und Carl Schmitt verfolgen. Der politische Fiktionalismus läßt sich stets, in mythologischer, rationalisierter, theologischer oder aufgeklärter Verkleidung, als Instrumentalisierung von bestimmten Gedanken im Sinne der Rechtfertigung bestehender, der Rechtfertigung zu ändernder oder der Suche nach der besseren oder der besten Politik beschreiben. Seine Annäherung erfolgt selbst aus einem bestimmbaren politischen Interesse. Die Politik des Realismus ist hingegen der immer wieder erneuerte Versuch, die Politik zu begreifen als das, was sie ist. Ihre Annäherungsweise ist im strengen Sinne wissenschaftlich. 13 Die Politik des Fiktionalismus ist aus dem unaufhebbaren Konkurrenzdualismus von realer Herrschaftsausübung und intellektuellem Herrschaftsbedürfnis zu erklären. Dieser Dualismus kann sich ebenso als Versuch intellektueller Partizipation an der realen Herrschaft wie als Herrschaftskonkurrenz im Sinne der intellektuellen Behauptung, im Besitz ,höherer' Wahrheiten zu sein, darstellen. Der Dualismus läßt sich vom Gegensatz zwischen Häuptling und Medizinmann über den zwischen König und Propheten, zwischen Kaiser und Papst bis hin zu dem zwischen Politikern und Ideologen bzw. Intellektuellen in der Gegenwart verfolgen- wobei mannigfache Kombinationen in Form von Bündnissen zwischen ,Thron und Altar', zwischen Machthabern und ,Chefideologen' ebenso möglich sind wie extreme Dissoziationen etwa auch revolutionärer Art. Das politische Denken- in diesem Sinne auch abgekürzt ,die Politik' genannt- des Realismus hingegen ergibt sich erst dann, wenn die intellektuelle Anstrengung im Kern nicht selbst auf Laski, a.a.O., S. III. Die postmoderne Relativierung von "Wissenschaft" kann die realistische Annäherung nicht mit Wittgenstein, Feyerabend oder Derrida relativieren. Zum Problem der konstitutiven lnstitutionalität auch postmodernen Denkens vgl. man B. Willms, Postmoderne und Politik, in: Der Staat, 1989. 12 13

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Herrschaft, sondern auf Einsicht und Erkenntnis geht. Die Distanzierung von Herrschaft ermöglicht erst die Einsicht in ihre Mechanismen ebenso wie die Erkenntnis der Funktion der je herrschaftserhaltenden oder um Herrschaft konkurrierenden intellektuellen Fiktionen. Insofern diese Fiktionen - behauptete höhere Wahrheiten, Prinzipien oder Ideologien - auch die Funktion massenhafter Entlastung, bewußtseinsmäßiger Orientierung und gesellschaftlicher Stabilisierung durch mehr oder weniger breite Konsense haben, bedeutet die Distanzierung der politischen Realisten auch stets eine Desillusionierung derjenigen, deren Bewußtsein aufjenen scheinbar höheren Wahrheiten beruht. Der politische Realist bestreitet die ,höheren Wahrheiten', indem er ihre Beliebigkeit deutlich macht und sie auf die ihnen zugrundeliegenden Herrschaftsinteressen und Machtkonstellationen relativiert. Der politische Realismus hat deshalb stets mit der Feindschaft und der Verfolgung seitens der politischen Fiktionalisten und seitens der Mächte, denen sie dienen, zu rechnen, die im Namen eines Glaubens, einer Moral oder gar im Namen ,der Menschheit' gegen den Realismus zu Felde ziehen. Beispielhaft und am übersichtlichsten dürfte sich dies an der nicht endenden Auseinandersetzung um Machiavelli und den Machiavellismus zeigen lassen, 14 aber es trifft natürlich gleichermaßen auf Hobbes wie auf Hegel, Carl Schmitt und Arnold Gehlen zu. Die Unterscheidung zwischen Fiktionalisten und Realisten ist idealtypisch. Sie läßt sich nicht durch ,weiß' und ,schwarz', durch ,gut' und ,böse' charakterisieren, ebenso wenig durch ,falsch' und ,richtig', obgleich dies bis heute geschieht. Auch läßt sie sich nicht durch ,Sollen' und ,Sein' unterscheiden - Politik bleibt auch in der realistischen Annäherung Handlungswissenschaft. Die Politik des Fiktionalismus versucht, das politische Handeln erfundenen, d. h. ausgedachten oder ,imaginierten' Prinzipien zu unterwerfen, die ihren legitimatorischen Charakter bestenfalls philosophischer Strenge, üblicherweise jedoch bloß geglaubten oder behaupteten Wahrheiten verdanken. Die Politik des Realismus hingegen versucht, praktische Handlungsanweisungen aus den Notwendigkeiten der Politik selbst abzuleiten. Als idealtypische dient die Unterscheidung zum Instrument der Analyse. Bei einem politischen Realisten können sich durchaus etwa biographische Herrschaftsambitionen nachweisen lassen, und ebenso können bei einem politischen Fiktionalisten Elemente des Realismus auftauchen. Bei Machiavelli war die Distanzierung von realer Partizipation an Herrschaft durch die Umstände erzwungen - nichtsdestoweniger gelang ihm der denkerische Durchbruch zum politischen Realismus. Bei einem Theoretiker wie Kant sind die "ungesellige Geselligkeit" und die Konstruktion von Prinzipien politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens "auch für ein Volk von Teu14

Noch 1956 war Machiavelli für Leo Strauß (Thoughts on M.) der "teacher of evil".

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fein" sicher realistische Züge, 15 während seine republikanisch-pazifistische Utopie Fiktionalismus ist. Der politische Fiktionalismus kommt dem menschlichen Bedürfnis nach Vertröstung, Erbauung, Hoffnung und Sinn entgegen. Er neigt zur Verschleierung wirklicher Herrschaftsverhältnisse. Der politische Realist ist auf Erkenntnis von Notwendigkeiten aus unabhängig von ihrer Härte und ohne Rücksicht auf die Täuschungsbedürfnisse innerhalb der je bestehenden Herrschaftsverhältnisse. II. Der deutsche Prolorealismus und seine institutionellen Konsequenzen

I. Carl Schmitt Es ist zurecht immer wieder darauf hingewiesen worden, in wie hohem Maße die gebildete Gesellschaft Europas nach der Jahrhundertwende einen Krieg wie den dann folgenden Ersten Weltkrieg für unmöglich gehalten hat. 16 Der Gegensatz dieses selbsttäuschenden, sanften politischen Fiktionalismus zu der realen Kriegsvorbereitung in allen europäischen Hauptstädten ist in der Tat frappierend, aber ideenpolitisch und geistesgeschichtlich wichtiger ist jedenfalls jene bereits erwähnte unkritische Verlängerung des Auserwähltheitsbewußtseins der westlichen politischen Kultur, für das der Ausgang der Weltkriege eine Bestätigung seiner Fiktionen, inklusive auch der technischen, gewesen ist. Im besiegten Deutschland waren herkömmlichbürgerliche Fiktionen aber nicht bestätigt, sondern radikal, real in Frage gestellt worden, und so brachte die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die wahrscheinlich wichtigste Denkbewegung des 20. Jahrhunderts bevor, nämlich den deutschen Protorealismus, der in seinen drei bedeutendsten Vertretern Martin Heidegger, Carl Schmitt und Arnold Gehlen je ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit suchte: Heidegger in der Fundamentalontologie, Gehlen in der Fundamentalanthropologie und Carl Schmitt in der Fundamentalpolitik. Das Verhältnis Heideggers zum Institutionellen soll hier nicht erörtert werden, es ist dem Verfasser auch noch nicht hinreichend klar. 17 Daß aber 15 Vgl. jeweils Kant: "Idee zu einer allgerneinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" und "Zum ewigen Frieden". 16 Dafür gibt es bekanntlich zahlreiche Zeugnisse. Man vgl. neuerdings die interessante Studie: George Parfitt, Fiction of the First World War, London/Boston 1988. 17 Das gegenwärtige Getümmel um Heidegger hat kaum philosophische Dimensionen, jedenfalls nicht, was praktische Philosophie angeht. Wenn sich der Qualm verzogen hat, der sich an den naßforschen Beiträgen etwa über das "Charakterschwein" Heidegger, das trotzdem philosophisch ernst genommen werden soll (vgl. neuestens W. Schirrnacher (Hrsg.), Zeitkritik nach Heidegger, Essen 1989), wird man möglicherweise herausfinden, daß das Problern "Heidegger und der Nationalsozialismus" von der Fundarnentalonto-

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der Protorealismus von Carl Schmitt und Arnold Gehlen Institutionalismus im Sinne der Tradition des politischen Realismus oder der "Politik als Politik" ist, soll, freilich auch nur skizzenhaft, hier ausgeführt werden. Die jeweilige Radikalität, mit der so Schmitt wie Gehlen zur Wirklichkeit im Sinne eines Grundes (Arche) durchzustoßen versuchten, ordnet die beiden eindeutig - aber natürlich auch mehrdeutig - der Tradition des politischen Realismus zu. Dies trifft vor allem für das politische Denken von Carl Schmitt zu, der juristisch und politisch nie Ideologe im Sinne der Tradition der Politik des Fiktionalismus war. Dies hatte unter anderem zur Folge, daß er mit seinem Versuch, dem Nationalsozialismus, dem er bis 1933 skeptisch gegenübergestanden hatte, nach dessen Machtergreifung, die ja eine neue Lage schaffte, nunmehr ordnungspolitische undjuristische Festtegungen zu suggerieren bzw. abzugewinnen bzw. zu imputieren, scheitern mußte. 18 Das realistische politische Denken ist nicht nur durch die ideologischen Erfindungen und gedanklichen Konstruktionen als solche herausgefordert, sondern vor allem, insofern diese Teil einer realen historischen Situation sind, die als ganze für das Denken im Verhältnis der Herausforderung steht. Jeder Denker ist, wie wir spätestens seit Hegel wissen, ein ,,Sohn seiner Zeit", und hier sei hinzugefügt, auch und jedenfalls ein Sohn seines Raumes, das heißt seines (Vater-)Landes. Es waren das Elend Italiens und der Bürgerkrieg in England, die für Machiavelli und Hobbes als Klassiker des politischen Denkens die Herausforderung darstellten - ebenso wie für Platon das Ende der alten "Polis". Nur in der Konkretion auf seine Zeit und im Ausgang vom Elend- meinetwegen auch vom Glanz- seines Vaterlandes hat ein politischer Autor überhaupt die Chance, Klassiker zu werden, und hier, bei der Lagebestimmung, muß jede reflektierende Befassung mit Carl Schmitt anfangen. Die konkrete Lage, die für Carl Schmitts Denken die Herausforderung darstellte, ist in erster Linie die der Besiegten von 1918 und der von 1945finstere Zeiten. 19 Politik bedeutet in der Tradition des politischen Realismus die in der historischen Realität stets präsente, seit Machiavelli aber auch zum Gegenstand theoretisch-wissenschaftlicher Annäherung werdende Anerkennung logie heraus dem Verhältnis dieser zur Kontingenz aller praktischen Ordnung als solcher zu klären ist. Aber nur möglicherweise. 18 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in: H. Quaritsch (Hrsg. ), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, sowie Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt, Wien 1987, 1988. 19 Vgl. dazu meinen Beitrag in Quaritsch (Fn. 18) und neuerdings die ausgezeichnete und wichtige Studie: Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989.

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der Politik in dreifacher Hinsicht: Anerkennung der Politik als eines eigenen Gegenstandes menschlichen Handeins im Sinne positiver Beschreibbarkeit, im Sinne der Emanzipation seiner Regeln, Gesetze und Praxis von Theologie und Moral, und schließlich die theoretische Begründung dieser Eigenständigkeit im Sinne der Analyse der fundamentalen Notwendigkeit des Politischen im Sinne der aller anderen menschlichen Praxis vorausliegenden Gründungs- und Erhaltungsleistung institutioneller politischer Ordnung. Als Staatsrechtier ist demnach die Reflexion auf Politik als Politik für Carl Schmitt zunächst nichts anderes als die Reflexion auf die Grundlagen seines Gegenstandes: des Staates. Befaßt man sich mit dem Staat und seinem Recht, mit Verfassung, mit Verfassungswandel und mit dem Verhältnis von Staaten zueinander, so wird über deren Kontingenz und historisch-wechselnde Erscheinungsform als diesen eine generelle Notwendigkeit deutlich. Staat ist selbst ein "historischer, an konkrete Verwirklichungen gebundener Begriff'. Die dem Staat in allen seinen Erscheinungsformen vorausliegende Notwendigkeit ist jedoch die "des Politischen": "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. " 20 "Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: gut und böse im Moralischen; schön und häßlich im Ästhetischen und so weiter." 21 Es scheint notwendig, einmal mehr darauf hinzuweisen, was mit dieser berühmten Unterscheidung- die übrigens in dieser Formulierung gar nicht von Carl Schmitt stammt -jedenfalls nicht gemeint ist. 22 Dies ist wichtig, wenn man sich klarmacht, daß Carl Schmitt mit Machiavelli, Hobbes, Hegel und Gehlen in eine Tradition des Mißverstehensund der politischen Verurteilung aufgrund einiger, meist falsch verstandener Sätze gehört. Dies ist die Tradition, in der Hegel zum "Preußischen Reaktionär", Hobbes zum "Monster of Malmesbury" und Machiavelli zum "Lehrer des Bösen" geworden ist. Eine Analyse solcher traditioneller Mißverständnisse, Denunziationen und Deformierungen fördert- neben den seltenen wirklichen Auseinandersetzungen - fast überall sehr triviale Befunde zutage, nämlich Vorurteile, Unverständnis und vor allem Unkenntnis der Texte und hartnäckiges Festhalten an kurrenten Klischees. 2° Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von I 932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 20. 21 Ebenda, S. 26f. 22 Vgl. dazu Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt (FN 18), S. 80.

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Im Falle Schmitts ist es vor allem immer wieder die entstellende Vereinfachung, sein Denken, insofern es durch den hier zitierten Text zu charakterisieren ist, im ganzen als ,Freund-Feind-Denken' zu bezeichnen, was dann typischerweise zum Vorwurf des noch primitiveren ,Schwarz-Weiß-Denkens' gerinnt. Carl Schmitt wird auf diese Weise zum Burckhardt'schen "terrible simplificateur", der irrationalen Entscheidungen und Unterscheidungen von ,bad guys' und ,good guys' zur Grundlage seines Denkens macht, eines Denkens, dem Tugenden wie vernünftiger Diskurs, Toleranz und Kompromißfähigkeit durchaus fehlen. Der Kern dieser Vorwürfe ist stets darin zu sehen, daß ,Freund' und ,Feind' bei Carl Schmitt, entgegen von dessen ausdrücklicher Versicherung, als moralische Qualifizierungen genommen werden. Damit wird die historisch so hart umkämpfte und erkämpfte Errungenschaft, nämlich die Eigenständigkeit des Politischen, aufgegeben. Sie war und ist aber die Voraussetzung dafür, daß das Ethos des Politischen selbst überhaupt in den Blick kommt. Wenn ,Freund' und ,Feind', entgegen Schmitts ausdrücklicher Intention, als moralische Kategorien genommen werden, ergibt sich die eigentliche Perversion des Politischen. Für die eigene Position wird dann Menschheitsgeltung angenommen, und der Gegner wird konsequent als Menschheitsfeind diffamiert. Daraus resultiert dann der Bürgerkriegscharakter der Kriege des 20. Jahrhunderts. 23 Das zweite, ebenso verbreitete wie triviale Mißverständnis ist, dies Denken verrate sich in der ,Freund-Feind-Unterscheidung' als "bellizistisch", das heißt, auf Krieg ausgehend. Für Carl Schmitt sei der Krieg, so wird gefolgert, also die eigentliche Hauptsache der Politik. Dagegen wird dann etwa allen Ernstes und ebenso moralisierend wie vollmundig und erbaulich ausgeführt, daß es im Gegenteil der Frieden sei, der die Hauptsache aller Politik zu sein habe. 24 Auch dies ist ein völliges Mißverstehen des Textes und der Differenziertheit des Verhältnisses von "Normalzustand" und "Ausnahmezustand". Im Gegensatz zu diesen verbreiteten - und letztlich ideologisch begründeten- Mißverständnissen soll hier versucht werden, im Sinne der allgemeinen Themenstellung die Rationalität von Carl Schmitts "Begriff des Politischen" an nur einigen Punkten aufzuweisen, und zwar vor allem, indem er jeweils auf die Tradition des europäischen politischen Realismus bezogen und in seiner fundamentalen Institutionalität dargestellt wird. 23 Vgl. dazu etwa die Aufsätze: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe (Hamburg 1940, Berlin 1988), Nr.ll, 15,28 u.a. 24 So Dolf Sternberger, Der Begriff des Politischen, Frankfurt 1961. Die enorme Wirkung Sternhergers in der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen und deren Politikwissenschaft im besonderen erklärt sich aus der spezifischen Mischung von journalistischer Zeitgeistigkeit, bildungsbürgerlicher Noblesse und absoluter Ahnungslosigkeit vor Problemen, wie sie so Schmitt wie Heidegger aufgeben.

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Die Eigenständigkeit des Politischen wird von Carl Schmitt weder bloß vorausgesetzt noch bloß behauptet, sie wird argumentativ plausibel gemacht. Das Politische hat "eigene Kriterien", die in "eigenartiger Weise" wirksam werden. Carl Schmitts politisches Denken ist vor allem Handlungswissenschaft. Für jeden Bereich menschlichen Handeins läßt sich eine polarisierende Begrifflichkeit unterscheiden, die das Handeln - einschließlich des Sprachhandeins-in diesem Bereich in spezifischer Weise ,sachgerecht' macht. Als praktische Erkenntnis bedeutet dies immer auch, daß eine Verwechslung oder Beurteilung nach anderen Kriterien unsachgerecht ist. Wenn jemand beschließt, jedermanns Freund sein zu wollen, so ist dies jedenfalls kein politischer Entschluß mehr. Diese Argumentation zur Anerkennung eines eigenständigen politischen Sachgebietes, d. h., eines eigentümlichen Bereiches, der ein spezifisches, eben das politische, Handeln verlangt, ist aber in jener Unterscheidung von Sachgebieten- das Moralische, das Ästhetische, das Ökonomische- nicht die einzige Dimension der Eigenständigkeit des Politischen. Diese wird auch "auf eigenartige Weise wirksam". Jeder Gegensatz, der Mensch und Menschengruppen etwa nach Gesinnungen, Meinungen, Beurteilungen und Interessen mehr oder weniger polarisiert, kann die Dimension des Politischen annehmen, und zwar immer dann, wenn die entgegenstehende Gesinnung, Meinung, Beurteilung oder das entgegenstehende Interesse mit der eigenen Existenz schlechthin nicht mehr vereinbar erscheint. Der Gegensatz wird dann politisch, d. h., es wird je nach Freunden und Feinden unterschieden. Die Tatsache, daß historisch hochpolitische Gegensätze in Anerkennungsverhältnisse überführt werden können und überführt worden sind - das auch für Carl Schmitt klassische Beispiel ist die Überwindung der konfessionellen Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts durch den modernen Staat-, kann nicht bedeuten, daß das Politische als ständig möglicher Eigenbereich verschwindet. Jede Überführung eines politischen Gegensatzes von einem, bei dem es um Leben und Tod geht, in den Bereich der gegenseitigen Anerkennung und schließlich in einen stabilen Normalzustand bedeutet notwendigerweise eine neue Definition des Feindes: Feind ist dann schließlich immer noch derjenige, der sich selbst aus dem Konsens der Anerkennung ausgrenzt, indem er diese den anderen verweigert und militant bestreitet, bzw. derjenige, der aufgrund staatlicher und völkerrechtlicher Definitionen ausgegrenzt bleiben muß. Immer muß entschieden werden, wer "dazu gehört" und wer nicht, wer die Freunde und die Feinde sind. Feinderklärung ist keineswegs immer schon Kriegserklärung und bedeutet auch keineswegs moralische Diffamierung. Vor allem aber schließt Feinderklärung in diesem strengen politischen Sinne die Anerkennung ein - Anerkennung als ganz zentrale Kategorie humanen, d. h. denkenden, bewußten Zusammenlebens verstanden. 25 Jemanden "als Feind 25 Vgl. zu dieser Erweiterung des Feindbegriffs um die Dimension der Anerkennung schon Julien Freund: L'essence du politique, Paris 1965.

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anerkennen" heißt, ihm seine volle menschliche Würde lassen. Er muß weder "Untermensch" noch "Abfallhaufen der Geschichte" sein. Diese Verweigerung von Anerkennung für die Feinde ist für Carl Schmitt das eigentliche Merkmal der Inhumanität des Kriegführens im 20. Jahrhundert, das vollständig unter die Herrschaft der Ideologien, also unter die Politik des Fiktionalismus geraten ist. Die Eigenständigkeit der politischen Unterscheidung gehört dagegen zum Bereich historisch-differenzierter Humanität. 26 Die Abgrenzung des Politischen vom Moralischen ist eine der folgenreichsten auch eine der umstrittensten - Abgrenzungen des politischen Realismus. Die Bedeutung dieser Abgrenzung liegt vor allen Dingen darin, daß in ihr eine der ganz wenigen wirklichen Errungenschaften für menschliches Zusammenleben zu sehen ist, an dessen Grund eines der wesentlichen Gesetze menschlicher Existenz liegt: das Gesetz von Kontingenz und Notwendigkeit. Wie schon Pascal zu seiner nicht geringen Verzweiflung erkannte, ist alles Recht als dieses kontingent - nichtsdestoweniger ist eine institutionalisierte Ordnung als solche notwendig. Die Anerkennung der Eigenständigkeit des Politischen und seiner Unterscheidung vom (bloß) Moralischen ist eine wirkliche Entdeckung, die mit einem nochmaligen Rückgriff auf Machiavelli vielleicht am besten deutlich gemacht werden kann. Weder Machiavelli noch einer seiner Nachfolger in der Tradition des politischen Realismus hat ja versucht, ,Moral' aufzuheben, Tugenden zynisch zu leugnen oder dem Politiker Lasterhaftigkeit als solche zu empfehlen. Was von Machiavelli bis Carl Schmitt eingesehen und nachvollzogen wird, ist die Tatsache, daß die politische Gründungs- und Erhaltungsleistungjeder möglichen Moral sachlogisch und existentiell vorausliegt, und daß deshalb dieser Bereich des Politischen im Ernstfall der Moral des verfestigten Normalfalles -und diesen Normalfall herzustellen ist die Aufgabe des Politischen - nicht untergeordnet werden kann. Die als eigenständig erkannte und anerkannte Politik hat ihr eigenes Ethos - sie kann auch und gerade seit Machiavelli zwischen guter und besserer Politik unterscheiden. Die Kriterien sind aber die des Politischen selbst. Vom Politiker erwarten wir nicht Moral, sondern gute Politik.27 Thomas Hobbes ist nicht von ungefahr einer der meistzitierten Vorgänger bei Carl Schmitt. Mit Hobbes ist am besten die politische Einsicht zu erläutern, daß Wahrheit eine Funktion von Politik ist und nicht umgekehrt. "Auctoritas non veritas facit legem" ist einer der umstrittensten Sätze bei Thomas Hobbes, aber mit diesem hat Carl Schmitt erkannt, daß dieser Satz nur von solchen bestritten werden kann, die vorgeben oder daran interessiert Vgl. oben FN 23. Natürlich kann dies nicht bedeuten, daß ein "guter Politiker" persönlich so korrupt sein kann wie er will. Auch hier bleibt Machiavelli ein guter Lehrer des Politischen. 26

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sind vorzugeben, über eine höhere Wahrheit zu verfügen - also über eine höhere Autorität als die des legitimen Gesetzgebers. 28 In diesem Satz ist aber angesichts der faktischen Situation des konfessionellen Bürgerkrieges und der Machtkonkurrenz der Priester- und Intellektuellenherrschaft, die,Wahrheit' längst relativ geworden, aber die Notwendigkeit konkreter Institutionen ist nach wie vor unbestreitbar. Es geht hier in der Tat um Notwendigkeit, d. h. darum, eine Leistung zu erbringen, die unausweichlich mit der menschlichen Existenz verbunden ist. Für Hegel war der Staat die "Wirklichkeit der sittlichen Idee", und "sittliche Idee" meint nichts anderes als Freiheit. Freiheit des Menschen im Sinne seines Menschseins, d. h. im Sinne der Verwirklichung eines guten, d. h. humanen Lebens, ist nur möglich unter Voraussetzung des Staates, d. h. unter Voraussetzung des Politischen. Auch jene Ausnahmefreiheiten, die sich "nur als Abweichung bestimmen" ,29 leben selbstverständlich von dieser Voraussetzung. Als Vertreter des politischen Realismus wie Machiavelli, Hobbes und Regel kann Carl Schmitt die Rousseau'sche Fiktion ursprünglicher Güte des Menschen nicht anerkennen. Er schreibt: "Demnach bleibt die merkwürdige und für viele sicher beunruhigende Feststellung, daß alle echten politischen Theorien den Menschen als "böse" voraussetzen, d. h. als keineswegs unproblematisches, sondern als "gefährliches" und dynamisches Wesen betrachten." 30 "Echte" politische Theorie in diesem Sinne sind die Theorien des politischen Realismus; sie wissen, daß, wenn man den Menschen in seiner ursprünglichen Freiheit ernstnimmt, kein Weg an der Notwendigkeit des Politischen vorbeiführt. Die Realität belehrt uns, daß die Menschen in der Tat die tödliche Bedrohung für ihresgleichen sind. Wenn man den Menschen Handlungsmöglichkeiten eröffnet- individuelle oder gesellschaftliche oder technische -, dann muß eine realitätsgerechte, also verantwortungsvolle, Politik auch immer mit den schlimmen und den schlimmsten Möglichkeiten rechnen. Die Notwendigkeit einer konkreten institutionellen Ordnung ist eine Forderung der politischen Realität. Politische Einheiten bedürfen stabiler und anerkannter Grenzen - innerer und äußerer. Solche Grenzen, deren Notwendigkeit historisch nicht bestritten werden kann, sind den Menschen, Völkern, Stämmen nicht natürlich oder naturrechtlich vorgegeben; sie zu schaffen, konnte nur ein leidvoller, gewaltgeladener Prozeß sein - ein 28

Zur Kontroverse um diesen Satz vgl. B. Willms, Der Weg des Leviathan, Berlin 1979,

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Vgl. Hege!, Rechtsphilosophie, Zweiter Teil: Die Moralität. Begriff des Politischen (FN 20), S. 61.

s. 162ff. 30

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Prozeß, der im übrigen noch anhält: wo Grenzen nicht anerkannt sind, ist Krieg oder mindestens ein ,Krisenherd'. Die relative Anerkennung territorialer Souveränitäten, d. h. politischer Subjekte als dieser, ist die Quintessenz des Völkerrechts, das als große Vorlage realer politischer Prozesse stets Gegenstand und Mittelpunkt von Carl Schmitts Denken gewesen ist. Grenzen können offen, durchlässig, veränderlich sein - aber es gibt keine Möglichkeit für ein realistisches politisches Denken, sie als prinzipiell aufhebbar zu denken- im Sinne etwa irgendwelcher menschheitlicher Vorstellungen. "Wer Menschheit sagt, will betrügen. " 31 Deshalb bleibt für Carl Schmitt als politischen Realisten die Welt ein politisches Pluriversum: es gibt keine Alternative zum Institutionalismus der Staatenwelt im Sinne eines Menschheitsstaates, alles Menschheitsdenken gehört dem politischen Fiktionalismus an. Eine politisch "grenzenlose" Zukunft herbeizuwünschen ist in einem sehr genauen Sinne nichts anderes als eine Demonstration totalen politischen Realitätsverlustes - dergleichen gehört eindeutig in den Bereich politischer Pathologie.

2. Arnold Gehlen Spätere Generationen werden sich wahrscheinlich darüber wundern, daß in den sechziger Jahren Massen von Studenten nach Frankfurt gepilgert sind, wo sie doch nach Aachen hätten gehen können. Dort lehrte damals noch Arnold Gehlen, und dieser spröde Denker des Protorealismus, von Frankfurt um so mehr gehaßt, als man sich auch dort von ihm belehrt fühlte, ist das andere Beispiel dafür, daß institutionelles Denken die Grundform politischen Realismus' ist. Lange vor der "Postmoderne" hatte Arnold Gehlen festgestellt, daß die Zeit der "großen Narrationen"- Gehlen nannte sie die modernen "Schlüsselattitüden" - vorbei sei: Begriff des "Posthistoire".32 Dies war eher analytisch als perspektivisch-programmatisch gedacht, aber es war um so eindeutiger: die Moderne ist vorbei. Damit legte Gehlen aber auch theoretisch die Axt an deren Wurzel: indem er demonstriert, daß sie bloß ein Epiphänomen ist, daß alle ihre "Narrationen" -so geschichtsmäßig sie gewesen sein mögen- an ihr Ende gelangen mußten, weil sie ein kurzsichtiges, kurzschlüssiges, eilfertiges und voreiliges Geschichtsverständnis hatten. Es geht um eine Radikalisierung des Geschichtsverständnisses, das, wie gesagt, an die Wurzel der Moderne rührt. Denn eine von den großen Fiktionen der Moderne war die der "VollendbarEbenda, S. 55. Dazu neuerdings: Lutz Niethammer, Posthistoire, Reinbek 1989; auch B. Willms: Postmoderne und Politik, in: Der Staat, 1989. 31

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keit der Geschichte". 33 Das Geschichtsverständnis ist aber insofern das Zentrum Gehlensehen Denkens, als es einerseits die "Zukünftigkeit des Menschen" zum Gegenstand machte und andererseits Geschichte in jeder für heute überschaubaren Form anthropologisch relativierte. Das heißt, Gehlen zog die philosophische Konsequenz aus der Erkenntnis, daß die Prägung einer Gattung wie der des "homo sapiens" eine Sache von hunderttausenden von Jahren war und daß folglich für die überschaubare Geschichte, aber auch für die absehbare Zukunft, mit anthropologischen Konstanten zu rechnen sei - ein Ausdruck, bei dem noch heute jeder in seine Agonie verliebter Moderner wütend aufheult. Anthropologische Grundlage dieser institutionellen Position war das Theorem vom Menschen als einem, verglichen mit der voll eingepaßten Instinktausstattung der anderen Tiere eigentlich als ,Mängelwesen' zu bezeichnenden Evolutionsprodukt. Obzwar Gehlen damit einen Ausdruck von Herder aufgriff, hatte er einen der wundesten Punkte der Moderne getroffen. Seit der großen Erzählung der alteuropäischen Kultur, nämlich der vom Menschen als einem nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen, gleichwohl aber zutiefst "gefallenen" Wesen, war das Denken auseinandergefallen und die eine, dominant gewordene Seite war eben die ,Moderne', die sich-aufgrundimmanenter Fortschritts- und Perfektionsvorstellungen - , die aus der bürgerlichen Revolte gegen die Aristokratie stammten - krampfhaft weigerte, sich in einem unverzerrten Spiegel zu sehen, der die niederträchtigen Züge des Menschen ebenso wiedergab wie seine erhabenen- der "Rousseau'sche Tarantelbiß". 34 Nun ist zwar das Gehlensehe Theorem vom ,Mängelwesen' nicht so substantiell gemeint wie es der Mythos bzw. die ,Narration' von Schöpfung und Fall des Menschen ausdrückt, sondern ziemlich strikt auf Relation zum biologischinstinktmäßig je relativ perfekt ausgestatteten bzw. seiner Umwelt eingepaßten Tier bezogen. Nichtsdestoweniger ist das Theorem vom "Mängelwesen" ein Stein des Anstoßes geworden, freilich vor allem aufgrundseiner Folgerungen und seines Stellenwertes für die institutionelle Auffassung des Gehlensehen anthropologischen Protorealismus. Da die elementare Unmittelbarkeit einer mehr oder weniger perfekten Eingepaßtheit in Natur beim Menschen nicht vorhanden ist, ist er darauf angewiesen, diese Eingepaßtheit in einem Zusammenspiel von eigener Flexibilität oder "Plastizität" und kreativem Entscheidungshandeln erst je selbst herzustellen. 35 Jene anthropologisch-evolutionäre Fremdheit oder primäre "Entfremdung", d. h. Unangepaßtheit an Welt ist eine Analogie zum Hobbesschen Naturzustand. 36 33 Die Formulierung stammt aus Hans Freyers Buch: "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters", Stuttgart 1955 (!)-auch ein Autor, den die Diskussion um ,Postmoderne' zu ihrem Schaden vernachlässigt. 34 Vgl. Friedrich Nietzsche, Morgenröte. 35 Dazu vor allem Gehlen, Urmensch und Spätkultur, passim. 36 Der Vergleich ist ausführlicher behandelt in: B. Willms, Homo homini faber, in: H. Klages I H. Quaritsch (Hrsg.), Arnold Gehlen, Berlin 1990 (?).

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Sie muß um des Lebens- und Überlebenswillens willen durch menschliche artifizielle Leistung kompensiert werden, und zwar in zweifacher Hinsicht. Die erste ist die des zu lernenden Umgangs mit der Natur, in der der Mensch zum ,homo faber' wird. Er erfindet, er unterwirft aufgrund seiner Hirnausstattung die Natur mit Hilfe ihrer selbst, macht sie sich jedenfalls, auch stets sich selbst an sie anpassend, hinreichend gefügig. Freiheit wird dadurch nicht nur im Sinne realer Existenz verwirklicht, sondern auch im Sinne von Möglichkeiten gesteigert. Dies bedeutet aber immer auch eine Steigerung schlimmer Möglichkeiten. In dieser theoretischen Konstruktion liegt perspektivisch viel Welterklärung, z. B. die Erkenntnis aller problematischen Konsequenzen entwickelter Technik samtallder ökologischen Probleme, die der ,Moderne' noch fremd waren. Damit hat aber der ,homo faber' noch ein anderes und nur analytisch von jenem zu trennendes Feld der konstitutiven Weltbewältigung zu beackernY Voraussetzung der Weltbewältigung ist die Regelung der Beziehung der Menschen untereinander, die ebenso wenig vorgegeben sind wie die zur Natur. Jene Schaffung der natürlichen Existenz, die der Natur abgearbeitet werden muß, kann nach Gehlen, wie nach Marx, nur gesellschaftlich erfolgen. Es gibt aber nichts Gesellschaftliches, also keine Beziehung zwischen Menschen, die sich als diese von selbst versteht, und das bezieht sich auch auf die elementarsten Vorgänge, w1e die Geschlechter- und die Mutter-KindBeziehung. Dies Problem der Fixierung und Stabilisierung menschlicher Beziehungen und menschlichen Verhaltens muß anthropologisch gleichfalls artifiziell gelöst werden: Die Beziehungen der Menschen als freie, d. h. immer in einer Vielzahl von möglichen Mustern handelnde Menschen, zu denen das gegenseitige Auffressenkönnen ebenso gehört wie die Respektierung aus Nähe und Notwendigkeit, müssen geregelt werden, und dazu haben die Menschen nichts zur Verfügung als sich selbst im Prozeß ihrer Verwirklichung. ,Verwirklichung' des Menschen meint hier das prozessuale Arbeiten am Auffinden der Möglichkeiten zu kollektiver Existenz. Dies ist keineswegs nach dem Muster des Salonmagiers zu erklären, der das Kaninchen, das er aus dem Hut holt, natürlich vorher dort hineinpraktiziert hat: auf einer solchen Täuschung beruht die Freiheitsauffassung der Moderne. Diese Auffassung setzte ja bei Rousseau, Locke und eben etwa auch in der Formulierung Spencers "man versus state" offensichtlich auf der einen Seite den Menschen voraus, der frei, vernünftig und sozusagen gestiefelt und gespornt aus dem Haupte eines fiktiven Zeus entsprungen war. Und dieser Mensch prozessiert nun mit einem ebenso unvermittelt gedachten Staat der doch wohl auch irgendwie Menschenwerk sein muß- um die Verwirklichung von Freiheit und Recht. Diese Abstraktion mag für die Kennzeichnung bestimmter geschichtlich später Abläufe ausreichend sein, ihr theoreti37 Zur Gehlensehen Institutionenlehre nach wie vor unübertroffen: Friedrich Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966.

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sches Ungenügen jedoch liegt auf der Hand. Denn es geht ja doch um die Verwirklichung von Freiheit, d. h. von kollektiver Existenz in und während der Notwendigkeiten der Auseinandersetzungen von Menschen mit Menschen, die dies, nämlich Menschen im Sinne realer Existenz, erst in dieser Auseinandersetzung werden können. Und die Freiheit ist elementar in der Tat nichts anderes als die Einsicht in die Notwendigkeit, die Beziehungen zu regeln, das Handeln zu kanalisieren, Bandbreiten des Verhaltens festzulegen, Abweichungen zu sanktionieren, Verhalten und vor allem Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, d. h. irgendwie Vorsorge zu treffen, daß das Verhalten der einzelnen relativ voraussehbar wird und nicht von jener primären Freiheit, die immer auch die schlimmeren und schlimmsten Möglichkeiten einschließt, bestimmt wird. Dies entspricht im genuinen Sinne dem "Naturzustand" bei Hobbes, der ja, wie gezeigt, als Konstruktion abgeleitet ist, um die Unmöglichkeit der Verwirklichung menschlicher Existenz unter den Bedingungen bloß natürlicher, hier ,primär' genannter Freiheit aufzuweisen. Alle realen Freiheiten sind künstlich und nur möglich als Ergebnisse je entschiedener Regelung der Beziehungen. Diese Regelungen entsprechen generell und in der jeweiligen Form den elementaren Bedürfnissen der Menschen im Sinne schieren Existierenwollens, des Überlebens, des Lebens und des guten Lebens - was immer jeweils darunter verstanden wird. Diese Regelungen sind die Institutionen. Es gehört zu den konstitutiven Grundlagenjeder Institution, daß sie dem Zugriff des je einzelnen, aber auch dem Zugriff gruppenmäßig verstärkter partikularer Interessen stets relativ entzogen sein müssen. Dies bedeutet aber nichts anderes als eine elementare Herrschaftsstruktur und Zwangsgewalt bei fortbestehender Freiheit. 38 Also ist Freiheit nur unter der Bedingung von institutionalisierter Herrschaft möglich und der Staat, d. h. seine Voraussetzung, das Politische als Institution, ist die "Wirklichkeit der sittlichen Idee", d. h. der Freiheit. Nur wenn von diesen elementaren Gründen und Begründungen abgesehen wird, kann die Abstraktion ,man versus state' entstehen und man kann sich dann in aller Oberflächlichkeit, die etwa den modernen Liberalismus oder die Narration von "der Emanzipation" auszeichnet, darüber auseinandersetzen, wann, wie und wieso welcher Seite ein größeres Gewicht zugestanden werden müsse. Wird gründlich gedacht, so ist die unauflösliche Verflechtung- Dialektik - dieser sich verwirklichenden Beziehung durchaus unausweichlich, und dies hat eine eindeutige Konsequenz, die freilich von jener Oberflächlichkeit der Moderne wütend bekämpft wird. Es ist keine Frage, daß die Institutio38 Und es gibt keinerlei Sinn, etwa evolutionsgeschichtlich auf einen , Menschentyp zu hoffen, der rnutativ seine Freiheit nur gesellschaftlich-funktional einsetzen könnte- dies genau wäre das Ende der Freiheit. Die Pädagogik des späten Fichte glaubte freilich, etwas dergleichen erreichen zu können, und auch hinter den glaubensfeuchten Blicken enttäuschter Sozialisten vorn Schlage Christa Wolf scheint sich heute noch eine solche irrationale Hoffnung zu verbergen- man müßte eben bloß den "wahren Sozialismus" etablieren.

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nen die Verwirklichungs- und Erhaltungsbedingungen jeder individuellen Existenz unter der Voraussetzung der Freiheit sind. Die Formel "Mensch gegen Staat bzw. gegen Institution" kann nur eine sozusagen ,tertiäre' Auseinandersetzung sein - die, in entwickelten politischen Verhältnissen nur unter deren zu bedenkenden Voraussetzungen Bedeutung erlangen kann. Niemals aber darf übersehen werden, was das Konstitutivum für ,sekundäre', d. h. menschlich lebbare Freiheit schlechthin ist. Die angemessene humane, d. h. auf Einsicht und Wirklichkeitssinn beruhende Haltung gegenüber den Institutionen ist der Nachvollzugjenes konstitutiven Charakters, d. h. das freiwillige Handeln im Sinne der Institution und ihrer Erhaltung. Der einzelne, insofern er bloß dies ist, hat keine Wirklichkeit, diese läßt sich nur unter Voraussetzung der Institutionen bestimmen, und zwar auch dort, wo er sich subjektiv nur durch Abweichung zu ,verwirklichen' glaubt - was mindestens eine Täuschung, schlimmstenfalls Kriminalität im substantiellen Sinne ist. Der einzelne kann - elementar gesehen - keine "Würde" außerhalb der Institution haben, seine Bedeutung besteht, nach Gehlen, eben im bewußten Nachvollzug der elementaren Notwendigkeit. Lesen wir die zu Beginn als Charakterisierung einer bestimmten politischen Denkweise angeführte Formulierung Spencers "man versus state" als: "Der Mensch oder die Institution", so sollte anband der Beispiele deutlich geworden sein, daß es dem gründlichen Denken des politischen Realisten nicht darum gehen kann, die Frage im Sinne der Beliebigkeit parteilicher Stellungnahmen zu beantworten. Ob man sich eher auf die Seite ,des Menschen' oder auf die Seite ,der Institution' stellt, ist bestenfalls eine Frage politischer Kasuistik. In ihr ist ein entschiedenes theoretisch begründbares Urteilen nur möglich, wennjene Fragen nicht im Sinne beliebiger Pluralität, sondern im Sinne realistischer Erkenntnis beantwortet werden. Der institutionell Denkende hat sich nicht aus irgendwelchen als irrational zu denunzierenden subjektiven Voraussetzungen heraus für die ,eine Seite', die der Institution entschieden. Vielmehr ist es so, daß der institutionell Denkende etwas weiß, was der politische Fiktionalist nicht weiß, nicht wissen will oder nicht anerkennen will. Er weiß um die Transzendentalität des PolitischInstitutionellen, d. h. um die zu leistende lnstitutionalität des Handeins als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Existenz in Freiheit. Dieses Wissen ist auch postmodern nicht zu relativieren - denn bei jener zu leistenden Institutionalisierung handelt es sich nicht um ein "Sollen", sondern um ein "Müssen" - es handelt sich um Einsicht in eine Notwendigkeit. 39 Die Notwendigkeit ist theoretisch von höherer Dignität als alle ,Wahrheiten', die in der Tat nur noch pluralistisch aufgefaßt werden können, und deren je abgeleitete Normativität nur dies gemeinsam hat, daß sie bestreitbar ist. Der institutionell Denkende kann sich im konkreten Fall einer Konfrontation 39

Vgl. dazu meine Ausführungen über Lyotard in: Postmoderne und Politik (FN 32).

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eines bestimmten Menschen mit einer bestimmten Institution durchaus auf die Seite ,des Menschen' schlagen. Denn eine Institution als diese kann ebenso kontingent sein wie der Mensch als solcher abstrakt ist. Aber die Institution als solche ist ebenso notwendig, weil konstitutiv für jeden Menschen und seine Freiheit als diese, also als konkrete, und dies vor allem dann, wenn Freiheit ernstgenommen wird. Keineswegs ist der institutionell Denkende jemand, der im Prozeß "man versus state" einfach die Partei des Stärkeren ergreift. Er weiß aber um die verheerenden, d. h. konkrete Freiheiten bedrohenden Wirkungen des politischen Fiktionalismus, der seine Ideologien im Namen des Menschen oder der Menschheit entfaltet. Der institutionell Denkende ist, um literarische Beispiele zu zitieren, nicht in der Rolle des Großinquisitors in Schillers Don Carlos, der im Interesse von Herrschaftspositionen dogmatische Fiktionen verwaltet, sondern in der Rolle des Cid Campeador im spanischen Volksepos, der seinem König an die Gurgel geht, um ihn zu zwingen, sich wie ein König zu benehmen. Daß hiermit eine heroische Komponente angespielt ist, geschieht in voller Absicht. Es ist nicht sicher, ob der Autor des folgenden abschließenden Zitates dieser Arbeit im ganzen oder im einzelnen zustimmen würde. Sicher ist aber, daß der institutionell Denkende seinerseits diesem Autor zustimmen müßte: "Das Politische muß erst noch unverkürzt, in seiner Ganzheit, wiederentdeckt werden. Auch der Kampf gegen den ökonomischen Reduktionismus ist undenkbar ohne die Wiederentdeckung und Berücksichtigung des politischen Heroismus .. . . Das Vergessen des Politischen läßt sich nur durch eine Wiederentdeckung des Heroismus aufheben. "40

40 Michel Abensour, Saint Just. Die Paradoxie des revolutionären Heroismus, in: Lettre International, 5, 1989.

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,,Bewegung im erschwerenden Mittel"' Handlungstheoretische Elemente bei Carl von Clausewitz I. Entstehungszusammenhang

Nach dem bekannten Wort von Heraklit ist der Krieg der Vater aller Dinge. Während der Krieg hier noch als kulturelles Universale erscheint, wird es angesichtsder nuklearen Bedrohung vielfach als unpassend empfunden, den Krieg auch nur zu denken. Als Disziplin ist die Friedensforschung längst an die Stelle der Militärwissenschaft getreten, wenn es eine solche je gegeben hat. Lohnt es sich unter diesen Umständen überhaupt noch, sich mit einem Autor zu befassen, der als Philosoph des Krieges den Rang eines Klassikers einnimmt? Was aber, so wäre zu fragen, zeichnet einen solchen aus: seine Bekanntheit, die überzeitliche Bedeutung seines Werkes, seine Originalität oder die Brillanz seiner Darstellung? Was seine Bekanntheit anbelangt, teilt Clausewitz das Schicksal vieler, wenn nicht der meisten Klassiker: sie steht im umgekehrten Verhältnis zu dem Verständnis oder auch nur der Kenntnis seines Werkes. Diese beschränkt sich zumeist auf das nicht einmal korrekt wiedergegebene Zitat, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. 2 Aber auch bei seinen Anhängern und Kritikern ist Clausewitz häufig mißverstanden worden, sei es durch einseitige aus dem Zusammenhang gerissene Übernahme seiner Argumente, sei es durch ihre mißbräuchliche Verwendung. Der Kreis derjenigen, die sich aufihn und sein Werk berufen, umfaßt keineswegs nur das preußische Offizierskorps, aus dem er hervorgegangen ist. Friedrich Engels empfiehlt ihn Marx als "Stern erster Größe", der ihm seinerseits einen "common sense" bescheinigte, der an Witz grenzt. Damit war seine Verträg1 "Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel"; hier wie im folgenden zit. nach Carl von Clausewitz, Hinterlassenes Werk "Vom Kriege", 18. Aufl., hrsg. von W. Hahlweg, Bonn 1973, S. 263 et passim. Für Anregungen und Kritik danke ich Petra Ahrweiler-Voss, Rainer Dieterich und Karlheinz Messelken, alle Hamburg. 2 Dieser Gedanke findet sich bei Clausewitz in unterschiedlicher Formulierung wie: "Der Krieg ... ist eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln, S. 210, oder: "Der Krieg ist nichts als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln", a.a.O., S. l70.

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lichkeit mit dem dialektischen Materialismus gewissermaßen von höchster Stelle abgesegnet. Andererseits wirkt es erstaunlich, daß Clausewitz bei den Streitkräften keine besondere Beachtung erfährt, und die Beschäftigung mit ihm dem persönlichen Interesse einiger Spezialisten überlassen bleibt. Stärkere Aufmerksamkeit hat er dagegen neuerdings auf französischer Seite gefunden. Raymond Aron, dessen Interesse auch schon früh auf die deutsche Soziologie gerichtet war, hat dem preußischen Militärtheoretiker eine umfangreiche Monographie gewidmet, in der er der Frage nachgeht, wieweit dessen Lehren im Atomzeitalter noch gültig sind. Seine Bewunderung für diesen Autor wird bereits in der Einleitung deutlich, wenn festgestellt wird, daß "derselbe Text von Deutschen und Franzosen, die so lange Feinde waren und heute versöhnt sind, gelesen werden muß". 3 Was nun die beiden weiteren Kriterien - überzeitliche Bedeutung und Originalität der Betrachtungsweise- anbelangt, werden diese in zweifacher Weise erkennbar: zum einen in der Bestimmung des Verhältnisses von Krieg und Politik, zum anderen in der Art und Weise, in der kriegerische Auseinandersetzungen als wissenschaftliche Tatsache behandelt werden. "Nicht was wir gedacht haben", schreibt Clausewitz, "halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben". 4 Sieht man von der politischen Implikation dieser Theorie ab, ist ihre sozialwissenschaftliche Relevanz wiederholt bemerkt worden. Der Krieg gehört für Clausewitz in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens. 5 Karl Korsch meint hier eine Ähnlichkeit mit dem wissenschaftlichen Sozialismus erkennen zu können, der ebenfalls den "Konflikt großer Interessen" als zentrales Problem ansieht. 6 Während diese Interpretation etwas bemüht wirkt, ist die handlungstheoretische Implikation bei Clausewitz so offenkundig, daß sie kaum zu übersehen ist. So stellt Walter Malsten Sehering fest: "Nicht nur einen Philosophen des Krieges, wie die Soldaten Clausewitz seit langem genannt haben, einen Philosophen des Handeins haben wir in ihm zu sehen." 7 Diese These wird allerdings nicht weiter expliziert; der Autor begnügt sich hier mit einer allgemeinen Feststellung zum Verhältnis von Theorie und Praxis: "Die Philosophie ist überhaupt nicht dazu da, das Handeln zu regieren, sondern das Denken zu revolutionieren, damit es sich erneuere und R. Aron, Clausewitz - Den Krieg denken, dt. Übers., München 1980, S. 11. C. von Clausewitz, Hinterlassene Werke, Bd. 7, S. 361. 5 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 303. 6 K. Korsch, Zum Clausewitzschen Theoriebegriff, in: G . Dill (Hrsg.), Clausewitz in Perspektive, Materialien zu Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Frankfurt a.M./Berlin 1980, s. 558. 7 W. M. Schering, Clausewitz- Geist und Tat, Stuttgart 1942, S. XI. 3

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gesunde. Aber daß dieses Denken Hand in Hand mit dem rechten Handeln gehe, daß der Denker nicht passiv die Welt beschaue, sondern sein eigenes Denken als ein Handeln begreife, daß er sich auf den Standpunkt des Handelnden stelle und von dort sich und die Welt begreife, das ist, was die Philosophie des Handeins ausmacht und was Clausewitz uns lehrt. "8 Bei diesen Ausführungen bleibt nicht nur offen, wie wir uns die konzeptionelle Seite dieses Programms vorzustellen haben; sie ist auch ein Beispiel für eine Rezeptionsweise, die allein durch ihre Diktion Fehleinschätzungen begünstigt. Clausewitz selbst bedient sich einer Sprache, die seinen theoretischen Schriften, insbesondere seinem Hauptwerk "Vom Kriege", durch ihre Geschliffenheit und analytische Prägnanz literarischen Rang verleiht. Obwohl Schering, wie gesagt, auf eine detaillierte Ausarbeitung seiner These verzichtet, läßt sich seinen Ausführungen zumindest die Andeutung entnehmen, daß Clausewitz Elemente der verstehenden Soziologie vorweggenommen hat. Deren Aufgabe besteht nach Max Weber bekanntlich darin, "soziales Handeln deutend zu verstehen und in seinem Ablaufursächlich zu erklären". 9 Was den sog. exakten Wissenschaften verschlossen bleibt, ist ihr Hauptanliegen, "eben das ,Verstehen' des Verhaltens der beteiligten Einzelnen". Wie noch zu zeigen ist, gilt diese Erkenntnisabsicht auch für Clausewitz. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, erscheint es angebracht, einige Anmerkungen zur Biographie dieses Autors zu machen. Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz wurde 1780 in Burg bei Magdeburg geboren. Seiner Herkunft nach war er eigentlich kein Mann "von Stand". Sein Vater wurde nach einer Kriegsverletzung mit einer subalternen Beamtenposition abgefunden. Clausewitz bekennt, daß er eine wenig freudvolle Jugend gehabt habe. Mit zwölf Jahren trat er in die Armee ein und machte bereits ein Jahr später bei der Belagerung von Mainz seine ersten Fronterfahrungen. Mehr noch als die beengten Verhältnisse in seinem Elternhaus machte ihm die Tatsache zu schaffen, daß das Adelsprädikat, das bereits der Vater verwendete, wohl einer genaueren Überprüfung nicht standgehalten hätte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß der König von Preußen diesen Adel als Anerkennung militärischer Erfolge seines Bruders, dessen Ruhm inzwischen weitgehend verblaßt ist, bestätigt hat. Clausewitz selbst hatte nur wenig Gelegenheit, sich militärisch auszuzeichnen. Nach der Niederlage Preußens trat er vorübergehend in russische Dienste. In dieser Eigenschaft war er maßgeblich an der Konvention von Tauroggen beteiligt, mit der Napoleons Stern endgültig zu sinken begann. Eine offizielle Anerkennung dafür blieb ihm ebenso versagt, wie für seine 8 9

Ebd., S. XXXIV. Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Halbbd., Köln/Berlin 1956, S. 3.

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Mitwirkung an der preußischen Heeresreform. Seine Laufbahn war nach dem Urteil eines seiner Biographen kaum mehr als eine "Dutzendkarriere" . 10 Mit 51 Jahren stirbt er 1831 einen frühen Tod. Was ihm an militärischen Ehrungen versagt blieb, wurde durch glückliche Umstände in seinem persönlichen Bereich aufgewogen. In Schamhorst fand er einen Vorgesetzten, der seine Begabung früh erkannte und förderte. Trotz eines erheblichen Altersunterschiedes bestand zwischen diesen beiden Männern eine lebenslange Freundschaft. Auch die Wahl seiner Frau sollte sich als glücklich erweisen. Ihr ist es zu verdanken, daß sein opus magnum, dessen Fertigstellung ihm nicht mehr vergönnt war, posthum erscheinen konnte. l1 Die Tatsache, daß Clausewitz seine Laufbahn als Außenseiter begann und diese Rolle zeitlebens nie ganz abgelegt hat, könnte eine der Ursachen seiner Kreativität gewesen sein. Sie hat ihn nicht nur veranlaßt, vieles nachzuholen, was er an formaler Bildung und Erziehung versäumt hatte, sondern sie hat sicherlich auch dazu beigetragen, daß er die Zeichen der Zeit unbefangener zu beobachten und zu beurteilen vermochte. Er sah- um eine Formulierung des ungarischen Nobelpreisträgers Albert von Szent-Györgyi zu übernehmen - was jeder sehen konnte, und dachte, was vor ihm noch niemand gedacht hatte. Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die durch die französische Revolution ausgelöst worden sind, hatten auch für das Militärwesen und die Art, Kriege zu führen, weitreichende Folgen. "Sie hatten", wie Clausewitz feststellt, "das furchtbare Element des Krieges aus seinen alten diplomatischen und finanziellen Banden losgelassen: er schritt nun mit seiner rohen Gewalt einher, wälzte eine ungeheure Masse von Kräften mit sich fort, und man sah nichts als Trümmer der alten Kriegskunst auf der einen Seite und unerhörte Erfolge auf der anderen, ohne daß man dabei ein neues System der Kriegsführung, d. h. neue Wege der Klugheit, neue positive Formen im Gebrauch der Kräfte, deutlich unterschieden hätte" . 12 II. Elemente der Handlungstheorie

Angesichts dieser Krisensituation entwickelt Clausewitz ein Paradigma, das ein neues Verständnis militärischer Konflikte eröffnet hat. Darin werden die Irrationalität des Geschehens und die daraus resultierenden Anforderungen an das Verhalten unter Risiko und Ungewißheit mit der Rationalität des Krieges als Mittel für einen politischen Zweck zu einer theoretischen Synthe10 W. von Schramm, Clausewitz General und Philosoph, genehmigte, gekürzte Taschenbuchausgabe, Esslingen 1982, S. 23. 11 Das Werk wurde anfangs nur zögernd aufgenommen, wurde dann aber in rascher Folge neu aufgelegt. Es ist 1980 zum 200. Geburtstag des Autors in 19. Auflage erschienen. 12 C. von Clausewitz, Verstreute kleine Schriften, hrsg. von W. Hahlweg, Osnabrück 1977, s. 228.

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se vereinigt. Handlungstheoretisch sind vor allem die beiden ersten dieser drei Variablen von Interesse. Die erste bezieht sich auf die spezifischen Kontextbedingungen des Handeins im Kriege als einer "Bewegung im erschwerenden Mittel", 13 die zweite auf die persönlichen Qualitäten, die erforderlich sind, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können. Damit geht die Handlungstheorie in eine Eigenschaftstheorie des Handelnden über. Diese wurde vielfach als das eigentlich Originelle bei Clausewitz angesehen. Dem Historiker Hans Rothfels erscheint sie trotz ihrer romantischen Anklänge als richtig im Hinblick auf "die Bewertung des Immateriellen und Unwägbaren" . 14 Der englische Militärexperte B. H. Liddei Hart, im übrigen ein scharfer Kritiker des Autors, sieht dessen originären Beitrag zur Kriegstheorie ausschließlich in der Berücksichtigung der psychologischen Faktoren. 15 Dieses Urteil istjedoch einseitig, da es einen integralen Teil des Werkes aus dem Zusammenhang reißt. Es läßt außer Acht, daß sich beide - Clausewitz' Handlungstheorie und Theorie des Handelnden gegenseitig begründen und daher eine Einheit bilden. Insofern besteht auch ein Unterschied zur verstehenden Soziologie. Dennoch lassen sich einige bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen beiden Ansätzen nicht übersehen. Sie betreffen erstens die Methode, zweitens das Moment der Gegenseitigkeit und drittens das der Theorie zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis. 1. Bedingungen der Handlungssituation

Diese Kriterien finden sich natürlich nicht bei Clausewitz. Sie sind der Wissenschaftslehre Max Webers entnommen. Das wiederum bedeutet nicht, daß diese durch den preußischen Generalmajor beeinflußt war. Dafür gibt es im Gesamtwerk Max Webers keinen ausdrücklichen Hinweis. Wieweit Weber die Schriften des preußischen Generals gekannt hat, wäre einer genaueren Überprüfung wert. Die folgende Passage aus seiner Wissenschaftslehre weist derart auffällige Übereinstimmung in Denkstil und Diktion auf, daß sie von Clausewitz selbst stammen könnte: "Um z. B. die Führung eines Krieges zu ,verstehen', muß unvermeidlich- wenn auch nicht notwendig ausdrücklich oder in ausgeführter Form- beiderseits ein idealer Feldherr vorgestellt werden, dem die Gesamtsituation und Dislokation der beiderseitigen militärischen Machtmittel und die sämtlichen daraus sich ergebenden Möglichkeiten, das in concreto eindeutige Ziel: Zertrümmerung der gegnerischen Militärmacht, zu erreichen, bekannt und stets gegenC. von Clausewitz, a.a.O., S. 202 und 414. H. Rothfe1s, Clausewitz, in: G. Dill (Hrsg.), C1ausewitz in Perspektive, Materialien zu Carl von Clausewitz "Vom Kriege", Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1980, S. 285 f. 15 B. H. Liddei Hart, Vom staatlichen und vom militärischen Ziel, in: G . Dill, Clausewitz in Perspektive, a.a.O., S. 542. 13 14

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wärtig gewesen wären, und der auf Grund dieser Kenntnis irrtumslos und auch logisch ,fehlerfrei' gehandelt hätte. Denn nur dann kann eindeutig festgestellt werden, welchen kausalen Einfluß der Umstand, daß die wirklichen Feldherren weder jene Kenntnis noch diese Irrtumslosigkeit besaßen und daß sie überhaupt keine bloß rationalen Denkmaschinen waren, auf den Gang der Dinge gehabt hat." 16 Doch selbst wenn ein direkter Wirkungszusammenhang nicht bestehen sollte, ist die Feststellung erlaubt, daß der Soziologe sehr wohl zur Entschlüsselung der Schriften des Kriegstheoretikers beizutragen vermag. Von seinem Standpunkt aus läßt sich insbesondere zeigen, daß Clausewitz die Bedingungen einer allgemeinen Theorie des Handeins erfüllt, auch wenn er den gewaltsamen Konflikt in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses gerückt hat. Eine erste Übereinstimmung kann unter dem Gesichtspunkt des methodischen Vorgehens festgestellt werden. Sie tritt vor allem in dem Ersten Buch des Hauptwerkes "Vom Kriege" in Erscheinung. Es ist wohl das einzige, das auch in den Augen des Autors als abgeschlossen gelten kann. Es beginnt mit einer Begriffsbestimmung. Clausewitz definiert den Krieg als einen erweiterten Zweikampf, in demjeder der beiden Kontrahenten versucht, den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen, ihn niederzuwerfen und zu weiterem Widerstand unfähig zu machen. Die Gegenseitigkeit dieser Konfliktbeziehung erzeugt verschiedene Wechselwirkungen, aus denen eine Tendenz zum Äußersten entsteht. Diese Begriffsbildung hat Veranlassung zu zahlreichen Fehlinterpretationen gegeben. Den militärischen Falken dient sie als Bestätigung ihrer Ansichten, während sie den Kritikern als Plädoyer für den totalen Krieg und als "Rechtfertigung nutzloser, blutiger Frontangriffe" erscheint. 17 Beide Auffassungen sind unzutreffend, denn sie übersehen das der Analyse zugrundeliegende Prinzip. Mit seiner Definition bewegt sich Clausewitz auf dem, wie er selbst sagt, "abstrakten Gebiet des bloßen Begriffs", 18 indem er die Konfliktbeziehung ganz im Sinne Max Webers als "Idealtypus, d. h. als gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit" konstruiert.19 Um den reinen Begriff der Realität anzunähern, sind Modifikationen erforderlich: "Wenn man fest an das Absolute haltend alle Schwierigkeiten mit einem Federstrich umgehen und mit logischer Strenge darin beharren wollte, daß man sich jederzeit auf das Äußerste gefaßt machen und 16 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen 1968, S.534. 17 Ebd., S. 547. 18 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 195. 19 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von J. Wincke1mann, 3. erw. Aufl., Tübingen 1968, S. 190.

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jedesmal die äußerste Anstrengung daransetzen müsse, so würde ein solcher Federstrich ein bloßes Büchergesetz sein und keines für die wirkliche Welt." 20 Eine erste Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, daß der Krieg in einen übergreifenden Geschehensablauf eingebettet ist. Er hat eine Vorgeschichte und ist deshalb kein isolierter Akt. Außerdem beansprucht die Kriegführung Zeit und kann deshalb nicht auf eine einzige oder eine Reihe gleichzeitiger Entscheidungen reduziert werden. Eine dritte Einschränkung ergibt sich daraus, daß mit dem Abschluß der Feindseligkeiten die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Der Krieg hat wiejede Handlung Folgen und kann deshalb nicht als eine in sich geschlossene Entscheidung behandelt werden. 21 Das politische und gesellschaftliche Leben nimmt nach Beendigung der Feindseligkeit seinen Fortgang. Auch das bedeutet, daß sich die Kontrahenten in der Wahl ihrer Mittel Schonung auferlegen. In der Industriesoziologie bezeichnet man derartige Konfliktbeziehungen als antagonistische Kooperation. Damit ist gemeint, daß auch dem Streit ein verbindendes Moment innewohnt. So kann zum Beispiel bei Arbeitskämpfen beobachtet werden, daß die Tarifparteien nicht die gegenseitige Vernichtung anstreben. Es besteht vielmehr, wie Oswald von Nell-Breuning anmerkt, Einmütigkeit darüber, "daß, wenn schon im Krieg, so erst recht im Arbeitskampf nicht uneingeschränkt der Gebrauch aller nur denkbaren Waffen zulässig sein kann, vielmehr auch die im Arbeitskampf anzuwendenden Waffen zu prüfen sind und ihre Anwendung der Rechtfertigung bedarf'Y Eine ganz wesentliche Modifikation ergibt sich aus dem unmittelbaren Handlungsgeschehen. Zweck kriegerischer Auseinandersetzungen ist es, den Gegner wehrlos zu machen. Das dafür verwendete Mittel ist die physische Gewalt. Nach der Theorie muß sie bis zum äußersten gesteigert werden. In der Realität sind jedoch Zweck und Mittel unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheil gegenseitig abzuwägen, wobei nicht nur der Zweck den Mitteleinsatz bestimmt, sondern auch die verfügbaren Mittel den Zweck. Wenn nämlich "der Kraftaufwand so groß wird, daß der Wert des . .. Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muß dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein". 23 Diese Urteilsfahigkeit wird übrigens auch von der politischen Führung erwartet. Für den Staatsmann und Feldherrn stellt sich als erste und umfassendste aller strategischen Fragen, "daß er den Krieg, welchen er unternimmt, ... richtig erkenne, ihn C. von Clausewitz, a.a.O., S. 196. C. von Clausewitz, a.a.O., S. 196. 22 0. von Neii-Breuning, Aussperrung, in: Stimmen der Zeit, Heft 1, Januar 1980, S. 5. 23 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 217; ähnlich auch S. 505: "je schwächer die Kraft, desto kleiner müssen die Zwecke sein." 20

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nicht für etwas nehme oder zu etwas machen wolle, was er nach der Natur der Verhältnisse nicht sein kann". 24 Wie Raymond Aron bemerkt, stammt die Art und Weise, menschliches Handeln anhand der Kategorien von Zweck und Mitteln zu verstehen, dem gesunden Menschenverstand. Clausewitz hat sie vermutlich der Ästhetik Kants entnommen. Unter dem Begriff der Zweckrationalität verwendet sie Max Weber als eine idealtypische Ausprägung sozialen Handelns, anhand deren festgestellt werden kann, "wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbeteiligten und bei streng zweckrationaler ... Wahl der Mittel verlaufen wäre". 25 Diese Bedingungen sind im Kriege so wenig erfüllt wie bei jedem anderen Idealtyp. Sie dienen ausschließlich dem heuristischen Zweck, die Ablenkungen, die ein beobachtbarer Handlungsverlauf gegenüber dem "reinen Fall" aufweist, anhand des theoretischen Modells bestimmen und erklären zu können. Clausewitz verfahrt ganz in diesem Sinne, indem er eine Reihe von "Modifikationen in die Wirklichkeit" vornimmt. Dazu gehört ganz wesentlich die doppelte Kontingenz, die sich aus der Polarität der Konfliktbeziehung ergibt. Die handlungstheoretische Implikation der Analyse wird hier deutlich erkennbar. Ernst Vollrath hat diesen Gesichtspunkt neuerdings zum Anlaß einer methodischen Untersuchung der Theorie des Handeins bei Clausewitz genommen. Sie dient zugleich dem Nachweis, daß diese auch im Atomzeitalter noch Gültigkeit besitzt, da alles Handeln nicht nur miteinander, sondern wegen der "pluralen Besonderheit" des Handelnden zugleich auch gegeneinander erfolgt. 26 Wegen seiner "situativen und kontingenten Partikularität, die zum Wesen allen wirklichen Handeins gehört, entzieht er sich einer objektiven Theorie". 27 Dieser Folgerung kann ebenso zugestimmt werden wie ihren Prämissen. Einwände sind lediglich dagegen zu erheben, daß die Kontingenz einer Handlungssituation auf das Gegenhandeln beschränkt wird und dadurch weitere situative Einflußgrößen ausgeblendet werden. Bei Clausewitz werden beide Aspekte gleichermaßen berücksichtigt und in seine Eigenschaftstheorie einbezogen. Hinsichtlich der Handlungstheorie im engeren Sinne wird mit der Bezogenheit auf andere ein zentrales Merkmal vorweggenommen, das den Begriff des sozialen Handeins auszeichnet. Dieses ist nach Max Webers Definition orientiert am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer. Es ist übrigens interessant, daß Weber C. von C1ausewitz, a.a.O., S. 212. R. Aron, a.a.O., S. 147. 26 E. Vollrath, Neue Wege der Klugheit, Zum methodischen Prinzip der Theorie des Handeins bei C1ausewitz, unveröffentl. Manuskr., Köln o. J., S. 7. 27 Ebd., S. 10. 24 25

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seine Definition mit dem Beispiel des militärischen Konflikts illustriert: "Rache für frühere Angriffe, Abwehr gegenwärtiger Angriffe, Verteidigungsmaßregeln gegen künftige Angriffe. " 28 Das entsprechende Zitat bei Clausewitz lautet: "Jeder der beiden Teile wird auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen."29 Im theoretischen Grenzfall entsprechen diese Erwartungen denen eines Nullsummenspiels. Das Interesse des einen Feldherrn wird immer als entgegengesetzte Größe bei dem anderen gedacht, wobei das Prinzip der Polarität nur dann seine Gültigkeit behält, "wenn diese an ein und denselben Gegenstand gedacht wird, wo die positive Größe und ihr Gegensatz, die negative, sich genau vernichten".30 Bei dieser Analyse wird im übrigen eine Differenzierung vorgenommen, die der in der Systemtheorie verwendeten Unterscheidung zwischen Elementen und den zwischen diesen bestehenden Beziehungen nahekommt. "Wenn aber", wird in diesem Zusammenhang ausgeführt, "von zwei verschiedenen Dingen die Rede ist, die eine gemeinschaftliche Beziehung außer sich haben, so haben nicht diese Dinge, sondern ihre Beziehung die Polarität". 31 Bei seiner theoretischen Analyse militärischer Auseinandersetzungen geht Clausewitz, wie erwähnt, von dem Fall aus, in dem jede Konfliktpartei äußerste Anstrengungen unternimmt, die Gegenseite kampfunfahig zu machen. Dieses Modell ist ähnlich konstruiert wie etwa das aus der Nationalökonomie bekannte rationale Schema. Es ist auch wie dieses gleichermaßen realitätsfern. Im Laufe weiterer Theoriebildung haben sich die Ökonomen bemüht, durch Einführung zusätzlicher Kontextvariablen den Vorwurf des Modellplatonismus zu entkräften. In ähnlicher Richtung hat auch Clausewitz gedacht. Was den tatsächlichen Krieg von. dem auf dem Papier unterscheidet, faßt er in dem Begriff der Friktion zusammen. Er stammt offensichtlich aus der Mechanik und stellt hier eine Relativierung der Friktion eines technischen Artefakts dar, das gänzlich ohne Reibungsverluste funktioniert. Ähnlich verhält es sich auch im Krieg. Was am grünen Tisch ganz einfach erscheint, stellt sich im Verlauf der Kampfhandlungen als mehr oder weniger kompliziert dar. Die Vielzahl der potentiellen Störgrößen läßt sich auf die folgenden vier Bestandteile reduzieren, "aus denen die Atmosphäre zusammengesetzt ist, in welcher sich der Krieg bewegt":32 Auf die Gefahr, die körperliche Anstrengung, die Ungewißheit und den Zufall. Während ein idealtypisches Modell wie etwa das der vollkommenen atomistischen KonWirtschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 16. C. von Clausewitz, a.a.O., S. 199f. 30 Ebd., S. 204. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 237.

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kurrenz auch einen idealtypischen Aktor in Gestalt des homo oeconomicus voraussetzt, fragt der Militärtheoretiker nach individuellen Eigenschaften, die notwendig sind, angesichtsder Friktion bestehen zu können. An anderer Stelle führt er dazu aus: "Die Theorie des Krieges beschäftigt sich zwar vorzüglich damit, wie man auf den entscheidenden Punkten ein Übergewicht von physischen Kräften und Vorteilen erhalten könne; allein wenn dieses nicht möglich ist, so lehrt die Theorie auch auf die moralischen Größen kalkulieren. " 33 Ihre Besonderheit ergibt sich aus der einfachen Überlegung, daß der Erfolg um so mehr voil den immateriellen Faktoren abhängt, je stärker sich die Kräfteverhältnisse, was Ausrüstung und Ausbildung anbelangt, einander annähern. 34 2. Persönlichkeitsbedingte Einflüsse

Clausewitz hat den moralischen Größen im Zweiten Buch, das sich mit Fragen der Strategie befaßt, mehrere Kapitel gewidmet, in denen er die Talente des Feldherrn, die kriegerische Tugend des Heeres und den Volksgeist behandelt. 35 "Weil sie sich weder in Zahlen noch in Klassen bringen lassen", gehören sie nach Meinung des Autors "zu den wichtigsten Gegenständen des Krieges". Diese Ausführungen werden vervollständigt durch das mit "Der kriegerische Genius" überschriebene 3. Kapitel des Ersten Buches. 36 Dieser bezieht sich auf die Person des Feldherrn, der gemäß zeitgenössischer Anschauung die alleinige Entscheidungsgewalt besaß. Insofern ist Clausewitz' Theorie eine Theorie des großen Mannes. Sie läßt sichjedoch unschwer auf Situationen übertragen, in denen Entscheidungen dezentral getroffen und beantwortet werden müssen. Mit der Einbeziehung des Aktors in die theoretische Betrachtung wird ihr Bezugsrahmen gegenüber der Handlungstheorie Max Webers erweitert. Das geschieht nicht, wie es dem Zeitgeist entsprochen hätte und auch durch die Kapitelüberschrift nahegelegt wird, durch die Bemühung des Geniebegriffs. Verzichtet wird auch auf den Verweis von Charaktermerkmalen, wie sie seit der Antike verwendet werden, um außergewöhnliche Persönlichkeiten zu kennzeichnen. Mit seinem Ansatz nähert sich Clausewitz vielmehr dem , was in unserer Zeit als eigenschaftszentrierte Persönlichkeitstheorie bezeichnet wird. Diese geht davon aus, daß das Verhalten durch eine Reihe von situationsunabhängigen Merkmalen gesteuert wird. Zur Beantwortung der 33 C. von Clausewitz, Übersicht des Sr. König!. Hoheit dem Kronprinzen in den Jahren 1810, 1811 und 1812 vom Verfasser erteilten militärischen Unterrichts, in: W. Hahlweg (Hrsg.), C. von Clausewitz, Hinterlassenes Werk "Vom Kriege", a.a.O., S. 1047. 34 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 504. 35 Ebd., S. 356ff. 36 Ebd., S. 231 ff.

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Frage "welche Eigenschaften unterscheiden den Führer von den Geführten",37 hat die Eigenschaftstheorie in die Führungslehre Eingang gefunden. Sie wird offensichtlich durch die Erfahrung bestätigt und bildet die Grundlage jeder Personalbeurteilung. Wenn sie dennoch auf Widerspruch stößt, sind die Argumente vor allem methodischer Art. Zum einen wird eingewendet, daß zwischen Eigenschaften und beobachtetem Verhalten bislang kein statistisch signifikanter Zusammenhang festgestellt werden konnte. Ein weiterer Kritikpunkt besteht darin, daß sich eine einheitliche Merkmalkombination schwerlich auf alle denkbaren Führungsfunktionen anwenden läßt.38 Da diese Einwände im wesentlichen methodisch begründet sind, reichen sie nicht aus, diese Theorie zu falsifizieren. Mit seinem Ansatz nimmt Clausewitz die moderne Eigenschaftstheorie der Führung in einer Reihe von Punkten vorweg. Er ist erstens gekennzeichnet durch die Auswahl und inhaltliche Bestimmung der verwendeten Merkmale. Diese beziehen sich auf die spezifischen Anforderungen des Krieges und nicht auf einen generalisierten Begriff der Führung. Sie werden demnach nicht deduktiv gebildet, sondern unter Berücksichtigung der Kontextbedingungen, der mit ihnen korrespondierenden Handlungssituation. Als zweites können sie in unterschiedlicher Intensität auftreten. Dabei ist jedoch wichtig, daß sie sich harmonisch ergänzen, "wobei eine oder die andere vorherrschen, aber keine widerstreben darf'. 39 Die einzelnen Eigenschaften werden sodann im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihre Ausprägungen und ihre Wechselbeziehungen diskutiert. Der von Clausewitz verwendete Katalog enthält sechs Hauptmerkmale. Mit Blick auf die besondere Gefahrenlage im Kriege steht an erster Stelle der Mut. Diese Eigenschaft äußert sich in ihrer passiven Form als Unerschrockenheit, in ihrer aktiven Form als Entschlußfreudigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Zu ihrer vollen Wirksamkeit gelangt sie nicht durch einseitige Steigerung, sondern durch die abgestimmte Kombination beider Ausprägungen. Zu den Gefahren im Kriege kommen zweitens die physischen und psychischen Beanspruchungen, die .,eine gewisse Kraft des Körpers und der Seele" verlangen. In Verbindung mit dem gesunden Menschenverstand entspricht das Profil dieser beiden ersten Merkmale dem Tüchtigen, nicht aber dem hervorragenden militärischen Führer. Er wird sich in ungewissen Entscheidungssituationen nicht auf das Glück oder den Zufall verlassen, sondern auf seine 37 M. Irle, Führungsverhalten in organisierten Gruppen, in: A. Mayer I J. Gerweg (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 9, Betriebspsychologie, 2. Aufl., Göttingen 197 0, s. 521. 38 Vgl. 0. Neuberger, Führung, . in: A. Mayer (Hrsg.), Organisationspsychologie, Stuttgart 1978, S. 276ff. 39 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 232.

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"vorherrschenden Verstandeskräfte". 40 Bei diesem Merkmal handelt es sich zweifellos um eine Schlüsselvariable. Sie wird einmal gebildet durch einen analytischen Verstand, der auch in einer "gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichtes ist, die ihn zur Wahrheit führen", zum anderen die Entschlossenheit, "diesem schwachen Licht zu folgen" .41 Ergänzt wird dieses Merkmal durch eine weitere Eigenschaft, die mit Geistesgegenwart oder Schnelligkeit des Denkens umschrieben werden kann. An diese intellektuellen Fähigkeiten schließt sich ein Bündel ähnlicher Faktoren an, die sich alle auf die charakterliche Verfassung des Handelnden beziehen. Dazu gehören Energie, Standhaftigkeit, Temperament, aber auch Selbstbeherrschung und Stärke des Charakters. Am Schluß des Merkmalkatalogs wird der Ortssinn aufgeführt. Soweit es darum geht, "sich von jeder Gegend schnell eine richtige geometrische Vorstellung zu machen und als Folge davon sich in ihr jedesmalleicht zurechtzufinden", 42 entspricht diese Kategorie einer Intelligenzdimension. Sie fällt andererseits in den Bereich der Phantasie, wenn sich der Handelnde, was nicht nur bei Orientierungsproblemen der Fall ist, vor die Notwendigkeit gestellt sieht, aus unzusammenhängenden und bruchstückhaften Eindrücken eine hinreichend genaue Vorstellung zu entwickeln.

111. Der Takt des Urteils Nachdem er die Grundzüge seiner Theorie dargestellt hat, stellt sich Clausewitz die Frage nach ihrer Einordnung und ihrer Aussagekraft. Ähnlich verfährt auch Max Weber, wenn er versucht, die Soziologie gegenüber anderen Wissenschaften abzugrenzen. Was die Validität ihrer Erkenntnisse anbelangt, ist sie zwar gegenüber der beobachtenden Erklärung im Nachteil, andererseits ist sie aber den Naturwissenschaften dadurch überlegen, daß sie in der Lage ist, "über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (,Gesetzen') hinaus etwas aller ,Naturwissenschaft' ... ewig unzulängliches zu leisten: eben das ,Verstehen' des Verhaltens der beteiligten Einzelnen". 43 Clausewitz holt bei der Einordnung seiner Theorie noch etwas weiter aus. Zunächst prüft er, ob- wie es durch den Sprachgebrauch nahegelegt wirdEbd., S. 233. Ebd., S. 234; eine ganz ähnliche Metapher findet sich bei Hugo von Hofmannsthal: "Wie wunderbar sind diese Wesen, die nie Geschriebenes dennoch lesen, Verworrenes beherrschend binden und Wege selbst in ewig Dunklem finden?" (H. von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod). 42 Ebd., S. 247. 43 Zit. nach D. Käsler, Einführung in das Studium Max Webers, München 1979, S. 154. 40 41

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der Krieg eine Art von Handwerk darstellt. Er verwirft diese Gleichsetzung mit dem Argument, daß im Handwerk die Probleme und die Mittel zu ihrer Lösung prinzipiell bekannt sind. Dieses Problemverständnis liegt der traditionellen Militärtheorie zugrunde. Sie hält für unterschiedliche Zwecke jeweils geeignete Mittel und Handlungsanweisungen bereit. Clausewitz setzt sich mit dieser von ihm als "Methodismus" bezeichneten Denkweise kritisch auseinander und gelangt zu einem ablehnenden Urteil. Als nächstes fragt er sich- wiederum in Anlehnung an die Umgangssprache-, ob es sich bei der Kriegführung um eine Kunst handele. Er negiert auch diese Ansicht mit der Begründung, daß in der Kunst das Können der Zweck ist. Analog verhält es sich in der Wissenschaft, "wo bloßes Wissen der Zweck ist". 44 Wenngleich auf das Wissen ebenso wenig verzichtet werden kann wie auf das Können, reicht die schlüssige Erkenntnis allein nicht aus, wenn für das praktische Handeln die Urteilsfähigkeit gefordert ist. Das aber bedeutet: "Wo das Urteil anfängt, da fängt die Kunst an." 45 Insofern kann die Frage, ob militärische Führung eine Kunst oder eine Wissenschaft sei, so nicht entschieden werden. Clausewitz nimmt sodann einen Gedanken auf, der bereits zuvor an verschiedenen Stellen auftaucht, indem er den Krieg mit dem Handel vergleicht. Diese Feststellung bildet die Brücke zu dem bereits erwähnten Ergebnis seines Systematisierungsversuchs, daß der Krieg "nicht in das Gebiet der Künste und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens" 46 gehöre. Gestützt wird diese These durch drei Argumente. Erstens treten in einem bewaffneten Konflikt lebendige Wesen aufeinander, die sowohl agieren als auch reagieren. Das Verhältnis stellt sich zweitens als eine Konfliktbeziehung dar, innerhalb dessen entgegengesetzte Absichten verfolgt werden: der Angreifer ist auf Eroberung, der Verteidiger auf Erhaltung aus. Hinzu kommt drittens, daß zwischen den Konfliktparteien ungeachtet ihrer divergierenden Interessen eine sich aus der Gegenseitigkeit ihrer Einschätzungen und Erwartungen ergebende soziale Beziehung besteht. Bis zu diesem Punkt besteht zwischen den handlungstheoretischen Entwürfen von Clausewitz und Max Weber eine auffallende Übereinstimmung. Unterschiede zwischen diesen beiden Autoren ergeben sich jedoch aus dem jeweiligen Erkenntniszweck. Dieser besteht für den Soziologen bekanntlich darin, soziales Handeln aufgrund seines Sinngehaltes zu verstehen und nach Möglichkeit zu erklären. Der Wissenschaftler befindet sich hierbei in der Rolle des außenstehenden Beobachters, der einen Geschehenszusammenhang registriert, ohne ihn dadurch willentlich zu beeinflussen. Das Verstehen einer Handlung ist nicht gleichbedeutend mit der Handlung selbst. Auch 44 45 46

)4•

C. von Clausewitz, a.a.O. , S. 301. Ebd., S. 302. Ebd., S. 303.

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Clausewitz entwickelt keine normative Theorie. Sein Ansatz ist jedoch in dem Sinne praktisch orientiert, daß er kritische, unterschiedlich definierte Handlungssituationen beschreibt und nach den personellen Bedingungen ihrer Bewältigung fragt. Sein Vorgehen entspricht neueren Konzeptionen, in denen Arten von Entscheidungen mit unterschiedlichen Situationsdefinitionen in Zusammenhang gebracht werden. 47 Eine Situation gilt demnach als wohl definiert, wenn ihr ein Ausführungsprogramm unmittelbar zugeordnet oder mit Hilfe eines zulässigen Algorithmus gefunden werden kann. In diesem Fall kann nach den Regeln der Kunst und entsprechend hoher Aussicht auf Erfolg gehandelt werden. Er nähert sich damit dem Zustand völliger Gewißheit, wenn die erforderlichen Erkenntnismittel zur Verfügung stehen und regelgerecht angewendet werden. Das andere Extrem ist dadurch gekennzeichnet, daß über einen Problemzusammenhang völlige Unklarheit herrscht. Unter diesen Umständen vermag auch die Entscheidungstheorie nichts auszurichten. Sie ist in dem Bereich zwischen völliger Gewißheit und Ungewißheit angesiedelt, den man im Hinblick auf die partielle Bedingtheit von Entscheidungen als "bounded uncertainty" bezeichnet. 48 Wenn Clausewitz das Handeln unter den erschwerenden Bedingungen des Krieges untersucht, bezieht er sich genau aufdiesen Zwischenbereich, der vom völligen Stillstand bis zur äußersten Anspannung der Kräfte reichen kann. Sein Interesse konzentriert sich dabei auf die Möglichkeiten, in kritischen, d. h. schlecht definierten, Lagen adäquate Entscheidungen treffen zu können. Diese hat man sich als das Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses vorzustellen. Zuerst kommt es darauf an, diejenigen Elemente zu isolieren, die eine gegebene Handlungssituation kennzeichnen. Im Alltagshandeln besteht gewöhnlich ein Informationsüberschuß, der zu einer selektiven Wahrnehmung zwingt. Unter Risiko und Ungewißheit besteht dagegen das umgekehrte Problem, überhaupt Anhaltspunkte für eine Zustandsbeschreibung zu finden. In einem zweiten Schritt werden die einzelnen Kontextvariablen in einer Situationsdefinition zusammengefaßt. Diese Synthese verlangt neben der Wahrnehmung eine Beurteilung der entscheidungsrelevanten Elemente im Hinblick auf ihre Vollständigkeit und Bedeutung. Mit diesem Vorgang verbinden sich auf den verschiedenen Stufen der Hierarchie unterschiedliche Anforderungen an das Wissen und die UrteilsHihigkeit. Um sachgerecht entscheiden zu können, kommt es nicht allein auf den Umfang des Wissens, sondern vor allem darauf an, "von den zahllosen Verknüpfungen der Bege47 Vgl. hierzu u. a. W. Kirsch, Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, Bd. 2, Wiesbaden 1977, S. 144. 48 Vgl. G. L. S. Shackel, Decision, Orderand Timein HumanAffairs, Cambridge 1961, s. 271.

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benheiten die wesentlichen zu unterscheiden" 49 und - wie hinzugefügt werden darf - daraus die geeigneten Schlüsse zu ziehen. Die daraufhin getroffene Entscheidung entspricht einer Situationsdefinition in der aktiven Bedeutung dieses Begriffs, wie sie durch das bekannte Theorem von Thomas und Znaniecki zum Ausdruck gebracht wird: "If men define situations as real, they are real in their consequences. " 50 Anders als das Wissen, das an der Realität überprüft werden kann, kennt die Entscheidung kein anderes Wahrheitskriterium als ihr Ergebnis. Der Entscheidungsprozeß selbst wird in dem von Clausewitz gewählten Bezugsrahmen maßgeblich durch den "Takt des Urteils" 51 bestimmt, in dem Ernst Vollrath "das einzig angemessene Organ der Vernünftigkeit von Praxis" zu erkennen glaubtY Nur mit seiner Hilfe ist es nach Meinung dieses Autors möglich, die Kluft zwischen der Inkompetenz einer objektiven Theorie und der Impotenz theorieloser Erfahrung zu überbrücken. 53 Die alte Form der Klugheit ist dadurch charakterisiert, daß sie sich von dem Gesichtspunkt der instrumentellen Zweckmäßigkeit leiten läßt, die mit der subsumierenden Urteilskraft auskommt. Der Takt des Urteils stellt dagegen nach Vollrath eine Form der reflektierenden Urteilskraft dar. Ihre intersubjektive Geltung wird dadurch gesichert, daß sie durch die reziproke Berücksichtigung der gegenseitigen Erwartungen in einer Handlungssituation gebildet wird. Diese Annäherung an die Kantische Lehre findet ihre Grenze darin, daß die reflektierende Urteilskraft Bewußtseinszustände verändert, nichtjedoch den beurteilten Gegenstand selbst. Im Gegensatz dazu ist die Theorie von Clausewitz darauf gerichtet, nicht das Bewußtsein, sondern den Gegenstand, d. h. eine Handlungssituation zu verändern. Auslösendes Moment dieser Veränderung ist der Takt des Urteils. Diese Kategorie setzt sich aus drei Elementen zusammen: zum einen aus dem Wissen und Können, das jedem Urteil zugrunde liegt und durch Ausbildung und Erfahrung erworben werden kann. Sodann aus der in dem Begriff angedeuteten Selbstverständlichkeit, mit der die notwendigen Entscheidungen getroffen werden. Dem dritten Komplex schließlich sind diejenigen Eigenschaften zuzurechnen, die in der Persönlichkeit des Handelnden angelegt und daher unverfügbar sind: "Was das Genie tut, muß gerade die schönste Regel sein, und die Theorie kann nichts besseres tun, als zu zeigen, wie und warum es so ist. " 54 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 321. Zit. nach W. I. Thomas, Person und Sozialver halten, hrsg. von H. Volkart, Neuwied/ Berlin 1965, S. 114. 51 C. von Clausewitz, a:a.O., S.401 et passim. 52 E. Vollrath, a.a.O., S. 17. 53 Ebd., S. 23. 54 C. von Clausewitz, a.a.O., S. 284. 49

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"Haltende Mächte" und "Sekundäre Systeme" Zur Institutionenlehre Hans Freyers

I. Sozialwissenschaften, sofern sie sich als "Wirklichkeitswissenschaften" verstehen, haben meist den Tatbestand "Institution" in ihre Theorien einbezogen und erkannt, daß "Handeln als Handeln in Institutionen"' zu verstehen ist. Läßt man die institutionentheoretische Diskussion im Lichte dieses von Wolfgang Lipp herausgestellten Zusammenhangs Revue passieren, wird man mit einer Paradoxie konfrontiert, denn: Gerade der Soziologe, der im Gefolge von Max Weber, ja sogar entschiedener als Weber, die "Wirklichkeitswissenschaft"2 zum Programm seiner Soziologie machte, führt in der Institutionentheorie ein Schattendasein. Wie der Titel des Beitrages bereits verrät, ist hier die Rede von Hans Freyer ( 1887-1969), einem der "bedeutendsten deutschen Sozialwissenschaftler und Soziologen im 20. Jahrhundert". 3 Obgleich sein umfangreiches Schriftenverzeichnis4 an keiner Stelle expressis verbis den Terminus "Institution" aufweist, ruft dieses Desiderat insofern Erstaunen hervor, als daß Weichenstellungen offen vorhanden und angelegt sind, die eine besondere Sensibilität für institutionelles Denken erahnen lassen. Ins Auge stechen Veröffentlichungen Hans Freyers, die Begriffsgespanne wie "Gebundenheit und Unverbindlichkeit", "Ordnung und Freiheit", "Freiheit und Bindung", "Fortschritt und haltende Mächte" 5 beinhal1 Vgl. Wolfgang Lipp, Institutionen Mimesis oder Drama? Gesichtspunkte zur Neufassung einer Theorie, Zeitschrift für Soziologie 5 (1976), H. 4, S. 360-381 (361). 2 Vgl. Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig/Berlin 1930. 3 Vgl. Johannes Chr. Papa\ekas, Art. "Freyer, Hans", in: Internationales Soziologenlexikon, hrsg. von Wilhelm Bernsdorf und Horst Knospe, Bd.1, 2. Aufl., Stuttgart 1980, S. 131. 4 Vgl. hierzu die von Elfriede Üner zusammengestellte Hans Freyer-Bibliographie, in: Hans Freyer, Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, herausgegeben und kommentiert von Elfriede Üner, Weinheim 1987, S. 175-197. 5 Vgl. Hans Freyer, Gebundenheit und Unverbindlichkeit in unserer Gesellschaft, in: Die zehnte Niederrheinische Universitätswoche. Schriftenreihe der Duisburger Universi-

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ten. Nicht weniger Aufmerksamkeit dürfte ein Titel, wie "Theorie des objektiven Geistes" 6 auf sich lenken. Oder begegnet darin eine Hypothek, die wegen der Hegetsehen Formulierung zu Mißtrauen und zur Vermutung, hier verberge sich eine Institutionenlehre im Gewande einer "Geistlehre" geführt haben mag?7 Letzteres wäre jedoch ein Fehlschluß, da Hans Freyer versucht, sich von Hegel zu lösen und schon zur Aufgabe, "Begriffe, historisch zu sättigen" 8 vordringt. Will man die Institutionenlehre im Werk Freyers an ihrem Ursprung aufsuchen, so bietet es sich an, bei der bereits 1923- also in der Frühphase seines Werkes- erschienenen Arbeit einen Augenblick zu verweilen. Die Definition des "objektiven Geistes" beinhaltet im Kern bereits jene Merkmale, die mit dem Begriff Institution gemeinhin einhergehen.9 "Objektiver Geist" verbürgt nämlich zum einen Dauer und ist zum anderen dem menschlichen Zugriff weitgehendst entzogen. 10 Er umschließt Formen gesellschaftlicher Wirklichkeit wie Sitten, Gesetze, Gewohnheiten. Es war wohl kein Zufall, daß Erich Rothacker in einer Besprechung dieses Buches, als er frei den Inhalt referierte, die Institutionen einbezog, indem er eine der wesentlichen Einsichten Freyers wie folgt zusammenfaßte: "Und nicht nur Handlungen und Gebärden, auch Objektivationen und Institutionen tragen neben ihrem gegenständlichen Sinn bis in die feinsten Nüancen hinein die geistige Prägung ihrer Schöpfer." 11 Das Zitat Rothackers zielt bereits auf einen Grenzfall des "objektiven Geistes", auf die Kategorie "Sozialform", die als "Gebilde aus lebendigen Menschen, die sich in die Ordnung der Form einfügen und die diese Ordnung immer aufs neue herstellen müssen, damit sie wirklich sei", 12 umschrieben wird. Entscheidend tätsgesellschaft, Duisburg 1958, S. 30-41; ders., Ordnung und Freiheit. Über die geistigen Grundlagen der westlichen lhdustriekultur, Bundesarbeitsblatt, Nr. II, 1962, S. 408-414; ders., Freiheit und Bindung in der menschlichen Gesellschaft, in: Bildung in Freiheit, herausgegeben von der Westnilischen Berggewerkschaftskasse Bochum, Hagen 1963, S.ll-26; ders., Der Fortschritt und die haltenden Mächte, Zeitwende 24 (1952), H. 4, s. 287-297. 6 Vgl. Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Stuttgart 1973 (unveränderter reprografischer Nachdruck der 3., unveränderten Aufl., Leipzig/Berlin 1934 (1923)). 7 Vgl. hierzu das einleitende Kapitel des Buches von Friedrich Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966, S. 1-9. 8 Vgl. Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 153. 9 Vgl. z. B. Wolfgang Lipp, Art. ,.Institution", in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. von Günter Endruweit und Gisela Trommsdorf, Bd. 2, Stuttgart 1989, S. 306, 307. 10 Vgl. Hans Freyer, Die Aufgabe der Soziologie, Die Volksschule 25 (1929), H. 15, s. 625-633 (626). 11 Erich Rothacker, Besprechung ,.Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes, Leipzig 1923", Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte XVII (1924), S. 359-361 (360). 12 Vgl. Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes, S. 67.

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kommt es bei ihnen auf die rechte Balance zwischen "objektivem" und "subjektivem" Geist an. Es sind die dauerhaften Gebilde, die fortan ins Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen Hans Freyers rücken. Wenn er in seiner "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft" die Soziologie als "Ethoswissenschaft" versteht, so- bedenkt man die im Wort "Ethos" genuin angelegte Bedeutung- wird hier einmal mehr der Stellenwert, den er den Institutionen beimißt, erkennbar, da- wie Arnold Gehlen unterstreicht- "alle Institutionen als Systeme verteilter Gewohnheiten gelebt werden" . 13 Auf die Schlüsselbedeutung, die ihnen im Gesamtwerk Freyers zukommt, deutet schließlich auch die von ihm stammende und im Titel dieses Beitrages aufgenommene Formulierung von den "haltenden Mächten". In einem in der FAZ veröffentlichten Nachruf zum Tode Hans Freyers im Jahre 1969 hob der damals in Heidelberg lehrende Soziologe und Ethnologe Wilhelm Emil Mühlmann die "Kategorie der ,haltenden Macht"' eigens als eine der Einsichten Freyers, die von bleibender Natur sein werde, hervor. 14 In der Vorgehensweise orientiert sich der vorliegende Beitrag an einem Prinzip, das Freyer bei der Bildung soziologischer Strukturbegriffe zugrundelegte: die "Systematik des Nebeneinanders" geht immer Hand in Hand mit der "Systematik des Nacheinanders". So richtet sich der Blick in den folgenden Abschnitten zunächst auf die "haltenden Mächte" (II), sodann geht er über zu den "sekundären Systemen" (111), bevor schließlich deren Verhältnis, auf das die Konjunktion "und" im Titel bereits verweist, im Mittelpunkt der Betrachtung (IV) steht. Ein letzter Abschnitt fragt nach der bleibenden Bedeutung der Aussagen Freyers und unternimmt einen Versuch, sie auf das aktuelle Zeitgeschehen zu projizieren (V). II.

In der Gegenwart scheint die Redeweise von lebensbedrohenden Mächten und Gewalten weithin verbreitet zu sein. Darin schwingt mit, daß dem technischen Fortschritt eine Zerstörerische Kraft innewohnt, die bis hinein in die Grundlagen menschlicher Existenz greift. Das allzu logische Pendant aber, die "haltenden Mächte", gerät dabei gänzlich außer acht. Exegeten pflegen u. a. an einen biblischen Text die Frage nach dem "Sitz im Leben" heranzutragen, um einen ersten Aufschluß über dessen Bedeutsamkeit in seiner Zeit zu erhalten. Dieser Frage sei sich hier auch bedient. 13 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 4. verbesserte Aufl., Frankfurt a.M. 1977, S. 23. 14 Wilhelm Emil Mühlmann, Ein Theoretiker unseres Zeitalters. Zum Tode Hans Freyers, FAZ, Nr. 23, 28. Januar 1969, S. 20.

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Recht besehen thematisiert Hans Freyer die "haltenden Mächte" wohl erstmalig in seinem Werk "Weltgeschichte Europas" (1948). 15 Weniger das daß als vielmehr das wie wirft Licht auf den Platz, den die "haltenden Mächte" einnehmen. Sie treten inmitten einer Krise auf den Plan - eben in dem Augenblick, als der Zerfall des römischen Imperiums seinen Anfang nimmt. Von der konkreten historischen Konstellation abstrahiert, gilt ganz allgemein: Gäbe es "in solchen Weltstunden" 16 keine haltenden Mächte, würde ein - um einen von Hermann Lübbe geprägten Begriff aufzunehmen17- "Zukunftsgewißheitsschwund" um sich greifen mit der Folge, daß Geschichte auf der Stelle tritt. Die "haltenden Mächte" sind es, die das geschichtliche Erbe inmitten der durch die Krise involvierten "Schwebelage"18- später spricht Freyer von der "Schwelle"- erhalten und auf diesem Wege Vergangenheit und Zukunft miteinander verschränken. In dem geschichtlichen Kontext, in dem es auf die "haltenden Mächte" ankommt, sind es drei, die dieser Aufgabe gewachsen sind: Byzanz, die Kirche und schließlich die Germanen. Wer Freyer auf seinem weiteren Weg durch die europäische Geschichte begleitet, muß sehr bald erkennen, daß es ihm nicht immer so leicht fällt, "haltende Mächte" namentlich aufzulisten. Schon im Gefolge der Aufklärung zeichnet sich ab, daß die "Dogmen der Vernunft .. . keine bindenden und haltenden Mächte wie die Dogmen der Religion" 19 sind. Die Betrachtung der "haltenden Mächte" muß nun aber über den "Sitz im Leben"- also die Krise- hinwegschauen, um sie nicht ausschließlich unter einem retrospektiven Blickwinkel zu interpretieren. "Haltende Mächte" , die paretianisch formuliert die "Persistenz der Aggregate" 20 gewährleisten, entsprechen zutiefst der menschlichen Grundkonstitution und haben sich spätestens mit der Seßhaftwerdung des Menschen zu Grundpfeilern seiner sozialen Existenzweise herauskristallisiert. 15 Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, 3. Aufl., Stuttgart 1969 (erstmalig erschien diese Publikation in zwei Bänden im Jahre 1948). Mühtmann erwähnt einen Vortrag Freyers, den er zeitgleich in Wiesbaden hielt. Es liegt wohl nahe, daß Freyer dort Gedanken aus seiner "Weltgeschichte Europas" vortrug. Erstaunlich ist, daß zeitgenössische Besprechungen die Schlüsselbedeutung der "haltenden Mächte" im Gefüge des in der Weltgeschichte Europas eindrucksvoll ausgebreiteten Materials meist unterbelichtet ließen. In einer Rezension der mir vorliegenden 3. Auflage werden die "haltenden Mächte" eigens herausgestellt. Sie stammt von Dieter Timpe und erschien 1970 in der Zeitschrift "Philosophy and History" (S. 77, 78). Auf diese Besprechung stieß ich im Freyer-Nachlaß in der Universitätsbibliothek Münster, Westf. 16 Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, S. 379. 17 Hermann Lübbe, Rationalitätskrise. Die Stellung der Wissenschaften in der modernen Kultur, Mainz 1986, S. 6. 18 Vgl. Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, S. 461. 19 Vgl. ebd., S. 538. 20 Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie. Ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Carl Brinkmann, besorgt von Hans Wolfram Gerhard, Tübingen 1955, S. 75.

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Grundzüge des Freyerschen Menschenbildes lassen sich entlang eines dreifachen Hintergrundes entfalten. Zunächst rekurriert es auf Einsichten, zu denen er in den eingangs erwähnten grundlagentheoretischen Arbeiten "Theorie des objektiven Geistes" und "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft'' gelangte. Ihnen liegt das Bild des auf Kultur verwiesenen und kulturschöpferisch tätigen Menschen, der nur "im Geleise oder im Banne dieses objektiven Geistes" 21 leben kann, zugrunde. Beijedem einzelnen liegt es, Anschluß an das bereitliegende kulturelle Unterpfand zu gewinnen. Das Eingebundensein durch Sitten, Gesetze, Gewohnheiten und vor allem durch Institutionen korrespondiert mit der durchgängigen sozialen Bestimmtheit des Menschen. Freyers Anthropologie ist daneben aus dem Kontext der "Leipziger Schule", zu deren Gründervätern er zählt, zu verstehen, in der "gleichgerichtete anthropologische ... Grundüberlegungen" 22 begegnen. In den wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen anthropologisch geführten Diskussionen haben sich aus diesem Schulzusammenhang die Ausarbeitungen Arnold GehJens als außerordentlich prägend erwiesen. Seine Terminologie - angefangen vom Menschen als dem "nicht festgestellten Tier" und dem Menschen als "Mängelwesen" über die Befunde bezüglich der unfertigen Ausstattung der Organe im Vergleich zum Tier, die mit den Stichworten "Proterogenese" und "Retardation" einhergehen, bis hin zum Bild des Menschen, der auf keinerlei spezifische Umwelt ausgerichtet ist und als "instinktreduziertes" Wesen bezeichnet wird, 23 hinterläßt auch Spuren im Werk Freyers. Es dürfte sich erübrigen, diese Seite der Anthropologie, die mit der GehJens konvergiert, nachfolgend zu rekapitulieren. Hier soll vielmehr ein Aspekt zur Sprache kommen, der die Handschrift Freyers verrät und die anthropologischen Darlegungen GehJens zum konsistenten Bestandteil seines Werkes werden läßt. Gemeint ist die deutlich stärkere Betonung der geschichtlichen Verwurzelung des Menschen. Das Individuum mit seinem "Standort im Zeitstrom" 24 verkörpert stets eine Synthesis von Geschichte, Ungeschichtlichem und Übergeschichtlichem. 25 Mit dem Mo21 Vgl. Hans Freyer, Leben aus zweiter Hand, Jahresring 6(1959/60), S. 30-41 (31); vgl. dazu auch ders., Weltgeschichte Europas, S. 117. 22 Vgl. Kari-Siegbert Rehberg, Aktion und Ordnung. Zur Begründung der Soziologie als Handlungslehre, Ms., Aachen 1986. Rehberg kommt zu diesem Ergebnis auf dem Hintergrund eines Vergleichs der Hobbes-Studie von Helmut Schelsky, der MachiavelliSchrift Hans Freyers sowie der Fichte-Arbeiten Arnold Gehlens. 23 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 12. Aufl., Wiesbaden 1978. 24 Formulierung in Anlehnung an die von Ernst Forsthoff und Reinhard Hörstel herausgegebene Festschrift zum 70. Geburtstag Arnold Gehlens: Standorte im Zeitstrom, Frankfurt/M. 1974. 25 Vgl. Hans Freyer, Die Geschichte, das Ungeschichtliche und das Übergeschichtliche, in: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit. Kar! Holzamer gewidmet, herausgegeben von Dieter Stolte und Richard Wisser, Tübingen 1966, S. 55-74.

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ment des "Ungeschichtlichen" sind die im Wechsel der Zeiten durchgehenden Bestände gemeint, während das "Geschichtliche" als Synonym für das aktuelle Geschehen steht. Es gibt Verhaltensstrukturen des Menschen, die alle Epochenwechsel überstehen und konstant bleiben, so die Kategorie "Stauen", die erstmalig mit dem seßhaften Leben in Erscheinung tritt und in der modernen Technik unverkennbar nach wie vor am Werk ist. In beiden Fällen liegen "virtuelle Energien" 26 auf Abruf bereit. Schließlich schöpft Freyer in puncto Anthropologie aus seiner intensiven Beschäftigung mit der griechischen Philosophie und Mythologie. "Antäus", "Prometheus" und "Pallas Athene" 27 - vielfach vornehmlich unter jugendbewegtem Vorzeichen gedeutet- beinhalten auch Grundgedanken, die auf das Gesamtwerk ausstrahlen. 28 Ein Gedanke zieht sich nämlich wie ein roter Faden durch die genannten Veröffentlichungen. Der Mensch sollte sich stets seines Ursprungs, seiner .,Wurzeln" bewußt bleiben. Tendiert er dazu, sich absolut zu setzen, so negiert er sein Fundament. Auf andere Weise rückt Freyer damit die Rede von der .,Umweltoffenheit" des Menschen zurecht. Es dürfte evident sein, daß die vorstehenden Teile, in denen das Menschenbild Freyers zerlegt wurde, aufs engste miteinander verwoben sind. In prägnanter Weise faßte Freyer einmal seine Anthropologie mit den Worten vom Menschen als einem "Tiger hinter Gittern" 29 zusammen. Über das Schicksal des Menschen bei einem Wegfall der Gitter- bzw. der Institutionen, die in der Metapher eingeschlossen sind - besteht kein Zweifel: eine unaufhaltsame Primitivisierung wäre die Folge, da mit einem mal die entlastenden, zivilisierenden, motivbildenden und nicht zuletzt Handlungssicherheit vermittelnden Kräfte außer Kurs gesetzt wären. 30 Sofern Institutionen aber der Natur des Menschen entsprechend ihn in seiner Ganzheit erfassen und die eben erwähnten Leistungen erbringen, lassen sie sich unter dem Leitbild der gewachsenen Ordnungen subsumieren. Dunkle Wolken ziehen sich aber am Horizont der ursprünglich "haltenden Mächte" zusammen. Hans Freyer verkennt in der "Weltgeschichte Europas" bereits nicht, daß "haltende Mächte" stets gefährdet sind und unter 26 Vgl. Hans Freyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, Stuttgart 1965, S. 26. 27 Vgl. Hans Freyer, Antäus. Grundlegung einer Ethik des bewußten Lebens, J ena 1918; ders., Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur, Jena 1923; ders., Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes, Jena 1935. 28 Vgl. Eckart Pankoke, Technischer Fortschritt und kulturelles Erbe. Hans Freyers Gegenwartsdiagnosen in historischer Perspektive, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1970), S. 143-151 (145). 29 Vgl. Diskussionsreplik Arnold GehJens im Anschluß an die Diskussion zu dem von ihm vorgetragenen Referat "Humanismus und Humanitarismus", in: Proceedings of the 2nd International Humanistic Symposion at Delphi, Athen 1973, S. 347. 30 Vgl. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 50ff.

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bestimmten Bedingungen ihre eigentliche Aufgabe - die Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft- nicht mehr wahrnehmen können. Die Kirche wäre etwa nicht als "haltende Macht" beim Niedergang des römischen Reiches in Erscheinung getreten, wenn sie schon die Gestalt einer "festorganisierten Einheit" angenommen und Züge einer allein auf das Papsttum zugeschnittenen Kirche allzu sehr ausgeprägt hätte. 31 An anderer Stelle beurteilt er die Erfolgschancen der "haltenden Mächte" in Abhängigkeit von der Provenienz der Krisen: wurden sie durch externe oder durch im Inneren verborgene Faktoren hervorgerufen? Letztere würden es den "haltenden Mächten" erschweren, ein "Abgleiten ins Bodenlose" 32 zu verhindern. "Haltende Mächte" sind - wie diesen kurzen Andeutungen zu entnehmen ist also nie ein für allemal unveränderliche und gegenüber allen Umwelteinflüssen gesicherte "faits sociales". Das wache Auge Freyers für die Grenzen, an die "haltende Mächte" stoßen können, erklärt sich aus einer Einsicht, zu der er bereits in der "Theorie des objektiven Geistes" gelangte. Gemeint ist die den Gebilden des objektiven Geistes innewohnende Tendenz, sich von den ursprünglichen Motiven loszulösen und in die Eigengesetzlichkeit umzuschlagen. Der Skeptizismus gegenüber Zweckorganisationen, der im obigen Beispiel auf die Kirche bezogen war, hat wohl darin seine Wurzel.

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Die "sekundären Systeme", die Freyer schon einmal in seinem früheren Werk "Prometheus" streifte, erfahren in der "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" (1955) ihre eigentliche Prägung. Sie werden gleichsam als Gegenbild zu den gewachsenen Ordnungen entworfen und rücken - wie die weitere Darlegung über deren Beschaffenheit noch verdeutlichen wird Zweckorganisationen nicht als gelegentliche Randphänomene, sondern als dominant werdende Gebilde ins Zentrum technischer Zivilisationen. Wie antwortet Freyer auf eine derartig grundlegend andere Lage? Resigniert er etwa, wie Hermann Lübbe in seiner Rezension der "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" meinte? 33 Auf den ersten Blick sind die "sekundären Systeme" in der Tat geeignet, einen solchen Eindruck zu vermitteln sowie zu untermauern. In mancherlei Hinsicht erinnern sie an das "Gehäuse der Hörigkeit" und an die "dürre Wüste", die Max Weber angesichts eines fortschreitenden, irreversiblen Rationalisierungsprozesses heraufziehen sah. "Sekundäre Systeme", die sich Vgl. ders., Weltgeschichte Europas, S. 399. Vgl. ebd., S. 555, 556. 33 Hermann Lübbe, Die resignierte konservative Revolution, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 115 (1959), S. 131-138. 31

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herausbilden werden, sofern die gegenwärtig im Gange befindlichen Trends, die "Machbarkeit der Sachen", die "Organisierbarkeit der Arbeit", die "Zivilisierbarkeit des Menschen", die "Vollendbarkeit der Geschichte" ungebrochen fortschreiten, fußen auf einem gänzlich anderen Bauplan als gewachsene Ordnungen. Diese Trends, von denen zweifelsohne die "Machbarkeit'' der entscheidende und der die übrigen fundierende ist, denkt Freyer weiter und verdichtet sie zum Modell "sekundärer Systeme". Da sie in Ansätzen bereits in der Wirklichkeit vorfindbar sind, lassen sie sich ebenso als "Idealtypen" auffassen. Eine Vorreiterrolle nimmt nämlich die Arbeitswelt ein, die der modernen Technik mit ihrer eigentümlichen Affinität zum Systemhaften überhaupt 34 am weitesten die Schleusen öffnet. Die in ihr auf den Plan tretenden Wandlungen zeitigen Folgewirkungen, die auf alle Bereiche der Gesellschaft ausstrahlen. Wie sind näherhin besehen diese "sekundären Systeme" nun beschaffen? Hervorstechendes Merkmal ist, daß sie voraussetzungslos sind und auf Plänen, Entwürfen beruhen. Der Mensch wird in ihnen auf ein Minimum reduziert, 35 ja sogar "proletarisiert", "unter ein Sachsystem so entschieden subsumiert ... daß Antriebe, die in ihm selbst entspringen, nicht mehr zum Zuge kommen". 36 Hier wird vollends erkennbar, daß die Beschreibung "sekundärer Systeme" von allen herkömmlichen Kategorien und Denkinhalten, die mit gewachsenen Ordnungen einhergingen, Abschied nehmen muß. In einem ersten Zugriff umschreibt Freyer sie als ,,Spielregeln", die willkürlich Ziele setzen, den Menschen nur als "Partner des Spiels" einbeziehen, soweit er als "Fall" betroffen ist, und umgekehrt gerade von ihm erwarten, daß er genügend Flexibilität mitbringt, um sich auf die rascher wechselnden Lagen einstellen zu können. Nicht weniger radikal werden alle menschlichen Grundverhältnisse umgekrempelt. An die Stelle der "Herrschaft von Menschen über Menschen" tritt die "Verwaltung von Sachen"; das "Oikos-Prinzip" weicht der Kreislaufstruktur, die, da sie von jedem Punkt aus zu beeinflussen ist, 37 Macht zu einer recht amorphen und kaum berechenbaren Angelegenheit werden läßt. "Sekundäre Systeme" setzen konsequenterweise auf die "Vereinzelung des Einzelnen", jedes Mehr an Menschlichkeit könnte von der Seite der Systemlogik nur als Störpotential aufgefaßt werden. Des weiteren wird die Lücke, die ehedem Legitimität und Orientierung stiftende Kräfte und Mächte hinterlassen, nunmehr durch die den "sekundären Systemen" gemäße Ideologie gefüllt. Wenn alles so in den "Katarakt des Fortschritts" 38 hineingerissen wird, so drängt sich die Frage auf, wie es um die Institutionen bestellt ist. Bilden sie vielleicht letzte 34 Vgl. Hans Freyer, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936, S. 148. 35 Vgl. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" S. 83. 36 Ebd., S. 89. 37 Ebd., S. 112, 113. 38 Vgl. ders., Schwelle der Zeiten, S. 292 ff.

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Bastionen, die sich dem widersetzen? Oder wird ihr Antlitz ebenso bis zur Unkenntlichkeit verwandelt? Verdunsten mit den Traditionsbeständen alle Institutionen, die u. a. der Tradition ihre Herkunft verdanken? Hans Freyer hebt mehrfach in seinen Schriften hervor, daß das Gesamt der Veränderungen sich schlechthin von der Seite der Institutionen begreifen lasse. 39 In seiner Arbeit "Weltverlust und Subjektivität" (1971) merkte Johannes Weiß an, daß es sich bei Hans Freyer um einen "instrumentellen Begriff von lnstitution" 40 handele, verkannte aber, daß er damit nur eine Seite der Freyerschen Ausführungen erfaßte. Das ist eben jene Seite der Institutionen, die im Zuge des Ausbaus "sekundärer Systeme" sich herausbildet und als "Spielregel" zu definieren ist. Institutionen scheinen keine Ausnahme zu machen und pervertieren ebenso zu "durchrationalisierten" und "formalisierten" Gebilden, sprich zur "Bürokratie". Der Industriebetrieb, auf dessen avantgardistische Rolle bereits an anderer Stelle verwiesen wurde, verkörpert die "repräsentative Institution der modernen Gesellschaft".41 Institutionen sind es schließlich, an denen das Maß der Bürokratisierung ablesbar wird. 42 Der so dezidiert herausgestellte Bezug zur Bürokratie greift auf Webers "Wirtschaft und Gesellschaft" zurück, in der "das Phänomen ,Bürokratie' und der Vorgang der ,Bürokratisierung' .. . einer tiefgreifenden Untersuchung" 43 unterzogen wird. Analog zu Weber verkennt Freyer auch nicht das Doppelgesicht der Technik, die anfanglieh als "Schrittmacherin in demokratischen Institutionen" auftretend nunmehr die Minimierung der Demokratie befördert. 44 Obwohl Institutionen solcher Artall dem, was das Bild der "haltenden Mächte" beinhaltete, zuwiderlaufen, betont Freyer nachdrücklich, daß man von diesen Institutionen "nicht gering denken soll". 45 Sie kämen nämlich den Bedürfnissen der Menschen 39 Vgl. u. a. ders., Entwicklungstendenzen und Probleme der modernen Industriegesellschaft, in: ders. I Lotbar Bossle I Jindrich Filipec, Die Industriegesellschaft in Ost und West. Konvergenzen und Divergenzen, Mainz o. J., S. 9-32 (11). 40 Johannes Weiß, Weltverlust und Subjektivität. Zur Kritik der Institutionenlehre Arnold Gehlens, Freiburg 1971, S. 209. 41 Vgl. Hans Freyer, Gesellschaft und Kultur, in: Propyläen-Weltgeschichte- Eine Universalgeschichte, herausgegeben von Golo Mann, Bd. 10: Die Welt von heute, Berlin/ Frankfurt/Wien 1961, S. 499-591 (521). Freyer bezieht sich hier auf eine Formulierung von Peter Drucker. 42 Vgl. ders., Die Gesellschaftsordnung. Entwicklungen und Formen von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, in: Die Unternehmerische Verantwortung in unserer Gesellschaftsordnung, Köln 1964, S. 47-67 (55) (Veröffentlichungen der Walter RaymondStiftung, Bd. 4). 43 Vgl. Johannes Chr. Papalekas, Sozialstruktur und staatliche Verwaltung. Der Weg zum bürokratischen Sozialstaat, in: Franz Ronneberger (Hrsg.), Zwischen Zentralisierung und Selbstverwaltung. Bürokratische Systeme in Südosteuropa, München 1988, s. 23-31 (25). 44 Vgl. Hans Freyer, Schwelle der Zeiten, S. 280. 45 Vgl. ders., Die Fürsorge in der gewandelten Welt von heute. Neue Aufgaben- neue

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nach Sicherheit und Wohlstand entgegen. Auf die Kehrseite weist er aber im gleichen Atemzug hin: es ist das hohe Maß an bindender Organisation und politischer Regulierung. Die beständige institutionelle Sicherung der Gleichheit untergräbt- hier stehen die Analysen Tocquevilles Pate- die Spielräume der Freiheit. 46 Obgleich Freyer das beständige Abgleiten der Institutionen in Zweckorganisationen nicht verkennt, hält er fast in seinem gesamten Werk am Begriff ,,Institution" fest- ganz im Gegenteil etwa zu Arnold Gehlen, der darin nichts Institutionelles mehr erkennt und am Ende seiner ,,Seele im technischen Zeitalter" als "Folge der Entgliederung der Gesellschaft im Industriezeitalter" den "Ersatz der Institutionen durch Organisationen" feststellt. 47 Eine der wenigen Ausnahmen bei Hans Freyer begegnet in seinem Aufsatz "Der Mensch und die gesellschaftliche Ordnung der Gegenwart" (1954), 48 der auf Gehleus Analysen rekurriert und ihm in diesem Punkt beipflichtet. Da Ausnahmen bekanntlich aber nur die Regel bestätigen, ist es die so auffallende Konsequenz, mit der Freyer selbst unter dem Vorzeichen "sekundärer Systeme" am Institutionellen festhält, die nach einer Erklärung ruft, mit der sich der nun folgende Abschnitt beschäftigt.

IV. Eine Erklärung liegt sogleich auf der Hand. Dem "sekundären System" haftet noch der Modellcharakter an. Es lassen sich einstweilen "nur" Trends ausmachen, die erst, wenn sie sich vollends entfalten, den Institutionen den Boden entziehen. Eine zweite, weniger oberflächliche Erklärung kann sich auf Freyers Geschichtsbild stützen. Wie in ersten Strichen schon in den die Anthropologie betreffenden Passagen erörtert wurde, geht es Freyer stets um das Ineinander von Geschichte, Ungeschichtlichem und Übergeschichtlichem. Jede Wirklichkeit kann daher nur als eine in sich geschichtete existieren, die all diese Momente zu einem Ganzen sinnvoll integriert. Reinhart Koselleck würdigte den bekannten Historiker Werner Conze, dessen Wege sich mit denen Freyers in Leipzig kreuzten und dessen Name mit dem strukturgeschichtlichen Denken in Verbindung steht, nach seinem Tod mit einem Wege, in: Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 1960, s. 5-9 (9). 46 Vgl. ders., Leben auf eigene Faust. 47 Arnold Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Mit einem Nachwort von Herbert Schnädelbach, Harnburg 1986, S. 257. Der Band enthält u. a. eine Neuausgabe der Schrift "Die Seele im technischen Zeitalter" (1957). 48 Hans Freyer, Der Mensch und die gesellschaftliche Ordnung der Gegenwart, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 110 (1954), S. l-12.

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Aufsatz, der den Titel "Tradition und Innovation" trägt. Programmatisch ließen sich diese Worte auch auf Hans Freyers Werk übertragen, dem es ebenso um die "Erklärung der technisch-industriell bedingten Welt" ging wie um das Bemühen, jede "Neuerung an das Erbe" zurückzubinden.49 Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß eine Industriegesellschaft, die sich von ihrem historischen Erbe emanzipiert, zum Scheitern verurteilt ist. Sinnenfallig wird dieser Zusammenhang schließlich in der dritten Erklärung, die um das kreist, was Freyer mit der Rede vom "Widerstand" zum Ausdruck bringen wollte. An mechanischen Systemen ebenso wie an Organismen beobachtete er, daß ein "Widerlager" stets zum Aufbau beiträgt und sie als "Lebensgesetz" fortan begleitet. Gleiches gilt auch für "sekundäre Systeme". Der Fortschritt, der beständig an den Grundlagen zehrt, setzt notwendig das Vorhandensein entsprechender Grundlagen voraus. 50 Wo aber finden sich Kerne, die in der Lage sind, "Widerstand" zu leisten, die das Erbe über die Schwelle transportieren? Wird Freyer fündig? In dem eingangs erwähnten Nachrufvermißt Mühlmann eine weitergehende Konkretisierung der "haltenden Mächte" bei Freyer. Kann man dem zustimmen? Wer die Spannweite des Feldes sich vergegenwärtigt, auf dem Freyer Kerne des Widerstandes verortet, wird diese Meinung wohl nicht teilen. Da sind zum einen die primären Lebenskreise, allen voran die Familie, denen er einen außerordentlich hohen Stellenwert bei mißt. Obgleich die Familie ihr Gesicht auch verändert hat und ihr Strukturwandel unverkennbar ist, finden sich in ihr nach wie vor jene Eigenschaften, die die Person nicht auf ihre Funktion und auf einen Merkmalsträger reduzieren, sondern sie ganzheitlich zum Zuge kommen lassen. 5 1 Gleiches erhofft Freyer sich von den übrigen primären Lebenskreisen, z. B. von intakten Nachbarschaften, von noch bestehenden Gesinnungsgemeinschaften. Des weiteren setzt Freyer auf die Persönlichkeit des Menschen. Seine Ausführungen nehmen diesbezüglich zuweilen appellative Züge an, wenn er den Menschen immer wieder auffordert, die Freiräume, die von "sekundären Systemen" noch unberührt geblieben sind, mit seiner Person auszufüllen. Wo nicht "Anpassung" als Verhaltensdisposition gefragt ist, gelte es, die eigene Persönlichkeit einzubringen. Solche Freiräume sind überall dort anzutreffen, wo es um die Übernahme von Verantwortung geht _52 Berufszweige klopft Freyer regelrecht auf solche Verantwortungsräume hin ab, um dem Menschen die Chancen vor Augen zu führen, die ihm unter den Bedingungen "sekundärer Systeme" noch verbleiben.

49 Reinhart Koselleck, Werner Conze. Tradition und Innovation, Historische Zeitschrift 245 ( 1987), S. 529-543 (53!, 532). 50 Vgl. Hans Freyer, Der Fortschritt und die haltenden Mächte. 51 Vgl. ders. , Die Familie als Sicherheit in unserer Zeit, Universitas 15 (1960), S. 10331041. 52 Vgl. ders., Verantwortung- Heute (1967), in: ders., Gedanken zur Industriegesellschaft, besorgt von Arnold Gehlen, Mainz 1970, S. 195-212.

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All diese Ausführungen stehen ebenso wie sein Geschichtsbild unter dem Vorzeichen einer Kategorie: der "Entscheidung". Der Lauf der Geschichte hängt im großen wie im kleinen von denjeweils anstehenden Entscheidungen ab. 53 Die Geschichte, die stets für Freyer offen ist, erfahrt an den Nahtstellen der Entscheidungen ihren Fortgang und ihre Richtung. Auch "sekundäre Systeme" sind noch nicht endgültig zementiert, sondern ihr weiterer Gang und ihre Ausgestaltung sind eine Aufgabe, die in den Händen der gegenwärtigen Menschen liegt. Sofern es ihm gelingt, mit dem "Fortschritt Schritt zu halten" 54 oder- wie Freyer sagt- sofern er dem Fortschritt "gewachsen ist", kann er den "Hiatus", der zwischen Institutionen und Menschen trittsie einander "entfremdet" 55 - auf ein erträgliches Maß reduzieren. Die Grundfrage angesichts der schon im Anfangsstadium sich befindlichen und irreversiblen "sekundären Systeme" lautet bei Freyer stets: Was wird aus dem Menschen? Eine Neigung tritt immer wieder im Umgang mit Autoren gleich welcher Provenienz zutage: man ist schnell bei der Hand, sie in Schubläden zu verorten, um sie auf einige wenige Etikettierungen zu reduzieren und leicht faßbar zu vermitteln. Die Bedingungen "sekundärer Systeme", die auch und gerade die Sprache verändern, mögen solchen Unternehmungen Vorschub leisten. 56 Zwei naheliegende Interpretationen, die hartnäckig immer wieder in bezug auf Hans Freyer durchschimmern, gilt es genauer zu betrachten. Eine erste würde Freyer in die Kette der Beurteilungen des Modernisierungsprozesses hineinstellen, die mit Ferdinand Tönnies' Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft ihren Anfang nimmt, und demzufolge "haltende Mächte" und "sekundäre Systeme" als weitere polar konstruierte oder auch antithetische Deutung der Moderne auffassen. Solche Ansätze sind aufgrunddes fundamentalen Zusammenhangs von Tradition und Innovation zu überdenken. 53 Vgl. hierzu auch Elfriede Üner, Die Entzauberung der Soziologie. Skizzen zu Helmut Schelskys Aktualisierung der "Leipziger Schule", in: Horst Baier (Hrsg. ), Helmut Schelsky - ein Soziologe in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern, Stuttgart 1986, S. 5-19 (8). Üner stellt hier "Tat" und "Entscheidung" nebeneinander. Dem Begriff "Entscheidung" dürfte aber eine grundsätzlichere Bedeutung zukommen, da er im gesamten Werk Freyers seine Spuren hinterläßt. 54 Vgl. Hans Freyer, Der Ernst des Fortschritts, in: ders . I Johannes Chr. Papalekas I Georg Weippert (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter, Düsseldorf 1965, S. 80-100 (88). 55 Vgl. ders., Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 230. 56 Vgl. Eckart Pankoke, Sprache in ,sekundären Systemen'. Zur soziologischen Interpretation sprachkritischer Befunde, Soziale Welt, XVIII1966, S. 253-273; zu den verschiedensten Etikettierungen Freyers vgl. Pedro Demo, Herrschaft und Geschichte. Zur politischen Gesellschaftstheorie Freyers und Marcuses, Meisenheim am Glan 1973, s. 74ff.

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Ein zweiter Strang schlägt eine Brücke zu Max Weber, an dem Hans Freyer zweifelsohne in vielem anknüpft. Neben dem grundlegenden Unterschied einer auf den Okzident fixierten Betrachtung des Rationalisierungsprozesses und einer Analyse der technischen Zivilisation, die sich universal ausbreitet, sollten auch feinere Differenzierungen nicht ignoriert werden. Zwar nennt Freyer vordergründig besehen ähnlich wie Max Weber zwei Handlungsmöglichkeiten, auf die es in der modernen Welt ankommt "dem Alltag entsprechen und ihm gewachsen sein" 57 -,dennoch würde es entschieden zu kurz greifen, Freyer im Strom individualistischer Lösungen mitschwimmen zu lassen. Im Bild, das Freyer von Persönlichkeit entwickelt, verbirgt sich weder ein individualistisches Rezept noch können in ihm resignative Tendenzen Freyers abgelesen werden, denn "Persönlichkeit" versteht sich nur aus dem Gesamt der Tradition. Statt Resignation schimmert schon in der "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" bei Hans Freyer ein Optimismus und ein Vertrauen durch, daß der Mensch trotz allem die Situation meistern wird.

V. Rückblickend kann man von einem "gleitenden" Institutionenbegriff bei Freyer sprechen. Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß "Institutionen nach dem Modell des ,sekundären Systems'" 58 nicht die Oberhand gewinnen, sondern Institutionen, die den gewachsenen Ordnungen entsprechen, nach wie vor überlebenswichtige Leistungen für den Menschen erbringen. Ohne die letzteren würden "sekundäre Systeme" vermutlich blind weiter laufen. Mehr als drei Jahrzehnte trennen die "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" Hans Freyers von der Gegenwart. So steht am Ende und ganz im Sinne seiner "wirklichkeitswissenschaftlichen" Soziologie die Frage nach der Reichweite seiner Aussagen. Ist gar jener Punkt erreicht, der das Modell zum getreuen Abbild der Realität werden läßt? In welche Richtung bewegt sich das Pendel? Geraten "gewachsene" Institutionen zunehmend ins Hintertreffen? Nur einige wenige Linien, die sich aus dem Dargelegten ergeben, können nachfolgend weiter verfolgt und lediglich schlagwortartig beleuchtet werden. 57 Max Weber und das Projekt der Moderne. Eine Diskussion mit Dieter Henrich, Claus Offe und Wolfgang Schluchter, in: Max Weber, Ein Symposion, herausgegeben von Christian Gneuss und Jürgen Kocka, München 1988, S. 176. Das Zitat entstammt einem Diskussionsbeitrag von Henrich. 58 Vgl. Elfriede Üner, Herrschaft, Planung und Technik: Hans Freyers Versuch einer Rettung des Politischen, in: Hans Freyer, Herrschaft, Planung und Technik, S. 149.

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Ins Auge stechen zunächst die "technischen Mutationen", die seither hervorgetreten sind. 1955 schien ein aufkünstlichem Wege erzeugter Mensch allenfalls in der Phantasie vorstellbar zu sein. Zwischenzeitlich haben auf dem Gebiet der Reproduktion revolutionäre Prozesse um sich gegriffen, die die "Machbarkeit", "Planbarkeit" des Menschen zur jederzeit abrufbaren technischen Möglichkeit werden ließen. 59 War es Freyer unmöglich, den konkreten technischen Fortschritt weiterzudenken, so scheint sich heute mehr denn je der von ihm schon rechtzeitig formulierte Charakter moderner Technik zu enthüllen, die mit Beginn der industriellen Ära auf den Plan getreten sei und deren strukturelles Merkmal darin liege, daß sie "nicht mehr bloß spezifische Mittel für vorgegebene Zwecke", sondern "Potenzen für freibleibende Zwecke" bereitstelle. 60 Um das Ausmaß der technischen Veränderungen auf den Begriff zu bringen, wird heute nicht selten von einer "dritten industriellen Revolution" 61 gesprochen. Im Sinne des von Hans Freyer eingeführten Technikbegriffs erübrigt sich aber eine Einteilung des industriellen Prozesses in mittlerweile drei voneinander unterscheidbare Revolutionen. Diesen Unterteilungen haftet stets etwas "Künstliches" an, denn unbestreitbar hat sich der von Freyer aufgedeckte Charakter moderner Technik nicht verändert. Wohl aber fällt auf, daß das Tempo bzw. die Geschwindigkeit der Innovationen variiert. Zeiten, in denen die "Dynamik des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts" 62 ein besonders hohes Maß annimmt, hinterlassen auch in den Orientierungen und im Bewußtsein der Menschen ihre Spuren. Gerade die "technischen Mutationen" der zurückliegenden Jahre- auf den Gebieten der Kernenergie, Mikroelektronik und Gentechnologie- haben die Kosten des Fortschritts oder, im Sinne Freyers formuliert, den "Fortschritt im Modus des Scheiterns" 63 ins Bewußtsein gerufen und dazu geführt, daß auch die "Grenzen der Machbarkeit" nicht weiter tabuiert werden können. Mit den Veränderungen der Bewußtseinslagen beschäftigt sich seit geraumer Zeit die Wertwandeldiskussion. Von ihren Befunden ausgehend, können zwei Aspekte der Theorie Freyers auf ihre gegenwärtige Bedeutung hin befragt werden: Tradition und Verantwortung. 59 Vgl. Mohammed Rassem, Zur Revolution der Reproduktion, Zeitschrift für Politik 36 (1989), s. 347-357. 60 Vgl. Hans Freyer, Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft, in: ders., Gedanken zur Industriegesellschaft, S. 139; ders., Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 167. 61 Vgl. neuerdings Daniel Bell, Die dritte technologische Revolution und ihre möglichen sozioökonomischen Konsequenzen, Merkur 44 (1990), S. 28-47. 62 Vgl. Johannes Chr. Papalekas, Über soziale und politische Implikationen der technischen Zivilisation, in: ders., Kulturelle Integration und Kulturkonflikt in der technischen Zivilisation, Frankfurt a.M. 1989, S. 14. 63 Vgl. ders., Art. Hans Freyer, S. 133.

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1. Tradition: Auf den ersten Blick könnte man zu der Schlußfolgerung kommen, daß einer Rückbesinnung ein günstiger Nährboden bereitet wird. Es hat sich zwischenzeitlich aber zunehmend herauskristallisiert, daß dieser Prozeß einige Schieflagen in sich birgt. So wird geflissentlich übersehen, daß die Herkunftswelt nicht nur in ökologischen Dimensionen verankert ist, sondern sich ebenso auf Geschichte, Religion, Nation und deren institutioneller Basis erstreckt. Mit der Überbetonung ökologischer Werte geht vielfach die "Predigt" einer Emanzipation aus den übrigen Herkunftswelten einher,64 so kommt Ronald Inglehart etwa in seinem neuen Buch über den "Kulturellen Umbruch" am Ende u. a. zu der Feststellung, "daß das Geistliche eher in der Natur als in den Kirchen gesucht wird". 65 Hinzu kommt eine "Qualitätsverschiebung der traditionellen Komponente", 66 die unaufhaltsam im Gange ist. Die Art und Weise, wie man sich heute vielfach traditionaler Bestände bedient, zieht eher eine "Verflachung" und "Verdünnung" nach sichY Die nunmehr einsetzende "Erbediskussion" 68 vermag allerdings nicht den Sachverhalt der "Herkunftsverwurzelung" 69 zu erreichen. Die heute weit verbreitete Unfähigkeit zum memento mori 70 mag nur ein Indiz dafür sein, daß der "gewachsene Traditionsbezug" sich nur schwerlich durch "gemachte Traditionen" kompensieren läßt. 2. Verantwortung: In seinen Arbeiten über den Wertwandel geht Helmut Klages von einer Wertesynthese aus, d. h. uns begegnen Mischlagen, die sich aus "materiellen" und "postmateriellen" Werten bzw. aus "Pflichtund Akzeptanz-" sowie "Selbstentfaltungswerten" zusammenfügen. Der Trend zu Selbstentfaltungswerten müßte- konsequent weiter gedachtVerantwortung ganz oben im Wertgefüge rangieren lassen. Dem ist aber nicht so. Vielmehr zeigen sich auch hier die Ambivalenzen des Prozesses, 64 Vgl. hierzu Hermann Lübbe, Fortschrittsreaktionen. Über konservative und destruktive Modernität, Graz/Wien/Köln 1987. 65 Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt. Aus dem Englischen von Ute Mäurer, Frankfurt/New York 1989, S. 500. 66 Vgl. Wolfgang Lipp, Marginalien zum Begriff Tradition, in: Volkskundliche Beiträge anläßlich der Eröffnung des Instituts für Volkskunde der Universität Wien, herausgegeben von Helmut Fielhauer und lngrid Kretschmer, Wien 1966, S. 77-83 (82). 67 Vgl. Wilfried Lipp, Was ist kulturell bedeutsam? Überlegungen aus der Sicht der Denkmalpflege, in: Wolfgang Lipp (Hrsg.), Kulturpolitik. Standorte, Innensichten, Entwürfe, Berlin 1989, S. 189-214 (199). 68 Vgl. ebd., S. 193. 69 Der Begriff geht auf Hermann Lübbe zurück, der ihn bei der Diskussion seines Aufsatzes "Aspekte europäischer Gegenwartskultur. Herkunftsverankerung und Zukunftsoffenheit", in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Wissenschaftlich-technischer Fortschritt als Aufgabe in einer freiheitlichen Kultur, Köln 1987 (Veröffentlichungen der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Bd. 23), S. 143-152, u. a . verwendet (vgl. ebd., S. 166). 70 Vgl. Bernd Guggenberger, Die neue Mehrheit der Lebenden. Oder: Der trügerische Triumph des Jetzt, FAZ, Nr. 23 vom 27.1.1990, Beilage Bilder und Zeiten.

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wenn z. B. in puncto Selbstentfaltung der Wille zum Engagement und die individuelle Zeitsouveränität miteinander konkurrieren. Letztere scheint nicht selten zu obsiegen, denn, wie neuere Untersuchungen von Klages ergaben, neigen ehedem "jugendlich-idealistische Post-Materialisten" heute auffallend zum Rückzug ins Private. Nur eine angemessene Vermittlung beider Wertetypen bietet nach Klages die Grundlage dafür, daß es zu Verantwortungsübernahmen kommt, die über die Privatsphäre hinausgehen. Die Tatsache, daß es aber nicht leicht fällt, Trägergruppen für diese Verantwortungsrollen auszumachen, verrät, daß sich hier eine weitergehende Erosion des Institutionellen, wie Freyer befürchtete, bemerkbar macht. 71 Ein dritter Zusammenhang soll schließlich noch erwähnt werden. Er geht zurück auf die Feststellung Freyers, daß "sekundäre Systeme" einer doppelten Ausformung - an anderer Stelle geht er von zwei disparaten Modellen der Industriekultur aus - unterliegen: sie setzen sich in kapitalistisch verfaßten ebenso wie in sozialistischen Gesellschaftsordnungen durch. Dabei betont Freyer aber stets, daß diese doppelte Ausformung keineswegs auf ewige Zeiten zementiert ist und gibt- wie mehrfach schon in diesem Beitrag unterstrichen wurde- zu bedenken, daß Geschichte an ihrer Stirnseite offen ist. Es ist in diesen Tagen keine allzu gewagte Prognose, davon auszugehen, daß die technische Zivilisation dabei ist, den bisherigen Weg zu verlassen und an der Schwelle einer- wie auch immer Gestalt annehmenden- Neuordnung stehen dürfte. Stimmen mehren sich, die das "Ende der Geschichte" hereinbrechen sehen und von einer "Zeitenwende" sprechen. 72 Einstweilen sind aber viele Vorgänge noch zu unübersichtlich, als daß man solchen Schlußfolgerungen vorbehaltlos zustimmen könnte. Die vorstehenden Ausführungen vermitteln kein geradliniges Bild über den Fortgang "sekundärer Systeme". Befürchtungen und Hoffnungen Freyers haben sich durch die weiteren Entwicklungen bestätigt. Unzweideutig beinhaltet sein Werk Wegmarkierungen, auf die es gerade in Zeiten eines Umbruchs, inmitten dessen die Gegenwart steht, ankommt: es ist die rechte Balance von Tradition und Innovation. Gelingt sie, können vom "Erbe" wertvolle, integrierende Leistungen ausstrahlen.

71 Vgl. u. a. Helmut Klages, Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich/Osnabrück 1988; ders., Wertwandel als Herausforderung kommunaler Kulturpolitik, in: Wolfgang Lipp (Hrsg.), KulturJ?.olitik, S. 255-281; bezüglich des institutionellen Defizits vgl. Johannes Chr. Papalekas, Uber soziale und politische lmp1ikationen der technischen Zivilisation, in: ders., Kulturelle Integration und Kulturkonflikt in der technischen Zivilisation, S. 19, 20. 72 Vgl. Arnu1f Baring, Ende der Geschichte?, FAZ, Nr. 295 vom 20.12.1989, S. 35; Michael Stürmer, Ende der Geschichte?, FAZ, Nr. 222 vom 25.9.1989, S. I.

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Ehre und Demokratie Überlegungen im Anschluß an Alexis de Tocqueville

I. Einleitung

Seit dem Zweiten Weltkrieg, als die geopolitische Machtteilung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion erst voll gewahr werden ließ, von welcher Tragweite und Prägnanz die Vorhersagen Tocquevilles in seinem Werk über .,Die Demokratie in Amerika" waren, hat man immer wieder Tocquevilles prognostische Kraft zu ergründen versucht; so auch Hans Freyer in einem Vortrag zum hundertsten Todestag Tocquevilles im Jahre 1959. 1 Der Erfolg von Tocquevilles Vorhersagen sei nicht das geglückte Ergebnis einer eigens darauf gerichteten Bemühung gewesen, stellt Freyer fest, sondern "beinahe nur das Nebenprodukt der denkerischen Bewältigung der eigenen Gegenwart: wer sein Zeitalter bis zum Grunde durchschaut, weiß auch das Schicksal mit, das ihm vorgezeichnet ist". Freyer fährt fort: "Solch ein Wissen ist nicht bloß eine intellektuelle Leistung höchster Stufe, sondern immer auch eine sittliche Leistung. Zu ihren Vorbedingungen gehört außer einer Urteilskraft, die von keinem persönlichen Interesse und von keinem Ressentiment getrübt wird, der Mut, sich mit seinem Zeitalter, auch mit seinen Verhängnissen, eins zu wissen, seinen Gefahren ins Auge zu schauen und sich der Verantwortung zu stellen, die der unverbrüchliche Gang der Geschichte dem Menschen auferlegt. Erkenntnis des Gegenwärtigen und des unmittelbar Zukünftigen in diesem vertieften Sinne setzt Distanz voraus, aber zugleich Engagement, setzt die souveräne Freiheit des theoretischen Geistes voraus und zugleich den Entschluß, der Gegenwart, in die er hinein gestellt ist, treu zu bleiben. Eben diese Kombination geistiger und sittlicher Eigenschaften ist äußerst selten. Bei Tocqueville ist sie in einer wunderbaren Vollendung gegeben." 2 1 Hans Freyer, Alexis de Tocqueville zum hundertsten Todestag. Rundfunk-Sendung "Lebendige Wissenschaft". 12. April1959, Süddeutscher Rundfunk. Unveröff. Ms., Nachlaß Hans Freyer, Universitätsbibliothek Münster, Westf. ; Klaus Barheier verdanke ich den Hinweis auf dieses Manuskript. 2 Ebd., S. 3.

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In diesem "Zugleich" liegt auch Tocquevilles Verhältnis zur Wertwelt des alteuropäischen Adels, 3 dem er selbst angehörte, beschlossen. Er war Zeuge und Analytiker ihrer Auflösung, er sah den Siegeszug demokratischer Ordnungen als unaufbaltsam an; gleichwohl blieb er jener Wertwelt in seinem schriftstellerischen Werk, aber auch in den verschiedenen Feldern des praktischen Handelns, die er im Laufe seines Lebens kennenlernte - als Anwalt, Richter, Abgeordneter, Minister, Gutsherr - auf eine verhaltene, kritische Weise verpflichtet. Nicht nur der weite historische Blick, der seine Analysen überall auszeichnet, zeigt diese Verwurzelung. Sie ist erkennbar bis hinein in Einzelheiten der Wahl und Ausprägung, ihrer Gegenstände, Topik und Begrifflichkeit; so ist z. B. die spezifische Ausprägung, die der zentrale Begriff seiner politischen Theorie - Freiheit - durch ihn erhält, nicht verständlich ohne den ständischen Wertakzent der Selbständigkeit. 4 Vor diesem Hintergrund ist auch der Gegenstand der nachstehenden Betrachtungen zu verstehen: das Kapitel über die Ehre im Werk über die "Demokratie in Amerika". Für den Sproß eines alten Adelsgeschlechtes aus der Normandie ist "Ehre" ein gleichsam "natürliches" Thema und bedarf keiner weiteren Begründung. Die Biographie läßt freilich keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Tocqueville die äußeren, standes- bzw. statusbedingten Qualitäten eines "Mannes von Ehre" nur unter der Voraussetzung innerer Ehrenhaftigkeit im Sinne einer Maxime allgemeiner Moral gelten ließ. 5 Dies hat ihm auch die Distanz ermöglicht, mit der er die Ehre in seiner Amerika-Studie abhandelt. 3 Ich verwende den Begriff .,alteuropäisch" in der Bedeutung, wie sie z. B. Otto Brunners Studie .,Adeliges Landleben und Europäischer Geist " (Salzburg 1949), bes. Kap. II und V) zugrunde gelegt wird. 4 Dieser Zusammenhang kommt deutlich zum Ausdruck in einer Bemerkung von K. H. Volkmann-Schluck: .,Tocqueville versteht unter Freiheit die Selbständigkeit und deshalb auch die eigene Verantwortung eines jeden nicht nur für sein persönliches Leben, sondern gerade auch das verantwortliche Beteiligtsein an dem Zustand des Gemeinwesens." (Heinz Rausch, Tocqueville, in: Klassiker des politischen Denkens, Bd. II: Von Locke bis Max Weber, hrsg. von H. Maier I H. Rausch I H. Denzer, München 1974, S. 216-239, Zit. s. 231). 5 Viele Stationen der Biographie belegen den existenziellen Ort dieses Moralismus der Ehre vor allem in Tocquevilles persönlichem Verhältnis zur Politik. So glaubt er 1832 nur durch den Verzicht auf das Richteramt ehrenhaft handeln zu können, als sein Freund Beaumont aufgrundseiner Weigerung, das Königshaus für eine moralisch und rechtlich zweifelhafte Sache zu verteidigen, seinerseits aus dem Richteramt entlassen wird. Als er sich wenig später mit dem Gedanken trägt, in die Politik einzutreten, macht er sich Sorgen, ob er der Last gewachsen sei, .,sich selber treu zu bleiben inmitten der Parteien, die das Land spalten, die Ehrenhaftigkeit in der Politik wieder herzustellen in einem Volk, das schon fast gleichgültig geworden ist gegen Gut und Böse und das nur den Erfolg anbetet" (K. Pisa, Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters. Eine Biographie, München/ Zürich 1986, S. 116). Mit seinem persönlichen Verhältnis zur Ehre repräsentiert Tocqueville den polaren Gegensatz zu jenem Typus des zeitgenössischen Revolutionärs, den Dostojewski charakterisiert durch die grundsätzliche ,.Verneinung der Ehre" (Die Dämonen, 2. Tl. VI- dt. Ausg., Frankfurt a.M. 1970, S. 364).

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Auf den ersten Blick mag das Thema der Ehre seltsam, ja deplaciert in einem Werk erscheinen, das die Strukturen und Tendenzen einer "Neuen Welt" beschreibt, die sich entschieden von der alteuropäischen gelöst hat. Aber "Die Demokratie in Amerika" ist das Werk eines von den revolutionären Umwälzungen seines Vaterlandes zutiefst betroffenen Europäers, dessen Perspektive von Amerika zurückführt zu den' wahrscheinlichen Schicksalen in der Zukunft seines eigenen Kontinents. Nicht Amerika als solches ist denn auch der primäre Gegenstand des Werkes, sondern die an Amerika aufdeckbaren Züge der Demokratie im allgemeinen6 und die Bedingungen und Wege ihrer künftigen Entwicklungen in den europäischen Ländern im besonderen. Deshalb sucht Tocqueville in Amerika einen so "europäischen" und im Verhältnis zur Demokratie antizyklisch erscheinenden Gegenstand wie die Ehre auf. "Demokratisierte" gesellschaftliche Verhältnisse bestehen für Tocqueville vor allem in der Gleichheit der Lebens- und Handlungsbedingungen, die dem überkommenen Strukturprinzip der Ehre fremd sind. Wie wird sie sich unter solchen Bedingungen entwickeln? Diese Frage ist der Ausgangspunkt für das Kapitel über die Ehre, dessen Überschrift auch seinen allgemeineren Horizont zum Ausdruck bringt: "Über die Ehre in den Vereinigten Staaten und in den demokratischen Gesellschaften".7 Der Ort des Ehre-Themas innerhalb von Tocquevilles Amerika-Studie wird so schon aufgrund seiner zentralen Fragestellung verständlich. Beachtung verdient aber auch der engere thematische Rahmen, in den Tocqueville es hineinstellt. Der erste, 1835 veröffentlichte Teil des Buches hatte die Auswirkungen des demokratischen Strukturprinzips auf die politischen Einrichtungen und Verhaltensweisen untersucht. Der zweite vom Jahre 1840 behandelt nacheinander: seine Auswirkungen auf "das geistige Leben" der Vereinigten Staaten (Teil I), auf "das Gefühlsleben der Amerikaner" (Teil II), auf "die eigentlichen Sitten" (Teil 111, zu dem das Kapitel über die Ehre zählt); im abschließenden Teil (IV) "Vom Einfluß des demokratischen Denkens und Fühlens auf die politische Gesellschaft" zieht Tocqueville nochmals allgemeine Schlußfolgerungen aus seiner Untersuchung. Da mit den Abschnitten I bis 111 der größte Teil des jüngeren Textes das wechselseitige Verhältnis zwischen Strukturen auf der einen und Werthaltungen, Orien6 In der "Einleitung" bemerkt Tocqueville: "In Amerika habe ich mehr als Amerika gesehen; ich habe dort ein Bild der Demokratie selbst, ihres Strebens, ihres Wesens, ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften gesucht; ich wollte sie kennenlernen, und sei es auch bloß, um zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben" (Über die Demokratie in Amerika. Aufgrund der französischen historisch-kritischen Ausgabe, hrsg. von J. P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden, München 1976, S. 16). - Im Hinblick auf die Demokratie sind alle schlußfolgernden Teile des Werkes abgefaßt; besonders der zweite Teil von 1840 enthält zahlreiche Passagen und ganze Kapitel, die verallgemeinernd die Verhältnisse der "demokratischen Zeitalter", der demokratischen Völker und Nationen zum Gegenstand haben. 7 Zweiter Teil von 1840, Tl. III, Kapitel 18.

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tierungsmustern auf der anderen Seite untersucht, kann der gesamte Teil von 1840 als eine Kultursoziologie der Vereinigten Staaten bzw. der Demokratie angesehen werden. Die Bezeichnung "Kultursoziologie" erscheint um so mehr gerechtfertigt, als der oft wiederkehrende Sammelbegriff, mit dem das breite Spektrum der Gegenstände bezeichnet wird, die, wie die Ehre, hier abgehandelt werden- ,,Sitten", "moeurs" 8 - von Tocqueville erläutert wird als die "Gesamtheit des geistigen und sittlichen Verhaltens der Menschen im gesellschaftlichen Zustand" (353): 9 mithin als "Kultur", wenn man den Begriff in der Bedeutung versteht, die ihm gegenwärtig die Kultursoziologie unterlegt. 10 In der Tat sind die Phänomene, auf die sich die Sprache mit dem Ausdruck "Ehre" bezieht, nur unzulänglich der Erkenntnis aufschließbar, solange die Soziologie sie allein im Rahmen von Herrschafts- oder Schichtungsstrukturen untersucht; wenn diese Phänomene bisher nur unerhebliches soziologisches Interesse hervorgerufen haben, so ist dies- neben einer Reihe von anderen, hier nicht weiter zu erörternden Ursachen- vor allem einer um die kultursoziologische Dimension verkürzten Sichtweise zuzuschreiben. Tocqueville selbst bringt das Ergebnis seiner Erörterungen am Ende des Kapitels über die Ehre auf eine einfache Formel: es sind "die Unähnlichkeiten und Ungleichheiten der Menschen, die die Ehre geschaffen haben; sie wird in dem Grade schwächer, als diese Verschiedenheiten sich verwischen, und sie verschwände mit diesen selbst" (733). Demokratisierung bringt also -in Amerika wie überall, wo sie stattfindet- eine graduelle Auflösung von Ehre mit sich. Da jedoch Unähnlichkeiten und Ungleichheiten nach aller Erfahrung auch künftig Kennzeichen des menschlichen Zusammenlebens sein werden, rechnet Tocqueville nicht mit dem Verschwinden der Ehre. In dieser Einfachheit verbirgt die Formel, was das Kapitel für die Kultursoziologie erst interessant macht: der Weg, auf dem Tocqueville zu ihr gelangt, ist eine "Relationierung" der Ehre im Plural ihrer historisch-kulturellen Erschei8 Als politischer Schriftsteller, der detailliert auf sie eingeht, steht Tocqueville damit in der Tradition Montesquieus. Vgl. dazu die Kapitel über Montesquieu und Tocqueville bei Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Köln 1971. Das Thema "Ehre" hat bei Montesquieu allerdings einen völlig anderen Ort: vgl. M. Rassem, Die Volkstumswissenschaften und der Etatismus, Kap. V, Graz 1951 (2. Aufl., Mittenwald 1979, s. 91 ff.). 9 In Klammern gesetzte Seitenzahlen beziehen sich im folgenden auf die in Anm. 6 angeführte Ausgabe von Tocquevilles Buch. - Auch der Wortlaut des Passus in der französischen Fassung unterstreicht die hier gegebene Interpretation: "l'ensemble des dispositions intellectuelles et morales que !es hommes apportent dans l'etat de societe" (De Ia democratie en Amerique, t. 1., Paris 1979, S. 319). Im Verhältnis zu diesem ist der in der Literatur häufiger zitierte Passus zum Begriff "moeurs", der die "Gewohnheiten des Herzens" mit den "geistigen Gewohnheiten" zusammenfügt (334, frz. Ausg. S. 300), weniger klar. 10 Dazu s. vor allem die Beiträge im Abschn. II zum Schwerpunktheft "Kultursoziologie" der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979).

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nungsformen gegenüber ihren jeweiligen sozialen Milieus. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt nicht so sehr auf "der" Ehre, sondern den Ehrauffassungen als Äußerungsformen gruppenspezifischer Moralität, die sich mit der Egalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse entdifferenziert und die zugleich abgelöst wird von einer allgemeinen Moralität. Damit betrachtet Tocqueville - m. W. als erster- "Ehre" in einer theoretischen Perspektive, mit der er ein wichtiges Element jener soziologischen Diskussion vorwegnimmt, die sich in den vergangeneo Jahrzehnten mit der globalen Bedeutung des okzidentalen "Modernisierungsprozesses" befaßt hat. Im folgenden Abschnitt (II) wird zuerst die Argumentation Tocquevilles dargestellt. Dies geschieht verhältnismäßig ausführlich, damit die Vielfalt der von Tocqueville behandelten Aspekte und das Charakteristische seines analytischen Ansatzes deutlicher werden. Der daran anschließende Kommentar (Abschnit 111) führt, mit weiteren Aspekten zur kulturvergleichenden Analyse des "Ehre"-Phänomens und zu seinem institutionellen Stellenwert in der Gegenwart, über Tocqueville hinaus. II. Die Tempel einer Religion, an die man nicht mehr glaubt

1. Noch vor Eintritt in die Lektüre des Kapitels erhält der Leser eine Anleitung, was er unter "Ehre" zu verstehen habe. Bereits der Kapitelüberschrift ist eine Anmerkung hinzugefügt, die präzisiert, daß damit nicht Achtung, Ruhm und Ansehen gemeint sei, sondern die "Gesamtheit der Regeln, dank welcher einem dieser Ruhm, dieses Ansehen zuteil werden. So sagt man", fügt er hinzu, "ein Mensch hat die Ehrengesetze immer genau eingehalten: er hat sich gegen die Ehre vergangen" (721).

Gleich zu Anfang des Kapitels deutet Tocqueville die Gesichtspunkte, unter denen er seine Fragestellung behandeln wird, in abstrakter Form an, indem er moralische Normensysteme mit universeller Geltung solchen mit partikularer Geltung gegenüberstellt. Zur Verdeutlichung führt er die Ehre ein: selbst da, wo sich die Menschen ihr völlig unterwerfen, fühlen sie "ein allgemeineres, älteres und geheiligteres Gesetz"; Duelle seien oft abgelehnt worden, weil sie als "ehrenhaft und schimpflich zugleich" beurteilt wurden. In ebenso abstrakter Form folgt die Erläuterung: die allgemeinen Sittengesetze seien auf "ständige und allgemeine Bedürfnisse des Menschengeschlechts" zurückzuführen, während die relative Sonderung von Völkern, Klassen oder Kasten besondere Bedürfnisse hervorbrächten, die das Sittengesetz modifizierten. In diesem Zusammenhang stellt Tocqueville fest: ,,Die Ehre ist nichts anderes, als diese auf einen Sonderzustand gegründete Regel, 11 laut welcher ein Volk oder eine Klasse Lob oder Tadel austeilt" (722). 11

Die Übersetzung gibt den leitenden Gesichtspunkt des Kapitels, den dieser Satz im

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2. Dieser abstrakten Einordnung der Ehre in Grundtypen der Moralität folgt eine erste Veranschaulichung an der "außergewöhnlichste(n) Ehre, die je in der Welt aufgetaucht ist" (722): der Feudalehre. Ob Handlungen ihr entsprachen, so führt Tocqueville aus, sei nicht durch ihren inneren Wert, sondern durch Eigenschaften ihrer Urheber oder ihrer Objekte entschieden worden; insbesondere sei sie, je nach dem, ob der Ausführende oder Erleidende dem Adel angehörte oder nicht, völlig verschieden bewertet worden, "was dem allgemeinen Gewissen des Menschengeschlechts widerstrebt" (722). Mit drastischen Beispielen führt Tocqueville dem Leser zunächst vor Augen, daß die Moral des feudalen Ehrbegriffs vom Standpunkt universeller Normen aus willkürlich erscheinen muß, ja daß sie nicht davor zurückscheut, "die natürliche Ordnung des Gewissens zu stören" (723). Dann aber wechselt er den Gesichtspunkt, um die Besonderheiten der Feudalehre von der Stellung des Adels her zu erklären: "Eine Klasse, die sich an die Spitze aller anderen und über sie zu stellen vermochte und die sich unablässig bemüht, sich auf diesem höchsten Rang zu halten, muß jene Tugenden besonders ehren, von denen Größe und Glanz ausgehen und die sich leicht mit Stolz und Machtliebe verbinden"; sie werde "gewissermaßen durch ihre Stellung dazu gezwungen", "bestimmte kühne und glänzende Laster über die friedlichen und scheidenden Tugenden" hinauszuheben (723). Die kriegerischen Ursprünge des mittelalterlichen Adels und die Tatsache, daß seine Macht "in den Waffen lag", hätten seinen Grundsätzen und Bedürfnissen eine bestimmte Richtung gegeben, aus ihr seien die Vorrangstellung des kriegerischen Mutes unter den adeligen Tugenden und die Eigentümlichkeiten adeliger Ehrenwahrung durch Zweikampf ableitbar. "Diese Sonderregel, von unseren Vorfahren Ehre genannt", sei, so gesehen, alles andere als willkürlich: sie ergebe sich aus einer "kleinen Zahl fester und unveränderlicher Bedürfnisse der Feudalgesellschaft" (724). Nach einem Zusatz, der die Vasallentreue als Element der Feudalehre mit den Kriterien patriotischer Ehrenhaftigkeit in der neueren Geschichte vergleicht, und nach einer kurzen Passage, in der auf die Inkonsistenz allgemeiner Begriffe von Gut und Böse mit den kulturspezifischen Ehrbegriffen der Römer hingewiesen wird, stellt Tocqueville fest: "Jedes Volk gibt Anlaß zu ähnlichen Bemerkungen; denn .. . immer wenn die Menschen sich zu einer besonderen Gesellschaft (societe particuliere) zusammenschließen, entsteht unter ihnen auch eine Ehre, d. h. eine Gesamtheit der ihnen gemäßen Auffassungen von dem, was zu loben oder zu tadeln ist; und diese besonderen Regeln entspringen stets den besonderen Gewohnheiten und den eigentümlichen Interessen der Vereinigung (association)" (726; Hervorh. von mir). Dieser Grundsatz gelte sowohl für demokratische wie für andere Gesellschaften. Original zum Ausdruck bringt, nicht angernessen wieder: .,L'honneur n'est autre chose que cette regle particuliere fondee sur un etat particulier .. ." (a.a.O., S. 239; Hervorh. von mir).

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3. Um dies unter Beweis zu stellen, wendet sich Tocqueville nun den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten zu. Er findet hier nur mehr verstreute Einsprengsel "der früheren aristokratischen Ehre Europas"; sie erscheinen ihm wie "eine Religion, von der man noch einige Tempel fortbestehen läßt, an die man aber nicht mehr glaubt. Inmitten dieser halbverwischten Begriffe einer fremdländischen Ehre tauchen einige neue Anschauungen auf, die das darstellen, was man ... als amerikanische Ehre bezeichnen könnte" (726). Diese charakterisierte Tocqueville als Korrelat der Bedürfnisse einer "fast ausschließlich industrielle(n) und Handel treibende(n) Gesellschaft''. Er schildert ausführlich, wie sie Tugenden und Laster strukturieren; es fällt Tocqueville auf, daß - im Gegensatz zu Europa - ein Bankrott, wenn er auf Unternehmerischen Wagemut zurückzuführen ist, nicht als unehrenhaft bewertet wird. Andererseits achte man strenger als in Europa auf ein geregeltes, den moralischen Normen entsprechendes Privatleben als Voraussetzung für das Streben nach Wohlstand. Einen besonders auffallenden Kontrast hebt Tocqueville in der öffentlichen Bewertung des Müßiggangs hervor: in Europa glaubten um der Ehre willen in Armut abgleitende Adelige in Müßiggang verharren zu müssen, während sich reiche Amerikaner ebenfalls wegen ihrer Ehre keinen Müßiggang erlauben könnten. 4. Nach diesem Einblick in die Besonderheiten der "amerikanischen Ehre" begibt sich Tocqueville erneut auf eine allgemeine Stufe der Argumentation und fragt nach den Charakteristika der Ehrvorschriften unter demokratischen Verhältnissen. Er folgert zunächst aus den Vereinigten Staaten: "Was unsere Vorfahren im eigentlichen Sinne Ehre nannten, war in Wahrheit nur eine ihrer Formen" (729); die Ehre finde sich also in demokratischen wie in anderen Zeitaltern, jedoch zeigt sie ein anderes Gesicht: sie sei nicht nur verschieden, ihre Vorschriften seien geringer an Zahl, weniger klar und würden lässiger befolgt. Die geringere Zahl erklärt Tocqueville mit dem Verschwinden der "Kasten", die sich stets in einer "viel eigentümlicheren Lage als ein Volk" befunden hätten. Sie stellten eine Gesellschaft im kleinen dar, wie die Aristokratie des Mittelalters, die, zusammengesetzt aus immer denselben Familien, Macht, Reichtum und Bildung allein für sich zu behalten versuchte. Je "ungewöhnlicher" die Stellung einer solchen Sondergesellschaft ist, folgert Tocqueville, "um so größer ist die Zahl ihrer besonderen Bedürfnisse und um so mehr vermehren sich die Ehrbegriffe, die diesen Bedürfnissen entsprechen" (729). Und umgekehrt: "bilden sich Völker, in denen Klassen überhaupt kaum vorkommen, wird sich die Ehre auf einige wenige Vorschriften beschränken, und diese Vorschriften werden sich immer weniger von den sittlichen Gesetzen entfernen, die die Menschheit als Ganzes angenommen hat" (729f.).

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Die geringere Klarheit der Vorschriften ergebe sich einmal daraus, daß die kennzeichnenden Merkmale der Ehre weniger zahlreich und eigentümlich sind; hinzu komme die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse unter demokratischen Verhältnissen. Eine Gesellschaft wie die amerikanische, die, in "immerwährender täglicher Umwandlung begriffen", "ihre Anschauungen mit den Bedürfnissen ändert" (730), könne keine klar umrissene Ehrvorstellungen besitzen, zumal dieselben Ehrvorstellungen von einer großen Zahl von Menschen übernommen würden. Ferner: "in einem demokratischen Volk wie dem amerikanischen, wo die Rangstufen aufgehoben sind und die ganze Gesellschaft nur eine einzige Masse bildet, deren Teile sich alle ähnlich sind, ohne einander völlig zu gleichen, kann man sich niemals im voraus genug über das einigen, was gemäß der Ehre erlaubt oder verboten ist" (731 ); ein Gesetz der Ehre sei zwar vorhanden, es fehlten ihm aber diejenigen, die es auslegen könnten. Damit geht Tocqueville bereits weit über die Argumente hinaus, die erforderlich wären, die "größere Lässigkeit" in der Befolgung von Ehrvorschriften unter demokratischen Verhältnissen zu begründen. Seine Betrachtung des gesellschaftlichen Wandels führt ihn zu zwei weiteren, grundlegenden Aspekten. Der erste betrifft die im Vergleich zu den neuen Verhältnissen der Demokratie viel engere Verbindung der Sonderehre aristokratischer Gesellschaften mit der Person ihrer Träger; sie seien über ihre Ehre gegenüber anderen ausgezeichnet. Entsprechend stark sei die innere Anteilnahme, mit der sie sich ihr ergeben, wie sich in den kämpferischen Formen der Ehrenwahrung zeigte. In diesem Zusammenhang trifft Tocqueville die paradoxe Feststellung, "daß die Vorschriften da im allgemeinen sehr fremdartig sind, wo die Ehre in ihrer vollen Macht herrscht, so daß man ihnen um so mehr zu gehorchen scheint, je weiter sie sich von der Vernunft entfernen"; aber die Ehre sei nicht deshalb mächtig, weil sie absonderlich ist: beides ergäbe sich aus den eigentümlichen "und von einer kleineren Zahl Menschen gefühlten Bedürfnisse(n)" (732). - Der zweite Aspekt betrifft die sehr unterschiedlichen Möglichkeiten der "öffentlichen Meinung" in aristokratischen und demokratischen Gesellschaften, die Einhaltung der Vorschriften der Ehre zu überwachen. Auf der einen Seite stehe die Statik, die Überschaubarkeit der Ränge und die Festschreibung der Menschen innerhalb dieser: "es gibt keinen noch so niedrig gestellten Menschen, der nicht seine Bühne besäße und der dank seiner Unbekanntheit dem Tadel oder Lob entrinnen könnte. In den demokratischen Staaten dagegen, wo alle Bürger sich in der gleichen Masse miteinander vermischen und darin in steter Bewegung sind, greift die öffentliche Meinung ins Leere ... denn die Ehre wirkt nur angesichts der Öffentlichkeit, sie unterscheidet sich darin von der einfachen Tugend, die aus sich selber lebt und an ihrem eigenen Zeugnis Genüge findet" (732).

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5. Am Schluß des Kapitels bringt Tocqueville ein gedankliches Experiment, mit dem er den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen und der "Ehre" noch einmal in einer letzten Zuspitzung formuliert. Er lädt den Leser zunächst ein, sich einen Prozeß vorzustellen, in dessen Zuge sich die Menschheit möglichst weit nach Nationen und, unterhalb dieser, nach "Kasten" gliedert. In entsprechender Gliederung werden ebenso Bedürfnisse ausgebildet: die allgemeineren der Nationen und die spezifischeren der Sondergruppen, die ihrerseits wiederum in analoger Stufung Ehrvorstellungen hervorbringen. Daraufhin möge man sich den umgekehrten Prozeß vorstellen: eine von unten nach oben verlaufende Entgrenzung und Vermischung. Nach Beseitigung der "Kasten" verlöschen auch deren Ehrauffassungen; die Ehre leitet sich dann "nur noch von den Sonderbedürfnissen der Nation selbst her, sie verkörpert deren Wesensart (individualite) unter den Völkern" (733). Auf der letzten Stufe der Entgliederung ließe man es gänzlich sein, den menschlichen Handlungen einen Wertaufgrund von Konventionen 12 beizumessen: "alle sähen sie im gleichen Licht; die allgemeinen Bedürfnisse, die jedem Menschen bewußt sind, wären der gemeinsame Maßstab". Es gäbe nur noch einfache und allgemeine Begriffe von Gut und Böse, "die durch ein natürliches und notwendiges Band mit den Vorstellungen von Lob und Tadel verbunden wären" (733); so daß am Ende mit den Unähnlichkeiten und Ungleichheiten, die die Ehre geschaffen haben, auch sie selbst verschwände. III. Der institutionelle Ort der Ehre im Wandel 1. Zwischen normativem Partikularismus und Universalismus In allen europäischen Sprachen ist "Ehre" einer der facettenreichsten Begriffe der politisch-sozialen Sprache. Tocqueville trägt dem Rechnung: durch die vorweg gegebene Präzisierung seiner Verwendung des Begriffs, und indem er an mehreren Stellen nominalistische Wendungen benützt, die das Relative der eigenen Begriffswahl oder der Begriffswahl anderer ("unsere Vorfahren") sichtbar machen. Der Verlauf der Argumentation engt allerdings das Bedeutungsfeld, mit der Tocqueville am Beginn des Kapitels "Ehre" definiert, schon bald darauf gleichsam unter der Hand ein. Zwar sollen "Achtung, Ruhm, Ansehen" aus dem Begriff ausgeschlossen werden, gleichwohl soll er - so die Definition am Beginn - die "Gesamtheit der Regeln" umfassen, "dank welcher einem dieser Ruhm, dieses Ansehen zuteil 12 Die deutsche Übersetzung bringt an dieser Stelle für "une valeur conventionelle" (a.a.O., S. 249): "einen Wert auf Grund einer Übereinkunft"- m. E. unzutreffend, da kein Akt des Übereinkommens, sondern nur eine traditional "gewachsene" Konvention gemeint sein kann.

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werden". Ein so bestimmter Umfang dieser Regeln ist nun aber keinesfalls identisch mit dem Umfang jener Regeln, ,.laut welcher ein Volk oder eine Klasse Lob oder Tadel austeilt" (722, ähnlich 726): davon, und je mehr es seinem Ende zustrebt, um so ausschließlicher handelt das Kapitel in allen seinen Teilen. Es entfallen damit jene Regeln, aufgrundderer man zu ,.Ehre" im Sinn von ,.Achtung", ,.Ansehen" gelangt, ohne daß dies mit Kriterien des Lobens oder Tadelns zusammenhängt: z. B. die Regel, jemandem einen ehrenvollen Status bloß aufgrund seiner Geburt innerhalb eines ,.vornehmen" Standes zuzuweisen. Wovon das Kapitel handelt, hat seinen eindeutigen Schwerpunkt in jenem Aspekt der ,.moeurs", der mit ,,Sittengesetzen" umschrieben wird - wobei die ganze theoretische Spannung des Kapitels sich in der Differenz zwischen dem Plural und dem Singular von ,.Sittengesetz" aufbaut. Tocqueville hat also ,.Ehre" als einen Sachverhalt der ,.Moral" im Auge; er behandelt ihn aus der doppelten Perspektive des Analytikers, der seine geschichtliche Wandelbarkeit analysiert, und des Moralisten, der letztere den oberhalb aller Geschichte stehenden, unwandelbaren Maßstäben von Gut und Böse gegenüberhält. Tocqueville reflektiert damit eine grundsätzliche, zwischen ,.Nomos" und ,.Ethos" liegende Ambivalenz des Begriffs ,.Ehre", die eine lange Vorgeschichte hat- in der deutschen Sprachgeschichte ist siez. B. parallel zu setzen mit der Verinnerlichung, ,.Moralisierung" von Begriffen wie "Tugend", ,.Adel" 13 - und die vielleicht erst heute, im Rückblick auf offensichtlich irreversible institutionelle Differenzierungsprozesse von ,.Recht" und ,.Moral", auch semantisch klarer scheidbar wird. 14 Jede Einzelheit der Hauptthese des Kapitels, die Tocqueville gleich am Anfang formuliert, verdient vor diesem Hintergrund beachtet zu werden. Es handelt sich nicht allein darum, daß hier Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten der Bewertung von Ehre durch die Existenz moralischer Normensysteme mit unterschiedlichen Geltungsbereichen und Abstraktionsniveaus erklärt werden. Für die Leserschaft der Zeit muß es schon ungewöhnlich genug gewesen sein, den meist in der verabsolutierenden Redeweise "die Ehre" angesprochenen Wert im Hinblick auf gruppenspezifische Bedürfnisse relativiert zu sehen. Es wird im folgenden weiter darauf einzugehen sein, daß in der deutschen Soziologie der Jahrhundertwende dieser Faden der (wie man sie mit Mannheim nennen könnte): ,.relationierenden" Analyse der Ehre wieder aufgenommen wurde, freilich ohne Bezugnahme auf Tocqueville und ohne die fragwürdige Unterstellung einer kausalen Funktion von ,.Bedürfnissen". Hier mag der Hinweis darauf genügen, daß zahlreiche 13 Dazu s. F. Maurer, Tugend und Ehre, in: G. Eitler (Hrsg.), Ritterliches Tugendsystem, Darmstadt 1970, S. 238-252. 14 Vgl. als unentbehrliche Übersicht zur Begriffsgeschichte von "Ehre": F. Zunkel, Ehre, in: Brunner I Conze I KoseHeck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 1-63.

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kulturanthropologische und historisch-soziologische Beobachtungen zum Thema "Ehre" darin konvergieren, daß, je ausgeprägter die auf "Ehre" bezogenen Denkweisen in einer Ethnie bzw. Kultur in einer bestimmten Schicht oder Gruppe eines größeren gesellschaftlich-kulturellen Gesamtkomplexes sind, um so wahrscheinlicher auch eine i. S. der bekannten Pattern-variables-Schematik von Talcott Parsans "partikularistische" Orientierung des moralischen Normensystems vorliegt. Diesem Partikularismus der Ehre - man könnte ihn mit dem typologischen Kürzel "Ehre-Moralität" bezeichnen- bringt nun Tocqueville in eine merkwürdige, jedoch für ihn charakteristische Interferenz mit dem moralischen Universalismus: "Selbst wenn sich die Menschen ihren Geboten ohne Zögern und ohne Murren unterwerfen, fühlen sie noch mit dunklem, aber mächtigem Trieb, daß es ein allgemeineres, älteres und geheiligteres Gesetz gibt, das sie manchmal übertreten, aber zu kennen nicht aufhören" (721, Hervorh. von mir). Nicht die Ehre der Gegenwart meint Tocqueville damit, sondern die Ehre "in der Zeit ihrer größten Macht" - also, wie man aufgrund der kontrastierenden Rolle, die sie im Verhältnis zur Demokratie im Verlauf des Kapitels spielen wird, annehmen darf: in der Epoche des mittelalterlichen Feudalismus. Was ist, genauer, mit jenem "älteren und geheiligteren" Gesetz gemeint? In der Passage über den Feudalismus stellt er fest, bestimmte Seiten seiner Ehrauffassung widerstrebten "dem allgemeinen Gewissen des Menschengeschlechts" (722), sie scheue nicht davor zurück, die "natürliche Ordnung des Gewissens" zu stören (723). Selbst "auf Kosten der Vernunft und der Menschlichkeit (aux depens de Ia raison et de l'humanite 15 ) habe sie alles gebilligt, was den kriegerischen Mut zum Ausdruck brachte. Aber auch über den Feudalismus hinaus gilt für Tocqueville: je machtvoller Ehre-Vorschriften herrschen, um so weiter entfernen sich die Menschen von der Vernunft (732), und umgekehrt bedeutet jedes Zurücktreten des Ehrepartikularismus eine Annäherung an die "sittlichen Gesetze", "die die Menschheit als Ganzes angenommen hat" (730). Alle diese Äußerungen verweisen auf den weltanschaulichen Hintergrund des Tocquevilleschen Denkens 16 : einen tief in der christlichen Tradition wurzelnden Glauben an die Übereinstimmung von göttlicher und natürlicher Ordnung der Welt. Er ermöglicht es, Brücken auch zu einer Leserschaft zu schlagen, die von den Ideen der Aufklärung geprägt ist. Für das Problem des Ehre-Kapitels besagt ein solcher Brückenschlag noch nicht, Tocqueville habe einen moraltheoretischen Evolutionismus vertreten. Einen solchen verbot ihm die Überzeugung, die Menschheit bleibe, obwohl sie durch das Licht der Vernunft das ihr eingeschriebene sittliche Gesetz erkennen könne, erlösungsbedürftig. Das a.a.O., S. 241. Sie können hier nicht weiter ausgeführt werden: dies erforderte vor allem, auf die Grundlagen des Moralismus von Tocqueville zunächst im Kontext seines Werkes über Amerika, dann im Zusammenhang seines Gesamtwerkes näher einzugehen. 15

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gedankliche Experiment am Ende des Kapitels fordert allerdings dazu auf, sein Schema zu "historisieren", zu übersetzen in eine entwicklungsgeschichtliche Fragestellung, die den Diskussionen um den "Modernisierungsprozeß" im Okzident zugeordnet werden kann. Sie würde ausgehen von der Vorherrschaft egalisierter gesellschaftlicher Verhältnisse und universalistischer Orientierungsweisen in der westlichen Industriegesellschaft und hätte zunächst einmal zu klären, wo und wie lange bei den Prozessen, die zu diesen Verhältnissen führten, partikularistische (dabei insbesondere auf einer EhreMoralität beruhende) Orientierungen sowie Strukturen, die diese trugen, im Wege standen. Sie hätte dann vor allem zu klären, auf welche Weise die universalisierenden Gegenkräfte- allen voran die christlichen Kirchen mit ihren theologischen und ethischen Systembildungen- auf die Ehre-Moralität einwirkten, um sie allmählich aufzulösen. Diese Fragestellung wird im folgenden noch einmal im Zusammenhang mit anderen Gesichtspunkten aufgegriffen. Zunächst sei aber noch ein Blick auf weitere Einzelheiten der Argumentation Tocquevilles geworfen.

2. Die distinktive Physiognomie des Selbst Die Argumentation Tocquevilles verläuft in zwei Schichten, die teilweise ineinander greifen: innerhalb der ersten Schicht untersucht Tocqueville am Anschauungsmaterial konkreter Kulturkomplexe (des mittelalterlichen Feudalismus, der römischen Antike, der Vereinigten Staaten) das Verhältnis der "inneren" Merkmale der jeweiligen Ehrauffassungen zu den "äußeren" Gegebenheiten der Gesellschaftsstruktur; innerhalb der zweiten argumentiert er verallgemeinernd im Hinblick auf die Egalisierung gesellschaftlicher Bedingungen unter demokratischen Verhältnissen. Ich greife zunächst einige Aspekte der ersten auf. Der Feudalismus des Mittelalters spielt insofern eine zentrale argumentationstechnische Rolle, als er auch die Vergleichsfolie für den Passus über die amerikanischen Verhältnisse bildet. Darin unterscheidet sich Tocqueville nicht von einem Großteil der zeitgenössischen und auch der späteren Literatur zum Thema "Ehre". Das hat seinen sachlichen Grund in der Ausgeprägtheit und in dem auch für die späteren Epochen der abendländischen Geschichte modellhaften Charakter der feudalen Ehren-Kodizes. Wenn man einmal den problematischen Gebrauch des Bedürfnisbegriffes ausklammert und die Art und Weise betrachtet, wie Tocqueville äußere Lagen und innere Orientierungen aufeinander bezieht und aneinander erläutert, so sollte die Schematik, die gleichwohl darin sichtbar wird, nicht überschätzt werden. Tocqueville geht, indem er die selektive Affinität zwischen "moeurs" und "Milieus" konstruiert (im Falle des Feudalismus also: vor allem zwischen den militanten Zügen der Ehrauffassung und der Lage

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einer kriegerischen Schicht), doch soweit möglich auf die kontingenten Bedingungen des jeweiligen Kulturkomplexes ein; insofern praktiziert er ein methodisch zwar noch wenig kontrolliertes, aber schon in die Richtung von Max Webers Religionssoziologie vorausweisendes Verfahren. 17 Zur modellhaften Charakteristik der Feudalehre zählt nun Tocqueville auch die militante Form der Ehrenwahrung- jene auf die Verletzung der Ehre "zwingend" folgende, im Gegensatz zur staatlich-rechtlichen Regelung ausschließlich selbsttätige Wiederherstellung der Ehre, die später zur institutionalisierten Form des "Duells" geführt hat. Vieles spricht dafür, in dem darauf bezogenen Normenkomplex, auf den man in der Literatur oft abkürzend mit dem Ausdruckpoint d'honneur hinzuweisen pflegt, ein Phänomen sui generis zu sehen, da vom gewöhnlichen Ehrbegriff im Sinne der Tocquevilleschen Regel, nach der Lob und Tadel ausgeteilt wird, begrifflich zu trennen ist. Mit der ihm eigenen Schärfe hat dies wohl zum ersten Mal Schopenhauer getan, der den "Ehrenpunkt" als spezifisches Merkmal dem feudalen Rittertum vorbehält. 18 Aber es ist zweifelhaft, ob diese Zuordnung empirisch-historisch haltbar ist; die Tatsache, daß bis vor kurzem in zahlreichen Ethnien des Mittelmeerraumes eine ausgeprägte "Ehrenpunkt"-Psychologie bei bäuerlichen, z. T. nomadisch lebenden Bevölkerungsschichten zu finden war, 19 läßt jedenfalls auch andere Rückschlüsse zu. Dieser Vergleich führt zu einer weiteren typologischen Präzisierung. Man könnte den Eindruck gewinnen, eine starke Ausprägung des Ehren punkt-Komplexes sei immer auch Indikator einer deutlich partikularistischen Orientierung der Moralität. Ein derartiges Zusammentreffen ist von Kulturanthropologen im Umkreis des Mittelmeers zwar wiederholt beobachtet worden (in diesem Zusammenhang ist auch der etwas mißverständliche Terminus "amoralischer Familismus" geprägt worden). Es läßt sich aber keinesfalls auch für die Feudalehre des Mittelalters behaupten, die eine Reihe heterogener, z. T. widersprüchlicher Elemente, unter denen sich zweifellos auch christlich-universalistische Werte befanden,20 in sich vereinigte. Zur Charakteristik des ritterlichen Ehrbegriffs gehört ebenfalls, daß er die kriegerischen Impulse, auf die sich Tocqueville bezieht, in den Wettkampf und das Kampfspiel umlenkte, was 17 Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, eher von "selektiver Affinität" statt von "Wahlverwandtschaft" zu sprechen, weil es sich nicht um bewußte Akte der Wahl handelt, sondern um Aspekte von Prozessen der "Auslese", die sich auch unabhängig vom Bewußtsein der Akteure ereignen. 18 Parerga und Paralipomena I, Aphorismen zur Lebensweisheit, Kap. 4 (A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, textkrit. bearb. und hrsg. von W. Frhr. v. Löhneysen, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1986, S. 441). 19 Dazu siehe vor allem J. G. Peristiany (Hrsg.}, Honour and Shame. The Values of Mediterranian Society, Chicago 1966, sowie W. E. Mühlmann IR. J. Llaryora, Strummula Siciliana. Ehre, Rang und Schichtung in einer sizilianischen Agro-Stadt, Meisenheim am Glan 1973. 20 Vgl. dazu Zunkel, a.a.O., S.6f.

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verschiedentlich zur Klassifikation dieses Ehrbegriffs als "agonal" geführt hat. 21 Nicht zuletzt deshalb ist die Feudalehre (deren Typus eigentlich präzisiert werden müßte als "ritterliche", mit dem Lehensfeudalismus verbundene Ehrauffassung) in der Tat ein ganz "eigentümliches" Gebilde i. S. Tocquevilles. Zweifellos wäre sie dies nicht, wenn sie nicht- was wiederum Tocqueville im Grundsätzlichen klar erkannt hat - als Strukturunterlage die "Kaste" bzw. (wie wir sie heute nennen würden:) den Stand gehabt hätte. Diese Tatsache wird im folgenden noch Gegenstand der Erörterung sein. Die eigentümliche Prägung der feudalen Ehrauffassung im Zusammenhang mit der Ehrenwahrung gibt jedoch an dieser Stelle Anlaß zu einer weiteren, grundsätzlicheren Bemerkung. Die Sachverhalte und Verhaltensweisen, auf die sich der Begriff "Ehre" bezieht, in vorrangiger Verbindung mit den "Regeln, aufgrund derer Lob und Tadel ausgeteilt wird" zu sehen, ist eine bewußte (und methodisch durchaus legitimierbare) Auswahl bestimmter Elemente der Wirklichkeit auf Kosten anderer; Tocqueville war sich gewiß - wie der Beginn seines Textes zeigt -bewußt, mit "Ehre" i. S. von "Achtung, Ruhm, Ansehen" Qualitäten beiseite gelassen zu haben, die doch unter bestimmten Umständen auch in einem Zusammenhang mit den von ihm ausgewählten moralischen Sachverhalten stehen: so kann sich z. B. "Achtung" unmittelbar aus der positiven Anwendung jener "Regeln" ergeben. Der "Ehrenpunkt", die Ehrenwahrungs-Phänomene der mittelalterlichen Feudalwelt verweisen nun aber auf eine weitere, grundlegende Dimension des Ehre-Phänomens, deren sich Tocqueville offenbar nicht bewußt geworden ist, obwohl er an einer Stelle sehr nahe an sie herankommt: "In den aristokratischen Ländern wird die gleiche Ehre immer nur von einer gewissen Anzahl Menschen anerkannt, die oft eng begrenzt und von ihren übrigen Mitmenschen stets getrennt ist. In deren Geist vermischt und verbindet sich der Ehrbegriff daher leicht mit der Vorstellung alles dessen, was sie auszeichnet. Er erscheint ihnen als kennzeichnendes Merkmal ihrer Erscheinung; sie wenden dessen verschiedene Regeln mit dem ganzen Eifer persönlicher Anteilnahme an, und sie ergeben sich ihm ... mit Leidenschaft" (731; Hervorh. von mir). "Trait distinctif de leur physionomie" (a.a.O., 249): es hätte nicht mehr viel bedurft, um von hier aus die Verschmelzung der von der Außenwelt gegebenen "objektiven" Qualität der Ehre mit der subjektiven im Selbst zu bezeichnen, jene Einheit von sozialer Wertigkeit im "Status" mit dem Selbstwertgefühl, in der die "Identität" mitkonstituiert wird, und die sich in der Sprache vieler Völker in der Metapher des "Gesichts" ausdrückt. Die Vermischung, von der Tocqueville spricht, findet besonders im Fall der Feudalehre nicht nur "im Geist" statt, sie betrifft das ganze Sein der Person- d. h. alle Aspekte, durch die in ihr das Ich mit gesellschaftlichen Gegebenheiten vermittelt ist. Daher wird 21 Dazu s., in Anlehnung an Jacob Burckhardt, vor allem: J. Huizinga, Homo Ludens, Reinbek b. Harnburg 1956 (Orig. Haarlern 1938), Kap. 3-5.

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die Gefährdung und Herausforderung der Ehre zu einem Existenzproblem. 22 Verallgemeinernd sei festgestellt: bei allen Sachverhalten, auf die der Ausdruck "Ehre" verweist, sind stets drei miteinander verbundene und funktionell aufeinander angewiesene Dimensionen im Spiel: die erste betrifft das, was Menschen sind ("Identität"); die zweite die Bewertung ihres Verhaltens durch die Gruppe ("Moralität"); die dritte ihren Rang im Verhältnis zu anderen Menschen ("Status"). Tocqueville, auf die zweite konzentriert, berührt die dritte, die er bewußt ausgeschlossen hat, nur indirekt, erfaßt aber die erste nicht. Die Art der "Unähnlichkeiten" und "Ungleichheiten", die Tocqueville in Amerika beseitigt sieht, die er in einen ursächlichen Zusammenhang mit der Verflüssigung der Ehre bringt, und als deren Prototyp er die gesellschaftliche Stellung des mittelalterlichen Feudaladels behandelt, bezeichnet er durchgängig mit dem Ausdruck "caste". Auch die Übersetzer geben ihn mit "Kaste" wieder. An allen Attributen, die er für sie bringt, ist jedoch unschwer jenes Gebilde zu erkennen, für das sich im Deutschen der Terminus "Stand'' eingebürgert hat. Insbesondere ließe sich das, was Tocqueville meint, vorzüglich anband der typologischen Hauptmerkmale näher bestimmen, die Max Weber von der "ständischen Lage" gegeben hat. Im Gegensatz zur "Klassenlage", die die Chancen der Einzelnen über ihr Verhältnis zu freien, von keinerlei Exklusivitäten beschränkten Märkten bestimmt, ist "ständische Lage" nach Weber "jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ,,Ehre" bedingt, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft. 23 Der inhaltliche Kern dieser "Ehre"-Orientierung steht, so Weber, "vor allem in der Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung an jeden, der dem Kreise angehören will".24 Typische strukturelle Begleiterscheinung der sozialen Schichtung nach diesem Kriterium ist die Festschreibung ungleicher Zugänge und Besitzstände zu bzw. an materiellen 22 Ein schönes Bild gibt dafür die mittelhochdeutsche Literatur mit Hartmann von Aues höfischem Epos "I wein". Am Wendepunkt des Epos hat der Held !wein mit seiner Ehre nicht nur verloren, was er hatte, sondern auch alles, was er war. Von der "Gesellschaft'' der Ritter ausgestoßen, irrt er, "außer sich", namenlos, aller Dinge beraubt, die für seine Ausstattung als Ritter unentbehrlich sind - Gewandung, Rüstung, Pferd, Schwert - im Walde umher. Er erfährt sich als "gast" (Fremder) seiner selbst - eine frühe Vorwegnahme des modernen Begriffs der "Selbstentfremdung". Vgl. dazu H. Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns "I wein", München 1983 (für eine Kultursoziologie der Ehre sehr anregend, allerdings problematisch wegen der Projektion hegelianisierender Kategorien der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts auf den mittelalterlichen Stoff). Zur Neuinterpretation des mittelalterlichen Ehrbegriffs im Blickfeld der Kultursoziologie Pierre Bourdieus vgl. Ludgera Vogt, Zur Soziologie der Ehre in traditionalen und modernen Gesellschaften, in: Grounded. Arbeiten aus der Sozialforschung, Hagen (Fernuniversität) 1990. 23 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. revid. Aufl., Tübingen 1976, S. 534. 24 a.a.O., S. 535.

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und geistigen Gütern in Privilegien und Monopolen sowie exklusive Reglementierung der sozialen Beziehungen, die über Connubium, Convivium und Commercium hinaus alle Lebensbereiche nach Art der indischen Kasten umfassen kann. Tocqueville erkennt in Amerika klar die Entgrenzung der ständischen Strukturen und mit ihr die Verflüssigung der "Ehre"-Normen, er sieht freilich nicht deutlich, welche Rolle der Markt als Gegenprinzip zu allem Ständischen dabei spielt. Einen sehr modern-soziologisch anmutenden Gedankengang richtet er jedoch auf das Verhältnis von Mobilität, .,sozialer Kontrolle" und Öffentlichkeit: " ... die öffentliche Meinung greift ins Leere ... Denn die Ehre wirkt nur angesichts der Öffentlichkeit, sie unterscheidet sich darin von der einfachen Tugend, die aus sich selber lebt und an ihrem eigenen Zeugnis Genüge findet" (732). Freilich: wie ist dieser Satz zu verstehen? Die Ehre hat doch auch eine innere Seite, die von der äußeren allerdings nicht so klar trennbar ist wie die "einfache Tugend". Präziser wird der Sachverhalt wohl nur mit Begriffen durchleuchtet werden können, die verständlich machen, wie die drei funktionalen Dimensionen der Ehre, die oben genannt wurden- Gruppenmoral, personale Identität, Status- über "soziale Kontrolle" ("Öffentlichkeit") miteinander verknüpft sind. Ein Weg dazu wird von Georg Simmels "Soziologie" im Kapitel über "Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe" gewiesen. 25 Simmel stellt dort die Ehre als eine von drei "Normierungsarten" zwischen das Recht einerseits und andererseits die Sittlichkeit. Er unterscheidet diese Normierungsarten nach drei Kriterien. Unter dem Gesichtspunkt der Erhaltungsfunktion diente das Recht der Selbsterhaltung des "großen Kreises" (dex: "Gesamtgesellschaft", wie man sich heute auszudrücken pflegt), die Sittlichkeit (oder, wie Simmel auch in Kantischer Sprache sagt, "imperativische Moral") diente der inneren Selbsterhaltung des Individuums, mithin der Identität der (sittlichen) "Persönlichkeit". Die Ehre diente dagegen der Selbsterhaltung der "Sondergruppierungen, die zwischen dem großen Kreis und dem Individuum stehen", deren typischer Fall der Stand sei. Simmel ordnet ferner die Normenarten nach dem Umfang dessen, was sie regeln, in die Reihe Sittlichkeit - Ehre - Recht. Dabei deckt jede früher genannte Normenart den Umfang der folgenden, aber nicht umgekehrt. Mit der Ehre schaffte sich die Gesellschaft "eine eigenartige Garantieform für das richtige Verhalten ihrer Mitglieder auf denjenigen praktischen Gebieten, die das Recht nicht ergreifen kann und für die die nur gewissensmäßigen Garantien der Moral zu unzuverlässig sind". 26 Damit ist bereits auf das dritte Kriterium verwiesen, auf das SanktionsmitteL Beim Recht werde die Verletzung der Normen durch äußeren Zwang geahndet, im Falle der Ehre habe die 25

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Georg Simmel, Soziologie, Berlin 1908. Alle zit. Stellen aus Simmel, , a.a.O., S. 403 f.

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Verletzung der Normen teils innere (subjektive), teils sozial-objektive, äußerlich wirksame Konsequenzen; die Sittlichkeit sei dagegen auf das Gewissen als Kontrollinstanz angewiesen. Im Falle der Ehre seien nun, wie Simmel hervorhebt, die inneren und äußeren Kontrollen auf funktionelle Weise miteinander verbunden. Die spezifische Leistung der Ehre sei die Internalisierung der Gruppennormen. Die Ehre erfordere zwar wegen der Partikularität ihrer Gruppenbezogenheit oft Verhaltensweisen, die einerseits vom Recht, andererseits von der Sittlichkeit aus verboten sind (wie im Duell). Aber im Handelnden komme es zu keinem Bruch, weil es der Gruppe mittels der Ehre gelinge, "dem Individuum die Bewahrung seiner Ehre als sein innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes Eigeninteresse zu infundieren. Es gibt vielleicht keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und Individualinteresse derartig verschlingt ... ". 27 Mit diesem Schema bringt Simmel einerseits deutlich den epochenübergreifenden und zugleich partikularen Charakter des Ständischen zum Ausdruck: die Geschlossenheit des Kreises bedinge, so Simmel, das Spezifische des Ehrbegriffs, nicht nur bei den echten ständischen Kreisen, wie dem Offiziersstand seiner Zeit, sondern auch bei der Familienehre, der Kaufmannsehre oder der "Spitzbubenehre". Andererseits bezeichnet Simmel unter "Recht" und ,,Sittlichkeit" Aspekte, die nicht universell, sondern eindeutig Bestandteile der ihn umgebenden modernen Kultur und Gesellschaft sind. Dies bedarf im Falle des zum Komplex des modernen Staates gehörenden Rechtes keiner weiteren Erläuterung; nicht so im Falle der "Sittlichkeit", deren Begriff Simmel in der Weise verwendet, wie er in der deutschen Philosophie seit Kant unverwechselbar als Ausdruck einer höher entwickelten, weil "inneren" Gesetzen gehorchenden Moralität geprägt worden ist. 28 Die mittlere Stellung der Ehre ist insofern "vermittelnd", als in ihr rechtliche Dimensionen (so: die Kontrolle durch äußere "Mittel") mit den Dimensionen der Sittlichkeit (vor allem der "inneren" Kontrolle) eine Einheit bilden. 29 Simmel legt deshalb als weiteren Schritt ein Theorem zur a.a.O., S. 405. Auch folgende, den Autonomiegedanken dieses Begriffs von "Sittlichkeit" einschließende These zum moralgenealogischen Verhältnis von "Gewissen" und "Ehre", dem Resümee einer moraltheologischen Studie aus den sechziger Jahren entnommen, kann an dieser Stelle den gemeinten Entwicklungszusammenhang beleuchten: " .. . die Geschichte der Ehre erweist sich zugleich als die Geschichte des sich aus dem Bannkreis der Ehre emanzipierenden Gewissens" (W. Korff, Ehre, Prestige, Gewissen, Köln 1966, S. 12). 29 Diese Vermittlung von "Ehre" und "Sittlichkeit" kommt auf treffende Weise in der Definition zum Ausdruck, die 1795 Fichte für die durch die Würde der sittlichen Persönlichkeit bestimmte Ehre gibt: "Es gibt etwas, das mir über alles gilt und dem ich alles andere nachsetze ... Ich will es Ehre nennen. Diese Ehre setze ich keineswegs in das Urteil anderer über meine Handlungen, und wenn es das einstimmige Urteil meines Zeitalters und der Nachwelt sein könnte, sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fallen kann. Das Urteil, welches ich selbst über meine Handlungen falle, hängt davon ab, ob ich bei ihnen in Übereinstimmung mit mir selbst bleibe, oder durch sie mich mit mir selbst in 27 28

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Entwicklung moderner Normensysteme nahe: aus "Ehre" als einem kompakten Amalgam von traditionalen Einstellungen und institutionellen Regelungen, in dem die Sondermoralen mit Vorformen allgemeiner Moralität, in dem ferner kollektive Kontrolle und Selbstkontrolle "vermittelt" waren, hat sich auf der einen Seite das Rechtssystem und auf der anderen Seite subjektive Moralität (,,Sittlichkeit") differenziert. Vereinfacht gesagt: die Kontrollfunktion von Ehre hat sich zur einen Seite hin "verrechtlicht", zur anderen Seite hin "verinnerlicht", aber auch subjektiviert. Tocquevilles Schematisierung von moralischem Ehre-Partikularismus und universalistischer Moralität erhält auf diese Weise systematische Plausibilität. 3. Eine institutionelle Leerstelle Nun kann der Wandel, der den so umrissenen institutionellen Ort der Ehre betrifft, auch anders gesehen werden. Um beim "topologischen" Bilde zu bleiben: der Platz, den die Ehre einnahm, ist nun leer geblieben, aber selbst nicht entfallen, weil die institutionellen Funktionen der Ehre nach ihrem Auseinanderfallen nicht vollkommen in "Recht" und "Sittlichkeit" aufgehen. Dazwischen liegt jede identitätschaffende Leistung der Ehre, auf die oben im Zusammenhang des Feudalismus hingewiesen wurde. Diese Leistung ist verbunden mit institutionalisierten sozialen Sachverhalten. Dabei ragen die institutionellen Prägungen der Person heraus: die Rollen. In fernerer Vergangenheit fallen insbesondere solche Rollen ins Gewicht, die stark von normativen Leitbildern30 geprägt waren. Dadurch wurde - was z. B. am Leitbild des "Ritters" deutlich wird - menschliches Verhalten in sehr unterschiedlichen Sphären integriert. In der Neuzeit treten dagegen mehr und mehr Berufsrollen in den Vordergrund, und zwar um so hochgradiger, je mehr sie ihrerseits in institutionelle Komplexe eingebunden sind (Rechtsprechung, Medizin, Kirche, Militär, Wissenschaft usw.). Die identitätstiftende Leistung der Ehre, über die das Ich und die gesellschaftliche Realität auf institutionellem Wege vermittelt sind, bedient sich zwar nicht nur der Rollen; das verdeutlicht allein schon jeder Blick in Rituale und Etikette historischer Herrschaftsinstitutionen. Aber bis tiefins 20. Jahrhundert hinein konnte die identitätstiftende Funktion der Ehre vor allem über institutionalisierte Rollen erfüllt werden, weil und solange sie dauerhaft mit dem Status der Person verknüpft waren - dies auch noch zu einer Zeit, als Widerspruch versetze ... " (1. H. Fichte (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte's Leben und literarischer Briefwechsel, Leipzig 2 1862, S. 45 ff.; zit. nach Zunkel, a.a.O., S. 27). 30 Überlegungen zum Begriff des "sozialen Leitbildes", die dazu anregen, sie unter kultursoziologischen Zielsetzungen fortzusetzen, sind zu finden bei: J . C. Papalekas, Das Problem der sozialen Leitbilder unter den Bedingungen der entwickelten Ingustriegesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 4/10 (1959), S. 221-237.

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die Kontrollfunktion der Ehre in der erörterten Diastase von "Recht" und "Sittlichkeit" schon längst sich zu verflüssigen begonnen hatte. Doch bleibt festzuhalten, daß die Ehre in einem lang anhaltenden Vorgang, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt hat, auch diesen Platz räumen mußte. Eine institutionelle Leerstelle ist dadurch entstanden. Nach Peter L. Berger hat eine tiefgreifende Umorientierung im Selbstverständnis des modernen Menschen, die vor allem aus bestimmten kulturellen Strömungen der westlichen Industriegesellschaften seit der Mitte dieses Jahrhunderts Nahrung erhielt, zur Folge gehabt, daß sich die Identitätsfunktion vom Begriff "Ehre" verlagert hat auf den modernen Begriff der "Würde". 31 Dieser kann jedoch jene institutionelle Leerstelle nicht besetzen, da er, im Gegensatz zum Begriff der Ehre, Distanznahme und Unabhängigkeit von institutionellen Rollen impliziert. 32 In Übertragung eines von Max Weber auf die Macht angewandten Ausdrucks 33 könnte man auch sagen: entkoppelt vom Institutionellen, ist Würde "soziologisch amorph". Da ihre objektive und ihre subjektive Bedeutung - anders als bei der Ehre - stets auseinanderfallen, ist die mit ihr gegebene Identität "Ziel einer oft irrenden und schwierigen Suche. Der moderne Mensch ist ... unaufhörlich auf der Suche nach sich selbst". 34 Die Ehre ist also unter den Lebensverhältnissen der modernen Gesellschaft auch aus Gründen geschwächt worden, die anderer Natur sind als die Gründe, die Tocqueville ins Auge faßte. Wir erkennen in den Lebensverhältnissen unserer Zeit in der Tat Züge jenes Amerika wieder, das Tocqueville besuchte und beschrieb: Ungleichheiten und Unähnlichkeiten sind bis zu einem gewissen Ausmaß beseitigt, und auch für ständische Sonderbezirke gibt es keinen Platz; diffus und veränderlich, wie die Bedürfnisse der Gesellschaft, sind auch die spärlichen Überreste einstiger Ehrauffassungen. 31 P. L. Berger, On the Obsolescence of the Concept of Honour, in: Archives europeennes de sociologie 11 (1970), S. 339-346 (dt. in: P. L. Berger I B. Berger I H. Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt a.M./New York 1975, S. 75-85). 32 Im Blick auf die genannten Strömungen charakterisiert Berger auch eine kognitive Seite des Gegensatzes von "Ehre" und "Würde": "In einer Welt der Ehre entdeckt der einzelne seine Identität nur in seinen Rollen, und sich von seinen Rollen abwenden bedeutet, sich von sich selbst abwenden, in ,falschem Bewußtsein' ist man versucht hinzuzufügen. In einer Welt der Würde kann der einzelne seine wahre Identität nur dadurch entdecken, daß er sich von seinen gesellschaftlich aufgezwungenen Rollen emanzipiert: Letztere sind nur Masken, die ihn in Illusionen, ,Entfremdung' und ,mauvaise foi' verstricken" (a.a.O. S. 81). Damit sei auch ein jeweils anderes Verhältnis zur Geschichte gegeben: Teilnahme im einen, Ahistorizität im anderen Fall. .,In einer Welt der Ehre ist die Identität mit der Vergangenheit durch den wiederholten Vollzug prototypischer Handlungen eng verknüpft. In einer Welt der Würde ist die Geschichte eine Abfolge von Mystifikationen, aus denen der einzelne sich befreien muß, um zur ,Authentizität', zur ,Eigentlichkeit' zu gelangen" (ebd.). 33 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tl. I, Kap. I,§ 16 (5. revid. Aufl., Tübingen 1976, S. 28). 34 P. L. Berger, a.a.O., S. 83.

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Aber die institutionelle Problematik des Zurücktretens der Ehre sah Tocqueville nicht, obwohl er sie an einigen Stellen berührte: so mit einem klaren Begriff an der Stelle, an der er diejenigen vermißt, die das trotzdem noch als existent unterstellbare "Gesetz" der Ehre auslegen; mit einer Metapher dort, wo er die Relikte der alten Ehrauffassungen mit stehen gebliebenen Tempeln einer Religion vergleicht, an die niemand mehr glaubt. Zweifellos ist "Würde" in der Gegenwart nicht nur Angelpunkt von Identität, sondern auch von Moralität. Und insofern "Würde" stellvertretend angesehen werden kann für die universalistischen, "klaren" und "einfachen" Begriffe jenes allgemeinen Sittengesetzes der Menschheit, an welches sich die reduzierten Ehrvorschriften der egalisierten Gesellschaft Tocqueville zufolge annähern müßte, hat sich die Grundtendenz seiner Prognose durchaus bewahrheitet. Allerdings ist die Ersetzung von "Ehre" durch" Würde" mehr und anderes; die Überwindung partikularer Ehre-Moralen durch den Universalismus der "Würde" wurde um den Preis institutioneller Verunsicherung erkauft. "Würde" ist im Vergleich zu "Ehre" zwar einfacher, aber keinesfalls klarer. Wer legt sie aus, und wie? Innerhalb bestimmter Grenzen ist "Würde" wohl institutionalisierbar: vor allem innerhalb moralischer und rechtlicher Problemzusammenhänge, schwerlich aber- der Grund wurde oben erläutert- im Zusammenhang mit dem Problem der personalen Identität. Bleibt also die Leerstelle unbesetzt, die die Entinstitutionalisierung der Ehre hinterlassen hat? Eine pessimistische Antwort drängt sich auf, doch ist Zurückhaltung geboten. In der westlichen Welt mehren sich schon seit längerer Zeit Anzeichen des Unbehagens am institutionellen Unbehagen, das jene kulturellen Strömungen getragen hat, auf die sich der Befund Bergers bezieht. Freilich ist es schwer, sich vorzustellen, wie eine "ganzheitliche" Restitution personaler Identität über "Ehre" erfolgen sollte. Berger ist der Auffassung, die Grundkonstitution des Menschen bedinge früher oder später unvermeidlich die Rückkehr zu Institutionen und diese "ipso facto eine Rückkehr zur Ehre". Aber dies könne nicht auf Kosten der Würde, als der "Haupterrungenschaft des modernen Menschen", geschehen, so daß man es mit Berger als ein ethisches Legitimationskriterium für die institutionellen Neubildungen und deren Ehrauffassungen wird ansehen müssen, ob sie den Wert der Würde - nach dem oben Gesagten kann weiter spezifiziert werden: den Universalistischen Wert der Würde- in sich zu integrieren und zu stabilisieren imstande sein werden. 35 Anhaltspunkte dafür, daß es in den gegenwärtigen Gesellschaften des "westlichen" Typs tatsächlich zu derartigen Neubildungen kommt, sind am deutlichsten wohl erst im Bereich von Berufsrollen erkennbar, und zwar innerhalb hochinstitutionalisierter Funktionsfelder der Gesellschaft. Aufgrund sachimmanenter Entwicklungen kann es dort zu Entscheidungsproblemen kommen, die mit erprobten "systemimmanenten" 35

a.a.O., S. 85.

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Mitteln nicht gelöst werden können und die ebenso systemexterne Folgen hervorbringen, für die die Handelnden zur Verantwortung gezogen werden (z. B. in der Kernphysik, in der Biogenetik). Auf diese Weise wachsen Probleme des institutionellen Rollenverständnisses zusammen mit ethischen Problemen, so daß sich die Schaffung neuer Ehrenkodizes für die betreffenden Berufe aufdrängt. 36 Vielleicht ist auf diesem Wege tatsächlich eine Wiederanknüpfung an das "alte" Identitätsmedium der Ehre möglich, ohne daß dies - wie wiederholt in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts begleitet wird von einer ideologischen Rekonstruktion "ständischer" Ideen. In jedem einzelnen Falle wird es allerdings schwierig sein, den partikularen Nomos "ausdifferenzierter" Systeme- ihre "Eigengesetzlichkeit"- widerspruchsfrei mit universalem Ethos zu verkoppeln. Vorgänge wie die angedeuteten bedürfen jedenfalls erst noch genauer Analyse. Kann man sie sich auch für andere gesellschaftliche Bereiche als den beruflichen vorstellen?

36 Reiches Material zur Erörterung dieser Fragestellung im Bereich von Wissenschaft und Forschung bieten die Jahrgänge der Zeitschrift Minerva, die im Laufe des vergangenen Jahrzehnts erschienen sind. Neuerdings findet man die Forderung nach "Ehrenkodizes" jedoch auch in Bereichen, in denen man sie nicht so schnell erwartet hatte, so im Zusammenhang mit dem Problem der Insidergeschäfte an Börsen. Bereits Max Weber hatte der Forderung der damaligen Börsen-Enquete, es möge ein "Ehrengericht" geschaffen werden, entgegengehalten, dieses setzte einen gemeinschaftlichen und gleichartigen Ehrbegriff innerhalb des "Standes" voraus (Ges. Aufs. z. Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 285)- eine Voraussetzung, die damals ebensowenig Geltung beanspruchen konnte wie heute.

JUSTIN STAGL

Die Ehre des Wissenschaftlers* Wissenschaft ist- unter anderem - eine Tätigkeit, die in ihrer besonderen Weise ehrenvoll ist: "Wissenschaftler" ist ein sozialer Status, an den sich eine besondere Ehre verknüpft. Diese Ehre ist eines der Momente, die Menschen dazu bewegen, die wissenschaftliche Laufbahn zu wählen, die ihr Verhalten auf dieser Laufbahn mitbestimmen und die Beziehung zwischen der "Wissenschaftsgemeinschaft" und der übrigen Gesellschaft regulieren. Man sollte daher meinen, daß Ehre des Wissenschaftlers von der aufblühenden Spezialdisziplin der Wissenssoziologie auch diskutiert würde. Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Jedenfalls habe ich nichts dergleichen finden können. Dieses Manko mag damit zusammenhängen, daß "Ehre" überhaupt kein Thema in der heutigen Soziologie ist. Wer sich als Soziologe mit dem Ehrbegriff beschäftigt, muß sich an die Klassiker halten, an Tocqueville, Simmel oder Weber. Die Wissenschaftssoziologie behandelt die Wissenschaft entweder ideologiekritisch, indem sie sie auf Sonderinteressen bzw. auf soziale Strukturen zurückführt, oder aber systemtheoretisch, als Teilsystem des sozialen Systems; was sie liefert, ist also entweder eine "Entmythologisierung" der wissenschaftlichen Erkenntnis oder eine Betriebssoziologie des Wissenschaftsbetriebes. Die Ehre des Wissenschaftlers hat in beiden Betrachtungsweisen keinen Platz. Trotzdem kommen sie nicht ganz an ihr vorbei. Man findet manches einschlägige unter den Stichwörtern "Ethos" und "Reputation". Bevor ich darauf eingehe, möchte ich den Begriff Ehre näher bestimmen.

* Die hier vorgelegten Gedanken wurden erstmals auf einem von Friedhelm Guttandin und Arnold Zingerle an der Fernuniversität Hagen organisierten Symposion dargelegt; eine vorläufige schriftliche Fassung erschien in: F. Guttandin (Hrsg.), Soziologie der Ehre. Materialien der Fernuniversität Hagen, Heft 1, S. 99-118, Hagen 1988. Eine italienische Fassung soll in einem Schwerpunktheft "Ehre" der Annali di Socio1ogia erscheinen, das von Arnold Zingerle vorbereitet wird und in § II schon erwähnt wurde. Es ist mir eine Freude, diese deutsche Fassung Johannes Chr. Papa1ekas zu widmen, einem Gelehrten, der für die Ehre des Wissenschaftlers gestritten und gelitten und sie durch Bewährung in einer Extremsituation eingelöst hat - wofür wir anderen ihm dankbar sein müssen.

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Justin Stag!

I. Ehre ist das soziale Entgelt für die Erfüllung von Statuspjlichten. Sie besteht in "gesellschaftlicher Meinung" . 1 Diese Meinung äußert sich als ein positives Vorurteil, welches das soziale Umfeld des Trägers der Ehre dazu disponiert, dessen Handlungen in einem positiven Lichte zu interpretieren und zu beantworten. Dies wirkt wiederum auf das Verhalten des Trägers der Ehre zurück und gibt diesem eine "zentrale Orientierung der Lebensführung". 2 Ehre bezieht sich daher vor allem auf das Verhalten gegenüber den Mitmenschen (praxis im aristotelischen Sinne), nicht auf das Verhalten gegenüber Dingen (poiesis im aristotelischen Sinne). Ersteres ist ehrenvoll oder entehrend. Letzteres ist in dieser Hinsicht tendenziell neutral, wenn auch Arbeit, vor allem "schweißtreibende" und monotone Arbeit, in vielen Kulturen als Verletzung der Integrität der Körper- und Persönlichkeitssphäre und damit als entehrend gilt. Unehre ist das Gegenteil von Ehre: ein negatives Vorurteil in der gesellschaftlichen Meinung. Unter dem Begriff der Ehre wird der Status und das bisherige Verhalten des Trägers von der gesellschaftlichen Meinung zu einem informellen, aber höchst wirksamen Maßstab zusammengefaßt, der das künftige Handeln des Trägers stabilisiert und der seinem sozialen Umfeld Interpretations- und Verhaltenssicherheit gibt. Träger der Ehre kann eine Gruppe oder ein Individuum sein. Die Gruppenehre diszipliniert die Mitglieder, stärkt ihre Solidarität und Kollektivverantwortlichkeit und trägt zur Sichtbarmachung der Gruppe in deren sozialem Umfeld bei. Die Individualehre ergibt sich aus dem dem Individuum persönlich zurechenbaren Verhalten. Beide verhalten sich zueinander wie Thema und Variation. Ein Individuum kann einer Gruppe Ehre einbringen oder kosten; ebenso eine Gruppe dem Individuum, das ihr angehört. Doch sind nicht alle Gruppen in gleicher Weise Träger von Ehre. Besonders trifft dies auf solche Gruppen zu, die als stabile Lebensgemeinschaften den ganzen Menschen einschließen, wie in einfacheren Gesellschaften Verwandtschaftsund Lokalgruppen, in komplexeren Gesellschaften auch geburts- und berufsständische Gruppen. Ehre ist ein konstituierendes Element "kleiner Welten", weil sie sich in der direkten (d. h. mündlich und körperlich vermittelten, "face-to-face"-) Interaktion aufbaut. Daher sind auch nicht alle Individuen einer Gruppe in gleicher Weise Träger von Ehre. Vor allem sind dies deren Führer und Repräsentanten. Wenn es in einer Gesellschaft eine Gruppe gibt, welche diese Gesellschaft als ganze führt und repräsentiert und zugleich eine Lebensgemeinschaft darstellt, dann ist sie in besonderem Maße Träger der Ehre und Maßstab für die Ehre aller anderen (die "gute Gesellschaft'', der Adel). Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, 3. Aufl., Darmstadt 1977, S. 145. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 623. 1

2

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Ehre bezieht außer ihrem Träger stets noch sein soziales Umfeld mit ein und kontituiert sich erst in der Interaktion zwischen beiden. Eine Individualoder Gruppenehre kann daher letztlich nicht für sich allein, sondern muß in Relation zu anderen Ehren oderUnehren betrachtet werden. Jede besondere Ehre bezieht sich damit letztlich aufdie Gesamtgesellschaft. Ehre ist ein Mittel sowohl der sozialen Kontrolle als auch der sozialen Differenzierung. Eine Gesellschaft, für die der Ehrbegriff zentral ist, besteht also aus Sondergruppen mit jeweils einer eigenen Ehre, die sich jedoch alle aufeinander beziehen. Man kann das in einem Bild ausdrücken: ein und dieselbe Ehre, die Ehre einer Gesellschaft selbst, wird durch die diese Gesellschaft konstituierenden Sondergruppen und Individuen wie durch ein Prisma gebrochen und erscheint auf dem weißen Papier, das der Soziologe dahinterhält, in verschiedenen Farben und Intensitäten. Die Handelnden selbst, die mitten drinnenstehen, blicken normalerweise aber nicht auf die Gesamtgesellschaft, sondern auf ihr unmittelbares Umfeld. Ihnen erscheinen die darin vorkommenden Individual- und Gruppenehren vor allem als verschieden. Normalerweise nicht doktrinär ausformuliert, sondern lebensweltlich vorgegeben, beruht diese Verschiedenheit dieser Ehren auf der Unterstellung, daß dem je besonderen Status, den ein Individuum oder eine Gruppe innehat, eine besondere Seinsqualität dieses Trägers der Ehre entspricht, aufgrund derer er seine Statuspflichten von sich aus, d. h. ohne formale Vorschriften oder äußeren Zwang, erfüllt. Ehrenhaftes Verhalten ist ein solches, das dieser Seinsqualität in der gesellschaftlichen Meinung angemessen ist. Der Ehrbegriff impliziert also, daß die Gliederung der Gesellschaft auf unterschiedliche Seinsqualitäten ihrer konstituierenden Elemente zurückgeht und daher natürlich und selbstverständlich ist, daß also in den sozialen Hierarchien im großen und ganzen die richtigen Personen die richtigen Positionen innehaben. Insofern sich Ehre in direkten Interaktionen konstituiert und die Gesamtperson einbezieht, haftet sie am Körper und an der Körpersphäre. Ihr symbolischer Sitz sind die "edleren" Körperteile, insbesondere, wie die unten angeführten Beispiele zeigen werden, das Gesicht. Unser Wort "Haltung" bezeichnet sehr schön das Iogesamt von Körperhaltung, inneren Verhaltensprinzipien und äußerem Verhalten. Die besondere ständische Ehre einer Person wird darüber hinaus durch Modifikationen des Körpers und der Körpersphäre symbolisiert; Haar- und Barttracht, Deformationen, Schmuck, Kleidung, Insignien; im weiteren Sinne auch durch Modifikationen der Interaktionssituation wie Titel, Anrede- und Grußformen, Sprechund Verhaltensweisen, Placierungen in Gruppen, bestimmten Rechten und Pflichten in typisch wiederkehrenden Situationen. Alle diese Symbole machen für ein Individuum die mit seinem Status verbundene Ehre anheischig und veranlassen dieses und seine Umgebung, dieselbe in konkretes Verhalten umzusetzen. Die Verletzung der Integrität der - manchmal symbolisch ziemlich ausgeweiteten- Körpershäre ist die Ehrverletzungpar excellence.

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Was Ehre ist, wer Ehre hat, erweist sich gerade an deren Verletzung oder Bedrohung. Da sie den ganzen Menschen einbezieht, muß sie auch vom ganzen Menschen eingelöst werden. Dies geschieht vor allem durch Bewährung in Extremsituationen. Der Ehrenmann muß notfalls sich selbst riskieren, das heißt, er muß vor der gesellschaftlichen Meinung demonstrieren, daß ihm in allerletzter Instanz die Ehre - und das heißt: die Gesellschaft wichtiger ist als die eigene Person und deren Existenz. Nur durch eine solche, sich selbst riskierende Bewährung kann eine bedrohte Ehre verteidigt, gerettet, wiederhergestellt, ja sie kann dadurch gemehrt werden. Die tiefe Genugtuung, die solche Vorgänge bei den Zuschauern auslösen - nicht zufallig bilden sie einen großen Anteil an den Sujets der Weltliteratur beweist, daß damit zugleich auch die zentralen Werte der Gesellschaft verteidigt und glaubhaft gemacht werden. Sich selbst aufs Spiel zu setzen oder zu opfern, wenn es die Situation erfordert, in Zweikampf, Blutrache, Duell, rituellem Selbstmord oder Heldentod, ist immer als der letztgültige Prüfstein der Ehre angesehen worden. Ehre hat insofern etwas mit Kampf zu tun; sie ist, wie Johan Huizinga feststellt, ein Kampfpreis; Ehrliebe gedeiht: am besten unter agonalen Verhältnissen. 3 Der Inbegriff der Ehre ist die Kriegsehre; Gesellschaften, die sich vor allem über Ehre differenzieren und integrieren, sind kriegerisch bestimmte Gesellschaften. Die politische Zentralisierung, insofern sie Individuen und Lebensgemeinschaften die Wehrhaftigkeit nimmt, entwertet auch die Ehre als gesellschaftliches Leitprinzip. 4 Das Konzept "Ehre" ist außerordentlich komplex. Symbolisch miteinander vermittelt, umfaßt es den Wesenskern der Person, ihre Körpersphäre, ihren Status und ihr Umfeld, die Gruppen, denen sie angehört, deren Status und Umfeld, und schließlich die zentralen Werte der Gesellschaft selbst; und es überträgt die Gesellschaftsordnung, modifiziert durch ständige Bewährung an der Gegenwart, von der Vergangenheit auf die Zukunft. "Es gibt vielleicht keinen Punkt" - schreibt Georg Simmel - , "an dem sich das Sozial- und das Individualinteresse derartig verschlingt, wo ein Inhalt, der allein aus dem ersteren verständlich ist, eine imperativische Form angenommen hat, die allein aus dem letzteren zu quellen scheint". 5 Diese "imperativische Form" hat die Ehre mit der Sittlichkeit und mit dem Recht gemein; und in der Tat steht sie für Simmel gerade in der Mitte zwischen beiden: während Sittlichkeit das Individuum stabilisiert, Recht dagegen die (zu ergänzen: staatlich organisierte) Gesamtgesellschaft, dient Ehre der Stabilisierung der 3 Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1956 (nieder!. Original 1939), S. 55. 4 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 5. Aufl., Wiesbaden 1986, S. 104; vgl. auch Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2. Aufl., Bern/München 1969. 5 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über Formen der Vergesellschaftung, (1908), 5. Aufl., Berlin 1969, S. 406.

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zwischen beiden Polen liegenden "Sondergruppierungen". 6 Vielleicht hat Simmel den Ehrbegriff damit etwas zu weit gefaßt. Max Weber verbindet ihn vor allem mit Gruppierungenaufgrund "ständischer Lagen", die sich durch ähnliche Machtanteile, Berufswelten und Lebensschicksale charakterisieren. 7 Diese Auffassung ist anhand komplexer, hochkulturlicher Gesellschaften gewonnen worden. Wenn man sie durch Befunde aus primitiven und bäuerlichen Gesellschaften ergänzt, kann man Simmels Aussage dahingehend modifizieren, daß Ehre im Unterschied zur Sittlichkeit und zum Recht vorrangig zur Stabilisierung solcher Gesellschaften beiträgt, in denen den ganzen Menschen einschließende Sondergruppierungen auf verwandtschaftlicher, lokaler oder ständischer Grundlage eine bedeutende Rolle spielen. Ich möchte beim so verstandenen Ehrkonzept zwei Aspekte unterscheiden, die eine empirische Einheit bilden, analytisch aber voneinander zu trennen sind. Ich nenne sie den qualitativen und quantitativen Aspekt der Ehre. Ersteren meint Simmel, wenn er sagt, die Ehre werde dem Einzelnen von der Gesellschaft auf den Lebensweg mitgegeben und er brauche nur darauf zu achten, sie nicht zu verlieren. 8 Es ist dies die Ehre, die man als Mitglied der Gesellschaft, vermittelt durch eine ihrer Sondergruppierungen, der man in den meisten Fällen durch Geburt angehört, zu eigen hat. Der andere, quantitative Aspekt ergibt sich aus dem Bewährungs- und Kampfcharakter der Ehre. Hier sind die Einzelleistungen und -Schicksale verschieden; die mitbekommene Ehre kann insofern gemehrt und gemindert werden. Qualitative Ehre ist kollektivbezogen, vergangenheitsorientiert, gesellschaftsstabilisierend. Sie ist die Voraussetzung der quantitativen Ehre. Diese ist individuumbezogen, gegenwartsorientiert und trägt zum Wandel der Gesellschaft bei. Sie ist die Umsetzung der qualitativen Ehre in die Wirklichkeit. Personen oder Gruppen, die durch Geburt oder Leistung, am besten aber durch beides (also durch Harmonie zwischen dem qualitativen und dem quantitativen Aspekt ihrer Ehre) herausragende Ehre genießen, symbolisieren die Gesamtgesellschaft und deren höchste Werte: sie haben Charisma. Die Begriffe Ehre und Charisma sind verwandt, 9 wenn auch nicht identisch. Beim Charisma ist die Komponente des Außeralltäglichen, Außergewöhnlichen stärker ausgeprägt. Man kann vielleicht sagen: während sich Ehre durch Bewährung an Extremsituationen erweist, dadurch aber zu einer Qualität des Alltagslebens wird, ist Charisma eine auf Dauer gestellte Extremsituation. Auch die Sprache bezeugt den Zusammenhang beider Ebd., S. 326f. , 403ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 531 ff. 8 Simme1, Soziologie, S. 406. 9 Vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985, s. 152. 6 7

17 Symposion

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Begriffe. "Ehre", althochdeutsch era, "Gnade, Gabe, Ehre" kommt nach Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache aus der Kultsphäre; die indogermanische Wurzel ist "ais", "ehrfürchtig sein, verehren" . 10 Nun noch die beiden Beispiele: Bei den Chinesen wird "Ehre" durch zwei interdependente Begriffe, Iien und mien-tzu, ausgedrückt, die beide "Gesicht" bedeuten. Lien, das "Vertrauen der Gesellschaft in den Charakter", kann man nur entweder als Ganzes bewahren oder, durch ernsthaftes moralisches Fehlverhalten, als Ganzes verlieren. Mien-tzu, persönliches Prestige, Reputation, kann man erborgen, erkämpfen, mehren und mindern. Es ist mit dem "Kredit" eines Kaufmannes vergleichbar. Je höher die gesellschaftliche Stellung, desto empfindlicher das Iien, desto mehr mien-tzu ist nötig, um es zu verteidigen. 11 Bei den Kabylen - so Pierre Bourdieu heißt das Ehrgefühl nif, wörtlich "Nase". Der Begrifffür Ehre selbst, hurma, kommt aus der Sakralsprache. Je mehr hurma man selbst oder die Gruppe hat, desto mehr nifbraucht man zu seiner Verteidigung. Wer darin erfolgreich ist, der erwirbt sich Ansehen oder Achtung, sar, von essar, "Geheimnis, Ansehen, Ausstrahlung, Glorie". 12 Im theoretischen Teil seines Buches interpretiert Bourdieu die Ehre dann als ein Mittel der sozialen Rückversicherung, als "symbolisches Kapital" . 13

II.

Montesquieu sah in der Ehre noch das erstrebenswerteste Ziel der adligen Gesellschaft. 14 Saint-Simon, der "Prophet des industriellen Zeitalters", wollte hingegen die "nützlich Arbeitenden" als die "Besten" der künftigen Gesellschaft anerkannt wissen, wenn auch in wertmäßiger Abstufung nach dem Grade ihrer Nützlichkeit vom Wissenschaftler und Fabrikanten bis herab zum einfachen Arbeiter. 15 Tocqueville hat die Auflösung des am adligen Krieger orientierten Ehrbegriffes in Amerika bereits als Tatsache festgestellt: im 18. Kapitel des II. Buches der "Democratie en Amerique" zeigt er, wie hier Arbeit, auch körperliche Arbeit, nicht mehr ständisch 1° Kluges Etymologsiches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. Aufl., Berlin/ New York 1975, S. 153. 11 Hsien Chi Hu, Die chinesischen Begriffe von "Gesicht", in: W. E. Mühtmann I E. W. Müller (Hrsg.), Kulturanthropologie, Köln/ Berlin 1966, S. 238-263. 12 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt 1979 (frz. Orig. 1972), S.19, 32ff.; vgl. auch Raymond Jamous, Honneur et Baraka: !es structures sociales traditionelles dans le Rif, Cambridge 1981. 13 Pierre Bourdieu 1972, S. 335 ff. 14 Montesquieu, Esprit des Lois, Buch XIII, Kapitel XX. 15 R. M. Emge, Saint-Simon, München/Wien 1987, S. 113ff.

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entehrt, sondern vielmehr ehrenvoll wird, eine Umwertung, die zur prinzipiellen Gleichstellung (bei nur gradueller Abstufung) aller Arbeitenden (und deren Abhebung von den Nicht-Arbeitenden) sowie zur Angleichung der "freien" an die übrigen Berufe führt. Mit dem Übergang vom "militanten" zum "industriellen Gesellschaftstyp" (Herbert Spencer) wurde der Ehrbegriff scheinbar obsolet. Jedenfalls, wie Arnold Zingerle (Zur Konzeption des geplanten Schwerpunktheftes zur Ehre der "Annali di Sociologia", S. 2) resümierend feststellt, "verschwindet (der allgemeinen Tendenz nach) die Bezugnahme auf ,Ehre' überall da, wo der Komplex der Moderne voranschreitet". Wenn man von den schon erwähnten Klassikern der deutschen Soziologie absieht, spielt "Ehre" anscheinend auch in der modernen soziologischen Theorie keine wesentliche Rolle; der Begriff wird nur deskriptiv verwendet, sofern dies zum Verständnis vergangeuer Epochen und exotischer Kulturen notwendig ist. Man kann diese Abstandnahme der Soziologie mit der Modernisierung der Gesellschaft erklären, die die Ablösung ständischer Gruppierungen durch "Klassen" und "Schichten" mit sich brachte. Doch scheint mir diese Erklärung alleine nicht auszureichen. Es hat sich in der modernen Gesellschaft so viel Ständisches bis heute gehalten, ja vielleicht sogar wiederhergestellt, daß die nie ganz zufriedenstellenden Konzepte "Klasse" und "Schicht" heute durch die an den Standesbegriff anknüpfenden Konzepte "Lage" und "Milieu" zurückgedrängt werden. 16 Es könnte durchaus sein, daß es in der modernen Gesellschaft viel mehr Ehre gibt als in deren Interpretation durch die Soziologie. Viele Menschen sind der dezidierten Meinung, es solle keine Ehre mehr geben: sie sei partikularistisch und konservativ und daher ein Hemmnis für Gleichheit und Fortschritt. Ehre ist zwar ein Wert für sich und die Quelle vieler sozialer und kultureller Leistungen; sie bedeutet aber auch einen Anspruch, eine Last und eine Gefahr, die von vielen als allzu groß empfunden werden: den einen ein Gegenstand des Stolzes, den anderen des Neides. Es kann daher eine Erleichterung bedeuten, vom Imperativ der Ehre befreit zu werden. Diese Erleichterung verhieß die lndustriegesellschaft, indem sie an dessen Stelle den Imperativ der Arbeit setzte. Die prosoziale Verhaltensstilisierung, die in der ständischen Gesellschaft vor allem über die Ehre erreicht worden war, schien auch durch Sittlichkeit und Recht allein, durch Moral und Ratio, gewährleistet zu sein. Die von Saint-Sirnon ausgehende Soziologie brachte darüber hinaus noch die Verheißung, daß Moral und Ratio sich letztlich als zwei Aspekte derselben erweisen würden: wie etwa Herbert Spencer versichert, sind "Moralität" und "physische Wahrheit" ein 16 Vgl. Stefan Hradil, Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft, Opladen 1987.

17•

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und dieselbe "Species der transzendentalen Physiologie". 17 Statt dem Imperativ der Ehre bräuchten die Menschen also nur mehr den Ratschlägen der Soziologen zu folgen. Im folgenden möchte ich eine dem entgegengesetzte These zu begründen versuchen. Ich möchte zeigen, daß die moderne Wissenschaft als soziale Bewegung, zu der ja auch die Soziologie gehört, ihrerseits auf einem Ehrbegriffbegründet ist, der sich freilich vom kriegerischen Ehrbegriff unterscheidet: dem religiösen. 111. Der traditionelle Ehrbegriff widerspricht ganz offensichtlich dem Selbstverständnis der Wissenschaftsgemeinschaft. Er ist partikularistisch, sie universalistisch; er haftet an der Körpersphäre, sie macht sich von dieser frei zur "Intersubjektivität". Ehre ist qualitativ begründet, während die moderne Wissenschaft qualitative Unterschiede womöglich auf quantitative zurückführt und alles Seiende bestimmen will nach "Maß, Zahl und Gewicht" (Weisheit Salomos, 11,21). Die moderne Wissenschaft wandte sich auch insofern gegen die adelige Kriegerehre, als sie die "freien Künste" mit den "mechanischen" zusammenführte, d. h. geistige Leistung und körperliche Arbeit verschmolz und dies aus der Leitidee des Nutzens rechtfertigte. 18 Der Ehrbegriff muß einer solchen Wissenschaft als rückständig erscheinen, eher als ein möglicher Gegenstand wissenschaftlicher Forschung als eine von deren Antriebskräften. Ich meine jedoch, daß sich in dieser Hinsicht die Wissenschaft über sich selbst täuscht. Von dem bedeutenden Ethnosoziologen Wilhelm Emil Mühlmann konnte man gelegentlich das Epigramm hören: "Ein Wissenschaftler kann kein Gentleman sein." Mühlmann wollte damit gewiß nicht sagen, daß persönliche Qualitäten unerheblich sind für die Ausübung der wissenschaftlichen Tätigkeit. Er meinte vielmehr, daß der Wissenschaftler jede Evidenz in Betracht ziehen muß, woher und von wem sie auch kommt, wie unangenehm oder unappetitlich sie auch ist. Vorstellungen von Takt, Geschmack und standesgemäßem Wohlverhalten dürfen ihn in seinem Forscherdrang nicht behindern. Durch diese Forderung- sie geht auf die Ursprünge der abendländischen Wissenschaft zurück und wird schon in dem Aristoteles zugeschriebenen Wort zum Ausdruck gebracht: ,,Amicus Plato, sed magis amica veritas"wird in die wissenschaftliche Tätigkeit ein Bruch und in die Haltung des 17 Social Statics, zit. nach St. Andreski, Herbert Spencer. Structure, Function and Evolution, London 1971, S. 234. 18 Vgl. u. a. Peter Weingart, Wissensproduktion und soziale Struktur, Frankfurt 1976, s. 93 ff.

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einzelnen Wissenschaftlers eine unauflösbare Ambivalenz hineingebracht: man braucht besondere persönliche Qualitäten, um ein Wissenschaftler zu sein, und muß sich als ein solcher über eben diese Qualitäten hinwegsetzen. Ich möchte das konkretisieren: Die Wissenschaften vom Menschen nehmen leicht einen voyeur- oder spionagehaften Charakter an. Die Lektüre psychologischer oder kriminologischer Fallgeschichten hat, wie überhaupt alles Biographische, Unterhaltungswert: sie vergönnt dem Leser die Genugtuung des Blickes durch das Schlüsselloch. Der Soziologe oder Ethnograph, der die Lebensverhältnisse anderer Menschen vor uns ausbreitet, gibt sie damit in unsere Hand. Er tut dies, obwohl er keine Garantie dafür hat, daß niemand die von ihm gelieferten Informationen gegen diese Menschen gebrauchen wird. Ist das gentlemanlike? Vielen Wissenschaftlern bereitet der hierin angelegte Konflikt zwischen Wissenschaftler und Gentleman Schwierigkeiten. Verwundert es, daß sie ihn im Sinne der Theorie von der "kognitiven Dissonanz" 19 bereinigen wollen? Dazu bieten sich verschiedene Strategien an, etwa die Anonymisierung des Materials durch Decknamen oder das Herunterspielen seiner Gefährlichkeit bei Betonung seiner Nützlichkeit. Gerade in den Sozialwissenschaften werden Fragen dieser Art heute unter dem Titel "Forschungsethik" lebhaft diskutiert. Das heißt nicht, daß die Naturwissenschaften frei von dieser Problematik wären. Ich weiß nicht, welchen wissenschaftlichen Gewinn die Experimente erbracht haben, die mit Menschen in Konzentrationslagern durchgeführt wurden, aber kann sie der Wissenschaftler - im Gegensatz zum Gentleman - einfach ablehnen, nur weil sie von Verbrechern stammen? Wie verhält sich der Wissenschaftler, der kein Gentleman ist, in Fragen der Kernphysik, der Gentechnologie, der Ökologie? Vielleicht hat die moderne Wissenschaft die Ehre allzu leichtfertig verabschiedet. Nun kehrt sie im Gewande der Ethik wieder zu ihr zurück. Ein anderes, scheinbar liebenswürdigeres, Bild zeichnet sich bei den wissenschaftlichen "Ehrenrettungen" ab. Viele Forschungen haben das erklärte oder unerklärte Ziel, die Ehre einer historischen Gestalt, einer sozialen Gruppe, eines Landes oder Volkes, einer Epoche, ja einer Tier- oder Pflanzenart zu "retten" bzw. dieselbe "aufzuwerten". Hier macht sich der Familienstolz, Lokalpatriotismus oder ein sonstiges partikularistisches Interesse des Wissenschaftlers geltend. Durchaus gentlemanlike! Doch wer die Ehre seines Forschungsgegenstandes wahren will, der will ihn auch vor Unehre bewahren, etwa durch Verschweigen, Zurückhalten, ja Vernichten "belastenden" Materials. Ist das wissenschaftlich? Kurios und bezeichnend ist hier das exquisite Taktgefühl und die selektive Informationspolitik zweier Schulen, die den Anspruch, andere zu demaskieren, mit dem eigenen Heroenkult zwanglos verbinden: Marxismus und Psychoanalyse. Darüber hinaus bedeutet das Parteiergreifen jUr einen Forschungsgegenstand stets auch eine 19

L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, Kalifornien 1957.

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Entscheidung gegen andere, wenn das auch nicht immer so deutlich wird wie in der Archäologie, wo sich oft die Frage stellt, welche Schicht man nun ausgraben soll. Aufwertungen sind immer zugleich auch Abwertungen. Der wissenschaftliche Gentleman erweist sich als ein agonales Wesen. IV. Von den Begründern der Wissenschaftssoziologie war sich vor allem Robert K. Merton dieser werthaften Grundierung aller Wissenschaft bewußt. Merton hat sich seit den dreißiger Jahren mit der Entstehung, dem Wesen und der sozialen Einbettung der modernen Wissenschaft befaßt. 20 Er zeigt dabei, daß die europäische Wissenschaft, die sich seit dem 17. Jahrhundert herausgebildet hat, in einem ihr eigentümlichen, von der Gesamtgesellschaft anerkannten Ethos begründet ist. Er definiert dieses Ethos als "jenen affektiv getönten Komplex von Werten und Normen, der als für den Wissenschaftler bindend betrachtet wird". 21 Der Komplex setzt sich aus vier "institutionellen Imperativen" zusammen, nämlich (1) Universalismus, d. h. der Verzicht darauf, Wahrheitsansprüche nach ihrer besonderen Herkunft zu bewerten; (2) Kommunismus, d. h. die Auffassung, daß wissenschaftliche Erkenntnisse Gemeineigentum der Menschheit und nicht Sondereigentum des Wissenschaftlers oder seiner Gruppe zu sein haben; (3) Uneigennützigkeit, d. h. Wahrheitssuche auch für andere, deren Urteil und Kritik man sich unterwirft; und (4) organisierter Skeptizismus, unvoreingenommene Prüfung von Wahrheitsansprüchen anband empirischer und logischer Maßstäbe.ZZ Merton spricht von Ethos und nicht von Ehre. Diese Akzentverschiebung scheint mir für eine von Herbert Spencer herkommende Soziologie kennzeichnend zu sein. Die Moralisierung der Ehre entspricht einem Prozeß der Individualisierung und Rationalisierung, 23 der älter ist als die Soziologie, älter auch als die moderne Wissenschaft. Er koinzidiert vielmehr mit den Universalreligionen, die ihren Bezugspunkt außer- und 9berhalb konkreter Gruppen haben, deren Anhänger sich an einem der gesellschaftlichen Meinung enthobenen Absolutum orientieren, welches sie ohne Rücksicht auf Gruppengrenzen prophetisch und missionarisch verkünden. Ich folge in meiner Analyse jenen Beobachtern, die in der modernen Wissenschaft, und insbesondere auch in der Soziologie, in abgewandelter Form viele Züge der Universalreligionen, und hier vor allem des Christentums, wiedererkennen.24 20 Eine deutsche Zusammenfassung der einschlägigen Arbeiten R. Mertons gibt das Buch "Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen", Frankfurt 1985. 21 R. Merton 1985, S. 88. 22 R. Merton 1985, S. 90ff. 23 Vgl. Spencer, in: Andreski, Herbert Spencer, S. 235 ff.

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Die Begründer der modernen Wissenschaft sprachen, im Gegensatz zu den Wissenschaftssoziologen, jedoch selbst von Ehre bzw. von Ruhm. Zu oft und zu ausführlich, als daß man es als bloße Rhetorik abtun könnte, haben die "Virtuosi", die die wissenschaftlichen Akademien des 17. Jahrhunderts begründeten, die Behauptung aufgestellt, daß sie mit ihrem Forschen die Ehre Gottes mehren wollten. 25 Merton versucht dies systemtheoretisch oder, wie man besser sagen sollte, wissenschaftsimmanent zu erklären: "Bevor sie als eigenständiger Wert allgemein akzeptiert wurde, mußte sich die Wissenschaft vor den Menschen mit Hilfe von außerhalb ihrer selbst liegenden Werten rechtfertigen, konnte sie sich nicht auf den Wert von Erkenntnis als solcher berufen. " 26

Also eine Art umgekehrter Priestertrug-Theorie! Erklärungen dieser Art sind vielleicht allzu plausibel, um den Tatsachen gerecht zu werden. Weniger Wert auf Geschichtsideologie und mehr auf die Situation und Motive der Handelnden legt der Erklärungsansatz Friedrich H. Tenbrucks: die Virtuosi strebten danach, Einsicht in die göttliche Weltordnung zu gewinnen, um sich angesichts einer nach der Auflösung des mittelalterlichen Kosmos als beunruhigend und sinnlos erlebten Welt wieder der Existenz und der Güte Gottes zu versichern: "Der Topos The Glory ofGod ist der Dank für die Erlösung aus diesen Zweifeln, die Beglückung des Menschen, der den göttlichen Weltplan versteht. " 27

An dieser Stelle sei mir eine terminologische Zwischenbemerkung gestattet: es wäre eine faszinierende, von mir aber hier nicht zu leistende Aufgabe, die Begriffsgeschichte von "Ehre" und ihrer Ersatz- und Nachbarbegriffe im Zusammenhang der Religions- und Geistesgeschichte nachzuzeichnen. Erwähnen möchte ich nur, daß durch die Moralisierung von "Ehre" (in Deutschland schon seit Anfang dieses Jahrtausends 28 ), verstärkt durch die Entwicklung indirekter Interaktionsformen in den Massenmedien (Buchdruck!) die charismatische Komponente des Ruhmes sich mit Beginn der Neuzeit vom Komplex der Ehre loslöst und verselbständigt. Ruhm gilt nicht mehr innerhalb stabiler Lebensgemeinschaften, sondern quer durch die Gruppengrenzen in einem prinzipiell offenen "Publikum". Ehre haben 24 Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/Harnburg 1955, S. 81 ff.; Friedrich H. Tenbruck, "Die Glaubensgeschichte der Moderne", in: Die unbewältigten Sozialwissenschaften, Graz 1984, S. 52ff. 25 Vgl. E. A. Burtt, The Metaphysical Foundations ofModern Science, New York 1954, S. 30ff.; R. S. Westfall, Never at Rest. A Biography of lsaac Newton, Cambridge 1980, s. 308 ff. 26 Merton 1985, op. cit., S. 47. 27 Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, in: N. Stehr I R. König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 18, Opladen 1975, S. 19-47, hier S. 28. 28 Vgl. Kluge 1975.

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manche, Moral alle, Ruhm emtge wenige. Nach Ansicht der Virtuosie gebührte der Ruhm Gott allein, vielleicht aber auch, in dessen Schatten, ein wenig ihnen selbst. Wie Tenbruck in der erwähnten Arbeit weiter zeigt, war und ist es der "Bedeutungswert" der Wissenschaft, ihr Anspruch auf die Welterklärung, der ihr Faszinosum ausmacht und der die quasi-religiöse Hingabe an sie begründet, nicht, wie die meisten Wissenschaftler behaupten, der "Nutzwert", die praktische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse. 29 Die Ehre des Wissenschaftlers beruhte ursprünglich darauf, daß er der Ehre Gottes diente, heute, wo von einem persönlichen Gott wissenschaftsimmanent nicht mehr gesprochen wird, beruht sie immerhin noch darauf, daß der Wissenschaftler dazu beiträgt, die Weltordnung als verstehbar, sinnvoll und letztlich gut bzw. verbesserbar zu erweisen. Dies ist eine unerläßliche gesellschaftliche Sinngebungsfunktion, für die die ständische Ehre des Wissenschaftlers das soziale Entgelt darstellt. Auf dieser Grundlage erst kann sich ein besonderes Ethos der Wissenschaftsgemeinschaft ausbilden. Nicht, daß die Begründer der modernen Wissenschaft andere Legitimationsformen geringgeschätzt hätten. Sie betonten auch die Idee des Nutzens, die nahelag, wenn sie die "mechanischen Künste" integrieren und dafür Unterstützung und Förderung bekommen wollten, und die sich ja aus der Idee einer vom Menschen verbesserbaren Weltordnung ergab. Dadurch floß auch ein guter Teil der Handwerkerehre in die Ehre des Wissenschaftlers ein, wie etwa der Imperativ, ein Stück Werk "zunftgemäß" so gut zu vollenden, als es der Einzelne nur eben vermag (ein Imperativ, der sich übrigens der "industriellen" Betriebsform von Wissenschaft widersetzt). Durch diese technisch-utilitaristische Komponente wurde jedoch die "Standesgemäßheit" der wissenschaftlichen Forschung problematisch. Gerade deshalb beanspruchten die Virtuosi für ihre Tätigkeit Ehre, die diese in der "guten Gesellschaft" heimisch machen sollte. Im "Neuen Organon" beklagt sich Francis Bacon, daß die Wissenschaft deshalb nur langsam voranschreite, weil wissenschaftliche Leistungen nicht gebührend belohnt werden: "was Wunder, wenn jenes Wirken, mit dem keine Ehre verbunden ist, nicht glücklich vorangeht". 30 Dieselben Klagen werden noch von den Propagandisten der Royal Society, so Thomas Sprat und Henry Oldenburg, vorgebracht. 31 Durch die Etablierung der Royal Society (die auf das schmückende Adjektiv "Royal" den allergrößten Wert legte) und anderer Akademien sollten solche Klagen bald gegenstandslos werden. Seither sind Akademiemitgliedschaften, Adelsstandserhebungen für wissenschaftliche Verdienste und allgemein anerkannte und respektierte Preise wie der Nobelpreis Ein29

Tenbruck 1984, S. 23 ff.

° Francis Bacon, Buch I, Aphorismus 91, Ed. M. Buhr, Berlin 1962, S. 102.

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Merton 1985, S.l77, 270f.

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trittskarten in die "gute Gesellschaft". Man kann jedoch sagen, daß mit den Akademiegründungen auch die Veralltäglichung des wissenschaftlichen Charismas begann. Aus vereinzelten homines re/igiosi wurden gleichsam Inhaber von Priesterämtern. In Mertons "affektiv getöntem Komplex" des wissenschaftlichen Ethos ist außer der Komponente der Ehre auch noch eine zweite Komponente enthalten: die Reputation. Anband der Analyse wissenschaftlicher Prioritätsstreitigkeiten 32 zeigt Merton, wie die vier "institutionellen Imperative" miteinander sowie mit der Wissenschaftlerpersönlichkeit in Konflikt geraten müssen. Im Interesse des wissenschaftlichen Ethos soll die eigene Person zurückgenommen, im Interesse des wissenschaftlichen Fortschrittes soll die eigene Leistung dokumentiert werden. Dieser Zwiespalt führt zu oft merkwürdigen Verrenkungen. Die höchstgeschätzten Belohnungen in der Wissenschaft sind ideeller, nicht materieller Natur: Titel, Orden, Preise, vor allem aber der "Name", der "Ruf', die "Reputation" in der Wissenschaftsgemeinschaft und in der engeren Fachgenossenschaft. 33 Trotzdem würden es die allermeisten Wissenschaftler erstaunt, belustigt oder indigniert bestreiten, daß dies eine Antriebskraft ihrer persönlichen Forschungen darstellen könnte. Hans Selye bemerkt dazu: 34 "Wenn ein Preis sowohl Ehre wie Geld einbringt, würden viele Wissenschaftler sogar eher geneigt sein zuzugeben, daß das Geld (,schließlich muß man leben') sie mehr freut als die öffentliche Anerkennung (,für Schmeicheleien bin ich nicht empfänglich'). Warum lassen sich selbst die größten Geister zu derartigen Unaufrichtigkeiten herab?"

Die Antwort auf diese rhetorische Frage fällt leicht. Wenn den Wissenschaftlern unangenehme Charakterzüge vorgeworfen werden, dann sind es Eitelkeit und Rechthaberei, nicht aber Geldgier. Soll sich da ein Wissenschaftler nicht eher der Geldgier bezichtigen als der Eitelkeit? Man wird ihm ohnehin nicht glauben! Hinter Eitelkeit und Rechthaberei steht jedoch noch eine andere, rationalere Triebkraft: der Kampf der Wissenschaftler um Reputation. Reputation ist- nicht nur, aber auch- "symbolisches Kapital" im Sinne Bourdieus. In Geld umsetzbares geistiges Eigentum darf es nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Ehre nicht geben; man kann aber Lob und Anerkennung für seine Leistungen einheimsen und diese summieren sich im Falle weiterer Leistungen zu einem "Namen", einer Reputation. Diese stellt ein positives Merton 1985, S. 258 ff.; vgl. auch Westfall, Never at Rest, 1980, S. 698 f. Merton 1985, S. 298 f. 34 Hans Selye, Streß beherrscht unser Leben, Düsseldorf 1957, S. 33 ff.; vgl. Merton 1985, S. 130 f. 32

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Vorurteil der Wissenschaftsgemeinschaft gegenüber bestimmten ihrer Mitglieder dar. Das ist für diese Gemeinschaft von hohem Nutzen: es gibt ihr eine Struktur und ihren Mitgliedern Bewertungs- und VerhaltenssicherheiL Reputation kann überdies in handfestere Vorteile umgemünzt werden: Karriere, Macht, Verfügung über Forschungsmittel. 35 Eine zynische und darum flache Interpretation könnte annehmen, daß Wissenschaftler aus diesem Grunde nach Reputation streben. Wenn manche von ihnen dies tun sollten, dann halten sie es immerhin für geraten, es nicht allzusehr zu betonen. Wie Niklas Luhmann sagt, ist das Streben nach Reputation (um ihrer selbst oder um anderer Dinge willen) zwar "motivkräftig", darf aber "als Systemziel nicht legitimiert werden". "Was Motivwert hat, wird nicht zum Kommunikationsthema". 36 Es gehört also zur Ehre des Wissenschaftlers, keinen Ehrgeiz zu zeigen. Denn der Wissenschaft selbst darf es nicht um Reputation, sondern muß es um Wahrheit gehen. Die Reputation und die Ehre eines Wissenschaftlers hängen miteinander zusammen, ohne identisch zu sein. Die Reputation bezieht sich vor allem auf seine fachliche Kompetenz und Kreativität und gilt vor allem im Kreise derer, die diese Eigenschaften auch beurteilen können. Sie gilt also im ausgesonderten, nicht den ganzen Menschen einbeziehenden Bereich der Wissenschaftsgemeinschaft und ihrer Institutionen. Diese Reputation ist jedoch- von Begabung und Glücksumständen einmal abgesehen- auf der Grundlage einer besonderen Haltung gewachsen, für welche die Ehre des Wissenschaftlers ein stabilisierendes Moment darstellt. Diese Ehre involviert nicht nur den Fachmann, sondern den ganzen Menschen. Sie ist ein Prinzip der Lebensführung. Im Zweifelsfalle können sich Reputation und Ehre eines Wissenschaftlers voneinander trennen. Er kann seine Reputation einbüßen, etwa durch abfallende Leistungen oder heterodoxe Meinungen, und dabei doch seine Ehre bewahren; und er kann sich entehren, etwa durch Käuflichkeit, Servilität, Betrug bei den Daten oder Plagiat, und dabei doch seine Reputation behalten. V.

Die Ehre des Wissenschaftlers besteht in uneigennütziger, unermüdlicher, methodischer Wahrheitssuche und Wahrheitsverkündung. Wahrheit, nicht Expedienz, ist sein oberster Wert. Damit gerät der Wissenschaftler, und zwar nicht nur als "Fachmann", der sich auf seinem Gebiet besser auskennt als der Rest, sondern mit seiner ganzen Person, in Distanz und in möglichen Konflikt mit der übrigen Gesellschaft, deren Mitglied er andererseits doch bleibt. Er Bourdieu 1979, S. 147ff.; Weingart 1976, S. 61 ff. Selbststeuerung der Wissenschaft, in: N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, 2. Aufl., Opladen 1971, S. 232-252, hier S. 243. 35

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orientiert sich - letzten Endes - nicht an der Gesellschaft, sondern an einem außerhalb ihrer liegendenAbsolutum. Diese "Weltfremdheit" muß sich an der von Expedienz und "CommonSense" bestimmten Grundhaltung der übrigen Gesellschaftsmitglieder, die im Interesse reibungsloser Interaktion bereit sind, auch einmal "Fünfe gerade sein zu lassen", reiben und stoßen. Diese Doppelorientierung- hier Gesellschaft, dort Wahrheit - bringt den schon erwähnten Bruch, die aufgezeigten Zweideutigkeiten, in die soziale Existenz des Wissenschaftlers. Setzt ihn seine "Weltfremdheit" dergestalt auch Spannungen aus, so ist andererseits gerade sie der Ursprung seiner ständischen Ehre. Sie hat nämlich denselben Wurzelgrund wie die Weltfremdheitdeshomo religiosus; sie ist außeralltäglich, charismatisch. Die fast übermenschliche Sachhingabe, Askese, Leistungswilligkeit großer Forscherpersönlichkeiten zeigt ebenso wie der Heroenkult und die Martyrerlegenden, die sich an sie knüpfen, daß man es in ihnen mit säkulären Heiligengestalten zu tun hat. Ich habe die Ehre des Wissenschaftlers als eine Erscheinungsform der Priesterehre bezeichnet. Die Priesterehre ist schon in primitiven Gesellschaften eine besondere Ehre. Dies hängt mit dem besonderen Bezug der Priester zur Sakralsphäre und damit zu den zentralen Werten der Gesellschaft zusammen. Auch "Ehre" bezieht sich, wie gezeigt, auf diese Sphäre; für die "normalen" Gesellschaftsmitglieder tut sie dies jedoch implizit, als ein durch gegenseitige Kontrolle stabilisiertes Prinzip der persönlichen Lebensführung. Wenn Inhaber höherer Statuspositionen eine höhere Ehre haben als andere, dann gerade wegen dieser stillschweigenden Gleichsetzung ihrer Ehre mit den zentralen Werten der Gesellschaft. Für die Priester ist der Bezug zur Sakralsphäre dahingegen explizit; er wird entweder in Form ritueller Handlungen veranschaulicht oder in Form sakraler Doktrin dargelegt. Er drückt sich ferner in einer gewissen Distanz zum "normalen" Leben aus, in einem besonderen Status und einer besonderen Integrität der Körpersphäre, entweder nur während des Vollzuges religiöser Handlungen, oder aber während des ganzen Lebens. Symbole dafür sind vor allem Reinheitsgebote (Askese, Enthaltung von körperlicher zugunsten geistiger Tätigkeit, aber auch Enthaltung von Handel, Krieg und anderen Aktivitäten hochrangiger Gesellschaftsmitglieder). Priestertum bedeutet daher Methodisierung der Lebensführung. Bei aller Distanz sind jedoch Priester, als Inhaber anerkannter sakraler Ämter, die den Vollzug ritueller Handlungen und die Darlegung sakraler Doktrin für die Allgemeinheit beinhalten und daher von dieser honoriert werden, in die soziale Ordnung eingebunden. Anders jene homines religiosi, die ohne öffentlichen Auftrag, aus innerem Antrieb und individueller "Berufung", mit der Sakralsphäre in Beziehung treten. Sie erscheinen bereits in primitiven Gesellschaften als "Schamanen", "Magier", "Propheten", die auf eigene Verantwortung und Rechnung, also

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gewissermaßen "freiberuflich", tätig sind. Ihr Problem ist es, ihre individuelle Berufung vor der Gesellschaft zu legitimieren. Dies geschieht durch Bewährung (etwa durch Erfolg als Heiler, Zauberer, Wahrsager) und durch sakral orientierte, die Distanz zur Lebenswelt betonende Lebensführung. Dadurch gewinnen sie einen über ihre ansonstige soziale Stellung hinausweisenden persönlichen Rang. Je komplexer eine Kultur ist, je weiter sich die Sphäre der zentralen Werte von der Lebenswelt der "normalen" Gesellschaftsmitglieder entfernt, desto wichtiger werden für sie solche Vermittlergestalten. Priester sind hierbei eher Garanten der sozio-kulturellen Stabilität, "freie" homines religiosi dagegen eher Agenten des sozio-kulturellen Wandels. 37 Vor allem die homines religiosi machen durch ihre persönliche Bewährung und außerweltlich orientierte Lebensführung den "normalen" Gesellschaftsmitgliedern die Geltung höherer Werte begreiflich und glaubhaft.38 Der homo re/igiosus steht seitens der Gesellschaft unter einem besonderen Legitimationsdruck. Er muß - auch unter widrigen Umständen - Konsistenz zwischen seiner Botschaft und seiner Lebensführung beweisen. Diese entspricht der vom Priester erwarteten "Reinheit". Auf ihr beruht seine besondere Ehre. Während die Ehre "normaler" Gesellschaftsmitglieder, wie sie in § II analysiert wurde, extravertiert ist ("das Gefühl der Ehre wird vor den anderen gelebt") 39 und mit der gesellschaftlichen Meinung in einem homöostatischen Wechselseitigkeitsverhältnis steht, wird hier die Ehre verinnerlicht, aus der Wahrnehmung der anderen in die eigene Gesinnung verlegt, mit anderen Worten: sie wird ethisiert. Wenn ich trotzdem weiter von "Ehre" spreche, und nicht von "Ethos" oder "Moral", so hat das den folgenden Grund: auch wenn er sich - im Idealfalle - völlig außerweltlich orientiert und also überhaupt keine Rücksicht auf die gesellschaftliche Meinung nimmt, lebt der homo religiosus in der Gesellschaft und erweist dieser einen wichtigen Dienst. Gerade seine "Weltfremdheit", sein "Querstehen" zur Gesellschaft, beglaubigen dies in deren Augen. Deren greifbarstes, allgemein erkenntliches und insofern extravertiertes Symbol ist seine Uneigennützigkeit. Sie ist das klare Äquivalent der Risiko- und Opferbereitschaft, die auch für die "normalen" Gesellschaftsmitglieder zur Ehre gehört. Die Universalreligionen wurden in einer Epoche sozio-kultureller Umbrüche von solchen homines religiosi begründet und über gegebene Gruppengrenzen hinaus verbreitet (wenn auch späterhin von Priestern stabilisiert). Die Wurzeln der abendländischen Wissenschaft reichen in dieselbe Epoche 37 Vgl. u . a . Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 140ff.; Werner Stark, The Sociology of Religion, Vol. V: Types of Religious Men, London 1969. 38 Justin Stag!, Über den Einfluß kultureller Inhalte auf die sozialen Strukturen, in: Zeitschrift für Politik 33/2 (1986), S. 115-147, hier S. 131 ff. 39 Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979, S. 26.

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zurück. 40 Man kann sie als eine Parallelentwicklung der Universalreligionen ansehen. Ihre beiden Hauptwurzeln führen zurück auf die Propheten des alten Israel und die Philosophen des alten Hellas. Beide Personenkreise kennzeichnen sich durch die - scharf betonte Uneigennützigkeit ihrer Wahrheitsverkündung bzw. Wahrheitssuche. Die altisraelitischen Propheten waren - so Max Weber - ständisch geeint durch die Unentge/tlichkeit ihrer Orakel, die sie auch meist ungefragt erteilten und die ihren Hörern meist unwillkommen waren. Gerade deshalb wurden sie geachtet und geglaubt. Voraussetzung dieser Praxis war dienotfalls durch Leidensbereitschaft erkaufte - völlige innere Unabhängigkeit der Propheten. Für sie gehörte es zu ihrer ,,Standesehre", wie es überhaupt die "Praxis vornehmer Intellektuellenschichten" der Antike war, kein Entgelt für geistige Leistungen anzunehmen. 41 Diese charismatische "Wirtschaftsfremdheit" 42 ist nur ein spezifischer und besonders sinnfälliger Ausdruck für die hier gemeinte Hinwegsetzung über die Expedienz im Dienste der Verwirklichung höherer, letztlich sakraler Werte. Man findet sie genauso bei den griechischen Philosophen. In der Polemik des Sokrates und Platon erscheint das verächtliche Prinzip, für das Lehren von Weisheit Geld anzunehmen, als das Unterscheidungskriterium zwischen Philosophen und Sophisten. Dahinter stand mehr als bloßer Standesdünkel. Die Philosophen glaubten an die Erkennbarkeit einer absoluten Wahrheit; die Sophisten waren Relativisten. Platon läßt ihnen durch den Mund des Sokrates im Hippias I die Doktrin zuschreiben, daß "der Weise vorzüglich für sich selbst weise sein müsse" (283 b). Mit anderen Worten: da ihre Wahrheitssuche eigennützig sei, sei ihre Wahrheit nichts wert. Sehr hübsch erscheint dieser Gegensatz in einer Anekdote des Diogenes Laertius, in der, anders als bei Platon, beide Teile recht bekommen: "Als ihn (Aristippos, J. S.) sein Weg einstens am Diogenes vorüber führte, der damit beschäftigt war, sein Kraut abzuspülen, sagte dieser spottend: ,Hättest du gelernt, dich mit solcher Koste zu begnügen, so würdest du dich nicht zum Dienst an Tyrannenhöfen erniedrigen. • Aristipp aber entgegnete: ,Und du würdest, wenn du mit Menschen umzugehen verstündest, dich nicht mit Krautwaschen abgeben.'" (II 68)

Dieses Beispiel zeigt, daß die Standesehre des Philosophen bei ungünstigen äußeren Umständen nur durch den radikalen Verzicht auf alle anderen Erfordernisse und Gratifikationen einer standesgemäßen Lebensführung aufrecht erhalten werden konnte. Der Mut zum Unstandesgemäßen wird zum besonderen Prüfstein dieser ständischen Ehre. Die Nachfolger des Diogenes, die kynischen Philosophen, wurden in dieser Hinsicht zu wichtiVgl. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1955. Max Weber, Das antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 5. Aufl., Tübingen 1971, S. ll1, 292. 42 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 655 ff. 40 41

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genVorläuferndes christlichen Mönchtums. In analoger Weise wurde das prophetische Standesideal der Unentgeltlichkeit der Lehre von späteren, nichtpriesterlichen, plebejischen Intellektuellen unter den Juden, wie von den Rabbinern, im Kampfe um die soziale Anerkennung ihrer Botschaft übernommenY Um dies leisten zu können, mußten die ersten Rabbiner ihren Lebensunterhalt aus anderen, meist manuellen und gering bewerteten Berufen bestreiten - ebenso wie die ersten christlichen Missionare, auf die das Pauluswort gemünzt ist:" Wennjemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen" (2. Thess. 3, 10).44 Ich kann und will hier die weitere Entwicklungsgeschichte des europäischen Wissenschaftlers nicht nachzeichnen. Es genüge die schon oben getroffene Feststellung, daß auch die Begründer der frühneuzeitlichen Wissenschaft zu den sich aus individueller Berufung, ohne sakrales Amt, der Sphäre der höchsten Werte zuwendenden homines re/igiosi gehörten. Die Wissenschaft erscheint bei ihnen als ein uneigennütziger Dienst an Gott, an der Wahrheit und an den Menschen. Doch gerade aus der Erhabenheit dieser Zwecke und der Selbstlosigkeit, mit der sie verfolgt werden, leitet die moderne Wissenschaft einen Herrschaftsanspruch über die Gesellschaft ab, der im Grunde theokratisch ist. Friedrich Nietzsche, einer der schärfsten Kritiker und hellsichtigsten Kenner des "asketischen Ideals", sagt von diesem: "es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht - es glaubt daran, daß Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe . .. " 45

Heute rechtfertigt sich die Wissenschaft nicht mehr durch den Bezug auf Gott. Sie kann auf ihre Erfolge bei der Welterklärung und auf den Nutzen verweisen, den sie den Menschen bringt. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Daß Wissenschaft mit Religion nichts zu tun habe, ist, wie scharfblickende Beobachter stets gesehen haben, ein Fall von Selbsttäuschung. Um abschließend noch einmal Nietzsche zu zitieren: wo Wissenschaft "überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatzjenes asketischen Ideals, vielmehr dessenjüngste undvornehmste Form selber. Klingt auch das fremd?" 46

Weber, Das antike Judentum, 1971. Vgl. Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 4. Aufl. , Wiesbaden 1924, S. 197 ff. 45 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale, § 23. 46 Friedrich Nietzsche, loc. cit. 43

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VI. "Durch eine Art Unredlichkeit, die zweifellos für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz nötig ist, liefert die Gesellschaft zugleich die Imperative der Ehre und die krummen Wege, auf denen man sie umgehen kann, ohne sie, zumindest dem Schein nach, zu übertreten. "47

Solche Spannungen zwischen den Idealen einer Gesellschaft und der Lebenswirklichkeit ihrer Mitglieder sind etwas Unvermeidliches. In einer früheren Arbeit48 habe ich die "Unredlichkeit" analysiert, die die gesellschaftliche Unterstützung und Finanzierung von quer zur Gesellschaft stehenden, einem Absolutum zugewandten, einer "Gesinnungsethik" huldigenden Existenzen notwendig mit sich bringt. Die oben erwähnte Doppelorientierung des Wissenschaftlers - hier Gesellschaft, dort Wahrheit gehören in den gleichen Zusammenhang. Gerade durch seine Uneigennützigkeit und "Weltfremdheit" macht der Wissenschaftler seinem sozialen Umfeld seine ständische Ehre sichtbar; und eben dies veranlaßt die Gesellschaft, die Wissenschaft zu respektieren, zu unterstützen und zu finanzieren. Der heutige Wissenschaftler ist zumeist ein Gehaltsempfänger. Kann man hier überhaupt noch von "Uneigennützigkeit" sprechen? Läßt sich dies überhaupt mit der besonderen Ehre, wie sie hier dargestellt wurde, vereinbaren? Wenn man bei dem Bibelwort "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5, 29) "Gott" durch "Wahrheit" ersetzt, hat man damit das Ideal der Standesehre des angestellten Wissenschaftlers. Dieser hat die äußere Unabhängigkeit seiner Vorläufer aufgegeben, doch die innere Unabhängigkeit hat er sich gewahrt. Er hat sich nämlich die Möglichkeit des Dissenses mit dem Staat und mit der Gesellschaft im Hinblick auf die Wahrheit vorbehalten. Seine Ehre beruht darauf, daß er der Wahrheit auch aufKosten der eigenen Bequemlichkeit undangesichtsdes Unverstandes der Laien unbeirrt nachgeht und daß er im Zweifelsfalle die Objektivität vor die Expedienz und die soziale Anerkennung stellt. Aus diesem Wurzelboden entsprießen die Helden- und Märtyrerkulte, die die Wissenschaftsgeschichte von Galilei bis Sacharow in so reichem Maße begleitet haben. Die wissenschaftsfreundlichen Gesellschaften der Neuzeit beschützen aber auch die innere Unabhängigkeit jener Wissenschaftler, die nicht das Zeug zum Helden und Märtyrer haben. Sie haben sie -in der nicht üppigen, aber sicheren und ehrenvollen Form des Beamtengehaltes-vomKampf um den Lebensunterhalt freigestellt; sie dürfen sich wirtschafts- und machtfremd verhalten. Sie haben ihre innere Unabhängigkeit darüber hinaus in Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 1979, S. 391. Justin Stag!, Mäzene und Sympathisanten, in: ders. (Hrsg.), Aspekte der Kultursoziologie (Festschrift Mohammed Rassem), Berlin 1982, S. 221-238. 47

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Gestalt der Wissenschaftsfreiheit verfassungsrechtlich verankert. Man kann diese Privilegien durchaus mit den Ämtern und Pfründen von Priestern vergleichen. Die Verbeamtung der Wissenschaftler ist ein Moment der "Veralltäglichung des Charisma", welcher religiös-weltanschauliche Bewegungen gerade im Erfolgsfalle ausgesetzt sind. 49 Derart privilegiert sind in den Institutionen der Wissenschaft freilich nur die obersten -gegen äußere Pressionen besonders abzusichernden - Stellen. Sie sind daher auch Lebzeitstellen. Man muß sich für siein-dem Ideal nach- freiem Wettbewerb innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft, durch individuelle Sonderleistung und Risikobereitschaft, d. h. also charismatisch, qualifizieren. Sie stellen Kampfpreise dar. Eben deshalb sind sie besonders ehrenvoll. Ein moderner Universitätsprofessor hat eine Doppelstellung. Einerseits bezieht er sein Gehaltaufgrund seiner laufenden, einen normalen Arbeitstag füllenden Tätigkeit als Lehrer, Prüfer und Administrator. Andererseits ist er Wissenschaftler; er hat seine Stelleaufgrund erbrachter Forschungsleistungen bekommen und man erwartet von ihm, daß er weitere erbringt. Diese sind freilich notorisch schwer nachprüfbar und können nicht eingeklagt werden. Sie sind ein Superadditum. Sie sind - Ehrensache. Wie der antike Rabbiner, Mönch oder Missionar schöpft der Universitätsprofessor seinen Lebensunterhalt aus einer Tätigkeit, die nicht seine eigentliche ist. Gerade dadurch ist er den "Virtuosi" und anderen vornehmen Intellektuellenschichten ständisch gleichgestellt. Er kann es sich leisten, ohne Rücksicht auf die Menschen der Wahrheit zu dienen. Insofern ist er ein Gentleman. Die akademischen Berufe, die das soziale Umfeld und meist auch das Rekrutierungsfeld für die Wissenschaftsgemeinschaft abgeben, kennzeichnen sich durch die Anwendung der Wissenschaft für die Lebenspraxis. In seinem Aufsatz "Die akademischen Berufe und die Sozialstruktur" 50 zeigt Talcott Parsans zwar das Bestreben, als Bestimmungsmerkmal dieser Berufe die Fachkompetenz hervorzuheben und deren ständische Ehre herunterzuspielen. Doch kann auch er sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die allgemeine Meinung (im Gegensatz zur soziologischen Theorie) von diesen Berufen "Uneigennützigkeit" erwartet, sie als "Dienst" auffaßt, ja, daß sie einem am Eigeninteresse orientierten Gesellschaftsbild als "atypisch", als "bloßes Überbleibsel der mittelalterlichen Zünfte erscheinen". 51 Ihre ständische Ehre, früher symbolisiert durch Satisfaktionsfähigkeit, heute noch ausgedrückt in einem hohen Grad an Berufskonstanz und Konnubium sowie einem besonderen Lebensstil, haben sie sich auch in der Industriegesellschaft 49 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 142ff., 661 ff.; Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, 2. Aufl., Bern/München 1960, S. 104. so T. Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, 2. Aufl., Neuwied 1968 (eng!. Orig. 1954), s. 160-179. si T. Parsons, 1968, S.162, 171, 172.

Die Ehre des Wissenschaftlers

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bewahrt. Sie ergibt sich letzten Endes daraus, daß diese Berufe an wissenschaftlichen, also an objektiven, Maßstäben orientiert sind. Dies wird beim Berufsantritt rituell bekräftigt, etwa durch die Promotionsformel oder den hippokratischen Eid. Die ständische Ehre der "freien" Berufe wie Ärzte und Anwälte erweist sich etwa daran, daß sie keinen "Lohn" bekommen, sondern ein "Honorar", daß ihre Tätigkeit also als etwas Höheres aufgefaßt wird als bloßer Gelderwerb. Ständisch gleichgestellt sind ihnen die wissenschaftlich geschulten Inhaber der oberen Positionen in Kirche und Staat (Pfarrer, Beamte), denen für die sachliche, d. h. ihre eigene Person zurückstellende, Ausübung ihrer Berufspflichten ein ehrenvolles Gehalt zugesichert ist. An der Ehre des Wissenschaftlers partizipiert auch ganz allgemein jene Schicht, die sich durch Lebensstil und Konnubium um die akademischen Berufe zusammenschließt: das Bildungsbürgertum (der besondere Fall der ebenfalls hierhergehörigen künstlerischen Berufe muß hier leider außer acht gelassen werden). Das Bildungsbürgertum hat in der soziologischen Diskussion eine gewisse Rolle gespielt. Im Anschluß an Max Weber hat man die ständisch auszeichnende Wirkung der von den wissenschaftlichen Hochschulen und höheren Schulen vergebenen Bildungszertifikate besonders hervorgehoben. 52 Weil der Weg durch diese Schulen auch mit Kosten verbunden ist, hat man zumeist versucht, das Bildungs- auf das Besitzbürgerturn, und damit auch das Bildungs- auf das Besitzinteresse, zurückzuführen. Dieser, vor allem bei Marxisten beliebten, deterministischen Vereinfachung entgeht auch die in vielen Details geistreich durchgeführte Entgegensetzung Bourdieus zwischen "kulturellem" und "ökonomischem Kapital" nicht, trotz der geäußerten Vorbehalte gegen die "direkte Konvertierbarkeit der verschiedenen Kapitalsorten". 53 Hier wird der entgegengesetzte Standpunkt vertreten, daß nämlich das Bildungsinteresse etwas Genuines, nicht etwas Abgeleitetes, ist und daß das soziale Prestige des Bildungsbürgertums mit einem ständischen Ehrbegriff zusammenhängt, der letzten Endes in der Sakralsphäre wurzelt. Ich habe hier versucht, eine paradoxe Situation zu erhellen: die Wissenschaft, anerkanntermaßen eine Hauptkonstituente der Moderne, kommt ohne den "vormodernen" Imperativ der Ehre nicht aus. Durch seine besondere Ehre der uneigennützigen Wahrheitssuche und -verkündung, die ein Äquivalent der auf Reinheit beruhenden Ehre des Priesters und der auf dem Sich-selbst-Riskieren begründeten Ehre des Kriegers ist, fügt sich der Wissenschaftler in die Gesamtgesellschaft ein, begründet aber auch seinen 52 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 576f.; vgl. z. B. Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983 (eng!. Orig. 1969), S. 23 ff. 53 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 3. Aufl., Frankfurt 1984 (frz. Orig. 1979), S. 208 ff. ; vgl. dazu Hradil 1987, S. 164.

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besonderen Rang innerhalb derselben. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß die Wissenschaftsgemeinschaft und ihre Institutionen von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern toleriert, von Mäzenen gefördert, von Verfassungen geschützt werden. Die persönliche Ehre des einzelnen Wissenschaftlers und die Gruppenehre der Wissenschaftsgemeinschaft sind in dieser Hinsicht interdependent. Auf ihrer Grundlage hat sich auch die wichtigste ständische Enklave der Industriegesellschaft, die akademischen Berufe bzw. das Bildungsbürgertum, formiert.

AUTORENVERZEICHNIS Klaus Barheier, Universität Bochum

Prof. Dr. Paul Gert von Beckerath, Leichlingen Staatsrat Prof. Dr. Luigi Vittorio Graf Ferraris, Botschafter a. D., Rom Prof. Dr. Hans Wilhem Hetz/er, Universität Harnburg Marion Hüchtermann M. A., Institut der deutschen Wirtschaft, Köln

Prof. Dr. Dr. Anastasios Kallis, Universität Münster Prof. Dr. Otto Kimminich, Universität Regensburg Prof. Dr. Helmut Klages, Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Friedrich Landwehrmann, Universität Mainz Prof. Dr. Wolfgang Lipp, Universität Würzburg Prof. Dr. Eckart Pankoke, Universität Essen Prof. Dr. Franz Ronneberger, Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Winfried Schlafjke, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln Prof. Dr. Justin Stag/, Universität Bonn Prälat Wilhelm Sternemann, Gelsenkirchen Prof. Dr. Bernard Willms, Universität Bochum Prof. Dr. Arnold Zingerle, Universität Bayreuth