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German Pages 156 [192] Year 1964
SAMMLUNG
GÖSCHEN
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PAULUS D. DR. MARTIN D I B E L I U S D . D. (St. Andrews) ehem. ord. Professor a n der U n i v e r s i t ä t Heidelberg N a c h dem Tode des Verfassers herausgegeben und zu Ende geführt von
DR. W E R N E R GEORG KÜMMEL ord. Professor a n der U n i v e r s i t ä t Marburg
3. durchgesehene Auflage
WALTER D E GRUYTER & CO. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung . J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer . K a r l J . T r ü b n e r . Veit & Comp.
B E R L I N 1964
© Copyright 1964 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung / J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung / Georg Keimer / Karl J. Trübner / Veit & Comp., Berlin 30. — Alle Rechte, einschl. der Hechte der Herstellung von Photobopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten. — Archiv-Nr. 7230641. — Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. — Printed in Germany.
Inhalt Vorbemerkung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Paulus in der Geschichte Welt und Umwelt Der Mensch Paulus Die Wendung zu Christus Die Mission Predigt und Gemeinde Zeugnis und Theologie Kämpfe Das Ende Das Werk
Seite
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5 16 24 42 61 77 92 114 129 141
Literatur
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Register
150
Stellenregister
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Vorbemerkung Martin Dibelius hinterließ bei seinem am l l . N o m e m b e r 1947 erfolgten Tode von dem Manuskript eines f ü r die S a m m lung Göschen bestimmten Paulusbüchleins 6^2 Kapitel in fast druckfertigem Zustand. Vom Rest des Manuskripts war nichts vorhanden außer den Kapitelüberschriften und der Angabe über den ungefähren Umfang des noch zu Schreibenden. Da eine Veröffentlichung des nachgelassenen Werkes in diesem unfertigen Zustand nicht anging, stellte ich mich auf den Vorschlag von Frau Dora Dibelius und des Herrn Verlegers gerne zur Verfügung, um das Manuskript im Sinne meines verstorbenen Lehrers druckfertig zu machen und die fehlenden Teile hinzuzufügen. Das vorhandene Manuskript, das bis zur Mitte des 7. Kapitels reichte (hier bis S. 103), bedurfte in der Hauptsache nur einer stilistischen Durchsicht und der Entscheidung darüber, was der Verfasser jeweilen als letzte Formulierung beabsichtigt hatte. Gemäß der deutlich gekennzeichneten Absicht des Verfassers wurde das 2. Kapitel an einigen Stellen etwas erweitert; sonst mußten nur ganz selten Versehen korrigiert oder kleine Lücken ergänzt werden. So bietet von diesen geringfügigen Ergänzungen abgesehen, der Text der Kapitel 1—-7 (S. 103) den von Martin Dibelius beabsichtigten Wortlaut und d a m i t auch seine wissenschaftlichen Anschauungen. Der Rest (ab S. 103) ist von mir hinzugefügt worden. Möge das letzte Werk eines großen Theologen, das das Gegenstück zu seinem in der gleichen Sammlung erschienenen Jesus-Büchlein bilden sollte, vielen dazu helfen, die geschichtliche Gestalt des Apostels Paulus klarer zu sehen und seine Bedeutung f ü r den geistigen Kampf der Gegenwart zu erkennen. Zürich, 27. Dezember 1949.
Werner Georg
Kümmel
Für die 3. Auflage wurden kleine Versehen berichtigt, das Literaturverzeichnis wurde auf den gegenwärtigen Stand gebracht. Marburg, im J a n u a r 1964. W. G. K .
1. Paulus in der Geschichte Vom Apostel Paulus weiß alle Welt, daß er der größte Missionar des christlichen Glaubens in der alten, der klassischen Zeit des Christentums war, daß seine Briefe einen erheblichen Teil des Neuen Testaments bilden, und daß infolgedessen heute wie in vergangenen Zeiten die Kirche wie alle Leser der Bibel, vom gelehrtesten bis zum schlichtesten, in lebendiger Beziehung zu ihm stehen. Aber sieht man näher zu, so gewinnt man einen zwiespältigen Eindruck. Die Arbeit des Paulus hat den jüdischen Rahmen gesprengt, der das Urchristentum vor ihm umschloß, und den W e g zur Gewinnung der nichtjüdischen Welt frei gemacht. Aber vielen scheint es doch so, als hätten gerade die Briefe des Paulus bewirkt, daß jüdische Begriffe und Voraussetzungen in der christlichen Kirche fortleben. Die Christenheit zählt Paulus zu den Aposteln, aber schon die Urgemeinde zu Jerusalem hat niemals ein uneingeschränktes Vertrauen zu ihm gehabt; und nach seinem Tode hat die Kirche zwar seine Briefe gelesen und seine Begriffe aufgenommen, aber sie hat seine Gedanken verharmlost, indem sie sie in ihre Systeme einbaute und dadurch verflachte. Immer wieder im Lauf der Jahrhunderte sind dann die echten Gedanken des Paulus ausgegraben und fortgebildet und umgebildet worden. Zuerst geschah das durch den großen Erzketzer des 2. Jahrhunderts, Marcion, der unter dem Einfluß des Paulus Gesetz und Evangelium als einander ausschließende Prinzipien betrachtete und sie in Verkennung wichtiger Gedanken des Paulus auf zwei verschiedene Götter zurückführte. Dann hat der Kirchenvater Augustin die Gedanken des Apostels über Sünde und Gnade in eigentümlicherweise erneuert und damit den Charakter des abendländischen Christen-
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tums tiefgreifend beeinflußt. Endlich ist Martin Luther nicht nur durch ein Wort des Römerbriefs ( 1 , 1 7 ) in seiner Heilserkenntnis maßgeblich bestimmt worden, sondern er hat auch sein Christus-Verständnis im wesentlichen aus den Paulusbriefen gewonnen. Neben diesen großen und für die Geschichte des Christentums bedeutungsvollsten Paulus-Reaktionen seien auch andere wichtige Wirkungen der Paulus-Gedanken nicht vergessen: der Begründer der großen MethodistenKirche, John Wesley, kam über Luthers Vorrede zum Römerbrief zu seinem entscheidenden „Bekehrungs"Erlebnis, und die neue Theologie des 20. Jahrhunderts, die sogenannte „dialektische Theologie", trat mit einem Paulus-Buch, mit Karl Barths „Römerbrief", auf den Plan. Es hat aber in den letzten hundert Jahren auch nicht an solchen gefehlt, die wesentliche Gedanken des Paulus als Verfälschung des Christentums oder Entartung der Religion bezeichneten und damit eine verbreitete Stimmung schufen, die sich gegen Paulus oder gegen den christlichen Glauben überhaupt richtet. Paul de Lagarde, der große Göttinger Gelehrte, hat mit seinen „Deutschen Schriften" (1886) dieser Stimmung bedeutsamen Ausdruck gegeben. Er zeiht den Paulus, den „völlig Unberufenen", eines dreifachen, unheilvollen Einflusses auf das Christentum: er habe es mit dem Alten Testament belastet, er habe die pharisäische Auslegungskunst in der Kirche eingeführt, und er habe ihr „die jüdische Opfertheorie und alles, was daran hängt, in das Haus getragen". Das sind keine sinnlosen Vorwürfe, und es wird sich noch zeigen, daß hinter jeder dieser Anklagen bedeutsame Fragen stehen. Auf diese religionsgeschichtliche Bekämpfung des Paulus folgte die psychologische durch Friedrich Nietzsche. Er hatte noch in der „Morgenröte" (1880) dem „ebenso abergläubigen als verschlagenen K o p f " , dem Apostel Paulus, die Verantwortung dafür zugeschrieben, „daß das Schiff des Christentums einen guten Teil des jüdischen
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Ballastes über Bord warf, daß es unter die Heiden ging und gehen konnte". Acht Jahre später, im „Antichrist", ist ihm derselbe Apostel der „Gegensatz-Typus zum frohen Botschafter, das Genie im Haß", der „Dysangelist", der mit dem jüdischen Priester-Instinkt (die Geschichte umfälscht, „sich aus einer Halluzination den Beweis vom Nochleben des Erlösers zurecht macht" und damit das Schwergewicht nicht ins Leben, sondern ins „Jenseits" verlegt — der machtgierige Priester, der Massen tyrannisiert, Herden bildet. Viel ernsthafter hat sich Houston Stewart Chamberlain in seinen „Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) um das Problem Paulus bemüht; dies erscheint ihm so verwickelt, daß er bei dem Apostel geradezu zwei Wesenshälften voraussetzt (und deswegen in ihm auch am liebsten den Abkömmling einer Mischehe sehen würde): ein jüdisch erzogener und von jüdischen Vorstellungen erfüllter Mensch, der Denkweise des Alten Testaments verpflichtet — und doch zugleich in seiner Lehre von der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Erlösung durch „die den Glauben schenkende göttliche Gnade" so unjüdisch — Chamberlain nennt das „indo-europäisch" —, „daß er das Epitheton antijüdisch verdient". Um diesen Kern herum hat er ein jüdisches Gebäude errichtet, „eine Art Gitterwerk", das einem kongenialen Auge kein Hindernis ist, aber für das werdende Christentum zur Hauptsache ward. Unter der Voraussetzung des Rasseglaubens hat dann Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts" die Stellung Nietzsches ausgebaut. Der „unjüdische" Paulus existiert für ihn nicht. Ihm bedeuten die Gedanken des Apostels eine „Verbastardisierung, Verorientalisierung und Verjudung des Christentums". „Paulus hat ganz bewußt alles staatlich und geistig Aussätzige in den Ländern seines Erdkreises gesammelt, um eine Erhebung des Minder-Wertigen zu entfesseln". Man meint Nietzsche reden zu hören; nur hatte Nietzsche von der neueren wissenschaftlichen
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Paulusforschung, die gerade erst ihr Anfangsstadium vollendete, wenig Kenntnis; in der Zeit zwischen Nietzsche und Rosenberg aber hat sie sich beträchtlich ausgebreitet und hat, zum Teil in Auswertung neugefundener Zeugnisse antiken Lebens, zu einer wesentlichen Erhellung der Probleme geführt. Eine einseitige Erledigung dieser Probleme im Stil der Anklage sollte danach nicht mehr möglich sein. Der erste Gelehrte der neueren Zeit, der erkannte, daß die Gedanken des Paulus nicht im Sinne der kirchlichen Überlieferung in die allgemein christliche Theologie einzubauen und dadurch zu verharmlosen seien, war der Tübinger Ferdinand Christian Baur in seinem 1845 veröffentlichten Buch „Paulus, der Apostel Jesu Christi". Baur und seine Schüler unternahmen es, in Anknüpfung an Hegeische Gedanken die ganze urchristliche Entwicklung aus dem Gegensatz zwischen Judenchristentum und Paulinismus zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit diesem „Tübinger" Aufriß des Urchristentums hat die Forschung der folgenden Jahrzehnte maßgeblich bestimmt und hat zur Ausdehnung des Problemkreises auf eine Reihe weiterer Fragen geführt, deren Bearbeitung bis in die jüngste Zeit fortdauert. Aus dem Problem, wie es Baur gestellt hatte, ergab sich die Diskussion, ob der Apostel mehr und wesentlicher vom Judentum oder vom Griechentum — oder von Kreuzungen dieser Bereiche, dem hellenistischen Judentum oder dem orientalisierten Hellenismus, beeinflußt sei. Und welcher Anteil an seinen Gedanken kommt der Botschaft Jesu zu, wie war überhaupt seine Beziehung zu der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth? Mit diesen geschichtlichen Fragen hängt auch die sachlich wesentliche zusammen, ob der Kern der Heilslehre bei Paulus die Rechtfertigung des Sünders durch Gnade sei oder die Befreiung der Welt von den unsichtbaren Mächten, die sie bedrücken, ob das Heil für ihn wesentlich in gegenwärtigem Besitz oder in der Hoffnung auf eine kom-
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mende Weltverwandlung bestehe. Da alle diese Probleme in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen, mag dieser Hinweis genügen. Man darf dabei auch nicht vergessen, daß die Paulusforschung immer neue Antriebe von andern Wissenschaften erhielt. Das neuerwachte Verständnis für spätgriechische Sprache und Literatur, die Erforschung des jüdischen Rabbinismus, die Veröffentlichung neugefundener Texte, die Papyruskunde, die Religionsgeschichte vor allem des Hellenismus, aber auch die neuere Psychologie — sie alle haben zum Verständnis des Apostels beigetragen und unser Paulusbild bereichert, soweit es die Quellen erlauben. Wir wissen vom Leben und Denken des Paulus verhältnismäßig viel. Unter seinem Namen sind uns 13 B r i e f e im Neuen Testament überliefert, und von seinen Fahrten handelt die ganze zweite Hälfte (Kap. 13—28) der A p o s t e l g e s c h i c h t e , desselben Buches, das in Kap. 9 auch schon von der Bekehrung des Christenverfolgers Paulus erzählt hat. Aber wie alle Geschichtsquellen, antike wie neuzeitliche, müssen auch diese wissenschaftlich untersucht werden, bevor man sie für eine geschichtliche Darstellung benutzt. Der Leser von heute ist erstaunt und leicht befremdet, wenn man ihm versichert, daß nicht alle Briefe, die sich selbst als Schreiben des Paulus bezeichnen, wirklich echt, d. h. vom Apostel verfaßt seien. Er muß sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß damals — auch außerhalb des Christentums — ehrenwerte Leute in bester Meinung Briefe unter dem Namen eines bekannten Mannes schrieben und in Umlauf brachten, sei es, daß sie seinen Stil nachahmten, sei es, daß sie bestimmte Situationen seines Lebens als Briefanlaß benutzten, sei es endlich, daß sie nur seinen Namen für die Verfasserschaft in Anspruch nahmen. Auch dem Paulus sind solche unechten Briefe zugeschrieben worden. Man hat Jahrhunderte nach ihm einen Briefwechsel zwischen ihm und dem Philosophen Seneca erdichtet; man hat gemäß Kol. 4,16 einen Brief des Apostels nach Laodicea konstruiert, ebenso einen Briefwechsel mit den Korinthern, und beides ist in Bibelhandschriften aufgenommen worden; man hat in der griechi-
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sehen und syrischen Kirche des 3. Jahrhunderts den Hebräerbrief deswegen dem Neuen Testament einverleibt, weil man ihn für einen Paulusbrief erklärte. So darf man auch an die als Paulusbriefe bezeichneten Schreiben des Neuen Testaments mit der Frage herantreten, ob sie alle 13 wirklich von Paulus herrühren. In der Tat können mindestens die beiden Briefe an Timotheus und an Titus (d. h. die drei sogenannten Pastoral- oder Hirtenbriefe) nicht als Quellen für Leben und Lehre des Paulus verwendet werden. Sie setzen eine andere, älter gewordene, fester organisierte Kirche voraus, als es die Kirche der Paulus-Zeit war, mit andern Ämtern, mit andern Gegnern, und vor allem mit einem andern christlichen Lebensideal; ihnen sind die Spannungen, von denen Paulus weiß, — zwischen der kommenden Welt und dieser Welt, zwischen Fleisch und Geist — schon fremd geworden, das christliche Dasein ist ihnen aufgebaut auf der „vernünftigen Lehre", die auf „gute W e r k e " abzielt und vom Zeugnis des „guten Gewissens" bestätigt wird. Es ist ein Christentum der zweiten oder dritten Generation, das hier redet •— und wenn der Ketzer Marcion im zweiten Jahrhundert diese Pastoralbriefe nicht in seine Sammlung der Paulusbriefe aufnimmt, so ist das vielleicht ein Zeugnis dafür, daß damals auch in der Kirche ihre Anerkennung sich noch nicht völlig durchgesetzt hatte. Ob echte Paulusfragmente in diesen Briefen verarbeitet sind, kann hier nicht untersucht, kann überhaupt schwerlich zwingend erwiesen werden. Uns muh die Feststellung genügen, daß die Pastoralbriefe als Quelle für unser Paulus-Verständnis auszuscheiden haben (Näheres siehe meine Gesch. der urchristl. Literatur II, Sammlung Göschen 935, S. 76ff.). Von den übrigen zehn Paulusbriefen werden in der Forschung vor allem zwei als nicht fraglos echt bezeichnet. Beim Epheserbrief ist es nicht so sehr sein Inhalt als eine merkwürdige, in Verwandtschaft und Unterschieden sich ausdrückende Beziehung zum Kolosserbrief, die zu Bedenken Anlaß gibt (s. meine Gesch. d. urchristl. Lit. II, S. 30ff. u. 42f.). Auch verrät der Epheserbrief im Gegensatz zu allen anderen Paulusbriefen nichts über die näheren Umstände der Korrespondenz; es ist kein „Brief", es ist ein predigtartiges Schreiben. Selbst der Name „Ephesus" am Anfang ist in den ältesten Handschriften nicht genannt; die Bestimmung für die dem Paulus wohlbe-
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kannte Gemeinde zu Ephesus wird überdies durch den Wortlaut des Briefes widerlegt, der offenbar an eine dem Verfasser fremde Gemeinde gerichtet ist. Gewisse Besonderheiten in Ausdruck und Gedankengehalt, die der Epheserbrief mit dem Schreiben an die Kolosser gemeinsam hat, erscheinen im Kolosserbrief wohl begründet, weil er der Bekämpfung einer neuartigen „gnostischen" Lehre dient; im Epheserbrief sind sie durch nichts veranlaßt. Manche Forscher lösen das Problem, indem sie beiden Briefen die Echtheit absprechen; andere schreiben beide dem Paulus zu und verstehen den unpersönlichen Epheserbrief als Rundbrief an verschiedene Gemeinden. Mir erscheint dasjenige Verständnis beider Briefe am einfachsten, das den Kolosserbrief als Schreiben des Paulus ansieht und seine Besonderheiten aus der besonderen Lage des Apostels erklärt (siehe S. 127 f.), den Epheserbrief aber als Nachbildung des Kolosserbriefes begreift, ihn also aus der Reihe der Quellen für die Gedankenwelt des Paulus streicht. Auch bei dem zweiten Brief an die Thessalonicher wird ein eigentümliches Verwandtschaftsverhältnis als Beweis wider die Echtheit angeführt. Aber hier handelt es sich nicht wie beim Kolosser- und beim Epheserbrief um auffallende Besonderheiten, die sich nur in diesen zwei Briefen fänden. Hier beziehen sich die Übereinstimmungen auf harmlose Dinge, und die einzige Frage, die offen bleibt, ist eigentlich nur diese: ob der Apostel wirklich den kühleren, aber mehr Kenntnis voraussetzenden zweiten Brief an dieselben Leser geschrieben habe, denen der herzliche erste Brief galt, die aber nach eben diesem Brief als neue, der Belehrung noch sehr bedürftige Christen vorzustellen sind (vgl. m. Gesch. d. urchristl. Lit. II, S. 16f.). Allein bevor man auf diese Frage mit der Annahme der Unechtheit antwortet, sollte man sich daran erinnern, daß wir natürlich nicht alle Entstehungsverhältnisse eines solchen Briefwechsels übersehen. Keiner der beiden Briefe an die Thessalonicher bietet ernsthafte Schwierigkeiten, wenn wir beide als Paulusbriefe begreifen. Und so haben denn sie beide, außerdem der Philipper- und der Kolosserbrief samt dem dazugehörigen kleinen Schreiben an Philemon (in Kolossae), vor allem aber die vier „ g r o ß e n " Briefe nach Rom. Korinth (zwei Briefe) und an die Gemeinden in Galatien als Quellen für Leben und Lehre des Paulus zu gelten.
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Es sind Quellen ersten Ranges. Sie sind es nicht nur, weil sie von Paulus geschrieben (oder — wie wir nach Rom. 16, 22 1. Kor. 16, 21 und anderen Stellen annehmen müssen — diktiert) sind. Ihre Eigenart besteht darin, daß sie uns einen Blick in seine Gemeinden tun lassen, und daß sie zugleich mit den ganz persönlichen Zeugnissen, die sie enthalten, Glauben, Denken und Fühlen des Menschen Paulus enthüllen. Die Berichte über Paulus, wie sie die Apostelgeschichte darbietet, haben, weil sie keine Selbstzeugnisse sind, natürlich nicht den gleichen Quellenwert; wenn sie eindeutigen Darstellungen der Briefe widersprechen, müssen sie zurückstehen; höchstens könnte man bei bestimmten Einzelheiten dem Apostel eine Selbsttäuschung zuschreiben. Aber die Bedeutung der Nachrichten in der Apostelgeschichte ist trotzdem groß. Das gilt vor allem von den Angaben über die Reisestationen des Paulus auf seinen Missionsfahrten, wie sie in Apg. 13—21 enthalten sind. Es ist gar nicht von allen Orten etwas Besonderes zu erzählen; trotzdem werden auch bloße Durchgangsstationen genannt wie Amphipolis und Apollonia Apg. 17,1. Offenbar konnte der Verfasser eine Aufzeichnung benützen, die ein Reiseteilnehmer über die Reiseroute, vielleicht auch über die Missionserfolge zur Benutzung bei späteren Wiederholungen der Fahrt angefertigt hatte. Daß auf gewissen Strecken der Verfasser der Apostelgeschichte selbst es war, der diese Aufzeichnung besorgte, darauf könnte das „ w i r " deuten, das sich 16,10—17 und 20, 5—21,18 (später noch 27, 1—28,16) in der Darstellung findet. Man hat in diesem „wir" auch das Zeichen einer besonderen Quelle gesehen; aber zwischen dem Reisebericht mit „wir" und dem ohne „ w i r " ist weder im Stil noch in der Sache ein Unterschied zu spüren. Außerdem wird ja die ganze Apostelgeschichte auf einen Begleiter des Paulus, auf Lukas, zurückgeführt. Und mir scheint, daß diese Überlieferung keineswegs gering zu schätzen ist. Denn die Apostelgeschichte trat in literarischem Gewand auf; sie war, wie das Lukas-Evangelium, einem gewissen Theophilus gewidmet: sollte wirklich, wenn der Adressat der Widmung bekannt war, der Name dessen, von dem die Widmung ausging, verloren sein? Wir haben also damit zu rechnen, daß der Verfasser der Apostelgeschichte dem Paulus persönlich nahestand. Das
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bedeutet nun freilich nicht, daß alles, was er von Paulus berichtet, bis ins letzte genau ist, und erst recht nicht, daß Lukas Charakter und T h e o l o g i e des Apostels in ihrer Eigentümlichkeit verstanden und dies Verständnis in seiner Darstellung zum Ausdruck gebracht hat. Er wollte ja, wie sein Aufriß deutlich zeigt, gar keine Biographie des Apostels schreiben, sondern das Werden und Wachsen der Urkirche schildern, von ihrem Ursprung in Jerusalem bis zu ihrer Ausbreitung nach Rom. Paulus aber war für ihn der g r o ß e Missionar, der diesen Schicksalsweg des Christentums in vorbildlicher Weise gegangen war. Begrenzung und Betonung seines Stoffes ist unter diesem G e sichtspunkt zu verstehen. Auch war Paulus, als Lukas schrieb, schon zwei bis drei Jahrzehnte tot (Anspielungen auf diesen T o d Apg. 20, 22 ff. 3 8 ; 2 1 , 1 1 ) . Lukas suchte und sammelte Erzählungen aus der Wirksamkeit des Apostels, angefangen mit der Geschichte seiner Bekehrung, wie solche in den christlichen Gemeinden offenbar verbreitet waren. Und deren geschichtliche Zuverlässigkeit ist natürlich wie immer bei solchen Volkserzählungen im allgemeinen unbestimmbar, jedenfalls aber im einzelnen verschieden. J e weniger geläufige Motive des Volkserzählungsstiles sich finden, desto mehr ist von der geschichtlichen Zuverlässigkeit des betreffenden T e x t e s zu halten. Während also die Reiseangaben der Apostelgeschichte als geschichtlich völlig zuverlässig gelten dürfen, wird man diesen Geschichten nur in gewissem Grade einen wesentlichen W e r t für die Geschichte zuschreiben. Einen ganz geringen biographischen Wert aber haben die Reden des Paulus in der Apostelgeschichte. Ihre Bedeutung liegt auf anderem G e b i e t , auf demselben, auf das auch die Reden in den W e r k e n der Historiker (Xenophon, Thukydides, auch Josephus) abzielen. Sie alle wollen den Leser an gewissen Stellen zu bestimmten Überlegungen — allerdings sehr verschiedener Art — nötigen. In unserm Fall wollen z. B. die beiden Bekehrungspredigten Apg. 13 und 17 in der S y n a g o g e zu Antiochia und auf dem Areopag vor allem zwei Typen der urchristlichen Missionsrede darstellen — „ t y p i s c h " natürlich eher für das letzte Viertel des ersten Jahrhunderts, in dem Lukas schrieb, als für die Zeit 50/60 n. Chr., in der Paulus predigte. D i e Verteidigungsreden des Apostels aber, in Kap. 2 2 , 2 4 und 26 der Apostelgeschichte enthalten, dienen in erster Linie be-
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stimmten apologetischen Zwecken. Das ist nach der Gewohnheit der Historiker von damals zu vermuten und aus dem Inhalt der Reden zu erschließen. Wieweit Lukas irgendwelche schriftliche Kunde von tatsächlich gehaltenen Reden des Apostels besaß, und ob er hier etwa persönliche Eindrücke verarbeitet hat, ist schwer zu sagen. Er hat ja nicht einmal beabsichtigt, seinen Lesern den Stil der Paulusreden vorzuführen, obwohl er die Erfahrung wie die Kunst der Stilistik besaß. Wenn man die Petrusreden Apg. 2,3,10 mit der Paulusrede aus Kap. 13 vergleicht, sieht man, daß der Verfasser die Gleichheit des Typus hervorheben wollte, nicht aber die Unterschiede der Redner herausarbeiten. Es lag ihm mehr daran zu lehren, wie man predigen soll, als zu berichten, wie Petrus, wie Paulus gepredigt habe. So wenig also die Apostelgeschichte das leistet und leisten will, was wir heute von einer historischen Darstellung erwarten, so sehr wir auch ihr Paulusbild aus den Briefen des Apostels ergänzen und korrigieren müssen, so haben wir doch keinen Grund, dem Aufriß, den sie von dem missionarischen Wirken des Paulus gibt, zu mißtrauen. Der Verfasser besaß jene Reiseaufzeichnungen und — für gewisse Strecken — wahrscheinlich auch eigene Erinnerungen; seine Tendenz, wenn man von einer solchen sprechen will, war allein die, den Missionsweg des Paulus von Antiochia nach Rom als den gottgewollten Weg des Christentums von Syrien aus bis in die Mitte der heidnischen Welt hinzustellen. Diese Absicht hat ihn offenbar bestimmt, bei dem wichtigen Übergang von Kleinasien nach Mazedonien und Griechenland (16,6—10) alle näheren Umstände der Reise zu verschweigen und sich ausschließlich auf die Leitung durch den Geist zu berufen. Er hat auch die letzte Reise des Apostels durch Griechenland ganz summarisch behandelt, offenbar weil sie das Evangelium nicht weiter in die Welt hineinführte (20,1—6). Dagegen hat er die Reise des gefangenen Paulus nach Rom (27,1—28,16) in aller Breite und nicht ohne Anlehnung an literarische Vorbilder ausgearbeitet, weil diese Fahrt des Gefangenen den Siegeszug des Christus nach der Welthauptstadt bedeutete (obwohl es, wie er selbst berichtet, schon längst Christen in Rom gab). Wir haben aber keinen Grund zu der Annahme, daß etwa die beiden kleinasiatischen Reisen, die Lukas Kap. 13,14 und 15,36—16,10
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berichtet, doppelte Darstellungen derselben Fahrt seien — vor solchen Irrtümern war der Verfasser durch sein Material geschützt. Wohl aber bleibt es für unser „biographisches" Denken ein erheblicher Mangel, daß wir aus der Apostelgeschichte weder über die Jugend des Paulus noch über sein Ende etwas erfahren. Und diese Lücke unseres Wissens wird durch keinen außerbiblischen Bericht in befriedigender Weise geschlossen. Die älteste und wichtigste solcher Nachrichten außerhalb der Bibel steht in dem Schreiben der römischen Gemeinde aus den letzten Jahren des ersten Jahrhunderts, dem sogenannten ersten Clemensbrief (5,6. 7): danach hat Paulus siebenmal Fesseln getragen, mußte fliehen, wurde gesteinigt. Auf seiften Reisen sei er „bis zum äußersten Westen" vorge'drungen, vor den Regierenden habe er sein Zeugnis abgelegt, dann sei er „aus der Welt geschieden und zu dem heiligen Ort eingegangen, das gewaltigste Beispiel der Beharrlichkeit". Wieviel an wirklicher Kenntnis hinter diesen Worten liegt, wird noch zu untersuchen sein (s. S. 139 f.). Was in „apokrypher" Literatur über Paulus erzählt wird — Teile davon sind zu lesen bei Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, 2. Aufl. — muß als romanartige Dichtung gelten. Gerade über die Schrift, die unter dem Titel „Taten des Paulus" (Acta Pauli) umlief, wissen wir etwas mehr, seitdem ein (unvollständiger) griechischer Text dieser Acta (in der Hamburger Staats- und Universitäts-Bibliothek) 1936 veröffentlicht worden ist. Dort findet sich die Erzählung von dem Löwen, der Paulus in der Arena zu Ephesus überfallen soll, der sich aber, mit menschlicher Rede begabt, als alter Freund des Apostels bekennt, ja sogar als derjenige, den Paulus einst getauft hat! In diesen Paulus-Akten steht auch die längst vor dem jüngsten Fund bekannte Legende von der heiligen Thekla, die von Paulus für das Christentum gewonnen, aber von dem Statthalter zu Ikonium zum Feuertod verurteilt wird. Aber weder Feuer noch Löwen und Bären noch Robben vermögen ihr etwas anzuhaben. Die Abfassung dieser Legende setzt wohl schon die Anfänge der dann in der östlichen Kirche weitverbreiteten Thekla-Verehrung voraus. Daß Paulus in diesen Paulus-Akten ganz wesentlich das Gebot völliger geschlechtlicher Enthaltsamkeit vorträgt, ist trotz 1. Kor. 7 eine arge Verzeichnung. Daß er nach dieser Darstellung
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niemals wieder an dieselbe Missionsstation zurückkehrt, ist nach dem Zeugnis der Briefe (z. B. 2. Kor. 13,1) einfach ein Irrtum; und daß er die Reise nach Rom von Korinth aus als freier Mann, nicht als Gefangener, macht, ist angesichts des Berichts Apg. 27 unglaubwürdig. Überdies wissen wir durch den Kirchenvater Tertullian (2. Jahrh.), daß der Verfasser der Acta Pauli, ein unbekannter Presbyter in Kleinasien, selbst die Erfindung eingestanden und bekannt hat, er habe es „nur aus Liebe zu Paulus" getan. So bleiben wir für das Wirken des Paulus im wesentlichen auf die neutestamentlichen Zeugnisse angewiesen.
2. Welt und Umwelt Paulus gehört nach Abstammung und Erziehung drei verschiedenen Lebenskreisen an: sein römisches Bürgerrecht gibt ihm Ansehn und Stellung in dem großen Imperium der Römer, dem die Kultur des Hellenismus die geistige Einheit verleiht. Die Heimatstadt Tarsus wie die Missionsarbeit in Kleinasien, Mazedonien und Griechenland verbindet ihn von Jugend auf mit dieser Kultur. Aber da er in einer hellenistischen Judengemeinde aufwächst, ist er andererseits doch auch wieder in bestimmter Weise aus dieser Welt herausgehoben; denn das Diaspora-Judentum ist trotz aller Angleichung an die hellenistische Kultur doch ein Besonderes, von den andern bald verspottet, bald geachtet, von den einen gemieden, von den andern erstrebt, durch fremdartige Gebräuche berüchtigt, durch Gottesglauben und Sittenreinheit berühmt. Endlich ist Paulus durch seine Ausbildung in Jerusalem auch dem Schriftgelehrtentum Palästinas nahegetreten. Was diese Dreiheit — römischer Bürger, hellenistischer Jude, jerusalemischer Schriftgelehrter — bedeutet, haben wir nun zu betrachten. Tarsus, die Geburtsstadt des Paulus (Apg. 0,11; 21,39; 22,3) war der verkehrsreiche Mittelpunkt der kilikischen Ebene, durch Pässe über das Taurus- wie über das Amanus-Gebirge ebenso mit der hellenistischen Welt Kleinasiens wie mit der semitischen Syriens verbunden, weder Großstadt noch eigentlich Handelsstadt, aber vermöge seiner Verkehrsmhtler-Stellung angesehen und auch kulturell bedeutsam. Der Kirchenvater Hieronymus (um 400) gibt ein Gerücht wieder, nach dem die Eltern des Paulus in
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Oischala in Galiläa gewohnt hätten und infolge einer Eroberung der Stadt nach Tarsus überführt worden wären. Dann würde das Bekenntnis des Paulus, er sei „Hebräer von Hebräern" (Phil. 3, 5) bedeuten, daß die Familie erst neuerdings Diaspora-jüdisch geworden sei; dann würde der Vater des Paulus wohl Kriegsgefangener gewesen sein und vielleicht bei seiner Freilassung, wie es oft geschah, das römische Bürgerrecht erhalten haben, das Paulus nach Apg.22,28 bereits ererbt hat. Die Kultur des H e l l e n i s m u s , die auch für die ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit noch maßgebend war, ist durch Universalismus und Synkretismus, durch die Richtung auf Einheitlichkeit und auf Verbindung mit Fremdem, vor allem Orientalischem, bestimmt. Die Einheit der Sprache wurde geschaffen, indem das Griechische, die dialektischen Besonderheiten abstreifend, sich zur allen gemeinsamen (griechisch: Koine) Weltsprache ausgestaltete. Die Einheit der Mittelmeerwelt kam in einem System guter Verkehrsstraßen zum Ausdruck, das das Reisen auch dem geringen Mann, der im Staubmantel zu Fuß ging (Apg. 20,13; 2. Tim. 4,13), erleichterte. Das römische Imperium brachte zu dem allen noch die Vereinheitlichung der Macht hinzu sowie ein über die Volksrechte hinausgreifendes Recht; es gab nun auch Münzen-, Maß- und Gewichtseinheit, dazu steigerte sich der Verkehr innerhalb der immer weiter gesteckten Reichsgrenzen infolge der häufigen Truppenverschiebungen und Beamtenversetzungen. Was das alles für die Ausbreitung des christlichen Glaubens bedeutete, liegt auf der Hand. Man braucht wirklich nicht zu fragen, wie die römische Gemeinde entstanden sein könne. Kaufleute oder Sklaven im Gefolge eines Beamten können das Christentum schon in den dreißiger oder vierziger Jahren nach Rom gebracht haben; so ist es kein Wunder, daß es nach Ausweis des Römerbriefs Christen in der Hauptstadt gibt, noch bevor Paulus (und Petrus) sie betreten haben. Für die Vermischung der Religionen, den sogenannten Synkretismus, ist ein besonders frühes Zeugnis die infolge der Bedrohung durch Hannibal erfolgte Überführung des schwarzen Steins der kleinasiatischen Göttermutter Kybele aus Pessinus nach Rom, wo ihr Tempel auf dem Palatin 191 v. Chr. eingeweiht wurde. Hundert Jahre später beginnt der Einfluß fremder Gottheiten, vor allem der ägyptischen Isis und des persischen D i b e l i u s , Paulus.
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Mithras, im römischen Heer zu wachsen, das dann in den ersten christlichen Jahrhunderten dem stiertötenden Persergott im ganzen römischen Reich bis in die Donauländer und Südwestdeutschland seine Heiligtümer errichtet hat. In Griechenland war der orientalische Einfluß der in mancher Hinsicht gleichgerichteten spätgriechischen Entwicklung begegnet. Die stoische Philosophie, deren große Lehrer fast alle aus dem Osten stammten, hatte durch den Oedanken des Weltbürgertums und durch die Lehre von der das All durchwaltenden Weltvernunft, dem Logos, den Boden bereitet, auf dem sich dann eine Einbürgerung und philosophische Deutung fremder Gottheiten, der Isis, des Osiris, des ägyptischen Hermes Trismegistos (d. h. des ägyptischen Gottes Thot) und des Attis vollziehen konnte. Die Wiederbelebung gewisser Orakel, die Bevorzugung der geheimnisvollen unter den griechischen Göttern wie des Dionysos, die Ausbreitung der orphischen Sekte mit ihren Weihen und ihrem Jenseitsglauben schufen eine religiöse Romantik, die allen fremden Kulten, mochten sie auch von Barbaren stammen und barbarisches Aussehen haben (wie die Beschneidung der Juden, die Entmannung der Priester des Attis und der syrischen Göttin), geöffnet war, weil man in wilden und rohen Riten einen geheimnisvollen Hintersinn vermutete. All diese fremden Religionen kommen als Privatkulte in den Westen und tragen die Bezeichnung, mit der man auch die griechischen Sonderkulte der Demeter, des Dionysos, des Orpheus benannte: Mysterien. Man wurde nicht in sie hineingeboren, sondern meldete sich an und wurde, falls die Gottheit es genehmigte, eingeweiht, um dann, als „Myste" der betreffenden Gottheit ganz zugehörig, durch das Leben zu gehen. Man hatte nun am göttlichen Leben teil, wußte sich unter göttlichem Schutz und war aus dem Druck der Schicksalsmacht befreit. Von ihr hatte sich die hellenistische Menschheit in zunehmenden Maß bedroht gefühlt, seitdem sie die alten Bindungen in Stadtstaat, Staatskult und Standesordnung infolge der Ausweitung aller Verhältnisse verloren hatte. Der Einzelne fühlte sich von der blinden Schicksalsmacht umhergeworfen, bis ihn die Gottheit, der er sich als Myste übergab, mit einem neuen Dasein begnadigte. Die Mysterienweihe brachte also den Menschen — ohne Unterschied des Standes — einen neuen Adel, eine Erlösung von der Grausamkeit der Schicksalsmächte durch göttliche Gnade. Die fremden
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Kulte hätten nicht diese Anziehungskraft ausgeübt, hätte nicht weithin ein Erlösungsbedürfnis bestanden. Und auch hier begegnen sich wieder die beiden Welten, die westliche und die östliche. Die alt gewordene griechische Welt kennt dieses Bedürfnis nun auch, aber sie kennt es in vollem Umfang erst, seitdem ihre eigentlichen heimatlichen Zellen, die Stadtstaaten mit den ihnen eigenen Kulten, ihr Sonderdasein verloren hatten; die orientalischen Religionen dagegen sind mehr oder minder darauf aufgebaut, da der östliche Mensch ein anderes Verhältnis zur Gottheit hat. Steht doch der östliche Mensch der Gottheit immer mit dem Bewußtsein völliger Abhängigkeit und mit dem Wissen um die Verpflichtung zum Sklavendienst gegenüber, und nennt darum der östliche Mensch die Gottheit seinen „ H e r r n " (griech. „Kyrios"), während der Grieche und Römer bei aller Scheu vor dem Göttlichen den Göttern nie eine absolute Herrenstellung und dem Menschen nie die daraus sich ergebende restlose Abhängigkeit und Dienstverpflichtung zugeschrieben hat. Nicht immer ist freilich diese Verehrung der orientalischen Gottheiten in kultisch fest gefügten und dadurch deutlich abgegrenzten Mysteriengemeinden vor sich gegangen. Besonders bei den Gebildeten hatten sich viele der Mysteriengottheiten mit der ebenfalls aus dem Orient stammenden Offenbarungslehre der „Gnosis" (griech. „Erkenntnis") verbunden, und man deutete infolgedessen die alten Göttermythen um zu Offenbarungen über das Werden von Himmel und Erde, über die Geheimnisse von Seele und Geisterwelt, über das Schicksal nach dem Tode. Der orientalische Mythos vom „Urmenschen", der, aus dem Himmel gekommen, sich in die Materie verstrickt hatte, aber vom Himmel her mit seinem geistigen Ich wieder in die himmlische Welt gerettet worden war, bedeutete für viele nach Erlösung sich sehnende Menschen eine Erklärung für die eigene Gebundenheit in die irdische Welt und eine Hoffnung auf Erlösung in die himmlische Welt, zu der man durch mystische Versenkung oder Ekstase sich zu erheben versuchte. Da diese gnostische Spekulation sich mit den verschiedensten Religionen, auch mit der jüdischen Offenbarungsreligion, verbinden konnte, mußte Paulus früher oder später in seinen Gemeinden auf diese religiöse Weltanschauung stoßen und sich mit ihr auseinandersetzen (s. S. 124 ff.). 2*
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Als östliche Religion w a r auch das Judentum in die hellenistische Welt aufgenommen worden, und zwar ziemlich frühe. Seit dem Ende der babylonischen Gefangenschaft, die eine ansehnliche „Diaspora" in Babylon begründete, strömten Juden in die bewohnten Gegenden der Mittelmeerwelt, vor allem in die Städte. Denn es waren wesentlich nicht bäuerliche Kolonisten, die das Judentum in der Zerstreuung — das heißt „Diaspora" — begründeten, sondern Städter, die vor allem durch den aufblühenden Handel, dann aber auch durch Kriegsdienst und Deportation, etwa infolge von Kriegsgefangenschaft (s. S. 17), nach Ägypten, Syrien und Kleinasien, nach Griechenland und Italien, schließlich sogar nach Gallien und Spanien gelangten. Erst nach dem Exil, also um 500 v. Chr., beginnt die für das Weltjudentum so bezeichnende Lösung vom Boden und seiner Bewirtschaftung und, im Zusammenhang damit, die starke Beziehung zum Handel; erst dann beginnt die Lösung von der politischen Geschichte, die mit Ausnahme der kurzen Makkabäerzeit (2.—1. Jahrh. v. Chr.) durch den Verzicht auf eigene Staatlichkeit bedingt ist. Vor dem Exil waren Israel und Juda kleine Staaten mit Ackerbau treibender Bevölkerung gewesen, und das Handelsvolk waren die Phönizier; nun übernahmen die Diasporajuden deren Erbe. Sie lösten sich aber in noch stärkerer Weise von der Heimat: sie nahmen die allgemeine Sprache, das Koine-Griechisch, an, schufen sich in dieser Sprache ihre Bibel —• die sogenannte Septuaginta, weil sie der S a g e nach von 70 Übersetzern herrührte —, schufen sich auch eine eigene Literatur, die großenteils den Anspruch erhob, auch von Nichtjuden gelesen zu werden. Ja, seitdem 1932/33 die S y n a g o g e von Dura-Europos am Euphrat ausgegraben wurde, wissen wir, daß an vereinzelten Orten die Anpassung an die Sitten der Wirtsvölker bis zur Durchbrechung des alttestamentlichen Bilderverbotes ging. Man hat dort nämlich um 230 n. Chr. die S y n a g o g e an allen Wänden von unten bis oben mit Darstellungen alttestamentlicher Szenen geschmückt, die nicht nur ohne Scheu menschliche Gestalten abbilden, sondern auch vor gelegentlicher Einfügung nackter Menschen und heidnischer Götterfiguren (als Dekoration) nicht zurückschrecken. Der letzte Sinn dieser teilweise sehr eindrucksvollen und figurenreichen Darstellungen bleibt freilich die Verkündigung des heilschaffenden Handelns Got-
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tes mit seinem Volk in der Geschichte und am Ende der Tage. Das alles hatte denn auch den Erfolg, daß sich zahlreiche Nichtjuden in den jüdischen Gottesdiensten einfanden; die einen, um Gasthörer zu werden, die natürlich gewisse Reinheitsgebote beachten und den Sabbat halten mußten („Gottfürchtende" nennt sie die Apostelgeschichte 13,16. 26), die andern, um durch Übernahme der Beschneidung und des jüdischen Tauchbades Proselyten, d. h. vollberechtigte Glieder der jüdischen Gemeinde zu werden, die nun auch das ganze jüdische Gesetz zu halten hatten und durch Eheschließung mit Juden fest im Volke verwurzelten. Von einer Reinerhaltung der Rasse war also im Diasporajudentum keine Spur; was Esra und Nehemia in dieser Beziehung der Gemeinde zu Jerusalem geboten hatten, Trennung der gemischten Ehen, war vergessen, konnte vergessen werden, weil es diesen Juden auf die Religion, nicht auf die Rasse ankam. Paulus wäre wohl nicht der g r o ß e christliche Missionar geworden, hätte er nicht in diesem Judentum seine Heimat gehabt, hätte er nicht griechisch gelesen und geschrieben und die Septuaginta als seine Bibel besessen, wäre er nicht in der Anpassung an fremde Sitten geübt gewesen, und hätte er nicht den Blick gehabt für die große Welt der Landstraßen und Seewege, den Blick auch auf die großen Städte der Mittelmeerwelt. Aber auch den Blick auf J e r u s a l e m ! Für Paulus war das selbstverständlich, zumal wenn er aus einer ursprünglich palästinensischen Familie stammte. Aber auch die Masse der Juden in der Diaspora löste sich nicht völlig aus dem Zusammenhang mit Palästina und Jerusalem, der von dort aus durch Sendboten der religiösen Zentralbehörde, des Synedriums, aufrecht erhalten wurde. In Jerusalem stand der Tempel, der einzige Ort, an dem der Jude opfern durfte, mithin die einzige wirkliche Kultusstätte (im antiken Sinne) des Judentums. In Jerusalem aber hatte sich auch die Betätigung herausgebildet, die nach dem Exil das eigentliche Wesen der jüdischen Frömmigkeit ausmachte: Studium, Lehre und Erfüllung des Gesetzes. Das erste besorgten die Schriftgelehrten, das letzte alle frommen Juden, vor allem die, welche im besonderen Sinne fromm sein wollten, sich deshalb vom ungelehrten Volk absonderten und sich Abgesonderte, „ P h a r i s ä e r " , nannten. Zu dieser Gruppe hat Pau-
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lus — vielleicht auch schon sein Vater, s. Apg. 23^ 6 — gehört. Und man kann auch von diesem wesentlichen Bestandteil seines Lebens sagen, daß Paulus nicht der radikale Christ geworden wäre, der den Christusglauben von der Gesetzesreligion löste, wenn er nicht gewußt hätte, was Bindung an das Oesetz bedeutet, wenn er es nicht besser, tiefer und konsequenter gewußt hätte als die Jünger Jesu. Der strenge Jude im Sinn des Pharisäismus mußte die Bindung an das Gesetz als eine Totalverpflichtung empfinden: Jedermann, der sich beschneiden läßt, „ist verpflichtet, das ganze Gesetz auszuführen" (Gal. 5,3). Die ganze Tragik dieses Gedankens angesichts der Frage, ob denn der Mensch solches überhaupt vermöge, hat der durchschnittliche Pharisäer wohl nicht empfunden. Wenn er sich eingestehen mußte, daß manche gesetzliche Forderung unerfüllt blieb, manches Versagen unbewußt bleibe, so las er aus den alttestamentlichen Worten von Gottes Gnade Trost und Stärkung heraus (s. S. 31). Und das qualvolle Wissen um das Ungenügen den zahllosen Forderungen des Gesetzes gegenüber, wie wir es besonders eindrucksvoll in dem apokryphen 4. Esrabuch, aber auch bei manchen Rabbinen finden, wird doch auch da immer wieder übertönt von dem Glauben an die Zugehörigkeit zum Volke der Erwählung, dem die Verheißungen Gottes gelten, und das somit den Anspruch auf Gottes Gnade erheben darf. Als Christ freilich hat Paulus so geschrieben, als wenn er in seiner jüdischen Zeit diese Gedanken an Gottes Gnade nicht gekannt hätte; es mag immerhin sein, daß der Bekehrte die Konsequenzen der Gesetzesreligion schärfer und einseitiger gesehen hat, als er sie in seiner jüdischen Zeit wahrnehmen konnte. Überhaupt ist das Bild des palästinensischen Judentums vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. reicher, als man aus den Worten Jesu wider die Pharisäer und den Paulusbriefen erschließen kann. Erstlich gab es unter den Schriftgelehrten auch minder starre und minder konsequente Vertreter einer strengen Gesetzlichkeit. Solange sie sich für ihre Meinungen auf Bibelstellen berufen konnten, galten sie nicht als Ketzer; und bei der herrschenden Auslegungstechnik konnte man ja schließlich für alles Beweise aus dem heiligen Buche beibringen! Ketzerei war es nur, wenn man den Vorschriften des Gesetzes durch
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Handlungen widersprach (oder andere dazu verführte), also den Sabbat brach, Fleisch vom nicht geschächteten Tier aß, in heidnischen Häusern verkehrte, ohne sich nachher zu „reinigen", eines der 10 Gebote verletzte, ohne durch i r g e n d e i n e Auslegung geschützt zu sein: es ist ja in rein gesetzlichen Religionen immer so, daß das rituelle oder ethische Vergehen für schlimmer gilt als die abweichende dogmatische Lehre. Darum war auch die Spannung so scharf zwischen diesen Vertretern der strengen Gesetzlichkeit, den Pharisäern, und der ihnen in der Lehre grundsätzlich zustimmenden Masse des Volkes, die schon infolge ihrer täglichen Arbeitslast sich weder die nötige Gesetzeserkenntnis aneignen noch auch die Unzahl der alle Lebensgebiete umfassenden Gesetzesforderungen erfüllen konnte. Diesem „Volk des L a n d e s " (hebr. Am haarez), wie die Gesetzestrengen diese Mehrzahl des Volkes verächtlich nannten (s. Joh. 7 , 4 9 ) , hatten freilich J e s u s und seine Jünger angehört, und in diesen Kreisen der „ A r m e n " hatte die Frömmigkeit der Psalmen und Propheten weiter ihre Stätte gehabt. Und schließlich stand ja neben der Welt der Gesetzlichkeit noch die andere Welt des Tempelkults; hier war ein anderer Z u g a n g zu Gott vorhanden, und im antiken Sinn vielleicht der ehrwürdigere und gewissere. Die jüdische Frömmigkeit zur Zeit J e s u war eben nach zwei Seiten hin ausgerichtet: das eine war die Anbetung des heiligen Gottes, der seinen Namen an einem Ort auf Erden hatte wohnen lassen —, „ein Tempel des einen Gottes, allen gemeinsam, so wie Gott allen gemeinsam i s t " (so deutet es der jüdische Geschichtsschreiber Josephus, g e g e n Apion II, 193); das andere war d i e Unterstellung des ganzen Lebens unter das G e b o t : „ihr sollt mir heilig sein, denn ich bin h e i l i g " (3. Mose 20,26). Und galten die Anwälte der Gesetzlichkeit, die Pharisäer, dem Volk als die besonders Frommen, so wahrten doch auch die Mitglieder des Priesteradels, die sog. „ S a d d u z ä e r " , ihre Autorität, ebenso im Synedrium wie im Verhältnis zur römischen Besatzungsmacht, der J u d ä a und Samaria seit 6 n. Chr., seit der Absetzung des Herodessohnes Archelaos, unterstanden. In Galiläa und Peräa regierte unter römischer Oberhoheit noch der andere Herodessohn, Antip a s ; zuletzt hat dann ein Enkel des großen Herodes, Agrippa I., noch einmal für wenige Jahre (41—44) das ganze Palästina unter seiner — von den Römern ein-
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esetzten — Herrschaft vereinigt (vgl. Dibelius, Jesus, amml. Göschen 1130, S. 29). Doch waren für die innere Struktur des Judentums diese politischen Geschehnisse ohne Bedeutung. Dagegen ist für diese Betrachtung nicht zu übersehen die Existenz einiger Sondergruppen am Rande des Judentums. Die wichtigste ist der Orden der Essener, der geschlossen in Siedlungen oder auch in Städten nach eigenartigen Bräuchen lebte. Asketische, sittliche, ritualistische und kommunistische Vorschriften begründen seine Disziplin. Das Unjüdische daran scheinen nach unserer Kenntnis eine eigentümliche Verehrung der Sonne und ein heiliges Mahl aus besonderen Speisen zu sein, das von den Ordensbrüdern in heiliger Kleidung unter vollkommenem Schweigen eingenommen wird. Das deutet fast auf ein Sakrament oder eine mystische Begehung. Und wenn auch Paulus mit den Essenern nichts zu tun gehabt hat, so darf man doch im Hinblick auf seine christliche Frömmigkeit immerhin fragen, ob es in dem Judentum, in dem er groß wurde, etwas der Mystik Vergleichbares gegeben hat. Manche „mystische" Schriftdeutung, wie sie der größte Schriftsteller des Diaspora-Judentums, Philo von Alexandria, vorträgt, scheint darauf zu weisen. Aber wir wissen nicht, ob Philo dabei eine individuelle Anschauung vertritt oder ob er eine Gemeinde hinter sich hat. An sich ist das pharisäische Judentum der Mystik fremd; denn es hat es nicht nötig, im irrationalen Bereich die Vereinigung mit der Gottheit zu suchen, da ihm ein anderer, rationalerer Weg offensteht, der des Tuns. Aber es wäre doch möglich, daß irgendwo außerhalb des offiziellen Judentums sich eine besondere Bildung mystischer Frömmigkeit erhalten hätte, wie am Rande des Judentums z. B. auch Gruppen existierten, die Waschungen und ähnlichen Zeremonien eine gewisse Bedeutung einräumten, und wie es auch schon früh Verbindungen gnostischer Spekulationen mit gesetzlicher Frömmigkeit gegeben haben muß, auf die Paulus gelegentlich in seinen Gemeinden gestoßen ist. In die Nachbarschaft solcher Sekten gehört vermutlich die Bewegung Johannes des Täufers. Und mit ihr beginnt die Geschichte des Christentums.
3. Der Mensch Paulus Im ersten Jahrzehnt nach Jesu T o d befand sich das
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werdende Christentum noch in ungeklärter, weil unabgegrenzter Stellung. Es gab eine Gemeinde von Jesus-Anhängern in Jerusalem, wartend auf ihres Meisters glanzvolle Wiederkunft vom Himmel her, dabei dem Judentum enger verbunden, als der Meister selbst es gewesen war. Es gab daneben in Antiochia und an anderen Orten Christusgläubige, die in Jesus dem Christus die Vollendung der jüdischen Religion auf einer höheren Ebene erkannt hatten, die früher Diaspora-Juden gewesen waren und wie das DiasporaJudentum so erst recht jetzt als „Kirche" auch geborene Heiden in ihre Gemeinschaft aufnahmen. In diese merkwürdig zwiespältige Lage ist entscheidende Klärung und zukunftweisender Auftrieb durch einen Mann gekommen, durch Paulus. Paulus hat vor allen übrigen Aposteln Jesu dies voraus: daß er am Gesetz geschulter Pharisäer ist und darum ganz anders als jene imstande zu erfassen, welchen Gegensatz zur jüdischen Welt die Botschaft Jesu in sich barg. Vor den meisten Pharisäern aber hatte Paulus wiederum dies voraus, daß er aus dem griechischen Judentum kam und daher mehr wußte von der Welt, mehr verstand von ihrer Sprache und ihrem Denken als die Hüter des Gesetzes in Jerusalem. Beide Vorzüge bilden die Voraussetzung für die geschichtliche Leistung des Apostels Paulus: ohne den ersten wäre er nicht der große Prophet des Christusglaubens geworden, ohne den zweiten nicht der erfolgreiche Missionar. Die besondere Artung dieses Menschen muß man zunächst ins Auge fassen, wenn man jener Leistung nahe kommen will. In den schon erwähnten apokryphen „Taten des Paulus" findet sich eine Beschreibung des Apostels: „klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und gekrümmten Beinen, kräftig, mit zusammengewachsenen Augenbrauen und etwas hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; erschien er doch einmal zwar wie ein Mensch, dann wieder hatte er eines Engels Angesicht". Es wird sich aber schwerlich beweisen lassen, daß dies mehr ist als die Schilderung eines Juden,
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der in einer gewissen Verklärung angeschaut wird, wie sie dem Apostel, dem Helden des Buches, gebührt.
Damit stehen wir vor der heute bisweilen gestellten Frage, ob Paulus denn wirklich der Rasse nach J u d e gewesen sei. Mindestens hat er sich dafür gehalten: „aus dem Volk Israel, Hebräer von Hebräern" — so hat er sich (Phil. 3 , 5 ) genannt. Ebenso hat er die Juden als seine Stammesgenossen bezeichnet (Rom. 9 , 3 ) und hat sich als Glied dieses Volkes, und zwar des Stammes Benjamin, als Nachkomme Abrahams gewußt (Rom. 1 1 , 1 ) . Die einzige Spur, die möglicherweise zu einer anderen Auffassung berechtigen könnte, führt nach Gischala in Galiläa, von wo nach der schon besprochenen (s. S. 16 f.) Notiz des Kirchenvaters Hieronymus die Familie des Paulus ausgewandert ßein soll. Wenn diese Nachricht richtig wäre, dürfte man fragen, ob in dem stark überfremdeten Galiläa die rein jüdische Abkunft der Familie sicher vorausgesetzt werden könne. Mit einer Möglichkeit, daß die Familie des Paulus nicht rein jüdisch gewesen sei, muß also immerhin gerechnet werden; doch bedeutet diese Möglichkeit nicht, daß die rein jüdische Herkunft des Paulus ernsthaft in Zweifel gezogen werden müßte. Das allgemeine Interesse gehört der Frage nach der rassischen Herkunft bei Paulus aber nicht ebenso stark wie im Falle Jesu. Viele wünschen Jesus dem Zusammenhang mit dem Judentum zu entnehmen; sie glauben, nur auf diese Weise das Evangelium verstehen zu können. Die Botschaft des Paulus dagegen will man weithin gar nicht „retten", sondern eher aus unserer Welt beseitigen. Man glaubt, diese Botschaft als typisch jüdisch anprangern, nicht aber ihren Zusammenhang mit dem Judentum lösen zu sollen. Dieser Zusammenhang ist übrigens in jedem Fall vorhanden, auch wenn Paulus kein reinrassiger Jude gewesen sein sollte. Denn die Voraussetzungen seines Denkens sind jüdisch und nicht griechisch, nur eben — der Unterschied wurde bereits im zweiten Kapitel verdeutlicht —
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diasporajüdisch. Denn Paulus ist, wie schon betont wurde (s.S. 16), zu Tarsus in Kilikien geboren; und da der Vater das römische Bürgerrecht besaß (s. S. 17), darf man auf ein gewisses Ansehn der Familie in Tarsus schließen. Muß ferner zwar unsicher bleiben, ob schon der Vater des Paulus zur Pharisäer-Gemeinschaft der jüdischen Heimat in Beziehung stand (s. S. 22), so geht aus des Paulus Bildungsgang hervor, daß strenges, rechtgläubiges Judentum dem Knaben Saul oder Paulus bereits vererbt wurde. Saul oder Paulus — so haben wir ihn zu nennen; denn die sprichwörtlich gewordene Vermutung, er sei erst durch die Bekehrung aus einem Saulus ein Paulus geworden, stimmt nicht zur Apostelgeschichte, die ihn erst 13, 9, d. h. unmittelbar vor dem Einsetzen der Reise-Aufzeichnungen und wohl durch diese veranlaßt, Paulus zu nennen beginnt. Aber das geschieht wiederum zu früh, als daß die alte Vermutung gerechtfertigt würde, der Apostel habe sich nach dem von ihm dem Christentum gewonnenen Prokonsul Sergius Paulus von Zypern Paulus genannt — denn Sergius Paulus bekehrt sich erst 13,12. Nein, alles, was wir von jüdischer Namengebung wissen und aus der Formel, mit der der Name Paulus 13,9 eingeführt wird, erschließen können, legt die Annahme nahe, daß Paulus von Geburt an beide Namen getragen hat: Saul, den Namen des Königs, aus demselben Stamme Benjamin, dem der Apostel angehörte (Rom. 11,1), und Paulus, den wohl als klangverwandt empfundenen römischen Namen. Einen Synagogen-Namen und einen Welt-Namen zugleich zu tragen, war im Judentum jener Zeit und bis in die Gegenwart hinein gebräuchlich: ein Josua hieß Jason, ein Silas Silvanus, ein Johannes Markus. . Geboren ist Paulus vermutlich um den Beginn unserer Zeitrechnung. Im Philemonbrief, der zwischen 55 und 60 geschrieben ist, nennt er sich einen alten Mann (Phm. 9); nach den Begriffen von damals kann man aber jeden, der über 50 Jahre ist, so bezeichnen.
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Die Apostelgeschichte erwähnt Paulus zum ersten Mal bei der Steinigung des Stephanus (7,58) und spricht von ihm als einem jungen Mann; der Vorgang ppielt sich zwischen 30 und 35 ab, und die Bezeichnung läßt an einen mindestens 24 Jahre alten, vielleicht aber auch einen etwas älteren „jungen Mann" denken. Paulus wuchs in seiner Geburtsstadt Tarsus (s. S. 16) auf, und gewisse Elemente seiner Bildung zeigen, daß er an der hellenistischen Kultur seiner Heimat Anteil gehabt hatte. Hier ist vor allem seine Handhabung der griechischen Sprache zu nennen: es ist kein literarisches Griechisch, was er schreibt; aber dieser an sich vulgäre Stil seiner Briefe, von denen sich die gebildetere Redeweise der Paulusreden in der Apostelgeschichte merkbar abhebt, weist doch in Formen, Konstruktionen, Wortspielen, Antithesen und Bildern Kennzeichen einer „höheren" Sprache auf, wie wir sie vor allem aus der volkstümlichen Rhetorik der stoisch-kynischen Wanderprediger, etwa des ein Mcnschenalter nach Paulus wirkenden Epiktet, kennen. Dort, wo er sich nicht in schwierige Beweisführung und komplizierte Auslegungen verliert, ist des Paulus Sprache lebendig, unmittelbar zu Herzen gehend, von einer ursprünglichen Kraft, wie sie der Literatur seiner Zeit längst abhanden gekommen war. Auch der Gebrauch der griechischen Bibel in Zitaten, Anspielungen und Erinnerungen deutet auf einen Autor, der im Griechischen zu Hause ist. Der Einfluß philosophischer Lehren ist bei Paulus nur in kurzen Anspielungen (Rom. 1,19. 20; 2,14; Phil. 4,8) und im Gebrauch gewisser Begriffe (Gewissen, Natur, Pflicht) zu spüren. Man darf diese griechischen Bildungselemente überhaupt nicht überschätzen. Es fehlen bei Paulus Zitate aus der höheren Literatur; denn der eine ohne Zitationsformel eingeflochtene Vers aus Menanders Komödie „Thais" (1. Kor. 15, 33) kann zum Sprichwort geworden sein. Es ist eine völlig andere, „gebildetere" Art, in der die Apostelgeschichte ihren Paulus, vor
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allem auf dem Areopag, reden und zitieren läßt (17,28). Und wenn der wirkliche Paulus Bilder von Wettkämpfen braucht, wie namentlich 1. Kor. 9,25 bis 27, so müssen wir daraus noch nicht auf häufigen Besuch solcher Veranstaltungen schließen; denn diese wie die Bilder vom Heerwesen oder von Milch und fester Speise oder vom Leib ( l . K o r . 14,8; 3 , 2 ; 12, 12ff.) waren Gebrauchsgut der populären Philosophie. Deren Predigten aber konnte man auf den Straßen und Plätzen von Tarsus vernehmen, wie in den andern hellenistischen Städten. Und vielleicht brauchte der junge Jude nicht einmal stehen zu bleiben, um ihnen zu lauschen; gewiß hatte diese Art volkstümlicher Rhetorik auch auf die Beredsamkeit abgefärbt, wie sie in den griechisch sprechenden Synagogen-Versammlungen gepflegt wurde. So ist es wohl möglich, daß Saul-Paulus auch Griechisches durch Vermittlung des Judentums empfangen hat. Vor allem aber hat er jüdisches Erbgut übernommen: die zentrale Bedeutung des Glaubens an den heiligen und gerechten Gott und die Ausrichtung des Lebens und Denkens nach seinem Gesetz. Aber dies, was dem gesamten rechtgläubigen Judentum im Mutterland Palästina wie draußen in der „Zerstreuung" gemeinsam war, hat Paulus in Tarsus zunächst in einer hellenistischen Ausprägung empfangen; es ist ihm ja von der dortigen Synagoge auch zuerst in griechischer Sprache vermittelt worden. Mit diesem hellenistischen Erbteil hängt es zusammen, daß heutige Juden, die vom Rabbinismus herkommen, die Paulusbriefe als fremdartig und un jüdisch empfinden. In der Tat könnten weder die Spekulation von dem ersten und letzten Menschen 1. Kor. 15,45.46 noch die Deutung von Hagar und Sara auf das jüdische und das christliche Verhältnis zu Gott Gal. 4,22ff. im Talmud stehen. Andrerseits darf man bei dieser Art hellenistischen Judentums nicht an den typisch hellenistischen Exegeten des Alten Testaments, an Philo von Alexandria, denken.
Der Mensch Paulus 30 Auch wenn wir von allem absehen, was Paulus, (den Christen, von Philo trennt, bestehen hier große Unterschiede schon in der Wertung des Gesetzes. Der Alexandriner führt die gesetzlichen Vorschriften auf allgemein menschliche Gedanken zurück und deutet zugleich die Erzählungen der Genesis auf das mystische Leben der Einzelseele mit Gott, auch hier bemüht, den Bildungswert des Alten Testaments im Sinn der Philosophie zu erweisen; der Apostel dagegen liest aus ihm Gottes strenge Forderungen wie seine Offenbarungen vom Schicksal des Volkes Israel und der Menschheit heraus, zeigt sich also viel weniger bereit zu einer hellenisierenden Umdeutung des heiligen Buches. Das hängt zweifellos damit zusammen, daß Paulus im jüdischen Mutterland, in Jerusalem selbst, in der Gesetzeslehre geschult worden ist. Er ist nach Apg. 22,3 „erzogen 'in dieser Stadt, als Schüler Gamaliels genau nach dem väterlichen Gesetz unterwiesen". Das klingt fast, als wäre Paulus schon als.Kind nach Jerusalem gekommen; aber das wäre angesichts der hellenistischen Elemente in seinem Denken eine unwahrscheinliche Behauptung. Die Eltern mögen in Tarsus geblieben sein; Saulus-Paulus aber ist als junger Mensch nach Jerusalem gegangen, um dort zu studieren, d. h. eine rabbinische Ausbildung zu erhalten. Wenn die Familie wirklich aus Palästina eingewandert war, und wenn etwa nicht nur der SchwestersoTin (Apg. 23,16), sondern auch die Schwester des Paulus in Jerusalem lebte, ist diese Übersiedlung wohl begreiflich; daß es einen Pharisäer nach der Hauptstadt des Judentums zog, wäre aber auch ohnedies zu verstehen. Paulus nennt sich selber im Rückblick auf jene Zeit „tadellos gerecht im Sinn des Gesetzes" und berichtet: „im Eifer für die Satzungen der Väter brachte ich es weiter als viele Altersgenossen in meinem Volk" (Phil. 3,6; Gal. 1,14). Daraus darf man aber nicht ohne weiteres schließen, Paulus wäre ein voll ausgebildeter rabbinischer Gelehrter, ein ordinierter Richter, gewe-
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sen. Dagegen macht vor allem bedenklich, daß Paulus als Christ von der jüdischen Lehre ein einseitiges Bild entwirft. Die prophetische Gewalt seiner Verkündigung, die nur die Erhellung der ihm geschenkten Offenbarung zum Ziel hat, mag daran beteiligt sein, auch die Psychologie des Bekehrten, die ihn sein Leben vor der großen Wendung als e i n e n verhängnisvollen Irrweg sehen läßt. Aber diese beiden Gründe genügen nicht zur Erklärung. Wenn Paulus Gal. 5,3 jedem Juden die Aufgabe stellt, das ganze Gesetz unverbrüchlich zu halten, zugleich aber betont, daß kein Sterblicher durch Erfüllung des Gesetzes gerecht werde (Gal. 2,16; Rom. 3,20), so hat er die grundsätzliche Forderung der Gesetzesreligion in erschütternder Weise gekennzeichnet; aber ein korrekter Schüler der Rabbinen hätte sich daran erinnern müssen, daß deren Lehre auch der vergebenden Liebe einen gewissen Raum gab. Das Wort Gottes an Mose „wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig" (2. Mose 33,19) verstand ein rabbinischer Kommentar so, daß Gott zwar dem verdienten Mann nach seinem Verdienst gebe, dem Verdienstlosen aber seine Gnade umsonst schenke (Tanchuma ed. Buber Kitissa § 16, S. 116). Paulus dagegen hat aus demselben Wort die Kundmachung des absoluten Willens Gottes herausgehört, der frei wähle, wen er mit Frömmigkeit begnade und wen er verstocke (Rom. 9,15). Auch diese Anschauung von einer individuellen Gnadenwahl ist nicht korrekt jüdisch; die Rabbinen betrachteten als Objekt der Erwählung das „auserwählte" Volk, und die Zugehörigkeit zu ihm oder zu seinem frommen Kern — als solcher fühlten sich die Pharisäer — gab dem einzelnen die Bürgschaft des Heils. Daß auch die Art, wie Paulus das Alte Testament gebraucht, nicht immer die rabbinische ist, wurde schon an Beispielen gezeigt (s. S. 29). Zu den Gedarikenreihen, die bei einem durchschnittlichen Pharisäer auffallen würden, gehört auch die starke Hervorhebung der apokalyptischen Hoffnung.
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Sie wäre bei einem christlichen Apostel selbstverständlich; was aber bei Paulus auffällt, ist, daß er von dem Kommen des Messias Dinge aussagt, deren Kenntnis er nach unserm Wissen weder von der christlichen Gemeinde noch von rabbinischen Lehrern empfangen haben kann; die Kapitel l . K o r . 15,2. Thess. 2,1. Kor. 2, Kol. 1 bieten Beispiele davon. Es handelt sich hier teils um Elemente volkstümlichen Glaubens, teils aber auch um Spekulationen, wie sie im Diaspora-Judentum gepflegt wurden, und wie wir sie in gnostischen Schriften wiederfinden. Die Rabbinen dagegen haben keine geschlossene Eschatologie; sie behandeln einzelne Fragen aus diesem Gebiet in ihrer Weise, indem sie Zeitberechnungen und exegetische Einzelheiten damit verbinden — und das ist kein Wunder, denn in ihrem Reich der Gesetzesinterpretation und Gesetzeserfüllung gibt es keine wirkliche Gespanntheit auf die Zukunft, da alles Interesse der Gegenwart und ihren kleinen und großen Pflichten gehört. Auch unter diesem Gesichtspunkt darf man also bezweifeln, daß das Judentum, in das Paulus hineinwuchs, und das er sich mit leidenschaftlichem Eifer aneignete, das korrekt rabbinische war. Die gleiche Frage wäre im Blick auf die Gedanken zu erwägen, die man bei dem Christen Paulus als mystische oder gnostische bezeichnet, und die seiner Christusfrömmigkeit ihre eigentümliche Tönung geben — wüßten wir nur, ob Paulus auch schon als Jude mit solchen Gedanken und Empfindungen umgegangen ist. Man kann der Ansicht sein, daß es sich nur um eine Anlage des Menschen Paulus handle, die in seiner jüdischen Zeit nicht in Erscheinung getreten sei; man kann freilich auch auf das Vorkommen mystischer Gedanken im hellenistischen Judentum, besonders bei Philo, verweisen und annehmen, daß Paulus von derartigen Strömungen beeinflußt war. Dann wäre er auch in diesem Stück kein rabbinischer Jude gewesen. Denn Mystik gedeiht dort nicht, wo man keinen andern Dienst des ewigen Gottes kennt als die Erfüllung seiner Gebote.
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Um auch noch von einer biographisch wichtigen Folgerung der fraglichen Ansicht zu reden: ein rabbinischer Lehrer würde nach dem Talmud sich wahrscheinlich für verpflichtet gehalten haben, früh zu heiraten — und so hat man denn auch gelegentlich Paulus zum Witwer machen wollen, da er sich 1. Kor. 7 als unverheiratet gibt. Aber gerade dieses Kapitel zeigt in drastischer Weise die Verlegenheit, in der sich Paulus der Ehefrage gegenüber befindet: er soll als Eheloser und für Ehelosigkeit Begeisterter den Korinthern aus seelsorgerlichen Gründen zur Ehe raten. Man merkt seine inneren Hemmungen aus der Art, wie er zwischen Gebot und Erlaubnis, zwischen Wort des Herrn und seinem eigenen Rat unterscheidet, und wie er zum Schluß, ohne auf die sonst betonte apostolische Autorität zu pochen, seine Meinung mit dem bescheidenen Satze stützt: „und ich meine doch auch den Geist Gottes zu haben". Wem diese Frage solche Schwierigkeiten bereitet, der besitzt keine eigene Erfahrung von der Ehe: Paulus war Junggeselle, nicht Witwer.
So muß also die Darstellung der Apostelgeschichte 22,3, sofern sie Paulus zum korrekten Rabbinenschüler macht, als einseitig gelten, und wir haben keinen Anlaß, um dieses Verses willen anzunehmen, Paulus sei schon als Kind nach Jerusalem verbracht worden. Es haben eben erst, in Tarsus, hellenistisch-jüdische und dann, in Jerusalem, rabbinische Einflüsse auf Saul-Paulus gewirkt. Die Überlieferung, daß Paulus Schüler Gamaliels gewesen sei, muß deswegen nicht bestritten werden; nur zum ordinierten Richter braucht man ihn nicht zu machen, auch nicht im Zusammenhang mit dem Stephanusmartyrium und der Damaskusreise. In dem Oamaliel der Apostelgeschichte findet man gewöhnlich den im Talmud genannten „Rabban" Oamaliel I. wieder, doch dies ist aus chronologischen Gründen nicht ganz sicher. Gewiß ist aber, daß Paulus Pharisäer war und in der Gesetzeslehre geschult; gewiß ist, daß er dem pharisäischen Lebenskreise und dem Judentum überhaupt — trotz aller Einschränkungen, die hier zu machen waren — einen großen Teil seines geistigen Besitzes verdankt. D i b e 1 i u s , Paulus.
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Im pharisäischen Judentum w a r er ja auch schon in Tarsus aufgewachsen. Dazu gehört es auch, daß er ein Handwerk lernte. Apg. 18,3 wird dieses Handwerk mit einem W o r t bezeichnet, das „Zeltmacher" bedeutet, das aber die Schriftsteller der Alten Kirche als Lederarbeiter erklären. Paulus ist aber nach seiner sozialen Stellung nicht als Handarbeiter zu betrachten; der Jude, der sich dem Dienst des Gesetzes widmen wollte, lernte ein Handwerk um seiner Unabhängigkeit willen. Dem Juden Paulus war auch sonst manches in Anschauung und Sitte selbstverständlich, was später seine Gemeinden heidenchristlichen Ursprungs befremdet haben mag. Daß Juden auch als Christen nach jüdischem Brauch lebten, aßen, beteten, ist ihm, zumal in Palästina, nicht anstößig gewesen — sie durften sich nur nicht ein Verdienst vor Gott daraus machen und durften ihren Mitchristen nichtjüdischer Herkunft nicht dieselben Sitten auferlegen; nationale Bräuche durften bei Christen nicht wieder religiöse Leistungen werden! Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich vielleicht Handlungen, die aus seinem apostolischen Wirken berichtet werden, in ihrem Nebeneinander verstehen, obwohl die kritische Forschung ihre Unvereinbarkeit o f t behauptet hat. Paulus legt Gal. 2 , 3 W e r t auf die Feststellung, daß der Heidenchrist Titus, sein Begleiter auf der Reise zum Apostelkonvent, in Jerusalem nicht zur Beschneidung veranlaßt worden sei. Die Apostelgeschichte berichtet aber 16,3, daß Paulus den christlichen-Halbjuden Timotheus, als er sich ihn zum Missionsgehilfen wählte, habe beschneiden lassen, „in Rücksicht auf die Juden in jenen G e g e n d e n " (gemeint sind die kleinasiatischen Städte Lystra und Ikonium). Timotheus war eben halbjüdischer Herkunft und sollte bei der Missionsarbeit den Juden nicht als Abgefallener gelten. Des Titus Beschneidung in Jerusalem aber hätte das Geständnis eingeschlossen, daß der jüdische Ritus für Christen verbindlich, also verdienstlich sei. Man wird also beides aus der besonderen Stellung des Pau-
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lus geschichtlich verstehen können; dann liegt aber auch kein Grund zur Bestreitung vor, zumal eine Erfindung jener kurzen beziehungslosen Notiz über Timotheus schwer vorstellbar wäre; die Apostelgeschichte nimmt sonst keine besondere Notiz von Timotheus und erwähnt ihn nur mit andern zusammen. Auch die Nachricht desselben Buches 21,23—26, daß Paulus als Christ sich in irgendeiner Weise an der Gelübde-Absolvierung von vier Judenchristen im T e m pel zu Jerusalem beteiligt habe, kann trotz ihrer Bestreitung durch die Kritik vielleicht doch" als glaubwürdig gelten. Der christliche Apostel will zeigen, daß er dem Gesetz seiner Väter Achtung erweist und nicht etwa den Judenchristen auf dem Missionsfeld die Befolgung seiner Vorschriften verwehrt — wenn sie diese nur nicht f ü r ein Verdienst halten oder sie von den Heidenchristen verlangen. W e r will sagen, ob Paulus selbst sich in seinem persönlichen Leben nicht an das jüdische Gebetsritual hielt? Der Radikalismus seines Glaubens erwies sich auf anderm Gebiet, und man muß sich hüten, ihn „protestantisch" zu verzeichnen. In seinen Briefen hat er mindestens einmal jüdischen Brauch auch bei heidenchristlichen Gemeinden vorausgesetzt — und zwar, weil er in allen christlichen Gemeinden galt: als er den Frauen zu Korinth untersagte, in der prophetischen Ekstase oder beim freien Gebet (das dann wohl als inspiriert galt) das Kopftuch, das ihr Haar bedeckte, herunter zu reißen (1. Kor. 11, 2—16). Und wenn wir den T e x t recht verstehen, hat er die Kopftuch-Sitte so begründet, wie er sie als jüdischer Knabe erklärt bekommen hat: wenn die Frau, das schwächere Geschlecht, selbständig ins Überirdische vordringt, muß sie sich der Engel erwehren, die auf sie eindringen oder sie hemmen. Das tut sie mit dem Kopftuch, das bannende Kraft besitzt und somit eine „ M a c h t " auf ihrem Haupte darstellt. Wir können uns diese Vorstellungen nur aus religionsgeschichtlichen Parallelen lebendig machen, die es 3*
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gibt; für Paulus aber waren sie lebendig, weil er in der Lebenswelt einer antiken Religion groß geworden war. Doch das alles sind schließlich Kleinigkeiten im Verhältnis zu dem, was er im Judentum hauptsächlich gelernt hat, so gründlich gelernt hat, daß er wie keiner vor ihm seine Unvereinbarkeit mit dem Christusglauben erkannt hat: es ist die Begründung des Heils auf das Oesetz und die daraus folgende Konzentration des gesamten Lebens auf das Gesetz. Er würde nie mit solcher Radikalität Christus verkündigt haben, wenn er nicht erst mit solchem Ernst Jude gewesen wäre. Und eines ist ihm auch als Christ unantastbar geblieben: die Überzeugung von dem göttlichen Ursprung des Gesetzes. Das ganze Alte Testament blieb auch dem Christen Paulus das Buch der Offenbarung, das die einzig zutreffende Kunde von Gott vermittelte — mochten auch seine Vorschriften dem Menschen infolge der Infektion durch die „Sünde" Unheil statt Heil gebracht haben. Darum gilt es für Paulus den Christen, dies Buch zu verstehen, womöglich besser zu verstehen, als die Juden es verstanden. Aber wenn er sich nun in Einzelheiten vertieft, ist es ihm natürlich, auch gegen die Juden die exegetische Technik anzuwenden, die er bei den Juden gelernt hatte. So finden wir in seinen Briefen einige der Regeln angewandt, die wir aus dem rabbinischen Schrifttum als Auslegungsregeln kennen: den Schluß vom Schweren aufs Leichte, allerlei Arten von Zitatenkombinationen, die Ergänzung eines Satzes durch die Verneinung des Gegenteils usw. Damit ist auch jener merkwürdige Denkstil gegeben, der auf Assoziationen und Kontrasten beruht und oft von einem Zitat zum andern führt. Wenn Paulus „Leben" sagt, denkt er sofort „nicht T o d " , vom Fleisch kommt er mit diesem Konstrastdenken zum Geist, vom geistlichen zum natürlichen Menschen usw. Diese Dinge befremden jeden, der etwa vom Schrifttum der antiken Philosophie zu Paulus
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kommt; wer aber die Paulusbriefe mit dem Talmud vergleicht, wird erkennen, daß Paulus von der Beweistechnik seiner rabbinischen Schule einen sehr gemäßigten Gebrauch gemacht hat. Von ganz anderen, hellenistisch anmutenden Elementen seiner Auslegungstechnik war bereits die Rede (s. S. 29). Das Denken des Paulus ist uns aber überhaupt fremd. Er will ja seinen Lesern oft Dinge b e w e i s e n , die ihm persönlich schon im Zusammenhang seines Christusglaubens gewiß geworden sind. Diesem Ziel strebt er dann von seinem Ausgangspunkt mit Leidenschaft zu, ohne nach rechts und links zu sehen; er zieht keine Folgerungen f ü r andere Gedankengänge; er ist Gelegenheitsdenker, nicht Systematiker. Hier hat sich offenbar jüdisches Erbgut mit einer wesentlichen Anlage seiner leidenschaftlichen Seele verbunden. Ebenso wird man die Tatsache beurteilen dürfen, daß diesem ersten theologischen Denker des Christentums die Werke der griechischen Philosophie, die später so großen Einfluß auf die christliche Theologie g e w a n nen, im Ganzen fremd geblieben sind. Und fremd blieb ihm auch das andere Gebiet, auf dem die Griechen durch Schöpfungen höchsten Ranges die Welt bereichert haben: die bildende Kunst. Es war jüdische Erziehung zur Bilderfeindschaft, es war jüdische Strenge monotheistischen Denkens, was ihn an diesen Werken teilnahmslos vorbeigehen oder aber in ihnen nur Götzendienst sehen ließ, wie es Apg. 17,16 aus Athen berichtet wird. W e r sich in Paulus einfühlen will, m u ß sich auch dies gegenwärtig halten, daß er zur Kunst, auch zur Dichtkunst, keinen Z u g a n g hat. Und wenn manche Abschnitte in seinen Briefen künstlerisch wirken, so ist die unbewußte Gestaltungskunst des Predigers, dem es „ernst ist, was zu sagen", in Verbindung mit Schulung durch die hellenistische Beredsamkeit die Ursache. Auch bei seinem Stil mögen seelische Anlagen nicht unbeteiligt sein, etwa die leidenschaftliche Einseitig-
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keit, mit der Paulus erst die Verfolgung der Christen, dann die Gewinnung des Heils durch Christus erstrebte. Das Verständnis seines Charakters ist nicht leicht, obwohl wir ja durch die Briefe einen Einblick in sein Inneres erhalten, wie er uns bei nicht vielen antiken Persönlichkeiten möglich ist. Manches, was wir dabei wahrnehmen, ist erst aus dem Bekehrungserlebnis zu erklären. Aber wenn man in Korinth von ihm sagt, nur die Briefe klängen nach Stärke, sein persönliches Auftreten aber sei eindruckslos (2. Kor. 10,1.10), wenn man sich beklagt, daß auf seine Reisepläne kein Verlaß sei (2. Kor. 1,13—2,1), wenn wir selber erleben, wie schnell er von hartem Tadel zur Versöhnung umlenkt (2. Kor. 1,5—11), und wie Selbstbewußtsein und Selbstverkleinerung abwechseln (beide Korinther briefe, aber auch Rom. 15,14—19), so gewinnen wir den Eindruck, daß im Charakter des Paulus Strenge und Weichheit, Höhen und Tiefen dicht beieinander liegen. Ziehen wir dazu die fast ständige Bewegtheit seiner Aussprache, die Erregtheit seines „emotionalen" Denkens in Betracht, so stellt sich uns von selbst die Frage, ob dies alles nicht auf eine äußerst empfindliche nervöse Konstitution zurückzuführen sei. Sie würde sich stellen, auch wenn Paulus nicht selbst andeutete, daß er mit einer chronischen Belastung durch Krankheit zu kämpfen habe. Denn auf eine Krankheit muß man die W o r t e 2. Kor. 12,7 beziehen: „und damit ich mich nicht überhebe ob der Fülle der Gesichte, ward mir ein Stachel verliehen für meinen Körper; ein Satansengel soll mich schlagen". Man wird bei dem einen Bild an ein immerwährendes, also chronisches Leiden denken, bei dem zweiten an bestimmte, von Zeit zu Zeit einsetzende Anfälle. Die zweite Stelle, an der Paulus von seiner Krankheit spricht, findet sich Gal. 4,13—15: „ihr wißt, das erste Mal predigte ich euch, während mein Körper krank war, und ihr habt die Versuchung, die für euch in meinem körperlichen Zustand lag, nicht
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abgewiesen noch davor ausgespuckt, sondern habt mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, ja wie Jesus Christus selbst . . . ich kann euch ja bezeugen, daß ihr euch womöglich die Augen ausgerissen hättet, um sie mir zu g e b e n " . Die letzten W o r t e sind doch wohl ein Bild und nicht eine Andeutung über die Art der Krankheit (man hat an Augenmigräne gedacht). Eine Andeutung aber liegt vielleicht in dem W o r t e „ausspucken". Das Spucken ist im Altertum und auch heute noch im Volksglauben ein „apotropäischer" Ritus, mit dem man sich vor Geistern schützt, und auf böse Geister führte antiker Volksglaube schließlich jede Krankheit zurück. Aber es war doch vor allem e i n Leiden, vor dem man ausspuckte, und das deswegen geradezu „die Krankheit, vor der man spuckt" genannt w u r d e : die Epilepsie. Früher hat man alle Arten Krämpfe auf Epilepsie zurückgeführt und dementsprechend nicht nur M o h a m m e d und Dostojewski, sondern auch Caesar, Peter den Großen j n d Napoleon zu den „großen Epileptikern der Weltgeschichte" gezählt. Die medizinische Beurteilung von Krampfanfällen hat aber in der neuesten Forschung eine Auflockerung erfahren, vor allem durch die kritische Frage, ob es sich um eine wirkliche Krankheit — also um einen fortschreitenden Prozeß — handelt oder um einen Symptomkomplex, eine Reihe von einzelnen Anfällen auf Grund körperlicher Bereitschaft dazu („iktaffine Diathese"). Für Paulus kommt, soviel wir urteilen können, nur das letzte in Betracht; er litt also wahrscheinlich an gelegentlich auftretenden Krampfanfällen, die seine Leistungsfähigkeit im allgemeinen nicht beeinträchtigten. Denn der Mann, der mit 50 und 60 Jahren diese Briefe schrieb, leidet nicht an einem fortschreitenden und seinen Geist schwächenden Krankheitsprozeß, und wer in diesem Alter noch diese Reisen — oft, wenn nicht immer, zu Fuß (Apg. 20,13) — unternimmt, ist kein Epileptiker (und im Blick auf die Leistung des Apostels hat man ja der
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Diagnose Epilepsie oft widersprochen). Überhaupt soll man sich hüten, überall im Leben des Paulus Spuren dieser Krankheit wahrzunehmen; seine geistige Persönlichkeit ist intakt geblieben. Er selbst hat die Krankheit als schwere Belastung seines Lebens empfunden und sich erst nach einer Christus-Offenbarung darein ergeben (2. Kor. 12,9). Ihm scheint die ständige Bedrohung ein Gegengewicht zu sein gegen die Fülle der Offenbarungen, die ihm zuteil geworden ist. Wir aber dürfen trotzdem fragen, ob nicht gerade ein Zusammenhang besteht zwischen der visionären Veranlagung, die Paulus zweifellos besessen hat, und jener labilen Konstitution, mit der die Anfälle zusammenhängen. Ob das Bekehrungserlebnis mit einem Anfall verbunden, ob die Hemmungen, die Paulus beim Reden empfunden hat (2. Kor. 11,6), krankhafter Art waren, ob jene Niederlage vor den Gegnern zu Korinth, von der wir noch hören werden (s. S. 125f.), durch einen Anfall bedingt war, hat man gefragt und kann man fragen. Aber man darf den Inhalt der Bekehrung nicht ins Pathologische verflüchtigen und darf die Leidenschaft, mit der Paulus den Kampf zu Korinth führt, nicht mit einer medizinischen Diagnose verharmlosen. Denn hier sind aridere Seiten seiner Persönlichkeit im Spiel: seine Sache und sein Charakter. Von der Leidenschaft dieses Charakters und von der Bewegtheit seines Denkens war schon die Rede, auch von dem Nebeneinander von Hoch und Tief in Stimmung und Selbsteinschätzung. Der Größe seiner Leidenschaft entspricht die offenbar angeborene Aktivität: als Jude wie als Christ muß er werben und um das Geworbene kämpfen. Daß manche seiner Briefe zu wahren Konfessionen werden, gehört dazu: er muß sich aussprechen, seiner Erkenntnis Anhänger gewinnen und Gegner — auch nur mögliche Gegner wie im Römerbrief — abwehren. Eine Folge dieser Aktivität ist offenbar die schnelle Reaktionsfähigkeit, die sein Verhalten nach der Bekehrung zeigt, und die er bei
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Korinthern und Galatern so schmerzlich vermißt: ich an eurer Stelle hätte längst gehandelt! (l.Kor. 5,3; Gal. 3,1—5; 5,2—12). Daraus entsteht die für den Missionar so wichtige Fähigkeit., sich anzupassen: „ich weiß mich zu ducken, ich weiß mich zu recken" (Phil. 4,12). Daraus ergibt sich aber auch ein schneller Wechsel von Empfindungen, die bei Paulus nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander geordnet sind: er begreift, wenigstens als Christ, sich selber als Träger besonderer Gnade Gottes, zugleich aber auch als den geringsten der Apostel (1. Kor. 15,9.10). Aber hie»- ist wohl erst von dem Christen Paulus, der grundsätzlich Bürger zweier Welten ist, manches erkannt und bejaht worden, was in seiner eigenen Natur schon vorgebildet war; daß die Begnadung mit Gottes Geist den Menschen nahezu zerreißen kann, den schwachen Menschen und den Träger des Geistes — „als die Sterbenden, und siehe, wir leben" (2. Kor. 6,9) —, das hat Paulus so stark betont, daß wir merken, wie dualistisch er angelegt ist. Was ihm gänzlich abgeht, ist der Drang, die Welt und sich selber als organische Einheit zu verstehen; das Bild vom Leib und den Gliedern, das die antike Literatur häufig von dieser Einheit gebraucht, hat auch Paulus angewandt, aber — auf die Gemeinde! Seinem Wesen fehlt Einheit, Ausgeglichenheit, Harmonie, und somit seinem Denken formal jede Systematik, inhaltlich jeglicher Humanismus. So war Saul-Paulus, so wurde er aus Anlage und Erziehung, in Tarsus und Jerusalem: ein junger Jude, im Gesetz geschult, aber mehr wissend und weiter blikkend als der durchschnittliche werdende Rabbi, Pharisäer, aber auch römischer Bürger, leidenschaftlich dem Dienst Gottes und seines Gesetzes ergeben, zu Werbung und Verteidigung bereit — es wäre befremdlich, wenn ein solcher der aus anderen sozialen Regionen aufsteigenden christlichen Bewegung mit vorsichtig wägender Neutralität gegenüber gestanden hätte, wie es vielleicht sein Lehrer Gamaliel tat (Apg. 5,34). Pau-
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Ius mußte Stellung nehmen; er tat es und wurde zum Christenverfolger. 4. Die Wendung zu Christus Paulus gehört zu den Menschen, deren Leben durch ein einziges Ereignis in zwei Hälften zerrissen worden ist. Man redet von seiner Bekehrung, darf sich dabei aber nicht von falschen, mit dem W o r t verbundenen Vorstellungen beeinflussen lassen. Paulus ist nicht wie einer, der auf der Bußbank der Heilsarmee kniet, von einem Leben der Sünde zu einem Leben der Gerechtigkeit „bekehrt" worden; eher dürfte man sagen, er habe sich von einer Religion der Gerechtigkeit zu einer Religion des Sünders gewendet. Er ward auch nicht von einem falschen Gott zu dem einen wahren Gott „bekehrt", sondern von einer falschen Weise, Gott zu verehren, zur rechten, nämlich von der Christenverfolgung im Namen Gottes zum Christusdienst zu Ehren desselben Gottes. Lukas hat in seine Apostelgeschichte das Martyrium des ersten christlichen Blutzeugen, Stephanus, aufgenommen. Die Gemeinde hatte den Bericht bewahrt, Lukas hat ihn mit einer großen Rede ausgeschmückt und hat am Schluß ein paar Bemerkungen eingefügt, die den Einzelvorgang mit der H a u p t h a n d l u n g verbinden sollen. Hier lesen wir, daß Saulus bei der Steinig u n g des Stephanus zugegen gewesen sei und sie als gerecht befunden habe (7,58; 8,1). Daran anknüpfend hat Lukas die Erzählung von der Bekehrung dieses Saul-Paulus mit der Nachricht eingeleitet, Saulus habe sich vom Hohepriester eine briefliche Vollmacht an die Synagogen zu Damaskus geben lassen, die ihn berechtigte, auch dort eine Christenverfolgung ins „Werk zu setzen" (9,1). Ähnliches hatte Paulus schon in Jerusalem und Judäa getan (26,10.11); warum er jetzt gerade nach Damaskus geht, wissen wir nicht; vielleicht hat er Beziehungen zur dortigen Judenschaft, oder die Christen, die noch innerhalb des Synagogen-
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Verbandes stehen, bilden dort eine besonders ernsthafte Gefahr. Dies alles wird durch Paulus selbst im wesentlichen bestätigt: er hat die G e m e i n d e Gottes verfolgt ( l . K o r . 1 5 , 9 ; Phil. 3 , 6 ) ; er w a r ein b e s o n d e r e r Eiferer f ü r die väterlichen Überlieferungen (Gal. 1,14). Richter brauchte er d e s w e g e n n o c h nicht zu sein; Apg. 26,10, w o Luthers Übersetzung von Urteilsspruch redet, ist nur g e m e i n t : „ w e n n sie getötet w u r d e n , stimmte ich z u " . Die kritischen Einwände, die man g e g e n diese Nachrichten erhoben hat, haben nicht viel Gewicht. M a n hat gemeint, der Satz des Galaterbriefs „ich w a r den judäischen C h r i s t e n g e m e i n d e n u n b e k a n n t " (1,22) schließe eine C h r i s t e n v e r f o l g u n g durch Paulus in Judäa aus. Aber es ist eine naive Vorstellung, die a n nimmt, die O p f e r der V e r f o l g u n g hätten den, der sie betrieb, persönlich kennen m ü s s e n . M a n hat auch o h n e zureichenden G r u n d bezweifelt, d a ß der Hohepriester dem Saulus solche Vollmachten g e b e n konnte; H o h e priester u n d Synedrium hatten zwar in Damaskus nicht Recht zu sprechen, wohl aber konnten sie als geistliche Zentralbehörde ihren Einfluß a u s ü b e n u n d g e r a d e zur Entfesselung einer V o l k s b e w e g u n g innerhalb einer auswärtigen J u d e n g e m e i n d e sich eines nicht beamteten Sendlings bedienen. So steht jenseits aller kritischen Bedenken das Bild deutlich vor unserm A u g e : SaulPaulus, Rabbinenschüler u n d zugleich mit den Verhältnissen der Diaspora vertraut, leidenschaftlichen G e müts, aber alle Leidenschaft in den Eifer um die heilige Sache z u s a m m e n d r ä n g e n d , wird in die Christenv e r f o l g u n g zu Jerusalem hineingerissen und bis zu Grausamkeiten getrieben (Apg. 2 6 , 1 0 . 1 1 ) — die G e schichte der Religionsverfolgungen w e i ß auch sonst von solchem Fanatismus g e r a d e bei religiös b e w e g t e n Charakteren Beispiele zu berichten. Unter Sauls f ü h render Beteiligung greift die V e r f o l g u n g über Jerusalem hinaus, u n d nun übernimmt er selbst die Initiative und reist mit einigen Begleitern nach Damaskus, das
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heiliggrausame Werk dort fortzusetzen. Unterwegs, dem Ziel schon nahe, erlebt er das, was man seine Bekehrung zu nennen pflegt. Eine von himmlischem Licht umstrahlte Erscheinung eben des Jesus von Nazareth, dessen Gemeinde er verfolgt, gebietet ihm Halt; eine Tage währende Blindheit zeigt ihm nach antikem Glauben, daß seine Augen Göttliches geschaut haben. Ob und inwieweit seine Krankheit beteiligt war, können wir nicht ermessen; ihm bedeutet der Vorgang nicht eine Niederlage des Körpers, sondern eine Überwindung des Menschen Paulus durch Jesus den Christus. Die alte Geschichte Apg. 9, der gegenüber die beiden andern Berichte in den Reden Kap. 22 und 26 nur rhetorische, „gebildete" Ausformungen sind, erzählt im Legendenstil zu Ende: ein frommer Judenchrist in Damaskus, Ananias, sei durch eine Vision aufgefordert worden, zu Saul aus Tarsus zu gehen, der ibei Judas in der „geraden Straße" (heute Darb-el-Mostairim) wohne. Ananias, der sich zunächst aus Furcht vor dem Christenverfolger sträubte, gehorcht schließlich und heilt Paulus von seiner Blindheit. Die Folge ist nicht nur die Taufe des Paulus und seine Aufnahme in die Christengemeinde von Damaskus, sondern auch sein selbständiges Auftreten als christlicher Prediger. Die Apostelgeschichte läßt ihn alsbald nach seiner Bekehrung mit der Predigt in Damaskus beginnen; im Galaterbrief berichtet Paulus von jener Zeit ausführlicher: „als es ihm gefiel, der mich von Mutterleib ,an erwählt und durch seine Gnade berufen hat, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn der Heidenwelt verkündige, habe ich keine Menschenseele um Rat gefragt, bin auch nicht nach Jerusalem hinaufgegangen zu denen, die vor mir Apostel waren; nein, ich ging nach Arabia und kehrte von dort wieder nach Damaskus zurück" (Gal. 1,15—17). Da es gleich darauf heißt, daß die Christen in Judäa Gott priesen, der aus dem Verfolger einen Prediger gemacht habe, hat
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auch nach diesem Selbstzeugnis Paulus bald nach seiner Bekehrung mit christlicher Missionsarbeit begonnen. Mit Arabia ist nicht die Wüste gemeint — als hätte Paulus durch ein Einsiedlerdasein sich auf seinen Beruf vorbereiten wollen —, sondern das von Damaskus aus viel selbstverständlichere Nabatäerreich Arabia. Vielleicht hat er auch dort schon missioniert, jedenfalls aber in Damaskus. Es ist eine Entwicklung von staunenswerter Schnelligkeit, wenn es überhaupt eine „Entwicklung" ist. Es scheint, als seien die Elemente, aus denen der christliche Missionar gebildet wird, schon in dem Christenverfolger verborgen gewesen, und als habe die Christuserscheinung den Umsturz bewirkt, der sie hervortreten ließ. Kein Wunder, daß die Judenschaft über den Abfall Sauls entrüstet ist; kein Wunder, daß sie ihn beseitigen will; kein Wunder endlich, daß sie es in der fremden heidnischen Stadt mit einem Handstreich versucht. Die Apostelgeschichte hat 9,24.25 nur die Schluß-Szene erhalten, die Flucht des Saulus über die Stadtmauer, da die Juden die Tore bewachen lassen. Der Apostel selbst schildert ausführlicher 2. Kor. 11,32: der Ethnarch des nabatäischen Königs Aretas, also ein Beduinenscheich, habe die Stadt Damaskus (d.h. wohl die Tore) bewachen lassen, und so habe Paulus nur fliehen können, indem er in einem Korb über die Stadtmauer heruntergelassen wofden sei. Will man nicht die schwierige Voraussetzung machen, Aretas habe in Damaskus etwas zu sagen gehabt, so wird man beiden Darstellungen am besten durch die Annahme gerecht, die Juden hätten den Beduinenscheich gedungen, dem Saulus beim Passieren irgendeines Tores aufzulauern und ihn dann bei Gelegenheit zu überfallen. Aber das Erstaunlichste an dem Werden des christlichen Apostels: er wächst gleich über alles, was christlicher Prediger heißt, hinaus durch die Freiheit und Grundsätzlichkeit, mit der er seine Botschaft zu den
Die Wendung zu Christus 46 Nichtjuden bringt. Daß er das von Anfang an getan hat, ist keine bloße Vermutung; er selbst bindet in den angeführten Worten des Oalaterbriefs Bekehrung und Heidenmission zusammen. Und als er die klassischen Erscheinungen des Auferstandenen anführt — durchaus nicht alle, von denen man wußte —, wagt er es, den Ostererlebnissen der Apostel auch' seine Vision bei Damaskus anzufügen (1. Kor. 15,8), aber als letzte, offenbar abschließende: denn in der ihm gewordenen Erscheinung sieht er den Willen Gottes zur Heidenmission der christlichen Gemeinde geoffenbart. Die Hypothese einer zweiten Bekehrung des Paulus — vom Judenmissionar zum Heidenmissionar — hat sich nicht halten lassen. Zu deutlich redet Paulus selbst von e i n e r radikalen Umkehr (Phil. 3,7—11). Er hat, Wochen oder Monate nach jenem Ereignis, bereits mit der Heidenmission begonnen, der entscheidende Antrieb dazu muß in dem Bekehrungserlebnis gelegen haben. Wollen wir dies verstehen, so müssen wir zunächst fragen, w a r u m Paulus die Christen leidenschaftlich v e r f o l g t e . Denn auf, mit und wegen dieser Verfolgung ist er zusammengebrochen. Er ist nicht zuerst irre geworden an der Religion des Gesetzes, der Leistung; man darf nicht Luthers klösterlichen Seelenkampf in ihn hineindichten; irre geworden ist er vielmehr an dem Unrecht der Christen. Worin vornehmlich hat er es gesehen, was hat den Juden Saulus an den Christen empört und zur Verfolgung gereizt? Wir können nur feststellen, worin er später, als Christ, den einen frommen Juden empörenden und aufreizenden Charakter des Christentums gesehen hat, sicher von der Erinnerung an vergangene eigene Empfindungen geleitet. Der Glaube der Christen, daß der Messias überhaupt erschienen sei, war es nicht, was den Anstoß gab; denn darüber hätte man diskutieren können. Sondern es war der Anspruch, daß ihnen, den Christen, der Messias von Gott gesandt sei — also
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Leuten, die zum Teil ganz am Rande des gesetzesfrommen Kreises standen, zum Teil als „Am haarez" (s. S. 23) überhaupt nicht zu den Frommen gehörten. Das konnte Gott nicht getan haben! Wie Jahrhunderte später Nietzsche, der Prophet eines aristokratischen Menschenbildes, verächtlich auf die Pöbelbewegung des Christentums herabsieht, auf diese „Erhebung der Schlechten, Ungebildeten, Gedrückten, Kranken" (Ges. Werke XI, 1924, S.69), so hat Paulus, der Anwalt de:s auch aristokratischen Pharisäerideals, diese (im gesetzlichen Sinn) ungebildeten, schwachen und unedlen Existenzen (1. Kor. 1,27f.) verachtet. Verachtet — und verfolgt. Denn hier war er zur Entscheidung gefordert. Der Anspruch dieser Leute, den Gesalbten Gottes bei sich gehabt zu haben, war eine Beleidigung des Gottes vom Sinai. Entweder hatte er sein Gesetz gegeben als Offenbarung der Erkenntnis und der Wahrheit, daß man die Blinden, die Unwissenden und Toten über seinen Willen belehre (Rom. 2,18—20); dann mußten die Christen unrecht haben. Oder sie hatten recht; dann war Gott ein ganz anderer, als das Judentum glaubte. Daß sich beide Gottesbilder ausschließen, das hat Paulus als erster in aller Radikalität gesehen und bekannt; das konnte er erkennen wie kein anderer, weil er im Zentrum der Gesetzesreligion stand und nicht an ihrem Rande wie die Jünger Jesu. Weil Paulus aber den Anspruch der Christen als Beleidigung Gottes und Zerstörung der Gesetzesreligion empfand, darum mußte er der Ausbreitung dieser Sekte entgegentreten, mußte es tun mit Anwendung von Gewalt, wie sie die Rabbinen dem frommen Eifer immer unter Berufung auf das Beispiel des Pinehas (4. Mose 25, 8) zugebilligt haben. Nun kam der Umbruch, den er als einen Einbruch von außen her empfand. Er hat sich nicht in langsamem Ringen zu einem andern Standpunkt hindurchgearbeitet. Sondern mitten in der Betätigung des „alten" Standpunkts fühlt er sich plötzlich zum Innehalten ge*
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zwungen. Er weiß in jähem Umschlag der Überzeugung auf einmal, daß die Christen recht haben. Nicht anders, nur im Legendenstil zu einem Gespräch ausgeformt, lautet der Bericht Apg. 9,4—6: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?" „Wer bist du, Herr?" „Ich bin Jesus, den du verfolgst". Aus der Tatsache, daß sich die Wendung mitten in der Verfolgung vollzieht, erklärt sich ihre Plötzlichkeit und ihre Radikalität. Der so unmittelbar Angerufene kann nun nichts Anderes tun, als sich der eben erst verfolgten Sache mit dem gleichen Eifer zur Verfügung stellen, der ihn bisher zur Verfolgung getrieben hat. Er wird also Christ, Mitglied nicht der jerusalemischen, sondern einer hellenistischen Christengemeinde, die sich aus dem Diasporajudentum gebildet hat, wahrscheinlich zweisprachigen Charakters und jedenfalls dem Einfluß der jünger Jesu nicht unmittelbar unterworfen. Er wird aber noch mehr: er wird Missionar, und er wird es in besonderer Weise. Er hatte als Jude zu wissen geglaubt, daß Qott nicht so gehandelt haben könnte, wie die Christen es voraussetzten. Nun war er von der Erkenntnis überwältigt worden, daß Qott doch so gehandelt hatte, daß er den Messias zu jenen unbelehrten und oft auch unbelehrbaren Fischern und Zöllnern aus Galiläa gesandt hatte, die der Pharisäer als unfromm, als mehr oder minder gesetzlos betrachtete. Gott war also nicht so, wie die jüdischen Frommen ihn vorstellten, das Heil war nicht auf den Kreis der „Gesetzlichen" beschränkt, auch jene mehr oder minder Gesetzlosen im jüdischen Volk konnten daran teilhaben! Wenn aber diese, warum nicht auch die andern Gesetzlosen außerhalb des jüdischen Volkes, die Heiden? Einzelne Fälle von Heiden- oder Proselyten-Bekehrungen waren zu jener Zeit in Antiochia wohl schon vorgekommen (Apg. 11,20). Paulus aber erkannte es als Gottes Willen, daß die Botschaft vom Heil in Christus gerade und vornehmlich zu den Heiden gebracht werde; und er sah in der ihm gewordenen Offenbarung die Ver-
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49 pflichtung, diese Aufgabe zu übernehmen. So wird es uns verständlich, daß dem Paulus bei Damaskus beides zugleich — oder annähernd zugleich — offenbart worden ist: die eine Erkenntnis, daß Gott sein Heil in der Tat den verachteten und verfolgten Christen geschenkt habe, und die andere, daß dieses Heil gerade den Gesetzlosen zugedacht sei, also auch den Heiden! Als den Urheber dieser Wendung in seinem Leben, die zugleich eine große Wendung in der Religionsgeschichte bedeutet, nennt Paulus den, den er fortan als seinen Herrn bezeichnen wird: Jesus Christus. Aber wir haben uns ernstlich zu fragen, inwieweit der g e s c h i c h t l i c h e J e s u s von Nazareth einen Einfluß auf seinen großen Apostel ausgeübt hat. Daß Paulus diesem Jesus einmal begegnet ist, darf als unwahrscheinlich gelten. Alle angeblichen Beweise versagen. Es ist Rationalismus zu meinen, der visionär gesehene Himmlische müsse ihm als irdische Person bekannt gewesen sein — sonst hätte er ihn nicht erkannt. Die Gesetze der Vision wie die des Traumes lassen es durchaus zu, daß man eine Person in der Schau erkennt, ohne sie vorher im Leben gekannt zu haben. Wenn Paulus schreibt: „bin ich nicht Apostel? habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen?" (1. Kor. 9,1), so meint er jene Schau bei Damaskus — er würde es nie zugeben, daß ein bloßes Sehen oder Kennen des geschichtlichen Jesus Apostolatsrechte verleihe. Und endlich das wichtigste Zeugnis für oder wider die Bekanntschaft des Paulus mit Jesus: gegenüber denen, die sich in Korinth auf Beziehungen zu Jerusalem und auf die Urapostel berufen, prägt er 2. Kor. 5,16 das grundsätzliche Wort: „von nun an (d. h. seit wir Christen sind) kennen wir niemand mehr nach Menschenweise; selbst wenn wir Christus nach Menschenweise gekannt haben (oder: gelcanrit haben sollten), so kennen wir ihn so fortan nicht mehr". Das ist zunächst eine Absage an alle, die sich auf „Beziehungen" stützen, auch wenn es perD i b e 1 i u s , Paulus.
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sönliche Beziehungen zu Jesus sind. Und man könnte aus dem „ w i r " sogar folgern, daß Paulus selbst solche Beziehungen gehabt habe. Aber wir wissen aus andern Stellen, daß Paulus es sehr deutlich sagt, wenn er den Gegnern Vorzüge bestreitet, auf die er selbst verzichtet hat: „ W e n n es sonst einer mit irdischen Vorzügen wagt, ich kann's noch b e s s e r " (Phil. 3 , 4 ) ; „wenn viele prahlen nach Menschenweise, so will ich es auch versuchen. Jene sind Hebräer? ich auch. Sie sind Israels Erbe? ich a u c h " usw. (2. Kor. 11,18—22). Man dürfte also erwarten, daß Paulus an der fraglichen Stelle geschrieben hätte: „selbst wenn wir Christus nach Menschenweise gekannt haben, wie ja auch ich ihn gekannt h a b e " — wenn er so hätte schreiben können! Es ist also ein nicht völlig erweisbarer, aber doch psychologisch wahrscheinlicher Schluß, daß Paulus den, den er verkündet, niemals in irdischer Gestalt gesehen hat. Und man kann aus zahlreichen Briefsteilen entnehmen, daß seine Gegner in den Gemeinden nicht müde geworden sind, auf diesen — wie sie meinten — wunden Punkt hinzuweisen und die Echtheit seines Apostolats daraufhin anzuzweifeln. Paulus verteidigt sich von seinem radikalen Offenbarungsstandpunkt aus: der Ruf, der ihn bei Damaskus getroffen hat, ist der allersicherste und allerunmittelbarste, denn er kommt von dem zu Gott erhöhten Herrn und gilt ihm, dem Paulus, ganz persönlich. Das ist echter und verpflichtender als die geschichtliche Beziehung zu Jesus, deren die andern sich rühmen. Es ist von weittragender Bedeutung für die Geschichte des christlichen Glaubens geworden, daß der Apostel sein Heil und sein Apostelamt — so gewiß beide für ihn „objektive" Größen waren — in solchem Maß auf die persönliche Erfahrung des himmlischen Herrn gegründet hat: eine der Beziehungen zu Augustin und Luther wird hier sichtbar. Aber wir dürfen fragen, ob nicht doch von einer W i r k u n g des geschichtlichen Lebens Jesu auf Paulus gesprochen wer-
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den kann. Daß freilich der Verfolger sich mit den Verfolgten in Kampfgespräche eingelassen habe, und daß dabei die Frage nach der Schuld oder Unschuld Jesu und somit sein Leben und seine Lehre behandelt worden sei, ist eine moderne Vorstellung, die auf allzu humanen Voraussetzungen beruht. W e n n die christliche Gemeinde eine Beleidigung Qottes darstellte, so wird es für Paulus nur e i n e Pflicht gegeben haben: sie auszutilgen. Auf Diskussionen mit diesen ungelehrten und verachteten Galiläern wird er sich nicht eingelassen haben; und hätte er mit einem Mann wie Stephanus diskutiert, so würde es um das kommende Heil u n d die Auferstehung gegangen sein und nicht um die armen und geringen, für einen Messias beleidigenden Begebenheiten des Lebens Jesu. Aber jene dem Pharisäer Paulus verächtliche Zusammensetzung der christlichen Gemeinde, die ihm erst der Anstoß zur Verfolgung, dann der Anstoß zur entscheidenden Neubesinnung wurde, war doch die Folge des Lebenswerkes Jesu. Zöllner und Sünder, Mühselige und Beladene berief sein Evangelium zur Gemeinschaft mit Gott; Zöllner und Sünder, Mühselige und Beladene bildeten den Kern der ersten Gemeinde. Die Überzeugung, daß Gott diese Menschen nicht berufen könne, beflügelte den Eifer des Verfolgers Saul; die Erkenntnis, daß Gott diesen Menschen doch sein Heil gesandt habe, ließ den Pharisäer zum ersten christlichen Theologen werden. Die wesentlichste Verbindung zwischen Jesus und Paulus ist diese: in d e r A r t s e i n e r G e m e i n d e stellte sich das W e s e n der Botschaft Jesu dar, und diese Art seiner Gemeinde nötigte dem Paulus die entscheidende Einsicht auf, die Einsicht, daß frommes T u n den Menschen nicht zu Gott führen könne, gondern nur die göttliche Gnade und die menschliche Bereitschaft, sie zu empfangen. Diese Verkündigung, die Paulus in begeisterten W o r ten gepriesen und in theologischen Streitsätzen verteidigt hat, nennt er das von ihm gepredigte Evangelium; 4*
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von ihm sagt er — wir sahen, mit welchem Recht! —, daß er es nicht Menschen verdanke, sondern der Offenbarung Jesu Christi (Oal. 1,12). Es ist nur scheinbar ein Widerspruch dazu, wenn Paulus sich auf Ü b e r l i e f e r u n g e n d e r G e m e i n d e beruft, die er empfangen und an seine Gemeinden weitergeleitet habe: die Abendmahlsszene 1. Kor. 11,23—25 gehört hierhin wie die Verkündigung von Tod und Auferweckung Jesu 1. Kor. 15,3—5; auch wohl die Worte Jesu 1. Kor. 7,10; 9,14; 1. Thess. 4,15f. — und, nehmen wir als wahrscheinlich an, noch eine ganze Reihe solcher Zitate, die uns schwerer erkennbar sind oder in uns verlorenen Briefen stehen. Daß Paulus in diesem Sinn von Traditionen der Gemeinde abhängig war, darf nicht wunder nehmen; die Überlieferung solcher Stücke an den neuen Christen und werdenden Missionar gehört zu seinem Eintritt in die Gemeinde und zu seiner Ausrüstung als Missionar. Das alles, so reichhaltig es gewesen sein mag, bezieht sich aber nur auf den Stoff: der Christ muß wissen, auf Grund welcher Begebenheiten er glauben, der Missionar, welche Ereignisse er erzählen soll. Die Folgerungen aus diesen Überlieferungen für Glauben und Verhalten des Menschen, sie erst bilden das Evangelium, das Paulus als das seine bezeichnet und für dessen Unabhängigkeit von aller Menschenlehre er eintritt. Und wenn er diese Unabhängigkeit den Uraposteln in Jerusalem gegenüber besonders betont (Gal. 1,17, s.S. 115), so hat er auch dazu ein gutes Recht; denn er ist ja nicht jerusalemer, sondern hellenistischer Christ geworden, in Damaskus, „Arabia", später Antiochia und Tarsus; die Überlieferungen, die er anführt, klingen nicht wie Übersetzungen, sondern waren wohl Von Anfang an griechisch geformt. Nach Jerusalem ist Paulus erst 3 Jahre nach seiner Bekehrung wieder gereist, „um den Kephas (das ist der aramäische Name für Petrus) kennenzulernen" und den Bruder Jesu, Jakobus; das war ein Aufenthalt von 2 Wochen, der sich — wir müssen es Paulus (Gal. 1,19)
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g e g e n die Apostelgeschichte (9,28 f.) glauben — verborgen vor der Öffentlichkeit abspielte; Paulus wäre sonst der Rache der Juden anheimgefallen. Denn es hat nach Gal. 2 , 1 wieder 14 Jahre gedauert, bis Paulus abermals in Jerusalem erschien, zu jener grundsätzlichen Besprechung der Apostel, der die kirchliche Überlieferung den Namen des Apostelkonzils gegeben hat. Damals kam Paulus aber schon als der Vertreter der Kirche aus den Heiden, als Missionar und Lehrer, und hatte von Jerusalem nichts mehr zu lernen. Wenn eben von den Fristen von 14 und 3 Jahren die Rede war, so ist zu berücksichtigen, daß die antike Berechnungsweise damit das angefangene Jahr einschließt, also meint: im 14. und im 3. Jahr. Die Zeit zwischen der Apostelbesprechung und der Bekehrung des Paulus würde demnach nicht 14 und 3, sondern 15—16 Jahre betragen; und diese Angabe des Paulus ist wichtig für die C h r o n o l o g i e . Es wird noch davon die Rede sein, daß der einzige leidlich feste Anhaltspunkt für eine solche Berechnung das Prokonsulatsjahr des Qallio ist, dem Paulus Apg. 18,12 vorgeführt wird: er war von Mitte 51—52 (oder, unwahrscheinlicher, von 52—53) Prokonsul von Achaja (s. S. 72). Paulus hatte damals schon 18 Monate in Korinth gearbeitet (Apg. 18,12), war also Anfang 50 (51?) nach Korinth gekommen. Für die in Apg. 15—17 geschilderten Fahrten ist ein halbes bis ein ganzes Jahr anzunehmen, so daß die Apostelbesprechung in das Jahr 49 (50) fallen dürfte. Die Bekehrung des Paulus wäre also 15—16 Jahre früher, auf 33—35 anzusetzen. Das Auftreten und die Wirksamkeit Jesu fällt in den Zeitraum zwischen 27 und 34, sein Tod wahrscheinlich ins Jahr 30 oder 33. Auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet scheint die Berechnung für Paulus richtig zu sein (Näheres s. M. Dibelius, Jesus, Samml. Göschen 1130, S. 43f.). Es ist schon viel, daß wir von so inoffiziellen Vorgängen wie den Reisen des Paulus, die keine Chronik und keine Inschrift nach Kaiserjahren datiert hat, chronologisch leidlich sichere Angaben machen können. Allerdings erlauben uns unsere Quellen nicht, über die ersten 10 Jahre, die Paulus als Christ verlebte, etwas außer der Flucht aus Damaskus und dem Be-
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such in Jerusalem zu berichten. Nach der bestimmten Versicherung des Galaterbriefs (1,21) war er zwischen der ersten Zusammenkunft mit Petrus u n d der Apostelbesprechung nicht wieder in Jerusalem, sondern in Syrien und Kilikien. Bei dieser sehr allgemeinen Angabe liegt aller Nachdruck auf der Negation: er war nicht in Jerusalem, sondern in den Ländern im Norden, in Syrien und Kleiriasien. Daß er in jenen Jahren nicht nur Kilikien, sondern auch Zypern, Pamphylien, Lykaonien und Pisidien besucht hat, dürfen wir nach Apg. 13 und 14 für gewiß halten, da Lukas gerade für diese Reisen über ausgezeichnetes Material verfügt. Einen wirklichen Widerspruch zu den Angaben des Paulus bildet nur die beiläufig gebrachte Notiz der Apostelgeschichte (11,30; 12,25), daß Paulus noch einmal vor der Apostelbesprechung in Jerusalem gewesen sei, um den Ertrag einer Sammlung der dortigen christlichen Gemeinde zu überbringen. Diese Nachricht steht also mindestens an falscher Stelle; es wird sich noch zeigen, daß Lukas über das Sammlungsunternehmen überhaupt nur Andeutungen bringt. Abgesehen von dieser Notiz erzählt Lukas über Paulus aus dem Jahrzehnt etwa 35—45 überhaupt nichts; offenbar hat er außer der von den Gemeinden aufbewahrten Bekehrungsgeschichte kein Material, das Paulus betrifft; erst für die großen Missionsfahrten steht ihm reichlicher Stoff zur Verfügung. W e n n wir also über den Beginn der Missionsarbeit des Paulus an äußeren Vorgängen nichts wissen, so läßt sich doch nach den Briefen die innere Lage des Apostels wenigstens rekonstruieren. Wir haben Briefe nur aus den letzten anderthalb Jahrzehnten seiner Tätigkeit, von 50 an; es ist also von vornherein unwahrscheinlich, daß in dieser späteren Zeit noch eine wesentliche Entwicklung in den Anschauungen des Paulus stattgefunden hat. Alle wissenschaftlichen Versuche, zwischen einem noch unentwickelten „Lehrbegriff" der (für uns) „ f r ü h e s t e n " Briefe (nach Thessalonike) und dem der
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vier großen Hauptbriefe (nach Korinth, Qalatien und Rom) zu unterscheiden, haben sich, von Änderungen in der B e t o n u n g einzelner Lehren abgesehen, nicht halten lassen. Paulus selbst scheint aber von einer Entwicklung dieser Art überhaupt nichts zu wissen, u n d wir haben bereits gesehen, daß er ein Recht hatte, wesentliche Erkenntnisse von dem entscheidenden Umbruch in seinem Leben abzuleiten. In der T a t können wir uns von dieser Ausgangsstellung aus wichtige Grundgedanken seines E v a n g e l i u m s klar machen. Er selbst empfindet diesen Umbruch nicht als einen psychologischen Vorgang, sondern als einen Eingriff desselben Gottes, dem er bisher gedient hatte. Der Gedanke des großen Ketzers Marcion im zweiten Jahrhundert, daß der christliche Gott ein neuer, fremder Gott sei, liegt ihm weltenfern. „Als es ihm gefiel, der mich von Mutterleib ausersehen u n d durch seine Gnade berufen hat, seinen Sohn in mir zu o f f e n b a r e n " . . . , das ist seine Erfahrung. Der Gott, dem er als Pharisäer und als Christenverfolger gedient hat, der hat ihm auch Jesus in himmlischer Herrlichkeit als seinen Sohn erscheinen lassen. Für den inneren Vorgang steht das bezeichnendste Zeugnis 2. Kor. 4 , 6 : „Denn der Gott, der einst sprach: aus Finsternis soll Licht aufstrahlen, der hat auch in unserm Innern einen hellen Schein aufstrahlen lassen: die leuchtende Erkenntnis seiner Herrlichkeit auf Christi Angesicht". Der Gott, von dem das erste Blatt der Bibel die Schöpf u n g des Weltenlichts erzählt, hat auch dies neue Licht gespendet. Sonst würde es Paulus gar nicht anerkennen. Die Frage, ob er das Alte Testament und dessen Gott abschwören solle, stellt sich ihm überhaupt nicht. Er weiß, gewisser als alles Beweisbare, daß f i e s e r Gott ihn durch Irrtum zur Wahrheit geleitet hat. Also: der Gott des Gesetzes hat ihm Jesus als den Christus g e offenbart. Das ist eine große Entscheidung. Paulus hat sie wahrscheinlich ohne innere Kämpfe getroffen, denn
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sie war ihm selbstverständlich. Er konnte nicht ahnen, an welcher weltgeschichtlichen Wende er stand, und in welchem Maß der Weg des Christentums durch seine persönliche Entscheidung bestimmt wurde. Denn ihre Folge war die Aneignung des Alten Testaments durch die Kirche. Das bedeutet die Festlegung des christlichen Gottesglaubens im Sinne des sittlichen Monotheismus und die Begründung dieses Glaubens auf bestimmte Tatsachen der Geschichte. Es bedeutet weiter die Entstehung der fruchtbaren, aber auch zu M i ß verständnissen führenden Problematik von Gesetz und Evangelium. Es bedeutet endlich die Belastung der Kirche mit den jüdischen Besonderheiten, vor allem mit dem Ritualgesetz — man denke nur an Beschneidung, Opfer, Sabbat —, dem Gesetz, das genauso ein Teil der Bibel wurde wie die Zehn Gebote, das aber im Gegensatz zu diesen durch Auslegung als erledigt erklärt werden sollte. Die sittlichen Vorschriften des Gesetzes wie der Propheten lieferten andererseits der neuen Religion einen Grundstock der materialen Ethik, an dem sie — von der Kritik der Bergpredigt Jesu bis zur Auswertung in Luthers Katechismen — ihre eigene Sittlichkeit entwickeln konnte. Paulus hat dies alles kaum geahnt. Für ihn standen die Fragen der sittlichen Lebensführung erst in zweiter Linie. Für ihn wie für alle Christen von damals war ja mit der Erkenntnis, daß der Messias in Jesus schon erschienen sei, der Glaube verbunden, daß dieser Messias — auf griechisch: der Christus — in naher Zeit wiederkommen werde zum Gericht und zur Aufrichtung seines Reiches. Dieser Glaube an das baldige Eintreten der „letzten Dinge" — der „ e s c h a t o l o g i s c h e " Glaube — stellte das ganze Leben unter den Blickpunkt des Endes. Dieses Leben ist nur noch ein Zwischenzustand; was zu tun ist in Kirche, Mission, Familie, Staat und Beruf, ist zu tun, „bis daß er kommt" (1. Kor. 11, 26). Der Christ lebt in dieser Welt als ein Bürger der kommenden Welt. Verbindet diese Überzeugung den
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Apostel mit allen andern Christen, so zieht er doch die Folgerungen daraus mit einem radikalen Ernst, den die Jünger Jesu nie erreicht hatten. Darum gelten ihn*, die irdischen Beziehungen, auch die zu dem geschichtlichen Jesus, nichts mehr (2. Kor. 5,16); der Blick auf den himmlischen Herrn, der bald auch der Herr auf Erden sein wird, läßt die Dinge der alten Welt in totaler Umwertung erscheinen. Auch in dieses bedingte Leben, in dessen Zusammenhängen der Christ noch steht, wirkt die andere, die kommende Welt seit Christus so stark hinein, daß sie die Dunkelheiten dieses Daseins leuchtend überstrahlt: „Wir rühmen uns der Trübsal" (Rom. 5,3). Ein Christ weiß zwar, daß die Leiden dieser Zeit nichts sind im Vergleich zu der künftigen Herrlichkeit, aber er empfindet doch zugleich, daß Gott durch seinen Geist auch jetzt schon seiner Schwachheit aufhilft (beide Gedanken in Rom. 8,18. 26). So kommt Paulus — und er setzt das mehr oder minder von jedem Christen voraus — nicht nur über den Gegensatz hinweg, der zwischen seiner hohen Begnadung und seiner bedrängten Weltexistenz sich auftut, sondern er bejaht diesen Gegensatz mit einem freudigen Hochgefühl, weil das Dunkel der einen Hemisphäre gewissermaßen die Bürgschaft für das Licht der andern ist. Das Denken des Paulus in Kontrasten wirkt sich hier vielleicht am stärksten aus. Je schwächer der Mensch Paulus ist — unansehnlich im Auftreten, kein großer Redner, geschlagen von Krankheit, verfolgt vom eigenen Volk —, desto gewisser ist es, daß alle Kraft, die von ihm ausgeht, Kraft Gottes ist und nicht des Menschen. Darum hat er „diesen Schatz in irdenen Gefäßen" (2. Kor. 4,7). So wird es verständlich, daß er sich nicht genug tun kann in der Schilderung seiner todumfangenen Existenz: „Aber ich denke, Gott selbst hat uns Apostel auf den geringsten Platz gewiesen, als todverfallene Kämpfer im Kampfring, ein Schauspiel für Welt, Engel und Menschen! . . . Zu Prügelknaben aller Welt sind wir geworden, zum Abschaum der Menschheit bis auf diesen T a g " (1. Kor. 4,9.13).
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So wird ihm immer wieder die Erkenntnis bestätigt, gegen die er sich einst gesträubt hatte: daß die Jüngerschaft des Messias auf Erden eine unansehnliche, arme und verachtete Schar sei. Aber das Erschütterndste dieser Erkenntnis lag für ihn in ihrer negativen Seite: er mußte einsehen, daß man mit dem besten Willen, Gott zu dienen, an ihm vorbeigehen kann. So war es ihm ergangen: im Eifer für das Gesetz, in der Hingabe an den Gott des Gesetzes war er zum Christenverfolger geworden und beinahe ins Verderben geraten. So ging es nun seinem Volk, den Juden: mit dem redlichsten Eifer um den Dienst des wahren Gottes verfehlten sie das Heil, das dieser Gott ihnen gesandt hatte. Denn Paulus redet niemals davon, daß Christus von abtrünnigen, verbrecherischen Juden verurteilt worden sei. Nein, es sind die konsequenten Vertreter der Gesetzesreligion, die „den Herrn Jesus getötet haben und die Propheten" (1. Thess. 2,15). Nun aber erhebt sich die große Frage: was ist das für ein Gott, der sein Volk dauernd in die Irre gehen läßt und seinen treuesten Verehrer beinahe ins Verderben schickt? Paulus scheut sich nicht, im Römerbrief zweimal ausdrücklich zu fragen: ist Gott nicht ungerecht (3,5; 9,14)? Darf er noch zürnen, wenn er selbst die Menschen also verblendet? Paulus sieht sich vor einer ungeheuren Paradoxie — aber er hat bereits, als er von Christus bezwungen wurde, zu ihr im Glauben ja gesagt. Doch der leidenschaftliche Denker begnügt sich nicht mit dem Ja des Glaubens; er sieht sich zuleich am Anfang einer theologischen Überlegung über
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u n d H e i l , die durchgeführt werden m u ß , weil die tiefste Erschütterung eines Menschen der Motor ist, der die Denkbewegung antreibt. Die Frage: wie konnte Gott so handeln? wird zum Ausgangspunkt seines Denkens als Christ; s e i n e T h e o l o g i e ist in ihren wesentlichen Zügen „ T h e o d i z e e " , Rechtfertigung Gottes. Aber — das ist ebenso deutlich wie erstaunlich —
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Paulus empfindet trotz dieser Erschütterung das neue Leben, das ihm aufgegangen ist, als Seligkeit. Gewiß, er lebt wie alle seine Mitchristen in H o f f n u n g auf die volle künftige Herrlichkeit des Reiches Gottes. Trotzdem spricht er immer wieder von dem Reichtum der Gegenwart. „Nichts wird uns je scheiden von Gottes Liebe, die in Christus Jesus, unserm'Herrn, erschien"; „ich vermag alles durch den, der mir Kraft g i b t " ; „wer in Christus lebt, ist eine neue S c h ö p f u n g " ; „ich freue mich der Nöte, der Mißhandlungen, der Bedrängnis, der Verfolgung und Bedrückung um Christi willen, denn wenn ich in Not bin, dann bin ich stark" (Rom. 8,38f.; Phil. 4,13; 2. Kor. 5,17; 12,10). Wenn Paulus sich an die Gemeinde wendet, braucht er zur Bezeichnung des neuen Zustandes o f t das Wort, mit dem die Christen ihre besonderen Erfahrungen und Kräfte bezeichneten: Geist. Er erinnert die Galater (3,5) an den, „der den Geist euch verlieh und Wunderkräfte unter euch weckte"; er ermahnt die Römer (8,15): „es istja kein Sklavengeist, den ihr empfingt, sondern der Geist der Kindschaft". Aber am liebsten redet er, um das neue Wesen zu schildern, doch einfach von „Christus". Daß er mit „Geist" und „Christus" im letzten Grund dasselbe meint, erweist sich, wenn er im Römerbrief (8,9.10) die Tatsache, daß „Gott in euch w o h n t " , nach einer eigenen Unterbrechung wieder aufnimmt mit den Worten „wenn also nun Christus in euch ist". Er denkt dabei also nicht an den geschichtlichen Jesus oder den kommenden Messias, sondern an den gegenwärtigen Christus, den zu Gott erhöhten Herrn der Gemeinde, der zugleich den einzelnen Gläubigen als Herr ihres Lebens spürbar nahe ist. Aber es ist bezeichnend f ü r jenes schon geschilderte Denken des Paulus in Kontrasten (S. 36), daß er auch von Christus nicht reden kann, ohne des Gegenteils zu gedenken: Christus ist ihm Gewinn, nun achtet er alles andere f ü r Schaden (Phil. 3, 7 f.). Spricht er davon, daß das Heil auf dem Glauben an Christus
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beruhe, so stellt sich der Gedanke „nicht auf den Leistungen" von selbst ein. Der Radikalismus des Bekehrten macht sich geltend: alles, was zum alten Wesen gehört, ist nichtig; alle Sterne, die einst dem Leben leuchteten, gelten als untergegangen — entweder waren sie trügerisch, oder aber ihre Geltung war zeitlich bedingt. Wie war es möglich, daß sie überhaupt leuchteten? Auch hier steht Paulus wieder am Ausgangspunkt einer theologischen Gedankenreihe, und wir empfinden, daß er das Problem des G e s e t z e s lösen mußte, nicht weil er als Jude mit ehrerbietiger Pietät an ihm hing, sondern weil ihm die Frage keine Ruhe ließ, keine Ruhe lassen durfte, was Gott denn eigentlich mit dem Gesetz gemeint habe; nicht das Ansehen des Volkes, nein, die Gerechtigkeit Gottes stand auf dem Spiel. Man kann die Lehre des Paulus vom Gesetz nicht verstehen, wenn man diesen entscheidenden Antrieb vergißt: Theologie ist auch hier wesentlich „Theodizee", Rechtfertigung Gottes. In jedem Fall gehört das Gesetz zur alten Welt, denn Gott hat es durch die Sendung seines Christus zu den Gesetzlosen antiquiert. Von dem glücklich erreichten Ufer einer neuen Welt aus schaut Paulus auf die verlassene alte Welt und rechnet ihr, geleitet von seinem Kontrastdenken, alles zu, was zum Wesen des Neuen im Gegensatz steht. Ist „ G e i s t " ein Stichwort zur Bezeichnung des Neuen, so gilt jener alten Welt das Wort „Fleisch". Darunter versteht Paulus das natürliche Leben mit seinen Zusammenhängen, aber auch die sündige Triebwelt, die in unserm Körper herrscht — man muß das Wort im Deutschen jedesmal anders wiedergeben. „Wir kennen niemand mehr nach dem Fleisch" (2. Kor. 5,16) heißt: wir lassen alles Pochen auf menschliche Beziehungen fahren. Aber auch wer glaubt, sich seiner Stellung vor Gott, seines Pharisäertums, seiner Gesetzesleistungen rühmen zu können, der hat „Vertrauen auf das Fleisch" (Phil. 3,4). Und so kommt es zu der erstaunlichen Tatsache, daß Paulus bei solcher
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Rückschau die Sünde wie die Frömmigkeit der Gesetzesbefolgung in dieselbe Kategorie verweist. „Als wir im Fleisch waren" (Rom. 7,5) — das kann ebensogut eine sündige wie eine selbstgerechte Vergangenheit meinen. Mag manche Theorie von dem Apostel erst im Lauf der Jahre ausgebildet sein, diese Begriffe, diese Gegensätze und diese Fragen nach Gott und seiner Gerechtigkeit scheinen sein Christsein von Anfang an bestimmt zu haben. Es gab zwei Wege, dies alles zu bewältigen; der des Denkens war der eine, er führte zur Theologie. Der andere war der des Handelns; er führte in die Mission. 5. Die Mission Paulus war, wie wir sahen, überzeugt, daß die Stimme Christi ihn nicht nur persönlich berufen habe, sondern daß durch die besonderen Umstände seiner Berufung auch der Wille Gottes zur Heidenmission offenbar geworden sei. Die Apostelgeschichte bringt dieses innere Geschehen durch eine Vision im Tempel zum Ausdruck, die den Paulus bei seinem ersten Besuch Jerusalems nach der Bekehrung ausdrücklich in die Welt der Heiden weist (22,17—21). Des Apostels eigenes Zeugnis macht es unmöglich, dieses Tempelgesicht für eine zweite Bekehrung (von der Judenmission zur Heidenmission) zu halten (s. S. 46). Die Verwertung dieser Vision in der Apostelgeschichte — sie bildet den wirksamen Schluß einer Rede, wird aber im eigentlichen Bekehrungsbericht nicht erwähnt — zeigt mindestens, daß sie für das Leben des Paulus nicht von entscheidender Bedeutung war. Die entscheidenden Antriebe zur Heidenmission liegen im Bekehrungserlebnis selbst: Gott hat seinen Sohn in ihm offenbart, damit er ihn unter den Heiden verkünde (Gal. 1,16). Seitdem fühlt sich Paulus als Apostel der Heiden: „Griechen wie Barbaren, Gelehrten und Ungelehrten
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weiß ich mich zum Dienst verpflichtet", „mir ist ja von Qott die Gnade verliehen, ein Diener Jesu Christi bei den Heiden zu sein", „Zwang liegt auf mir, wehe, wenn ich nicht verkündige" (Rom. 1 , 1 4 ; 1 5 , 1 5 f . ; l . K o r . 9 , 1 6 ) . Gott hat beides zugleich gestiftet: „er hat durch Christus uns mit sich versöhnt und hat uns den Dienst der Versöhnungspredigt übertragen... So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ruft euch durch unser Wort, und wir bitten in Christi Namen: laßt euch mit Gott versöhnen! (2. Kor. 5 , 1 8 . 20). Und da das Ende und die Wiederkunft des Herrn bevorzustehen scheint, muß dieser Dienst schnell ausgerichtet werden; der Heidenmissionar muß danach trachten, möglichst vielen Völkern das Heil wenigstens anzubieten. Die bewohnte Welt (die sog. „Ökumene"), d. h. für den Blick des Paulus vor allem die Länder rings um das Mittelländische Meer, soll Gelegenheit haben, die Botschaft des Evangeliums zu hören. Daraus erklären sich Missionstechnik und Missionsplan des Apostels. Er kann sich nicht dabei aufhalten, eine ganze Provinz, Stadt für Stadt, mit seiner Predigt zu erfassen oder auf schwierigem Arbeitsfeld auszuharren und mit einer Treue, die wir heute an einem Missionar rühmen würden, immer aufs neue zu versuchen, die Trägheit der Herzen zu uberwinden. Das würde ihm Ungehorsam gegen Gottes Gebot scheinen. Seine leidenschaftliche Hingabe an das Werk — es ist derselbe Charakterzug, der schon bei der Christenverfolgung zutage trat — treibt ihn weiter. Er selbst begnügt sich mit der Missionierung einiger Städte — es sind meistens an Verkehrsverbindungen gelegene Orte; von da aus wird das Evangelium weitergetragen werden durch andere; der Apostel reist, oft nach kurzem Aufenthalt, an die nächste geeignete Arbeitsstätte. Und selbst wenn er Monate hindurch in einer Stadt bleibt wie in Korinth, so ist es nicht er, der die Gemeinde organisiert und verwaltet; eine gelegentliche Bemer-
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kung 1. Kor. 1,14.16 verrät uns, daß er gerade in Korinth außer zwei Männern nur eine Familie getauft hat. Wahrscheinlich nimmt ihn die Predigt in der großen Stadt ganz in Anspruch. Sie sollen am T a g e des Gerichts nicht sagen, sie hätten das Evangelium nicht gehört; nein — die ganze Welt soll es hören! Darauf ist auch sein Missionsplan angelegt. Er hat eine Provinz nach der andern in Angriff genommen; die Reihenfolge freilich und die Art der wiederholten Besuche ist oft g e n u g mehr durch Schickungen seines Lebens als durch seine Pläne bestimmt worden. W i r sind gewohnt, im Anschluß an die Apostelgeschichte von Reisen des Paulus zu reden. Daraus entsteht leicht ein falsches Bild, als ob der Apostel immer unterwegs gewesen sei. Trotz des auch durch den Endglauben bedingten grundsätzlichen Eil-Zeitmaßes seiner Arbeit hat er aber aussichtsreiche und ungestörte Arbeitsmöglichkeit als einen Auftrag Gottes angesehen, der ihn heiße zu bleiben und weiter zu wirken — wieder ist Korinth dafür ein Beispiel (Apg. 18, 9—11). Im Ganzen ist die Tätigkeit des Paulus durch gewisse Zentren bestimmt, von denen er seine kürzeren und längeren Reisen unternimmt, und die im Lauf der Jahre von einer Provinz in die andere verlegt werden. Das erste Reisezentrum ist offenbar D a m a s k u s g e wesen, wenn wir annehmen dürfen, daß jene zwei oder drei Jahre Gal. 1,18 nicht nur mit Selbstbesinnung, sondern auch mit Tätigkeit gefüllt waren. Bei der schnellen Reaktionsfähigkeit des Paulus (s. S. 40) ist diese Annahme für die Zeit bald nach der Bekehrung ziemlich gewiß. Er hätte dann also in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre im Nabatäerreich, vielleicht auch in den Städten des sog. Dekapolis (Gadara, Hippos usw.) mit der Mission begonnen. Diese Periode schloß mit einer Verfolgung durch die Juden von Damaskus und der Flucht über die Stadtmauer (s. S. 45). Das Reisezentrum, in dem sich Paulus nach dem Besuch Jerusalems ansiedelt, war, so scheint es, T a r -
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sus. Wir schließen das aus der Erwähnung der Stadt Apg. 9, 30; 11,25 und aus der Nennung von Kilikien Oal. 1,21. Es ist auch psychologisch glaublich: Paulus arbeitet zunächst in Damaskus^ d. h. dort, wo et in die Christengemeinde Aufnahme gefunden hat, und in dem von dort aus zugänglichen Bezirk: als ihm aber die Juden mit Hilfe des arabischen „Ethnarchen" ein weiteres Auftreten unmöglich machen, geht er in die Heimatstadt. Was er dort, etwa nach 40, im einzelnen getan, wo und wie lange er gewirkt hat, wissen wir nicht. Lukas berichtet nichts darüber, denn diese Missionsarbeit liegt für ihn offenbar noch außerhalb des weltgeschichtlichen Weges, den das Evangelium von Jerusalem nach Rom gezogen ist, und dessen göttliche Lenkung und Leitung zu schildern er beabsichtigt. Daß aber auch diese uns nicht bekannte Periode voll von bewegenden Ereignissen war, können wir der Aufzählung von Nöten und Verfolgungen entnehmen, die Paulus selbst im 11. Kapitel des 2. Korintherbriefes gibt: „von den Juden habe ich fünfmal die Strafe der 39 Schläge erhalten; ich ward dreimal gegeißelt, einmal gesteinigt, litt dreimal Schiffbruch und trieb einen vollen Tag lang auf offenem Meer". Das Wenigste davon können wir aus der Apostelgeschichte belegen, und einige dieser Ereignisse mögen wohl in diese zweite Periode der Paulusmission fallen. Sie schloß aber nicht mit erneuter Verfolgung, sondern damit, daß Paulus nach Antiochia in Syrien geholt wurde, in die Stadt, in der das Christentum bereits frühzeitig von Jerusalem aus angesiedelt worden war (s. S. 25). Damit mündet die Arbeit des Apostels, die er bisher im Gehorsam gegen Gottes Ruf auf eigene Verantwortung getrieben hatte, in die sozusagen offizielle Missionsarbeit der christlichen Gemeinde. Derjenige, der Paulus nach A n t i o c h i a holt, ist Barnabas, „Levit", also dem Tempelkult irgendwie zugehörig und nach Apg. 4,36 in Jerusalem ansässig, zugleich aber hellenistischer Jude, aus Zypern gebürtig — also in dieser
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doppelten Beheimatung dem Paulus nicht unähnlich. Lukas läßt ihn bereits in Jerusalem die Vermittlung zwischen Paulus und den Uraposteln übernehmen (Apg. 9,27); hier in Antiochia ist er offenbar derjenige gewesen, der die Brücke zwischen beiden Missionen, der paulinischen und der antiochenischen, geschlagen hat. Diese hatte inzwischen einen Missionsstil herausgebildet, der, gemessen an Jerusalem, wesentlich freier war und nach Apg. 11,20 auch Heidenbekehrungen einschloß. Man kann sich das gut vorstellen in dieser zweisprachigen Stadt, die heute noch als Antakije an einer Sprachgrenze und in einem politischen Wetterwinkel, dem Golf von Alexandrette, liegt, und deren Ruinen uns die Größe und Bedeutung dieser dritten Stadt des Imperiums ahnen lassen: zu der hellenistischen Judengemeinde gehörten nicht nur wirkliche Proselyten, Volljuden heidnischer Herkunft, sondern auch „gottfürchtende Heiden", unbeschnittene Gasthörer der Synagoge (s.S. 21). W e n n diese Menschen von der christlichen Predigt ergriffen wurden, war ein gelegentlicher Übergang zur Heidenmission unschwer zu vollziehen. Aber nun trat der Anwalt der grundsätzlichen Heidenbekehrung, Paulus, mit seiner Leidenschaft und seinem Radikalismus in diese Arbeit ein. Nun wurde Antiochia der Mittelpunkt der Heidenmission und wurde immer mehr, was es nach der Apostelgeschichte schon vorher war, der Sammelpunkt besonders begabter christlicher Lehrer, die Lukas „Prop h e t e n " r.er.nt (Apg. 11,27; 13,1), und deren Art in der Tat nicht frei von ekstatischen Zügen ist. Sie entstammen zum Teil der jüdischen Diaspora des Mittelmeers, und haben durch ihre Wirksamkeit in Antiochia eine weltgeschichtliche Entscheidung angebahnt, die Paulus durch seine Wirksamkeit dann vollendet hat. Das Christentum, im aramäischen Sprachbereich auf orientalischem Boden erwachsen, wurde nunmehr eine Religion der Mittelmeerwelt, d. h. der hellenistischen Kultur, des römischen Reiches. Denn nicht von dem estD i b e l i u s , Paulus.
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syrischen Edessa, sondern von dem westsyrisch-hellenistischen Antiochia ist der entscheidende Zug des Evangeliums ausgegangen. Eine Nachricht der Apostelgeschichte ist bezeichnend: hier in Antiochia seien die Gläubigen zuerst „Christianer", Christen, genannt worden (11,26). Die Notiz steht zeitlich an falscher Stelle, denn Paulus kennt den Christen-Namen noch nicht. Aber die Verbindung mit Antiochia ist trotzdem bedeutsam; denn der Name ist eine lateinische Bildung, geschaffen von Leuten, die „Christus" für einen Eigennamen hielten (nicht mehr für die griechische Wiedergabe von „Messias" = Gesalbter); auch dies weist auf den Zusammenhang mit dem Westen, d. h. mit der Welt der Kultur und des Imperiums. Antiochia ist das dritte Reisezentrum des Apostels. Auf eine Offenbarung hin beginnen Paulus und Barnabas eine Fahrt nach Zypern, Pamphylien, Pisidien, Lykaonien. Sie sind von Johannes Markus aus Jerusalem, einem Verwandten des Barnabas, begleitet. Des Barnabas Beziehung zu seiner Heimat Zypern bestimmt wohl auch die Wahl der ersten Station. Von Seleucia, der Hafenstadt Antiochias, geht es nach Salamis auf Zypern; hier predigen sie beide in der Synagoge. Auf der weiteren Wanderung kommen sie in Paphos vor den Prokonsul Sergius Paulus; Lukas gibt hier eine Geschichte wieder, die mit der Überwindung des jüdischen Wahrsagers am Hofe des Prokonsuls und mit dem Gläubigwerden des Römers schließt. Da von Taufe und Gemeinde nichts gesagt ist, darf man immerhin fragen, ob dieses „Gläubigwerden" nicht einfach interessierte Geneigtheit bedeutet. Die Reisenden fahren dann nach Kleinasien und werden in Perge (Pamphylien) von Markus im Stich gelassen, der aus irgendwelchen Gründen nach Jerusalem zurückkehrt. Ihre erste große Predigtstation in Kleinasien ist das andere, minder bedeutende Antiochia, auf der Grenze von Pisidien und Phrygien hoch im Gebirge gelegen. Hier kommt es zu einer wirklichen Gemeindegründung
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aus Hörern der Synagoge. Kein Wunder, daß sich die Juden zur W e h r setzen; sie tun es auf dem W e g über vornehme Frauen, die Gasthörerinnen der Synagoge sind, Und setzen bei deren Männern eine Ausweisung der christlichen Missionare durch. Ähnliches geschieht in den Städten Lykaoniens, Ikonium und Lystra: immer sind es die Juden, die Paulus und Barnabas verfolgen, ihnen sogar nachreisen, das Volk gegen sie aufhetzen und die Apostel zur Flucht zwingen. Trotzdem kommt es hier wie in der letzten Station Derbe zu ausgebreiteter Wirksamkeit und der Begründung von Gemeinden. Aus Lystra hat die Apostelgeschichte eine bezeichnende Szene erhalten (14,8—18). Nachdem Paulus einen Lahmen geheilt hat, gerät das Volk in Erregung; man hält die christlichen Missionare für Götter und sieht in dem Sprecher, dem Paulus, den Götterboten Hermes, in Barnabas den Göttervater Zeus. Schon bringt der Priester des vor dem Tore gelegenen Zeustempels die Opferstiere herbei, da gelingt es den Missionaren, die gotteslästerliche Huldigung abzuwehren. Von Derbe aus, wo sie ungestörter arbeiten, kehren sie denselben W e g nach Pamphylien zurück, predigen in Perge und fahren von der Hafenstadt Attalia unmittelbar nach Syrien. Wären sie von Derbe aus weitergegangen, so wären sie über den Taurus nach Tarsus gelangt. Die Umkehr würde zu der Vermutung, daß Paulus dort schon gewirkt hatte, stimmen: er wollte lieber die neuen und gefährdeten Gemeinden noch einmal aufsuchen als das alte Missionsfeld betreten. Wohl aber hat er es durchreist, als er sich nach der Apostelbesprechung in Jerusalem zu einer weiteren Fahrt anschickt, die ihn über Kilikien, Lykaonien, Phrygien, Galatien und schließlich Troas nach Mazedonien und Griechenland führt. Die längste Zeit, über 18 Monate, hat er auf dieser Reise der Arbeit in K o r i n t h gewidmet; diese Stadt zwischen den Meeren, der „moderne" Verkehrsmittelpunkt im Gegensatz zum 5*
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klassischen Athen, ist das vierte Missionszentrum des Paulus geworden. Aber er ist nicht so bald und nicht ohne größere Unterbrechungen dahin gelangt. Wir können die Begebenheiten im einzelnen nicht sicher feststellen, weil Lukas diese Reise zunächst sehr abgekürzt und zumeist auch ohne Stationsangaben erzählt. Denn ihm liegt daran darzutun, daß es nicht der Wille des Paulus, sondern Gottes F ü h r u n g war, die den Apostel jetzt schon nach Griechenland brachte und so dem Evangelium den W e g nach Rom erschloß. Für Lukas bedeutet es einen wesentlichen Höhepunkt in der Laufbahn des Apostels, daß er auf dem klassischen Boden Athens steht — obwohl es dort anscheinend nicht zu einer wirklichen Gemeindegründung kommt; darum legt er dem Paulus jene berühmte Rede auf dem Areopag in den M u n d (Apg. 17, 22ff.), die im Sinn des Lukas das Muster einer Predigt an die Heiden darstellt. Darum redet er auf der Hinreise durch Kleinasien mehrfach von Eingriffen des „Geistes" in die Reise (Apg. 16, 6. 7.9) und berichtet nicht, wie man sich diese vorzustellen, und was Paulus auf dieser Fahrt wirklich erlebt habe. Wir müssen also Wesentliches nach den Paulusbriefen ergänzen. Zunächst kommt es zu allerhand Vor- und Zwischenspielen. Im syrischen Antiochia scheinen Paulus und Barnabas, als sie von der Apostelbesprechung zurückkehrten, eine Zeitlang verweilt zu haben (Apg. 15,35 gegen 15,36). Damals hat wohl auch jene Auseinandersetzung mit Petrus über die Tischgemeinschaft mit den Heiden stattgefunden, von der Paulus Gal. 2,11 ff. spricht, und die, irren wir nicht, den Anfang einer Entfremdung mit Barnabas bildete. Zum Bruch kam es, als Barnabas seinen Verwandten Markus, der sie einst treulos verlassen hatte, wieder mit auf die Reise nehmen wollte. Paulus verweigerte das, trennte sich von Barnabas und Markus, nahm den Silas-Silvanus (und dann von Lystra aus den Timotheus) mit und zog durch Kilikien über den Taurus in das Gebiet der vori-
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gen Reise. Seine Absicht war offenbar, nun, nach dem Süden, die Westküste Kleinasiens in Angriff zu nehmen, die Gegend der großen Griechenstädte Ephesus, Smyrna, Pergamon. Aber da es ihnen „vom heiligen Geist verwehrt wurde, das W o r t in der Provinz Asia d. h. der kleinasiatischen Westküste) zu predigen" Apg. 16, 6), zogen sie durch Phrygien und Galatien, d. h. durch die Landschaften des zentralen Kleinasiens, und — so dürfen wir die b e w u ß t verkürzende Apostelgeschichte ergänzen — predigten nun dort, in Städten phrygisch-galatischer Bevölkerung wie Amorion, Pessinus, Orkiitos, Nakoleia, die von dem Missionar bei der Planung der Reise kaum in Aussicht genommen waren. Es gibt freilich eine Auffassung des Namens Galatien, die auch die bereits missionierten Städte in Lykaonien und Phrygien einschließt; danach sieht der Verlauf der Reise natürlich anders aus. Nach der eben gegebenen Darstellung aber wären in dieser Zeit die Gemeinden gegründet worden, an die der Galaterbrief gerichtet ist. Dann dürfen wir die W o r t e dieses Briefes 4 , 1 3 heranziehen, daß Paulus bei der Missionierung der Galater unter einem Anfall seiner Krankheit gelitten habe (s.S. 3 9 f . ) , u n d dürfen vielleicht darin das göttliche Zeichen vermuten, das nach Lukas den Verzicht auf die Küste und den unfreiwilligen Aufenthalt in MittelKleinasien bedingt hat. W e n n in diesen Gegenden die sprachliche Verständigung vielleicht nur mit einem Teil der Bevölkerung möglich war, mußte Paulus u m s o mehr danach trachten, nach Norden in die Städte Bithyniens zu ausgedehnterer Wirksamkeit zu gelangen. Aber wieder heißt es Apg. 16,7: „Jesu Geist erlaubte es ihnen nicht". Die Missionare zogen daraufhin „über Mysien hinaus", d. h. offenbar ohne Predigtaufenthalt nach Troas an der Küste des ägäischen Meeres, und dort sieht Paulus — es ist der dritte Eingriff göttlicher Macht — in nächtlichem Gesicht einen Mazedonier, der ihn bittet: „komm herüber und hilf u n s " (Apg. 16, 9). Da gleich darauf in der Erzählung das „ w i r " ein-
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setzt, die Reisegesellschaft also offenbar um einen vermehrt ist, der sich dann in Philippi wieder verliert, also wohl in Mazedonien zu Hause ist, so ist es erlaubt, aber keineswegs geboten, das nächtliche Gesicht mit dem Auftreten dieses Gefährten, vielleicht des Lukas, in psychologische Verbindung zu bringen. Das aber wird nun klar: die ganze bisherige Reise ist für die Apostelgeschichte nur das Vorspiel zu dem Wirken des Paulus in Griechenland. Denn der Aufenthalt in Mazedonien ist nur von kurzer Dauer, aber reich an Erfolgen. Nachdem sie schnell über Samothrake nach der Hafenstadt Neapolis (heute Kavalla) und von dort nach Philippi gelangt sind, wird hier im Hause der Purpurhändlerin Lydia die erste Zelle der künftigen blühenden Gemeinde geschaffen. Der Aufenthalt endet mit einer dramatischen Begebenheit, die Lukas in Form einer Wundergeschichte erhalten hat (Apg. 16,16—40). Als Paulus eine wahrsagende M a g d von ihrer seelischen Störung geheilt, ihre Herren damit aber auch um die besondere Veranlagung des Mädchens und den daraus entspringenden Gewinn gebracht hat, werden die Missionare durch einen Volksaufstand an die Behörde ausgeliefert und nach einer Geißelung im Gefängnis interniert. Dort aber werden sie durch ein Erdbeben als Gottesboten legitimiert, so daß der Gefängniswärter sich zur Botschaft von Christus bekehrt und die Prätoren, von Furcht ergriffen, sie bitten, die Stadt zu verlassen. In diesen von der Apostelgeschichte anschaulich dargestellten Szenen — es ist die ausführlichste Erzählung aus der Missionsarbeit des Paulus — tritt in der Tat ein neuer Geist siegreich trotz aller Schlichtheit den Bräuchen der alten Welt gegenüber: zerstörend, wenn er mit der Krankheit jenes Mädchens auch den Aberglauben vernichtet; aufbauend, wenn der Gefängnisaufseher in Verzweiflung über die vermeintliche Flucht der Gefangenen Selbstmord begehen will, es aber unterläßt, als er die Missionare samt allen andern Gefan-
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genen trotz der geöffneten Türen in der Haft vorfindet; endlich imponierend, wenn die unschuldig Verhafteten die heimliche Entlassung ablehnen und sich von der Behörde selbst befreien lassen. Von Philippi zieht Paulus mit seinen Gehilfen (aber jetzt wieder ohne den Urheber des „wir" in der Apostelgeschichte) über Amphipolis und Apollonia nach Thessalonike, dem heutigen Saloniki, wo er nur einige Wochen, aber mit großem Erfolge arbeitet. Schließlich müssen die Missionare einem von den Juden angezettelten Aufstand durch nächtliche Flucht ausweichen. Sie kommen nach Beröa (heute Verria), wo sie Ähnliches erleben; nur geht die Verfolgung diesmal nicht von der örtlichen Judenschaft, sondern von der in Philippi aus. In Athen dagegen scheint überhaupt keine Gemeinde zustande gekommen zu sein; die Apostelgeschichte hat zwar die Begegnung des christlichen Apostels mit dem griechischen Geist in der Rede auf dem Areopag symbolisch dargestellt; sie läßt aber auch den Mißerfolg deutlich erkennen (17,34). Und so kommt Paulus endlich auf sein eigentliches Arbeitsfeld, das Missionszentrum, von dem aus er anderthalb Jahre lang gewirkt hat: Korinth. Hier treffen allerlei besonders günstige Bedingungen für den Erfolg zusammen: die Hafenstadt, in der Ost und West sich begegneten, wo orientalisches Denken sich in griechischer Sprache kundgab, die Stadt einer starken Judenschaft und vieler „gottfürchtender Heiden", eine Stadt der Suchenden und zweifellos vieler Verlorenen. Die Apostelgeschichte stellt den großen Erfolg der Mission nicht in einer Einzelgeschichte, sondern symbolisch in einem Nachtgesicht dar: der Herr selbst verkündet seinem Diener, daß er „ein großes Volk in dieser Stadt habe" (18,10). Dagegen. bringt Lukas verhältnismäßig viel Personalangaben aus jener Zeit: der Berufsgenosse Aquila und seine Frau Priskilla, Diasporajuden, die soeben infolge der Juden-Ausweisung unter Claudius aus Rom haben weichen müssen, ge-
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ben ihm Quartier und vermutlich auch Arbeitsgelegenheit und Handwerkszeug; er hat sich in Korinth ja selbst erhalten. Als Paulus seine Predigt in der Syna g o g e beginnt, kommt es nach einiger Zeit zum Bruch mit den Juden, die allmählich merken, welchem Mann und welcher Botschaft sie Aufnahme gewährt haben. Der Apostel geht mit seiner Predigt in ein Nachbarhaus; wieder erfahren wir den Namen: Titius Justus, ein „gottfürchtender Heide", ist der Besitzer. Sogar einer der Synagogenvorsteher, Crispus, folgt ihm. Aus dieser Zeit der ersten Wirksamkeit in Korinth stammen die beiden kurz nacheinander verfaßten Briefe an die Gemeinde in Thessalonike. Zunächst scheint auch die Judenschaft das Missionswerk unbehelligt gelassen zu haben; sie erheben sich erst, „als Gallio Prokonsul w a r " (Apg. 18,12) — wir wissen nicht, warum gerade Gallios Amtsantritt die Gelegenheit zu einem jüdischen Tumult bot; wir wissen aber, wieviel diese E r w ä h n u n g des Gallio und seines einjährigen Prokonsulats für die Chronologie des Paulus bedeutet (s. S. 53). Denn wir besitzen, in Stein verewigt, einen Brief des Kaisers Claudius an die Stadt Delphi, in dem er den Gallio „meinen Freund und Prokonsul von A c h a j a " nennt. Die Zeit dieses Briefes ist zu errechnen, da der Kaiser sich darin nennt „zum 26. Mal als Imperator akklamiert". Die 26. Akklamation fällt in die Zeit von Anfang 52 (oder Ende 51) bis 1. August 52; an diesem Datum hatte der Kaiser schon die 27. Akklamation. Der Prokonsul trat sein Amt gewöhnlich im Frühsommer an und blieb ein Jahr; das Prokonsulatsjahr des Gallio (des Bruders des Philosophen Seneca) fällt also 51—52 oder, unwahrscheinlicher, ein Jahr später. Die Abweisung der Juden durch den Prokonsul führt zu einer Schlägerei, bei der ein Synagogenvorsteher Sosthenes — es ist der sechste Eigenname aus Korinth — der leidende Teil ist. Die Abreise des Paulus von Korinth erfolgte, wie es scheint, in Frieden, da der Prokonsul nicht geneigt war einzugreifen. Priskilla und
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