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German Pages 198 Year 2004
VERA NIEHUS
Paul von Hatzfeldt (1831-1901)
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Johannes Kunisch und Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer
Band 27
Paul von Hatzfeldt (1831-1901)
Politische Biographie eines kaiserlichen Diplomaten
Von Vera Niehus
Duncker & Humblot . Berlin
Die Philosophische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 3-428-11466-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 § Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende politische Biographie Paul von Hatzfe1dts wurde im Sommersemester 2002 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Aufrichtig danken möchte ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Lothar Maier - vor allem für seine Großzügigkeit, mir die Freiheit zu gewähren, mich mit meiner Arbeit auf einem Gebiet außerhalb der Osteuropäischen Geschichte zu bewegen. Mein Dank gilt ebenso Herrn Prof. Dr. Winfried Baumgart, der nicht nur freundlicherweise das Korreferat übernommen, sondern - mit einem Hinweis auf das Verhältnis Otto von Bismarcks zu seinen Botschaftern - die Arbeit letztlich angeregt hat. Willkommene finanzielle Unterstützung habe ich durch ein Stipendium der Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten. Danken möchte ich den Mitarbeitern der von mir besuchten Archive; besonders hervorheben möchte ich diejenigen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, die auch während der Umzugsvorbereitungen von Bonn nach Berlin meine Aktenwünsche zuverlässig und schnell erfüllten. Der Preußischen Historischen Kommission - vertreten durch ihren Vorsitzenden Herrn Prof. Dr. Johannes Kunisch - bin ich zu großem Dank verpflichtet für die Aufnahme meiner Dissertation in die Schriftenreihe "Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte". Es bleiben Worte des privaten Dankes, die an den Menschen gerichtet sind, der mir mit seinem ideellen und nicht zuletzt finanziellen Rückhalt, seiner Geduld und Zuneigung die Gelegenheit gegeben hat, mich ganz der Arbeit an Paul von Hatzfeldt zuzuwenden. Als Zeichen meiner Dankbarkeit möchte ich diese Arbeit daher meiner Mutter widmen. Hamm, im Dezember 2003
Vera Niehus
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung........................................................................
11
B. "Wir leben in einer heftigen Zeit." Herkunft und Werdegang (1831-1859) ...
21
I. Kindheit und Jugend im Vormärz und während der Revolution 1848/49 . . . . . .
21
11. "Reaktion" nach 1848/49: Seitenwechsel und Anpassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
I. Privater und politischer Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
2. "Studentenleben": Beweis der Hoffähigkeit als Lebensinhalt .............
47
"Die Idee einer wirklich großen und raschen Karriere." Diplomatische Lehrund Wanderjahre (1859-1878) ..................................................
53
I. Eintritt in den diplomatischen Dienst Preußens: Gesandtschaftsattache und überzähliger Legationssekretär in Paris (1859-1865) ........................
53
II. Wartestellung in Den Haag (1865 - 1868) ....................................
69
III. Bewährungsprobe in der Wilhelmstraße 76 und während des deutsch-französischen Krieges (1868-1874) ................................................
73
IV. Die erste "eigene" Mission: Gesandter in Madrid (1874-1878) ..............
78
D. "Weder als politischer Waffenlieferant noch als diplomatischer Generalstäbler irgendwelcher Seite figurieren". Botschafter in Konstantinopel (1878 -1881) ..
88
I. Anfangsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
c.
11. Die erfolgreiche Regelung der montenegrinischen und griechischen Frage (1880/81) ...................................................................
94
III. Hatzfeldt als Initiator deutscher Zivil- und Militärrnissionen in die Türkei ....
103
IV. Botschafter oder Staatssekretär? Der lange Weg zur Entscheidung (18791881) ........................................................................
105
8
Inhaltsverzeichnis
E. "Tausch ( .•• ) vom Pferd auf den Esel." Ungeliebtes Intermezzo als Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1881182-1885) ................................. 112 I. Vorn Provisorium zum Definitivum (1881/82) ................... ............
112
11. Hatzfeldts Amtsführung als Staatssekretär. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
III. Hatzfeldt - ein Staatssekretär mit Ambitionen oder ein "Opfer" von Bismarcks "Nachfolger-Syndrom"? ..................................................... 125 F. Die "Möglichkeit einer wirklichen Gruppierung ( ••. ) mit England." Botschafter in Großbritannien (1885 -1901) ............................................. 130 I. Ankunft auf unbekanntem politischem Terrain ...............................
130
11. Die deutsch-britischen Beziehungen von 1885 bis 1901 .................... . .
135
1. Die deutsch-britischen Beziehungen in der Ära Bismarck (1885 -1890) ..
135
2. Exkurs I: Friedrich von Holsteins "Geheimpolitik" in der Ära Bismarck ..
143
3. Die deutsch-britischen Beziehungen während des "Neuen Kurses" (1890-1894) ............................................................ 146 4. Exkurs 11: Holsteins und Hatzfeldts Bemühungen um eine deutsch-britische Annäherung: Vermittlung im britisch-portugiesischen Kolonialkonflikt und in der ägyptischen Frage zwischen Großbritannien und der Türkei (1891) ............................................................ 152 5. Die deutsch-britischen Bündnisgespräche der Jahre 1898 und 1901 und die Politik der "kleinen Schritte" ......................................... 155 III. Paul von HatzfeIdts außenpolitische Konzeption
162
IV. Krankheit, Intrige, Abschied und Tod ........................................
166
G. Resümee .........................................................................
178
Quellen- und Literaturverzeichnis ..................................................
182
Quellen .......................................... . ..................................
182
Ungedruckte Quellen........................................... . .................
182
Aktenpublikationen, Briefwechsel, Memoiren, Tagebücher .......................
183
Inhaltsverzeichnis
9
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Personenverzeichnis .................................................................
193
Sachwortverzeichnis ........................ . .......... . .......... . .......... . .......
196
Abkürzungen DDF Geh. Pap. GP GW Ha-Pap. HStAD PA/AA
Documents diplomatiques fran~ais Holstein, Geheime Papiere Die große Politik der europäischen Kabinette Bismarck, Gesammelte Werke Hatzfeldt, Nachgelassene Papiere Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes
A. Einleitung Im Jahr 1925 bezeichnete es Hans Rothfels in einer Rezension der Erinnerungen des Diplomaten Radowitz als eine "reizvolle Aufgabe, die Geschichte der Bismarckschen Außenpolitik durch Einzelbiographien ihrer Organe, durch eine vergleichende Botschaftercharakteristik aufzulockern". 1 Rothfels versprach sich von diesem Vorgehen offensichtlich einen Beitrag zum besseren Verständnis der deutschen Außenpolitik im späten 19. Jahrhundert. Er argumentierte, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den einzelnen Individuen des diplomatischen Korps', ihrer Persönlichkeit und ihrem Wirken einen geweiteten Blick auf die bislang nur durch die offiziellen Akten vermittelten Ereignisse erlaube, diesen weitere Gesichtspunkte hinzufüge und Farbigkeit verleihe. Darüber hinaus lasse sich der "produktive Anteil der Mitarbeiter", also ihr Einfluß auf die Konzeption und Ausgestaltung der Außenpolitik des Deutschen Reiches und seiner bilateralen Beziehungen, deutlicher erkennen und der Kurswechsel des Jahres 1890, seine Ursachen sowie die mit ihm verbundene "Legendenbildung" besser beurteilen. Diese (methodische) Anregung des späteren Gründers der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Mitarbeiter Bismarcks aus dem Schatten des "Titanen" treten zu lassen, sollte nicht ohne Nachhall bleiben. Denn in den dreißiger Jahren entstanden mehrere Dissertationen, die dem personalen Element Priorität einräumten und einige große Botschafter der Bismarckära in den Mittelpunkt der Untersuchung stellten. 2
I Hans Rothfels: Die Erinnerungen des Botschafters von Radowitz, in: Archiv für Politik und Geschichte 4 (1925), S. 389-398, Zitat S. 391, ebenso folgende Zitate. Vg!. auch HansJoachim Schoeps: Bismarck über Zeitgenossen. Zeitgenossen über Bismarck, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, S. 97, mit einer ähnlich lautenden Anregung. 2 Besondere Aufmerksamkeit durfte Schweinitz für sich reklamieren. Alfred Helms (Der Botschafter Hans Lothar von Schweinitz und seine politische Gedankenwelt, Diss. phi!. Universität Breslau 1933), Johanna Seligmann (Hans Lothar von Schweinitz. Die Bedeutung seiner politischen Tätigkeit, Diss. phi!. Universität Bern 1935) und Otto Weber-Krohse (Hans Lothar von Schweinitz. Der Botschafter Wilhelms I. als Charakter und Staatsmann, Diss. phi!. Universität Königsberg 1937) beschäftigten sich mit dem in Wien und St. Petersburg akkreditierten Genera!. Münster, der in London und Paris wirkte, war die Arbeit von Ulrich Koch (Botschafter Graf Münster. Studien zu seiner Lebensgeschichte, Diss. phi!. Universität Göttingen 1937), Hatifeldts Londoner Jahren diejenige von Marie-Luise Wolf (Botschafter Graf Hatzfeldt. Seine Tätigkeit in London 1885 -1901. Studie zur Geschichte der deutschenglischen Beziehungen, Diss. phi!. Universität München 1935, Teildruck) gewidmet. Alois Pfitzer schließlich befaßte sich zugleich mit drei Botschaftern (Prinz Heinrich VII. Reuß,
12
A. Einleitung
Bis auf Paul von Hatzfeldt, der - sieht man einmal von kleineren Arbeiten ab 3 bislang keine umfassende biographische Würdigung erfahren hat, fanden diese Diplomaten später noch weitere Biographen. 4 Folgt man Klaus Hildebrands 5 Einschätzung, so ist der Geschichte der kaiserlichen Diplomaten auch künftig wissenschaftliches Interesse garantiert. Nachdem Reiz und Nutzen einer biographischen Würdigung der Botschafter des Deutschen Kaiserreiches im allgemeinen dargelegt sind, stellt sich die Frage, welche Kenntnis in der sogenannten breiteren Öffentlichkeit über Paul von Hatzfeldt im besonderen vorhanden ist. Historischen Fachkreisen dürfte er als wichtiger außenpolitischer Mitarbeiter Bismarcks und seiner Nachfolger geläufig sein. General von Schweinitz, Fürst Münster als Mitarbeiter Bismarcks, Diss. phil. Universität Tübingen 1936, Teildruck). 3 Helms berücksichtigt in seiner Betrachtung zu Bismarcks großen Botschaftern (zu den in Anm. 2 genannten treten noch Hohenlohe und Radowitz hinzu; diese sechs Kollegen wurden von dem deutschen Gesandten in München, Georg Freiherr von Werthem, als "große Propheten" bezeichnet) auch Hatifeldt, S. 9 - 21, hier S. 16 f. Ferner vgl. Heinz Günther Sasse: 100 Jahre Botschaft in London. Aus der Geschichte einer deutschen Botschaft, Bonn 1963, S. 16-21; Hans Philippi: s. v. "Melchior Gustav Paul Graf v. Hatzfeldt-Wildenburg", in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, S. 65 - 67; Karl-Alexander Hampe: Das Auswärtige Amt in der Ära Bismarck, Bonn 1995 (= Diss. phil. Universität Bonn 1994), S. 183191. Gerhard Ebel (Hg.) legt in der Einleitung zu Botschafter Paul Graf von Hatzfeldt. Nachgelassene Papiere 1838-1901,2 Bde., Boppard 1976 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 51) eine orientierende Kurzbiographie Hatifeldts vor (S. XV-LU) und läßt darüber hinaus - bei einer nahezu 1500 Seiten "starken" Edition selbstverständlichdie Quellen für Hatifeldt sprechen. Vgl. auch Konrad Fuchs: Neue Beiträge zum Leben und Wirken des Diplomaten Paul Graf von Hatzfeldt-Wildenburg, in: Nassauische Annalen 94 (1983), S. 335 - 340. Wemer Frauendienst wies 1939 darauf hin, daß ihm Hatifeldts Sohn Hermann den Auftrag erteilt habe, eine politische Biographie resp. (wegen der "Episode Lassalie") eine Monographie über die Londoner Jahre seines Vaters zu schreiben; vgl. Wemer Frauendienst: Deutschland und England an der Jahrhundertwende. Mit unveröffentlichten Dokumenten aus dem Nachlaß des Botschafters Grafen Paul von Hatzfeldt, in: Berliner Monatshefte 17 (Dezember 1939), S. 970-985, hier S. 970, Anm. 1. Allerdings kam es nie zu einer Umsetzung des Auftrags. Auch Friedrich Thimme nahm zumindest Einblick in Paul von Hat;:feldts schriftliche Hinterlassenschaft und kam zu dem Schluß, daß sich daraus "sehr wohl eine Life and LettersBiographie des Grafen Hatzfeldt zurechtzimmern" lasse. Zitat aus einem Brief Thimmes an seine Frau Emma vom 25. November 1933, in: Friedrich Thimme. 1868-1938. Ein politischer Historiker, Publizist und Schriftsteller in seinen Briefen, hg. v. Annelise Thimme, Boppard 1994 (= Schriften des Bundesarchivs 47), Brief Nr. 231, Schloß Crottorf, S. 357 f., Zitat S.358. 4 Vgl. Herbert von Nostitz: Bismarcks unbotmäßiger Botschafter. Fürst Münster von Derneburg (1820 - 1902), Göttingen 1968; Winfried Sühlo: Georg Herbert Graf Münster. Erbmarschall im Königreich Hannover, Hildesheim 1968 (= Niedersächsische Biographien, Bd. 2); ]örg Kastl: Am straffen Zügel. Bismarcks Botschafter in Rußland, 1871-1892, München 1994 (dabei handelt es sich um Reuß und Schweinitz). 5 Vgl. Klaus Hildebrand: Deutsche Außenpolitik 1871-1918,2. Auf!. München 1994 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 2), S. 118.
A. Einleitung
13
Aber - was ist von Hatzfeldt bekannt, das den Anspruch erheben kann, über Bismarcks angebliches Diktum, der Diplomat sei sein "bestes Pferd im Stall", oder die Tatsache, daß Hatzfeldt ein Sohn der mit Ferdinand Lassalle befreundeten "roten Gräfin" Sophie war, hinauszugehen? Konsultiert der Interessierte die aktuelle Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie6 , findet er immerhin neben Hatzfeldts Lebensdaten die wichtigsten Stationen seiner diplomatischen Laufbahn verzeichnet. Friedemann Bedürftig kommt das Verdienst zu, in dem anläßlich Bismarcks hundertstem Todesjahr erschienenen Taschenlexikon auch Hatzfeldt, dessen Lebensweg im folgenden mit einigen Stich worten konturiert werden soll, in den Personenkreis um den Reichsgründer einzubeziehen. 7 1831 geboren, geriet Paul Graf von Hatzfeldt-Wilden burg als Kind zwischen die "Fronten" im Scheidungs"krieg" seiner Eltern. Als junger Mann engagierte er sich während der 1848er Revolution unter dem Einfluß Lassalles im Düsseldorfer Volksklub vorübergehend für die Republik. Nach Jurastudium und Tätigkeit als Auskultator in Berlin trat Hatzfeldt ohne das eigentliche "Reifezeugnis" für den höheren Staatsdienst - das zweite Staatsexamen - auf Fürsprache Prinzessin Augustas 1859 in den diplomatischen Dienst Preußens ein. Wichtige Stationen seiner langen, mehr als vierzig Jahre währenden Dienstzeit waren Paris, wo Hatzfeldt der preußischen Gesandtschaft attachiert war und wo er nach Aufenthalten als Legationssekretär in Den Haag (1865 -1867) und als Vortragender Rat in Berlin (seit 1868) erneut während des deutsch-französischen Krieges im mobilen Hauptquartier des Auswärtigen Amtes arbeitete. Es folgten seit 1874 verantwortliche Tätigkeiten als Gesandter in Madrid, Botschafter in Konstantinopel (1878 - 1881), Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1881 /2- 1885) und wiederum Botschafter, diesmal in London (1885 - 1901). Die vorliegende politische Biographie will in quellennaher Darstellung und Interpretation den Versuch unternehmen, ein möglichst vollständiges, wenn auch nicht bis ins Detail erschöpfendes Bild des bislang nur skizzierten Diplomatenlebens Paul von Hatzfeldts zu zeichnen, um ihn, seine Tätigkeit und seine Leistung kritisch zu würdigen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Was ist eine Biographie? Wenig hilfreich bei der Beantwortung ist die Einschätzung "da kramt einer herum in den Abfallen, in der sogenannten Wirklichkeit, im Abgelebten".8 Denn hier wird weniger definiert als vielmehr der biographisch arbeitende Historiker (ja, der Historiker überhaupt) und damit seine Arbeitsmethode und Darstellungsform diskreditiert. Gleichzeitig gibt diese Stellungnahme der geringen Wertschätzung Ausdruck, die die Biographie zumindest zeitweise genoß. 20., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bd. 9, Leipzig/Mannheim 1998, S. 539. Vgl. Friedemann Bedürftig: s. v. "Paul Graf von Hatzfeldt-Wildenburg", in: Taschenlexikon Bismarck, München/Zürich 1998, S. 115. 8 Lion Feuchtwanger: Die Geschwister Oppermann, 7. Auflage Berlin 1998, S. 40. 6
7
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A. Einleitung
Die Biographie läßt sich zum einen als ein Erzählgenre verstehen, zum anderen als eine Darstellungsform der Geschichtsschreibung. Olaf Hähner beschreibt sie in seiner Dissertation 9 als eine "Form legitimer Geschichtsschreibung", die zur "Produktion historischen Wissens einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag" leiste. Hähners Ermunterung, sich zu ihr zu "bekennen", seine Bemerkung, es bedürfe "keiner Entschuldigung, als Historiker auch Biograph zu sein", verweist darauf, daß die Biographie in der Geschichtswissenschaft Anfechtungen ausgesetzt und "Konjunkturen" unterworfen war. Ende der siebziger Jahre wurde innerhalb der Disziplin ein allgemein nachlassendes Interesse an der Biographie als Darstellungsform bis hin zur Indifferenz konstatiert. 1O Ihr wurde mangelnde theoretische und methodische Rechtfertigung sowie Nähe zum Historismus und damit Rückschrittlichkeit vorgeworfen und ihr innovatives Potential angezweifelt. Nach Hähners Beobachtung 11 erlebte die Biographie in Deutschland seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre eine Renaissance. Vielleicht ist das problematische Verhältnis zur Biographie als historiographischer Darstellungsform auch ein spezifisch "deutsches" Phänomen, denn in Großbritannien, dessen Historie traditionell stärker biographisch ausgerichtet ist, scheint - laut Hähner - die "Pflege der Biographie" einen "Bestandteil der Nationalkultur,,12 auszumachen. Die Biographie rekonstruiert, präsentiert und deutet das Leben einer Person innerhalb der Geschichte. Bei der Darstellung sind zwei Perspektiven zu wählen, eine persönlich-biographische und eine sachbezogen-monographische, aus deren Verbindung die Lebens- und Tätigkeitsgeschichte der zu beschreibenden Person in ihrer jeweiligen Epoche resultiert. Die Ereignisgeschichte gibt die Rahmenbedingungen für die Handlungen der Person vor, mit denen sie wiederum in die Geschichte hineinwirkt. Hierbei läßt sich die (historische) Relevanz individuellen HandeIns ermessen. IdeaIerweise läßt sich in der Biographie des Einzelnen in nuce eine Synthese der Geschichte der jeweiligen Epoche finden. Darüber hinaus ist die (potentielle) Vermittlungsleistung der Biographie zu betonen, durch die Geschichte ein Antlitz erhält, damit zugänglich und nachvollziehbar wird. Bei der Biographie Paul von Hatzfeldts gebietet die Länge seiner Dienstzeit eine Schwerpunktsetzung, das Herausgreifen von Beispielen an historischen Knotenpunkten. So sollen seine Herkunft und sein Werdegang sowie seine diplomatischen Lehr- und Wanderjahre den Hintergrund für seine exponierten Positionen als Bot9 Vgl. Dia! Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main et al. 1999 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und Hilfswissenschaften, Bd. 829; zugleich Diss. phil. U-GH Siegen 1998), Zitate S. XI. 10 Vgl. Hagen Schulze: Die Biographie in der "Krise der Geschichtswissenschaft", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 29 (1978), S. 508-518; vgl. auch Hähners Abriß zu der fachwissenschaftlichen Diskussion in der Bundesrepublik nach 1945 über die historische Biographie, S. 4-8. \1 Vgl. Hähner, S. 7. 12 Vgl. Hähner, S. 19.
A. Einleitung
15
schafter in Konstantinopel und London sowie als Staatssekretär in der Wilhelmstraße, also den Zeitraum nach 1878, darstellen. Paul von Hatzfeldts Wahrnehmung und Bewertung der deutschen Außenpolitik im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ist besondere Beachtung zu schenken; eine (neue) Diplomatiegeschichte der Ära Bismarcks und Wilhelms 11. soll nicht entstehen - zumal einschlägige Überblicksdarstellungen und Studien zu einzelnen Problemen und Fragestellungen bereits in größerer Zahl vorliegen. Neben Einblicken in das Innenleben zweier Auslandsvertretungen und der zuständigen obersten Reichsbehörde lassen sich dabei Erkenntnisse über das Beziehungsgeflecht gewinnen, in das der Staatssekretär resp. Botschafter Hatzfeldt als Untergebener und Vorgesetzter eingebunden war. Wie gestaltete sich sein Verhältnis zu Mitarbeitern, Kollegen und Botschaftern anderer Mächte einerseits, zu Kanzler, Kaiser, fremden Staatsoberhäuptern und Staatsmännern andererseits? Wie erscheint Hatzfeldt im Urteil der "anderen"? Wurde er den ihm gestellten Aufgaben gerecht, wie ist seine Geschäfts- und Personalführung zu bewerten, zeichnete er sich durch Sachkunde aus, und vertrat er die Interessen des Deutschen Reiches im jeweiligen Gastland adäquat? Zog Hatzfeldt aus seinen Beobachtungen vor Ort Schlußfolgerungen und gab er Anregungen für die Gestaltung der deutschen Außenpolitik? Auf diese Fragen sollen im Rahmen dieser Arbeit Antworten gesucht werden. Seine Tätigkeit als Botschafter in Konstantinopel begann Hatzfeldt nach dem Berliner Kongreß 1878, um am Goldenen Horn eine klar umrissene und damit zeitlich befristete Aufgabe wahrzunehmen. (Nach heutiger Terminologie würde man wohl eher von einer - wenn auch mehrjährigen - Sondermission sprechen.) Er sollte im Zusammenspiel mit den Botschaftern der anderen Großmächte in Kollektivverhandlungen die Bestimmungen des Berliner Vertrages zur Ausführung bringen. Im Vordergrund standen dabei Grenzfragen zwischen der Türkei und Griechenland resp. Montenegro. Aufmerksamkeit verdient Hatzfeldts Haltung zu engeren Beziehungen zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich - durchaus in Abgrenzung oder in Weiterentwicklung von Bismarcks Vorstellungen - und zu einer eigenständigen deutschen Orientpolitik. Schließlich machte sich der Botschafter um deutsche Zivil- und Militärmissionen in die Türkei verdient und setzte sich bei Sultan Abdul Hamid H. dafür ein, daß deutsche Archäologen in Pergamon graben durften. Seinen Posten als Staatssekretär im Auswärtigen Amt trat Hatzfeldt mit Verzögerung, nach der Beseitigung von finanziellen und Eheproblemen, an, um das seit dem Tod Bernhard Ernst von Bülows im Jahr 1879 herrschende "Interregnum" zu beenden. Schon bald jedoch sollte der neue Mann in der Wilhelmstraße Bismarcks Unmut erregen. Der Kanzler reagierte zunächst verstimmt auf Hatzfeldts legere Amtsführung, die durchaus seinem Charakter entsprach und ihm bei Kollegen den Beinamen "der faule Paul" eintrug. Bismarck attestierte Hatzfeldt zwar, ein vortrefflicher Botschafter zu sein, sprach ihm aber die Befähigung zu ernsthafter und
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A. Einleitung
kontinuierlicher Routinearbeit ab. Darüber hinaus beäugte der Kanzler argwöhnisch die engen und freundschaftlichen Kontakte seines Staatssekretärs zum Hof des Kronprinzen, der sich angeblich unter seiner späteren Regierung nur Hatzfeldt als seinen Außenminister vorstellen konnte. Bismarck meinte hier die Gefahr eines liberalen Regierungswechsels zu erkennen und erklärte, er habe sich in Hatzfeldt geirrt, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht sei und sein Nachfolger werden wolle. In diesem Zusammenhang läßt sich zum einen Hatzfeldts Amtsführung als Staatssekretär näher beleuchten - immerhin trat er positiv bei (der Vorbereitung) der Kongo-Konferenz hervor. Zum anderen stellt sich die Frage, ob Hatzfeldt tatsächlich "Erbansprüche" auf die Position Bismarcks erhoben hat oder ob nicht vielmehr von einem "Nachfolge(r)-Syndrom" des Kanzlers zu sprechen ist. Hatzfeldts Wirken als Botschafter in London seit dem Spätherbst des Jahres 1885 schließlich war von dem Bemühen getragen, ein deutsch-britisches Einvernehmen herzustellen und damit das gegenseitige Verhältnis zu verbessern. Dabei ist Hildebrands Auffassung zu berücksichtigen, daß zwischen den beiden Staaten wenigstens bis zum Jahr 1890 ein Zustand der "bilateralen Normalität,,13 herrschte, und eine "antagonistische Entwicklung ( ... ) tatsächlich erst um die Jahrhundertwende" einsetzte. 14 Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit wurde Hatzfeldt mit der internationalen Krise um die bulgarische Einheit konfrontiert, in deren Verlauf sich die zwei europäischen Flügelrnächte Großbritannien und Rußland sowie Österreich-Ungarn - zumindest rhetorisch - besonders engagierten. Hier erhebt sich die Frage nach Hatzfeldts Anteil am Zustandekommen der Mittelmeerentente zwischen Großbritannien, Italien und Österreich-Ungarn im Jahr 1887, die - indirekter - Bestandteil des Bismarckschen Bündnissystems war. Vor dem Hintergrund der Bulgarienkrise bietet sich darüber hinaus die Erörterung eines Problems an, das Helmut Krausnick bereits im Jahr 1943 benannt hat. 15 13 Vgl. Klaus Hildebrand: Zwischen Allianz und Antagonismus. Das Problem bilateraler Normalität in den britisch-deutschen Beziehungen des 19. Jahrhunderts (1870-1914), in: Weltpolitik. Europagedanke. Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65 . Geburtstag am 30. Januar 1982, hg. v. Heinz Dollinger; Horst Gründer; Alwin Hanschmidt, Münster 1982, S. 305 - 331, S. 306, ebenso folgendes Zitat. Vgl. dagegen Paul M. Kennedy: The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860-1914, London 1980, der die Entwicklung des deutsch-britischen Gegensatzes als gleichsam notwendig betrachtet und seine wesentlichen Merkmale sich bereits in der Ära Bismarck abzeichnen sieht. 14 Bereits der Aufsatztitel umschreibt treffend, was sich hinter dem Begriff der "bilateralen Normalität" verbirgt. Staaten, deren Beziehungen zueinander durch diese Bezeichnung charakterisiert werden können, sind in ihrem Verhältnis genauso weit von dem Zustand der "doser connection" und Allianz entfernt wie von dem des Antagonismus' und der Feindschaft. Allerdings gestaltet sich die Pflege derartiger Beziehungen deutlich schwieriger als solcher, die einseitig von Allianz oder Antagonismus bestimmt sind; vgl. Hildebrand, Zwischen Allianz und Antagonismus, S. 315 u. S. 317.
A. Einleitung
17
Krausnick beschäftigt sich mit der Frage, ob Hatzfeldt im letzten Jahrfünft der Bismarekära noch ein "Mann des Kanzlers", "Bismarckianer" war, d. h. ob er die außenpolitische Konzeption des Reichskanzlers vorbehaltlos bejahte. 16 Der Historiker kommt zu der Überzeugung, daß Hatzfeldt mit Friedrich von Holstein in "außenpolitischer Gesinnungsgemeinschaft" verbunden war, indem beide einen Teil der "englischen Partei" unter den deutschen Diplomaten bildeten. Damit stellten - so Krausnick weiter - Hatzfeldt und Holstein, die er als Träger einer seit 1886 latent vorhandenen oppositionellen "Unterströmung" identifiziert, gleichsam die Vordenker einer "neuen, vom Bismarckschen Kurse in einseitig österreichischenglischem Sinne abweichenden Richtung" dar. 17 Bekanntlich war der als "graue Eminenz" apostrophierte Holstein ein Gegner der Rußlandpolitik Bismarcks und unterhielt geheime Kontakte zu Mitgliedern der österreichisch-ungarischen Botschaft in Berlin, um eine austro-britische Verbindung mit Stoßrichtung gegen das Zarenreich zu arrangieren, der sich Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt annähern sollte. 18 Auch Hatzfeldt war offensichtlich - wie er selbst in seinem Memoirenfragment betonte l9 - kein Verfechter der russischen Linie in Bismarcks Außenpolitik. So lehnte er wie Holstein den 1887 mit Rußland geschlossenen Rückversicherungsvertrag ab, weil ihnen dieser als unverträglich mit den übrigen Verpflichtungen des Deutschen Reiches erschien und sie darin Bismarcks Neigung, Österreich-Ungarn im Bedarfsfall preiszugeben, zu erkennen glaubten?O Sie gaben vielmehr einer eindeutigen Option für ÖsterreichUngarn und Großbritannien den Vorzug und erblickten in der Mittelmeerentente möglicherweise eine Vorstufe zu der nach 1890 auch offiziell gewünschten Annäherung Großbritanniens an den Dreibund. 21 In diesem Zusammenhang ist die Frage, wie Hatzfeldt auf Bismarcks "Bündnisangebote" der Jahre 1887 und 1889 an Großbritannien reagierte, wie er dazu Stellung bezog, von besonderem Interesse. 15 Vgl. Helmut Krausnick: Botschafter Graf Hatzfe1dt und die Außenpolitik Bismarcks, in: Historische Zeitschrift 167 (1943), S. 566-583. 16 Krausnick. Hatzfeldt, S. 566 f., ebenso folgende Zitate. 17 Krausnick. Hatzfeldt, S. 582 f. Vgl. auch Gregor Schöllgen: Die Unbotmäßigen? Des Kaisers Londoner Botschafter, in: Neue Politische Literatur 24 (1979), S. 384-398, hier S. 393, der in Hatifeldt einen der nach 1890 "maßgeblich ( ... ) für die chaotisch anmutende Politik des Neuen Kurses Verantwortlichen" erblickt. 18 Vgl. Krausnick. Hatzfe1dt, S. 572. 19 Hatifeldt kommentierte etwa die von Bismarck auch nach 1890 auf die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Rußland angewendete Theorie der zwei Eisen im Feuer lapidar als "mit Unrecht" angenommen; Ha-Pap. 1, Memoirenfragment, S. 65. Zu der besagten Theorie, "man muß stets zwei Eisen im Feuer haben", vgl. Dtto von Bismarck: Die gesammelten Werke. Bd. 9, Gespräche, 3. Bd.: Von der Entlassung bis zum Tode Bismarcks, hg. u. bearb v. Willy Andreas. Berlin 1926, Nr. 129: Gesprächsäußerungen zu dem Redakteur Hofmann in den neunziger Jahren in Friedrichsruh, S. 397 -401, hier S. 400. 20 Vgl. Krausnick. Hatzfe1dt, S. 582. 21 Vgl. Krausnick. Hatzfeldt, S. 578.
2 Niehus
18
A. Einleitung
Für den Zeitraum nach 1890 muß der Fokus zum einen auf Hatzfe1dts Beurteilung der Außenpolitik des Neuen Kurses unter Reichskanzler Caprivi und dabei insbesondere auf die Nichtverlängerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages gerichtet werden. Diese Entscheidung mußte der deutsche Botschafter in London - bei seiner dargelegten außenpolitischen Disposition - unumwunden und uneingeschränkt begrüßen. Zum anderen rückt Hatzfe1dts Einschätzung der von Bernhard von Bülow seit 1897 verfolgten Politik der "freien Hand", dem zuwartenden Lavieren zwischen den potentiellen Allianzpartnern Großbritannien und Rußland, das letztlich zur bündnispolitischen Isolierung des Deutschen Reiches führte, in das Zentrum des Interesses. So mußte diese Kurskorrektur Hatzfeldt zumindest in seiner persönlichen Auffassung - im Gegensatz zu seiner dienstlichen Haltung - mißfallen. Fand es seine Zustimmung, wenn das Deutsche Reich bei der Wahl seiner Bündnispartner Vertragsabschlüsse hinauszögerte und sich nicht - ähnlich wie, aber wiederum auch anders als Bismarck, der ein kompliziertes Vertragssystem anlegte - auf eine eindeutige Option festlegte? Hatzfeldt stieß sich laut Krausnick besonders daran, daß Deutschland das Zarenreich durch sein Entgegenkommen im Orient von Frankreich abzuwenden versuchte, während es gleichzeitig darum bemüht war, Großbritannien für ein verbindliches Abkommen zu gewinnen. Die "getreue Anlehnung" an die frühere Politik Bismarcks, an sein "Balkanrezept,m, die Hatzfeldt hier zu erkennen meinte, mußte bei ihm Kritik provozieren, weil er sowohl deutsche Interessen im Orient als auch Zusammenschlüsse wie den Dreibund und die Mittelmeerentente gefährdet sah. Den gescheiterten deutsch-britischen Bündnisverhandlungen der Jahre 1898 und 1901 konnte Hatzfeldt wegen seines sich rapide verschlechternden Gesundheitszustands keine wesentlichen Impulse mehr geben. Indem er aber während seiner gesamten Tätigkeit in London, angefangen mit dem Helgoland-Sansibar-Abkommen von 1890, die sukzessive Lösung peripherer Fragen in Afrika, im Femen Osten und im Pazifik erfolgreich betrieb, gelang ihm statt eines Allianzschlusses zumindest eine temporäre Verständigung, die die Möglichkeit eines Bündnisses beinhaltete. Darüber hinaus trat Hatzfeldt auch als Vermittler hervor, der sich - freilich nicht immer erfolgreich - um die Einigung bei Streitfragen, die zwischen Großbritannien und anderen Staaten bestanden, bemühte und verdient machte. Die bereits erwähnte, 1934 bei Karl Alexander von Müller entstandene Dissertation Marie-Luise Wolfs beschränkt sich auf die zuletzt beschriebenen Londoner Botschafterjahre Paul von Hatzfeldts und konnte sich dabei - zeitbedingt - nur auf eine unzureichende Quellenbasis stützen. 23 Neben der reichhaltigen zeitgenössischen Memoirenliteratur standen der Autorin "fast als einzige Quelle,,24 die einKrausnick, Hatzfe1dt, S. 579. Daher dürften auch die Fehler in der Darstellung resultieren; allein sechs lassen sich auf einer Seite (S. 7) feststellen. 22
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Wolf, Vorwort, S. 5.
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schlägigen deutschen und britischen Aktenpublikationen zur Verfügung, so daß sie den "Mangel an Material über das Leben des Botschafters,,25 beklagt. Deshalb kommt Wolf zu dem Schluß, daß "Endgültiges nicht zu sagen,,26 sei, es sich bei ihren Erkenntnissen folglich um ein Provisorium handele. Die von der Autorin geführte Klage über Materialmangel läßt sich heute angesichts der Ebelschen Edition27 , die an autobiographischem Material 28 neben dem erwähnten Memoirenfragment 29 Hatzfeldts einen umfangreichen Briefwechsel - u. a. mit seiner Mutter und Friedrich von Hoistein 30 - umfaßt, und der besseren Zugänglichkeit zu den Archiven nicht mehr aufrechterhalten. Die Nachlaß-Edition und die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin mit Hatzfeldts Personal- und diversen Botschaftsakten sind ergiebig genug, um vie privee und vor allem vie officielle des Diplomaten zu erhellen. Dabei ist jedoch die Aussagekraft der Akten, insbesondere die der Botschaftsberichte, im Hinblick darauf, welchen Aufschluß sie über eigenständige Gedanken Wolf, S. 6. Wolf, S. 5. 27 Diese wurde nach Auskunft von Hermann Graf Hatl/eldt erarbeitet, um den Nachlaß Paul von Hatl/eldts. der auf Schloß Schönstein lagert, "von weiterer Bearbeitung zu verschonen", da er "dazu nicht eingerichtet" sei (Brief vom 29. März 1999 an die Verfasserin). 28 Auf diese Quellengattung lassen sich der enger gefaßte Begriff der "Selbstzeugnisse" und derjenige der "Ego-Dokumente" anwenden. Vgl. dazu Benigna von Krusenstjem: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471 resp. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ,,Ego-Dokumente", in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996 (= Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte, Bd. 2), S. 11- 31. Krusenstjem beschreibt Selbstzeugnisse als selbstverfaßt und aus eigenem Antrieb entstanden, während sie Ego-Dokumente als Synopse der Quellen definiert, die eine "individuelle Wahrnehmung gesellschaftlichen Lebens" widerspiegeln (S. 470). Sie versteht die Autobiographie als Bestandteil der Quellengruppe Selbstzeugnisse, die wiederum Bestandteil der umfassenderen Quellengruppe der Ego-Dokumente sind. 29 Friedrich Thimme attestiert diesem Memoirenfragment einen "überragenden staatsmännischen Stil" (Brief Nr. 231 an seine Frau, S. 358). Das Fragment entstand während eines Krankheitsurlaubs Paul von Hatl/eldts im englischen Hastings vom Ende des Jahres 1892 bis zum Mai 1893. Er verfaßte es allein aus der Erinnerung und - zunächst - nur für sich selbst, da er in der Retrospektive ein Bild von der Persönlichkeit und der Politik Otto von Bismarcks gewinnen wollte, dessen scharfe Opposition gegen den Neuen Kurs er als "beklagenswert" betrachtete. Die Tatsache, daß Hatl/eldt zu Beginn der neunziger Jahre zu einem der Gegner des ehemaligen Reichskanzlers gezählt wurde (vgl. Pfitzer; S. 3), dürfte ihn motiviert haben, auch über sein Verhältnis zu Bismarck zu reflektieren, zumal er sich als dessen "Schüler" in der Außenpoltik verstand. Daher gab er seinen unvollendeten "Memoiren" den Titel Betrachtungen über den Fürsten Bismarck und seine Politik aufgrund persönlicher Erinnerungen und dreißigjähriger Bekanntschaft. 30 Letzterer stellt den Löwenanteil der Edition dar, wobei die Zahl der Hoistein-Briefe diejenige der Hatzfeldt-Briefe übersteigt und insofern eine Ergänzung der Holstein-Papiere darstellt. 25
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und Ideen Hatzfeldts zur deutschen Außenpolitik geben, sogleich zu relativieren. Denn gerade bei einem Vorgesetzten wie Bismarck ist davon auszugehen, daß Hatzfeldt, ebenso wie andere Botschafter, bei seiner Berichterstattung bereits vorhandene Intentionen und die Erwartungshaltung seines Chefs einrechnete, er sich also in der Affirmation der von Bismarck verfolgten Politik übte und sich auch im Innenverhältnis als wahrer Diplomat gerierte. Diese Überlegungen besagen aber nicht, daß Hatzfeldt - wie weiter oben bereits ausgeführt - über keine eigenen Vorstellungen zur deutschen Außenpolitik verfügte, die er in anderen Zusammenhängen äußerte. Stellt man daher die übergeordnete Frage nach Hatzfeldts außenpolitischer Konzeption, so ist diese an weitere Quellen als nur an die diplomatischen Akten, deren amtlicher Charakter größere Zurückhaltung verlangte, zu richten - nämlich an seine dienstliche Privatkorrespondenz. Auf diese Weise kann ein differenziertes Bild des kaiserlichen Diplomaten Paul von Hatzfeldt entstehen, der seine Kompetenzen genau kannte, sich aber neben der amtlichen zuweilen eine eigene Meinung gestattete, die sogar von der offiziellen Linie abweichen konnte (im Dienst als Diplomat betrieb er gleichsam einen "privaten" und außerhalb des Dienstes einen "öffentlichen Gebrauch der Vernunft"). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, daß ein Diplomat in der Ära Bismarck kaum mehr ein politischer Entscheidungsträger war. Deutsche Gesandte und Botschafter früherer Generationen verstanden sich als wesentlicher Faktor im außenpolitischen Entscheidungsprozeß ihres Landes. Ihnen wurde ein gewisser Einfluß auf die Gestaltung der jeweiligen bilateralen Beziehungen eingeräumt, ihre Berichte wurden als Grundlage für die Willensbildung herangezogen, und die außenpolitische Konzeption wurde im Dialog mit ihnen entworfen. Otto von Bismarck legte hingegen Wert auf Beobachtung, Berichterstattung ohne Werturteil und Ausführung der von ihm erteilten Instruktionen. Auf Diskussionen ließ er sich immerhin soweit ein, daß er gelegentlich bei dem Einwand eines Diplomaten für seine Politik warb, durch Argumente von der Richtigkeit seines Ansatzes zu überzeugen versuchte. Ein unabhängiger Geist wie Paul von Hatzfeldt konnte zu einer eigenen, abweichenden außenpolitischen Ansicht gelangen; ob aus dieser nonkonformen Haltung notwendigerweise mehr als Kritik an der herrschenden Meinung erwachsen mußte - nämlich (erklärte) Opposition und mangelnde Loyalität - bleibt zu fragen. Denn Hatzfeldt war bewußt, daß er sich als Diplomat letztlich dem Willen des leitenden Staatsmannes unterzuordnen hatte und ihm in seiner Funktion nicht die Planung der deutschen Außenpolitik zukam - zumal sein Blickwinkel als Gesandter resp. Botschafter durch die Außen sicht eingeengt war und Bismarck nicht dazu neigte, seinen Diplomaten alle Zusammenhänge und Hintergründe zu offenbaren.
B. "Wir leben in einer heftigen Zeit. ,,1 Herkunft und Werdegang (1831-1859) I. Kindheit und Jugend im Vormärz und während der Revolution 1848/49 Melchior Hubert Paul Gustav Graf von Hatzfeldt-Wildenburg, Weis- oder Kinsweiler zu Trachenberg wurde am 8. Oktober 1831 in Düsseldorf geboren. Er kam in einer unruhigen Zeit, der Epoche des Vormärz, zur Welt. Trotz äußeren Friedens und - gewaltsam erzwungener - innerer Ruhe gärte es unter der Oberfläche biedermeierlicher Wohlanständigkeit. Die Pariser Julirevolution des Vorjahres hatte ihre Wirkung auch auf Deutschland nicht verfehlt, wie sich an der zeitkritischen Publizistik und politischen Literatur - etwa die literarische Bewegung Junges Deutschland oder Georg Büchner, Ludwig Börne und Heinrich Heine - ablesen ließ. 1831 erhielt Sachsen eine Verfassung und Baden ein Pressegesetz. Zur gleichen Zeit wütete in Europa die erste Cholera-Pandemie, der u. a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Opfer fiel. 2 Das unstete Leben und die häufigen Ortswechsel, die bereits früh für Paul von Hatzfeldts Kindheit bestimmend wurden, waren jedoch weniger auf äußere Umstände als vielmehr auf Zwistigkeiten - um es zurückhaltend zu formulieren - zwischen seinen Eltern zurückzuführen. Während bei einer Untersuchung der Kindheit und Jugend anderer Persönlichkeiten vorrangig nach geistigen, literarischen und politischen Einflüssen zu fragen ist, tritt im Fall Paul von Hatzfeldts die Suche nach diesen Kriterien trotz der eindeutigen Signatur des Zeitalters eher in den Hintergrund. Bei ihm spielte mindestens bis zum Ende der 1840er Jahre und noch darüber hinaus die prekäre familiäre Situation eine prägende Rolle. Die Ehe der Eltern, die 1822 zwischen der siebzehnjährigen Sophie3 und ihrem sieben Jahre älteren Vetter Edmund geschlossen wurde, war nur zustande gekomI Ha-Pap. I, Nr. 9, Paul an Sophie von Hatl/eldt, Dortmund, 6. Juli 1850, S. 105 - 107, hier S.106. 2 Vg!. hierzu Barbara Dettke: Die asiatische Hydra: Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1New York 1995 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 89; zugleich Diss. phi!. TU Berlin 1990), bes. S. 185 - 188 zu Hegels Tod (durch Cholera resp. Schlagfluß). 3 Eine biographische Skizze resp. eine Biographie Sophie von Hatl/eldts haben Helmut Hirsch: Sophie von Hatzfeldt. In Selbstzeugnissen, Zeit- und Bilddokumenten, Düsseldorf 1981 (= Schriftenreihe des Stadtmuseums DüsseIdorf) und Christiane Kling-Mathey: Gräfin HatzfeIdt. 1805 bis 1881. Eine Biographie, Bonn 1989 [= Diss. phi!. Universität Köln 1987
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men, um die Regelung der Vermögens verhältnisse zwischen dem gräflichen und dem fürstlichen Zweig des Hauses Hatzfeldt zu besiege1n. 4 1794 war die Linie Hatzfeldt-Gleichen ausgestorben und von der Linie Hatzfeldt-Wildenburg mit ihren Zweigen Werther-Schönstein und Weis- oder Kinsweiler beerbt worden. 5 Der von nun an fürstliche Zweig Schönstein, dem Pauls Mutter Sophie entstammte, übernahm die Verwaltung der Herrschaft Trachenberg in Niederschlesien und residierte auf dem gleichnamigen Schloß. Der gräfliche Zweig, dem Pauls Vater Edmund angehörte, war am Niederrhein und im Rheingau reich begütert, wo er über mehrere Schlösser mit dem Hauptsitz auf dem Wasserschloß Kalkum im Norden Düsseldorfs verfügte. Warum sich Edmund von Hatzfeldt für seine junge und in jeder Hinsicht unerfahrene Cousine Sophie als seine zukünftige Frau entschied, obwohl auch ihre zwei älteren, ebenfalls unverheirateten Schwestern zur Wahl standen, war offensichtlich. Der Graf ging davon aus, daß ihm diese den geringsten Widerstand entgegensetzen würde, wenn er nach der Hochzeit ein bereits bestehendes Verhältnis zu einer anderen Frau aufrechterhielt. 6 Wahrend der Ehe hinterging Edmund Sophie mit zahlreichen Frauen aus allen Gesellschaftsschichten. 7 Daß es sich bei u. d. Titel: Aristokratin und Revolutionärin? Das Leben der Gräfin Sophie von Hatzfeldt (1805 -1881)] vorgelegt. Dort (Kling-Mathey, S. 18-50, zur Heirat bes. S. 22 ff.) finden sich eingehendere Ausführungen zur insgesamt als unglücklich zu bezeichnenden Ehe der Hatzfeldts. 4 Aufgrund dessen wurde diese in der zeitgenössischen Publizistik als "Kaufkontrakt" qualifiziert; N. N.: Graf Paul von Hatzfeldt, in: Die Neue Zeit 10/1 (1901), S. 192-197, hier S.194. 5 Vgl. Familien-Vertrag und Erb-Vergleich des Fürstlichen und Gräflichen Hauses Hatzfeldt de dato Breslau den 27. März 1868. Allerhöchst bestätigt am 19. März 1870. Nebst Beilagen, Berlin 1870, bes. S. 3 - 7. 6 Vgl. die Scheidungsklage der Gräfin vom 6. November 1847, S. 2, deren erster Abschnitt bei Hirsch, S. 130-183, hier S. 134, abgedruckt ist. Bei Hirsch findet sich ebenfalls die Scheidungsklage des Grafen Edmund vom 4. April 1847, S. 106-129. 7 Scheidungsklage Gräfin, S. 7/139. Dort wurde "notorischer Ehebruch" konstatiert, der "in der Provinz sprichwörtlich geworden" sei, S. 1/133. Vgl. auch den bereits zitierten Beitrag aus "Die Neue Zeit", der darauf hinwies, daß Edmund Hatljeldt "landauf landab am Rhein als sardanapalischer Wüstling berüchtigt" gewesen sei, S. 194. Es ist hier nicht der Ort, um im Detail auf die als "Hatzfeldthändel" bekannt gewordenen Auseinandersetzungen der Eheleute einzugehen. Näheres läßt sich mit wenig Mühe bei den Biographen Sophie von Hatljeldts resp. Ferdinand Lassalles [Shlomo Na'aman: Lassalle, Hannover 1970 (= Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig)] oder in Publikationen der beiden Hauptkontrahenten selbst finden. So wurden beispielsweise die bereits erwähnten Scheidungsklagen Sophies und Edmunds als zwei von vielen Pamphleten im Scheidungs"krieg" veröffentlicht. Beide Dokumente sind subjektiv gefärbt und sicher nicht frei von Übertreibungen. Zudem sind die in ihnen dargestellten Zusammenhänge nicht (mehr) nachprüfbar. Da besonders das außereheliche Liebesleben der jeweils anderen Partei erörtert wurde, hätte die Boulevardpresse unserer Tage ihre helle Freude an dieser speziellen Literatur - diese verfehlte aber ebensowenig ihre wohlkalkulierte Wirkung auf die Zeitgenossen Mitte des 19. Jahrhunderts.
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einer aus Gründen der Familienraison geschlossenen Verbindung kaum um eine Liebesheirat handeln konnte, darf vorausgesetzt werden. Allerdings wurde die Beziehung des gräflichen Paares ebensowenig von Vertrauen, Zuneigung oder Freundschaft getragen. Die Ursache für das gestörte Verhältnis setzte augenscheinlich der Ehemann, der seine Frau rücksichts- und respektlos behandelte und sie durch zahlreiche Schikanen fortgesetzt demütigte. In der Scheidungsklage der Gräfin wurden neben der Untreue ihres Mannes als weitere Beispiele seines ehewidrigen Verhaltens der zeitweilige Entzug jeglicher Finanzen, Ausgeh- und Besuchskontrolle resp. -verbot sowie der Bericht über Tätlichkeiten des Grafen, der seine Frau mit Reitpeitsche und Faustschlägen traktierte, angeführt. 8 Gleichwohl gingen aus der Ehe insgesamt vier Kinder hervor, auf deren Erziehung der Mutter grundsätzlich keinerlei Einfluß zugestanden wurde. Nachdem eine 1823 geborene Tochter gleich nach der Geburt gestorben war, kamen vor dem jüngsten Sohn Paul1825 der Erbe Alfred und 1828 die Tochter Melanie zur Welt. Bereits zwei Jahre nach Pauls Geburt, im Oktober 1833, einigten sich die Eheleute Hatzfeldt auf eine vorübergehende Trennung. Während der älteste Sohn Alfred beim Vater blieb, zogen die bei den jüngeren Geschwister mit ihrer Mutter zunächst nach Berlin. 9 Für Melanie und mehr noch für Paul begann damit eine lange Zeit ständiger Reisen - etwa durch die Kurbäder und nach Italien. Dieses "Herumvagiren in der Welt"IO, so der Vorwurf in der Scheidungsklage des Grafen Hatzfeldt, resultierte sicherlich auch aus der nicht unbegründeten Befürchtung der Gräfin, ihre Tochter und den jüngeren Sohn an den Vater verlieren zu können. Opfer der zerrütteten Hatzfeldtschen Ehe waren die Kinder, die unter dem Zustand und vor allem den Konsequenzen der Trennung litten. Die andauernde Unruhe, die wechselnden Partner der Eltern 11, das Fehlen eines festen und verläßlichen Lebensmittelpunktes trugen nichts zu einer unbeschwerten Kindheit bei. Einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen dem unnachgiebigen Edmund und der zur Verständigung und Versöhnung durchaus bereiten Sophie stellte das würdelose Ringen um die bei der Mutter gebliebenen Kinder dar. Dabei war es zumindest dem Vater nicht ausschließlich um das Wohl seiner Kinder, sonAuch wenn ihr Quellenwert fragwürdig sein mag, verfügen die Klagen immerhin über den Nutzen, daß sie stellenweise Aufschluß über Stationen der Kindheit und Jugend Paul von Hatifeldts geben. So wäre es vielleicht eine lohnende Aufgabe für einen Psychologen, die aus der spezifischen Situation erwachsenden Folgen für Paul zu ermessen, über mögliche Reaktionen und Konsequenzen zu spekulieren und mit den tatsächlich eingetretenen - soweit feststellbar - abzugleichen. 8 Scheidungsklage Gräfin, S. 5/137. Es ist von "schwersten Beleidigungen", "gröbste[r] Vernachlässigung" und "grausamste[r] systematische[r] Mißhandlung" (S. 1/133) die Rede. 9 Scheidungsklage Graf, S. 5 f./III f. 10 Scheidungsklage Graf, S. 2/108. 1I Sophie von Hatifeldt ging (spätestens) nach der Trennung im Jahr 1833 auch Liebesbeziehungen ein, indem sie - ihrer Zeit weit voraus - für sich das gleiche Recht postulierte, das für Männer galt, und danach lebte.
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dem vorrangig um die Behauptung seiner Machtposition zu tun. Dies erwies sich, als die inzwischen fast zehnjährige Melanie gegen den Willen Sophies per gerichtlicher Aufforderung wieder der väterlichen Erziehungsgewalt unterstellt wurde. Melanie wurde anschließend nicht etwa von Edmund aufgenommen und lebte bei ihm und ihrem älteren Bruder Alfred, sondern wurde in Wien in einem Kloster der Salesianerinnen untergebracht. Dort war es ihr untersagt, brieflichen oder persönlichen Kontakt zu ihrer Mutter zu unterhalten. Die Tochter kam als Figur im Spiel des Vaters zum Einsatz, damit er seiner Frau seine Macht und die Grenzen der ihren demonstrieren, sie für ihr Verhalten maßregeln und um der Kinder willen nachgiebig stimmen konnte. Seit der "Rückeroberung" Melanies durch ihren Vater befand sich nur noch der jüngste Sohn Paul bei seiner Mutter Sophie. Um ihn entbrannte zwischen den Eltern ein "harter Kampf'P Was sich hinter dieser lapidaren Feststellung verbarg, wird im folgenden zu schildern sein. Noch bevor es Edmund von Hatzfeldt im Frühjahr 1838 gelang, seine Tochter aus dem mütterlichen Einflußbereich zu entfernen, bediente er sich eines anderen Mittels, um seinen Sohn Paul in seine Gewalt zu bringen. Er beauftragte einige seiner Agenten, Paul zu entführen. Dieses Vorhaben glückte zunächst: Am Neujahrstag 1838 bemächtigten sich die Männer in Baden-Baden, wo sich Sophie von Hatzfeldt seit dem Sommer des Vorjahres aufhielt, auf offener Straße des Jungen, der mit seiner von den Entführern bestochenen Kinderfrau einen Spaziergang machte. Als jedoch Sophie von Hatzfeldt das Verschwinden ihres Sohnes bemerkte, nahm sie die Verfolgung der Agenten ihres Mannes auf, stellte diese und erhielt Paul zurück. 13 Anschließend begab sie sich mit dem Kind zu ihrem Mann, der aber eine direkte Konfrontation mit ihr scheute und deshalb zunächst ihr Recht auf Paul anerkannte. Ein Brief Pauls l4 , den er Anfang April 1838 aus Baden-Baden an seinen Vater richtete, dokumentierte einerseits die Versöhnungsbereitschaft Sophies, die den Brief inspiriert haben dürfte l5 , und andererseits den Wunsch Pauls nach einer Beendigung der elterlichen Trennung. Paul machte seinem Vater in dem Schreiben einen Vorschlag, bei dessen Befolgung das Optimum erreicht werden könne, daß die drei Kinder "Dir gehören und zugleich der Mama gehören". Zu diesem Zweck müsse die temporäre Trennung vom Oktober 1833 aufgehoben werden: "Da mußt Du aber nicht mehr bang sein vor der Mama, da mußt Du die Mama wieder zu Dir nehmen, da siehst Du Deine Kinder, und die Mama sieht sie auch". Als Minimalkonsens schlug Paul Edmund vor, sich eines der beiden älteren Kinder auszuwäh-
Na'aman, S. 84. Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 13/145. 14 Ha-Pap. I, Nr. 1, S. 97. 15 Sophie dürfte vorher eine Aufforderung des Gerichts erhalten haben, Melanie dem Vater zu überlassen, und bediente sich nun ihres Sohnes als Sprachrohr. 12
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len, das Erziehungsrecht also zu teilen ("Du mußt der Mama die Melanie schicken und Du behältst den Alfred"). Graf Hatzfeldts Antwort bestand in einer Klage (vom 29. April 1838) auf Rückkehr seiner Frau in das eheliche Domizil sowie der Kinder unter seine Gewalt. 16 Die hier geforderte besondere Art der Familienzusammenführung, die ohne die Tochter stattfand und nicht der Erwartung aller Beteiligten entsprach, erfolgte schließlich im September 1840. 17 Während Paul bei seinem Vater und seinem Bruder Alfred auf Schloß Schönstein wohnte und zwecks "männliche[r] Leitung,,18 einen Erzieher namens Laurent erhielt, lebte Sophie auf Veranlassung ihres Mannes völllig abgeschieden und ohne gesellschaftliche Kontakte auf Schloß Kalkum ("vollständige[r] Zustand von Sequestration,,19). Edmund von Hatzfeldt, der es als den Hauptzweck der "Wiedervereinigung" mit seiner Frau betrachtete, den Kindern eine "angemessene Erziehung" zuteil werden zu lassen, wies Sophie an, sich dabei jeder Einmischung zu enthalten und ihm ihre Ansichten und Wünsche ausschließlich schriftlich mitzuteilen. 2o Darüber hinaus machte es der Graf vom Verhalten seiner Frau abhängig, ob er den Söhnen Besuche bei ihr gestattete. Deshalb gab Edmund seiner Hoffnung Ausdruck, daß Sophie "aus Liebe zu unsern Kindern Alles vermeiden" werde, was eine Beschränkung der Besuche "nothwendig sofort herbeiführen müßte".21 Diese Besuche fanden ohnehin nur selten und in Gegenwart Dritter statt; ein brieflicher Kontakt Alfreds und Pauls mit ihrer Mutter wurde kontrolliert resp. unterbunden. 22 Neben diesen Entfremdungsversuchen trieb Hatzfe1dt ein perfides Spiel mit seiner Frau: Einerseits verlangte er, sie solle zu ihm und den Söhnen nach Schönstein kommen, andererseits drohte er ihr, in diesem Fall das Schloß mit den Kindern zu verlassen. Tatsächlich verfuhr er so, als Sophie seiner Aufforderung - wohl in der Hoffnung, Alfred und Paul nahe zu sein - folgte. 23 Die Situation änderte sich erst, als Sophies Brüder Hermann und Max in den Westerwald kamen und mit ihrem Schwager Edmund auf Schloß Schönstein den sogenannten "Altenkirchener Vertrag" vom 5. oder 8. Juli 1841 aushandelten?4 Allerdings war die hauptsächlich Betroffene - nämlich Sophie von Hatzfe1dt - we16 17 18
152.
Vgl. Scheidungsklage Graf, S. 8/114, und Scheidungsklage Gräfin, S. 15 1147. Vgl. Scheidungsklage Graf, S. 10/116, und Scheidungsklage Gräfin, S. 18/150. Brief Edmunds an Sophie vom 23. September 1840, Scheidungsklage Gräfin, S. 201
Scheidungsklage Gräfin, S. 19/151. Punkt 3 in einem Brief Edmunds an Sophie vom 22. September 1840, Scheidungsklage Gräfin, S. 18 f. 1150 f. Vgl. auch Na'aman, S. 85 f. 21 Edmund in einem weiteren Brief an Sophie vom 5. Oktober 1840, Scheidungsklage Gräfin, S. 201 152. 22 Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 21 I 153 u. S. 23/155. 23 Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 26 f. 1158 f. 24 Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 29/161, folgendes Zitat ebd. 19
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der bei den Verhandlungen zuge gegen, noch wurde sie nach ihren Wünschen oder ihrer Zustimmung gefragt. Der Vertrag bestätigte neben der Festsetzung eines standesgemäßen Unterhalts für Sophie dem Vater sein Erziehungsrecht über Alfred, Melanie und Paul. Sophie erhielt immerhin das Zugeständnis, "sich unter allen Umständen an demjenigen Orte aufzuhalten, wo ihre Kinder sich befinden und ihre Kinder zu sehen" (Residenz- und Umgangsrecht). Diese Bestimmung war nicht unwesentlich für die kommenden Ereignisse und besaß auf längere Sicht zumindest Gültigkeit für Sophies Kampf um Paul. Zunächst dokumentierte Graf Hatzfeldt jedoch durch sein Vorgehen 25 die Mißachtung des Rechtssatzes pacta sunt servanda. Er brachte seine zwei Söhne in einem Jesuitenkolleg im schweizerischen Fribourg unter - vermutlich, weil er meinte, damit die notwendige räumliche Distanz zwischen Mutter und Kindern herzustellen, um so die dargelegte Vertragsbestimmung zu unterlaufen. Als Sophie aber ihren Söhnen nachreiste, wie es ihr vertragsgemäß zugestanden worden war, mußte sie erkennen, daß ihr Mann die Jesuitenpatres verpflichtet hatte, ihr den Zugang zu den Kindern zu verwehren. Da die Vertreter der Societas Jesu, nachdem sie mit der energischen Mutter konfrontiert worden waren, jede weitere Verantwortung ablehnten 26 , holte Edmund seine Söhne nach Kalkum zurück. Seinen Plan, Paul in einem anderen Jesuitenstift im belgisehen Aalst (Alost) einzuquartieren, verwarf er wieder, weil Sophie entschlossen war, ihrem Sohn auch dorthin zu folgen. Hatzfeldt entschied sich schließlich dafür, die zwei Jungen zu trennen, so daß sich die Mutter gezwungen sah, nur die Nähe eines Kindes zu suchen. Während Alfred in Münster ein Gymnasium besuchte, wurde Paul im Spätherbst des Jahres 1841 in die Potsdamer Kadettenanstalt aufgenommen. Statt einer jesuitischen Ausbildung war für ihn nun eine solche vorgesehen, die ihn auf den Beruf des Offiziers vorbereiten sollte. Sophie "begleitete" ihren Jüngsten und zog nach Berlin. 27 Am 20. November 1841 28 richtete sich der unglückliche Paul aus Potsdam an seine Mutter, er sehe sich "genötigt, Dir etwas sehr Unangenehmes zu schreiben, daß ich schon einrangiert bin und daß man mir schon eine Uniform hat angemesVgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 30 f./162 f. Der Rektor des Kollegs schrieb mit Datum vom 15. August 1841 an Edmund von Hatzfeldt, "condition indispensable" müsse die Versicherung sein, daß die Gräfin "ne viendra point s' etablir aupres d' eux, et de plus je dois avoir la certitude, qu' a aucune epoque de I' annee elle ne viendra leur faire visite de maniere queIconque" (mit "eux" und "leur" sind Alfred und Paul gemeint), Scheidungsklage Graf, S. 13/119, und forderte "une garantie pour notre tranquillite", Scheidungsklage Gräfin, S. 31/163. 27 Das preußische Kadettenkorps war unter Friedrich Wilhelm /. im Jahr 1716 gegründet worden und umfaßte mehrere Einrichtungen, von denen eine in der Garnisonsstadt Potsdam angesiedelt war. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr besuchten junge Kadetten das militärische Internat mit dem Lehrplan eines Realgymnasiums, um dann in das Haupthaus nach Berlin zu wechseln. Vgl. A. v. Crousaz: Geschichte des Königlich Preußischen Kadetten-Corps nach seiner Entstehung, seinem Entwicklungsgange und seinen Resultaten, Berlin 1857, bes. S. 239 - 243 u. S. 378. 28 Ha-Pap. I, Nr. 2, S. 97 f. 25
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sen". Aus dem Brief des eben zehn Jahre alten Paul, der offenbar zum ersten Mal von jedem Familienmitglied getrennt und innerhalb kurzer Zeit erneut in eine fremde Umgebung gebracht worden war, sprach kindliche Verzweiflung, mit der er seine Mutter herbeisehnte. Für den Fall, daß er nicht nach Berlin zu ihr dürfe, bat er sie zu kommen: ,,[B]itte ich Dich, selbst zu [kommen], ( ... ) aber ganz gewiß [zu] kommen". Am Ende des Briefes bekräftigte er nochmals inständig ,,[v]ergesse nicht zu kommen". Paul erhoffte sich, daß ihn seine Mutter befreien werde, wie er zwischen den Zeilen andeutete: "Ich habe Dir erzählt, ich wäre einrangiert, aber ich bin noch nicht so wie die anderen". Mit dieser Äußerung wollte er offensichtlich darauf hinweisen, daß seine Einweisung rückgängig gemacht werden könne. Indem Paul schließlich einen Offizier in Dienst nahm und diesen mit der Aussage zitierte, "wenn es von ihm abhänge, er hätte mich morgen gehen lassen", brachte er seinen eigenen drängenden Wunsch zum Ausdruck, die Kadettenanstalt schnellstmöglich zu verlassen. Zunächst mußten sich Sohn und Mutter aber in die Situation fügen. Wenigstens gelang es Sophie, einige Erleichterungen zu erwirken, indem sie Paul den Status eines Pensionärs verschaffte, der über Privilegien wie einen Erzieherleutnant, einen eigenen Bediensteten sowie das Recht auf Privatstunden, Zivilkleidung und freiere Urlaubsmöglichkeiten verfügte. 29 Als Paul im Sommer des Jahres 1842 erkrankte, erwies sich ein weiteres Mal, daß die durch Edmund von Hatzfeldt veranlaßte Sonderbehandlung seiner Frau funktionierte. 3o Laut der bestehenden Regeln hätte Sophie ihren Sohn außerhalb des Kadettenhauses pflegen können; so sah sie sich gezwungen, dies im Potsdamer Lazarett zu tun. Nachdem bei Paul wiederholt katarrhalische Erkrankungen aufgetreten waren, empfahlen die Ärzte eine Kur, der Edmund von Hatzfeldt erst zustimmte, als ein in Köln konsultierter Arzt ihre Notwendigkeit bestätigte. Daraufhin begab sich Sophie mit ihrem Sohn nach Bad Ems, wo dem Jungen ein weiterer Klimawechsel verordnet wurde. Vorsichtig geworden, holte Sophie von Hatzfeldt das Attest eines Spezialisten ein, den sie während eines Besuchs bei ihrem Bruder Max in Paris aufsuchte. Der Mediziner diagnostizierte eine "affection de poitrine la suite d' une cocqueluche,,31 und riet dazu, Paul einen Aufenthalt in Italien zu gönnen. Erst dann brachen Sophie und Paul nach Neapel auf, wo sie sich von Weihnachten 1842 bis Ende Februar 1843 aufhielten.
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In der Zwischenzeit hatte Edmund von Hatzfeldt ein Familienzirkular kursieren lassen, das glauben machte, Sophie habe "Paul gegen den Willen seines Vaters in das Ausland entführt".32 Sophies Bruder Hermann hatte sich diese Ansicht offenVgl. Scheidungsklage Graf, S. 14/120. Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 31 f. /163 f. 31 Scheidungsklage Gräfin, S. 32/164. 32 Ha-Pap. I, Nr. 3, Hermann von Hatifeldt-Trachenberg an seine Schwester Sophie, Trachenberg, 24. Dezember 1842, S. 98 f. Das Zirkular Edmunds datierte vom 2. Dezember des Jahres. 29
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B. Herkunft und Werdegang (1831 - 1859)
bar angeeignet: Er wertete das Vorgehen seiner Schwester als Verstoß gegen den "Altenkirchener Vertrag", den Edmund von Hatzfeldt deshalb für aufgelöst erklären und ihr in der Konsequenz alle Geldmittel entziehen werde, und legte ihr nahe, "daß Du Paul seinem Vater sofort wiedergibst".33 Als Sophie mit dem noch immer kränkelnden Paul im Frühjahr 1843 aus Italien zurückkehrte, mußte sie feststellen, daß ihr Mann sich tatsächlich weigerte, Unterhalt zu zahlen. Mittellos sah sie sich daher genötigt, bei ihrem Bruder im schlesischen Trachenberg um Aufnahme zu bitten, wo sich Paul einer Molkenkur unterzog. Indem sich Edmund von Hatzfeldt nun direkt an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. mit der Bitte um dessen Intervention richtete, führte er (bewußt) eine Eskalation der ohnehin gespannten Situation herbei. 34 Der König möge verfügen, daß Paul in die Kadettenanstalt nach Potsdam zurückkehre, und unterbinden, daß Sophie weiterhin Einfluß auf Pauls Erziehung nehme. Im Herbst 1843 entsprach Friedrich Wilhelm diesem Ersuchen und befahl dem Gouverneur Schlesiens per höchster königlicher Kabinettsorder, Paul nach Potsdam zurückzubringen. Am frühen Morgen - gegen 6 Uhr - des 27. Oktober begaben sich Polizei und Militär in das Haus Hennann von Hatzfe1dts, um die Weisung auszuführen und Paul nach einer elfstündigen "Belagerung" in das Kadettenhaus zu eskortieren. Der zu Recht entrüstete Hennann von Hatzfeldt beschwerte sich beim König, der von dem einen Standesherrn gegen den anderen instrumentalisiert worden war: "Ohne mein Wissen und gegen meinen Willen sind in früher Morgenstunde Militär- und Polizeibeamte in mein friedliches Haus gedrungen und haben unter Androhung von Gewalt sich des Sohnes meiner Schwester bemächtigt, die an dem Heerde ihres Bruders ein Asyl gefunden hatte".35 Edmund von Hatzfeldt habe den König offenbar glauben lassen, daß Paul widerrechtlich und ohne Erlaubnis nach Trachenberg entführt worden sei, obwohl der Vater über den Aufenthalt seines Sohnes dort genau infonniert gewesen sei. Der Graf habe sich nicht nur gescheut, den "gesetzlichen Weg" zu beschreiten (er hatte ein Immediatschreiben an den König vorgezogen), sondern dabei seine "heilige Pflicht" vernachlässigt, Friedrich Wilhelm IV. vollständig über seine Familienverhältnisse aufzuklären. Auf Edmund von Hatzfeldt, der als einzigen Zweck die Trennung seiner Ehe betreibe, laste nämlich eine "weit größere Schuld" als auf Hennanns "unglückliche[r] Schwester" Sophie. 36 Hennann von Hatzfeldt verlangte im Gegenzug, der König solle Edmund befehlen, "seine Pflichten als Gatte zu erfüllen", die Ehe "wirklich" herzustellen Ebd., S. 99. Vgl. Scheidungsklage Gräfin, S. 33/165. 35 Ebd., S. 33 f. /165 f. Allerdings war die Beschwerde offenbar primär von der Furcht vor einem Skandal motiviert. Denn Hermann von Hatifeldt. der Vorstand der schlesischen Ritterschaft, betonte die "allergrößte Publicität" und das "Aufsehen", die in der Provinz Schlesien durch diesen Vorfall erregt worden seien. 36 Scheidungklage Gräfin, S. 34/166. 33
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I. Kindheit und Jugend
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und so die Ruhe der Familie zu garantieren. Darautbin ließ der Monarch Edmund von Hatzfeldt wissen, daß er "ernstlich" erwarte, daß dieser das Verhältnis zu seiner Frau "auf eine dem Interesse der ganzen Familie entsprechende Weise" ändere?7 Paul von Hatzfeldt sah sich nach seiner Wiedereinweisung in das Kadettenkorps Potsdam wie sein Onkel dazu veranIaßt, einen Beschwerdebrief über die ihm widerfahrene Behandlung - vergleichbar einem flüchtigen Verbrecher - an seinen Vater zu schreiben. 38 Darin schleuderte er ihm seine Empörung und Kränkung entgegegen. Paul hatte den (eigentlichen) Grund für seine Anwesenheit in Potsdam zutreffend erkannt: "Du bildest Dir wohl ein, daß Du es mit mir machen wirst, wie Du es mit Alfred und Melanie getan hast: nämlich mich von der Mama abwendig zu machen". Er warf seinem Vater vor, daß er - Paul - seiner Mutter Sophie alles verdanke, während er von seinem Vater "nicht einen Stecknadelknopf' habe und erklärte mit allem vorhandenen Widerstandsgeist: "Mache mit mir was Du willst, wie ich groß bin und majorenn, gehe ich zur Mama, die ihr Leben gäbe für mich und die Du nur ihr ganzes Leben gequält hast". Paul betonte abschließend, daß er es vorziehe, bei seiner Mutter zu sein: "Du weißt, daß ich zehnmal lieber bei ihr bin als bei Dir, denn ich hasse Dich", und versicherte seinem Vater, daß dieser seine Absicht, den Sohn von der Mutter zu entfremden, nicht erreichen werde. Dieser Brief, den der Junge eigenständig und ohne Wissen seiner Mutter, aber unter dem Eindruck der auch ihr widerfahrenen Ereignisse der letzten Jahre verfaßt hatte, wurde durch Pauls Erzieherleutnant von Kurowsky, der ein Absenden hätte verhindern können, Edmund bewußt zugänglich gemacht, "damit der Vater doch sehe, wie thöricht sein Sohn sei".39 Der gleiche Kurowsky war wenigstens so hellsichtig, am 15. November des Jahres zu konstatieren, daß der Vorfall auf dem Schloß des Onkels "nachtheilig auf Pau!' s Gesundheit, wie auf sein Gemüth gewirkt,,40 habe. Pauls Brief, der für seinen Vater bestimmt war, wurde von diesem einem größeren, illustren Leserkreis zugänglich gemacht. So wurde er König Friedrich Wilhelm IV. zur Kenntnis gebracht, der in einem Schreiben an Pauls Onkel Hermann darauf Bezug nahm. 41 Der König erblickte in dem Brief, der das "Gepräge der Verworfenheit durch Vernachlässigung seiner [Pauls] bisherigen moralischen Ausbildung" trage, den Ausdruck der "rohesten Impietät". Friedrich Wilhelm IV. empfahl, man möge auf eine "Sinnesänderung des Knaben" hinwirken. Denn da Paul von Hatzfeldt Mitglied einer der ersten Familien des Landes sei, habe der Monarch ein "eigentümliches Interesse" daran, ob der Junge eine "edle oder verwerfliche Scheidungsklage Gräfin, S. 36/ 168 (9. Dezember 1843). Ha-Pap. I, Nr. 5, König Friedrich Wilhelm IV. an Fürst Hat